Auge & Ohr: Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700–1850 9783110872569, 9783110136333


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German Pages 814 [816] Year 1994

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Vorwort
Inhalt
Einleitung
Teil I: Über Geometrie und Sprache, Figuren und Menschen
1. Einführung: Ein taubstummer Held, ein Blindgeborener und eine herzlose Dame
2. Der Blinde oder Geometrie zum Anfassen
3. Sehen, Hören und Fühlen
4. Farbenhören und Tonsehen
5. Der Taubstumme
6. Der Taubstumme - ein Mensch
7. Die innere und äußere Sprache
Teil II: Phonetik und Alphabetik
1. Einleitung
2. Die magisch-mechanischen Maschinen
3. Die Untersuchung des Sprachorganismus und die Theorie des Sprechens
4. Die artikulatorische Phonetik und der Zusammenhang von Hören und Sprechen
5. Die Synthese von akustischer und artikulatorischer Phonetik im Experiment: Die künstliche Nachbildung des Sprechens und die künstliche Erzeugung sprachähnlicher Laute durch Mical, Kratzenstein und v. Kempelen
6. Natürliches Alphabet und Schrifttheorie
Literatur
Verzeichnis der Abbildungen
Sachregister
Personenregister
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Auge & Ohr: Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700–1850
 9783110872569, 9783110136333

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Joachim Gessinger Auge & Ohr

Joachim Gessinger

AUGE & OHR Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700 - 1850

w DE

G

Walter de Gruyter • Berlin • New York

1994

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek-

CIP-Einheitsaufnahme

Gessinger, J o a c h i m : Auge & Ohr: Studien zur Erforschung der Sprache am Menschen 1700-1850 / Joachim Gessinger. - Berlin; New York: de Gruyter, 1994 Teilw. zugl.: Berlin, Freie Univ., Habil.-Schr., 1990 ISBN 3-11-013633-3 NE: Gessinger, Joachim: Auge und Ohr

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider Satz & Druck: SOAK GmbH, Hannover Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer - GmbH, Berlin

Vorwort Dieses Buch lädt dazu ein, die Natur der Sprache nicht nur im (eigenen) Kopf zu suchen. Dieser Fingerzeig deutet vor allem auf Linguisten und hat etwas mit unserem Bestreben zu tun, denjenigen, der unseren Gegenstand ständig in Unordnung zu bringen droht, den sprechenden Menschen also, aus der Untersuchung möglichst herauszuhalten und damit 'sprachlos' zu machen - aber auch mit dem sinnlich reduzierten Verhältnis zu unserem Gegenstand. An dem Paradoxon, eine andere Form von Sprachwissenschaft (avant la lettre), die Erforschung der Sprache am menschlichen Körper, nur durch eine ausgedehnte Lektüre von Texten zu entdecken, habe ich mich vor allem gegen Ende der Arbeit an der als Habilitationsschrift eingereichten ersten und kürzeren Fassung des Manuskripts gerieben, im Herbst 1989, als ich meinen Schreibtisch immer häufiger verließ, um wenigstens im Fernsehen mitzuerleben, wie sich die Bevölkerung der DDR auf eine für Deutschland unerhörte Weise ihrer Obrigkeit in öffentlicher Rede entledigte. Diese für einen kurzen Moment aufblitzende Kraft des Selbstdenkens hat die Verhältnisse in diesem Land nachhaltig verändert - so auch meinen Lebensweg. Die Möglichkeit, lange Jahre ohne akademische Belastungen an Auge & Ohr arbeiten zu können, hatten mir jene Bildungspolitiker gegeben, die dafür sorgten, daß der wissenschaftliche Nachwuchs seit Ende der siebziger Jahre vermehrt die Vorzüge des Privatgelehrten genießen durfte; die Möglichkeit, dieses Vorwort jetzt an meinem Arbeitsplatz an einer Universität schreiben zu können, der Universität Potsdam zumal, ist anderen geschuldet. Viele Freunde und Kollegen haben mich bei der Arbeit an diesem Buch unterstützt: Hans Aarsleff, Waither Dieckmann, Peter Eisenberg, Hartmut Günther, Günther Jerouschek, Bernd Pompino-Marschall, Wolfert von Rahden, Angelika Redder, Ulrich Ricken, Hartmut Schmidt, Wolfgang Settekorn, Günther Tillmann, Jürgen Trabant, Hubert Treiber, Anja Voeste. Ohne ihren Rat und ihre Hilfe hätte ich noch mehr der ohnehin vorhandenen Schwächen des Textes und Fehler im Manuskript übersehen. Ohne den ständigen Zuspruch von Gitta, die noch am Ende von allem etwas hören und sehen mochte, wäre das Buch allerdings gar nicht erst erschienen. Potsdam, im Winter 1993

Joachim Gessinger

Inhalt Vorwort Einleitung

V XIII

Teil I:Über Geometrie und Sprache, Figuren und Menschen 1.

Einführung: Ein taubstummer Held, ein Blindgeborener und eine herzlose Dame

3

1.1. 1.2.

Christian Wolff und die Liebe zur Geometrie John Locke: Eine Hypothese mit Folgen

5 11

2.

Der Blinde oder Geometrie zum Anfassen

19

2.1. 2.2.

La parole mise en lumière Der Blinde als Denkhilfe - l'aveugle comme bâton d'expérience

21 25

2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8.

Zwischenspiel: Der Wettstreit der Sinne als Theater Der Blinde als 'Statue' Der Blinde - ein Philosoph Die Kooperation der Sinne und der Menschen The bishop's vision as a natural language Das Bild der Wirklichkeit: Karl Philipp Moritz

34 37 49 60 64 67

3.

Sehen, Hören und Fühlen

71

3.1. 3.2.

Herder: 'Ich fühle mich, ich bin' Destruktion der Begriffe

71 79

3 33.4. 3.5.

Genetische Rekonstruktion Die Emanzipation der Modelle - die Statue beginnt zu reden Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

85 89 97

4.

Farbenhören und Tonsehen

115

4.1. 4.2.

Meta-Physik der Farben und Töne Die verschiedenen Domänen

117 121

4.3. 4.4.

Die grundlegende Theorie: Vibration und Bewegung Die Theorie des Sehens und des Wissens

122 127

VIII

Inhalt

4.5. 4.6. 4.7.

4.11. 4.12.

Vom Wissen zum Vergnügen Voltaires Kommentare zu Castels 'Verrat' Die neue Philosophie des Geschmacks war eine Revision der klassischen Theorie des Sehens Die Theorie des Schönen: Musik und Malerei Rousseaus Projekt einer adäquaten Darstellung der harmonischen Beziehungen Diderot: 'Sur les principes généraux de l'acoustique' oder die Schönheit des Kalküls Die 'Querelle des Bouffons' Probleme einer ästhetischen Rhetorik Die Konstruktion eines Ton-Farb-Transposers Die Entwicklung einer Psychologie der ästhetischen Wahrnehmung in Deutschland Goethes späte Würdigung Castels Hegels Ästhetik: Rückschau und Endpunkt

5.

Der Taubstumme

5.1.

5.3-2. 5.3.3. 5.3.4.

Der Taubstumme von Chartres - ein Mißverständnis mit später Wirkung Die sprechenden Gehörlosen des J. R. Pereire Diderot: Gedankenfiguren - Sprachfiguren Anatomie métaphysique oder Analyse der natürlichen Ordnung der Gedanken Natur- oder Kulturgeschichte der Zeichen? Abbild und Folge, Linearität und Simultaneität Die doppelte Struktur des Gedächtnisses

6.

Der Taubstumme - ein Mensch

251

6.1. 6.1.1. 6.1.2. 6.1.3. 6.2. 6.2.1. 6.2.2. 6.2.3. 6.2.4. 6.2.5. 6.2.6.

Karl Philipp Moritz: Versuche mit Karl Friedrich Mertens Rückblick auf Johann Conrad Amman Beobachtungen und Mutmaßungen Hören und Sehen, Vergangenheit und Gegenwart Gebärde, Laut, Schrift: Die Kontroverse gewinnt Konturen De l'Épée: Die manuelle Übersetzung der Schriftsprache Der Briefwechsel zwischen de l'Épée und Heinicke Samuel Heinicke: Artikulation als kognitiver Prozeß Heinickes 'Arcanum' Tonsprache und Ideenverbindung Nicolai in Wien

253 257 262 270 274 277 286 300 322 323 330

4.8. 4.8.1. 4.8.2. 4.8.3. 4.8.4. 4.9. 4.10.

5.2. 5.3. 5-3.1.

131 135 137 140 142 144 149 152 157 162 170 175 179 188 196 200 202 210 229 241

Inhalt

IX

7.

Die innere und äußere Sprache

343

7.1. 7.2. 7.3. 7.4.

Sprachstörungen Der Fall Spalding und Mendelssohns Kommentar Das Publikum meldete sich zu Wort Marcus Herz: Wirkung des Denkvermögens auf die Sprachwerkzeuge I Salomon Maimon: Wirkung des Denkvermögens auf die Sprachwerkzeuge II Traum und Wahnsinn - visio & auditio Epilog der Organologie

345 347 359

7.5. 7.6. 7.7.

366 371 374 380

Teil II: Phonetik und Alphabetik 1.

Einleitung

391

2.

Die magisch-mechanischen Maschinen

411

2.1. 2.2.

Der Bericht eines Sachverständigen 1783 - Das Jahr der 'Sprechenden Maschinen' und der Aerostaten

411 419

3.

Die Untersuchung des Sprachorganismus und die Theorie des Sprechens

435

31. 3.1.1. 3.1.2. 3.2. 3.2.1. 3.2.2. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.4. 3.5. 4. 4.1. 4.2.

Die Physiologie der Stimmorgane des Menschen - Ansätze zu einer akustischen Phonetik: Denis Dodart Das Ansatzrohr Die Glottis Anatomie der Stimmorgane von Menschen und Tieren erste Schritte einer experimentellen Phonetik: Antoine Ferrein 'Instruktion über die Einrichtung der Experimente, wie sie in der vorausgegangenen Abhandlung beschrieben worden sind' Das Experiment auf dem Prüfstand Die Kritik Albrecht von Hallers Die Stimme Das Sprechen Die vergleichende Physiologie der Stimmbildung: Vicq d'Azyr Résumé zur physiologischen Phonetik

462 463 466 469 474 480 482

Die artikulatorische Phonetik und der Zusammenhang von Hören und Sprechen

485

Cordemoy: Warum Maschinen nicht sprechen Bernard Lamy: Sprechen und Hören als Elemente einer Anleitung zum diskursiven Wohlklang

437 440 444 454

485 489

X

Inhalt

4.2.1. 4.2.2.

Die Sprechmaschine als negative Heuristik Christian Wolffs Kommentar zu Lamys Sprechmaschinenverdikt

495 498

4.3• 4.4.

Johann Conrad Amman Charles de Brosses: Phonologische und ästhetische Konsequenzen einer formellen Analyse der Artikulation Leonhard Eulers frommer Wunsch

500

4.5. 5.

5.1. 5.2.

510 523

Die Synthese von akustischer und artikulatorischer Phonetik im Experiment: Die künstliche Nachbildung des Sprechens und die künstliche Erzeugung sprachähnlicher Laute durch Mical, Kratzenstein und v. Kempelen

527

Ein (fast) vergessener Akustiker: Joseph Sauveur Mical

527 537

5.35.31.

Christian Gottlieb Kratzenstein Christian Gottlieb Kratzenstein: Ein Student im Schatten Christian Wolffs 5.3-2. Die Petersburger Preisschrift 5.3-2.1. Die Sprechorgane und ihre Steuerung 5.3-2.2. Larynx, Rachen- und Mundraum als akustisches Gesamtsystem 5.3 2.3. 'Über die Konstruktion von Flöten, die die Vokale [a], [e], [i], [o], [u] hervorbringen' 5.4. Wolfgang von Kempelen 5.4.1. Von den sprechenden Maschinen (No. 1 - 3 ) 5.4.2. 'Von den Lauten oder Buchstaben der

545 547 556 558 568 574 583 586

5.4.3. 5.4.4. 5.5. 5.6.

europäischen Sprachen' (Sprechmaschine No. 4) 'Von den Werkzeugen der Sprache und ihren Verrichtungen' 'Von der Sprache überhaupt' Résumé zur experimentellen Phonetik Maschinenschicksale

600 610 6l6 618 620

6.

Natürliches Alphabet und Schrifttheorie

633

6.1. 6.2.

Figura est natura Phonetik und allgemeine Alphabetik

634 640

6.3. 6.3.1. 6.3.2. 6.3 3. 6.3.4.

Schriftkritik und organisches Alphabet im 18. Jahrhundert Organisches und universales Alphabet Die 'écriture organique' des President de Brosses Die Schriftkritik eines Ideologen: Destutt de Tracy Ein Vorschlag des Geologen James Hutton

649 652 659 665 675

6.3 5. 6.3.6. 6.4.

Ein Beitrag aus naturgeschichtlicher Sicht 'Der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig' Sprachphilosophie, Lautphysiologie und Schrift in der ersten Hälfte des 19- Jahrhunderts

679 682 689

Inhalt

XI

6.4.1. 6.4.2.

Das natürliche Alphabet als philosophische Konstruktion: Böckh Vom organischen System der Sprachlaute zum reinen Alphabet: Bernhardi

690 699

6.4.3. 6.4.4.

Die doppelte Gliederung des Sprachzeichens Ein Rückblick in die Zukunft

707 714

Bibliographie

721

Abbildungsverzeichnis

755

Sachregister

759

Personenregister

779

In dem vorliegenden Band gelten folgende Konventionen: Die Quellen sind in der originalen Schreibweise wiedergegeben, offensichtliche Setz- und Paginierungsfehler stillschweigend korrigiert. Hervorhebungen im Original sind halbfett gesetzt, Auslassungen als ..., Parenthesen durch runde Klammern dargestellt. Meine eigenen Zusätze und Auslassungen sind mit eckigen Klammern gekennzeichnet, Hervorhebungen kursiv gesetzt, gleichfalls Querverweise. Zur Darstellung der Laut-/Buchstabenbezeichnungen verwende ich statt des IPA die zeitgenössische Notation, weil so die häufig anzutreffende schriftinduzierte Darstellung der Sprachlaute angemessen wiedergegeben wird. Die in den Zitaten und Fußnoten verwendeten bibliographischen Kurzhinweise werden in der Bibliographie aufgelöst. Wenn von Bedeutung, habe ich das Ersterscheinungsjahr von Quellentexten mit angegeben. Autoren, Herausgebern und Verlagen danke ich für die freundliche Genehmigung zum Abdruck der Bildvorlagen. Für die Unterstützung bei meiner Arbeit danke ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der folgenden Archive, Bibliotheken und Sammlungen: Niedersächsische Landesbibliothek Hannover Leibniz-Archiv Hannover Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel Universitätsbibliothek Göttingen Universitätsbibliothek Bremen Hofbibliothek Wien Staatsbibliothek Hamburg

Institut de France, Paris Bibliothèque Nationale, Paris Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin Sammlung Kirmsse, Berlin Göttinger Zeitschriftenindex Technisches Museum Wien

Einleitung Einführende Vorbemerkungen werden bekanntlich oft erst dann geschrieben, wenn sich der Autor sicher ist, was er in der Hauptsache sagen wollte - also gewöhnlich, nachdem die Arbeit getan ist. Dieses nachgereichte Vorwort kann aber gerade hier, wo es um die Darlegung der Prinzipien geht, die ich beim Aufbau einer aus dem wissenschaftshistorischen Prozeß herausgeschriebenen Wirklichkeit verwandt habe, die Unschuld der ersten Worte schwerlich in Anspruch nehmen, denn zu leicht gerät es so selbst zur Fiktion. Die grundlegenden Verfahrensweisen dieser Untersuchung werden wohl am besten dadurch verständlich, daß ich kurz über die Geschichte ihrer Entstehung berichte. Vor Jahren fand ich in einem Antiquariat David Brewsters 'Briefe über natürliche Magie an Sir Walter Scott' - ein Titel, der dazu einlud, sich in dem Band ein wenig umzuschauen. Ein langes Kapitel war den Automaten, insbesondere Vaucansons fressender und verdauender 'Ente' gewidmet. Alle diese Konstruktionen seien jedoch, so Brewster, von dem 'künstlichen Schachspieler' des Herrn von Kempelen übertroffen worden. Über Jahrzehnte hinweg hätten sich nachdenkliche Zeitgenossen immer wieder daran versucht, das Geheimnis des 'automatischen' Schachspielers aufzudecken; ihre Theorien darüber, wie sich ein Mensch in dem Gehäuse hätte verbergen können, standen der Konstruktion selbst an Erfindungsreichtum in nichts nach. Edgar Allan Poe, der 1835 in Richmond eine Vorführung durch Johann Nepomuk Maelzel1 miterlebte, nahm Brewsters Briefe zum Anlaß, sich seine eigenen Gedanken über das Prinzip einer 'selbsttätigen' Maschine zu machen und kam nach scharfsinniger Analyse der gesamten Inszenierung des Schachspiels zu dem Schluß, daß der Witz der Konstruktion im Zusammenspiel von Mechanismus, Vorführer und Publikum liegen müsse: Die raffinierte Illusion eines automatischen Spiels lasse die für jeden klardenkenden Menschen zwingende Logik nicht bewußt werden, daß nur ein Mensch so Schach spielen könne wie diese Maschine, denn im Gegensatz zur Rechenmaschine des Mr. Babbage folgten die einzelnen Schritte des Schachspielers nicht aus einem einmal vorgegebenen Satz von Daten, sondern die Ungewißheit steige mit jedem Zug und nach einigen Zügen sei kein Schritt mehr mit Sicherheit vorherzusagen.

Der Mechaniker Maelzel war nach v. Kempelens Tod in den Besitz des Apparats gelangt.

XIV

Einleitung

Die lustvollen Spekulationen über ein im Unterbau des Schachtisches verborgenes zwergwüchsiges Schachgenie oder magnetische Fernwirkung durch den Vorführer hätten ein schnelles Ende nehmen können, wenn die Zeitgenossen nicht ständig auf die Maschine gestarrt, sondern dem Konstrukteur aufmerksamer zugehört hätten. Der scharfsinnige Erfinder, ein Mann von Bildung, behauptete nie, daß das Automat selbst eigentlich der Spieler sey. Er erklärte vielmehr bestimmt: „die Maschine sey eine Kleinigkeit, die in Hinsicht des Mechanismus nicht ohne alles Verdienst wäre [...]." (Brewster 1833, 316 f.)

Das Gehäuse der 'Sprechmaschine', die v. Kempelen Anfang der 80er Jahre vorstellte, war noch kleiner, so winzig, daß keiner auf die Idee kommen konnte, auch darin einen Menschen zu vermuten - was die Vorstellung um so wirkungsvoller machte: Aus einem Holzkasten von ca. 3 Fuß Länge, in dessen Öffnung von Kempelen mit einem Arm hineingriff, ertönte die Stimme eines jungen Mädchens und nach einigen Fehlversuchen konnten die Zuhörer folgendes hören: Opera, Astronomía, Constantinopolis, vous étes mon ami, je vous aime de tout mon cceur, venez avec moi ä Paris, Leopoldus secundus, Romanorum Imperator Semper Augustus u. s. w. (Brewster 1833, 247)

Thomas Collinson fügte in einem Brief an Hutton noch eine aufschlußreiche Beobachtung hinzu: Bei einem Besuch in Wien habe er deutlich gehört, wie die Maschine exploitation mit merklich französischem Akzent ausgesprochen habe. Bei dem Apparat v. Kempelens mußte es sich nach Brewster um einen der ersten Versuche zur künstlichen Sprachlautsynthese gehandelt haben - ein Unternehmen, das aber ebenso wenig geglückt zu sein schien wie entsprechende Versuche Christian Gottlieb Kratzensteins. Erst Robert Willis hätte in den 20er Jahren des 19- Jahrhunderts erfolgversprechendere Experimente angestellt, und es leide wohl keinen Zweifel, [...] daß, ehe noch ein Jahrhundert verflossen seyn wird, die Wissenschaft sprechende und singende Maschinen ihren Bereicherungen beizählen werde. (Brewster 1833, 250)

Inzwischen sind wir tatsächlich um singende Maschinen bereichert worden und um einige Illusionen ärmer, denn mit einer sprechenden Maschine konnte die Wissenschaft bis heute nicht aufwarten. Sprachwissenschaftler könnten auch - sofern sie sich mit diesem Gegenstand ernsthaft beschäftigten und sich dabei an E. A. Poes Überlegungen zur dialogischen Eigenschaft des Schachspiels orientierten - eine Reihe von guten Gründen angeben, warum eine derartige Maschine prinzipiell nicht sprechen kann, es sei denn, sie träfe auf ein Publikum von Collinsons.

Einleitung

XV

Es begann mich zu interessieren, welche Reaktionen die künstliche Erzeugung menschenähnlicher Sprachlaute im Zeitalter der Aufklärung wohl ausgelöst haben mochte — und was die Gründe dafür sein könnten, daß diese Konstruktionen samt der damit zusammenhängenden sprachund zeichentheoretischen Aspekte aus dem Blickfeld aktueller sprachwissenschaftlicher Überlegungen nahezu verschwunden sind. Ich verfolgte die Geschichte der 'Sprechmaschine' in zwei Richtungen, wovon sich die eine, ins 19- Jahrhundert reichende Spur, recht schnell in sozialgeschichtlich aufschlußreichen, aber linguistisch wenig ertragreichen rhapsodischen Berichten über ihr Auftreten auf Jahrmärkten verlor und die andere bald in die physikalische Akustik und die experimentelle Phonetik führte. Die Vorgeschichte erschien hingegen erfolgversprechender, denn sie förderte schnell eine Reihe von Namen ans Tageslicht, die immer wieder in Zusammenhang mit 'sprechenden' Konstruktionen gebracht werden: außer v. Kempelen und Kratzenstein u.a. noch Abbé Mical, Descartes, Athanasius Kircher, Robert Grosseteste, Friedrich II. von Stauffen und Dädalus. Die historischen Berichte waren jedoch nicht weniger lückenhaft als die des 19- Jahrhunderts und die lange Tradition der 'sprechenden Köpfe' und Androiden zeigte sich im wesentlichen als sorgsam gepflegter Mythos, dessen Bedeutung vor allem darin bestand, das Sprechen als jene Eigenschaft des Menschen zu bewahren, die sich nicht künstlich reproduzieren lasse: Ausnahmslos endete das 'Leben' dieser Konstruktionen durch vor-, besser rechtzeitige Zerstörung, oft genug, um ihre Erbauer oder Besitzer vor größerem Ungemach zu bewahren. Ein Hinweis v. Kempelens, seine Konstruktion könne für die Taubstummenerziehung von Nutzen sein, lenkte meinen Blick auf einen anderen Zusammenhang, denn offensichtlich hatte der Erfinder damit nicht meinen können, daß Gehörlose unmittelbaren Nutzen aus einer Apparatur hätten ziehen können, die ihnen auf recht unvollkommene Weise menschenähnliche Sprachlaute vorspielte. Der Bezug mußte ein anderer sein: Die Kenntnis der mechanischen und akustischen Aspekte der künstlichen Sprachlauterzeugung sollte Aufschluß geben über die physiologischen und akustischen Grundlagen des menschlichen Sprechens - auf gleiche Weise, wie den menschlichen Sprechorganen (mit ihren Funktionen der Phonation und Artikulation) die Konstruktionsprinzipien der 'sprechenden Maschinen' abgeschaut werden sollten. Auf diese Weise wäre im Falle einer erfolgreichen Symbiose von artikulatorischer Phonetik und feinmechanischer Kunst Sprechen sichtbar geworden. Die Taubstummen hätten sich damit die fehlende auditive Kontrolle ihres Sprechens wenigstens partiell über die Augen sichern oder aber den künstlichen Apparat als Sprechprothese verwenden können. In der Literatur der Frühaufklärung gab es noch einen weiteren Zusammenhang von sprachlosen Menschen und 'sprechenden Maschinen': Beide

XVI

Einleitung

wurden gleichermaßen Sprechautomaten genannt, sprachbegabten Tieren ähnliche Gebilde, deren mechanisch makelloser Körper nichts weiter als eine, wenn nicht unbeseelte, so doch zumindest bar jeder Vernunft existierenden Hülle sei, deren Äußerungen nur als ein Produkt organischmechanischer Vorgänge betrachtet werden könnten. Damit war der Zusammenhang von Sprechen und Denken angesprochen, und der Skandal, den die künstliche Menschenstimme im 18. Jahrhundert machte, gewann Konturen. Wenn kein Denken ohne Sprechen vorstellbar war, wie hätte es dann Sprechen ohne eine ursächliche Intelligenz geben können? Die Geschichte der Taubstummen hat nun zu jener der 'sprechenden' Maschinen eine bemerkenswerte Parallele, denn auch sie führt von den 'realen' Taubstummen des späten 18. Jahrhunderts, etwa denen am Wiener Taubstummeninstitut, auf die v. Kempelen anspielte oder den Schülern des Abbé de l'Épée in Paris, zurück zu mehr oder weniger literarischen Gestalten, die Diderots 'Lettre sur les sourds et muets' oder frühe Berichte über tatsächliche oder vermeintliche Heilerfolge von Taubstummenlehrem des 17. Jahrhunderts bevölkerten. Dies liegt nicht etwa an nur bruchstückhafter Überlieferung älterer Texte, sondern daran, daß der Taubstumme wie der 'Sprechautomat' - solange man sie nicht wirklich vor Augen hatte - als Projektionsfläche für erkenntnis- und sprachtheoretische Theoreme, manchmal auch Obsessionen herhalten mußten. Die weitere Geschichte der Taubstummen im 19. Jahrhundert führt gleichfalls aus dem Zentrum öffentlichen (und sprachwissenschaftlichen) Interesses hinaus in die Hospitäler und Gehörlosenanstalten, d.h. diese Menschen waren vorübergehend fast ausschließlich Gegenstand von Sprachheilkunde und Sonderpädagogik und wurden erst im Kontext von neurolinguistischen, kommunikationstheoretischen und kognitionspsychologischen Fragestellungen auch für die Sprachwissenschaft 'wiederentdeckt'. Die historische Figur des Taubstummen hatte einen Gefährten - den Blinden. Die denkbare wechselseitige Kompensation ihrer jeweiligen Gebrechen könnte zu der Vermutung verleiten, sie hätten gerade in Zeiten der Diskussion über den Zusammenhang von sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis stets gemeinsam auftreten müssen. Doch dieses Paar hat es merkwürdigerweise so nicht gegeben, denn zunächst bevölkerten Blinde die Paradigmenschlachten des frühen 18. Jahrhunderts, bevor sie dann ab der Jahrhundertmitte den Taubstummen das Feld überließen. Die Gründe dafür reichen weiter zurück. Die neuzeitliche Entwicklung, den Erwerb von Wissen an die visuelle Wahrnehmung zu binden, erreichte Ende des 17. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt: Newtons Farbenlehre war zugleich auch eine Theorie des Sehens und des Wissens. Die epistemologische Überlegenheit des Auges war nicht unbestritten, wie die Debatte um die Molyneux-Locke-Hypothese und Condillacs Etablierung

Einleitung

XVII

des Tastsinns als der für die Begriffsbildung gegenüber dem Gesicht grundlegenderen Form der sinnlichen Wahrnehmung erkennen läßt. Von der frühen Neuzeit an läßt sich eine Verschiebung von einer handwerklich-ästhetischen zu einer kognitiven Fassung der Theorie des Sehens beobachten. 2 Im Verlaufe des 18. Jahrhunderts kehrte sich diese Entwicklung wieder um, und die Re-ästhetisierung der visuellen Wahrnehmung zeigt sich in aller Deutlichkeit an der Diskussion um Castels Farbenklavier und in Goethes gegen Newton gesetzte Farbenlehre. Der kognitiven Leistungsfähigkeit des Auges erwuchsen in der taktilen und auditiven Wahrnehmung konkurrierende Sinne, vor allem das Hören rückte zusammen mit dem Sprachthema immer mehr ins Zentrum des Blicks. Diese Verschiebung spiegelt sich emblematisch im Austausch der Modelle: Der Blinde als Projektion eines seines zentralen kognitiven 'Organs' beraubten Wesens wurde ersetzt durch den Taubstummen. Diderots 'Lettre sur les aveugles' war die Absage an das Monopol des Auges, und der Artikel 'Encyclopédie' setzte die Sprache in ihr Recht als diejenige Form, in der Wissen aufgehoben, weitergegeben und erlernt werde. Die 'Lettre sur les sourds et muets' beendete die 'negative' Sprachphilosophie (Herder) - den Streit um den 'Mißbrauch der Wörter' - auf andere Art: Diderot versuchte, die Sprach-Form als Verschmelzung von Wahrnehmungs- und Denkform zu entschlüsseln und damit einer an Umfang zunehmenden ästhetischen und rezeptionsästhetischen Debatte eine zeichentheoretische und -historische Begründung zu liefern. Die beiden Briefe erschienen kurz vor und nach der Jahrhundertmitte, teilen also in überraschender Symmetrie das 18. Jahrhundert in eine erste Hälfte, in der die kognitiven Aspekte des Sehens bearbeitet wurden, und in eine zweite, in der der Zusammenhang von Denken und Gedächtnis, Empfinden und Sprechen zum Thema wurde. Auf eine historische Tradition einer derartigen Zäsur in der Jahrhundertmitte verwies d'Alembert - seinerseits selbst für die des 18. Jahrhunderts verantwortlich - gleich zu Beginn seines 'Essai sur les elemens de philosophie': Il semble que depuis environs trois cent ans, la nature ait destiné le milieu de chaque siecle a être l'époque d'une révolution dans l'esprit humain. La prise de Constantinople au milieu du quinzième siecle a fait renaître les Lettres en Occident. Le milieu du seizieme a vu changer rapidement la religion et le système d'une grande partie de l'Europe. [...] Enfin Descartes au milieu du dix-septieme siecle a fondé une nouvelle Philosophie [...]. (d'Alembert 1759/1986, 9 f.)

1

Dieser Prozeß verlief aber nicht ganz ungestört, vgl. etwa den Einbruch der mündlichen in die okulare Ästhetik im 16. Jahrhundert, dem 'siècle de précurseurs, c'est-à-dire d'hommes sans descendance, d'hommes qui n'engendrent rien'. (Vgl. Febvre 1947, 460 und 464)

XVIII

Einleitung

Welch intellektuelle Veränderung er selbst erlebte und gestaltete, läßt sich nicht en passant beschreiben; er selbst deutete an, daß sich aus der Geschwindigkeit dieser Umgestaltung Größeres entwickeln könne, "on apperçoit sans peine qu'il s'est fait à plusieurs égards un changement bien remarquable dans nos idées; changement qui par sa rapidité semble nous en promettre un plus grand encore." (d'Alembert 1759/1767, 10) Der Umsturz, den die Hierarchie der Sinne erfuhr, ist nur ein kleiner, wenn auch vielleicht nicht der geringste Teil dieses Prozesses, der dann eine veritable Revolution der Institutionen vorbereitete - diesmal ausnahmsweise gegen Ende eines Jahrhunderts. Diese zeitliche Geometrie auf der Ebene der Fragen nach der Genese von Wissen im Zusammenhang mit der (auch ästhetischen) Form, in der dieses Wissen gestaltet und verbreitet wurde, war gegenüber der physiologischen Forschung zum Sehen und Sprechen um etwa ein halbes Jahrhundert verschoben. Im 17. Jahrhundert wurden die anatomischen und physiologischen Grundlagen des Sehens, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts die der Stimme gelegt. Mit dem Auge und dem Gesichtssinn befaßten sich vor allem Descartes und Malebranche, mit der Erforschung der Stimmorgane Dodart, Ferrein, Haller und Vicq d'Azyr, wobei die Pathologie den Medizinern ein geradezu unerschöpfliches Reservoir anschaulichen Materials bot. Auch das vierte Mitglied in der Familie der partiell reduzierten Wesen, das Farbenklavier des Jesuiten Louis-Bertrand Castel, hatte eine vergleichbare Geschichte. Der Gedanke, musikalische Harmonien in Farbkonstellationen umzusetzen, hatte u. a. Kircher, Malebranche und Newton gereizt. Das Projekt einer mechanischen Realisierung dieses physikalisch wie ästhetisch reizvollen Gedankens regte die Phantasie der Zeitgenossen nicht minder an als die Vorstellung, was in einem von Geburt an Blinden, in einem Taubgeborenen und in einer Maschine, die eine menschliche Stimme ertönen ließ, vorgehe. Zunächst noch Gedankenfiguren, nahmen sie allmählich reale Gestalt an, um (immer noch als Modelle) die theoretischen Kontroversen in doppelter Weise zu strukturieren: Sie bildeten einen Fokus, der moralische, erkenntnistheoretische, ästhetische und sprachtheoretische Fragen bündeln half und banden sie in einen schon historischen Diskussionsprozeß ein. 3 3

Die Figur des 'Blinden' wurde aus der Molyneux-Locke-Hypothese geboren (dazu ausführlich Teil I, Kap. 2), der eine für das gesamte 18. Jahrhundert folgenreiche Frage zugrunde lag und deren Bedeutung für die Forschung auch Cassirer herausgehoben hat: „Wenn man die Einzelfragen überblickt, die die Erkenntnislehre und die Psychologie des achtzehnten Jahrhunderts behandelt hat, so zeigt sich, daß sie sich, bei aller ihrer Mannigfaltigkeit und ihrer inneren Verschiedenheit, um einen gemeinsamen Mittelpunkt gruppieren. Die Detailforschung sieht sich in all ihrem Reichtum und in ihrer scheinba(Fortsetzung nächste Seite)

Einleitung

XIX

So unvergleichlich die Gestalten dieser Figuren auch waren, so hatten sie doch eines gemein: Man konnte um sie herumgehen, sie von allen Seiten betrachten, in sie hineinzusehen versuchen - und wenn dies nicht gelang, sich in sie hineindenken. Auf diese Weise kam es nicht nur zu tieferen Einsichten über das Verhältnis von sinnlicher Wahrnehmung und Denkvorgängen, von Anschauung und sprachlichem Ausdruck, sondern auch zu verschiedenen Ansichten vom Menschen.4 Die Besonderheit dieser Figuren lag darin, daß sie diese Bedeutung trotz der markanten Metamorphose vom Gedanken- zum Realmodell nicht verloren, und dies lag wohl darin begründet, daß sie ihre Eigenschaft bewahren konnten, Theorien Gestalt zu geben und damit den Anspruch einer einheitlichen Wissenschaftsauffassung, der 'science de l'homme', einer wissenschaftlich interessierten Öffentlichkeit besonders gut vermitteln konnten. Zugleich waren der Blinde, der Taubstumme, das Farbenklavier und die sprechende Maschine als konstruktionsbedingt beschränkte Figuren für das allgemein bevorzugte Verfahren der Reduktion besonders gut geeignet. Ein Vergleich der an Blinden und Taubstummen beobachteten Leistungen mentaler und sprachlicher Natur mit denen von Normalsinnigen, der Kontrast zwischen den apparativ-mechanischen und den organisch-menschlichen Äußerungen rückte die Leistungen der einzelnen Sinne und des gesamten Menschen ins Licht. Ihnen war die Statue Condillacs und Bonnets abgeschaut, die auf paradigmatische Weise den methodischen Weg der Analyse und Synthese verkörperte - wobei im zweiten Schritt die Begrenztheit des Modells erkennbar und die Aufgabe des Gedankenmodells zugunsten der Erforschung des wirklichen Menschen unumgänglich wurde. Die Wiederaufnahme des Statuenthemas durch J.J. Engel und Moses Mendelssohn in den 80er Jahren war ein ironischer Nachruf auf den Versuch, den Menschen als zunächst leere Hülle zu denken, die sich dann nach und nach mit sorgsam präparierten Wahrnehmungseinheiten anfülle. Als der 'Traité des sensations' Condillacs 1754 erschien (und sechs Jahre verspätet Bonnets 'Essai analytique sur les facultés de l'âme'), traf ihre 'Statue' schon auf Konkurrenz, denn inzwischen war der lebende Mensch (wenn auch zunächst als sein gedankliches Abbild) an ihre Stelle gerückt: Diderot gab seinen Hypothesen über die kognitiven Eigenschaften der ren Zersplitterung stets aufs neue auf ein allgemeines theoretisches Grundproblem hingeführt, in dem die Fäden der Untersuchung sich vereinen. Es handelt sich um jene Frage, die zuerst in Molyneux' Optik gestellt worden war, und die alsbald das stärkste philosophische Interesse erweckt hatte". (Cassirer 1973, 144) Als kleiner Vorgeschmack mag die Darstellung des Taubstummen zu Beginn des ersten Teils meiner Untersuchung dienen: Sie zeigt vier verschiedene Ansichten eines Taubstummen, wovon drei Jean Massieu betreffen - doch war es wirklich immer er selbst?

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Sinne des Menschen und ihren Einfluß auf die unterschiedlichen Formen des ästhetischen Ausdrucks eine neue Gestalt, wollte kein schweigendes Konstrukt manipulieren, sondern mit den Nachbildungen wirklicher Menschen in Dialog treten. Noch fehlte der letzte Schritt: Die Gegenüberstellung der Gedankenügur mit dem leibhaftigen Menschen, d.h. die Beobachtung und experimentelle Bearbeitung des lebenden Menschen. Der Glaube, den Menschen gleich Pflanzen und Tieren beobachten zu können (Bonnet), wäre durch die ein Jahrzehnt zuvor veröffentlichten beiden 'Lettres' Diderots schon fast zum Anachronismus geworden, wenn sich die 'science de l'homme' unverzüglich die dort formulierten Prinzipien zu eigen gemacht hätte. Er war aber spätestens dann fragwürdig geworden, als die von Karl Philipp Moritz geäußerte Kritik, man habe über 'Sammeln und Ordnen die Betrachtung des subjektivistischen Daseins vernachlässigt', eine Umkehr der Blickrichtung von 'innen' nach 'außen' signalisierte. Die Zähigkeit, mit der sich diese 'Figuren' als markante Form der Gestaltung von Theorien bis zum Jahrhundertende hielten, zeigt, daß sich die kognitiven Verfahren in der Wissenschaft nicht in gleicher Weise, zumindest nicht in gleicher Geschwindigkeit vollzogen wie die Metamorphosen der 'Figuren' selbst und die an ihnen explizierten Erkenntnistheorien: Beschriebene und beschreibende Erkenntnis traten auseinander. 5 Für die praktische wissenschaftliche Arbeit blieb das Auge das vorherrschende Erkenntnisorgan. Die Untersuchungsobjekte wurden in Augenschein genommen, und allein die vor den Augen mehrerer Anwesenden ablaufenden Vorgänge galten als wissenschaftlich ernstzunehmende Demonstrationen. Die theoriegeleitete Augenwahrnehmung gehörte zu den methodischen Grundlagen nicht nur anatomischer und physiologischer Forschungen 6 , sondern prägte auch die Untersuchung geistiger, emotionaler und sprachlicher Vorgänge und begleitete den Wandel von beobachtenden zu experimentellen Verfahren. 7 1

6

Dies geschah übrigens schon recht früh, wie an Fontenelles Desiderat von 1701 deutlich wird, die Philosophen sollten doch dem Gehör eine ähnlich intensive Beachtung schenken wie dem Gesicht. (S. u., 528) Für eine effiziente Praxis, schrieb der Hallenser Mediziner Friedrich Hoffmann, genüge die Urteilskraft allein nicht, „sondern es bedarf darüber hinaus einer fundierten physikalischen, mechanischen, chemischen und medizinischen Theorie, ohne die man beim Beobachten weder eine Wahrheit ans Licht bringen noch die Ursachen irgendwelcher Wirkungen oder Erscheinungen aufdecken kann". (Hoffmann, Consultationes, zit. nach Canguilhem 1989, 45) Dies setzte sich bis in die Metaphorik einer als Erfahrungswissenschaft konzipierten Psychologie fort: „Wer weder ein blinder Empiriker noch ein romanhafter Projektenmacher sein will, muß notwendig zugleich sehen und überlegen, die Beobachtungen mit Vernunft prüfen, aus den geprüften Erfahrungen einfache Grundsätze abziehen und so die Wirkungen jeder bildenen Ursache einzeln aus Erfahrungen bestimmen und alsdann ihre Stärke und Größe und ihre Beziehungen aufeinander [...] zu schätzen suchen; und wenn (Fortsetzung nächste Seite)

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Eines der markantesten Beispiele sind phonetische Untersuchungen im 18. Jahrhundert, die durchweg das Ziel hatten, durch geeignete Verfahren die Lauterzeugung unmittelbar und den Sprachlaut vermittelt sichtbar zu machen. Als wissenschaftlicher Gegenstand jedoch rückte das Gehör an die Seite des Gesichts, und damit Sprache in den Mittelpunkt der Betrachtungen, denn sie ist als Schrift und Laut mit beiden Wahrnehmungsformen verknüpft. So löste auch die physiologische Forschung jene Vorgabe ein, die seit Beginn des 18. Jahrhunderts zunächst epistemologisch, dann anthropologisch verschoben die Debatte strukturierte: Sprache sei nichts weniger als eine nur dem Menschen eigene Extension der Sinne. Das Ergebnis der Rekonstruktion der Geschichte dieser vier Figuren war eine zunächst serielle Ordnung von Texten, wobei, anders als etwa im 'Ideologenprojekt' (das mit meiner Untersuchung mehr als nur historische Berührungsflächen aufweist, so z.B. die gemeinsame Frage nach den Anfängen einer 'kognitiven' Wissenschaft), nicht eine programmatische oder wissenschaftssoziologische Zuordnung die Serie s t i f t e t e s o n d e r n eben jene Figuren. Der Nachteil dieses Verfahrens liegt in dem notwendig extensiven Umgang mit historischem Material, was, wie Hans H. Christmann es mit Jacob Burckhardt treffend formuliert hat, die Gefahr birgt, Augen und Nerven zu schädigen. Der Vorteil freilich - sofern man diesen ersten Durchgang unbeschadet überstanden hat - liegt darin, daß eine solche 'Serie' eine Folge von Texten ist, in denen die diachrone Struktur einer Debatte offengelegt wird, ohne irgendwelche kunstvollen oder künstlichen historiographischen Bindemittel nötig zu haben. Diese Lektüre läuft freilich Gefahr, sich für die Figur um ihrer selbst willen zu interessieren, „zum Schaden des Spiels, das sich in ihr metaphorisch abspielt" (Derrida 1976, 30) - womit auch schon die Grenzen dieses auf den ersten Blick einfachen historischen Ordnungsprinzips angedeutet sind. Immerhin können so jene Probleme des hermeneutischen Umgangs mit historischen Texten etwas entschärft werden, die besonders mit dem dies geschehen ist, die Grundsätze wiederum auf die Beobachtungen anwenden. Und wenn diese Vergleichung der allgemeinen Grundsätze und der einzelnen Fälle fortgesetzt wird, so kommt man auf den wahren Weg zu sicheren Erfahrungskenntnissen, d.i. zu solchen, worinnen jedweder Gemeinsatz seine gehörigen Bestimmungen und seinen wahren Umfang hat". (Tetens 1777, 2, 588) „Es käme also darauf an, möglichst homogene Quellenserien zu erschließen, die die Geschichte eines bestimmten Texttyps oder eines bestimmten Theorems möglichst lückenlos rekonstruieren läßt. Dies bedeutet unter anderem eine Aufwertung der 'Triviallinguistik' gegenüber den 'großen' Autoren, die bisher im Zentrum des Interesses standen. Die Etablierung solcher Quellenserien erlaubt es, den Zeitpunkt und damit auch die Bedingungen von sprachwissenschaftsgeschichtlichen Veränderungen genauer zu lokalisieren." (Schlieben-Lange u.a. 1989, 18) Zum 'regard sériel' vgl. auch Schlieben-Lange 1986, 189.

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zum 'regard sériel' gegenläufigen Verfahren verbunden sind, nämlich Quellen als 'Intertexte' zu lesen, um so die jeweils besondere Verarbeitung zeitgenössischen Wissens kennenzulernen. Eine schätzenswerte Eigenschaft der 'Figuren' ist es nämlich, auch andere als die in ihnen bisher angelegten, durchgängigen Themen zu binden und damit dem Autor die Möglichkeit zu geben, die 'Figur' zum Behältnis einer ganz andersartigen thematischen Struktur zu machen. Dieses für ihn so praktische Verfahren bedeutete aber nun, daß für mich der zweite Arbeitsschritt, die nochmalige Lektüre der Texte als Intertexte, nicht minder strapaziös war als die erste. Es ging jetzt darum, die Figuren als sichtbares Resultat von 'prismischen' Brechungen (Viala) auszudeuten als Sprach-Figuren im doppelten Sinne: Sie sollten als Metaphern - wie die Figuren in der Geometrie - genauere Vorstellungen von dem vermitteln, was sonst nur verschwommen vorgestellt werden konnte, und sie waren zugleich Thema der Darstellung. Die Folge der Figuren suggeriert eine Gradlinigkeit der historischen Debatten, die es so nie gegeben hat - die Vorstellung von 'Fäden', die sich in Fragen bündeln, hat den gleichen Status wie die Fäden auf dem Rechenbrett des blinden Geometrikers Saunderson - sie sind Metaphern, deren Aufgabe es ist, Verbindungen zwischen zwei oder mehreren Punkten herzustellen11, und deren Konnotation von Orthogenese für die Geometrie zwar brauchbar, für die Wissenschaftsgeschichte jedoch ihre Tücken hat. 9

"La création textuelle s'accomplit à travers u n e n s e m b l e d e prismes. Prisme d e la langue et d e la p s y c h é d e l'auteur, mais aussi prismes constitués par la structure m ê m e d u c h a m p et, au sein d e celui-ci, par les c o d e s particuliers d e c h a q u e institution et p a r les rélations des institutions entre elles. Prismes, aussi, d e s c o m p é t e n c e s et attentes d e s lecteurs, lesquels subissent à leur tour les effets d u c o d e d e genres, d e s réputations établies p a r les critiques, d e s habitudes d e p e n s é e acquises a u cours de leur formation; bref, d e toute u n e 'rhetorique du lecteur'. Ce q u e le texte dit de la société (son réfèrent) et ce qu'il dit à la société (son discours) se diffractent ainsi selon les réactions q u ' e s c o m p t e l'auteur d e la part d e s institutions et d u public. L'imaginaire d'un écrivain, c'est, aussi, la construction d ' u n image d e lui au sein d e l'espace littéraire, et son estétique, la f o r m e qu'il d o n n e à cette image." (Viala 1985, 10)

10

"Le metafore p r o d u c o n o u n effetto pari a q u e l l o che nella Geometria fan le figure [...], ci a j u t a n o a fissare le idee, c h e senza u n tal soccorso rimarrebbon c o n f u s e nella massa delle nostre percezioni, e r e n d o n visibile et palpabile ciò, c h e alle m e n t e per sé m e d e s i m o s e m b r a impercettibile [...]. Gli stessi Artigiani usan talvolta delle metafore felicissime cavate dai termini della lor arte [...1." (Soave, Saggio filosofico di Gio. Locke [...] c o m p e n diato dal dr. W i n n e tradotto e c o m m e n t a t o da F. Soave. Venezia 1775, 2 1790, zit. n a c h Formigari 1983, 41) Formigari weist auf d e n h a n d w e r k l i c h e n Hintergrund dieses 'geometrischen' Diskurses hin, der, wie es d e r 'Prospekt' deutlich betont, a u c h das Encyclopédie-Projekt geprägt hat u n d - wie a u c h in d e m von mir vorgestellten Material deutlich wird - eine deutliche Scheidung von 'wissenschaftlicher' u n d 'handwerklicher' Bearbeit u n g v o n Sprache im 18. Jahrhundert fragwürdig w e r d e n läßt.

"

S. u., 62, Abb. 10.

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Die auf den ersten Blick einsträngige Spur der Figuren verliert nämlich dadurch ihre Einfachheit, daß sie wie Kristallisationskerne ein teilweise sehr umfassendes Wissens- und Theoriefeld organisieren, das mit einer Liste von Namen wissenschaftlicher Disziplinen (Philosophie, Sprachwissenschaft, Medizin, Physik etc.) nur unzureichend, wenn nicht unzutreffend beschrieben wäre. Wie die Figuren selbst, die sich vom zweidimensionalen Dreieck zum dreidimensionalen Körper der Statue und weiter zum geometrisch nicht mehr hinreichend beschreibbaren Menschen entwickelten, beschränkt sich auch meine Darstellung nicht darauf, nur die Geschichte der Figuren zu schreiben. Wie in der wirklichen Orthogenese, die als ein gerichteter Prozeß der organischen Differenzierung aufgefaßt wird, war der Komplexitätszuwachs der Figuren (oder gar ihre Metamorphose) eine Antwort auf die theoretischen Anforderungen, denen sie als (vorempirische) Modelle durch die Akkumulation von Wissen über die Natur des Menschen und seiner ihn umgebenden Welt ausgesetzt waren. Wirklich problematisch wird eine Unilinearitätsannahme aber erst dann, wenn sie in der historiographischen Rekonstruktion als Retrospektiv verwendet wird, wie es zum Beispiel in der Forderung nach Rekonstruktion der Linguistikgeschichte 'als Teil der Disziplin selbst' der Fall ist. Disziplin, 'ce mot ici, fait anachronisme'. 12 Das Ergebnis dieses Verfahrens für den von mir bearbeiteten Zeitraum wäre ein schon mehrfach beklagtes 'Schweigen', denn eine disziplinare Perspektive (die damit dem gewiß nicht interesselosen Rückblick von Sprachwissenschaftlern des 19- Jahrhunderts folgte) fiele dem anheim, was Hartmut Schmidt zu Beginn seiner Arbeit über die Entstehung des Organismuskonzepts die „lange währende Betriebsblindheit der deutschen Germanistik" nennt: Eine Erklärung der Wege der deutschen Sprachwissenschaft ohne Rücksicht auf das vorausgehende Jahrhundert ginge in die Irre. (Schmidt 1986, 1) Der blinde Fleck in der Wissenschaftsgeschichte der Sprachwissenschaft blendet vor allem zwei Aspekte aus, um die es mir in meiner Untersuchung geht. Die Etablierung der Sprachwissenschaft als akademische Disziplin hatte ihren Preis in der Zurückweisung oder zumindest Vernachlässigung eines großen Anteils gerade jener Fragen, die das Sprachthema im 18. Jahrhundert zu einem der Kernpunkte eines einheitlichen Konzepts von Wissenschaft werden ließen und darüberhinaus auch noch populär machten. Der Versuch, mehr über Sprache zu erfahren, bestand nicht darin, diese vom Menschen zu lösen, sondern in der Erforschung der Sprache am Menschen, was in dem an Paradoxien nicht armen Jahrhundert am besten dadurch geschehen sollte, daß man zunächst überlegte, später 12

In Abwandlung des von Febvre mit gleicher Absicht auf das 16. Jahrhundert gemünzte Diktum 'La science; ce mot ici, fait anachronisme'.

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beobachtete, was wohl geschehen würde, w e n n man bislang Sprachlose zum Sprechen brächte. Der andere, gleichfalls verdrängte Aspekt war die nationenübergreifende Zirkulation von Konzepten (was durch die handliche Form der Figuren begünstigt wurde) als eines der wesentlichen Merkmale aufgeklärter Wissenschaft und Öffentlichkeit. La circulation des modèles et des idées avait un excellent vecteur dans la circulation des hommes. Il était courant que les mêmes individus siègent dans plusieurs sociétés, successivement ou à la fois, et que des provinciaux, après s'être initiés dans les académies de leurs villes, aillent ensuite s'affirmer à Paris. (Viala 1985, 23) 13 Die folgenden Untersuchungen k ö n n e n zu einer 'aktualistischen' Lesweise reizen, d.h. es stellen sich sehr schnell Verbindungen zu ( n o c h ) heute aktuellen Problemstellungen und theoretischen Konzepten ein - was auch in gewisser Weise beabsichtigt ist. Meine eigene historische Rekonstruktion ist jedoch nicht von dieser Perspektive her angelegt, denn die Aneignung von Wissenschaftsgeschichte kann nicht darin bestehen, sie sich nach den jeweiligen Bedürfnissen zurechtzumodeln oder gar im 'Lichte' neuerer Forschungsergebnisse zu bewerten. Das hat weniger mit Pietät vor der Geschichte als mit der schlichten Erfahrung zu tun, daß die Beleuchtung, die eine solche aktualistische historische Darstellung illuminiert, schon nach kurzer Zeit trübe wird oder erlischt. Die narrative Darstellung (im Sinne einer 'evidentia in narratione') läßt weniger Raum für die theoretische Selbstvergewisserung des Autors und vertraut darauf, daß der historische Diskussionsprozeß 'trägt', d.h. genügend Kohärenz und Überzeugungskraft enthält, um o h n e anachronistische Stützen auszukommen. Ich bin von diesem Verfahren nur zweimal abgewichen: bei der Darstellung spezieller Aspekte der Zeichensprache von Taubstummen (Teil I) und bei der experimentellen Phonetik (Teil II). Vorwiegend in den Fußnoten habe ich dort einen Kommentar mitgeführt, der sich auf neuere Forschungen zu diesem Gegenstand bezieht. D e n meisten Lesern dürfte es nämlich kaum anders ergehen als mir - die dort angesprochenen sachlichen Zusammenhänge sind zunächst mehr oder weniger fremd. Auch w e n n ich damit das Risiko eingehe, Selbstverständlichkeiten darzubieten, halte ich es für nur fair, den Lesern j e n e Hilfen nicht zu verweigern, auf die ich selbst zurückgegriffen habe, um mich auf zunächst unbekanntem Terrain zurechtzufinden. Ansonsten h a b e ich mich aktueller Kommentare enthalten, denn die Bedeutung der historischen Diskussion für verschie-

13

Diese auf das 17. Jahrhundert und Frankreich bezogene Beschreibung gilt auch für das folgende Jahrhundert, mit dem Unterschied allerdings, daß hier die Akademien vor allem den Austausch von Informationen und Personen zwischen den einzelnen Ländern organisierten.

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dene notorische Fragen der Sprachwissenschaft - so man bereit ist, sie überhaupt zur Kenntnis zu nehmen - ist zu offensichtlich, als daß sie besonderer Hinweise bedürfte. Zum Schluß möchte ich Leserin und Leser meines Mitgefühls versichern, angesichts dessen, was ich hinter mich gebracht habe und auf Sie zukommt und was Robert Burton in seiner 'Anatomie der Melancholie' in die Worte faßte: We shall have a vast chaos and confusion of books, we are oppressed by them, our eyes ache with reading, our fingers with turning.

TEIL I ÜBER GEOMETRIE UND SPRACHE, FIGUREN UND MENSCHEN

jr éfoun/-.

MASSIEU, 2 is

S. o., Kap. 2.6. Vgl. Herder, Fragment 'Philosophie des Wahren, Guten, Schönen aus dem Sinne des Gefühls'. SWS, 8, 104.

3.3. Genetische Rekonstruktion

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A b e r horch! das S c h a f blöket! D a reißt sich Ein Merkmal v o n der L e i n w a n d d e s F a r b e n b i l d e s , w o r i n s o w e n i g zu u n t e r s c h e i d e n war, v o n selbst los: ist tief u n d deutlich in die S e e l e g e d r u n g e n . 'Ha! sagt der l e r n e n d e U n m ü n d i g e , w i e j e n e r B l i n d g e w e s e n e C h e s e l d e n s , n u n w e r d e ich D i c h w i e d e r e r k e n n e n - du blökst!' (Herder, W e r k e , 2, 2 8 7 f.)

Die Interjektion ha annoncierte sich dem imaginären Beobachter als erster gemeinschaftlicher, noch 'furchtsamer Schritt' von Sprache und Vernunft, während dem Entstummten das Blöken als Naturlaut 'tief in die Seele hinein' tönte, so nahe, daß sie ihn als 'tönendes Wort', als erstes Wort für sich erhaschen konnte. Das erste Wort an sich aber war ha. Im Unterschied zum reflexiven 'moi' der Statue des Rousseauschen Pygmalion verkündet die Interjektion keine Selbstbewußtwerdung, sondern die Apperzeption des fremden Objekts, eine Metasprache, die dem Lernenden noch nicht einmal bewußt war, dem Beobachter aber alles sagte. Herder hatte vermutlich diese Interjektion nicht ohne Bedacht gewählt, denn sie konnte, ob aspiriert oder nicht, als einfachster aller Laute, als unartikulierter Laut durchgehen, zu dessen Realisierung man nur den Mund aufzumachen und die Luft aus den Lungen hinauszustoßen brauchte, wie du Marsais in der 'Encyclopédie' geschrieben hatte.14 Doch die indexikalische Bedeutung des ha war beträchtlich, denn nur sie gab dem Beobachter zu erkennen, daß sich Vernunft und Natur 'auf halbem Wege' getroffen hatten. Damit stellte sich hinterrücks das Sprachproblem erneut: Herders Versuch, die Sprachfalle des Cheselden-Experiments zu vermeiden, führte ihn in die Verlegenheit, daß sich der Ursprung der Sprache aus den unterschiedlichen Perspektiven von Selbst- und Fremdbeobachtung recht verschieden anhörte.3' Wäre Herder auf diese methodologische Schwierigkeit hier eingegangen, hätte seine Konstruktion der Ursprungsidylle Schaden genommen. So aber kann er die Trigger-Funktion des Hörreizes in immer wieder neuen Varianten durchspielen und die vermittelnde Funktion des Gehörs bei der geistigen Aneignung der Umwelt, dann auch bei der kommunikativen Übermittlung dieses Wissens an andere herausheben. Dabei ist interessant, zu sehen, wie bei der Sprachwerdung des Menschen zunächst das Gefühl zur zentralen Instanz eines InteriorisierungsHerder kannte den Artikel 'A' der 'Encyclopédie', wo du Marsais die nicht-aspirierte Variante so charakterisierte: "A, en tant que lettre, est le signe du son a, qui de tous les sons de la voix est le plus facile à prononcer. Il ne faut qu'ouvrir la bouche & pousser l'air des poumons." (Enc. Méth., Gramm. & Litt., 1, 1) Daran hätten sich nun sprachtheorische Überlegungen anschließen können, wie sie beispielsweise Diderot in seiner 'Lettre sur les sourds et muets' angestellt hatte. Diese jedoch wurden just an dieser Stelle mit dem Bemerken vom Tisch gewischt, Diderot habe sich 'nur bei Inversionen und hundert anderen Kleinigkeiten' aufgehalten, anstatt auf die 'Hauptmaterie' zu kommen. Vgl. Herder, Werke, 2, 288.

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Teil I, 3. Sehen, H ö r e n und Fühlen

prozesses, der aus einem mehrstufigen Übersetzungsverfahren besteht, erhoben - dann aber in einer zweiten Phase der Aktualisierung von Bewußtseinsinhalten das Gehör zum wesentlichen Medium erklärt wurde. In einer kurz nach der Ursprungsidylle folgenden Kommentierung dieser Szene plazierte Herder das ungeübte Sehen, wie übrigens auch Condillac, unmittelbar auf die Augenoberfläche, [...] dieses Gesicht war, wie Kinder u n d Blindgewesene zeugen, Anfangs nur Gefühl. Die meisten sichtbaren Dinge b e w e g e n sich; viele tönen in der Bewegung: w o nicht, so liegen sie d e m Auge in seinem ersten Zustande gleichsam näher, unmittelbar auf ihm, und lassen sich also fühlen. (Herder, Werke, 2, 298)

Im nächsten Schritt assoziierte Herder Gefühl und Gehör: Das Gefühl liegt d e m Gehör so nahe: seine Bezeichnungen, z.E. hart, rauh, weich, wolligt, sanunet, haarigt, starr, glatt, schlicht, borstig usw. die doch alle nur Oberflächen betreffen, und nicht einmal tief einwürken, tönen alle, als ob mans fühlte [...]. (Herder, Werke, 2, 298)

Klarer als in der Ursprungsschrift arbeitete Herder die Trigger-Funktion des Gehörs in der anderen, allerdings erfolglosen Preisschrift 'Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele' heraus und nahm darin gleichfalls viele Gedanken der früheren Skizzen auf. Taubstumme zeigten, wie in ihnen tief Vernunft und Selbstbewußtsein schlummere. So, wie dem Auge das Licht, dem Ohr der Schall als 'Stab' zu Hilfe kommen mußte, um das innere Bewußtsein aufzuwecken, so auch Sprache den Sinnen: So wie diese äußere Medien für ihre Sinne würklich Sprache sind, die ihnen gewisse Eigenschaften und Seiten der Dinge vorbuchstabiren: so, glaub' ich, mußte Wort, Sprache zu Hülfe kommen, unser Innigstes Sehen und Hören gleichfalls zu w e c k e n u n d zu leiten. So, sehen wir, sammlet sich das Kind, es lernt sprechen, wie es sehen lernt, u n d genau dem zu Folge denken. (Herder, SWS, 8, 197)17

Mit der Umkehrung der von Voltaire und Condillac geprägten Formel, man müsse das Sehen lernen wie man sprechen lerne, kündigte sich eine deutliche Akzentverschiebung an: Das komplementäre Paar Gesicht und Gefühl wurde zunächst um das Gehör zur Trias erweitert. Daraus ist ein nun neues Gespann geworden, auch wenn Gesicht und Gehör als „ungleiche Rosse" am „Wagen der Psyche ziehen". (Herder, SWS, 8, 188) Den entscheidenden Beitrag dazu habe weder die Artikulationsfähigkeit des Menschen noch seine Soziabilität oder die sich in die Welt hinausfühlende Seele geleistet, sondern die „vieltönige, göttliche Natur" als „Sprachlehrerin und Muse". (Herder, Werke, 2, 289) Vgl. die e n t s p r e c h e n d e Diskussion u m d e n Taubstummen von Chartres bei Wolff in Teil I, Kap. 1.1. Ich zitiere n a c h der Fassung von 1778.

3.4. Die Emanzipation der Modelle

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3.4. Die Emanzipation der Modelle - die Statue beginnt zu reden Rückte daher ein höheres Wesen unsere Sehnerven durch ein Wunder in die Stelle der Gehörnerven und diesen in die Stelle des ersteren, so würden wir weder sehen noch hören können. (M. Hißmann)

Charles Bonnets Geschöpf mußte ohne diese Einflüsterungen auskommen, als dieser einige Jahre nach Condillac versuchte, der Debatte ein strikt physiologisch-mechanisches Fundament zu geben. Er bediente sich bei seiner Anatomie kognitiver Prozesse des Modells der belebten Statue als - wie er behauptete - einzige Anleihe an den bedeutenden Metaphysiker. Tatsächlich kam er in vielen Punkten zu den gleichen Schlüssen wie Locke und Condillac, allerdings unterschied er sich in der Form seiner Analyse doch erheblich von ihnen. Das Grundmuster seiner Reduktion auf die Elemente und die Grundstrukturen von Perzeption, Imagination und Abstraktion war einfach. Zwischen dem Nervensystem als körperlicher, der mikroskopischen wie introspektiven Beobachtung zugänglichen Grundlage jeder mentalen Verrichtung gebe es Beziehungen (rapports) in zwei Richtungen, zu den Objekten der Außenwelt und zur Seele, deren wahre Natur sich aber dem Blick entziehe. Den Zustand der Statue, wie sie von Condillac hinterlassen wurde, beschrieb er so: Nôtre Statue est douée de toutes les Facultés Spirituelles & Corporelles qui nous sont propres: elle est un Homme. [...] Il est pourtant bien évident, quelle ne pourrait par elle-même former la moindre Notion [...]. (Bonnet 1760, 505)

Das hatte Condillac wohlweislich selbst für sie besorgt, denn so vermied er es, daß sich die von Bonnet 'abstractions intellectuelles' genannten mentalen Operationen (Wolffs 'artificium ratiocinandi') mit den 'abstractions sensibles' mischten; es hätte sonst die Gefahr bestanden, daß die Ordnung der Sinne nicht mehr der Ordnung der Dinge entsprochen hätte. L'HOMME doüé de la Parole, exerce par la Parole sur ses Idées l'empire le plus absolu. Il n'est point assujetti à l'Ordre dans lequel son Imagination les lui

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Vgl. B o n n e t 1760, 538.

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Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

retrace d'après l'impression des Objets: [...] il les arrange sur le Papier, ou dans son Cerveau, comme il lui plaît. (Bonnet 1760, 197) w

Bonnet mußte sein Modell aus der verordneten Unmündigkeit entlassen, weil ihn dessen Begrenztheit auf individuelle, d.h. an einzelne Objekte gebundene Vorstellungen daran hinderte, die für die Entwicklung von Begriffen wie 'Existenz', 'Zahl', 'Dauer' und 'Vergnügen' notwendige Verallgemeinerung an die sinnliche Wahrnehmung zu binden: "Les Idées générales supposent des Signes qui les répresentent [...]. Essayons de donner à nôtre Statué l'usage des Signes [...]. (Bonnet 1760, 506) Diese Zeichen waren selbst sinnlicher Natur, berührten Auge oder Ohr, waren Charaktere oder Laute. Bonnet entschied sich für das Gehör, weil es weniger vielfältige Eindrücke zulasse als der Gesichtssinn und damit seinem Konzept der größtmöglichen Einfachheit der Analyse besser entsprach. Er öffnete seiner Statue die Ohren, hielt ihr, wie zu Beginn ihres olfaktorischen Daseins, eine Rose - 'das Bild der sich selbst gelassenen unverfälschten Natur'41 - unter die Nase und ließ sie zugleich mehrfach

Vgl. das analoge Argument Cordemoys für die Wortfolge als Test auf menschliches Sprechen, Teil II, Kap. 4.1. Dieser Versuch führte Hemsterhuis zu folgender Überlegung, nach der Condillacs Statue sich den Absichten ihres Autors entzog: "Je définirai provisionellement les signes, par des symboles distincts qui répondent aux idées. L'idée étant donnée, le signe paraîtra; & réciproquement, le signe étant donné, l'idée qui lui répond se manifeste." (Hemsterhuis 1772/1964, 62) Diese Formulierung war, genetisch betrachtet, zirkulär. Diderot merkte an: "Cela n'est ni toujours vrai, ni toujours nécessaire. Souvent même, quand nous méditons, les signes sont tout à fait absents de notre pensée. (Hemsterhuis 1772/1964, 63) Hemsterhuis versuchte, sein Argument vor der genetischen Interpretation zu bewahren, indem er sein fühlendes Wesen als isoliertes Einzelwesen modellierte, ganz so, wie es Condillac und Bonnet ihm vorgemacht hatten, zugleich aber dessen Sprachfähigkeit monologisch auslegte: "Il faudra vous avertir, que je considère ici l'Etre qui a la faculté de sentir, comme individu, absolument isolé, & ne faisant pas partie d'une société; & que, par conséquent, j'ai considéré les signes uniquement comme des instruments pour rappeller les idées, & nullement comme des moyens pour communiquer les idées d'un Etre à l'autre." (Hemsterhuis 1772/1964, 62 ff.) Diderot wollte dieses Gedankenexperiment nicht zulassen - es war ihm wohlvertraut: "C'est bien pis. Dans cette supposition, l'être n'a absolument aucun besoin de signes. Et je suis sûr qu'un pareil être serait presque muet. Les signes doivent moins leur institution à ce besoin qu'à celui de se faire entendre d'un autre." (Hemsterhuis 1772/1964, 63). Es wäre sicherlich aufschlußreich gewesen, welche Gedanken sich Herder zu diesem Punkt machte, als er Hemsterhuis' 'Lettre' übersetzte. Das bislang unveröffentlichte Manuskript dieser Übersetzung enthält allerdings keine Randbemerkungen. Ironischer Hinweis von Karl Philipp Moritz auf dieses Standardgewächs sensualistischer Erkenntnistheorie, das „der Mensch noch nicht nach seinen kleinlichen Bedürfnissen umgeschaffen hat." (Moritz, Versuch einer kleinen praktischen Kinderlogik. Werke, 3, 1981, 398)

3.4. Die Emanzipation der Modelle

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das Wort Rose vernehmen, um die Wirkung auf das Gehirn des Automaten zu untersuchen. Wann immer er in der Folge sein Modell eine Rose riechen ließ, erinnerte es sich an den Namen des Gewächses, hörte es diesen Namen, evozierte dieser die Vorstellung des Rosendufts; obwohl also die Nervenbündel des Geruchsorgans und des Gehörs, nervus olfactorius und radix cochlearis, voneinander getrennt in den Sitz der Seele, das corpus callosum, mündeten, müsse es zwischen ihnen eine Verbindung geben, 'Kettenglieder' (chainons), die sowohl die akustischen mit den olfaktorischen als auch die sukzessiven akustischen bzw. olfaktorischen Reize selbst assoziierten, d. h. sie entsprechend der Ordnung der sinnlichen Eindrücke, damit auch der Ordnung der Dinge, wie sie auf das Sensorium wirkten, aufreihten. Le Physlque de la Composition consiste en général, dans les mouvemens imprimés ä différentes Fibres sensibles, & dans l'Ordre suivant lequel ils leur sont imprimés. (Bonnet 1760, 514)

Das Gedächtnis sei nun in der Lage, auf dieser Ordnung zu operieren, etwa dann, wenn Gehörtes niedergeschrieben werde. Die doppelte Verknüpfung der Vorstellungen, die Assoziation von Vorstellungen mit ihren Zeichen und die Assoziation der Vorstellungen untereinander bilde die Grundlage des Wissens eines Menschen. Das physiologische Substrat dieser Struktur bildeten die 'fibres intellectuelles', die je nach Ausbildung unterschiedlich entwickelt seien. Le Langage met done en valeur toutes les Fibres du Cerveau. Le Cerveau de l'Hottentot n'est pas, sans doute, moins organisé, que Test celui de l'Anglois; mais, quelle différence dans l'emploi des Fibres! (Bonnet 1760, 537)

In der Statue hatten Condillac und Bonnet der Auseinandersetzung mit der cartesianischen Vorstellung vom psychophysischen Mechanismus eine Gestalt gegeben, die in der aufgeklärten deutschen Psychologie noch einmal Karriere machte: als kritischer Nachruf auf sich selbst und ihre philosophischen Väter. Bonnet stand an der Schwelle zur Beobachtung des lebenden Menschen, die bald in Experimente am lebenden Menschen mündete. 42 Den angestrebten Schritt ins methodische Neuland - vor dem er dann doch wieder zurückschreckte - beschrieb er sehr klar und eindrücklich in der Vorrede zum 'Essai analytique'.

Die ersten Schritte machten die Anatomen und Physiologen mit ihren Experimenten zum Nervenreiz und zum Muskelreflex. Die Exploration der Psyche begann mit der (Selbst-) Beobachtung des Menschen, wie es u.a. das 'Magazin zur Erfahrungsseelenkunde' vorführte; daraus entwickelte sich das (Selbst-)Experiment, so bei Gassner ('Probe-Exorzismus'), Puységur und anderen Mesmeristen, bei Cabanis, Itard, v. Irwing und Reil. Vgl. zu verschiedenen Aspekten u. a. Dessoir 1902, Moravia 1977, Ellenberger 1985 und Lane 1985.

92

Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

J'ai entrepris d'étudier l'Homme, comme j'ai étudié les Insectes & les Plantes. L'Esprit d'Observation n'est point borné à un seul Genre. [...] L'objet d e la Psychologie est nous-mêmes; c'est donc en nous-mêmes, qu'il faut étudier. Tout H o m m e capable de méditer u n peu profondement sur ce qui se passe au dedans de lui, peut découvrir des choses qu'il chercheroit vainement dans les Livres. S'il est ici, peu d'Auteurs vrayment originaux, c'est qu'il est bien plus aisé d'étudier les Productions du Cerveau d'autrui, que son propre Cerveau. L'Esprit semble plus fait pour regarder hors d e lui, qu'au dedans de lui. (Bonnet 1760, I - VII)

Doch ganz so einfach, wie die Beobachtung der Kerbtiere durch das Mikroskop, war es mit dem Menschen dann doch nicht, zudem hatte der Naturhistoriker Bonnet, wie er gegen Ende des 'Essai' schrieb, sein Augenlicht durch zu starke Beanspruchung fast ganz eingebüßt und die Beobachtung durch den kontemplativen Blick nach innen, Lesen und Schreiben durch vermehrte Anstrengung des Gedächtnisses kompensieren müssen. Wenn Bonnet nun im Prozeß der analytischen Zerlegung sein Inneres nach außen kehrte, so bedurfte es, um die Komplexität des erwachsenen Menschens in seiner natürlichen Umgebung zu reduzieren, einer fremden Hülle, in der die einzelnen Teile übersichtlich angeordnet werden konnten. Auch die Beobachtung eines Kindes sei zu schwierig, denn schon unmittelbar nach der Geburt öffneten sich seine Sinne zu einer so umfänglichen Menge von Eindrücken, daß es unmöglich sei, sie zu entwirren. Recourons donc à u n e fiction [...]. Imaginons un Homme dont tous les sens sont e n b o n état, mais qui n'a point encore commencé à en faire usage. [...1 Cet h o m m e sera une espèce de Statue, & nous lui en donnerons le nom. La Philosophie sera la Divinité qui animera cette Statue, & qui nous aidera à l'élever par degrés, au rang d'Etre pensant. Je consens qu'on ne regarde cet Ouvrage q u e c o m m e un Roman Philosophique. Peut-on espérer q u e le temps viendra où l'on pourra substituer l'Histoire à ce Roman? (Bonnet 1760, 8 f.)

Doch auch durch die Naturgeschichte des Menschen geriet die 'Statue' keineswegs außer Mode. Sie wurde in den 80er Jahren wiederbelebt: Auf Johann Jacob Engelskritisch-ironische Bearbeitung der 'Bildsäule' hin veröffentlichte Moses Mendelssohn 1784 eine Replik - beide Aufsätze erschienen in Biesters 'Berlinischer Monatsschrift'. 11

J.J. Engel, Mitglied der Berliner Akademie, gilt gemeinhin als ziemlich platter Popularphilosoph und Vielschreiber. Sein zeitweiliger Schüler W. v. Humboldt urteilte etwas differenzierter: „[...] Meine erste bessere Bildung bekam ich durch Engel. Er ist ein sehr feiner und lichtvoller Kopf, vielleicht nicht sehr tief, aber so schnell auffassend und darstellend, wie ich es nie wieder gefunden habe, versteht sich nur in intellektuellen Dingen. Bei dem hört' ich Philosophie nur mit wenigen anderen [...]. Der Unterricht war ganz Wolffisch, fast immer bloß logisch, und ich hatte in der Logik und in der Wahl erster schola-

(Fortsetzung nächste Seite)

3-4. Die Emanzipation der Modelle

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Gleich an den Beginn seiner Schrift stellt Engel die Kernfrage der Menschenbeobachter und Seelenzergliederer in den 80er Jahren in Deutschland: „Wer bin ich? Ich empfindende, denkende, wollende Seele; was für ein Wesen hab ich?" (Engel, Bildsäule, 55) 14 Condillacs Statue war für solcherlei Fragen an sich selbst nicht eingerichtet, weil sie sich über das Körpergefühl entdeckte; ihr Wesen war ihr Körper, ihre Seele äußerte sich in ihren Wünschen und in ihrem Wollen als Bewegung der Gliedmaßen. " Die Antwort auf die Frage moiP gab ihr Körper. War vielleicht die Statue Bonnets besser geeignet? Engel nimmt nicht nur dessen Bemerkung, seine Schrift könne auch als philosophischer Roman verstanden werden, wörtlich, sondern setzt sich auch mit der Frage auseinander, ob für eine Analyse des menschlichen Seelenlebens - an der sich Bonnet versucht hatte - die Statue überhaupt das geeignete Modell sei. Engel läßt einen Schüler Bonnets träumen, der junge Mann sah [...] die philosophische Dichtung seines Lehrers [Bonnets] realisirt: eine belebte menschliche Bildsäule, die also mehr als Bildsäule, die ein Mittelding zwischen der vollkommensten Pflanze und dem unvollkommensten Thier war. Ihre Sinne waren noch alle gebunden; sie erwarteten noch alle die erste Rührung, den ersten Eindnick eines Objects: sonst waren die Nerven gespannt, die Säfte im Umlauf; der Puls schlug und sämmtliche Verrichtungen des animalischen Lebens gingen von Statten. (Engel, Bildsäule, 55 f.)

Der noch von jedem sinnlichen Eindruck unberührte animalische Organismus weckte in dem Bonnet-Adepten eine doppelte Phantasie: Er sah sich als Molyneux und Pygmalion zugleich und machte sich ohne Verzug daran, die Statue, von der Göttin der Liebe geweckt, sich langsam ihre Sinne, einer nach dem andern, 'entbinden' zu lassen. Die Geburt erfolgte zunächst ganz nach dem Plan Condillacs und Bonnets, durch den Duft von Blumen. Er bot der Bildsäule die Rose, und sie zog mit sichtbarem Vergnügen den sanften Wohlgeruch ein. Er bot ihr die Nelke, und mit noch sichtbarerm Vergnügen schlürfte sie den erquickenden aromatischen Aushauch in sich. - Himmel: wenn sie doch auch nur spräche! rief er. (Engel, Bildsäule, 57)

stischer Spitzfindigkeiten eine s o l c h e Stärke, d a ß ich n o c h jetzt, da ich seitdem dieses Zeug nicht mehr angesehen habe ich kaum einen Menschen kenne, der mehr als ich davon weiß. Denn man treibt das jetzt gar nicht mehr. (Brief an Karoline vom 12. November 1790, in: W. v. Humboldt, Sein Leben und Wirken, 1986, 102 f.) Auch Max Dessoir hält ihn für einen 'besonnenen Forscher und einen geschmackvollen Schriftsteller' (Dessoir 1902, 2 7 6 ) und seine Pantomimik wird von Bühler ( 1 9 3 3 ) geschätzt. Ein biographisches Kurzportrait Engels liefert Bohr 1988. 44

Ich zitiere nach dem Wiederabdruck des Aufsatzes in Engel 1791.

45

Condillac, Traité des sensations, 1 7 9 8 / 1 9 8 4 , 107.

94

Teil I, 3- Sehen, Hören und Fühlen

Der ungeduldige Beobachter wollte sich nicht allein auf seine Augen verlassen, aus der Physiognomie seines Modells auf ihre Empfindungen, auf die 'Modificationen ihrer Seele' schließen müssen. Noch in Erwartung einer deutlichen Gebärde des Abscheus hielt er ihr ein übelriechendes Gewächs unter die Nase. Überraschenderweise krauste die Statue zunächst die Nase, dann die Stirn „und siehe! sie konnte reden und räsonniren. - Das waren zwey Eindrücke, rief sie, von ganz verschiedner Natur." (Engel, Bildsäule, 58) Der plötzliche Redeschwall befreite den Beobachter von der Not, Condillac oder Bonnet zuhören zu müssen, wenn er erfahren wollte, was die Statue fühlte. Sie hatten ihr Modell mit Bedacht entmündigt, um der Gefahr zu entgegen, daß es etwas anderes äußerte, als der Meister sich gedacht hatte. Die Philosophen und ihre Figuren waren wechselseitig aufeinander verwiesen, der Philosoph auf sein Konstrukt, weil es ihm erlaubte, den psychophysischen Mechanismus ohne Beschädigung der eigenen Befindlichkeit bloßzulegen, das Modell auf seinen Konstrukteur, weil es ohne seine Übersetzungskunst nur in einen nichtssagenden und nutzlosen Haufen philosophischer Pro- und Hypothesen zerfallen wäre. Dieser methodologische Homunkulus, dessen zwei Körper nur einen Kopf 46 und einen Mund aufwiesen, hatte in den 80er Jahren ausgedient, Den des Philosophen selbstredend. Er tritt in die systematische Lütke, die einige Condillac-Kritiker entdeckt zu haben glauben, nämlich das vorausgesetzte 'Vermögen' der Statue, die 'facultés de l'âme', Sinneseindrucke, in Erkenntnis umzuwandeln; anders gesagt, die Fähigkeit zur 'sensation transformée'. George Henry Lewes, ein englischer Philosoph und Philosophiehistoriker des späten 19. Jahrhunderts, der den Materialismusvorwurf gegen Condillac ausdrücklich für dummes Zeug hält und den Abstieg der französischen Philosophie von Condillac zu Cousin und Maine de Birhan beklagt, sieht in der Annahme bereits vorhandener mentaler Fähigkeiten sogar ein notwendiges Konstruktionselement des Modells 'Statue': „Ohne die Vermögen, welche die Sinneneindrücke zu Wahrnehmungen, Urtheilen, Schlüssen verarbeiten, hätten die Sinne seine Statue nie über den Zustand des Blödsinns erhoben." (Lewes, Geschichte der neueren Philosophie, 2, 1876, 376 f.) Die analytische Verdoppelung des eigenen Körpers bei Condillac und Bonnet entspricht dem Dicephalus Diderots aus der 'Lettre sur les sourds et muets'; im Unterschied zum T>oppe\kopf erwächst der Doppeladler aus einer ungeschlechtlichen Vermehrung, wie sie dem von Trembley zerstückelten Süßwasserpolypen nachgesagt wurde - oder mit den Worten Bonnets: "L'existence de deux ou de plusieurs Cerveaux distincts sur le même Tronc, produit deux ou plusieurs Individualités personelles entées sur un Tout commun. [...] Quand on met bout à bout les Portions de différens Polypes, elles se greffent les unes aux autres & ne composent plus qu'un même Tout Organique. Dans ce cas, ou il se forme une nouvelle Personne par le développement d'un nouveau Cerveau: ou la PersonalitË subsiste dans la prémiere Portion, dans la Portion antérieure que je suppose avoir conservé la Tête." (Bonnet 1760, 493) Mit der letzten Alternative hat Bonnet - malgré lui - das Verhältnis zwischen ihm und seinem Modell trefflich beschrieben. Zur 'Seele' des Polypen s. u., 549-554.

3.4. Die Emanzipation der Modelle

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doch war die Entlassung der Statue in die unverschuldete Mündigkeit nicht ganz ungefährlich, wie Engels Protagonist nur am Rande, Mendelssohns träumender Menschenbeobachter um so schmerzlicher erlebte. In der Entwicklung vom Gedanken- zum Realmodell war die Sprachwerdung der Statue ein notwendiger Zwischenschritt. Um Condillacs wie Bonnets Ansichten zu denunzieren, setzt Engel diese Autonomie ganz geschickt ein, läßt die Statue die stummen Gedanken, die ihr Condillac/Bonnet angedichtet hatten, laut aussprechen - es sind nurmehr Albernheiten. Sie fragt sich bei den Blumen, wie sie wohl dufte, beim Hören der Nachtigall, wie sie wohl töne, beim Molyneux-LockeExperiment, welche Figur sie habe. 47 Bevor die Statue sich selbst und die Außenwelt durch den Tastsinn entdeckte, hatten die Autoren der Vorlage in der Tat dieses autozentrierte Entwicklungsstadium gesetzt, so, wie ein Kind ihrer Ansicht nach seine Umgebung erfahren lernte. Durch die Rückprojektion des philosophischen Diskurses auf das Modell, das nun selber sagt, was es denkt, will Engel auf die Unverhältnismäßigkeit hinweisen, die seiner Ansicht nach zwischen den sinnlichen Eindrücken und den kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten besteht, eine Diskrepanz, die er als Ungleichzeitigkeit der Entwicklung beschreibt. Sprache, noch vor geöfnetem Ohr! Bewußtseyn gleich auf die erste Rührung eines der dunkelsten Sinne! Fertigkeit in Räsonnement und Rede, noch ehe die mindeste Uebung da war! Bildliche Ausdrücke von Sinnen her, die noch aller Empfindung verschlossen waren! Tiefe Metaphysik über ein paar verworrne, armselige Geruchsideen;...welch ein Haufen von Abgeschmacktheiten [...]. (Engel, Bildsäule, 62 f.)

Doch damit noch nicht genug. Die Figur als 'mannequin de la sensorialite' die Gestaltung des Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesses in Form der Statue, erscheint Engel außerordentlich deplaziert, „eine Seele, die sich fühlen, bestasten läßt; eine Seele, die eine Figur hat; wie widersinnig!" (Engel, Bildsäule, 63) Für ihn ist der sensualistische Sündenfall schon in der Fehlkonstruktion des Modells erkennbar, in der Visualisierung des Unsinnlichen, der 'Hineinbildung' der inneren Wahrnehmung von Bewußtseinsvorgängen in die äußere Wahrnehmung, der Bindung von Objekten an die sie indizierenden Sinneseindrücke. Am Ende bleibt Enttäuschung: Die Bindung an eine Figur, so erkannte der Schüler Bonnets, die Suche nach dem gegenständlichen Substrat der sinnlichen Wahrnehmung, verstellt den Zugang zur Erkenntnis des We47

4"

"J'approche donc une Rose du Nez de la Statue: au même instant elle devient un Etre sentant. Son Ame est modifiée pour la premiere fois: elle est modifiée en odeur de Rose; elle devient une odeur de Rose; elle se représente une odeur de Rose. Toutes ces façons de parler sont Synonimes [...]." Bonnet 1760, 25 f.) Vgl. Joly 1982, 9.

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Teil I, 3- Sehen, Hören und Fühlen

sens der Seele. Sich diese als Anhängsel der Sinne vorzustellen, sei eine grobe Täuschung. Sollt' ich eben so unphilosophisch sinnlich, als irgend einer aus dem gemeinen Haufen, gleichsam gefragt haben: wie wohl meine Seele, wenn sie sichtbar wäre, dem Auge erscheinen würde? [...] (Engel, Bildsäule, 67)

Engels Held fand letztlich nicht nur die Statue, sondern seine eigenen Versuche, über „die Erscheinungen meines inneren Selbst, Denken, Wollen, Empfinden" (Engel, Bildsäule 66 f.) sich sehend und fühlend Klarheit zu verschaffen, abgeschmackt; es blieb ihm nur die Einsicht, daß das 'Wesen der Seele' im Zusammenwirken ihrer Fähigkeiten, nicht in ihrer Summe liegt. Die 'Entwicklung der Seele' als genetischer Vorgang und analytische Methode zugleich konnte nicht an ein Modell gebunden werden, dem gerade das Wesentliche fehlte. Engel verwarf nicht die Möglichkeit, die eigene Erkenntnistätigkeit zu analysieren, seine 'Bildsäule' war nur eine Absage an die Methode, an Form und Resultat der Gedankenexperimente Condillacs und Bonnets. War sein Bonnet-Schüler dann etwa in Wahrheit ein heimlicher Anhänger Berkeleys, wie Mendelssohn vermutete? 19 Die Frage, 'was ist Erfahrung', war mit Erscheinen von Kants 'Kritik' drei Jahre zuvor erneut gestellt worden, doch Engel hielt es, auch wenn der Aufsatz einen anderen Eindruck erweckt, wie Bonnet lieber mit der Physik als der Metaphysik. Er bemühte sich um eine Differenzierung des Gefühlssinns, im Ergebnis unterschied er das Gefühl der Haut, das Getast der Hand und den Muskelnsinn - Engel nannte ihn Gestrebev' der die innere Spannung der Muskeln spüren lasse, wobei die ersten beiden Sinne auf afferenten, der letztere auf efferenten Nerven beruhten. Seine physiologisch-sensorische Ausdeutung der Kategorien Raum und Zeit auf der Folie der vergleichenden Empfindungslehre liest sich dann so: Durch Sehen und Tasten bildet sich nicht klärer in uns die Idee des Nebeneinander, und dadurch die allgemeine des Raums; durch Hören einer Folge von Tönen, im Aufmerken auf die innern Veränderungen der Seele, Sehen einer Folge von Bewegungen, nicht klärer die Idee des Nacheinander, und dadurch die allgemeine der Zeit: als sich durch Gebrauch unsers Muskelnsinns die Idee des Vermögeeinander, und dadurch die allgemeine der Kraft, der Ursache und Wirkung, bildet. (Engel, Schriften, 10, 236)

Deutlicher noch als in der 'Bildsäule' bestritt Engel in dem schon zitierten Aufsatz über den Begriff der Kraft im Kontext einer Kritik an Hume den

19

,0

Dessoirs Ansicht, Engel habe sich an Chr. Wolff und J.H. Reimarus, an den Sensualismus und die 'Fiktion von der Bildsäule' angeschlossen, scheint mir - zumindest was letzteres angeht - nicht begründbar. (Vgl. Dessoir 1902, 276) Aufschlußreich sind aber Dessoirs Hinweise auf Engels weiterführende Forschungen zum Tastsinn. Engel, Über den Ursprung des Begriffs der Kraft. Schriften, 10, 1805, 214.

3.5. Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

97

Primat des Gesichtssinns: Hume „sollte seine Muskeln gebrauchen, und er gebraucht seine Augen". (Engel, Schriften, 10, 217). Das Verhältnis der Sinne untereinander und die begrifflichen Konsequenzen der 'äußeren Gemeinschaft' von Gesicht und Gefühl und der 'inneren Verwandtschaft' von Geruch und Geschmack war nicht nur Thema von Engels Beitrag 'Über einige Eigenheiten des Gefühlssinnes"", sondern auch von Mendelssohn, der in seiner 'Bildsäule' teilweise ganz ähnlich argumentierte, aber in seiner Kritik der wahrnehmungspsychologischen Beschreibungssprache um einiges schärfer urteilte.

3.5 Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung Als 'psychologisch-allegorisches Traumgesicht' läßt Mendelssohn die Statue durch die Träume eines 'jungen spekulativen Kopfs' geistern, als ein [...] selbstbewegendes sinnreiches Kunststük, ein Automaton nach Vaucansonscher Art, das alle menschliche Verrichtungen nachzuahmen eingerichtet, und noch mehrerer Veränderungen fähig war. (Mendelssohn, Bildsäule, 130)

Während Engel zeitgemäß und postmodern an den klassischen Anfang der Galerie von Statuen erinnerte, spielt Moses Mendelssohn auf die Konstruktionen Vaucansons an, die das Gedankenmodell Condillacs und Bonnets Konturen gewinnen lassen und es unmittelbar in die zeitgenössische Debatte über Menschen und Maschinen rücken - die vorgeschlagenen Verfahren der Analyse und Synthese finden sich wieder in der Zerlegung des Menschen in seine psychophysischen Bestandteile und dem kunstvollen Zusammenbau von artifiziell reproduzierten Teilfunktionen zu seinem Ebenbild. Inzwischen ist aber auch, und das war bei Engel schon durch die gewachsene Bedeutung des Gehörs zu merken, die 'Lettre sur les sourds et muets' erschienen; die Blinden Lockes und Cheseldens haben in den Taubstummen Konkurrenz bekommen. Leiht sich Mendelssohn Condillacs Statue, wie sie von Bonnet verwendet wurde, nur aus, weil sie sich so elegant poetisch verwandeln (oder rückverwandeln) läßt und sich als Anknüpfungspunkt für seine Materialismuskritik eignet? ,2 Oder aber, und dies ist meine These, will er die Statue als Gedankenfigur zerstören, weil sie ihm vor allem in Bonnets Bearbeitung als Ausgeburt einer unzulässigen mechanistischen Reduktion erscheint,

51 52

In Engel, Schriften, 9, 1805, 201 - 228. So die Deutung der Herausgeber des sechsten Bandes der Jubiläumsausgabe (JA, 6.1, XVII).

98

Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

obwohl doch beide, Condillac wie Bonnet - entgegen der Suggestion Engels - die Immaterialität der Seele behaupteten? In seinen Argumenten zumindest folgt Mendelssohn erkennbar den Spuren von Diderots 'Lettre sur les aveugles' (was den Kommentatoren der Jubiläumsausgabe offenbar entgangen ist), vor allem in der Bearbeitung des Sprachproblems. Die Statue als Automat, von einem spekulativen Kopf, „der noch sein System nicht gewählt hat", geträumt, nicht erdacht, „ich habe sie genau beobachtet, bin auf alle ihre Bewegungen und Reden, Blikke und Geberden aufmerksam gewesen" (Mendelssohn, Bildsäule, 130). Der träumende Menschenbeobachter, der - nachtwandelnd - seine Fragen und Erkenntnisse mitschreibt. Am Morgen, als er erwacht, findet er ein Protokoll seiner Reise in die Welt der Automaten auf seinem Schreibpult." Das Naturalienkabinett ist ein Maschinensaal, wo singende und tanzende Figuren auftreten, in der Reduziertheit ihrer Bewegungen um so einfacher und natürlicher. Gleichwohl erliegt der junge Träumer nicht dem spröden Charme einer 'Olimpia', sondern fordert von Morpheus einen Blick auf das [...] innre Triebwerk, durch welches diese dädalische Bildsäule im Stande ist, die Sinne so angenehm zu unterhalten. Ich möchte nicht gerne bloß ergötzt sein, sondern auch durch deine Güte vernünftiger werden. (Mendelssohn, Bildsäule, 131)

Der Mechanismus entpuppt sich als das ganze Gegenteil des Cartesischen Getriebes, die Statue zerfällt in lebendige Einzelteile, in einen Chor der Sinne, die harmonisch unter der Leitung des 'Menschengeistes' zusammenwirken. M Der träumende Psycholog begehrt erst - getreu dem Paradigma der empirisch-analytischen Psychologie - den isolierten Auftritt der einzelnen Sinne, um sie näher erforschen zu können. Dann, nach dem Erwachen, als

Mendelssohn schien eine Vorliebe für die Seelen-Mechanik zu haben. So berichtete Salomon Maimon über ihn: „Ich war einst Augenzeuge, wie er sich eine geraume Zeit mit einem Manne von der unregelmässigsten Denkungsart und dem ausschweifendsten Betragen unterhielt. Ich verlor dabei alle Geduld, und nachdem er weg war, fragte ich Mendelssohn voller Verwunderung: 'Wie konnten Sie sich mit diesem Manne so viel abgeben?' 'Warum das?' erwiderte er, 'wir betrachten eine Maschine mit Aufmerksamkeit, deren Zusammensetzung uns unbekannt ist, und suchen uns ihre Wirkungsart begreiflich zu machen; soll dieser Mensch nicht eben die Aufmerksamkeit verdienen? Sollen wir uns nicht seine seltsamen Äusserungen auf eben die Art begreiflich zu machen suchen, da er doch gewiss seine Triebfedern und Räderwerk so gut als irgend eine Maschine haben muss.'" (Maimon, Geschichte des eigenen Lebens, 1935, 151 f., zitiert nach Kellner 1962, 182) Die Harmonie der Sinne ist für Mendelssohn eine zentraler Gedanke, vgl. dazu die frühe Schrift 'Briefe über die Empfindungen' (1755), bes. den 10. Brief.

3.5. Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

99

er mit Erstaunen die Aufzeichnungen seiner geträumten Analyse wahrnimmt, macht er sich an die Analyse des Träumens und des (damals populären Themas des) Schlafwandelns. Mendelssohns literarische Aufbereitung des Statuen-Themas ist nicht nur eine Konzession an den belehrend-unterhaltsamen Stil der 'Berlinische[n] Monatsschrift'. Es gelingt ihm fast beiläufig, die schon bei Diderot angelegte Methodenkritik umzusetzen, die sich gegen die distanzierende Modellierung des Forschungsgegenstandes 'Mensch' durch Condillac richtete; er kann sich dabei auf die von seinem Freund Moritz immer wieder betonte Notwendigkeit, Fremdbeobachtung durch Selbstbeobachtung zu ergänzen, berufen. Der Traum gewinnt so ein doppeltes Gesicht, ist Medium der Analyse und ihr Gegenstand zugleich. Zwei befreundete Knaben, 'Gesicht' und 'Gefühl', erscheinen im Traum. 'Gesicht' ist eigentlich ein Bruderpaar, 'Raumgesicht' und 'Farbengesicht'. In die Biographie dieser Knaben verarbeitet Mendelssohn die bisherige Geschichte der Molyneux-Locke-Hypothese und der Blinden, begnügt sich freilich nicht damit. Die Brüder hatten alles gemein, bis auf die vertrauliche Freundschaft des Gefühls, die sich Farbengesicht zu erwerben nicht im Stande war. [...]- Sie hatten unter andern die Anfangsgründe der Geometrie erlernt, oder vielmehr [...] selbst erfunden. Raumgesicht, ein Knabe voller Einbildung und Anmaßung, schrieb sich die ganze Erfindung allein zu, und der gutherzige Genius Gefühl ließ sich dieses eine Zeit lang einreden. (Mendelssohn, Bildsäule, 134 f.)

Noch einmal wird Lockes wie Condillacs Kritik an den gemeinhin falschen Vorstellungen über den Gesichtssinn aufgenommen. Als aber bei Professor Saunderson die beiden Brüder Raumgesicht und Farbengesicht einst abwesend waren, machte sich das Gefühl über die ganze Geometrie her, und entdekte, daß seine Kenntnisse allein hinreichend wären, diese göttliche Wissenschaft zu erfinden, und daß ihm Raumgesicht nur einige Ausdrükke und Redensarten zur Erläuterung der Sätze hergegeben, die aber allenfalls auch entbehrt werden konnten. Ja, er ging so weit, daß er die Theorie, die sie gemeinschaftlich für das Farbengesicht festgesetzt hatten, in seine ihm eigenthümliche Begriffe, Sprache und Redensarten zu übertragen wagte, so geringe auch sonst sein Umgang und seine Bekanntschaft mit dem Farbengesicht gewesen. Er erfand also eine Optik für Blindgebohrne, und ließ sie durch Saunderson öffentlich lehren. (Mendelssohn, Bildsäule, 135)

Mendelssohn greift auch - und dies ist angesichts der ausgedehnten sprachpsychologischen Diskussion in den 80er Jahren auch zu erwarten Diderots Hinweis auf die Sprache des Mathematikers Saunderson auf. Diderot hatte bemerkt, daß sie sich von der der üblichen geometrischen Theoriesprache nicht unterschied, und schloß daraus, Saunderson habe die visuell gewonnene Referenz durch die des Tastsinns ersetzt - als meta-

100

Teil I, 3- Sehen, Hören und Fühlen

phorische Verschiebung. ^ Mendelssohn hingegen erkennt eine gegenseitige Übersetzbarkeit der Sprache des Gefühls und des Gesichts. Die Differenz von Metapher und Übersetzung liegt hier im Verhältnis von originaler und sekundärer Bedeutung: Diderot verstand unter Metapher den doppelten sinnlichen Zugriff des erkennenden Subjekts auf den jeweiligen Gegenstand, die Erweiterung der einseitigen Ansicht durch das plastische Gefühl: Metapher hieß 'mehr Aufklärung'. Die Übersetzung verhüllt, besser, maskiert die sinnliche Erkenntnis der Welt, weil sie die verschiedenen 'Dialekte' der Sinne, ihre jeweils spezifische Erkenntnisform überlagert und, dies wird gegen Ende der 'Bildsäule' deutlich, die Urschrift der Sinne in Vergessenheit geraten läßt. Was für den blinden Saunderson galt, traf in analoger Weise auf den gefühllosen Sehenden zu, den Voltaire in seiner Anmerkung zur Molyneux-Locke-Hypothese skizzierte. Auch der scharfsichtige Genius 'Raumgesicht' merkte, [...] daß auch er, ohne Beihülfe des Gefühls, eine Art von Geometrie erfunden haben würde; wiewohl nicht dieselbe, welche sie gemeinschaftlich erfunden hatten. Er würde nehmlich von andern einseitigem Grundbegriffen ausgegangen sein, würde alle Worte und Redensarten der gemeinschaftlichen Mathesis in seine eigene Sprache gleichsam haben übersetzen, andre Grund- und Heischesätze haben vorausschikken müssen, und auf Resultate gekommen sein, die b l o ß für das Gesicht passend gewesen wären. (Mendelssohn, Bildsäule, 135 f.)

Die Theoriesprachen von Gesichts- und Tastsinn sind über gemeinsame Grundbegriffe (der Geometrie) ineinander übersetzbar, [...] Worte, die in dem Dialekte eines jeden Sinnes ihre eigene Bedeutung haben; die aber dennoch so beschaffen sind, daß sich der eine Sinn durch die Sprache des andern verständlich machen kann. (Mendelssohn, Bildsäule, 1 3 6 ) "

Diderot hatte das traditionelle Konzept einer Universalsprache, bei dem Geometrie und Algebra gewissermaßen Pate gestanden hatten, zwar auf-

""

S. o., Kap. 2.6. Mendelssohn geht damit weit über den sprachtheoretisch naiven Entwurf Iionnets hinaus, der die sprachlichen Zeichen sich unmittelbar über 'Verlängerungen' der Seh- und Hörnerven ins Gehirn schreiben ließ.

17

Engel vermutete die Gleichzeitigkeit visueller und taktiler Reize, die wechselweisen 'correspondierenden Erscheinungen' als Grund für diese Übersetzbarkeit, meinte a b e r w i e Mendelssohn: „[...] die Eindrücke dieser Sinne haben nicht die mindeste Ähnlichkeit: Figur, insofern die Hand sie fühlt, ist etwas ganz anders, als Figur, sofern das Auge sie sieht. Nur das immer regelmäßige Zusammentreffen solcher und solcher Gesichtsbilder mit solchen und s o l c h e n Gefühlseindrücken, hat die Menschen auf den sonderbaren und doch s o gemeinen G e d a n k e n gebracht, als o b sie mit den Händen sehen oder mit den Augen tasten könnten." (Engel, Schriften, 9, 205 f.)

3.5. Mendelssohn: Urschrift und Ülx:rsetzung

101

geweicht, als er den metaphorischen Charakter geometrischer Begriffe offenlegte, sie jedoch nicht grundsätzlich in Frage gestellt. Mendelssohn geht einen Schritt weiter: Aus der Mathematik als einem einheitlichen Fundament sollen sich ineinander übersetzbare, sinnspezifische Dialekte von Sehen und Fühlen entwickeln. w Dies können keine Fachsprachen wissenschaftlicher Teildisziplinen, sondern nur Idiome sein, die aus verschiedenen Abteilungen des Sensoriums stammen und die es in ästhetisch aufbereiteten Varianten auch schon gibt: Die Sprache des Gesichts als Malerei, des Tastsinns als Skulptur und Tanz. Sind die Sprache des Gesichts und Gefühls unter sich und für andere verständig, so verhält es sich beim Vortrag der anderen Genien, des Gehörs, Geruchs und Geschmacks anders, er scheint mehr „Empfindung, oder Empfindelei, als reiner Verstand." (Mendelssohn, Bildsäule, 137) Das Gehör tritt als 'rascher, wollüstiger Knabe' auf, der zwar auf Zeit und Zeitmaß aufmerksam macht, Leidenschaften ausdrücken und wecken kann, „nur dem Verstände brachten seine Lautbilder kein sonderliches Licht." (Mendelssohn, Bildsäule, 137) Noch weniger taugten Geruch und Geschmack, die träge am Gegenwärtigen klebten und ihre Empfindungen weder klassifizierten noch auf den Begriff brächten. Die grobe Sinnlichkeit ist nicht sonderlich mittheilend, und bedarf um so viel weniger der Sprache. (Mendelssohn, Bildsäule, 138) w

Das Experiment, diese drei Sinne in den wissenschaftlichen Diskurs einzubeziehen, sei gescheitert, alle Bemühungen von 'Gesicht' und 'Gefühl', sich ihnen in ihren Sprachen verständlich zu machen, seien, wie das Traumprotokoll vermerkt, vergeblich gewesen; weder metaphorische Verschiebung noch Übersetzbarkeit ineinander funktionierten. Die sprachkritischen Einwände Mendelssohns gegen eine Überdehnung von semantischen Extensionen, die Ausdünnung von sinnlichen Bedeutungskomponenten oder die Umkehrung im Verhältnis von originärer und verschobener Bedeutung gehen auf die Ansicht zurück, daß, im Gegensatz zur 'horizontalen' Beziehung zwischen visuell und taktil konstituierten Begriffen, die Relation zwischen Gesicht und Gefühl einerseits und den 'niederen Sinnen' Gehör, Geschmack und Geruch andererseits vertikaler Art sei. Wenn das Gehör von Höhen und Tiefen redte, oder der Geschmak einen Eindruk scharf oder stumpf nannte; so waren ihre Begriffe von allem, was Körper

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19

Dessoir urteilt, „erst Engel (1805) hat den Tastsinn den beiden höheren Sinnen des Gesichtes und Gehörs zugeordnet", doch ging dem Herders emphatischer Vorzug des Gefühls vor allen anderen Sinnen (in den Frühschriften) und Mendelssohns Plädoyer für die Ebenbürtigkeit von Gesicht und Gefühl voraus. (Vgl. Dessoir 1902, 406) Oder, wie der Volksmund sagt, 'mit vollem Munde spricht man nicht'.

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Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

und Flächen angehet, so weit entfernet''0, daß weder geometrische noch arithmetische Grundsätze dabei von einigen Folgen sein konnten. (Mendelssohn, Bildsäule, 138)

Mendelssohn hatte die hier zum Vorschein kommende Konzeption einer 'natürlichen' Semantik, die sich aus den Unterschieden und Analogien in der Wahrnehmungsweise verschiedener Sinnesorgane ergibt, an anderer Stelle im Kontext einer glottogenetischen Rekonstruktion ausführlicher entwickelt. In seinem unveröffentlichten Aufsatz 'Über die Sprache', der vermutlich im Anschluß an die Rousseau-Rezension im 'Sendschreiben' (1756) entstand und im Kreis seiner Berliner Freunde, auch Engel, bekannt war61, setzten die für die 'Bildsäule' maßgeblichen Überlegungen am Übergang von der nachahmenden zur willkürlichen Zeichenkonstitution ein. Für die ersten Spracherfinder sei der sinnliche Eindruck dafür verantwortlich gewesen, Gegenstände, die ihnen gleichartig erschienen, mit gleichen, andere mit anderen Namen zu versehen. Im analytischen Prozeß des 'Überdenkens' würden die Merkmale der verschiedenen Objekte gesondert oder aber es würden unterschiedlich wahrgenommene Dinge verglichen und so ihre unterscheidenden Merkmale erkannt. Als Alternative zu diesem höchst beschwerlichen Weg der 'anschauenden Erkenntnis' gebe es zuweilen den der „sinnlichen Erkenntniß selbst, und zwar auf eine synthetische Weise, indem sie uns von den Theilen zum Ganzen übergehen läßt." (Mendelssohn, Über die Sprache, JA, 6.2, 17 f.) Diese sinnlich wahrgenommenen partiellen Merkmale und Eigenschaften der Objekte nennt Mendelssohn Attribute-, diese können benannt und einem einzelnen Objekt oder mehreren Objekten zugeordnet werden. Auf solche Weise können wir blos vermittelst der sinnlichen Erkenntniß, die Begriffe nach und nach, vom Körper überhaupt, bis auf ein menschliches Individuum, zusammensetzen, ohne Hülfe der Absonderung und der Vergleichung, allgemeine Begriffe bilden, und sie in Klassen bringen lernen. Die ganze Operation ist logisch; allein wir werden von der Natur selbst darauf geführet; in dem sie die Merkmale gleichsam vor unsern Augen, nach und nach hinzuthut. (Mendelssohn, Über die Sprache, JA, 6.1, 18)

Damit hat Mendelssohn einem der wesentlichen Einwände gegen Locke und Condillac - die grundlegende Operation des Vergleichs sei ohne einen Rückgriff auf vorhandene mentale Fähigkeiten, allein auf der Ebene der Sinneseindrücke, nicht möglich - Rechnung getragen. Die Synthesis 60

f

"

Die französischen Entsprechungen geben allerdings ein anderes Bild, denn dort werden im Falle von 'scharf' Gefühl und Gehör assoziiert, 'angle aigu' bedeutet 'spitzer Winkel', 'son aigu' 'hoher, durchdringender Ton' (die Schärfe der Speise ist anders lexikalisiert), und grave bezeichnet die körperliche Schwere und die Tiefe des Tons. Vgl. Mendelssohn, JA, 6.1, XV - XIX.

3 5. Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

103

der Einzeleindrücke zum Gesamtbild des Objekts setze keine anschauende Analyse voraus, sondern ergebe sich fast von selbst aus der Art und Weise, wie sich die Dinge unseren Augen präsentierten - und nur deren Wahrnehmung sei für diese natürliche Instruktion geeignet. Angesichts der Lehre Berkeleys, daß die Dinge nur in ihrer zeichenhaften Repräsentation sichtbar seien, angesichts der Antwort Condillacs auf die MolyneuxLocke-Hypothese, das ungeübte Auge sehe anfangs nur sich selbst und außerhalb seiner selbst gar nichts, erscheint Mendelssohns Zutrauen zum Gesicht als autonome Erkenntnisweise reichlich gewagt, allerdings nur dann, wenn Moritz' schon erwähntes Argument des Perspektivwechsels''2 als erkenntniskritischer Gedanken-Gang zur Aufhebung einseitiger Ansichten nicht bedacht wird. [Der Gesichtssinn] zeigt uns zuerst die Materie, so denn Aussenlinien der Figur, hierauf Bewegung des Ganzen, deren Farbe, und endlich Lage und Bewegung der Theile. Alles dieses giebt er uns aus demselben Gesichtspunkte, in verschiedenen Standorten zu erkennen. Verändern wir den Gesichtspunkt; so bekommen wir an demselben Gegenstande andere Seiten der Figur und eine andere Abwechslung von Licht und Schatten zu sehen. Alles dieses erleichtert die Aufklärung der Begriffe ungemein und führet zu deutlicher Erkenntniß. (Mendelssohn, Über die Sprache, JA, 6.2, 19)

Bleibt das Gefühl, dessen durch Locke, Diderot und Condillac akzentuierte primäre Rolle im Erkenntnisprozeß nicht so ohne weiteres ignoriert werden kann. So spricht Mendelssohn allein dem Tastsinn vor den anderen, der synthetischen Erkenntnis ebenfalls unfähigen Sinne Gehör, Geschmack und Geruch den Vorzug zu, wie die Augen mehrere Gegenstände zugleich wahrnehmen zu können und damit die Voraussetzungen für den Vergleich zu liefern; auf diese Weise würden 'Härte' von 'Weichheit', 'Glätte' von 'Rauhigkeit', 'Wärme' von 'Kälte' unterschieden, die Umrißbilder der Augenwahrnehmung würden mit Hilfe des Gefühls ausgemalt, Ausdehnung, Figur, Bewegung und Lage der Objekte durch den fühlbaren Eindruck deutlicher. Von dem übriggebliebenen Rest zeichne sich das Gehör durch die Fähigkeit aus, schnelle Folgen von Eindrücken wahrzunehmen, schneller etwa, als das Auge wechselnde Farben verarbeiten könne. Die Parallelität der Augen- und Tastwahrnehmung sieht Mendelssohn durch die Sequentialität der auditiven Wahrnehmung6' ergänzt, was die Vergleichung ebenfalls unterstützt. In 'Grundlinien einer Gedankenperspektive'. Magazin zur Erfahrungsseelenkunde, VII, 3 Stück (1789); s. o., 69 / Mendelssohn schließt die Unterscheidung gleichzeitig wahrgenommener Schallereignisse ausdrücklich aus. Andere Autoren hoben gerade diese Eigenschaft des Gehörs hervor, wenn es um das Verhältnis von Melodie und Harmonie ging.

104

Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

Da das Sehen der Figuren mit dem Hören der Töne, in Absicht auf die schnelle Abwechslung der Eindrücke, eine große Annehmlichkeit hat; so siehet man auch, mit welchem Vortheile wir uns zum Behuf der Zeichenerkenntnlß, entweder der Figuren oder der Töne bedienen. Mit welcher erstaunlichen Geschwindigkeit verfolgen wir eine Reihe von Buchstaben oder von Tönen, und wie sehr muß dadurch der Fortgang der mit diesen Zeichen verbundenen Gedanken befördert werden! Jeder andere sinnliche Eindruck würde für die schnellen Schwingen der Gedanken viel zu langsam seyn. (Mendelssohn, Über die Sprache, JA, 6.2, 20)

Obschon Geschmack und Geruch die 'langsamsten und verwirrtesten' unter den Sinnen seien, sind sie Mendelssohn doch als Metapherlieferanten willkommen, zunächst durch gegenseitige Übertragung von geschmacklichen Qualitätsbezeichnungen wie süß\ sauer, scharf auf den olfaktorischen Bereich. Man habe bemerkt, [...] daß auch die Eindrücke der übrigen Sinne in einigen transcendentalen Bestimmungen übereinkommen [...]. Diese Betrachtung bahnte den Weg, die Sprache des einen Sinnes in das Gebiet der übrigen Sinne zu übertragen, die Worte Höhe und Tiefe von Schall und Farbe, stumpf und scharf von Gegenständen des Gesichts, rauh, hell, klar vom Laute, hart, sanft, süß von Tönen, u.s.w. zu gebrauchen; wodurch von der einen Seite die Grenzen der Sprache, und von der andern der Umfang der Erkenntniß auf eine erstaunliche Weise müssen erweitert haben. (Mendelssohn, Über die Sprache, JA, 6.2, 21)

So weit geht Mendelssohn in der erheblich später entstandenen 'Bildsäule' nicht mehr. In den Frühschriften hatte er sich schon gegen eine zu leichtfertige Vermischung der durch die verschiedenen sinnlichen Wahrnehmungsweisen bestimmten ästhetischen Formen (Malerei, Musik, Dichtung) gewandt. Um so mehr gilt diese Zurückhaltung für eine erkenntnistheoretische Bearbeitung der Sinne. Mendelssohn nimmt damit 1784 eine Auseinandersetzung wieder auf, die historisch der Rezeptionsästhetik vorausging; gerade er hatte mit dafür gesorgt, daß die Frage, wie sinnliche Erfahrung zu Erkenntnis, zu Wissen werde, neu gestellt wurde, und daß man die sinnlichen Grundlagen des ästhetischen Vergnügens ausforschen müsse. Im Verlauf dieser Debatte (die freilich schon vor der Jahrhundertmitte einsetzte64) hatte die vorgängige Fragestellung die folgende insofern geprägt, als verschiedentlich versucht wurde, sie wissenschaftlich, d.h. physikalisch, algebraisch, geometrisch oder physiologisch zu unterfangen, was sich besonders deutlich in der Musiktheorie zeigt, die bevorzugt in Form einer Theorie der harmonischen Strukturen abgehandelt wurde.

Mit für Mendelssohn wesentlichen Beiträgen von Burke, Hutcheson und Lessing.

3.5. Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

105

Durch diese Bearbeitung sei - so Bonnet - die Musik eine Wissenschaft geworden." Die Kritik an Versuchen der naturwissenschaftlich-mathematischen Rückführung ästhetischer Erfahrung, die Mendelssohn durchaus als unzulässige Reduktion ansah, ist sein zweites großes Anliegen in der 'Bildsäule'. Sie präsentiert sich als Reprise des 'Kopf-Themas' in der Einrichtung von Locke, Berkeley, Condillac und Bonnet. Das Hören lasse sich ja durchaus, so die Dame 'Vernunft', als Erregung des Hörorgans durch die Schallwellen auffassen und „durch Linien und ihre Verhältnisse" darstellen, wie sich auch die Farbwahrnehmung als Refraktion, durch Linien, Winkel und Flächen angeben lasse. (Mendelssohn, Bildsäule, 139) Im Grunde also könnten Geschmack und Geruch beiseite gelassen werden, Gefühl und Raumgesicht mögen alles, was den Körper und seine Eigenschaften angehet, und Gehör, was von der Zeit und ihren Ausmessungen abhänget, fernerhin auf das treueste berichten; Bewegung und Ruhe, und was sonst mit diesen in Verbindung stehet, sei ihnen gemeinschaftlich überlaßen. Die übrigen Genien mögen ihres Daseins genießen und schlafen. (Mendelssohn, Bildsäule, 140) 66

Die Dame 'Vernunft', die sich so auf dem sicheren Fundament von Physik, Physiologie und Geometrie wähnt, muß sich freilich gleich eines schon klassischen Angriffs erwehren, den Berkeley im ersten seiner 'Three dialogues between Hylas and Philonous' (1713) gegen den Materialismus geführt hatte. Die Pointe dieses Gesprächs, das um die physikalisch-physiologischen und kognitiven Komponenten einer aufgespaltenen Perzeption am Beispiel des Hörens kreiste, war, "that real sounds are never heard" (Berkeley, Works, 2, 183). Nicht der wirkliche Schall, die bewegte Luft werde gehört, so argumentierte Hylas, sondern der Eindruck, den sie in uns hervorrufen, unsere Empfindung (sensation), es ist die gleiche Argumentation, die schon in den 'Principies' die materielle Welt hinter ihrer Erscheinung verschwinden ließ. Philonous ging noch einen Schritt weiter und sah die Realität überhaupt nur noch als Vorstellung, die unabhängig von der sinnlichen Wahrnehmung nicht existiere.

65

Vgl. Bonnet 1760, 240. Auch in den verschiedenen Beiträgen zur Kontroverse um das Farbenklavier wird diese Tendenz deutlich, wie das nächste Kapitel zeigen wird. Schubart schrieb in seiner polemischen Rückschau auf die harmoniebezogene Musiktheorie: „Man hat bisher behauptet, nur der mathematische Teil der Tonkunst lasse sich auf Grundsätze bringen; der ästhetische aber liege ganz und gar nicht im Gebiete der Kritik. Daher haben sich die Werke ersterer Art bis zum Ekel aufgehäuft, [...]. Das Totengerippe der Musik ist, wie alle Totengerippe, ekelhaft anzusehen, doch hat es für den kritischen Zergliederer seinen großen Nutzen." (Schubart, Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Einleitung. Leipzig 1806/1977, 33)

66

Im Ergebnis entspricht dies der Kantschen Reduktion der Aristotelischen Kategorien'Rhapsodie' in den 'Prolegomena zu einer jeden zukünftigen Metaphysik'.

106

Teil I, 3- Sehen, Hören und Fühlen

Gesicht und Gehör spielen auch in Mendelssohns Neuinszenierung von Hylas und Philonous 67 die Hauptrolle; in den ersten Absätzen wird die Quintessenz des ersten Dialogs noch einmal in Erinnerung gerufen. Gegenstand des Hörens sei weder der Schall als 'Schwingen der Lufttheile' noch die Vibration der Nerven. Der Schall ist eine sinnliche, dunkle Empfindung, eine Empfindung, in welcher wir die Dinge nicht sehen, wie sie sind, nicht wahrnehmen, wie sie den Objekten ausser uns zukommen; sondern wie wir sie uns, nach unsrer Eingeschränktheit, vorstellen. (Mendelssohn, Bildsäule, 141)

Dann jedoch verläßt Mendelssohn die ausgetretenen Pfade der Locke-Kritik und bezieht die aktuelle Diskussion um die Natur der Nerven und Reizleitung in seine Überlegungen mit ein. Nach der Theorie der Nervenvibrationen, die die Spirituslehre Descartes zunächst verdrängt hatte, sollte sich der Schall als schwingende Luft(-Teilchen) über das Trommelfell und das Innenohr, über die gleichfalls oszillierenden Fibern des Hörnervs der Seele mitteilen. Zwischen dem Schallereignis, seiner Aktion auf das Hörorgan und der Nervenbewegung gab es keine Transformation der physikalischen Beschaffenheit (nämlich mechanische Bewegung), die Perzeption konnte als ein einheitlicher Vorgang beschrieben werden und fügte sich leicht in eine materialistische Konzeption. Mit der konkurrierenden Theorie des Nervenaethers (Haller) oder Nervensa/is war die Sache schon nicht mehr ganz so einfach, denn eine mechanische Schwingung hätte sich in etwas schnell Bewegendes (Aether) oder ein strömendes Fluidum umwandeln müssen. ^ Hinzu kam, daß die Archiglandula (die 'Zirbeldrüse' Descartes') nicht mehr als allein infrage kommender 'Sitz der Seele' betrachtet und die Seele aufgespalten wurde - in ihren organisch-physiologischen Teil (Gehirn) und ihren psychischen Teil (Seele, Bewußtsein, Denken), dessen Lokalisierung uneinheitlich war. m Unabhängig von der BeschaffenMendelssohn hatte den Dialog schon seit längerem bearbeitet. Die Jubiläumsausgabe datiert die Entstehung von 'Hylas und Philonous' zwischen 1768 und 1774; er erscheint 1784/1785 als Teil von Grossingers 'Abhandlung von der Unkörperlichkeit der menschlichen Seele'. (Mendelssohn, JA, 3.1, XXXIV - XXXVIII; der Text findet sich in zwei Varianten in JA, 3.1, 168 - 171 und 191 - 194) Der Gegenstand dieses Dialogs ist eine Auseinandersetzung mit Descartes und Locke um die Frage, ob es eine 'denkende Materie' geben könne. Eine Übersicht der verschiedenen Theorien zur Reizleitung und ein eigener Vorschlag finden sich bei Chladni 1802, 284 - 286. Nach zaghaften Ansätzen bei Haller wurde sie dann von Bonnet in das corpus callosum verlegt. Den ersten systematischen Entwurf einer Lokalisationslehre lieferte Franz Joseph Gall. Alexander von Humboldt, der über Henriette Herz mit dem Freundeskreis um Marcus Herz verbunden war, vermutete das Denken begleitende chemisch-physikalische Vorgänge im 'Seelenorgan'. (A. v. Humboldt, Versuche über die gereizte muskel- und nervenfaser, 1797) Vgl. auch Kants Rezension von Sömmering (Über das Organ der Seele, 1796) in Kant, Naturwissenschaftliche Schriften, 2, 621 - 625.

3.5. Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

107

heit der Nerven ist es die Dichotomie von innerer vs. äußerer Wahrnehmung, die für Mendelssohn den Kern des Unterschieds zwischen Locke und Berkeley ausmacht, wobei die dunklen Empfindungen den Gegenstand 'verdunkeln', während die deutlichen ihn durch seine Erscheinung auffassen. Mendelssohn scheint sich in der 'Bildsäule' nicht zwischen der Theorie der Nervensäfte und der Fiberntheorie entscheiden zu wollen - erstere wurde von seinem Freund Marcus Herz, letztere u. a. von dem ihm bekannten psychologisch interessierten Berliner Konsistorialrat v. Irwing vertreten. Du denkst also: wenn die sinnliche Erkenntniß deutlich wäre; s o würden die Menschen nicht mehr Schall, sondern weiße o d e r gräuliche Gehirnfasern wahrnehmen, die sich bald geschwinder, bald langsamer schwingen, o d e r die einen feinen leicht beweglichen Saft in einander ergießen. Nicht? (Mendelssohn, Bildsäule, 1 4 1 )

Das Argument der Dame 'Vernunft' mündet in die listige Projektion des Berkeleyschen Paradoxons vom wirklichen Schall, den man allenfalls sehen und fühlen, aber nicht hören könne, auf das von Diderot auf Descartes gemünzte und von Bonnet aufgegriffene Bild von der Seele, die der Blinde in den Fingerspitzen vermute.70 Auf diese Weise versucht Mendelssohn das Kunststück, den mechanischen Cartesianismus und die physiologische Psychologie Bonnets auf einen Schlag zu treffen. [...] w e n n die sinnliche Erkenntniß deutlicher wäre, s o würden die Menschen mit den Fingern oder mit den Augen hören [...]? Was weiß das Gehör von Organ, von Fasern, von Saft, von Schwingungen? Überhaupt von Raum, Materie, und Bewegung? Alle diese Begriffe haben die Menschen den Fingerspitzen und den Augen zu verdanken. Den Schall in solche Merkmale auflösen, heißt im Grunde nichts anders, als ihn mit Fingern greifen, oder mit Augen sehen wollen. (Mendelssohn, Bildsäule, 141 f.)

Diese Ungereimtheit einer materialistischen Interpretation von Perzeption kann auch nicht durch die Behauptung aus der Welt geschafft werden, daß die sinnlichen Empfindungen in der Seele, deren Sitz 'irgendwo' im Gehirn sei, nichts anderes als Bewegungen von Materie seien. Dagegen "Si donc je concevois un doigt doué du Toucher le plus exquis, placé à l'extrémité de mon Nerf optique, à cette extrémité qui aboutit à mon Sensorium, ce doigt sentirait les ébranlemens de tous les points de ma Rétine [...]. Je place une Ame dans ce doigt pour sentir tout cela & en juger [...1. Cette Ame sentiroit donc l'image & en jugerait par le Toucher; à-peu-près comme un Aveugle-né qui discernerait les couleurs par le Toucher. L'Ame que je suppose ne verrait donc pas l'image; mais elle la sentiroit, & ce serait encore comme l'Aveugle qui touche un Corps avec son bâton. Mon Ame est donc cet Aveugle; le Nerf optique est son bâton." (Bonnet, Méditations sur l'origine des sensations et sur l'union de fame et du corps. CEuvres, 1782, 18, 212 f.)

108

Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

spräche das Exempel des Blindgeborenen Cheseldens. Dieser habe, als er noch nicht sehen konnte, tatsächlich seine Seele, also den Ort, von wo seine deutlichsten Empfindungen ausgingen, in die Fingerspitzen verlegt (das Gehör als Quelle dunkler Empfindungen schied als Standort aus). Von seinen Fingerspitzen habe der Blinde jedoch keinen sichtlichen Begriff erlangen können, „was er mit diesen Fingern, im eigentlichen Sinne, begreifen konnte, war auch für seinen Verstand begreiflich." (Mendelssohn, Bildsäule, 143) Nach der Operation habe der ehemals Blinde zunächst Gefühltes und Gesehenes so in eins gesetzt, daß er meinte, die Objekte befänden sich unmittelbar auf der Augenoberfläche, denn seine Orientierung sei vollständig auf den eigenen Leib bezogen gewesen. 71 Als dann der eigene Körper und die an verschiedenen Stellen angeordneten Organe zum Gegenstand der visuellen und taktilen Wahrnehmung wurden - es war die Phase, in der Condillacs Statue sich selbst identifizierte - , begann die Seele dorthin zu wandern, „wo alle Sinne freien Zutritt zu haben scheinen, etwa unweit der Augen; oder, wenn der sehend gewordene Blinde Anatomie höret, im Gehirne." (Mendelssohn, Bildsäule, 144) „Keine Lektion aus dem Condillac, wenn ich bitten darf", läßt Mendelssohn die Diskussionspartnerin protestieren, offensichtlich eine Parteigängerin La Mettries, Bonnets und Helvetius', „ist es denn nicht andern, daß sich alles in der körperlichen Natur durch Materie und Bewegung erklären lasse?" (Mendelssohn, Bildsäule, 144) Dieser Einwurf gibt Mendelssohn Gelegenheit, mit dem 'mechanischen Philosophieren' abzurechnen, einem Verfahren, das durch Reduktion auf die Prinzipien der Phänomene die einfachen, nicht mehr teilbaren Bestandteile zu isolieren suchte, eine der Anatomie und Physiologie abgeschaute Methode der analytischen Zergliederung. 72 Mechanisch philosophiren heißt, eine zusammengesetzte Erscheinung in ihre Elemente auflösen; in der Körperwelt insbesondere eine Erscheinung bis auf die einfachen Grundbegriffe von Ausdehnung, Widerstand, und Bewegung "When he first saw, he was so far from making any Judgment about Distances, that he thought all Objects whatever touch'd his Eyes, (as he express'd it) as what he felt, did his Skin [...]." (Cheselden 1729, 448) Vgl. auch Condillac, Traité des sensations, 31' part., chap. 3, 1 7 9 8 / 1 9 8 4 , 170 und Diderots 'Saunderson voyait donc par la peau' (Diderot, Lettre sur les aveugles, 838); ebenso Ernst Machs reziprokes Gedankenexperiment mit Verweis auf Saunderson und die 'Lettre sur les aveugles': „Der Sehende wird vorzugsweise von den Empfindungen und Vorstellungen des Sehraums geleitet [...]. Eine Figur, die ihm langsam im Dunkeln oder bei geschlossenen Augen auf die Haut gezeichnet wird, übersetzt er sich durch Vermittlung der empfundenen Bewegungen in ein Gesichtsbild, indem er sich selbst die empfundene Bewegung ausführend denkt." (Mach 1968, 3 4 2 ) Sie findet sich nicht nur bei Bonnet, sondern z.B. für die Etymologie und Phonetik bei de Brosses' 'Traité de la formation méchanique des langues' (s. Teil II, Kap. 4.4),

für die

Psychologie bei Sulzer, für die Ästhetik bei Batteux, für die Musiktheorie bei d'Alembert. Vgl. aber Mendelssohns eigene Analyse im Spalding-Kommentar, Teil I, Kap. 7.2.

3.5. Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

109

zergliedern, und jeder Veränderung Maaß, Zahl und Gewicht bestimmen, und endlich, wo es möglich ist, die Größen in den Ursachen mit den Größen in den Werkzeugen in Vergleichung bringen. (Mendelssohn, Bildsäule, 145)

Während dies für den Gesichts- und Tastsinn noch angehe, sei eine Erklärung der übrigen Sinneswahrnehmungen auf diese Weise nicht möglich, weil sie sich nicht leicht „unter mathematische Begriffe" bringen lasse. (Mendelssohn, Bildsäule, 145) Auf den ersten Blick scheint es erstaunlich, daß Mendelssohn hier die auditive Wahrnehmung nicht einer analytischen Methode für zugänglich hält. Angesichts der zahlreichen Arbeiten zur Berechnung des Schalls, der mathematisierten musiktheoretischen Abhandlungen zur Harmonielehre und zur Stimmung (Sauveur, d'Alembert) sollte man vermuten, daß Gehör und Gesicht hier als eng verknüpft gesehen werden müßten. Dies setzte aber voraus, daß Hören als eine unmittelbare Abbildung der quantitativen und qualitativen Eigenschaften der physikalischen Verhältnisse beim Schall auf der akustischen 'Retina' aufgefaßt würde - genau dies aber hatte Mendelssohn bestritten, hatte zwischen 'innerem' und 'äußerem' Hören differenziert und es für unmöglich gehalten, nach der Transformation des 'äußeren' zum 'inneren' Hören dieses mechanisch auf den physikalischen Schall rückzuführen. 73 Wenn dennoch das Hören quantifiziert werde, z.B. die Abhängigkeit von Tonhöhe und Saitenlänge, dann sei dies durch eine Übereinstimmung von Gesichts- und Höreindruck möglich. Im Gegensatz zu Diderots Beschreibung der Sinn-Verschiebung als Metaphorisierung, also einer begrifflichen Analogisierung von Sehen und Fühlen, nimmt Mendelssohn eine Entsprechung, genauer, eine ständige Gleichzeitigkeit von Eindrücken der 'niederen' Sinne (Gehör, Geruch, Geschmack) mit den 'höheren' (Gesicht und Gefühl) an. Nun kamst du [...] auf den nicht unglüklichen Einfall, die Erscheinungen der übrigen Sinne, mit den Eindrükken des Gesichts und des Gefühls, die ihnen entsprechen, in Vergleichung zu bringen. Du erfandest das Monochord, das Einer der bevorzugten Adressaten dieser Kritik war sicherlich Paul Henri Dietrich d'Holbachs 'Systeme de la nature' (1770), das Goethe als 'unschmackhafte, ja abgeschmackte Quintessenz der Greisenheit' aufstieß: „(...] wie wir bald zu beweisen Gelegenheit haben werden, reduzieren sich alle intellektuellen Fähigkeiten, das heißt alle Wirkungsarten, die man der Seele zuschreibt, auf Modifikationen, Eigenschaften, Seinsweisen und Veränderungen, die durch die Bewegung im Gehirn hervorgerufen werden. Dieses ist offensichtlich in uns der Sitz des Gefühls und das Prinzip aller unserer Handlungen. Die Modifikationen gehen von den Gegenständen aus, die unsere Sinne affizieren und deren Antriebe sich zum Gehirn [als Erschütterungen] fortpflanzen, oder aber von den Ideen, die jene Gegenstände dort hervorgerufen haben und die es reproduzieren kann. Das Gehirn bewegt sich also seinerseits, wirkt auf sich selbst zurück und setzt die Organe in Bewegung, die sich in ihm konzentrieren [...]. Auf diese Weise werden die verborgenen Bewegungen des inneren Organs äußerlich durch sichtbare Zeichen empfindbar." (d'Holbach, System der Natur, i960, 91)

110

Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

T h e r m o m e t e r u n d die ganze Farbentheorie des Newton, u m durch diesen Kunstgriff die Erscheinungen d e r übrigen Sinne unter m a t h e m a t i s c h e Ausmess u n g e n zu bringen. [...] D u r c h Reduktion d e r übrigen sinnlichen V e r ä n d e r u n g e n auf die begleitenden V e r ä n d e r u n g e n im Sichtbaren und Fühlbaren, w u r d e n Linien und Flächen u n d Zahlen angebracht, w o nur v o n Stärke u n d S c h w ä c h e die R e d e sein konnte. (Mendelssohn, Bildsäule, 1 4 6 f.) 7 4 Diese

Reduktion

denn

Schall-,

bedeuteten -

diene

Geruchs-,

zwar

der Anschaulichkeit,

Farben-,

Hunger-

und

als B e w e g u n g d e r M a t e r i e g e d a c h t -

aber

erkläre

nichts,

Schmerzwahrnehmung „den Schall s e h e n ,

F a r b e n h ö r e n , o d e r d e n H u n g e r mit F i n g e r n greifen w o l l e n . "

die

(Mendels-

sohn, Bildsäule, 1 4 7 ) Damit schließt sich der B o g e n zu B e r k e l e y s P a r a d o x o n a u s ' H y l a s a n d P h i l o n o u s ' u n d o h n e a n d i e s e r Stelle a u f d a s F a r b e n klavier e i n z u g e h e n

nimmt Mendelssohn

den

Gedanken

Sinn e i g e n e n Dialekts w i e d e r auf. Die p a r a d i g m a t i s c h e n

eines

jedem

Entsprechungen

v o n S i n n e s e i n d r ü c k e n n i e d e r e r u n d h ö h e r e r Art h ä t t e n z u e i n e m

metho-

d i s c h e n M i ß b r a u c h g e f ü h r t , d e r s i c h s p r a c h l i c h als Ü b e r s e t z u n g d e r B e g r i f f e v o n G e h ö r , G e s c h m a c k u n d G e r u c h in d i e d e s G e f ü h l s u n d G e s i c h t s z e i g e , d o c h „du t ä u s c h e s t d i c h a b e r s e l b s t , w e n n d u g l a u b s t , j e n e h e t e r o g e n e Mundarten

dadurch verständlich

zu m a c h e n . "

(Mendelssohn,

1 4 8 ) Sie e r w e i s t s i c h g e g e n ü b e r d e r ' h o r i z o n t a l e n ' Ü b e r s e t z u n g

Bildsäule, zwischen

G e s i c h t u n d G e f ü h l als illegitim.

Das Monochord war das zeitgenössische Hilfsmittel zur Stimmung der Instrumente und für die Gesangsausbildung (s. Teil II, Kap. 5.7) und stellte Intervalle, ähnlich wie das Thermometer Wärmeunterschiede, als unterschiedliche Streckenverhältnisse dar. In dem 'Versuch, eine vollkommen gleichschwebende Temperatur durch die Construction zu finden', der 1761 anonym in den von F.W.Marpurg herausgegebenen 'Historisch-Critischen Beyträgen zur Aufnahme der Musik' veröffentlicht wurde und der nach Meinung der Herausgeber der Jubiläumsausgabe mit Sicherheit Mendelssohn zugeschrieben werden kann, wird der logarithmischen Berechnung der gleichschwebenden Temperatur eine geometrische Konstruktion und eine auf der Arbeitsweise des Monochords beruhende praktische Anwendung gegenübergestellt. Die Begründung für dieses Verfahren ist aufschlußreich, weil sie den Wandel in den Auffassungen Mendelssohns seit den 60er Jahren beleuchtet. Gegen die Ansicht Neidhardts, daß sich durch arithmetische Annäherung „zwar das Ohr, der Verstand aber ganz und gar nicht, damit befriedigen läßt", führt er den Vorteil der Geometrisierung ins Feld: „Wie aber? wenn man beydes Verstand und Ohr befriedigen könnte, und zwar eben so leicht und bequem, wo nicht noch leichter, als man durch die arithmetische Annäherung das Ohr allein befriediget?" (Mendelssohn, JA, 2, 189) Vgl. auch Maupertuis: "On peut considérer la Musique sous deux différents aspects; par les rapports que les sons ont entr'eux, ou par les effets que ces sons produisent sur nous. Si l'on considéré dans la Musique les différents rapports que les sons ont les uns aux autres, elle sera une science; si l'on ne considéré que les différents effets que ces sons produisent sur nous, on la réduira au pur agrément." (Maupertuis, Sur la forme des instrumens de musique, in: Mém. Acad. Se. 1724, 215) Mendelssohn hatte es in seinen 'Briefen über die Empfindungen' eben wegen dieser Sinnesverschiebung kritisiert, dort übrigens vertrat er eine der hier kritisierten mechanistischen Philosophie durchaus nahestehende Position.

3.5- Mendelssohn: Urschrift und Überset7.ung

111

Seine Protagonistin stamme, resümiert Mendelssohn, aus der 'Schule des Thomas Barklai'. Dieser hatte in den 'Principles' dem Gefühl nicht einmal mehr die Wahrnehmung der materiellen Qualitäten 'Ausdehnung', 'Figur' und 'Bewegung' zuerkannt. Auf den Einwand, man solle wie Locke zwischen 'Haupt'- und 'Nebenbeschaffenheiten' der Dinge unterscheiden, entgegneten die Anhänger des Bischofs von Cloyne, damit sei das Defizit der 'Übersetzung' vom Riech-, Schmeck- und Hörbaren in die Sphäre des Seh- und Fühlbaren keineswegs vom Tisch, der Rekurs auf den common sense sei ganz und gar unphilosophisch. Solange allerdings die Urschrift der sinnlichen Wahrnehmungen, die all diesen Übersetzungen zugrunde liege, nicht entziffert sei, wendeten die common-sense-Vertreter ein, solle man sich mit 'Erläuterungen' zufrieden geben, wo Erklärungen nicht möglich sind. Ihr vergleichet unsere Methode mit einer Uebersetzung aus dem Dialekte der übrigen Sinne in den Dialekt des Gesichts und des Gefühls; und saget, daß dadurch die Sprache der Urschrift nicht verständlicher wird? [...] So lange wir die Urschrift [...] nicht lesen können, müssen wir uns mit Uebersetzungen behelfen; und sie würden uns gute Dienste thun, wenn wir sie nur vollständig hätten [...]. (Mendelssohn, Bildsäule, 150)

Mendelssohn gibt keine eindeutige Bestimmung seines Begriffs von 'Urschrift', aus dem Kontext aber wird deutlich, daß er sich an Berkeleys 'vision as the natural language' orientiert. 'Urschrift' meint die in das Gehirn eingeschriebene sinnliche Repräsentation der Außenwelt, die dann in die Begrifflichkeit der einzelnen Sinne übersetzt wird. Sie zu entschlüsseln, bedarf es offenbar mehr als nur einer genauen Kenntnis vom Bau der Nerven und Muskeln, der strukturellen und funktionalen Beschaffenheit des Gehirns und der Reizverarbeitung, weil dies bestenfalls zu einer vollständigeren Übersetzung führe - deren Nutzen weder die Anhänger Berkeleys noch Engels Protagonist bestritten doch eben nicht zur Dechiffrierung der Urschrift. Mit der Zeit gerate in Vergessenheit, daß man es immer noch nur mit Übersetzungen, nicht dem Original zu tun habe. Die in verschiedenen Varianten ausgearbeitete Theorie der Abbildung (Objekt -> retinales Bild » zerebrales Bild), deren Kern die Annahme einer mehrstufigen Reproduktion der physikalischen Eigenschaften des perzipierten Objekts war, erfährt hier durch Mendelssohn mehr als nur eine deutliche Brechung, wenn er statt einer mechanischen Vervielfältigung der Primärreize ihre Verwandlung zunächst in eine der physiologischen Struktur der Nerven angepaßte Form, dann in die zerebrale Inskription annimmt, die dann, als 'Urschrift', die Vorlage für die der Reflexion zugänglichen übersetzten Begriffe abgibt, die nur in begrenztem Umfang in jeweils andere Sinnbereiche übertragbar sind. Es schimmern die Konturen einer Sprachursprungstheorie durch, die ausgeht von sich aus einem

112

Teil I, 3. Sehen, Hören und Fühlen

monogenetischen Anfang (Urschrift) entwickelnden, untereinander hierarchisierten 'Dialekten' und eine Entschlüsselung der Ausgangsform durch Rückübersetzung ausschließt. Es deutet sich zugleich die Vorstellung von der 'sprechenden Natur' an, wie sie für die Übersetzungstheorie der Romantik konstitutiv war.76 Mendelssohns Kritik an der Übertragung eines an die physikalischen Eigenschaften von Körpern gebundenen Vokabulars (wie Größe, Form, Farbe, Lage, Oberflächenbeschaffenheit) auf nicht-optische oder nicht-taktile Wahrnehmungen ist zugleich eine Absage an eine durch die körperbezogene Erkenntnistheorie unterstützte reifizierende Tendenz in der Beschreibungssprache und in den Modellierungen kognitiver Prozesse. Dies gilt um so mehr für die 'spiritualia', zu denen Descartes bemerkt hatte, sie seien als 'sinnlich erfahrbare Körper' besser vorstellbar. 77 Was sollen wir aber zur Vergeßlichkeit derjenigen sagen, die nicht nur alle übrigen Sinne in Gefühl und Gesicht verwandeln, und so zu sagen den Schall sehen, und den Geruch betasten wollen, sondern auch alle übersinnliche Begriffe des Menschen, alle Wirkungen und Verrichtungen des Verstandes und Witzes, der Vernunft und der Einbildungskraft, durch Abänderungen der sichtbaren und fühlbaren Eigenschaften der Dinge verständlich erklären zu können glauben? Ein feines Gewebe von Fasern; welche ineinander verschlungen sind, und welche die Schwingungen und Bebungen, worin sie von äußern Gegenständen gesetzt werden, sich einander harmonisch mittheilen, dieses sind die Materialien, aus welchen sie eine ganze Geisterwelt erbauen wollen [...]. (Mendelssohn, Bildsäule, 152)

An der Errichtung dieser Geisterwelt war Mendelssohn früher selbst beteiligt. Zwar hatte er in seiner Rezension von Bonnets 'Essai de psychologie', der 1755 in London erschienen war, eben diese darin vertretene Ansicht, „das materialische des Gedächtnißes, der Einbildungs-kraft, der Aufmerksamkeit, der Ueberlegung, des Genies, ist eine gewiße Natur der Fibren, eine gewiße Disposition des Gehirns" (Mendelssohn, JA, 2, 38), heftig angegriffen und das Werk zu jenen gerechnet, „die man halbschlafend durchliest", doch ist einem Eintrag in die Kollektaneenbücher vom 1. Juni 1765 noch die traditionell nach Descartes-Wolffscher Manier formulierte Hoffnung zu entnehmen, daß wir wünschen könnten, von den „Wirkungen und Leiden" der Seele eine „bildliche wie nicht weniger eine Zeichenerkentnis zu haben" (Mendelssohn, JA, 2, 15); einschränkend hieß es jedoch weiter: Nun ist nicht zu läugnen, daß wir alle Wirkungen der Seele anschauend erkenen, daß wir durch Zeichen ihre Merkmale angeben, und aus einem Principio 76

77

Vgl. dazu Mendelssohn, Über die Sprache, JA, 6.2. Den Zusammenhang von Übersetzungstheorien und Sprachursprungsdiskussion umreiiät F. Apel 1989S. o., 37.

3.5- Mendelssohn: Urschrift und Übersetzung

113

herleiten können, aber wir könen gewisse Erscheinungen in der Geisterwelt nicht erklären. [...] Wir erkenen die Dinge überhaupt nur aus ihren Wirkungen. Aber einige unmittelbar, andere mittelbar, wie Aether, Nervensaft, nur durch ihre Wirkung auf andere Körper. (Mendelssohn, JA, 2, 15)™

Diese eingeschränkte Kon-Figuration des Geistigen hatte Mendelssohn immerhin zugestanden, obwohl er zur gleichen Zeit schon eine abgestufte Vorstellbarkeit verschiedener sinnlich wahrnehmbarer Qualitäten annahm, die in gleicher Weise hierarchisiert war wie die in der späteren Bildsäule behandelten Sinne selbst. In einem Kommentar zu Lamberts 'Neuem Organon' vom 26. Januar 1766 hieß es: Was HE L.[ambert] von den Figuren erinnert, ist, wie bereits oben erinnert worden, ohne Grund. Wir können uns allerhand, auch die zusamengesetztesten Figuren gar leicht einbilden, schwehrer die Farben, noch schwehrer den Schall und endlich noch schwehrer den Geschmak und den Geruch. (Mendelssohn, JA, 2, 19)

Mendelssohn schwankte zu dieser Zeit zwischen einer an Wolff und Leibniz orientierten Epistemologie und der aktuellen, physiologisch orientierten Neubestimmung von Denken und Empfinden. In der Bonnet-Rezension wehrte er sich vehement gegen den Versuch, die Vorstellungen der Seele aus der „Würkung eines Gegenstandes in die Gliedmaßen der Sinne" (Mendelssohn, JA, 2, 40) erklären zu wollen, obschon er selbst im zwölften der 'Briefe über die Empfindungen' (1755) eine enge Beziehung zwischen dem physikalischen Zustand des Nervensystems samt Gehirn und psychischen Vorgängen konstatierte. In dem wundervollen Baue des menschlichen Körpers sind Wirkungen und Ursachen so sehr in einander verschlungen, daß sie nicht selten ihre Bestimmungen vertauschen [...]. Wenn eine Bewegung in den Gliedmaßen, eine Vorstellung in dem Gehirne nach sich ziehet; so bemühet sich wechselsweise diese Vorstellung, wenn sie vorhergehet, wiederum jene Bewegung hervorzubringen. (Mendelssohn, JA, 1, 89 f.)79

Der angenehme Affekt, die Wirkungen der sinnlichen Wollust nähmen ihren Anfang in den Gliedmassen und verbreiteten sich von dort ins Gehirn, „ordnen die Fasern des Gehirns in den gehörigen Ton"; die Ordnung, die der Mathematiker in der Welt entdecke, lasse die „Fülle der sinnlichen Lust" sich „aus seinem Gehirne auf den gantzen Körper ergiesDiese Position entsprach exakt der Bonnets im 'Essai analytique' (1760). Dieser Zusammenhang wird noch einmal wichtig werden für die Erklärung eines temporären Sprachverlusts, den der Berliner Konsistorialrat Spalding erlitt und zu dessen Erklärung sich Mendelssohn wie Herz im 'Magazin zur Erfahrungsseelenkunde' äußerten. S. u., Teil I, Kap. 7. 2 und 7.4.

114

Teil I, 3- Sehen, Hören und Fühlen

sen!" (Mendelssohn, JA, 1, 90 f.) Von dem Lustgewinn, den der junge Mathematiker Mendelssohn der Berechnung der Welt zuschrieb, von der körperlichen Harmonie einer Gleichung, ist 1784 nichts mehr zu lesen, und es klingt wie eine selbstkritische Rückschau, wenn er gegen Ende der 'Bildsäule' sich gegen eine Entlehnung der Verstandes-Begriffe aus der Finger- und Augensprache - den 'Erschleichungsfehler' — wendet: [Diese Denker] sind von der sehr gegründeten Vermuthung ausgegangen, daß mit jeder geistigen Veränderung, mit jeder Verrichtung der Seelenkräfte, irgendwo im Sichtbaren und Fühlbaren (d.i. in der Materie) eine harmonische Veränderung vorgehen müsse. Sie fanden, wie es scheint, anfangs für gut, jene durch diese bildlich vorzustellen; im Sinnlichen auf eine materielle Weise zu zeigen, was im Uebersinnlichen, auf eine geistige Weise, vorgehe; und dieses war ihnen nachzusehen. Allein diese Vergleichung des Sinnlichen mit dem Uebersinnlichen, dieses Uebersetzen und bildliche Vorstellen für eine Erklärung ausgeben, heißt den Witz mit Händen greifen oder die Vernunft durch die Brille sehen wollen. (Mendelssohn, Bildsäule, 153)""

Der 'Urschrift' des Gesichts schien man seit Newton einen Schritt näher gekommen zu sein, doch hatte sich gezeigt, daß der Versuch, sie von Blinden zu erfragen, mehr und mehr von ihr weg zu führen schien. Zwischen die Gesetze des Lichts und die Beschaffenheit des Sehapparates schob sich zunehmend die Physiologie der Nerven und des Gehirns, und wer anders als überzeugte Materialisten machte sich anheischig, durch die Begriffe der visuellen Wahrnehmung hindurchzusehen, in der 'Übersetzung' die 'Urschrift' erkennen zu können. Die Urschrift der Sprache, besser, des Sprechens entschlüsseln zu wollen - nicht spekulativ, sondern am Menschen - verhieß noch weit größere Schwierigkeiten, galt es doch nichts weniger als sinnliche Wahrnehmung, Vorstellung und Sprache so aneinander zu binden, daß Sprache als unmittelbarer Ausdruck des Gedankens und der sinnlichen Wahrnehmung untersucht werden konnte, frei von allen Einflüssen der jeweiligen (National-)Sprachen, von Erziehung, Konvention und Interesse. Und ähnlich, wie man vom Blinden etwas über das Sehen erfahren wollte, suchte man von Taubstummen zu erfahren, was es denn mit dem Sprechen auf sich habe. W e r Moses Mendelssohn seinerseits die Sehhilfe a b g e n o m m e n hatte, ist vielleicht zu erahnen: Sein Freund Marcus Herz, mit dem er bei Abendgesellschaften in der Berliner Spandauer Straße plauschte und der ihm 1770 vom Königsberger Philosophen Immanuel Kant empfohlen worden war, dürfte jedenfalls daran nicht unbeteiligt g e w e s e n sein. Herz vermutete, daß von den W a h r n e h m u n g e n im Gehirn keine „Spuren, Abdrücke, Figuren, sondern bloiä gewisse 'Nervenaffektionen' zurückbleiben", H e m m u n g e n

im

Fluß des Nervensaftes. (Dessoir 1902, 235) G e g e n die T e n d e n z der materialistischen Seelenmechanik, die eindrückliche B e w e g u n g der sinnlich w a h r g e n o m m e n e n O b j e k t e in Eigenschaften von Körpern zu übersetzen, bewahrte Herz diese B e w e g u n g als strukturelle Veränderung des Nervensystems. Auch dazu findet sich mehr in Teil I, Kap.

7.4.

4. Farbenhören und Tonsehen Ich aber erinnere dich daran, du sollst dich nur mit den Worten einlassen, um mit den Blinden zu sprechen [...] aber mische dich nicht in Dinge ein, die mit den Augen zu tun haben, um sie über die Ohren zu leiten, denn darin ist dir das Werk des Malers weit überlegen. (Leonardo da Vinci)

Dieses Kapitel beschreibt die Entwicklung des 'Sprachthemas' noch einmal, nun aus einer anderen Perspektive. In den vorangehenden Kapiteln zeichnete ich die Geschichte des Blinden und der Statue nach. Hier beginnt die Untersuchung mit dem Besuch, den Diderot zusammen mit seinem Taubstummen der Werkstatt des Jesuitenpaters Castel abstattete, um das berühmte Farbenklavier zu sehen, doch werde ich zunächst nicht der Spur des Taubstummen und seines Meisters1 folgen, sondern der des Farbenklaviers. Wie ich schon in der Einleitung angedeutet habe, kann Newtons Farbenlehre als erster Höhepunkt einer neuzeitlichen Entwicklung gelten, die den Erwerb von Wissen an die visuelle Wahrnehmung binden wollte. Die Vorherrschaft des Sehens blieb freilich nicht unbestritten, wie die Beiträge zur Molyneux-Locke-Hypothese gezeigt haben. In der Diskussion um das 'Farbenklavier' werden nun - teils komplementär, teils gegenläufig zur epistemologischen Debatte - die Konsequenzen einer revidierten Hierarchisierung der menschlichen Sinne2 für eine Theorie der Ästhetik bearbeitet. Wie stark Sprache auch hier hineinspielt, ist an Diderot und auch an Mendelssohns und Engels Variationen zum Statuenthema deutlich geworden. Ästhetisierung der Epistemologie und Rationalisierung von Ästhetik, wie sie sich in der Umformulierung der Frage nach Wahrheit in die nach dem wahren Schönen zeigt, bilden eine andere, nicht minder wichtige Facette des Versuchs, das Monopol des Gesichts als Wissensmaschine zu

Vgl. Teil I, Kap. 5. Als Illustration mag die im Teil I, Kapitel 2.3 vorgestellte Kommödie 'Le procès des sens' (1732) von Fuzelier dienen.

116

Teil I 4. Farbenhören und Tonsehen

bestreiten. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dieser Ablösungsprozeß sei linear verlaufen. Die Physiognomik Pernettis und Lavaters und die überragende Bedeutung der Beobachtung als wissenschaftlicher Methode zeigt, für wie wichtig auch gegen Ende des Jahrhunderts das durch visuelle Wahrnehmung gestützte Urteil gehalten wurde. Goethe schließlich konzipierte eine neue Art des Sehens, das von dem Malebranches und Newtons wohl zu unterscheiden ist. Vor allem die gesellschaftliche Belohnung der Visualität in Form von Lese- und Schreibfähigkeiten entläßt das Auge keineswegs aus seiner Bedeutung - nur vermittelt sich gerade diese Relevanz über das sprachliche (Schrift-)Zeichen. Der kurze Aufriß soll helfen, den systematischen Ort der zahlreichen, vom Farbenklavier angeregten Beiträge und zugleich den Zusammenhang der folgenden Kapitel mit den anderen Themen meiner Darstellung zu erkennen. Die Geometrie wird auch hier - diesmal als Grundlage musiktheoretischer Überlegungen - eine ebenso wichtige Rolle spielen wie die menschlichen Sinne, und dies nicht allein für die Wahrnehmung der ästhetischen Form. An der Farbenklavier-Debatte zeigen sich nämlich auch schon die Konturen zweier Themen, die in der zweiten Jahrhunderthälfte immer mehr in den Vordergrund treten (und den zweiten Teil von Auge & Ohr ausmachen). Zweifel, ob eine Maschine zur Verwandlung einer ästhetischen Form in eine andere tauge, bereiten das Terrain für eine anthropologische Reformulierung des notorischen Mensch-Maschine-Problems vor: Während die maschinenmäßige Modellierung des menschlichen Körpers immer weniger Aufsehen erregte, sorgte die Aussicht, geistige Teilfunktionen des Menschen wie Sprache maschinell reproduzieren zu können, erneut für Erregung. Das andere Thema - Laut und Schrift - wird vor allem an Rousseaus Versuch erkennbar, die zeitgenössische Musikästhetik zeichentheoretisch neu zu fassen. Hier deutet sich eine vor allem für Frankreich wichtige Entwicklung an, die schon im Konzept der Taubstummeninstruktion des Abbé de l'Épée erkennbar ist und die ihren ersten Höhepunkt im Programm der 'idéologues' findet. Auch die Kontroverse um 'Farbenhören' und 'Tonsehen' hatte einen wirklichen historischen Ciccerone. Zunächst reines Gedankenmodell (wie der 'Blinde' und der 'Taubstumme'), nahm das 'Farbenklavier' des LouisBertrand Castel immer mehr materielle Gestalt an. Als leibhaftige, wenn auch nicht unbedingt wirkliche Maschine war es einer der Kristallisationskerne der Debatte um Sehen und Hören - und brachte dem Erfinder neben allgemeiner Bekanntheit zuweilen heftige Kritik ein. Im Gegensatz zu anderen Teilen ist dieser zunächst nicht chronologisch angelegt. Ich beginne an der von Diderot markierten Zäsur in der Jahrhundertmitte, gehe dann zurück zu Malebranche, der im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts einen Orientierungspunkt für die erkenntnistheoretische Bearbeitung von Hören und Sehen durch Newton, Berkeley und

4.1. Meta-Physik der Farben und Töne

117

Voltaire bietet und komme dann wieder auf Diderot zurück. Die Anlage der Darstellung spiegelt so die historische Bedeutung Diderots für die beschriebenen Verschiebungen im 18. Jahrhundert: als Epitaph auf die kognitive Vormachtstellung des monodirektionalen Gesichtssinns, als Ankündigung eines gesellschaftlich weit wirkungsvolleren, dialogischen 'Sinns', der Sprache.

4.1. Meta-Physik der Farben und Töne The Enraged Musician, another piece of the same great master [Hogarth], of which a witty author quintly says, that it deafens one to look at it. (James Beatty, An Essay on Laughter and Ludicrous Compositions)

In seiner 'Lettre sur les sourds et muets' (1751) erwähnt Diderot einen gelegentlichen Besuch in der Werkstatt des Jesuiten Louis-Bertrand Castel, der in den 30er und 40er Jahren in ganz Europa als Erfinder eines 'Farbenklaviers' bekannt wurde. Diderot begleitete einen jungen Taubstummen, der, wie er vermutete, begierig sein würde, zum ersten Mal in seinem Leben mit Musik in Berührung zu kommen - mit Hilfe der Augen. Diderot erzählt die Begebenheit so: Je conduisis donc le mien [sourd-muet de naissance] rue Saint-Jacques •* dans la maison où l'on voyoit la machine aux couleurs. Ah! Monsieur, vous ne devinerez jamais l'impression que cette machine fit sur lui, & moins encore les pensées qui lui vinrent. Vous concevez d'abord qu'il n'étoit pas possible de lui rien communiquer sur la nature & les propriétés merveilleuses du clavecin, que n'ayant aucune idée du son, celles qu'il prenoit de l'instrument oculaire n'étoient assurément pas relatives à la musique, & que la destination de cette machine lui étoit tout aussi incompréhensible que l'usage que nous faisons des organes de la parole. Que pensoit-il donc? [...] Mon sourd s'imagina que ce génie inventeur étoit sourd & muet aussi; que son clavecin lui servoit à converser avec les autres hommes; que chaque nuance avoit sur le clavier la valeur d'une des lettres de l'alphabet; & qu'à l'aide des touches & de l'agilité des doigts, il combinoit ces lettres, en formait des mots, des phrases; enfin, tout un discours en couleurs. (Diderot 1965, 50)

Durch eine denkwürdige Koinzidenz befand sich das Pariser Taubstummeninstitut ab 1794 ebenfalls in der Rue Saint-Jacques, im Séminaire Magloire, das ehemals von Oratorianern geleitet wurde. (Vgl. Notice sur l'institution nationale des sourds-muets de Paris, 1896, 7 - 26 und Lane 1988, 24 f.).

118

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Ein 'discours en couleurs', Musik als Text, der mit den Augen wahrgenommen werden kann, eröffnete neue Dimensionen nicht nur für die Kunst und Kunsttheorie, sondern zugleich auch für die Zeichen- und Kommunikationstheorie. Zunächst werde ich mich mit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts befassen, Schritt für Schritt rückwärts gehen, um zu zeigen, wie Diderots 'Lettre sur les sourds et muets' und das 'clavecin oculaire', das 'Farbenclavicymbel' oder 'ocular harpsichord', Beiträge zu einer von Newton inspirierten Synthese von naturwissenschaftlichen und erkenntnistheoretischen Überlegungen waren.4 Castel und Diderot bildeten aber auch das Scharnier zu einer veränderten Sicht, die die zweite Jahrhunderthälfte bestimmte, denn sie überführten die Theorie des Wissens und der Wahrnehmung in eine Psychologie der Kunst und eine Theorie der Zeichen. Im 'Mercure de France' von 1725 trat Père Castel erstmals mit seinem Projekt an die Öffentlichkeit, zehn Jahre später folgte die Artikelserie 'Nouvelles Expériences d'Optique & d'Acoustique' im 'Journal de Trévoux'. Eine Zusammenfassung der wichtigsten Argumente enthielt die 'Optique des couleurs' von 1740. Castel war Jesuit und ein ziemlich begabter Mathematiker, Physiker, auch Kunstliebhaber. Voltaire pries ihn als 'Euclide-Castel' \ aber das geschah, bevor Voltaire Castels 'Nouvelles Expériences' zu Gesicht bekam, die 1735 erschienen. Dazu später. Der Artikel in der August-Ausgabe des 'Journal de Trévoux' im Jahre 1735 begann mit folgenden Worten: Monsieur, lorqu'en 1725 je donnai le Projet, ou, si l'on veut, la simple idée d'une nouvelle Musique véritablement Chromatique, car Chroma en Grec, signifie Couleur en François, je ne donnai cette idée que c o m m e une derniere c o n s é q u e n c e à laquelle aboutissoit, c e m e semble, invariablement le fil géométrique de l'Analogie que j'établissois alors, d'après Kircher, entre le Son & la lumière, entre le T o n & la Couleur, entre la Musique & la Peinture ou le Coloris. (Castel 1735, 1 4 4 4 ) 6

Und er fügte hinzu: [...] sans aucun dessein d'ailleurs d e réaliser jamais moi-même c e Projet [...]. (Castel 1735, 1 4 4 4 ) 1

1

6

Im folgenden Kapitel Der Taubstumme werde ich die 'Lettre sur les sourds et muets' noch einmal aus einer anderen Perspektive untersuchen. Diderot bearbeitete in diesem Text die Inversionsproblematik (die bislang vor allem unter den Aspekten von 'usage' und 'logique' kontrovers diskutiert worden war), um grundsätzliche Fragen der Bedeutungskonstitution und das Verhältnis von Sprechen und Denken zu erörtern. In einem Brief an Thieriot vom 18. November 1736 anläßlich einer Erwähnung des Streits zwischen Castel und Rameau ('Orphée-Rameau'). Vgl. Voltaire, Œuvres, 34, 166. "Les couleurs sont analogues aux tons: la lumiere est analogue au son en général." (Castel, 1740, 13) Von der Versöhnung von Malerei und Musik als Chiffren für SchriftzeiCFortsetzung nächte Seite)

4.1. Meta-Physik der Farben und Töne

119

Diese dreifache Annäherung - die Analogie zwischen der physikalischen Natur des Lichts und des Schalls, ihrer wahrgenommenen Form als Farbe und Ton und ihrer Kunstform als Malerei und Musik - verweist auf einen theoretischen Rahmen, der physikalische, wahrnehmungsphysiologische und epistemologische Aspekte vereinigte und deutet zugleich die neue, wahrnehmungsästhetische Dimension an. Bevor ich auf diese Aspekte näher eingehe, möchte ich eine kurze Beschreibung der Beziehungen geben, die zwischen musikalischen Tönen und Farben gesehen wurden und die das Farbenklavier zu einer so erregenden wie anregenden Erfindung machten. Dazu noch einmal Castel: Parmi les sept o u huit sons, ut. re, mi, fa, sol, la, si, ut, qui c o m p o s e n t la g a m m e d e la Musique, il y e n a trois q u e les Musiciens qualifient d e sons essentiels, o u de c o r d e s essentielles, prenant la c o r d e qui rend le son, pour le son m ê m e . Ces trois s o n s sont, le premier, ut, appellé tonique, ou basse, c'est-à-dire base, p a r c e qu'il d o n n e la q u e l q u e sorte le ton à tous les autres [...]: Le s e c o n d est mi, appellé tierce, o u médiante, p a r c e qu'il est le troisième, & se trouve au milieu des d e u x autres, le premier, ut, & le troisième, qui est sol, appellé quinte, p a r c e qu'il est le c i n q u i è m e de la g a m m e . [...] D e c e s trois sons dérivent les autres, selon les Musiciens: à e u x trois ils forment l'harmonie parfaite [...]. (Castel 1740, 6 9 f )

Castel glaubte, die harmonischen Beziehungen zwischen den Farben seien in gleicher Weise strukturiert. Le bleu f o n c é , ai-je dit, porte toujours une naissance de rouge. N'est-ce pas la c o r d e ut, qui fait retentir la dominante sol? (Castel 1740, 7 3 )

Ganz allgemein sollte die Zwölftonleiter als Grundlage der modernen europäischen Musik ihre Parallele im 12-Farben-Kreis finden, denn beide seien nach den gleichen harmonischen Prinzipien strukturiert.7 En partant du bleu, la suite des couleurs r a m e n e au bleu: car le bleu m e n e au jaune, le j a u n e au rouge qui r a m e n e au bleu, précisément par autant d e nuanc e s q u e de s o n s paralleles. [...] Et q u ' o n m e n e dise pas q u e c e n o m b r e d e couleurs & leur ordre est arbitraire. (Castel 1740, 169)

Castels Annahmen waren erheblich gewagter als alles, was vor ihm zugunsten der Farb-Ton-Analogie vorgebracht worden war, doch mangelte es empfindlich am empirischen Beweis der Konjektur, d.h. an ihrer

1

chen und Sprachlaut träumte dann anläßlich der 'Sprechenden Köpfe' des Abbé Mical der französische Publizist Rivarol. Vgl. dazu Teil II, Kap. 2.2. Diese Beziehungen wurden in verschiedenen Abhandlungen zur Akustik und Optik in Form mathematischer Proportionen (oder geometrisch) ausgedrückt, z.B. in Newtons 'Opticks' und Diderots 'Principes généraux d'acoustique'. Dazu unten, Teil I, Kap. 4.8.2.

120

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

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Abb. 13 Farb-Ton-Analogie nach Voltaire praktischen Demonstration ad oculos." Es war nach wie vor unklar, ob diese Analogien auf isomorphe Strukturen der physikalischen Objekte 'Licht' und 'Schall' oder auf die Wirkung, welche sie auf das Sensorium ausübten, zurückzuführen seien - oder gar, ob die Analogie ein durch Farben und Töne angeregtes Produkt nervöser oder neurophysiologischer Assoziation sei, d.h. eine synästhetische Empfindung oder, in Worten des späten 18. Jahrhunderts, ein Phänomen der 'Seelenassoziation'. Sie verdunkeln sogar eine frühere Bemerkung Jean-Jacques d'Ortous de Mairans aus dem Jahre 1720, der versucht hatte, die von Newton beobachteten 'Distanzen' zwischen den verschiedenen Farben bei Refraktionsexperimenten mit den Intervallen zwischen den Tönen einer Tonleiter, genauer, mit den Längenverhältnissen der Saiten, die diese Töne erklingen ließen, zu parallelisieren. In den 'Mémoires' der Pariser Akademie berichtete der Sekretär: "Les couleurs que forme un Rayon du Soleil rompu par le Prisme selon les ingenieuses experiences de M. Newton [...] étant reçûes sur un Papier, elles sont au nombre de sept principales & bien distinctes, & elles se disposent dans cette ordre, rouge, orangé, jaune, vert, bleu, indigo, violet. M. Newton a observé q u e les espaces qu'elles occupent sur le papier ne sont pas égaux, mais dans la même raison que les nombres qui expriment les intervalles de sept tons de Musique, convenance merveileuse, & cependant très vrai-semblable, il est naturel que les différentes modifications de la Veüe & de l'Oüie se répondent. M. de Mairan a conjecturé que cette convenance pouvoit encore aller plus loin. Le fluide où se répand la lumiere & qui en est le véhiculé pour la porter à nos yeux, est différent de celui qui est le véhiculé du son, celui-ci est l'air propre-

(Fortsetzung nächte Seite)

4.2. Die verschiedenen Domänen

121

4.2. Die verschiedenen Domänen Drei theoretische Domänen waren, wie schon gesagt, beteiligt: Die Theorie des Lichts und des Schalls, die Theorie der visuellen und akustischen Wahrnehmung und die Theorie der sinnlichen Wahrnehmung in Verbindung mit der des Wissens. Künstlerische Produktion und Rezeptionsästhetik spielen zunächst eine geringere Rolle, da sie in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts eher unter handwerklichen Aspekten diskutiert wurden und über keine ausgebildete Theorie verfügten. Diese Aufspaltung in unterschiedliche Domänen ist zugegebenermaßen etwas künstlich und dient nur der Absicht, die historische Entwicklung etwas übersichtlicher darzustellen. Tatsächlich nämlich waren sie alle miteinander verschränkt - wie es später die 'Encyclopédie' systematisch vorführte - wenn auch auf verschiedene Weise, je nach dem theoretischen Status der einzelnen Gebiete. Es kann eine bemerkenswerte Ungleichzeitigkeit in ihrer Entwicklung beobachtet werden, die bedacht werden muß, wenn der historische Diskurs wirklich verstanden werden soll. In meiner historischen Rekonstruktion mag dieser Aspekt zunächst ein wenig verdeckt bleiben, gleichwohl will ich versuchen, die Aufmerksamkeit auf solche ungleichzeitigen Entwicklungen zu lenken, wann immer es notwendig ist. So hatte beispielsweise eine neue Theorie der sinnlichen Wahrnehmung nicht nur im Einklang mit physiologischen und sensorischen Beobachtungen zu stehen, sondern mußte sich zugleich an den allgemeinen wahrnehmungsästhetiment dit, & l'autre une matière etherée incomparablement plus subtile. Ce qui doit causer dans le Sisteme de M. Newton les différentes couleurs & leur différent degré de refrangibilité, ce sont des particules, ou, si l'on veut, des globules de cet Éther qui à cause d e leur différente consistence ou de leur différente grosseur se meuvent ou fremissent différemment, & avec des vitesses inégales. De même il y aura dans l'air des particules d'un ressort différent, qui par conséquent feront en plus ou moins de temps un même nombre de vibrations. Chacune ne sera donc à l'unisson qu'avec les corps sonores qui feront leurs vibrations dans le même temps qu'elle, & ne frémira que quand elle sera ébranlée par eux. Il y aura dans l'air des particules pour chaque ton, comme il y en a dans l'Éther pour chaque couleur, & il ne sera plus étonnant que l'Éther transmette en même temps sans confusion différentes couleurs, ni l'Air différent tons. Il est vrai que selon ce que M. de Mairan suppose ici, la transmission de chaque ton doit se faire en des temps différents, mais il est clair aussi que cette différence doit être absolument insensible à l'Oreille. Pour le Bruit, qui est l'assemblage & le mélange de tous les tons, comme la Lumière l'est de toutes les couleurs, il doit se transmettre toûjours dans le même temps, & absolument sans nulle différence, soit qu'il soit plus ou moins fort." (Mém. Acad. Se., 1720, 11 f.). De Mairan beurteilte Castels Erfindung spâter ziemlich skeptisch.

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

sehen Normvorstellungen orientieren; eine neue Rezeptionstheorie mußte nicht nur die vorhandene künstlerische Praxis in Malerei und Musik verarbeiten, sondern auch mit den akzeptierten Vorstellungen über die physikalischen Eigenschaften der Objekte und die physiologische Natur des Prozesses ihrer Wahrnehmung übereinstimmen. 'Les beaux arts réduits à un même principe', um einen Titel von Batteux aufzugreifen, bezeichnet exakt das Programm, die Kunst auf die Bedingungen ihrer Rezeption rückzuführen. Als Castel seine 'Optique des couleurs' veröffentlichte und ein Jahrzehnt später Diderots 'Lettres' erschienen, konnten sich beide auf eine etablierte, wenn auch nicht einheitliche theoretische Bearbeitung einer Reihe von Fragen beziehen, die die Natur des Lichts, des Schalls und der visuellen Wahrnehmung betrafen. Eine weit weniger entwickelte Theorie lag dagegen für die Natur der auditiven Wahrnehmung oder gar des Sprechens vor. ' Der mit diesen Fragen verbundene erkenntnistheoretische Meinungsstreit war hochentwickelt und andauernd, die unterschiedlichen Positionen waren gut ausgebaut und wohlbegründet. Eine Philosophie (oder Theorie) des Geschmacks stand indes erst am Anfang ihrer Karriere; je breiter sie diskutiert und durch wahrnehmungspsychologische Kategorien präzisiert wurde, desto mehr verloren die Konturen der philosophischen 'Schulpositionen' an Schärfe.

4.3. Die grundlegende Theorie: Vibration und Bewegung Castel hatte seine Hypothese im Rahmen eines allgemein als Theorie der Nervenerschütterungen bekannten Konzepts entwickelt, d.h. sie war physiologisch begründet.10 Wahrnehmung wurde innerhalb dieses physiologischen Erklärungsrahmens als sympathische Beziehung erklärt, die sich zwischen dem Objekt, der Struktur des menschlichen Sensoriums und dem Medium herstellt, das den Eindruck des Objekts auf das wahrnehmende Subjekt transportiert. Diese Sympathie sei, so vermutete man, Resultat einer gleichartigen Bewegung, den Vibrationen oder Oszillationen, von der alle drei Komponenten erfaßt seien. Vibrationen der Luft wurden Noch 1767 schrieb d'Alemljert in seinen 'Eclaircissements' zum 'Essai sur les éléments de philosophie' als Beispiel für Zusammenhänge, deren Existenz nicht zweifelhaft, aber deren Natur noch unerklärt sei: "[...] nous citerons pour exemple le rapport qu'il y a entre le son de la voix, la barbe et les parties de la génération; rapport dont les effets de la castration ne nous permettent pas de douter, mais dont la raison nous est absolument inconnue." (d'Alembert 1767/1986, 200) Diese psychophysische Schwingungslehre wurde von Hartley in seinen 'Observations on man' (1749) popularisiert (die Übersetzung von Michael Hißmann erschien 1772/73) und mit einer passenden Lehre von der menschlichen Moral versehen. Vgl. auch die Besprechung Albrecht v. Hallers von 1750 (Haller 1789 - 1791, 78 - 91).

Abb. 14 Christian Wolff: Consona, quae diversa sonant

124

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

als Schall u n d a n a l o g dazu W e l l e n o d e r kleine Wirbel ('tourbillons' bei D e s c a r t e s und M a l e b r a n c h e ) innerhalb eines v o n d e r Luft u n t e r s c h i e d e n e n Mediums als Licht interpretiert. B e i d e regten die akustischen b z w . visuellen Nerven, die d a s e m p f a n g e n d e O r g a n ( d a s Trommelfell resp. die Retin a ) mit d e m Gehirn verbinden, zu S c h w i n g u n g e n an. N o c h bevor Hartley diese Auffassung e i n e m breiteren Publikum bekannt machte, beschrieb der Experimentalphysiker Johann Gottlob Krüger dieses Zusammenspiel so: Jedermann ist darinnen mit mir einig, daß wir empfinden, wenn etwas an unsere Nerven anstößt, welches nur daraus erhellet, daß man schon längstens behauptet hat, es sey sehen, hören, riechen und schmecken nichts anders, als eine besondere Art des Gefühls. (Krüger 1747, 363) N e r v e n seien g e s p a n n t e elastische K ö r p e r u n d darin w i e die Saiten v o n Instrumenten zu betrachten. Aus der Physik sei bekannt, d a ß ein g e s p a n n ter elastischer K ö r p e r zu zittern beginne, w e n n er a n g e s t o ß e n w e r d e . Bei d e r physiologischen Struktur des G e h ö r s w e r d e dies b e s o n d e r s deutlich: Warum hat die Natur diesen Nerven die Gestalt einer Spirallinie gegeben? Warum hat sie ihn durch eine beinerne Schnecke geführt? Ist es nicht darum geschehen, damit er Fäsergen von ganz verschiedener Länge bekommen möchte, und dieses war wieder darum nöthig, damit so wohl die hohen wie die tiefen Töne vermögend seyn möchten, ein gewisses Fäsergen des Gehörnerven in eine zitternde Bewegung zu bringen. Denn ich setze aus der Naturlehre als bekannt zum Grunde, daß ein in der Luft hervorgebrachter Schall nur eine solche Saite in eine zitternde Bewegung zu setzen vermag, welche mit den Fibern harmonisch ist. (Krüger 1747, 3 6 4 ) "

11

Dieser Annahme entspricht die spätere Hypothese von Helmholtz', der die Cortischen Haarzellen in ihrer Funktion analog zu Klaviersaiten setzt: Die verschieden gespannten (»gestimmten) Fasern leiten durch entsprechende Resonanzschwingungen die Bewegungen des Trommelfells weiter und ermöglichen so die Analyse eines Klangspektrums in Grund- und Obertöne. „Das Ohr unterscheidet also nicht die verschiedene Form der Wellen an sich genommen, wie das Auge Bilder der verschiedenen Schwingungsformen unterscheiden kann; das Ohr zerlegt vielmehr die Wellenformen nach einem bestimmten Gesetz in einfachere Bestandteile; es empfindet diese einfachen Bestandteile einzeln als harmonische Töne [...]. Wenn wir uns nun in der Natur nach Analogien für eine solche Zerlegung periodischer Bewegungen in einfache umsehen, so finden wir keine andere Analogie als die Erscheinungen des Mitschwingens. In der Tat, denken wir uns den Dämpfer des Klaviers gehoben, und lassen irgend einen Klang kräftig gegen den Resonanzboden wirken, so bringen wir eine Reihe von Saiten in Mitschwingung, nämlich alle die Saiten und nur die Saiten, welche den einfachen Tönen entsprechen, die in dem angegebenen Klang enthalten sind. [...] Könnten wir nun jede Saite eines Klaviers mit einer Nervenfaser so verbinden, daß die Nervenfaser erregt würde und empfände, so oft die Saite in Bewegung geriete: so würde in der Tat genau so, wie es im Ohr wirklich der Fall ist, jeder Klang, der das Instrument trifft, eine Reihe von Empfindungen erregen, [...]. Nun lassen in der Tat die neueren Entdeckungen der Mikroskopiker über den inneren (Fortsetzung nächste Seite)

4.3. Die grundlegende Theorie: Vibration und Bewegung

125

Die Organe und ihre Nervenverbindungen sollten sich also im Gleichmaß oszillierend bewegen und so die physiologische Grundlage der 'Nervenassoziation' bilden (so der Schlüsselbegriff der deutschen Psychologie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts). Castel nannte diese Übereinstimmung 'unisson', Herder schlicht 'Ton'. Les organes se montent à l'unisson, de tout ce qui les affecte d'une manière particulière, pendant un tems. Le mouvement sur-tout d'oscillation ou de tremblement, est facile à prendre. C'est à-peu-près le mouvement tonique & naturel de tous nos organes, n'y eût-il que le battement du cœur & des arteres, pour leur donner le ton. (Castel 1740, 16)12

Diese natürliche Bewegung der Organe (das Nervensystem selbst wurde z.B. von Bonnet und später von Gall als ein eigenständiges Organ angesehen) versetzte Körper und Sensorium in den Zustand, auf äußere Reize mit schwächeren oder stärkeren Schwingungen zu reagieren.13 Die Erregungsfähigkeit des Organismus wurde allgemein als Teil eines umfassenderen Gleichklangs zwischen dem mit sich übereinstimmenden Körper und Bau des Ohres [Corti, Max Schultze] die Annahme zu, daß im Ohr ähnliche Einrichtungen vorhanden seien, wie wir sie uns eben erdacht haben. Es findet sich nämlich das Ende jeder Nervenfaser des Gehörnerven verbunden mit kleinen elastischen Teilen, von denen wir annehmen müssen, daß sie durch die Schallwellen in Mitschwingung versetzt werden." (Helmholtz 1913, 209 - 211) Dies sind die schon erwähnten Cortischen Haarzellen. Vgl. auch Ulrici (1868, 93) , der diese „geistreiche Hypothese" unterstützt, es aber, als eine zweite Hypothese, für notwendig erachtet, „daß die Cortischen Fasern - gleich den Saiten eines Klaviers - verschieden gestimmt seyen und diese Verschiedenheit ihrer Stimmung einer regelmäßigen Stufenfolge durch die musikalische Scala hindurch entspreche." (Ulrici 1863, 94) An diesen Hypothesen wird nicht nur erkennbar, wie konsistent das Oszillationsmodell des 18. Jahrhunderts war, sondern auch, wie prägend die Musik(instrumenten)-Analogie für die physiologische und psychologische Erklärung der akustischen Wahrnehmung weit bis ins 19. Jhd. hinein war. Ulrici verweist hier auch auf J. Müllers Diktum, daß der Unterschied der Empfindungen „nicht abhängig sey von der Art der äußern Einwirkungen, welche die Empfindungen erregen, sondern von den verschiedenen Nervenapparaten, welche sie aufnehmen." (Ulrici 1868, 95). Vgl. Herder in der Ursprungsschrift: „Ton der Empfindung soll das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen!" (Herder, Werke, 2, 19) Analoge Passagen finden sich z.B. auch in Descartes' 'Passions de l'âme'. In den volkstümlichen Bezeichnungen von Seelenzuständen hat sich diese Theorie erhalten: gut und schlecht gestimmt, verstimmt, erregt, erschüttert, g o o d / b a d vibrations, gespannt/verspannt/überspannt, mal timbré etc. Hemsterhuis glaubte, der Sinn für Maß und Rhythmus rühre aus der pränatalen organischen Bewegung her, insbesondere der Takt vom Herzschlag der Mutter (Hemsterhuis, 'Lettre sur l'homme'). Eine so weitgehende Annahme wurde von Diderot, der selbst in der 'Lettre sur les sourds et muets' (Diderot 1965, 62 f.) das kurzzeitige Gedächtnis mit der Erregung durch Resonanz verglichen hatte, energisch bestritten. Die Bedeutung einer natürlichen Disposition zu Maß, Rhythmus und Takt für die musikalische und poetische Theorie war jedoch nicht von der Hand zu weisen. Welche Bedeutung diese Annahme z.B. für die Sprach- und Sprachursprungstheorie Herders hatte, habe ich oben in Kap. 3-2 und 3 3 beschrieben.

126

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

einer ebenso strukturierten Außenwelt gesehen und damit auf die ältere Tradition (Kircher, Leibniz, Lullus) einer universellen Harmonie verwiesen. 14 Diese Vorstellungen gehörten auch in der physiologischen Psychologie der Jahrhundertmitte zu den tragenden Teilen des wesentlich mechanisch gedachten Systems v o n Körper und Nervengeflecht, selbst ein Autor wie Charles Bonnet, der im 'Essai analytique sur les facultés de l'âme' die Immaterialität der Seele beschwor, geht von der Analogie der Ordnungen aus: die Ordnung der Objektwelt, die Ordnung der nervösen Erregung, die Ordnung des Gehirns schließlich, das selbst Harmonie wird - als Instrument, als Gemälde. Nous ne découvrons pas à l'œil les Fibres qui transmettent à l'Ame cette Harmonie. Nous ne voyons pas quels Ordres de Fibres il faut mouvoir, comment & selon quelle combinaison il faut les mouvoir, pour produire telle, ou telle Consonance musicale, ou pittoresque. (Bonnet 1760, 219 f ) Doch wir wissen, fuhr Bonnet fort, daß wir diese Eindrücke vermittels der Nerven erhalten. Wenn wir Töne oder Farben in ein harmonisches Zusammenspiel bringen, als gestimmtes Instrument oder als Gemälde, dann repräsentiert der Gebrauch, den wir in dieser Weise von Farben und

So ist es wohl kein Zufall, daß Helmut Schnelle in der Absicht, die Natur der Sprache innerhalb eines naturwissenschaftlichen Erklärungsrahmens zu untersuchen (und damit die Linguistik - wieder einmal - mit einer naturwissenschaftlich orientierten Methodologie auszustatten), nicht nur auf auf die Monadenlehre Leibniz' rekurriert, sondern in der Einleitung zu 'Die Natur der Sprache' (1991) just die Schwingungslehre zur vereinfachenden Modellierung sprachlicher Verständigung benutzt: „Wie wäre es, wenn - jedenfalls in der gesprochenen Sprache - die möglichen Artikulationen, Vorstellungen, Begriffe, nicht als dem Menschen äußerliche Dinge verstanden würden, sondern als etwas, was in ihm ist, nämlich die Fähigkeiten, diese äußeren Dinge (den Schall, die Schrift) hervorbringen zu können. [...] Eine konkrete sprachliche Äußerung ist dann nicht primär ein Schwingungsvorgang in der Luft, sondern ein Schwingungsvorgang im Hörer, der dort koordiniert mit einem Schwingungsvorgang im Sprecher auftritt. [...] Betrachtet man die Zusammenhänge der angedeuteten, sehr komplex miteinander verbundenen, signalartigen Aktivierungen oder Schwingungsvorgänge in den Organismen und in der Luft, so könnte man sich folgende Vorgänge vorstellen: Gewisse Aktivierungen des elektromagnetischen Feldes im Raum, die als Licht von gewissen reflektierenden Stellen der Umwelt in die Augen eines Menschen gelangen, wandern dort als neuronale Aktivierungen im Gehirn weiter, werden mannigfaltig transformiert, lösen schließlich Aktivierungseinflüsse in anderen Bereichen des Gehirns aus, die Mundbewegungen auslösen, die wiederum zu unterschiedlichen Schwingungsausbreitungen der Luft führen. Diese lösen in den Ohren anderer Menschen erneut neuronale Aktivierungsflüsse aus, die, transformiert, Muskelbewegungen der Augen und des Kopfes bestimmen, die die Augen auf die Lichtquelle richten, auf die der ursprüngliche Sprecher ausgerichtet war. Diese Prozesse könnten zu einem Vorgang gehören, den wir in der globalen Zusammenfassung unserer Umgangssprache etwa so ausdrücken könnten: Emma ruft beim Spaziergang aus, wie schön der Baum da vor ihnen sei, und Fritz betrachtet ihn." (Schnelle 1991, 10 f.)

4.4. Die Theorie des Sehens und des Wissens

127

Tönen machen, uns zugleich die Form, in der sich die Sinnesnerven bewegen, wenn sie diese Harmonie erzeugen und uns empfinden lassen. Car les Vibrations des différentes Cordes de l'Instrument, & le Jeu de la Lumière différemment modifiée & réflechie par le Tableau, nous expriment ce qui se passe dans nôtre Cerveau, lorsqu'il est ébranlé par l'un, ou par l'autre. Il est, à sa manière, cet Instrument, & ce Tableau. L'Harmonie consiste donc en général, dans une certaine Suite, clans une certaine Combinaison de Mouvemens de différens Ordres de Fibres sensibles. (Bonnet 1760, 220)

Als Castel seine Theorie der strukturellen Harmonie zwischen Farben und Tönen erstmals entfaltete, orientierte er sich an den Vorgaben Newtons. Darauf wies schon Albert Wellek hin, der seit den späten 20er Jahren dieses Jahrhunderts eine Reihe von Aufsätzen zu Castels Farbenklavier und zur Synästhesie in Literatur und Musik veröffentlichte und eine Reihe wertvoller bibliographischer Hinweise g a b . N a c h d e m Castel selbst in seinem ersten Artikel (1725) seine Abhängigkeit von Newton hervorgehoben hatte, löste er sich zunehmend von seinem englischen Vorbild und wurde später ein streitbarer Verteter der Anti-Newton-Fraktion in Frankreich, mit guten Argumenten übrigens, aber unangenehmen Konsequenzen. Ich werde auf diese Entwicklung noch zurückkommen. Der Schritt zurück zu Newton führt zu einigen grundlegenden physikalischen Beobachtungen über die Natur des Lichts und der visuellen Wahrnehmung und damit verbundenen, ebenso grundlegenden erkenntnistheoretischen Fragestellungen.

4.4. Die Theorie des Sehens und des Wissens Pour varier le Spectacle de l'Univers, l'univers a pü ne varier que les Lunettes. (Charles Bonnet)

1'AUTEUR

de

Newton trennte in den 1704 erstmals erschienenen 'Opticks' 16 das physikalische Objekt 'Licht' (lumen) von den 'Farben' als einer Form menschlicher Wahrnehmung. [...] if at any time I speak of light and rays as coloured or endued with Colours, I would be understood to speak not philosophically and properly, but grosly, and according to such conceptions as vulgar People in seeing all these Experiments would be apt to frame. For the rays to speak properly are not coloured.

15 16

Wellek 1935, 1936 und 1952. An Teilen des Bandes arbeitete er seit 1675

128

Teil I, 4. Farbenhören und T o n s e h e n

In them there is nothing else than a certain power and disposition to stir up a sensation of this or that Colour. (Newton, Opticks, 1, 90)

Diese Unterscheidung läßt eine an Malebranche orientierte epistemologische Position erkennen, denn Newtons Theorie des Lichts konnte auch als eine Theorie der visuellen Wahrnehmung gelesen werden. Sie bildete dann auch in der Tat die wesentlichste Vorlage für die beiden anderen großen Entwürfe zur Optik in diesem Jahrhundert, Berkeleys 'Theory of vision' und Goethes 'Farbenlehre'. Newton fuhr fort: For as sound in a Bell or musical String, or other sounding Body, is nothing but a trembling Motion, and in the Air nothing but that Motion propagated from the Object, and in the Sensorium 'tis a sense of that Motion under the form of sound; so Colours in the Object are nothing but a disposition to reflect this or that sort of rays more copiously than the rest; in the rays they are nothing but their dispositions to propagate this or that Motion into the Sensorium, and in the Sensorium they are sensations of those Motions under the forms of Colours. (Opticks, 1, 90 f.) 17

Dies konnte als eine willkommene Unterstützung älterer Spekulationen gelesen werden, die weit über die Festellung hinausgingen, Licht- und Schallwahrnehmung seien gemeinsamer physikalischer/physiologischer Natur - als die Konjektur einer universellen Harmonie. 18 Lockes Bemerkungen im 'Essay' (1690) zu den erkenntnistheoretischen Folgen der Farb-Ton-Analogie waren gegen eine zeitgenössische Debatte gerichtet, die wenigstens zum Teil durch einen Vorschlag angezettelt worden war, den Malebranche 1678 in seinen 'Éclaircissements' zu 'La recherche de la vérité' aus dem Jahre 1674 publiziert hatte. Der französische Philosoph und Mathematiker setzte die Amplitude und Frequenz von Schallwellen mit der wellenähnlichen Bewegung von Lichtpartikeln gleich: Que le son ne se fait entendre que par le moyen des vibrations de l'air qui ébranlent le nerf de l'oreille [...]. Il est certain que les couleurs dépendent naturellement de l'ébranlement de l'organe de la vision [...]. (Malebranche 1964, 3, 259)

17

In Newtons Theorie der Natur des Lichts sind Farben durch zwei Parameter bestimmt: der Grad der Helligkeit einer Farbe und die Differenzen zwischen verschiedenen Farben. In der Begrifflichkeit der Vibrationstheorie: Stärkere oder s c h w ä c h e r e Schwingungen der optischen Nerven entsprechen helleren o d e r dunkleren Farben, die unterschiedliche 'Geschwindigkeit' (promptitude) der Vibrationen erzeugt verschiedene Farben -

in

m o d e r n e n Begriffen: Energie und Freqenz von Lichtwellen. 18

Athanasius Kircher und nach ihm Leibniz ('Nouveaux Essais') hatten, wie schon erwähnt, solche weiterreichenden Vermutungen angestellt. Sie vermuteten, die Beziehungen

von

Farben zueinander seien die gleichen wie die zwischen T ö n e n - eine Gleichsetzung der Proportionen also. Die Schlüsselbegriffe dieser Theorie waren rapports,

Konsonanzen

und Dissonanzen und der über allem s c h w e b e n d e Begriff der 'Harmonie', der diesen Weltausschnitt mit der Universalharmonie verbinden sollte. Für die ästhetischen T h e o rien Diderots, Mendelssohns u.a. waren diese 'rapports' grundlegend.

4.4. Die Theorie des Sehens und des Wissens

129

D a r a u s sei z u s c h l i e ß e n : Ainsi il en est d e la lumiere & des diverses couleurs c o m m e du s o n & des différens tons. La grandeur du s o n vient du plus & du m o i n s d e force des vibrations de l'air grossier, & la diversité des tons du plus au m o i n s de promptitude des c e s m ê m e s vibrations c o m m e tout le m o n d e e n convient. La force o u l'éclat des couleurs vient d o n c aussi du plus & du m o i n s d e force des vibrations, non de l'air, mais de la matière subtile; et les différentes especes de couleurs du plus & du moins de promptitude d e ces m ê m e s vibrations. (Malebranc h e 1964, 3, 2 6 0 ) " D i e s w a r a l s o d i e h i s t o r i s c h e V o r g a b e für L o c k e s Kritik a n d e r A n a l o g i s i e r u n g v o n T o n - u n d F a r b w a h r n e h m u n g , u n d s e i n e S t e l l u n g n a h m e fiel w o h l d e s h a l b e t w a s h e f t i g e r aus, w e i l M a l e b r a n c h e z w e i für ihn w i c h t i g e P u n k t e a n g e s p r o c h e n hatte: w i e n ä m l i c h V o r s t e l l u n g e n a u s v e r s c h i e d e n e n S i n n e s w a h r n e h m u n g e n e n t s t e h e n - d i e s Teil s e i n e r T h e o r i e d e s W i s s e n s - u n d w i e W ö r t e r o d e r Begriffe V o r s t e l l u n g e n e r z e u g e n k ö n n e n , s e i n e S p r a c h t h e o r i e . " S i m p l e I d e a s " , s c h r i e b L o c k e i m 4. K a p i t e l d e s dritten B u c h e s ( ' O f w o r d s ' ) , are only to b e got by those impressions Objects themselves m a k e o n o u r Minds. [...] all the Words in the World [...] will never be able to produce in us t h e Idea it stands for. For Words, b e i n g Sounds, can p r o d u c e in us n o other simple Ideas, than of those very Sounds [...]. (Locke, Essay, B o o k III, Chap. 4, 4 2 4 ) E s ist v e r s t ä n d l i c h , d a ß e i n e G l e i c h s e t z u n g v o n v i s u e l l e r u n d

auditiver

W a h r n e h m u n g u n m ö g l i c h in d i e s e n e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n R a h m e n p a s s e n k o n n t e , w a s L o c k e d a z u v e r a n l a ß t e , M a l e b r a n c h e ( o h n e ihn zu n e n n e n ) d e r Lächerlichkeit preis zu g e b e n : For to h o p e to p r o d u c e an Idea of Light, or Colour, b y a Sound, h o w e v e r formed, is to e x p e c t that Sounds should b e visible, or Colours audible [...], a sort o f Philosophy worthy only o f Sanco Panca, w h o had the Faculty to s e e Dulcinea b y Hearsay. (Locke, Essay, B o o k III, Chap. 4, 425) 2(1 19

20

Voltaire konnte keine Ähnlichkeit von auditiver und visueller Wahrnehmung erkennen, wie er später in seinem Malebranche-Kommentar schrieb. Nach einer kurzen, aber begeisterten Beschreibung der Architektur des inneren Ohres hieß es: "Cet artifice de tant d'organes, et de bien d'autres encore, porte les sons dans le cervelet; il y fait entrer les accords de la musique sans les confondre; il y introduit les mots qui sont les courriers des pensées, dont il reste quelquefois un souvenir qui dure autant que la vie. Une industrie non moins merveilleuse lance dans vos yeux, sans les blesser, les traits de lumière réfléchis des objets. [...] Ils peignent dans la rétine les tableaux dont ils apportent les contours. Ils y tracent l'image nette du quart du ciel. Voilà des instrumens qui produisent évidemment des effets déterminés et très-différens, en agissant sur le principe des nerfs, de sorte qu'il est impossible d'entendre par l'organe de la vue, et de voir par celui de l'ouïe." (Voltaire, Tout en Dieu. Commentaire sur Mallebranche. Par l'abbé de Tilladet, in: O.C., 44, 209 f.) Später, im Jahre 1699, nach der Veröffentlichung von Lockes 'Essay', nahm Malebranche die Gelegenheit einer Akademierede wahr, seine Aussage von 1678 kräftig zurückzuneh(Fortsetzung nächste Seite)

130

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Diese Bemerkung illustriert auf treffliche Weise das Paradoxon von Tonsehen und Farbenhören. Ich habe die Spuren der Debatte über die Beziehungen von Farben und Tönen bis ins späte 17. Jahrhundert zurückverfolgt und möchte hier innehalten, um die argumentative Basis der folgenden Debatte in den Blick rücken zu können. Malebranche und Locke hatten die beiden gegensätzlichen Positionen formuliert, wobei ersterer die Natur verschiedener Farben und Töne aus einem Zusammenspiel von physikalischen und organischen Zuständen erklärte, letzterer hingegen durch die Unterscheidung von physikalischen, physiologischen oder psychologischen Tatsachen und den Wörtern, mit denen sie gemeinhin benannt werden, es mit durch Färb- und Tonbezeichnungen erzeugten Vorstellungen und zugleich mit mentalen Repräsentationen von sensorischen Färb- und Ton Wahrnehmungen zu tun hatte.21 Beide Positionen wurden im Verlauf der Debatte klarer akzentuiert, wobei gerade die Radikalisierung der Lockeschen Position durch Berkely diejenigen Autoren, die physikalische Erklärungen bevorzugten, zwang, ihre Auffassungen von einer harmonisch motivierten Übereinstimmung von physikalischen, organischen, geistigen, emotionalen und sprachlichen Gegebenheiten zu präzisieren und teilweise zu modifizieren.

men und von der allzu verdächtigen Nähe zu reiner Spekulation und schlechter Metaphysik abzurücken. In der Akademie-Sitzung vom 4. April 1699 räumte er ein: "On pourrait donc peut-être juger par la suite des couleurs, si elle étoit bien constante, que les vibrations du jaune sont plus promptes que celle du rouge, & et celles du rouge que du bleu, & ainsi des autres couleurs qui se succedent. Mais il me paroît impossible de découvrir précisément par ce moyen ni même par aucun autre, les rapports exacts de promptitude de ces vibrations, comme on les a découverts dans les consonances de la Musique. On ne peut sur cela que deviner & aller au vraysemblable." (Malebranche, Variante zu Eclaircissement XIV aus den Mémoires de l'Académie Royale, 1699, in: Malebranche 1964, 3, 260, note) Vgl. Dennett 1986. Vor allem Farbwörter sind ein guter Indikator dafür, daß es sich hier um ein bis heute offenes Problem handelt. So glauben Kay und McDaniel (1978) genügend neurobiologische Belege für die These gefunden zu haben, daß sich in der Semantik der Farbwörter nicht nur substantielle Universalien zeigen, sondern daß diese auf allgemeinen neurobiologischen Prozessen der Farbwahrnehmung beruhen - eine Auffassung, der von Wierzbicka (1990) mit Hinweis auf linguistische Daten widersprochen wird. Sie postuliert stattdessen eine allgemeine konzeptuelle Basis für die semantische Struktur der Farbwörter in verschiedenen Sprachen. Welcher These man auch immer den Vorzug gibt, so kann wohl kaum bestritten werden, daß die semantische Struktur der Farbbezeichnungen - zumindest in westeuropäisch geprägten Kulturen - sich von der der Tonbezeichnungen unterscheidet.

4.5. Vom Wissen zum Vergnügen

131

4.5. Vom Wissen zum Vergnügen Ich beginne mit einer kurzen Darstellung der epistemologischen Konsequenzen der Farb-Ton-Harmonie bei Locke, Newton, Berkeley. Um neue Einsichten in die kognitiven Implikationen verschiedener Wahrnehmungsweisen zu gewinnen, hatte Locke mit dem Blinden den Helden aller Debatten über visuelle Wahrnehmung und Kognition in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eingeführt, dabei aber keineswegs nachhaltig die weitere Karriere des auf Augenwahrnehmung gegründeten kognitiven Modells behindern können oder wollen. Es etablierte sich später als beobachtende Vernunft in der Psychologie und Anthropologie. 22 Mit nichts anderem als den Augen, ergänzte Locke seine Kritik am unsinnstiftenden Vikariat der Sinne, könne der Mensch Farben wahrnehmen (so wie nur mit den Ohren Musik hören), und er machte sich über jenen blinden Menschen lustig, der mit dem Ausruf 'Es war wie der Schall einer Trompete' vorgab, verstanden zu haben, was 'Scharlachrot' bedeutete. 21 Newton kannte die Stellungnahmen Malebranches und Lockes, als er die 'Opticks' 1704 veröffentlichte - auch wenn er seine Überlegungungen vermutlich schon vor Erscheinen von Lockes 'Essay' angestellt hatte. Gleichwohl folgte er nicht allein der früheren Idee Malebranches, als er, wie ich schon zitiert habe, die gemeinsame Natur von visueller und auditiver Wahrnehmung als die Transformation der Bewegung eines Mediums in Nervenschwingungen hervorhob; er glaubte darüberhinaus, im Farbenkreis wie in der Tonleiter nicht durch bloße Spekulation, sondern experimentell die analogen mathematischen Verhältnisse gefunden zu haben.

Zur Bedeutung der Visualisierung in der Geschichte der Anthropologie vgl. Fabian 1983. Eben auf diese Reminiszenz spielte Castel in einem hübsch arrangierten (Gedanken?-)Experiment an, das zeigen sollte, daß dieser Blinde vollkommen recht hatte. "Un jour dans une assemblée des gens de l'esprit où il s'agissoit du clavecin [...]," berichtete er in seinem Artikel von 1735, "j'avançai un fait que je tiens d'un de mes amis, celebre oculiste, c'est M. de Woolhouze. Cet homme [...] me contoit qu'il avoit vu ou entendu parler en Allemagne d'un aveugle qui distinguoit les couleurs au toucher, & les caractérisoit par rapport au sens de l'ouie." (Castel 1735, 1832) Als Castel die skeptische Reaktion seiner Zuhörer bemerkte, fragte er den allerskeptischsten unter ihnen, "quelle couleur il croiroit que cet aveugle eû caractérisée par le son d'une trompette. Le rouge, me repondit-il, & tout de suite par une espece d'acclamation, quatre ou cinq autres voix se déclarent pour la même couleur." (Castel 1735, 1832).

Abb. 15 Farbenkreis Newtons

Rot

Kress

I——I

Gelb

1

Grün

Blau

1

h—I

Indigo

Violett

1

1

d

e

f

g

a

h

c

d

g

a

b

c

d

e

f

g

Abb. 16 Welleks Rekonstruktion der Farb-Ton-Analogie

4.5 Vom Wissen zum Vergnügen

133

In Abb. 15 ist Newtons Farbenkreis abgebildet; die unterschiedliche Größe der Sektoren soll die unterschiedlichen Proportionen wiedergeben.21 Die Rekonstruktion von Albert Wellek in Abb. 16 verdeutlicht die Analogie von Färb- und Tonintervallen.25 Newtons Sieben-Farbenkreis stimmte mit der Hexachord-Struktur der dorischen Tonleiter überein, d.h. die beiden Halbtonschritte lagen zwischen E und F (Orange) sowie B und C (Indigo).26 Und Newton selbst spielte auf die ästhetischen Implikationen der Analogie der Proportionen an, als er fragte: May not the harmony and discord of Colours arise from the proportions of the vibrations propagated through the fibres of the optick Nerves into the Brain, as the harmony and discord of sounds arises from the proportions of the vibrations of the Air? For some Colours are agreeable, as those of Gold and Indico, and others disagree. (Newton, Opticks, 2, 136)

Damit waren die drei Domänen Physik, Physiologie und Ästhetik versammelt, ähnlich wie in der mittelalterlichen 'perspectiva'.27 Auf diesem Wege nun hätte weitergegangen werden können, wenn nicht George Berkeley, der sich gleichfalls mit der Natur des Lichts und des Sehens befaßt hatte, Newtons Hypothese zurückgewiesen hätte und wie Locke auf der unterschiedlichen kognitiven Qualität verschiedener Sinne beharrte, zumindest was Gesicht und Gefühl anlangte. The extension, figures, and motions perceived by sight are specifically distinct from the ideas of touch called by the same names, nor is there any such thing as one idea or kind of idea common to both senses. (Berkeley, A new theory of vision, Works, 1, 222 f.)

Im Unterschied zum Gesicht und Gefühl bereitete es zusätzliche Schwierigkeiten, die Bedeutung des Hörsinns für die Entwicklung von Vorstellungen zu fassen: Zwar kann der Mensch den Klang von Wörtern und jedes beliebige andere Schallereignis, das von der umgebenden Natur 24

25

26

27

"With the Center O and Radius O D describe a Circle A D F, and distinguish its circumference into seven parts DE, EF, FG, GA, AB, BC, CD, proportional to the seven musical Tones or Intervals of the eight Sounds, Sol, la, fa, sol, la, ml, fa, sol, contained in an Eight, that is, proportional to the numbers 1/9, 1/10, 1/10, 1/9, 1/10, 1/16, 1/9." (Newton, Opticks, 1, 114) An verschiedenen Stellen seines Buchs stellte Newton sich leicht voneinander unterscheidende Rechnungen an, z.B. folgende: Die Abstandsverhältnisse zwischen den durch prismatische Brechung erzeugten Farben seien "either accurately, or very nearly, as the Cuberoots of the Squares of the length of a Chord, which sound the notes in an Eight [...]." (Newton, Opticks, 2, 83). Zur Erklärung von Abb. 16: G (Gamma) ist die untere Grenze des musikalischen Raumes, der 'Bass'. Sie wird durch Quarttransposition der dorischen Kirchentonart zu D. Zu Newtons Forschungen zur Berechnung der Intervalle vgl. die ausführliche Darstellung von Lindley 1987, bes. 205 - 210. Vgl. Lindberg 1983.

134

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

erzeugt wird, mit Hilfe des Hörorgans wahrnehmen, doch Locke wie Berkeley vertraten insofern eine skeptische Sprachauffassung, als Sprachlaute nur die mentale Repräsentation von Wörtern erzeugen, nicht aber auf deren Referenten selbst zeigen könnten. Andererseits aber evozierten Wörter oder Namen von Dingen eine Vorstellung ihrer Referenten - das mache ihre Bedeutung aus - , und diese Vorstellungen seien durchaus unterschiedlicher Qualität.28 Berkely mußte zugestehen, daß der Schall Raum- und Entfernungsvorstellungen erzeugen könne. Aber funktionierte dies auch mit Farben? Könnte jemand Farben hören wie der von Locke erwähnte Blinde? Anders gesagt: Impliziert die gemeinsame physikalische Natur von Licht und Schall, nämlich Schwingungen (oder allgemeiner: Bewegung), daß beide durch Auge wie Ohr gleichermaßen wahrnehmbar seien? Berkely nahm sich dieser Frage in Form eines sokratischen Dialogs zwischen 'Hylas' und 'Philonous' an.29 It is this very motion in the external air, that produces in the mind the sensation of sound. [...] P H I L O N O U S : What! is sound then a sensation? H Y L A S : I tell you, as perceived by us, it is a particular sensation in the mind. [...] HYLAS:

then can sound, being a sensation exist in the air, if by the air you mean a senseless substance existing without the mind? H Y L A S : You must distinguish, Philonous, between sound as it is perceived by us, and as it is in itself. [...] [...] PHILONOUS: H O W

PHILONOUS:

[...] are you sure then that sound is really nothing but motion?

HYLAS: I a m .

[...]

P H I L O N O U S : It is then good sense to speak of motion, as of a thing that is loud, sweet, acute, or grave. H Y L A S : I see you are resolved not to understand me. Is it not evident those accidents or modes belong only to sensible sound, our sound in the common acceptation of the word, but not to sound in the real and philosophic sense, which, as I just now told you, is nothing but a certain motion of the air? P H I L O N O U S : It seems then there are two sorts o f sound, the one vulgar, or that which is heard, the other philosophical and real. H Y L A S : Even so.

And the latter consists in motion. I told you so before. P H I L O N O U S : Tell me, Hylas, to which of the senses think you, the idea of motion belongs: to the hearing? PHILONOUS: HYLAS:

Die Vorstellung von Rot oder Blau ist weit deutlicher als die Vorstellung des Tons G oder D, wie man selbst leicht feststellen kann. Die Folgen dieses Dialogs habe ich oben in Kap. 3- 5 beschrieben.

4.6. Voltaires Kommentare

135

HYLAS: NO certainly, but to the sight and touch. PHILONOUS: It should follow then, that according to you, real sounds may possibly be seen or feit, but never heard (Berkeley, Works, 2, 181 f.)

Ist es denkbar, daß Diderots Taubstummer Berkeleys 'wirklichen Schall' sah, als er den Père Castel und sein Farbenklavier besuchte? Oder, um den Punkt zu markieren: Ist es ein Privileg derer, die nicht hören können, die wirklichen, philosophischen Schälle, ein Vorzug der Blinden, das wirkliche, philosophische Licht wahrzunehmen und auf diese Weise eine zutreffende Ansicht der Welt zu erlangen? Dies war in der Tat der epistemologische Kern jener Vorschläge, die Diderot in seinen beiden 'Lettres', dem über die Blinden und dem über die Taubstummen, machte. Toute la Philosophie [...] n'est fondée que sur deux choses, sur ce qu'on a l'esprit curieux & les yeux mauvais [...]. Ainsi les vrais Philosophes passent leur vie à ne point coire ce qu'ils voyent, & à tâcher de deviner ce qu'ils ne voyent point l...].(Fontenelle, Entretiens sur la pluralité des mondes, 1762, 4) "

Aber ich bin hier vier Jahrzehnte vorausgeeilt und habe einen wichtigen Schritt ausgelassen. Ich kehre noch einmal zurück in das Jahr 1713, als Berkeleys 'Theory of vision' das Licht der Öffentlichkeit erblickte. Zu dieser Zeit jedenfalls war die vermutete wahrnehmungspsysiologische Nähe von Licht und Schall nur eine anregende Hypothese, die sich auf physikalische und strukturelle Analogien gründete und von den führenden Erkenntistheoretikern abgelehnt wurde. Es bedurfte des Hinzutretens der dritten Domäne, der künstlerischen Produktion und öffentlichen Rezeption von Kunst, um die Dinge erneut in Bewegung zu bringen.

4.6. Voltaires Kommentare zu Castels Verrat' Es ist offensichtlich, daß Castels erste Artikel aus dem Jahre 1725 Voltaire dazu anregten, seiner ersten Edition der 'Élémens de philosophie de Newton' (1733) ein zusätzliches (vierzehntes) Kapitel anzufügen, in dem er eine historische Darstellung der Farb-Ton-Hypothese gab. Letztere schien ihm - trotz der Kritik Lockes und Berkeleys - deshalb so verlokkend, weil sie neue Dimensionen für die Kunst zu eröffnen schien. Un philosophe ingénieux a voulu pousser ce rapport des sens et de la lumière peut-être plus loin qu'il ne semble permis aux hommes d'aller. Il a imaginé un clavecin oculaire, qui doit faire paraître successivement des couleurs harmoni-

30

Der letzte Teil der Bemerkung findet sich in einer Notiz Goethes im historischen Teil der Farbenlehre (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, II, 6, 193)

136

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

ques, comme nos clavecins nous font entendre des sons. [...] On ne peut que remercier un homme qui cherche à donner aux autres de nouveaux arts et de nouveaux plaisirs. (Voltaire, Œuvres, 22, 505)

Dieser Text erschien 1738. In der Ausgabe von 1741 waren die lobenden Bemerkungen über Castel ('philosophe ingénieux') getilgt, in späteren Ausgaben fehlte das gesamte 14. Kapitel. In einem Brief an Thieriot vom 10. April 1738 beschimpfte Voltaire Castel als einen 'chien enragé', 'un fou des mathématiques et le tracassier de la société'. In einem Brief an Rameau vom März des gleichen Jahres hieß es denn gar in Bezug auf einen Streit zwischen Castel und Rameau: [...] vous vous êtes borné à calculer les sons, et à nous donner d'excellente musique pour nos oreilles, tandis que vous avez affaire à un homme qui fait de la musique pour les yeux. Il peint des menuets et de belles sarabandes. Tous les sourds de Paris sont invités au concert qu'il leur annonce depuis douze ans. [...] Les aveugles mêmes sont invités; il les croit d'assez bons juges des couleurs. (Voltaire, Œuvres, 34, 438)

Und in einem Brief an Montesquieu beklagte sich Voltaire: Cependant les libraires de Hollande, sans que je le sache, ont imprimé mon ouvrage et ces louanges; et ce misérable fou se trouve loué par moi après m'avoir insulté. (Voltaire, Œuvres, 34, 495 f.)

Nach Erscheinen von Castels 'Optique' (1740) schrieb Voltaire an Helvétius: J'ai lu l'Optique du Père Castel. J e crois qu'il était aux petits-maisons quand il fit cet ouvrage. (Voltaire, Œuvres, 35, 401).

Was hatte Voltaires Zorn so erregt? Ohne Absicht hatte Castel Voltaire der Lächerlichkeit preisgegeben, als er - zur gleichen Zeit, als die 'Élémens' im Druck waren und ihn, Castel, als einen vielversprechenden Vertreter des Newtonismus in der mondänen Pariser Gesellschaft feierten - eine gründliche Revision seiner früheren Ansichten publizierte. Castels Schriften von 1735 und später waren eine glatte Zurückweisung der wesentlichen theoretischen Positionen Newtons. Der 'Euclide-Castel', wie ihn Voltaire genannt hatte, war zum Vorreiter einer neuen Philosophie des Geschmacks geworden, wie sie in den Arbeiten von Burke, Mendelssohn und Herder zu finden ist.31 Voltaires vernichtende Kommentare hatten jene Wirkung, die Castel schon vorausgeahnt hatte: Seit dieser Zeit waren alle Stimmen, die sich zum Farbenklavier äußerten, zumindest reserviert - bis auf eine, gewichtige, auf die ich noch zu sprechen kommen werde.

Und insofern sagt Bachelard nur die halbe Wahrheit, wenn er Castel einen 'verspäteten Cartesianer' nennt. (Bachelard 1947, 322).

4.7 Die neue Philosophie des Geschmacks

137

4.7. Die neue Philosophie des Geschmacks war eine Revision der klassischen Theorie des Sehens Castels Dissens mit Newton rührte u.a. aus seinem engen Kontakt mit Künstlern und Handwerkern her. Er nahm von den geometrischen Berechnungen (dem 'Winkel') Abschied und begann, die Materialien zu untersuchen, die von den Künstlern verwandt wurden: Die Farbstoffe der Maler, die Klangfarben der Musikinstrumente und die Prinzipien der Komposition. Er wurde „Dilettant und Technolog" (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 3, 399). " Newtons Analyse der Spektralfarben als Zerlegung des 'weißen' Sonnenlichts hatte zur Entdeckung der Primärfarben geführt. Castel suchte und fand seine Farben unmittelbar in der Natur, in der Oberfläche von Erde, Leder und gefärbten Seidenstoffen. Er hielt Schwarz für die Quelle der Primärfarben Blau, Rot und Gelb '3 und an die Stelle der Analyse und Zerlegung setzte er Synthese und Mischung. Auf diese Weise erzeugte er einen Farbenkreis, der nun aus 12 verschiedenen Farben bestand. Diese 12 Farben konnten in helleren oder dunkleren Schattierungen vorkommen '4 und bildeten am Ende eine Farbskala von 144 chromatischen Tönen — entsprechend den 12 Oktaven mit jeweils 12 Halbtonschritten in der Musik -

„Sind wir bei unsern Arbeiten dem Mathematiker aus dem Wege gegangen; so haben wir dagegen gesucht, der Technik des Färbers zu begegnen. [...] Merkwürdig ist es, in diesem Sinne die Anleitungen zur Färbekunst zu betrachten. [...] so fangen die sämtlichen Färbelehren mit einer respektvollen Erwähnung der Theorie geziemend an, ohne daß sich auch nachher nur eine Spur fände, daß etwas aus der Theorie herflösse [...]. Dagegen finden sich Männer, welche den Umfang des praktischen Färbewesens wohl eingesehen, in dem Falle sich mit der herkömmlichen Theorie zu entzweien, ihre Blößen mehr oder weniger zu entdecken, und ein der Natur und Erfahrung gemäßeres Allgemeines aufzusuchen. Wenn uns in der Geschichte die Namen Castel und Gülich begegnen, so werden wir hierüber weitläufiger zu handeln Ursachen haben [...]. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 4, 214 f.) Obwohl Goethe von der Existenz der früheren Schriften Castels wußte (vgl. Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 2, 6, 199 f.) - o b er sie gelesen hat, ist unklar - , bezog er sich, wenn die Rede auf Castel kam, immer nur auf die 'Optique' von 1740 und übersah so die Entwicklung Castels vom Mathematiker zum materialorientierten Theoretiker der schönen Künste. S. a. unten, Teil I, Kap. 4.11. "Les philosophes veulent que toutes les couleurs soient dans le blanc; j'ai mes raisons pour en chercher le vrai origine dans le noir." (Castel 1735, 1808). Ähnliche Ansichten vertrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts Malevitch. Hier wäre die notorische Diskussion des 'clair-obscure' in der Malerei zu diskutieren, vgl. den Artikel 'Harmonie' von Watelet in der Abteilung 'Beaux-arts' der 'Enyclopédie Méthodique'.

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

ein Tonumfang, für dessen Realisierung es Riesenorgeln bedurft hätte. Er fand sogar eine elegante Antwort auf den Einwurf, daß der Farbzirkel nach Blau zurückkehre, nachdem die Farben Grün, Rot, Orange, Violett etc. durchlaufen hätten, während man beim Durchgang durch die Tonleitern (etwa vom eingestrichenen zum zweigestrichenen C) eine Oktave höher ankomme. Castels 'Lösung' bestand in einer spiralartiger Farb-TonProjektion, wie sie Abb. 17 andeutet.

Abb. 17 Castels Farb-Ton-Spirale

4.7. Die neue Philosophie des Geschmacks

139

Castel ersetzte die künstliche Reduktion der Farben bei der prismatischen Brechung und die camera obscura durch die natürliche Produktion der Farben: Tout est fort mêlé dans la nature; & c'est elle-même qui donne le ton à tous ces mélanges. Elle est fort simple, disent les Philosophes; mais ils ne connoissent pas la simplicité physique lorsqu'ils la réduisent à une unité sterile & Métaphysique qui exclut toute pluralité des parties ou des mouvemens. Toutes les couleurs sont dans une couleur: mais tous les sons sont dans un son. (Castel 1735, 1 8 1 3 f.) "

Diese synthetische Herangehensweise war offensichtlich ein Verrat an Castels philosophischem 'Vater' Newton und eine Übernahme der Ansichten seines 'Großvaters' Athanasius Kircher, der für die Newtonianer unter Mystizismusverdacht stand. Die herrschende Lehre wurde einer grundlegenden methodologischen Kritik unterzogen. Le mal vient de ce que l'optique a été jusqu'ici une science fort imparfaite. On n'a connu que des angles & des positions locales pour réglés de tous les jugemens de l'œil; au lieu qu'il y a une optique fine, délicate, toute spirituelle qui dépend [...] des dispositions naturelles de notre esprit [...]. (Castel 1735, 1480)

Der Mathematiker Castel suchte nun nach der psychologischen Basis für die ästhetische Wahrnehmung: Farben waren nicht mehr nur rein physikalischer Natur, sondern hatten ästhetische Qualitäten. Eine neue Kategorie war gefragt: Il y a trois sortes de perceptions, l'intelligence ou l'idee, le sentiment, & la sensation. [...] Les Philosophes n'en comptent que deux, l'idée & la sensation. [...] L'idée répond encore à la vision de l'œil; le sentiment, à la persuation de l'oreille; la sensation, à la sécourité aveugle du tact. (Castel 1735, 2343 f.)

Diese Formulierung enthielt die neue Philosophie des Geschmacks in nuce, nämlich die Vereinigung von Vorstellung (idée), sinnlicher Wahrnehmung (sensation) und Empfindung (sentiment). Um nun den musikalischen Eindruck in eine sichtbare Form umzuwandeln, mußte Castel die musikalische Empfindung nachbilden, was hieß, nicht nur Töne in Farben umzusetzen, sondern auch die zweidimensionale Struktur der Musik, den Akkord und die Melodie (Gleichzeitigkeit und Folge), und ihre beiden Zeitparameter, Rhythmus und Takt, bei ihrer Übersetzung in Farben zu erhalten. Dies bedeutete nichts weniger als Bewegung in die bildende Kunst zu bringen - eine faszinierende, revolutionäre Idee, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kaum zu verwirklichen war. Diese Ansicht entspricht durchaus auch unserer Erfahrung, wenn wir die durch Obertöne gebildeten 'Klangfarben' hören.

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Castels Konzept einer völlig neuen visuellen Kunst mußte solange graue Theorie bleiben, bis sein Publikum seine Farbenmusik tatsächlich sehen konnte. Waren seine theoretischen Annahmen der Philosophie eines Sancho Pansa vielleicht nicht unbedingt ebenbürtig, so betraf dies Etikett sein Farbenklavier um so mehr: Die Öffentlichkeit kannte Castels Augenklavier - zumindest bis in die 50er Jahre hinein - nur vom Hörensagen. 36 Das gab vielen Kommentatoren die Freiheit, sich ihre eigenen Gedanken über Konstruktion und Arbeitsweise des Farbenklaviers und über den Grad des Ergötzens bei seinem Anblick zu machen. Insbesondere die räumlichen und zeitlichen Eigenschaften von Musik und Malerei wurden kontrovers beurteilt und führten zu unterschiedlichen Lösungen des Übersetzungsproblems.

4.8. Die Theorie des Schönen: Musik und Malerei In Rousseaus 'Essai sur l'origine des langues où il est parlé de la mélodie et de l'imitation musicale' (so der volle Titel), dessen musiktheoretischer Teil 1749 geschrieben wurde, werden diese Differenzen angesprochen. Unter der Überschrift 'Fausse analogie entre les couleurs et les sons' entwickelt Rousseau die physikalischen und wahrnehmungspsychologischen Unterschiede zwischen Farben und Tönen. Die Vielfalt der natürlichen Farben springe auf einen Schlag ins Auge - dabei sei jede einzelne erkennbar - während sich die harmonischen Beziehungen der Töne entweder in Form von Akkorden fänden oder in zeitlicher Folge als Melodie wahrgenommen würden. Töne rührten von sich bewegenden Objekten her 37, Farben seien Erscheinungsformen unbewegter Materie, kurz, Töne hätten eine zeitliche, Farben eine räumliche Ausdehnung und sprächen verschiedene Bereiche der sinnlichen Wahrnehmung an. Ainsi chaque sens a son champ qui lui est propre. Le c h a m p de la Musique est le temps, celui d e la Peinture est l'espace. Multiplier les sons entendus à la fois, o u développer les couleurs l'une après l'autre, c'est changer leur économie, c'est mettre l'œil à la place de l'oreille, et l'oreille à la place de l'œil. (Rousseau, O.C., 16, 2 5 3 f.)

"Les objections qu'on a faites contre la musique & l'instrument oculaires se présentent si naturellement, qu'il est inutile de les rapporter; nous osons seulement assurer qu'elles sont si parfaitement, sinon détruites, au moins balancées par les réponses tirées de la comparaison des deux musiques, qu'il n'y a plus que l'expérience qui puisse décider la question." (Art. 'Clavecin oculaire' der Encyclopédie, 1753, 3, 511) Selbst die mechanische Erzeugung von Tönen - wie etwa durch den Flötenspieler Vaucansons - verweise auf den Mechaniker, "qui mesura le vent et fit mouvoir les doigts". (Rousseau, O.C., 16, 253).

4.8. Die Theorie des Schönen: Musik u n d Malerei

141

Es mag zutreffen, so Rousseau weiter, daß es eine Analogie zwischen den Brechungswinkeln des Lichts und der Schwingungszahl eines tönenden Körpers gebe, aber diese Analogie sei eine verstandesmäßige, nicht eine der sinnlichen Wahrnehmung, und allein um die gehe es. Die flüchtigen, ständig der Veränderung unterworfenen Töne seien nur in Beziehung zu anderen bestimmbar, die Farben hingegen absolut, unveränderlich und unabhängig voneinander. w Eine Ästhetik gehe fehl, die sich nur auf eine rationale Konstruktion aus physikalisch begründeten Strukturmerkmalen, d.h. Proportion der Schwingungen gründe. 3 9 Castels Farbenklavier sei diesem Mißverständnis erlegen. Il n'y a sortes d'absurdités auxquelles les observations physiques n'aient donné lieu dans la considération des Beaux-Arts. On a trouvé dans l'analyse du son, les mêmes rapports que dans celle de la lumiere. Aussi-tôt on a saisi vivement cette analogie, sans s'embarrasser de l'expérience et de la raison. L'esprit de système a tout confondu 10 ; et faute de savoir peindre aux oreilles, on s'est avisé de chanter aux yeux. J'ai vu ce fameux clavecin, sur lequel on prétendoit faire de la musique avec des couleurs; c'étoit bien mal connoître les opérations de la nature, de ne pas voir que l'effet des couleurs est dans leur permanence, et celui des sons dans leur succession. (Rousseau, O.C., 16, 252 f.) Rousseaus Argument gegen Castels Erfindung bezog sich auf traditionelle Auffassungen von Musik oder Malerei 41 , allerdings übersah er dabei, daß

38

In seiner 'Lehre von den Tonempfindungen' kommt Helmholtz zu einem etwas anderen Schluß: „[Wir] k ö n n e n [...] die absolut reinen Grundfarben [...] objektiv nicht herstellen. [...] Daraus folgt, daß wir die einfachen Elemente aller unserer Farbenempfindungen im abolut reinen Zustand nie [...] zur Anschauung bringen, und also auch kein genaues und sicheres Erinnerungsbild derselben in unserem Gedächtnis tragen können. [...] Wir dürfen hiernach kaum daran zweifeln, daß dem Gesichtssinn von vornherein die Fähigkeit, die verschiedenen elementaren Bestandteile der Empfindung zu scheiden, fehlt [...]. Für das Ohr hingegen liegen einem jeden Individuum Erfahrungen über die Zusammensetzung zweier o d e r mehrerer Klänge oder Geräusche in ausgedehntestem Maße vor, und die Fähigkeit, selbst sehr verwickelte musikalische Z u s a m m e n h ä n g e in die einzelnen Stimmen der einzelnen sie hervorbringenden Instrumente zu zerlegen, kann von jedem, der seine Aufmerksamkeit darauf wendet, bald erworben werden. Aber die letzten einfachen Elemente der Tonempfindung, die einfachen T ö n e , werden selten gehört. (Helmholtz 1913, 110 f.)

y>

Mehr zur Entwicklungsgeschichte des Konzepts der 'rapports' und Diderots Beitrag zu

40

Diese Bemerkung trifft (mit oder o h n e Absicht) unmittelbar auf Castels Nachruf auf Kir-

dieser Frage in seinen 'Principes généraux d'acoustique' findet sich in Teil I, Kap. 4.8.2. c h e r zu: "Jamais h o m m e n'a eu à un plus haut degré q u e Kircher l'esprit Géométrique d'analogie et de comparaison, qui fait les découvertes, et érige les choses en système, c'est-à-dire, en corps de science." (Castel 1735, 2 2 5 4 ) 41

Vgl. z.B. Leonardo im 'Paragone': „Die Musik kann nicht anders genannt werden als die Schwester der Malerei, denn sie ist dem G e h ö r zugeordnet, e i n e m Sinn, der nach dem Sehvermögen kommt, und erzeugt Harmonie durch die Verbindungen ihrer wohlpropor-

(Fortsetzung nächste Seite)

142

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Castel mit seiner ästhetischen Konzeption versuchte, die Eigenschaften des einen Mediums auf das andere zu übertragen, mithin den Bezug auf die 'Bewegung' - also die Zeitdimension, die sich in der melodischen Veränderung der harmonischen Struktur der Töne ausdrückt - durch Farben herzustellen. Die Kritik mag ihre Schärfe durch einige Vorfälle erhalten haben, auf die ich noch zu sprechen kommen werde. Zunächst möchte ich zeigen, wie sich Rousseau von der gemeinsamen theoretischen Grundlage mit Diderot zu entfernen begann.

4.8.1. Rousseaus Projekt einer adäquaten Darstellung der harmonischen Beziehungen Der 29jährige Rousseau lernte den Père Castel kurz nach seiner Ankunft in Paris 1741 auf Empfehlung des Abbé de Mably (Condillac) kennen. Un jeune homme qui arrive à Paris avec une figure passable, et qui s'annonce par des talens, est toujours sûr d'être acceulli. J e le fus. [...] J'attendois [...] tranquillement la fin de mon argent, et je crois que je serais arrivé au dernier sol sans m'en émouvoir davantage, si le P. Castel que j'allois voir quelquefois en allant au café, ne m'eût arraché de ma léthargie. Le P. Castel étoit fou, mais bon-homme au demeurant: il étoit fâché de me voir consumer ainsi sans rien faire. Puisque les musiciens, me dit il, puisque les savans ne chantent pas à votre unisson, changez de corde et voyez les femmes. Vous réussirez peut être mieux de ce côté-là. (Rousseau, O.C., 21, 11; 21)

So läßt Rousseau in den 'Confessions' den Jesuitenpater in seine Biographie treten 42 und in der Tat gelang ihm, nachdem er das Klavier mit dem Boudoir vertauscht hatte, das Entrée in die mondäne Pariser Gesellschaft besser - der erste Versuch war in der Académie und an Rameau gescheitert. Rousseau hatte am 22. August 1742 die Gelegenheit erhalten, der Académie sein Memoire über eine neuartige Notenschrift vorzutragen. (Es

12

tionierten und gleichzeitig auftretenden Teile, die aber gezwungen sind, in einem einzigen oder mehreren Zeitmaßen zu entstehen und zu vergehen [...]. Die Malerei überragt und beherrscht die Musik, weil sie nicht sofort nach ihrer Erschaffung vergeht wie die unglückselige Musik, sondern, im Gegenteil, am Leben bleibt [...]." (Zit. nach der deutschen Übersetzung des Codex Urbinas, 16 r.v. in Leonardo da Vinci 1990, 146). Leonardos Wertungen wurden von Rousseau freilich nicht geteilt. Rousseau brach die Beziehung zu Castel nach seiner Rückkehr aus Italien ab, weil dieser - nach der Darstellung in den 'Confessions' - nach dem Eklat um Jean-Jacques und dem französischen Botschafter in Venedig, dem Grafen von Montaigu, nicht sogleich seine Partei ergriffen habe. (vgl. Rousseau, O.C., 21, 83 f.)

4.8.1. Rousseaus Projekt

143

wurde später unter dem Titel 'Dissertation sur la musique moderne' publiziert). Wie später Diderot in seinen Schriften über die Prinzipien der Akustik, nahm auch Rousseau die Beziehungen zwischen den Tönen zum Ausgangspunkt, also die Intervalle, die Akkord und Melodie strukturieren. Diese Beziehungen ließen sich am geeignetsten durch Zahlen und Zahlenverhältnisse ausdrücken: Die analogische Darstellung der herkömmlichen Notenschrift suggeriere einen 'natürlichen' Grundton, der aber in Wahrheit fiktiv sei - mithin sei das ganze System arbiträr, seine einzige 'natürliche' Darstellungsform die Zahl.43

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Abb. 18 Rousseaus Projekt einer neuen Notenschrift

Die Aufnahme des Vorschlags war zwar wohlwollend, entsprach aber so gar nicht den hochgespannten Erwartungen Rousseaus, und so hielt er die drei Akademiker, die die neue Notenschrift beurteilen sollten, allesamt für inkompetent, ungeachtet dessen, daß mit de Mairan immerhin der Autor eines 1729 veröffentlichten Mémoires über die harmonische Analogie von Tönen und Farben Mitglied der Kommission war. Der wahre Gegner aber war Rameau, der den schwachen Punkt des Projekts schnell erkannt hatte. Seine Einwände gegen die Zahlenschrift kamen aus der musikalischen Praxis, hatte doch die traditionelle 'analoge' Notation den Vorteil, daß unterschiedlich große Intervalle unmittelbar ins Auge sprangen.

Die Idee war so neu freilich nicht, lagen doch schon seit längerem die Vorschläge von Davantes und Souhaitty aus dem 16. und 17. Jhd. vor.

144

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Auch wenn Rousseaus Versuch, über die Akademie eine Reform der Notenschrift zu inszenieren, erfolglos war, denn schließlich ging es nur vordergründig um eine technische Innovation, tatsächlich aber rührte das Vorhaben schon an die Grundprinzipien der Musikästhetik, machte ihn sein Vorstoß bekannt und stiftete die Bekanntschaft mit Diderot. Rousseau sah sich mit dem fast gleichaltrigen Diderot, so die 'Confessions', vor allem über gemeinsame musiktheoretische Interessen verbunden: Il aimoit la musique; il en savoit la théorie; nous en parlions ensemble; il me parloit aussi de ses projets d'ouvrages. Cela forma bientôt entre nous des liaisons plus intimes [...]. (Rousseau, O.C., 21, 19)

4.8.2. Diderot: Sur les principes généraux de l'acoustique' oder die Schönheit des Kalküls Ist es nicht merkwürdig, daß die Natur mehr für unsere Empfindungen, als für unsern Verstand gesorgt, und gleichwohl suchen wir mehr diesen als jene zu vergnügen. (Johann Gottlob Krüger)

Diderot dürfte Castel etwa zur gleichen Zeit wie Rousseau kennengelernt haben. Dem 'verrückten' Jesuiten widmete er einige Anspielungen in den 'Bijoux indiscrets'. Anders als für Rousseau im 'Essai' war Castel in Diderots Augen weniger der Repräsentant des systematisierenden Denkens à la Descartes als vielmehr eine schillernde Figur, von der die Pariser Gesellschaft eine neuartige Form der Unterhaltung erwartete. Castel hatte sich in seiner 'Optique' zu der Bemerkung über Newton hinreißen lassen, das Newtonsche Spektrum sei ohne Grün ebenso gefährdet wie eine hübsche Frau, wenn man sie ohne Rot ertappe"", was Diderot zu folgender Szene inspirierte: Mangogul lui dit: "Madame se rappellerait-elle un certain brame noir [= Jesuit], fort original, moitié sensé, moitié fou?" - Oui, je me le rapelle. C'était un bon homme qui mettait de l'esprit à tout, et que les autres brames noirs, ses confrères, firent mourir de chagrin. - Fort bien. Il n'est pas que vous n'ayez entendu parler, ou peut-être même que vous n'ayez vu un certain clavecin où il avait diapasoné les couleurs selon l'échelle des sons, et sur lequel il prétendait exécuter pour les yeux une sonate, un allegro, un presto, un adagio, un cantabile, aussi agréables que ces pièces bien faites le sont pour les oreilles.

Zit. nach Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 6, 329-

4.8.2. Diderot: Sur les principes généraux de l'acoustique

145

- J'ai fait mieux: un jour je lui proposai de me traduire dans un menuet de couleurs, un menuet de son; et il s'en tira fort bien. - Et cela vous amusa beaucoup? - Beaucoup; car j'étais alors un enfant. - Eh bien! mes voyageurs ont retrouvé la même machine chez leurs insulaires, mais appliquée à son véritable usage. - J'entends; à la toilette. - Il est vrai; mais comment cela? - Comment? le voici. Une pièce de notre ajustement étant donnée, il ne s'agit que de frapper un certain nombre de touches du clavecin pour trouver les harmoniques de cette pièce, et déterminer les couleurs différentes des autres. (Diderot, Œuvres, 62)«

Zwei Jahre nach Rousseaus Projekt einer neuen Notenschrift hatte Diderot in seinem Aufsatz 'Sur les principes généraux de l'acoustique' (1745) die Theorie der rapports beschrieben, die auch Rousseau als Begründung für seine Reform der Notenschrift ins Feld geführt hatte. Für beide also, Diderot wie Rousseau, waren die 'rapports' ein gemeinsamer Bezugspunkt: Für den einen gerieten sie zum Fundament seiner allgemeinen Theorie des Schönen, für den anderen wurden sie mehr und mehr zur Chiffre eines fundamentalen Irrtums.46 Die Sprache dieser Schrift war, wie Chouillet heraushebt, noch weitgehend cartesianisch, "on a vite fait de découvrir que l'évidence sensorielle n'est souvent qu'une évidence rationelle transposée" (Chouillet 1977, 60).47 Castel wie Diderot begannen mit einer weitgehend mathematisch fundierten Theorie der Proportionen, wobei sich Castel mehr auf die Optik Newtons, Diderot auf die akustischen Forschungen Descartes, Mersennes u.a. bezog. Beide nahmen gleichermaßen die Theorie der Schwingungen als physiologisches Komplement in Anspruch. Diderot hatte von 1744 bis 1747 an der Übersetzung des 'Dictionnaire universel de médecine' von Robert James mitgearbeitet (später kam der Kontakt mit Bordeu hinzu) und hatte so erste Kenntnisse in der Physiologie des menschlichen Körpers erworben.48 Eine weitere, für die Theorieentwicklung nicht unwichtige Erfahrung war der unmittelbare Kontakt mit Handwerkern und Künstlern: bei Castel hatte dieser sicherlich dazu beigetragen, mit dem geometrischen Ansatz — und damit auch mit Newton — zu brechen. Wohin aber führten Diderot diese praktischen Erfahrungen, deren Reflex sich deutlich in der 41

46 47

48

Dies war nicht die einzige Anspielung auf Castels Farbenklavier in den 'Bijoux indiscrets'. Vgl. Diderot, Œuvres, 162. Zu den 'rapports' vgl. auch Baumeister 1985. Es ist ironischerweise just die Verkehrung der sensualistischen Konzeption der 'sensation transformée'. Die Spuren dieser Zeit sind vor allem in den 'Éléments de physiologie' zu erkennen.

146

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Aufwertung der 'arts mécaniques' 49 zeigt? Der Vergleich zwischen den 'Principes généraux d'acoustique' (1745) und dem 'Traité du Beau' (1751) kann hier Aufschluß geben. Die Abhandlung über die Prinzipien der Schallerzeugung und -Wahrnehmung war die erste der 'Mémoires sur les différentes sujets de mathématiques'. Diderot wollte nichts weniger als diejenigen Eigenschaften auffinden, die die Musik eines Michel, Corelli, Rameau oder Lulli so angenehm und bewundernswert machten, die die Terz oder Quinte allgemein als Wohlklang, die Sekund oder Sept als dissonant erscheinen ließen. ™ Für dieses Phänomen gab es drei Hypothesen: - Das musikalische Vergnügen liegt in der Organisation des Klangs begründet - unabhängig von dem, der ihn hört. - Es wird im Menschen eine 'Stimmung' erzeugt, die er als angenehm empfindet, womöglich wird ein besonderer, angeborener 'Sinn' angesprochen. - Der Mensch lernt während seiner Erziehung, diese oder jene Musik als angenehm oder schön zu schätzen. Letzterer Hypothese einer ästhetischen Erziehung folgte Rousseau in seinem 'Essai sur l'origine des langues [...]', die mittlere Konjektur wurde von Mendelssohn vertreten. An der ersteren Hypothese, der absoluten Bestimmung des Angenehmen als Realisierung von invarianten Prinzipien, versuchte sich Diderot in diesem Mémoire. Ganz im Sinne Eulers und nicht gerade bescheiden, verkündete er: Nous démontrerons, dans la suite, que le plaisir musical consiste dans la perception des rapports des sons. (Diderot, A.T., 9, 84)

Zu dieser Zeit hatte Diderot, wie er selbst im Mémoire über den Bau einer neuen Orgel zugesteht, kaum musikalische oder andere Erfahrungen mit den zeitgenössischen Kunstformen Musik, Malerei und Bildhauerei, allein das Theater war ihm gut vertraut. Das sollte sich später ändern. Er argumentierte aus der Sicht der Physiologie und Physik. Aus der trias idée, senSiehe u.a. auch den Prospektus und den Artikel 'Art' der Encyclopédie Das Mémoire Diderots lehnte sich in großen Teilen an Leonhard Eulers 'Tentamen novae theoriae musicae ex certissimis harmoniae principiis dilucide expositae' (St. Petersburg 1739) an. Euler hatte im Vorwort eine starke Hypothese zum Wohlklang formuliert: "Quando autem a simplicissimis consonantiis, ex quibus omnis musica componitur, initium iudicandi fumimus, cuiusmodi sunt octaua, quinta, quarta, tertiae et sextae tarn majores quam minores, nullum omnino dissensum inter omnes nationes deprehendimus; quin potius omnes haec interualla vnanimi consensu auditui magis grata aestimant, quam dissonantias, tritonum scilicet, septimas, secundas, innumerasque alias, quae effici possunt. Cuius consensus cum neque nulla detur ratio, neque soli consuetudini adscribi queat, vera causa merito inuestigatur." (Euler 1739, 5 f.) Diese Stelle übernahm Diderot fast wörtlich.

4.8.2. Diderot: 'Principes généraux de l'acoustique'

147

sation und sentiment, die Castel als Komponenten der ästhetischen Rezeption benannt hatte, blieb nur die sinnliche Wahrnehmung übrig. Nicht v o n ungefähr verwies Diderot auf die klassischen Arbeiten im Umkreis Descartes: S'Gravesandes 'Eléments d e physique' und Mersennes 'Harmonie universelle' (Diderot, A.T., 9, 88). " Der Vorgang des Hörens wird gut cartesianisch analog d e m des Sehens modelliert: Les vibrations d ' u n e c o r d e produisent des ondulations dans l'air. L'air agite le tympan; le tympan transmet son frémissement aux nerfs auditifs, et les nerfs auditifs n e font peut-être q u e répéter les vibrations d e la corde. Cela supposé, l'oreille est un vrai tambour d e basque; le tympan représente la peau; les nerfs auditifs répondent à la c o r d e qui traverse la base; et l'air fait l ' o f f i c e des bagettes ou des doigts. (Diderot, A.T., 9, 9 8 )

Die vor allem v o n Euler verfeinerte Berechnung der Proportionen v o n Tonintervallen führte Diderot zu z w e i Einschränkungen in der schlichten Übertragung v o n den Verhältnissen der Tonerzeugung und Tonwahrnehmung: die Grenzen der menschlichen Hörfähigkeit , 2 und die Feststellung, man könne die menschliche Wahrnehmung nicht in der gleichen W e i s e

Auch der Rekurs auf Descartes geht bis in einzelne Formulierungen: "La musique a le son pour objet; et le plaisir de l'oreille est sa fin", hieß es bei Diderot, um die Relevanz der Tonverhältnisse zu begründen. (Diderot, A.T., 9, 86) "L'objet de la Musique est le son. Sa fin est de plaire, et d'exciter en nous diverses passions" - so begann Descartes sein 'Compendium musicae' (in der französischen Übersetzung von Poisson von 1668, zit. nach Descartes, Œuvres philosophiques, éd. Alquié, I, 30). Diderot übernahm den letzten Halbsatz nicht, gerade dieser aber sollte in der ästhetischen Debatte über Malerei und Musik die entscheidende Rolle spielen: Musik wecke Leidenschaften, Malerei spiegele Wirklichkeit. "Quemadmodum vero nostris sensibus res neque nimis magnas neque nimis paruas concipere possumus, ita etiam in sonis quaepiam mediocritas requiritur; sonique omnes sensibiles intra certos terminos erunt constituti, quos qui transgrediuntur propter nimiam ver grauitatem, vel acumen auditus sensum amplius non afficiant. Termini isti quodammodo possunt determinari, cum enim sonus a inuentus fit vedere 392 vibrationes minuto secundo, sonus littera C signatus intérim 118. absoluit, et sonus C"1 [dreigestrichenj 1888. Si iam ponamus sonos duabus octauis et acutiores et grauiores audiri adhuc vix posse, habebimus extremos perceptibiles sonos numeris 30 et 7520 expressos; quod interuallum satis est amplum et ingentem sonorum variationem admittit, quippe quod octo interualla octauas dicta complectitur." (Euler 1739, 8) Euler hat seine Ansichten aus dem 'Tentamen' in allgemeinverständlicher Form in seinen 'Briefen an eine deutsche Prinzessin' wiederholt: „Die[sel Fortpflanzung des Lichts geschiehet auf eine Art, die derjenigen ähnlich ist, womit der Schall von den schallenden Körpern ausgeht. [...] Alle diese Umstände, die wir bey der Empfindung des Hörens antreffen, finden sich auch auf eine völlig ähnliche Art bey der Empfindung des Sehens. Es giebt zwischen beyden keinen andern Unterschied als das Medium und die Geschwindigkeit der Vibrationen. [...] So oft also der Aether in eine Erschütterung oder zitternde Bewegung gebracht wird und ins Auge dringt, so oft erweckt er darinn die Empfindung des Sehens, die alsdann nichts anders als eine ähnliche zitternde Bewegung (Fortsetzung nächste Seite)

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

berechnen wie die Töne; allein die Länge der Saiten und die Frequenz der Schwingungen seien übertragbar (und führe zur Wahrnehmung von hohen bzw. tiefen Tönen), nicht aber die logarithmisch berechenbaren Intervalle. Hinzu komme ein dritter Parameter: die Isochronie der Schwingungen, d.h. die Konstanz und Reinheit des Tons. Die Beziehungen zwischen diesen Parametern machten das musikalische Vergnügen oder Mißvergnügen aus. Diderot ging noch einen Schritt weiter. Das Angenehme schlechthin bestünde in der Wahrnehmung von Beziehungen, sei's in der Dichtkunst, der Malerei, der Architektur, der Moral, in allen Handwerken und Wissenschaften, und getreu dem Prinzip der Reduktion seien es gerade die einfachen Beziehungen (rapports simples), die, weil am leichtesten faßbar, auch allgemein gefallen, z.B. Ebenmäßigkeit, Symmetrie, Ausgewogenheit. Diese rationale Rekonstruktion des musikalischen Wohlgefallens rief natürlich die Frage auf den Plan, ob die sinnliche Wahrnehmung der Beziehungen - oder allgemeiner - Strukturen an eine bewußte Analyse oder gar an Wissen um diese Beziehungen gebunden sei, "l'âme a-t-elle ces connaissances sans s'en apercevoir"? (Diderot, A.T., 9, 106) Diderot ließ die Entscheidung offen, führte aber genau hier einen Begriff in seine Darstellung ein, der später anderswo Karriere machen sollte. Nous ne déciderons rien là-dessus; nous nous contenterons d'observer qu'il est d'expérience que les accords les plus parfaits sont formés par les sons qui ont entre eux les rapports les plus simples; que ces rapports peuvent affecter notre âme de deux manières, par sentiment ou par perception; et qu'ils n'affectent peut-être la plupart des hommes que de la première manière. (Diderot, A.T., 9, 106)*

Schon 1745 also deuteten sich die beiden Wege an, die Rousseau und Diderot später zu unterschiedlichen ästhetischen Theorien führten. Diderot suchte nach den objektiven Grundlagen der ästhetischen Wahrnehmung, er unterließ es in dieser Schrift, das 'sentiment' als psychologische Kategorie näher zu bestimmen, eine Kategorie, um deren Entfaltung sich Rousseau zunehmend bemühte.

M

ist, von welcher die kleinsten nervichten Fiberchen im Boden des Auges erschüttert werden. [...] Es muß daraus ein ähnlicher Unterschied entspringen, wie bey den Tönen, wenn die Schwingungen, die in einer Secunde vorgehen, häufiger oder seltener sind. [...] In diesem Unterschiede also muß man die Ursache der verschiedenen Farben suchen; und es ist gewiß, daß jede Farbe einer gewissen Anzahl von Schwingungen entspricht, welche in einer Secunde die Fiberchen unsrer Augen rühren, ob wir gleich bey den Farben das noch nicht thun können, wozu wir bey den Tönen im Stande sind, daß wir die Zahl der Schwingungen, die jede Farbe zukömmt, anzugeben wüßten." (Euler 1773, 2. Teil, 222 - 225) Vgl. Euler 1739, 9 f. Vgl. auch den Artikel 'Sensation' in der 'Encyclopédie'.

4.8.3. Die 'Querelle des Bouffons'

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Dies zeigte sich zunächst am 'Essai sur l'origine des langues' (1749). Obwohl die Berührungspunkte zwischen Rousseau und Diderot, die sich in dieser Zeit häufig trafen, unübersehbar sind, gab es in der psychologischen und ästhetischen Ausdeutung der rapports zwischen den 'Mémoires' und dem 'Essai' einen wesentlichen Unterschied: Für Rousseau reichte die rationale Rekonstruktion des Schönen (als 'Geometrie' der Beziehungen) nicht hin, es ging ihm um die ästhetische Wirkung dieser Beziehungen. Anders gesagt, für Rousseau stand nicht die physikalische Natur von Licht und Schall und ihre bloße sinnliche Wahrnehmung als unverstellte Realität im Vordergrund, sondern ihre Wahrnehmung als (künstlerische) Darstellung ganz unterschiedlicher Formen von Realität: Farbe und Ton seien (im Gegensatz zu Licht und Schall) keine primären Objekte, sondern artifizielle Zeichen mit unterschiedlichen Referenzstrukturen: Farbe bilde die äußere Welt unmittelbar ab, Töne erzeugten innere Bilder dieser Welt. 55 Diderot hingegen hatte die Bedeutung der 'rapports' als universales Strukturprinzip der Wahrnehmung und des Wahrgenommenen herausgestrichen und die Abtrennung ästhetischer oder vjahmehmungspsychologischer Bereiche vermieden. *

4.8.3. Die 'Querelle des Bouffons' Jean Mayer gibt in seiner Edition der musiktheoretischen Schriften Diderots eine kurze Beschreibung der Kontroverse. Ende 1752 machte eine italienische Truppe (dite des Bouffons) mit Pergolesis 'La serva padrona' und anderen Stücken italienischer Provenienz in Paris Furore. D'Holbach und Grimm nahmen diesen Erfolg zum Anlaß, Verrisse der französische Oper zu publizieren " - Anlaß auch für Rousseau, in den Streit einzugreifen. Dies verbindet Rousseau mit Mendelssohn und Herder, wie unten in Teil I, Kap. 4.10 deutlich werden wird. Er baute damit Hutchesons Argument zugunsten eines (sechsten) Sinns für das Schöne vor, dessen Zurückweisung dann über weite Strecken den Artikel 'Beau' bestimmte. Hutcheson verwies nähmlich auf die unterschiedlichen Domänen der Färb- und Tonwahrnehmung. In der Paraphrase Diderots: "La vue & l'ouïe, par exemple, désignent des facultés différentes, dont l'une nous donne des idées de couleur, & l'autre des idées du son; mais quelque différence que les sons aient entr'eux, & les couleurs entr'elles, on rapporte à un même sens toutes les couleurs, & à un autre sens tous les sons; & il paraît que nos sens ont chacun leur organe." (Diderot, Art. 'Beau', Enc. Méth., Log. & Mét., 1, 214) Daraus folgte das Postulat eines eigenständigen Schönheitssinns. "Une polémique fort confuse s'ensuivit entre partisans du Coin du Roi (musique française), du Coin de la Reine (musique italienne) et d'une position intermédiaire et nuancée; une trentaine d'opuscules défendirent des positions diverses; les traditions de l'Opéra de Paris, la valeur des chanteurs et des exécutants, les mérites des styles d'écriture italien et (Fortsetzung nächste Seite)

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Von 1743 - 45 hatte Rousseau Italien besucht, dort die italienische (Volks-)Musik kennen und schätzen gelernt. Im Jahre 1749 erlebte er, wie sein Freund Diderot ins Gefängnis gesperrt wurde und begann, wie er schreibt, von Diderot inspiriert, den 'Essai sur l'origine des langues'. In diesem Jahr entstand auch der Artikel 'Consonances' für die 'Encyclopédie'. In den Schriften dieses Zeitraums läßt sich die zunehmende Abkehr von der ursprünglich gemeinsamen wahrnehmungsästhetischen Basis, den 'rapports' erkennen. Ob sich hier schon die Bruchlinie zwischen beiden abzeichnet, wie Chouillet vermutet? Erkennbar werden jedenfalls die zunehmende theoretische Distanz und - hier wichtiger als der Versuch, den Ursachen für das Ende der Freundschaft der beiden auf die Spur zu kommen - die Konturen von Positionen, denen sich die von Mendelssohn inspirierte deutsche Debatte unmittelbar anschließen konnte. Nachdem Ende 1752 am Hof Rousseaus Balettoper 'Devin du village' als italienisch gemeintes Stück aufgeführt worden war, griff er mit der 'Lettre sur la musique françoise' (1753) auch als Musiktheoretiker in die 'Querelle des Bouffons' ein. Er strich den Vorzug der italienischen Vokalmusik heraus und forderte, das 'raisonnement' in der Musik durch Geschmack und Genie zu ergänzen. Das allgemeine, natürliche Gefühl für einfache harmonische Beziehungen, das Diderot in seiner Schrift über die Prinzipien der Akustik als Grundlage der Musik vorausgesetzt hatte, erschien Rousseau unzureichend - zumindest für den, der besseres zuwege bringen wollte als die französischen Komponisten. w Seine Annotationen zu Rameaus Kritik an den Musik-Artikeln der 'Encyclopédie' aus dem Jahre 1755 veröffentlichte Rousseau später unter dem Titel 'Examen de deux principes avancés par M. Rameau, dans sa brochure intitulée: Erreurs sur la musique dans l'Encyclopédie'. Zunächst distanzierte er sich von seinen musiktheoretischen Beiträgen in der 'Encyclopédie', die im Jahr zuvor erschienen waren, und nannte sie einen Freundschaftsdienst, on lira, peut-être, avec quelque indulgence, des articles que j'eus à peine le temps d'écrire dans l'espace qui m'étoit donné pour les méditer, et que je

français, la nature de la musique, tout se mêla. Les questions de personnes, le chauvinisme anti-allemand ou anti-suisse aggravèrent la situation." (Mayer in Diderot 1983, 3) Eine Sammlung der Streitschriften enthalten die Bände 'Querelle des Bouffons' (Genf 1973). Rousseau versuchte, in seiner Vorbemerkung zur zweiten Fassung der 'Lettre sur la musique françoise' Diderots Bewertung des Französischen als einer Sprache der 'Philosophes et Sages' (so in der 'Lettre sur les sourds-muets') zur Unterstützung seiner These ins Feld zu führen, das Französische sei für die Dichtung wenig und für die Musik, sprich Oper, völlig ungeeignet. Ob dies ein Versuch war, Diderot in dem Streit mit Rameau auf seine Seite zu ziehen, wage ich nicht zu entscheiden, offensichtlich aber war es reichlich kühn, aus Diderots Argument ein Verdikt der französischsprachigen Libretti zu konstruieren. Zu den sprachbezogenen Aspekten der 'Querelle' vgl. Teil II, Kap. 4.4.

4.8.3. Die 'Querelle des Bouffons'

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n'aurois point entrepris si je n'avois consulté que le temps et mes forces. (Rousseau, O.C., 16, 278) Der formalen Distanzierung von dem Unternehmen 'Encyclopédie' und ihrem Herausgeber Diderot folgte die inhaltliche Abkehr: Quoique le principe de l'harmonie soit naturel; comme il ne s'offre au sens que sous l'apparence de l'unisson, le sentiment qui le développe est acquis et factice, comme la plupart de ceux qu'on attribue à la nature: et c'est surtout en cette partie de la musique qu'il y a, comme dit très bien M. d'Alembert, un art d'entendre comme un art d'exécuter. (Rousseau, O.C., 16, 288) Dieser Text zeigt Rousseau nicht nur im Gegensatz zu Rameau, sondern nicht minder zu den Ausgangspositionen Castels und Diderots. In dem kurzen Essay 'De l'imitation théatrale' ( 1 7 5 8 ) wurde Rousseau noch deutlicher. L'expérience nous apprend que la belle harmonie ne flatte point une oreille non prévenue; qu'il n'y a que la seule habitude qui nous rende agréables les consonnances et nous les fassent distinguer des intervalles les plus discordans. Quant à la simplicité des rapports sur laquelle on a voulu fonder les plaisirs de l'harmonie, j'ai fait voir dans l'Encyclopédie, au mot Consonnance, que ce principe est insoutenable, [...]; nous ne savons point encore si notre système de musique n'est pas fondé sur de pures conventions; nous ne savons point si les principes n'en sont pas tout-à-fait arbitraires [...]. Par une analogie assez naturelle, ces réflexions pourraient en exciter d'autres au sujet de la peinture sur le ton d'un tableau, sur l'accord des couleurs, sur certaines parties du dessin, où il entre peut-être plus d'arbitraire qu'on ne pense, et où l'imitation même peut avoir des règles de convention. (Rousseau, O.C., 11, 362 f., note) In einem anderen Textfragment, das als 'Lettre de J.J.Rousseau à M. le Docteur Burney' in der Basler Ausgabe von 1795 enthalten i s t f i n d e n sich die Argumente des 'Essais' und der anderen musiktheoretischen Schriften gebündelt. Nun stand jene Frage eindeutig im Vordergrund, die vor allem die weitere Debatte in Deutschland prägte, die Frage nämlich, welche Kunstform Leidenschaften und Anteilnahme im Menschen erregen könne. Die Harmonie, die noch von Castel, Rameau und Diderot als wesentlichster Teil der Musik angesehen worden war, trat zurück, "l'harmonie par elle-même, ne pouvant parler qu'à l'oreille et n'imitant rien, ne peut avoir que de très foibles effets." (Rousseau, O.C, 16, 3 3 7 ) Absolute Intervalle hätten - für sich selbst gesehen - überhaupt keine Eigenschaften, allein durch die Begleitung erhielten sie ihre musikalische Bedeutung.

Nach Auskunft der Herausgeber war der Text zuvor nach einer von Rousseau selbst korrigierten Abschrift eines an Prevost gesandten Ms. in dessen 'Observations sur l'Alceste de M. Gluck' abgedruckt worden.

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

C'est par les accens de la mélodie, c'est par la cadence du rhythme, que la Musique imitant les inflexions, que donnent les passions à la voix humaine"', peut pénétrer jusqu'au cœur, et l'émouvoir par des sentimens-, au lieu que la seule harmonie n'imitant rien, ne peut donner qu'un plaisir de sensation. (Rousseau, O.C., 16, 338) Damit hatte Rousseau die Basis der Farb-Ton-Analogie als eine natürliche, auf die physikalischen Eigenschaften der Objekte wie auf die Physiologie der Wahrnehmung gegründete Tatsache ebenso verworfen wie eine Ästhetik, die sich allein auf den Körper als universales Wahrnehmungsinstrument bezog. Der Übergang von einer objektivierbaren zu einer subjektiven, relativistischen Ästhetik war markiert.61

4.8.4. Probleme einer ästhetischen Rhetorik Die Entwicklung der ästhetischen Theorie Diderots verlief anders, wie der Artikel 'Beau' der Encyclopédie zeigt, den er 1751 für die Encyclopédie geschrieben hatte und separat als 'Traité du beau' erscheinen ließ. 62 60

61

('2

"La musique italienne [...] connote un art 'sensuel', un art de la voix. Substance erotique, la voix italienne était produite dénégativement [...] par des chanteurs sans sexe." (Barthes 1970, 116) Es mußte freilich nicht immer Kastraten-Gesang sein, der die Sinne betörte. Vgl. dazu auch den Bericht de Brosses' über seine Italienreise 1739/40 (de Brosses 1961) Diese Differenz blieb erhalten. Diderot änderte seine Position in diesem Punkt nicht, wie die 'Leçons de clavecin et principes d'harmonie', die im Sommer 1770 entstanden, belegen. Nach wie vor ging Diderot vom 'natürlichen' Dreiklang - dem musikalischen Ruhepunkt - aus, der sich aus den Obertönen eines Resonanzkörpers bilde. "La mélodie et l'harmonie ne nous offrent sans cesse qu'un enchaînement d'écarts plus ou moins longs, qu'une suite de petits chocs plus ou moins durs, qu'une répétition d'appels plus ou moins énergiques à la nature que nous regrettons tout en la quittant, et que nous ne quittons que pour la retrouver avec plus de plaisir. [...] Que'est-ce donc que la musique? On s'élèvera contre mon opinion; mais l'expérience se réunira avec moi pour la définir, l'art de choquer les sons naturels pour en rendre le retour plus agréable." (Diderot 1983, 358). Mendelssohn hatte mit seiner frühen Bestimmung des Vergnügens als körperliches Wohlbefinden in eine ähnliche Richtung gedeutet, Rousseau dagegen zum gleichen Punkt in der 'Dissertation sur la musique moderne' eine andere Auffassung vertreten: "Comme la musique n'est qu'un enchaînement de sons qui se font entendue [sic], ou tous ensemble, ou successivement, il suffit que tous ces sons aient des expressions relatives qui leur assignent à chacun la place qu'il doit occuper, par rapport à un certain son fondamental naturel ou arbitraire [...]." (Rousseau, O.C., 16, 53) Diesen natürlichen Ton nannte er später im 'Essai' ein Hirngespinst von Musikern: "M. Rameau prétend que les dessus d'une certaine simplicité suggerent naturellement leurs basses, et qu'un homme ayant l'oreille juste et non exercée, entonnera naturellement cette basse. C'est là un préjugé de Musicien, démenti par toute expérience." (Rousseau, O.C., 16, 246) Er figuriert unter diesem Titel in der Amsterdamer Ausgabe, in der Gesamtausgabe von (Fortsetzung nächste Seite)

4.8.4. Probleme einer ästhetischen Rhetorik

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Hutchesons Annahme eines besonderen Sinns für die Wahrnehmung des Schönen hielt Diderot für eher einzigartig denn zutreffend. Mehr Gefallen fand er am Konzept des Jesuitenpaters André ('Essai sur le beau')M und des Abbé Batteux, dessen 'Beaux-Arts réduits à un même principe' er in der 'Lettre sur les sourds et muets' eine ausführliche Kritik zukommen ließ. Allein eine nähere Beschreibung der Genese von Konzepten wie rapport, ordre und symmétrie vermißte Diderot bei André, d.h. die Klärung der Frage, ob diese angeboren oder, wie Rousseau behauptete, erworben seien. Diderot plädierte im Sinne des von Locke und Condillac ausgearbeiteten sensualistischen Erklärungsrahmens gleichfalls für den durch Bedürfnisse - und nicht durch Leidenschaften - ausgelösten Erwerb dieser Konzepte und nannte sie 'notions expérimentales'. Gegen Berkeleys idealistischer 'tour de force' (Putnam) und den starken kulturhistorischen Relativismus Roussaus kam er so zu einer doppelten Fassung des Schönen: J'appelle donc beau, hors de moi, tout ce qui contient en soi de quoi réveiller dans mon entendement l'idée de rapports; & beau, par rapport à moi, tout ce qui réveille cette idée. (Enc. Méth., Log. & Méth., 1, 220)

Verglichen mit der Bestimmung des Objektiv-Schönen in den 'Principes d'acoustique' ist die Weiterentwicklung unverkennbar: Die apriorische Weltharmonie war der Beziehung zwischen wahrnehmendem Menschen und den Objekten gewichen, eine Beziehung, die individuellen, kulturellen und historischen Modifikationen ausgesetzt ist.64 Zwei Fragen bleiben so allerdings ungeklärt: Welche Eigenschaften muß ein Gegenstand tatsächlich haben, damit er als schön wahrgenommen wird (le beau reel ), und was wird vom wahrnehmenden Subjekt wahrgenommen (le beau appercu)? Die erste Frage könnte kunstgeschichtlich oder kunstkritisch, die zweite wahrnehmungspsychologisch beantwortet werden. Diderot gab die kunstkritische Explikation an anderer Stelle (in der 'Lettre sur les sourds et muets' und in den 'Salons'), hier versuchte er sich an der näheAssézat/Tourneux unter Naigeons Titel 'Recherches philosophiques sur l'origine et la nature du beau'. Naigeon hat den Text als Artikel 'Beau' mit Ergänzungen durch Marmontel und Panckoucke in der 'Encyclopédie Méthodique' aufgenommen, und zwar nicht in der Reihe 'Philosophie ancienne et moderne', wie Chouillet angibt, sondern 'Logique & Métaphysique' (Bd. 1, 212 - 240). Der von Diderot verfaßte Teil findet sich auf den Seiten 212 - 227). Ich zitiere nach dem Abdruck in der 'Encyclopédie Méthodique'. "[...] celui qui jusqu'à présent a le mieux approfondi cette matière I...]." (Enc. Méth., Log. & Met., 1, 219) Und in diesem Sinne möchte ich auch jene Bemerkung in einem Brief an Sophie Volland nicht als Wendung zum ästhetischen Subjektivismus, sondern als individuelle Beziehung zur Umwelt verstehen: "Les choses ne sont rien en elles-mêmes; elles n'ont ni douceur ni amertume réelles: ce qui les fait ce qu'elles sont, c'est notre âme; et la mienne est mal disposée pour elles." (Diderot, A.T., 18, 365)

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

ren Beschreibung der 'rapports' als das gemeinsame oder verbindende Element der doppelten Bestimmung des Schönen. 6 5 Über die Dispositionen des wahrnehmenden Subjekts als Teil einer Psychologie der ästhetischen Wahrnehmung, über das 'sentiment' als begriffliche Annäherung an diesen Teil einer ästhetischen Theorie, erfahren wir auch im Traité du Beau' nichts. Diderot konzentrierte sich darauf, das Gemeinsame in den verschiedenen Ansichten des Schönen, wie sie in den vielfach nuancierten sprachlichen Fassungen deutlich werden, herauszuarbeiten und kam zum Ergebnis, daß das Schöne allein in der Wahrnehmung von Beziehungen begründet sei, wobei die Wahrnehmungen der variante, die Beziehungen der invariante Teil seien. In diesen theoretischen Rahmen fügte sich das Farbenklavier Castels ausgezeichnet. Sein Konstrukteur ging von den musikalischen Intervallen aus (hier lassen sich die 'rapports' als Zahlenverhältnisse ausdrücken) und glaubte sie im Farbspektrum in gleicher Weise anzutreffen. Die Verhältnisse der Farben zueinander sollten also von den gleichen, invarianten Beziehungen geprägt sein wie die musikalischen Töne. Wie unterschiedlich aber die Wahrnehmung dieser Verhältnisse durch die verschiedenen Sinnesorgane von den verschiedenen Autoren beurteilt wurde, habe ich oben schon gezeigt. Es überrascht kaum, daß die Alltagssprache die Differenzierung der ästhetischen Wahrnehmungen unterschiedlicher Sinne zunichte zu machen scheint. D'Alembert, der zusammen mit Rameau eine der maßgeblichen theoretischen Ausarbeitungen zur Harmonielehre vorlegte, gab in einem erläuternden Kommentar zum Kapitel 'Grammaire' des 'Essai sur les éléments de philosophie' der Debatte einen neuen, sprachkritischen und -theoretischen Akzent, indem er komplementär zur damals gerade aktuellen Synonymendiskussion die Frage stellte, was es denn mit der Ausweitung der Verwendung eines Worts auf eine andere sinnliche Sphäre auf sich habe. Il n'y a peut-être dans la langue aucun mot, susceptible de plusieurs sens différens, dont on ne puisse rapporter ainsi les différentes acceptions à un premier sens propre et primitif, en examinant la maniere dont ce sens propre s'est en quelque sorte dénaturé par des nuances et des gradations successives dans toutes les autres acceptions. (d'Alembert, 1767/1986, 285)

'Rapports' im allgemeinen seien Verstandestätigkeiten, die vorhandene Relationen zwischen Objekten rekonstruierten: Reale Beziehungen werden also zu wahrgenommenen Beziehungen. (Vgl. Enc. Meth, Log. & Meth. 1, 222 f.) Ich bin auf diesen semantischen Aspekt einer Epistemologie der Sinne schon mehrfach eingegangen, so etwa im Zusammenhang mit Diderots Beitrag zu einer Theorie der Metapher in der 'Lettre sur les aveugles' (s. o. Teil I, Kap. 2.6) und Moses Mendelssohns späteren Zweifeln an der Übersetzbarkeit der Sinneswahrnehmungen in der 'Bildsäule' (Teil I, Kap. 3.5).

4.8.4. Probleme einer ästhetischen Rhetorik

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Manchmal lasse sich sogar die Motiviertheit eines solchen Sprachgebrauchs erkennen, weshalb etwa das Wort sentir von der Geruchswahrnehmung auf den Tastsinn übertragen werden konnte, nicht aber entendre oder voir. Auf den ersten Blick möge es zwischen Riechen und Fühlen keine engere Beziehung als etwa zwischen Fühlen und Sehen oder Hören geben, doch würden Seh- und Hörsinn schlagartig angesprochen und erfaßten den Gegenstand augenblicklich, während Tast- und Geruchssinn Zeit brauchten, um ihn sich gleichsam vorsichtig herantastend richtig beurteilen zu können. Auf Grundlage solcher Übelegungen analysiert d'Alembert einige Fälle wie 'éclat de la lumière', 'éclats de rire' vs. 'lumière éclatante' und '*rire éclatant', schließlich 'idée brillante' und musique brillante. " Dieser letzte Ausdruck gibt d'Alembert Gelegenheit, eine neue Grundlage für die Musikästhetik aufzuspüren, denn er führt die Nähe von Tonund Farbempfindung nicht, wie bisher üblich, auf analoge Formen der Reizverarbeitung oder die innere, harmonische Struktur des ästhetischen Objekts zurück. Die mehr oder weniger stimmige Analogie, auf die sich die wechselseitige Übertragung von sprachlichen Ausdrücken auditiver und visueller Wahrnehmung gründe, lasse sich nämlich auch auf die Musik selbst anwenden, dort, wo sie (in Wahrheit sehr schlechte) Gemälde von Gegenständen liefere, für deren Abbildung sie eigentlich nicht geschaffen sei. Könnte das Feuer beispielweise, das in der Hierarchie der Elemente an oberster Stelle stünde, nicht durch eine rasch aufsteigende Tonfolge musikalisch ausgedrückt werden? Je prie les Philosophes de faire attention qu'en ce cas la Musique seroit parfaitement analogue à ces deux phrases, également admises dans la langue; le feu l'éleve avec rapidité; des sons qui s'élevent avec rapidité. La Musique ne fait autre chose que réunir en quelque sorte ces deux phrases dans un seul effet, en mettant le son à la place du feu: La Musique réveille en nous l'idée attachée à ces mots, s'élever avec rapidité [...]. (d'Alembert, 1767/1986, 290)

Die Musik bilde also nicht unmittelbar das Feuer, sondern die im gemeinsamen sprachlichen Ausdruck s'élever enthaltene Aufwärtsbewegung ab. Dem Zuhörer müsse nur auf irgendeine Weise mitgeteilt werden, daß er sich statt Klänge Feuer vorzustellen habe. Jedesmal also, so d'Alembert, wenn die Musik sich anschicke, uns einen Gegenstand zu malen, besser gesagt, uns an die Vorstellung eines wahrnehmbaren Objekts zu erinnern, das kein physikalischer Schall sei, müßten - damit diese Substitution, so gut es eben gehe, erfolgreich sei - zwei Ausdrücke gebildet werden können, die gleichermaßen sprachlich zulässig seien. So wäre eine musikaliD'Alembert versäumte auch nicht, bei der Untersuchung verschiedener Formen von Metaphernbildung mit 'basesse' auf die von Diderot inkriminierte Bearbeitung dieses Begriffs in der Synonymik Girards hinzuweisen.

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

sehe Darstellung des Sonnenaufgangs durch eine ansteigende und heller/lauter werdene Bewegung nicht nur für Blinde, sondern auch für ein Volk völlig nichtssagend, dessen Sprache es nicht zuließe, zu sagen "une Musique brillante, un son éclatant, l'accord, l'harmonie des couleurs, des sons qui s'élevent rapidement du grave à l'aigu". (d'Alembert, 1767/ 1986, 291) Die gleichen Gründe, warum sprachliche Ausdrücke zwar zugleich visuelle und auditive, nicht aber andere sinnliche Wahrnehmungen bezeichnen können, seien auch dafür verantwortlich, daß die Musik nicht in der Lage sei, Geruchs-, Geschmacks- oder Tasteindrücke abzubilden. J e soumets au jugement des Philosophes cette idée sur l'analogie de la Musique avec la langue; idée que je crois nouvelle, et que peut-être ils ne trouveront que bizarre, creuze et hasardée. (d'Alembert, 1767/1986, 291)

Gäbe es also neben der Evozierung von Empfindungen, die die Musik durch Klänge oder Klangfolgen erreiche, die erfahrungsgemäß mit ihnen assoziiert seien, nicht auch den anderen Weg, in uns die Erinnerung an ein nicht-akustisches Objekt hervorzurufen, allein durch Klänge und die Bezeichnungen, welche die Sprache für just diese Klänge bereithalte? D'Alembert wollte allerdings seinen musikästhetischen Entwurf nicht mit jenem des Farbenklaviers verwechselt sehen und schloß eine Umkehrung der Beziehung zwischen musikalischem Klang und visuell wahrnehmbaren Gegenständen aus. Une succession de couleurs, par exemple, ne pourrait représenter ni rappeller une succession de sons, comme une certaine succession de sons peut nous retracer l'idée ou le souvenir de la lumiere; parce que la succession des couleurs présentées rapidement à nos yeux ou même présentées lentement, ne saurait, en tant que succession, nous procurer aucun plaisir; au lieu que la succession des sons, en tant même que simple succession, nous en procure; or la premiere condition, est que nous recevions du plaisir par la sensation directe, avant de chercher dans cette sensation la source d'un autre plaisir [...]. (d'Alembert, 1767/1986, 292)

Ich meine, dies ist ein etwas blasses und verkürztes Argument, das erst dann recht verständlich wird, wenn es auf Rousseaus Differenzierung zwischen der zeitlichen Dimension einer musikalischen Folge und der räumlichen einer malerischen Anordnung bezogen wird. D'Alemberts Versuch einer Verknüpfung von Rezeptionsästhetik und Sprachgebrauch zeigt, wie als Konsequenz des Enzyclopédie-Projekts m nicht nur der alltagssprachliche Einfluß auf den Erwerb und die Organisa68

Der 'Essai' (1759) sollte eine allgemeine Darstellung der in der 'Encyclopédie' verfolgten Grundsätze sein. Er wurde durch Erläuterungen ergänzt und gemeinsam mit dem fünften und letzten Buch 1767 publiziert.

4.9- Die Konstruktion eines Ton-Farb-Transposers

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tion wissenschaftlicher Kenntnisse, sondern auch auf die Formen ästhetischer Wahrnehmung bedacht wird. Diderot hatte seinerseits diese Diskussion in der 'Lettre sur les sourds et muets' um die Kommunizierbarkeit sinnlicher Eindrücke ergänzt und diesen Aspekt dann den schriftheoretischen Passagen des Artikels 'Encyclopédie' verarbeitet. Ich werde in den folgenden Kapiteln noch mehrmals auf die Impulse der Farb-Ton-Analogie auf die Sprachursprungsdebatte zurückkommen, zunächst jedoch mich wieder der engeren Geschichte des Farbenklaviers zuwenden.

4.9. Die Konstruktion eines Ton-Farb-Transposers kandinsky: „der kreis ist blau." schlemmer: „der kreis ist rot."

[...)

moholy: „w-u-n-d-e-r-b-a-r." (O. Schlemmer, Tagebuch 1923)

Andere Kritiker des Projekts eines Farbenklaviers wie der Mediziner und Experimentalphysiker Johann Gottlob Krüger waren bereit, die theoretischen Einwände zurückzustellen und prüften die Frage, ob oder wie es überhaupt möglich sei, ein Gerät zu bauen, das den Anforderungen an ästhetische Äquivalenz entsprach. Analog zu Castels 'chromatischer Theorie des Sehens' hatte Krüger eine neue chromatische Musik im Sinn, entwickelte also den Gedanken Castels vom entgegengesetzten, vom musikalischen Ansatzpunkt aus. Er veröffentlichte seine Überlegungen im Jahre 1743 in den 'Miscellanea Berolinensia' unter dem Titel 'De novo musices, quo oculi delectantur, genere'. Er entwarf eine Konstruktion, die die synchrone und diachrone Struktur von Musik in eine harmonische Anordnung von Farben übertragen sollte. Dazu bedurfte es zuvor der technischen Bewältigung der Aufgabe, ein sich ständig wandelndes Bild durch eine Folge von Farbmischungen zu erzeugen. 69 Castels Instrument hatte kleine Stücke farbiger Seiden zeigen sollen, sobald eine Taste gedrückt wurde. Mit dieser Technik war es unmöglich,

"[...] accedit quod supra iam monui, musicam omnem esse vel harmonicam vel melodicam. [...] Quodsi igitur iam ultro largiri vellemus, cantum melodicum huius machinae ope oculis posse repraesentari, quid vero fiet de cantu harmonico, a quo maximam, neque sine ratione, suavitatem promittere soient musici? rem enim paullo attentius considérantes inveniemus, sonos sibi coëxistentes, non sigilatim, non separatos, set simul & commixtos quasi percipi." (Krüger 1743, 348 f.)

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Farben zu gleicher Zeit zu vermischen und zu verändern. Deshalb ging Krügers Entwurf in eine völlig andere Richtung.

Abb. 19 Krügers Entwurf zum Farbenklavier

4.9- Die Konstruktion eines Ton-Farb-Transposers

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Durch einen Tastenanschlag soll sich eine Blende öffnen, die das Licht einer Kerze durch verschieden gefärbte Gläser hindurch passieren läßt. Ein Akkord wird durch eine Anordnung konzentrischer Ringe dargestellt, von denen der äußere den tiefsten, die inneren jeweils höhere Töne repräsentieren; im Zentrum liegt das Gemisch aller Farben des Akkords. Beim harmonischen Dreiklang aus tonica, terz und quint wäre der äußere Ring blau, der nächstinnere gelb, dann rot, und das Zentrum wäre tiefschwarz - zumindest nach der Farbentheorie Castels.70 Goethe hat für seine Farbenlehre eine rohe Skizze des Krügerschen Entwurfs angefertigt und sie seinem Kommentar zu Castel beigefügt. Die Vorlage für den Kupferstich in den 'Miscellanea Berolinensia' lieferte übrigens ein junger Medizinstudent mit Namen Christian Gottlieb Kratzenstein, eben jener, der sich später wie von Kempelen am Bau eines 'Sprechautomaten' versuchen sollte und in seinen 'Vorlesungen über die Experimental-Physik' (Halle 1758) auch auf optische Phänomene einging.71 War Krügers Position in dieser für wissenschaftliches Publikum geschriebenen Abhandlung insgesamt äußerst skeptisch (und darin war er sich mit den meisten Zeitgenossen einig), so erlaubte er sich einige Jahre später im 'Hamburgischen Magazin', einer Zeitschrift 'zum Unterricht und Vergnügen an der Naturerforschung und der angenehmen Wissenschaften überhaupt', wie es im Untertitel hieß, die Freiheit, die Idee Castels ein wenig freundlicher auszumalen. 2 Sehr behutsam suchte er zunächst seinem Publikum die physikalischmathematischen Grundsätze zur Beschreibung des Schalls nahezubringen und tröstete seine möglicherweise überforderten Leser mit der Bemerkung, er wisse wohl, „daß die Mathematik wie der westfälische Bonpournickel 73 ist, welcher starke Leute macht; aber nur erst alsdenn, wenn man vorher stark genug ist, um ihn vertragen zu können." (Krüger 1747, 370) Krüger bezog sich, wie auch Diderot, auf eine allgemeine ÜbereinstimVerschiedentlich wurde versucht, Castels Theorie für die Technik des Farbdruckes anzuwenden, z.B. durch Le Blond und Gautier. (Vgl. Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 6, 334 f.) S. Teil II, Kap. 5.3.7. Die Skizze Goethes findet sich unten, 173In dem von Gabriel Christian Benjamin Busch herausgegebenen 'Handbuch der Erfindungen' (4. Teil, 1808) werden Krügers Gedanken zum Farbenklavier als möglicher Scherz abgetan (4. Teil, 2. Abt., 86). Vermutlich bezog sich Busch auf den Aufsatz im 'Hamburgischen Magazin', denn es finden sich in den 'Miscelanea Berolinensis' zwar höchst vergnügliche Scherze wie Johann Leonhard Frischs phantastische Etymologien, doch die dürften erkennbar ohne jede Absicht in ein Blatt geraten sein, das seinerzeit immerhin das Publikationsorgan der Berliner Akademie gewesen ist. Die hier nebenbei gelieferte Etymologie von Pumpernickel ist zumindest eleganter als die von Kluge vermutete 'eigentliche' Bedeutung Stinkfritz (Kluge 1915, 353) oder die wenig feinere des 'Etymologischen Wörterbuchs des Deutschen' Furzkerl (1989, 1340), die beide auf den treibenden Effekt des westfälischen Roggenbrotes abheben.

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

mung in der Beurteilung von Konsonanz und Dissonanz, was nicht am musikalischen Gehör der Mehrheit, sondern den mathematisch bestimmbaren Relationen zwischen den Tönen liege. Dies habe ihn nun auf den Gedanken gebracht, daß die übrigen Sinne, vor allem das Auge, bei der Beurteilung des Angenehmen nach den gleichen Prinzipien verführen wie das Ohr. Sollte es nicht möglich sein, die Augen durch Farben in gleicher Weise zu delektieren wie die Ohren durch Töne? Beym ersten Anblicke sollte man meynen, daß dieses sehr leichte sey, weil sich die Breiten der sieben Regenbogenfarben, welche das Prisma hervorbringt, eben so wie die sieben Tone in der Musik verhalten. (Krüger 1747, 372)

Dies stand schon so bei Newton. Um nun herauszufinden, wie ein Augenstück für das 'Farbenclavecymbel' komponiert werden müsse und welche Farbmischung und -folge angenehme oder unangenehme Empfindungen auslöse, verwies Krüger auf die Erfahrung als Grundlage jeder musikalischer Praxis. Zu diesem Zwecke habe er jenes in den 'Miscellanea Berolinensia' beschriebene, von Castels Entwurf abweichende Gerät ersonnen und wolle nun vor allem jenen Lesern, die durch seine 'mathematischen und metaphysischen' Einfälle verstimmt seien, einen praktikablen Vorschlag für ein völlig neuartiges Vergnügen bieten. Man lasse sich also ein ordentliches klingendes Clavecymbel machen, mit dem das Farbenclavecymbel verbunden werden kann, und dieses aus einer doppelten Ursache. 1) Damit das Ohr nebst dem Auge zugleich ergötzt werden könne, und 2) damit man den Unterschied zwischen dem Verhältniß der Töne und der Farben desto deutlicher erblicken möge, und also desto eher eine Composition erfinden könne, welche denen Augen gerade das vorstelle, was ein gewisses musikalisches Stück bei dem Gehöre verrichtet. (Krüger 1747, 373)

Die technische Realisierung der multimedialen Vorrichtung entsprach der in der früheren Schrift entworfenen Konstruktion, nur solle man nicht zu viele farbige Gläser hintereinander schalten, sonst möchte man statt „einer schönen Farbe eine egyptische Finsterniß erblicken". (Krüger 1747, 374) Nun sollen meine Leser hören, wie eine Farbenmusik klinget. [...] Mein Stück geht aus von dem C, und ich mache den Anfang mit dem Accord. Sogleich erblicken sie einen großen rothen Cirkel, in demselben einen kleinern, welcher zwar schwefelgelb ist, aber wegen Vermischung mit dem vorigen eine orange Farbe annimmt, in diesen andern Cirkel fällt ein noch kleinerer, welcher himmelblau ist, und der durch Vermischung mit dem vorhergehenden ungefähr eine seladon grüne Farbe vorstellen wird. Dieses ist meine Trias harmonica, welche ohnfehlbar eben so schöne aussehen wird, wie sie zu klingen pflegt. (Krüger 1747, 375)

Mit dieser Mischtechnik aus den drei Grundfarben Rot, Gelb und Blau sollten die Möglichkeiten dieses unerhörten Musikspektakels aber noch

4.9. Die Konstruktion eines Ton-Farb-Transposers

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nicht erschöpft sein. Nicht nur die Harmonik, auch die Dynamik der Ohrenmusik wollte vor Augen gebracht werden. [...] ich werde ihnen Farbenläufer, Farbentriller, Farbenharpeggio, Farbendissonantien, und noch vielerley Farbenveränderungen machen, welche sich besser sehen, als erzählen lassen, und die Augen werden dabey in Ansehung des Tactes eben das Vergnügen empfinden, welches die Musik durch diese ihre Seele hervorzubringen gewohnt ist. Das schlimmste dabey ist, daß ich meinen Lesern dieses Vergnügen nur mit Worten vorstellen, und die rechte Empfindung desselben ihren Träumen überlassen muß. (Krüger 1747, 375)

Eine der wenigen, vorbehaltlos zustimmenden Stellungnahmen zum Farbenklavier kam von dem Komponisten und Hamburger Organisten Georg Philipp Telemann. Im Jahre 1738 hatte er einige Monate in Paris verbracht und berichtete nach seiner Rückkehr nicht nur über die neue französische Musik, sondern auch über Castels damals noch unvollendetes 'Augenclavicimbel'. Dem 'festen Stammton' C entspreche eine „veste, tonische und gründliche Farbe, die allen Farben zum Fundamente dienet; und das ist Blau." (Telemann 1739, [1])- Darüber sah Telemann die Zwölftonleiter sich erheben, mit den Farben „Blau [als Tonica], Céladon, Grün, Oliven, Gelb, Aurore, Orange, Rot, Carmesin, Violet, Agath, Violant". (Telemann 1739, [2]) Das spiralige Farbarrangement Castels, das die übereinandergeschichteten Oktaven abbilden sollte, wurde ebenfalls zitiert und wie Castel nannte Telemann dies eine wirklich chromatische Musik. Als erfahrener Komponist hätte er allerdings wissen müssen, daß kein Instrument der Welt 12 Oktaven umfaßte und der Hörumfang des Menschen weit geringer war. Soweit blieb Telemann im Rahmen der Strukturen, die auch von Philosophen und Naturwissenschaftlern beschrieben worden waren, d.h. der chromatischen Skala und der Konsonanz. Aber Musik hatte mehr aufzuweisen als die kalkulierte Vermeidung des Tritonus. Ihre 'Seele' lag in der Melodie oder Tonfolge, was, in Farbenmusik übersetzt, so aussehen sollte: Hier kömmt es darauf an: Die Farben nach Gefallen zu zeigen und zu verbergen; bald das Blaue, bald das Rote, hierauf das Grüne, hernach das Violet [...]. (Telemann 1739, [4])

Sollte das nun der versprochene Augenschmaus sein? Einige Kritiker wandten ein, das Auge könne überhaupt keine Folge von Farbharmonien wahrnehmen, wie es das Ohr für die harmonische Folge leiste. Die 'Encyclopédie' stellte knapp fest: "Adieu la mélodie & l'harmonie" (Encyclopédie, 3, 512). Telemann war überzeugt, daß das Vergnügen ein Ergebnis geistiger Anstrengung sei, nämlich strukturelle Analyse von Ordnung und Unordnung, die durch Auge oder Ohr wahrgenommen würden. Sein begrenztes

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Konzept von ästhetischem Vergnügen bestand in nichts anderem als im Erkennen von musikalischen oder visuellen Mustern. Die Klänge gefallen nur durch eine deutliche Verschiedenheit, durch ihre Uebereinstimmung und Vergleichung; Die Farben sind so mannigfaltig, als die Klänge, und haben gewisse Uebereinstimmungen. Das Auge kann sie zusammenfügen, ihre Vergleichungen entwickeln und ihre Ordnung und Unordnung empfinden. Diß Empfinden veruhrsachet das Vergnügen und Anreizen in allen Dingen, und das eigentliche Vergnügen der Music bestehet in dem, solchen Unterschied augenblicklich, und nach und nach in kurzer Zeit mehrmals zu bemerken. [...] Kurz: Es ist unstreitig, daß diß Farbenspiel ergetzen wird. Denn Music ist nichts anders, als eine Ergetzlichkeit. (Telemann 1739, [6] f.)

4.10. Die Entwicklung einer Psychologie der ästhetischen Wahrnehmung in Deutschland In den frühen 'Briefen über die Empfindungen' legte Moses Mendelssohn dem einen seiner beiden Protagonisten, Palemon, Positionen in den Mund, die denen Diderots durchaus nahekamen, auch wenn, wie die Herausgeber der Jubiläumsausgabe behaupten, Palemons (wie Euphranors) Meinungen in der Leibnizschen Metaphysik wurzelten (JA, I, XXVII)74. Wie dem auch sei, der für mich wesentliche neue Aspekt ist die Ergänzung einer ästhetischen Theorie - die eine harmonische Struktur der Welt postuliert, die es nur wahrzunehmen gelte - durch das Konzept einer gegenüber dieser äußeren Struktur offenen inneren Verfassung des Menschen. Auch Mendelssohn äußerte sich über das Farbenklavier, und dies belegt nicht nur, daß er mit der französischen Diskussion wenigstens zum Teil vertraut sein mußte, mehr noch, er trieb die Debatte weiter voran, wobei er Diderots 'objektiven' physiologischen Ansatz radikalisierte und damit 'sensation' und 'sentiment', sinnliche Wahrnehmung und leidenschaftliche Erregung, einander annäherte. Im 10. Brief geht es nicht um eine Theorie des Schönen, sondern um den 'Ursprung des Vergnügens', womit die Verschiebung in das Seelenund Körperinnere sich schon andeutet. Mendelssohn bedient sich zunächst der alten Vorstellung eines in sich stimmigen, harmonischen Sensoriums und liefert dann das Schlüsselwort, das Physiologie und Psychologie vereint: Weitere Einflüsse, die sich auch auf die Form der Darstellung als eines platonisierenden Dialogs beziehen, sehen die Herausgeber in Shaftesbury (und damit in Locke), Sulzer (Untersuchung über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen, 1751 und 1752) und Pouilly (Théorie des sentimens agréables, 1747).

4.10. Die Entwicklung einer Psychologie der ästhetischen Wahrnehmung

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Die Zergliederer des menschlichen Körpers haben dich gelehrt, daß die nervigten Gefässe sich in tausend labyrinthischen Gängen so zart durchkreutzen, daß in dem gantzen Baue alles mit einem, und eines mit allem verknüpft ist. Die Grade der Spannung theilen sich von Nerve zu Nerve harmonisch mit, und niemals geschiehet eine Veränderung in einem Theile, die nicht gewissermassen einen Einfluß auf das Gantze hat. Diese harmonische Spannung nennen die Kunstverständigen den Ton. (Mendelssohn, JA, 1, 82) Wie s c h o n T e l e m a n n setzt a u c h M e n d e l s s o h n s P a l e m o n zwei M e r k m a l e d e s W a h r g e n o m m e n e n voraus: Einheit in d e r Vielfalt (Schönheit) u n d Übereinstimmung d e s Mannigfaltigen ( V o l l k o m m e n h e i t ) . Ihre W a h r n e h m u n g f ü h r e - u n d d a s g e h t ü b e r d i e b i s h e r i g e n E n t w ü r f e h i n a u s - zur V e r b e s s e r u n g u n s e r e r k ö r p e r l i c h e n Befindlichkeit, zur sinnlichen Lust. Wird nun ein Glied, wird ein Theil des menschlichen Körpers von einem sinnlichen Gegenstand sanft gereitzt, so pflanzt sich die Wirkung davon bis auf die entferntesten Gliedmassen fort. Alle Gefässe ordnen sich in die heilsame Spannung, in den harmonischen Ton [...]. Alle diese Wirkungen erfolgen aus einem wundervollen mechanischen Triebe, bevor sich noch der denkende Theil des Menschen in das Spiel mischt. (Mendelssohn, JA, 1, 82 f.) Das ästhetische V e r g n ü g e n sei zu allererst k ö r p e r l i c h e s W o h l b e f i n d e n , d e s s e n sich d e r M e n s c h erst später b e w u ß t w e r d e . W e l c h e W i r k u n g e n h a b e n n u n d i e u n t e r s c h i e d l i c h e n W a h r n e h m u n g e n auf d e n O r g a n i s m u s ? Die Musik, s o d e r 11. Brief, g e w ä h r e ein d r e i f a c h e s V e r g n ü g e n : Göttliche Tonkunst! Du bist die eintzige, die uns mit allen Arten von Vergnügen überraschet! [...] Die Nachahmungen der menschlichen Leidenschaften; die künstliche Verbindung zwischen den widersinnigsten Uebellauten: Quellen der Vollkommenheit! Die leichten Verhältnisse in den Schwingungen 71 : eine In einer Erläuterung zur harmonischen Spannung wird die Analogie zum Saiteninstrument besonders deutlich. „Denn es ist bekannt, daß zwo Sayten einen Wohllaut von sich geben, wenn sie nach einem leichten Verhältnisse gegen einander gespannt sind. Das heißt, wenn sich die Anzahl der Schwingungen der einen zur Anzahl der Schwingungen der andern Sayte in einerley Zeit verhält, wie: 1:2, 2:3, 3:5. oder auch 5:8. Die Schwingungen in den Uebellauten aber verhalten sich 8:9, 8:15, 45:64. u.d.g. Was Palemon aber unter der mit allen Sayten harmonischen Spannung unsrer nervigten Gefässe verstehe; dürfte man nicht so leicht einsehen. Man ist aber längstens überzeugt, daß gewisse nervigte Gefässe des Gehörs mit den klingenden Sayten harmonisch erbeben, und daß wir sogar den Schall nicht eher empfinden, bis sie diese zitternde Bewegung der in der Trumelhöle befindlichen Luft mitgetheilt haben. 1...1 Es ist also höchst wahrscheinlich, daß alle Nerven unsres Körpers durch die Töne in gewisse mit den Sayten harmonirende Spannungen gesetzt werden, und daß die Harmonie der Consonantzen überhaupt, dem Ton eines gesunden Leibes zuträglich sind. Leibnitz war in einem von seinen Briefen auf diesen Gedanken [gekommen]." (Mendelssohn, JA, 1, 115 f.) Mendelssohn verweist selbst darauf, daß es sich hier um eine durchaus gängige Theorie handelt. Die angegebenen Zahlenverhältnisse entsprechen den Angaben bei Diderot, Euler und Descartes.

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Teil I 4. Farbenhören und Tonsehen

Quelle der Schönheit! Die mit allen Saiten harmonische Spannung der nervigten Gefässe: eine Quelle der sinnlichen Lust! (Mendelssohn, JA, 1, 85) In einer kleinen Abhandlung, die anläßlich Montesquieus 'Essai sur le goût' ( 1 7 5 8 ) und Rousseaus 'Discours sur l'origine de l'inégalité' entsteht, trennt Mendelssohn genauer zwischen der physikalischen und psychologischen Bestimmung des Schönen. Der musikalische Dreyklang ist, wie bekannt, im Grunde nichts andres, als eine sinnliche Wahrnehmung gewisser Verhältnisse. Aber was wir bei Anhörung des Dreiklangs empfinden, ist weit von der Betrachtung einiger Verhältnisse unterschieden; denn hier hat sich die Empfindung durch alle Nerven vervielfältigt und ist zur Erscheinung geworden. (Mendelssohn, JA, 2, 184 f.) Und in direkter Anspielung auf Diderot: Wer von der Natur keinen Geschmack empfangen, wird die Regeln des Schönen begreifen wie Sanderson [Saunderson] Newtons Theorie der Farben, als Vernunftgründe, nicht als Phaenomena. (Mendelssohn, JA, 2, 185) Was sich in Castels Wendung gegen Newton andeutete, nimmt hier deutlichere Gestalt an: 'Geschmack' ist also das Vielfache einer einzelnen sinnlichen Wahrnehmung, die Transformation einer wahrgenommenen Proportion (die in mathematischen Kalkülen als Refraktion des Lichts oder als Teilung der Saitenlänge ausgedrückt werden kann) in ein ästhetisches Phänomen 7 6 , wenn auch nach wie vor die Quelle jedes Vergnügens in den strukturellen Eigenschaften der Objekte, in den beiden Ordnungsparametern 'Gleichzeitigkeit' und 'Folge', zu finden ist. 77 Daß uns die Gemähide und Bilder überhaupt durch Worte nicht so klar geschildert werden können, als in der Malerey, kommt vielleicht daher, daß uns die Worte eigentlich dasjenige in der Folge auf einander vorstellen, was in dem Gegenstande neben einander existirt. Aus keiner andern Ursache glaube ich, werden durch die Musik und Poesie heftigere Leidenschaften errregt, als durch die Malerey und Bildhauerkunst. Der erste Augenblick entdeckt uns in einem Gemälde alles Rührende, das darin anzutreffen ist, und man muß Nachdenken und Kenneraugen mitbringen, wenn man in dem zweiten Augenblicke etwas Neues entdecken will. (Mendelssohn, Anmerkungen über das englische Buch: On the sublime and beautiful. JA, 3, 1, 241) Mitte der 50er Jahre, als Mendelssohn sich an der Frage versuchte, ob Vollkommenheit, Schönheit und sinnliche Lust durch verschiedene Sinne gleichermaßen zu erlangen seien, bestimmte der einflußreiche Johann Georg Sulzer die Debatte, zumindest in Berlin. Er hatte vor der Königlichen Aka76 77

Vgl. dazu die Kritik von Schubart oben, 105. Wohl nicht zufällig entsprechen sie den beiden Dimensionen kognitiver Verarbeitung, wie sie in der ars memorativa entwickelt wurden, vgl. Yates 1966 und unten, Teil I, Kap. 5.3-4.

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demie 1750/51 über den Ursprung der angenehmen und unangenehmen Empfindungen vorgetragen und eine Proportionalität zwischen der Stärke des Reizes und des empfangenen Sinneseindrucks postuliert. In eine denkwürdige Wahrnehmungsformel gegossen, liest sich Sulzers Empfindungs-Mechanik so: Wären wir nur im Stande die Massen der Materien jedes Sinns, und die Geschwindigkeit ihres Stoßes anzugeben, so könnten wir auch die Proportionen von der Lebhaftigkeit der Empfindung, welche die Sinne erwecken, geometrisch bestimmen. Man setze z.B. die specifischen Massen des Lichts und des Schalls verhielten sich wie M ZU M, und ihre Geschwindigkeit, wie V zu V; so würde sich die Lebhaftigkeit des Gesichts zur Lebhaftigkeit des Gehörs, wie V2M : v2M verhalten. (Sulzer 1773, 1, 6 l ) 7 "

Sulzer wies also jedem Sinn den ihm proportionalen Reiz zu, allein aus diesem Grunde erschien ihm Castels Farbenmusik ein törichtes Unterfangen, „weil doch immer die Wirkung einer solchen Musik ohne alle Vergleichung schwächer seyn würde, als die Wirkung der wahren Musik." (Sulzer 1773, 1, 62) Was fürs Auge nicht tauge, könne jedoch ungeheure Wirkungen bei anderen Sinnesorganen erzeugen, etwa für den Geruch und Geschmack, „könnte man [...] für diese eine Musik erfinden; so bin ich überzeugt, daß die Wirkung derselben ausserordentlich seyn würde." (Sulzer 1773, 1, 62) Derartiger Spekulationen enthielt sich der junge Mendelssohn. „Für jeden Sinn ist eine Art von Harmonie bestimmt" (Mendelssohn, JA, 1, 86), schreibt er und nimmt damit den Faden der Diskussion auf, bezieht sich allerdings, wie unschwer erkennbar ist, eher auf andere als den einflußreichen Berliner Akademiker. Keiner hatte bisher in diesem Zusammenhang die Reduktion der Metaphysik auf die Physik der Sinne so auf die Spitze getrieben wie Diderot, der vorgeführt hatte, wie das Sensorium gedanklich in seine einzelnen Komponenten zerlegt werden konnte - durch das Gedankenexperiment der Deprivation, d.h. partiellen Reduktion oder Verstümmelung um jeweils einen Sinn - das Auge in der 'Lettre sur les aveugles', das Ohr in der 'Lettre sur les sourds et muets'. Und es ist Diderots Verarbeitung des Farbenklaviers im zweiten Brief, auf die sich Mendelssohn nun bezieht. Die Augen haben, unter allen sinnlichen Gliedmassen die ältesten und gerechtesten Ansprüche auf unsere Erkenntnis so wohl, als auf unsere Glückseligkeit. Ein blinder muß weit seligere Güter der Natur entbehren, als ein Taubgebohrner. Die Augen fühlen deutlicher, schärfer, und in einer grossem Entlegenheit, als das Ohr. (Mendelssohn, JA, 1, 8 6 ) 78

Der exotisch anmutende Algorithmus ähnelt der in der klassischen Dynamik zur Berechnung der Energie ( 1 / 2 m v 2 ) angewandten Formel und verweist auf die physikalistische Metaphorik in der deutschen Psychologie, die sich vor allem um den Begriff 'Kraft' rankte.

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Deshalb sei die wahrnehmungsästhetische Prämisse des Farbenklaviers streitig. Zwar habe Newton begonnen, die Harmonie der Farben zu entdecken, „man ist aber noch so glücklich nicht gewesen diese Harmonie der Farben auf ihre wahre Stufe zu erheben [...]." (Mendelssohn, JA, 1, 86). So beurteilt Mendelssohn die Erfindung Castels durchaus skeptisch: Die Farbenclaviere scheinen mehr zu versprechen als sie in der That leisten. Ich räume ihnen die harmonische Vermischung und Abwechslung der Farben, die Quelle der sinnlichen Schönheit, ein. Auch die sinnliche Wollust, die Verbesserung unserer Leibesbeschaffenheit, kann ihnen schwehrlich streitig gemacht werden. Es ist höchst wahrscheinlich, daß die nervigten Theile des Auges und ihre harmonische Spannungen auf eben die Art von den Farben, wie die Gefässe des Gehörs, von den T ö n e n verändert werden. Allein die Quelle der Vollkommenheit, die Nachahmung der menschlichen Handlungen und Leidenschaften? Kann uns eine Farbenmelodie mit diesem Vergnügen seegnen? (Mendelssohn, JA, 1, 86 f.)

In einer langen Anmerkung zu dieser Passage geht Mendelssohn vor allem auf Krügers Aufsatz in den 'Miscellanea Berolinesia' von 1743 ein. Sie ist insofern interessant, als sie eine Reihe genauer wahrnehmungsphysiologischer und -psychologischer Beobachtungen enthält, z.B. den sichtbaren Ausdruck innerer durch äußere Bewegung. Wie die alltägliche Beobachtung lehrt, geht Erregung häufig mit einer Bewegung der Gliedmaßen einher, innere Bewegung drückt sich in Lautäußerungen aus. Während die Musik den akustischen Teil menschlicher Leidenschaft ausdrücken könne, seien Bewegungen malerisch darstellbar. „Eine plötzlich unterbrochene Linie könnte einigermassen den Schrecken, und viele schnell durch einander fahrende Linien den Zorn, so wie eine langsam ungekünstelt fortgehende Wellenlinie eine Art von Tiefsinn abbilden." (Mendelssohn, JA, 1, 116)79 Diese heute vielleicht naiv erscheinde Auffassung einer emotional motivierten Ikonizität von Malerei hebt sich deutlich von der gemeinhin geforderten Eigenschaft der Malerei ab, äußere Realität wiederzugeben. Innere Zustände symbolisch darzustellen, sei vor allem eine Sache der bildnerischen Formen, die in ihren farbigen Qualitäten, wie Mendelssohn meint, sich auch in der Zeit bewegen. Es ist ohnstreitig daß wir in einerley Zeit weit mehr Farben als T ö n e unterscheiden können"", denn die Erfahrung lehrt, daß sich eine jede Farbe n o c h eine Zeitlang im Auge erhält, w e n n wir die Augen gleich verschlossen haben. In einer Farbenmelodie also, m u ß sich der Eindruck, den die vorhergegangenen Farben hinter sich gelassen, mit der gegenwärtigen vermischen, und eine gantz andere Wirckung hervorbringen, als man verlangt. (Mendelssohn, JA, 1, 117)"' Vgl. dazu Lessing im 'Laokoon'. Darauf hatte schon Rousseau hingewiesen. Die genau entgegengesetzte Ansicht hatte die 'Encyclopédie' vertreten. Im Artikel 'Clave(Fortsetzung nächste Seite)

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Mendelssohn schlägt deshalb vor, das Auge langsam an die wechselnden Farben zu gewöhnen und erst nach einiger Zeit die Melodie der Farben und die der Töne zu vereinigen, wie es Krügers Absicht gewesen war. Sein Haupteinwand gegen die Farbenmusik aber leitet sich aus den unterschiedlichen Zuweisungen ab, in denen die zeitgenössische Ästhetik Musik und Malerei unterschied: Musik sollte Anteilnahme wecken, indem sie Leidenschaften darstellte — „welche Leidenschaft aber hat die mindeste Verwandtschaft mit einer Farbe?" (Mendelssohn, JA, 1, 87) "2 Mehr noch: Es ist Mendelssohn unmöglich, sich Farben ohne Formen, Gestalten, Figuren vorzustellen - aber hat man schon eine Harmonie der Formen, Gestalten und Figuren, also der räumlichen Verhältnisse gefunden?w Es geht also wie bei Rousseau - um die Übersetzung der Zeitdimension der Töne in die Räumlichkeit der Farben, vom Flüchtigen ins Beständige. ein oculaire' hieß es: "La seule différence importante entre les deux clavecins [d.h. das clavecin auriculaire und das cl. oculaire] qui nous ait frappés, c'est que quoiqu'il y ait sur le clavecin ordinaire un grand intervalle entre sa première & sa derniere touche, l'oreille n'apperçoit point de discontinuité entre les sons; ils sont liés pour elle comme si les touches étoient toutes voisines; au lieu que les couleurs seront distantes & disjointes à la vûe. Pour remédier à cet inconvénient dans la mélodie & l'harmonie oculaires, il faudroit trouver quelque expédient qui liât les couleurs, & les rendît continues pour l'œil." (Encyclopédie, 3, 511 f.) 82

Ganz anderer Meinung war hier Diderot im 'Essai sur la peinture', der 1765 entstanden war, aber erst 1795 in der 'Décade philosophique' erschien: "Mais j'allais oublier de vous parler de la couleur de la passion; j'étais pourtant tout contre. Est-ce que chaque passion n'a pas la sienne? Est-ce la même dans tous les instants d'une passion? La couleur a ses nuances dans la colère. Si elle enflamme le visage, les yeux sont ardents; si elle est extrême, et qu'elle serre le cœur au lieu de le détendre, les yeux s'égarent, la pâleur se répand sur le front et sur les joues, les lèvres deviennent tremblantes et blanchâtres. Une femme garde-t-elle le même teint dans l'attente du plaisir, dans les bras du plaisir, au sortir de ses bras? Ah! mon ami, quel art que celui de la peinture!" (Diderot, A.T., 10, 473) Noch im gleichen Jahr, vor der deutschen Übersetzung des Essays durch K.F. Cramer (1797), hatte Goethe die Schrift in Händen; laut Tagebuch las er dann im Spätsommer 1798 Diderots Essay fast täglich, 1799 schließlich entstand, zusammen mit Schiller, der Farbenkreis der Temperamente.

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Zu Zeiten Mendelssohns gab es keine ästhetische Theorie, die sich mit der zeitlichen Anordnung farbiger Formen befaßte. Ein solches Projekt ist m.W. erst im 20. Jahrhundert angegangen worden, z.B. Kandiskys Bühnenfassung von Mussorgskis 'Bilder einer Ausstellung', Schlemmers 'Triadisches Ballet' oder Disneys 'Fantasia'. Diese Frage hat Mendelssohn immer wieder beschäftigt. In einem zu seinen Lebzeiten unveröffentlichten Manuskript 'Über die Mischung der Schönheiten' werden diese Überlegungen mit ausdrücklichem Bezug auf seine und Krügers frühere Kritik an Castel weitergeführt. Gegen Burkes künstliche Trennung verschiedener Merkmale „einer jeden Schönheit" hält er: „Alles, was eine Figur hat, muß eine Farbe, und alles, was eine Farbe hat, eine Figur haben." (Mendelssohn, JA, 3.1, 262) Farbe und Form verbinden sich zu einer Vorstellung. Insofern sei Malerei eine doppelte Nachahmung der Natur. Vielleicht aber sei Castels Idee „zu wenig verfolgt worden: würde sie völlig realisirt, so hätten wir alsdenn eine dritte [bildende] Kunst, bey der es auf die Figuren gleich wenig ankommen müßte, als bey der Skulptur auf die Farben." (Mendelssohn, JA, 3.1, 263)

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Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Den Versuch, das Problem nicht von der Farbenmusik, sondern der Tonmalerei her anzugehen, wagt Johann Jacob Engel. Sein Essay 'Über musikalische Malerey' ist eine sorgfältige Ausarbeitung, die mit einer kurzen zeichentheoretischen Darstellung der Unterschiede zwischen Musik und Malerei beginnt. Während Farben eines Kunstwerks zugleich konventionelle Zeichen und Abbildung realer Objekte seien, könnten musikalische Töne keine Zeichen, sondern nur Nachahmungen von Wirklichkeit oder der durch sie hervorgerufenen Empfindungen sein. Die Musik entbehre also des Zeichencharakters der Malerei. Wenn Kunst allgemein als Abschilderung von Natur bestimmt werden könne, so sei jene durch Musik grundsätzlich unvollständig. So imitiere Musik manchmal nur bestimmte Eigenschaften von Objekten, die durch andere Sinne wahrgenommen würden, wie z.B. Bewegung oder Geschwindigkeit. Diese 'Ähnlichkeiten' nennt Engel 'transzendentelle Ähnlichkeiten' (Engel, Schriften, 4, 305). m Dieser Gedanke verbindet Engels Musiktheorie mit jenen Sprachursprungstheorien, die von imitativen Vorgängen bei der Sprachgenese ausgehen: Die erste Sprache bildet nicht die Dinge der umgebenden Welt ab, sondern nur deren inhärente Qualitäten, die durch verschiedene Sinnesorgane wahrgenommen werden. Für Engel ist die Hauptaufgabe der Musik nicht die Darstellung der Eigenschaften der Dinge selbst, sondern die Darstellung der Eindrücke oder Empfindungen, die sie beim Hörer hervorrufen. Und in diesem Sinne könnten auch Farben durch Musik nachgeahmt werden, in der paradoxen Formulierung Engels: „Auch sogar Farbe wird malbar." (Engel, Schriften 4, 308)87 Der musikalische Eindruck finde seine Ergänzung in der lh

87

Dies entspricht der aristotelischen Unterscheidung zwischen den zwei Arten des Wahrnehmbaren, das jedem Sinn Eigentümliche wie Farben, Schall und Geschmack und die allen gemeinsame Wahrnehmung von Bewegung, Stillstand, Zahl, Gestalt und Gröiäe. (Aristoteles, De anima, Buch II, Kap. 6) Diesen Unterschied markiert auch Herders heftige Kritik an der Musikästhetik Riedels, die er im '4. Kritischen Wäldchen' verhöhnt: „Seine Musik malt, sie malt dem Ohre, sie malt Handlungen, sie malt die Handlungen, die die Pantomime ihr nachahmen soll. Man höre, man höre doch! Riedels Musik malt: und jedes Ohr von Gefühl weiß, daiä sie eigentlich nicht malen kann, und wenn sie es dem Hauptzwecke nach tun will; wenn sie ihr Reich, die Empfindungen, verläßt, und dem malenden Auge nacheifert; so ist sie nicht Musik mehr, sondern ein tönendes Geklimper." (Herder 1987, 185). Gerold sieht hier einen Signifikaten Unterschied zu Diderots Musiktheorie (Gerold 1941, 187 f.). Er mag an die 'Leçons de clavecin' gedacht halben, wo der Meister (Bemetzrieder) seinem Schüler auf die Frage, was Gesang sei, antwortete: "C'est une succession des sons agréables, parce qu'ils réveillent en nous quelques sentiments de l'âme ou quelques phénomènes de la nature. Toute musique qui ne peint ni ne parle, est mauvaise [...]." (Diderot, Leçons de clavecin et principes d'harmonie en dialogues (1771), zitiert nach Diderot 1983, 67) Zu Herders Auseinandersetzung mit Riedel im '4. Kritischen Wäldchen' vgl. die ausführliche Darstellung bei Norton 1991. „Denn der Eindruck einer sanften Farbe hat etwas Ähnliches mit dem Eindruck eines sanften Tons auf die Seele." (Engel, Schriften, 4, 308)

4.10. Die Entwicklung einer Psychologie der ästhetischen Wahrnehmung

169

organischen Bewegung, dem inneren Ton, die physikalische Bewegung hätte ihr Äquivalent in der inneren, der Gemütsbewegung. Töne sind für Engel das mächtigste Mittel, solche inneren Bewegungen oder 'Seelenerschütterungen' hervorzurufen, denn sie konstituierten das unbewußte Band zwischen den Lebewesen, sei's zwischen Tieren und Menschen, sei's zwischen Menschen untereinander. Die menschliche Existenz beruhe auf der Übermittlung von Tönen, Tönen der Leidenschaft, des Schmerzes und der Freude. Auch hier werden, wie schon bei Mendelssohns Verschränkung von innerer und äußerer Bewegung, die vielfachen Anregungen sichtbar, denen Herder in seiner Ursprungsschrift folgen konnte. m Musik solle die natürliche Folge oder Assoziation von Leidenschaften malen, eine Forderung, die für die Malerei und Bildhauerei, vor allem aber die Dichtkunst diskutiert worden war: Ich meine die Debatte über natürliche Wortfolge und Inversion, Thema von Diderots 'Lettre sur les sourds et muets' und anderer Schriftsteller. Eine Sonderrolle fällt nach Engel freilich dem Gesang zu, denn dieser soll nicht nur Gefühle abbilden, sondern die Beziehung zwischen Innenund Außenwelt - das 'Subjective' - ausdrücken, „nur Ausdruck erreicht den Zweck des Gesanges; Malerei zerstört ihn", er sei die „lebhaftste, sinnlichste, leidenschaftlichste Rede". (Engel, Schriften, 4, 329 f.). Hier, im Gesang, werde auch Musik zum Zeichen, Töne erhielten ihren doppelten Charakter als Wörter oder Zeichen und Ausdruck innerer Bewegung. Die Nähe der Überlegungen Mendelssohns und Engels zur Sprachtheorie, die zu dieser Zeit vornehmlich in Form von Sprachursprungstheorien formuliert wurde, wird zunehmend deutlicher. Die auf Castels Farbenklavier bezogenen Beiträge spiegeln in dieser semiotischen Wendung nur eine allgemeine Tendenz, die sich in Frankreich als 'idéologie', in Deutschland weniger geschlossen in zahlreichen Arbeiten der Berliner Aufklärung und anderswo äußerte. In besonders prononcierter Form läßt sich die Entwicklung bei Mendelssohn, Moritz und Herder erkennen. 90 Letzterer reklamierte emphatisch die Synästhesie für eine Ursprungssituation, in der die Natur dem Menschen mitnichten spontan entgegentönte und strapazierte dabei die schon etwas angestaubte Vorstellung eines sensorium communis, um die psychophysischen Differenzierungen des weitaus moderner argumentierenden Mendelssohns aus dem Weg zu räumen. Mendelssohn 88

89

90

„Alle leidenschaftlichen Vorstellungen der Seele sind mit gewissen entsprechenden Bewegungen im Nervensystem unzertrennlich verbunden, werden durch Wahrnehmung dieser Bewegung unterhalten und verstärkt." (Engel, Schriften, 4, 312 f.) Zwar war der Schrei aus Leidenschaft nach Herders Überzeugung nicht die erste Sprache des Menschen, gleichwohl sollte der „Ton der Empfindung [...] das sympathetische Geschöpf in denselben Ton versetzen." (Herder, Werke, 2, 19). Vgl. dazu ausfürlich Teil I, Kap. 3•

170

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

und Moritz hatten ihre psychologischen Theorien in den Diskussionen mit dem Berliner Freundeskreis, insbesondere mit dem Arzt und Philosophen Marcus Herz, schärfen können, was auch ihren sprachtheoretischen Überlegungen zu Gute kam. Der Blinde, die Statue und das Farbenklavier hatten die Inszenierung des Sprachthemas in verschiedener Weise vorbereitet. Den tragenden Part übernahm jener stumme Held, der sich zu Jahrhundertbeginn spät - gleichwohl etwas vor der Zeit - zu Wort gemeldet hatte. Doch noch ist die Geschichte des Farbenklaviers nicht ganz zu Ende, sie hat, wie es sich gehört, ein Nachspiel.

4.11. Goethes späte Würdigung Castels Das Ohr ist stumm, der Mund ist taub; aber das Auge vernimmt und spricht. (J. W. v. Goethe)

Im historischen Teil seiner Farbenlehre paraphrasiert Goethe ausführlich die Auffassung Malebranches, die Struktur des Lichts sei zu der des Schalls analog (allerdings in der späteren, abgeschwächten Fassung von 1699), und zitiert aus Briefen Voltaires, worin dieser sich abfällig über Castel äußerte. Castels 'Optique' hat Goethe ausweislich eines Briefes an Friedrich Schiller vom 23. Dezember 1795 etwa zu dieser Zeit erhalten; die Lektüre der Schrift fällt in die mittlere Periode der Entstehungsgeschichte der Farbenlehre, in der Goethe die physiologische Farbe und die Harmonielehre bearbeitete. An Schiller äußert er sich nicht nur sehr wohlmeinend über Castel, sonders es wird auch klar, wie wichtig dieser für seine eigene Arbeit war: Des P. Castels Schrift Optique des Couleurs 1740 habe ich in diesen Tagen erhalten, der lebhafte Franzos macht mich recht glücklich. Ich kann künftig ganze Stellen daraus abdrucken lassen und der Herde zeigen, daß das wahre Verhältnis der Sache schon 1739 in Frankreich öffentlich bekannt gewesen, aber auch damals unterdruckt worden ist. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 2, 3, 90)

Die 'Sache', das ist, die Analyse der physikalischen Natur der Farben durch die ihrer subjektiven Wahrnehmung zu ergänzen, „die Natur zugleich und sich selbst zu erforschen" (Goethe, Maximen und Reflexionen, 1140. Schriften zur Naturwissenschaft, 2, 3, XXIII). Wie Castel sieht Goethe in der Newtonschen Reduktion der Farbenlehre auf die Refraktionserscheinungen eine unzulässige Beschränkung der Erfahrungsmöglichkeiten und in der camera obscura ein Gefängnis, dessen Gitter Prismen und Diaphragmen waren, das Newtonische Weiß findet er 'ekelhaft'.

4.11. Goethes späte Würdigung Castels

171

Newton behauptet, in dem weißen farblosen Lichte überall, besonders aber in dem Sonnenlicht, seien mehrere verschiedenfarbige Lichter wirklich enthalten, deren Zusammensetzung das weiße Licht hervorbringe. Damit nun diese bunten Lichter zum Vorschein kommen sollen, setzt er dem weißen Licht gar mancherlei Bedingungen entgegen: vorzüglich brechende Mittel, welche das Licht von seiner Bahn ablenken; aber diese nicht in einfacher Vorrichtung. Er gibt den brechenden Mitteln allerlei Formen, den Raum in dem er operiert, richtet er auf mannigfaltige Weise ein; er beschränkt das Licht durch kleine Öffnungen, durch winzige Spalten, und nachdem er es auf hunderterlei Arten in die Enge gebracht, behauptet er: alle diese Bedingungen hätten keinen andern Einfluß, als die Eigenschaften, die Fertigkeiten des Lichts rege zu machen, so daß sein Inneres aufgeschlossen und sein Inhalt offenbar werde. Die Lehre dagegen, die wir mit Überzeugung aufstellen, beginnt zwar auch mit dem farblosen Lichte, sie bedient sich auch äußerer Bedingungen, um farbige Erscheinungen hervorzubringen; sie gesteht aber diesen Bedingungen Wert und Würde zu. Sie maßt sich nicht an, Farben aus dem Licht zu entwickeln, sie sucht vielmehr durch unzählige Fälle darzutun, daß die Farbe zugleich von dem Lichte und von dem was sich ihm entgegenstellt, hervorgebracht werde. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 7, 87) So willkommen ihm Castel als Kritiker Newtons war 9 1 , so wenig weiß Goethe mit Castels Farh-Ton-Analogie anzufangen, obwohl der Gedanke einer übergreifenden harmonischen Struktur verschiedener physikalischer Phänomene ihm keineswegs absonderlich vorgekommen sein dürfte. Sein [Castels] größtes Unglück ist, daß er ebenfalls die Farbe mit dem Tone vergleichen will, zwar auf einem anderen Wege als Newton und Mairan, aber auch nicht glücklicher. Auch ihm hilft es nichts, daß er eine Art von Ahndung von der sogenannten Sparsamkeit der Natur hat, von jener geheimnisvollen Urkraft, die mit wenigem viel, und mit dem Einfachsten das Mannigfaltigste leistet. Er sucht es noch, wie seine Vorgänger, in dem was man Analogie heißt, wodurch aber nichts gewonnen werden kann, als daß man ein paar sich

„Seine Invektiven gegen die Newtonische Darstellung des Spektrums übersetzen wir um so lieber, als wir sie sämtlich unterschreiben können." (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 6, 329). Vgl. auch die Bemerkung in der 'Anzeige und Übersicht des Goethischen Werkes zur Farbenlehre', "Dufay und Castel beharren auf der einfacheren Ansicht [keine Unterscheidung von Grund- und Hauptfarben]; letzterer widersetzt sich mit Gewalt der Newtonischen Lehre, wird aber überschrieen und verschrieen." (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 7, 14). In den Entwürfen zur Geschichte der Farbenlehre heißt zu Castel: „Dilettant und Technolog. Da er von der Färberei ausgeht, muß ihm die Newtonische Lehre unbequem sein, er muß die Lehre von drei Grundfarben annehmen. Seine Darstellung derselben so wie der Mischungen, der Übergänge des Hellen und Dunklen ist klar, lebhaft, ja geistreich. Sein Werk enthält die schätzbarsten Bemerkungen, die aus einer aufmerksamen Anschauung der Phänomene und wahrem Sachinteresse herfließen. Er zeigt deutlich, wie Mariotte, daß die Newtonische Schule das Phänomen falsch vorstelle und daß die wahre Darstellung des Versuchs mit der Theorie unvereinbar sei." (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 3, 399)

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

172

ähnelnde empirische Erscheinungen einander an die Seite setzt, u n d sich verwundert, w e n n sie sich vergleichen und zugleich nicht vergleichen lassen. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 6, 3 2 8 f.) D i e s e s p a r s a m b e g r ü n d e t e Kritik a n C a s t e l s A n a l o g i e z a u b e r g i p f e l t in d e m Verdikt: Sein Farben-Klavier, das auf eine s o l c h e Übereinstimmung gebaut w e r d e n sollte, und w o r a n e r sein ganzes Leben hin u n d her versuchte, konnte freilich nicht zu Stande k o m m e n ; und d o c h ward die Möglichkeit und Ausführbarkeit eines solchen Farbenklaviers i m m e r einmal wieder zur Sprache gebracht, und n e u e mißglückte U n t e r n e h m u n g e n sind den alten gefolgt. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 6, 3 2 9 ) 9 2 G o e t h e erwähnt hier nur en passant die wahrnehmungsästhetische

Kon-

t r o v e r s e , die Castel, w e n n nicht ausgelöst, d o c h d u r c h sein Projekt a n g e regt hat; w e d e r R o u s s e a u , Diderot, M e n d e l s s o h n , H e r d e r o d e r Engel w e r d e n g e n a n n t . I n d e s h a t G o e t h e a n a n d e r e r Stelle d e r S c h r i f t e n z u r F a r b e n l e h r e w i e a u c h in s e i n e n B e m e r k u n g e n z u r T o n l e h r e d e n K e r n d e r D e b a t t e a u f d i e k u r z e F o r m e l Physik

der

Kunst

/Ästhetik

der

Natur

gebracht.95

A u c h w e n n sich F a r b e u n d T o n untereinander auf keine W e i s e

verglei-

c h e n ließen, so s a h er sie d o c h einer g e m e i n s a m e n „höhern Formel" entspringen. B e i d e sind allgemeine elementare Wirkungen nach d e m allgemeinen Gesetz des T r e n n e n s u n d Zusammenstrebens, des Auf- und A b s c h w a n k e n s , des Hinu n d W i e d e r w ä g e n s wirkend, d o c h n a c h ganz v e r s c h i e d e n e n Seiten, auf vers c h i e d e n e Weise, a u f verschiedene Z w i s c h e n e l e m e n t e , für v e r s c h i e d e n e Sinne. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 4, 2 2 0 )

In den Notizen zum Farbenklavier hört sich dies noch ganz anders an: „In dem Mercure de France Juli 1755 p. 144 steht ein Brief des P. Kastels an einen Mathematiker Rondet [...]. Man sieht daraus daß P. Kastel zu Ende 54 und zu Anfang 55 vor mehrern Personen gespielt hat. Er hatte nach zwanzig Jahren die Sache wenigstens so weit gebracht daß er eine bewegliche Farbenerscheinung darstellte die ein gewisses Vergnügen erregte, woran auch gar nicht zu zweifeln ist." (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 2, 6, 200). Auch Büschs 'Handbuch der Erfindungen' bezeichnet das Farbenklavier als ein „vorgeschlagenes, aber noch nie ausgeführtes Werkzeug". Busch urteilt über eine 1725 erschienene Schrift Castels mit dem Titel 'Clavecin Oculaire' - gemeint ist der Aufsatz im 'Mercure de France' - , „in der er [Castel] dieses System mit vielem Witze und einer feurigen Einbildungskraft ausgeschmückt und in den Farben harte und weiche Tonarten, Consonanzen und Dissonanzen, Melodie und Harmonie, diatonisches und enharmonisches Genus finden will." (Busch, Handbuch, 4.2., 1807, 85 f.) Wellek fühlt sich durch Stellungnahmen wie diese, den Spott der 'Encyclopédie' oder Goethes dann schließlich veröffentlichte skeptische Bemerkungen in seinem Urteil hinreichend bestätigt, daß es das Farbenklavier so, wie es sich Castel vorgestellt hatte, nie gegeben habe. Zu Goethes Tonlehre vgl. Dreyer 1985.

Abb. 20 Goethes Skizze des Krügerschen Entwurfs zum Farbenklavier

174

Teil I, 4. Farbenhören und Tonsehen

Die komplementäre Anordnung der Begriffe spiegele das polare Grundprinzip der musikalischen Zeichensprache, vor allem die Tonartunterschiede Dur und Moll. In seinen Tagebüchern vom Juli/August 1810 entwickelt Goethe analog zur Farbenlehre sein Schema der Tonlehre. Dort stellt er neben das beredte Auge das passive Ohr, ein stummer Sinn, der erst im Verein mit der menschlichen Stimme produktiv werde: Indem sich aus und an dem Menschen die Tonwelt offenbart, hervortritt in der Stimme, zurückkehrt durchs Ohr, aufregend zur Begleitung den ganzen Körper, und eine sinnlich-sittliche Begeisterung und eine Ausbildung des innern und äußern Sinnes bewirkt. (Goethe, Schriften zur Naturwissenschaft, 1, 11, 136a)

Der Gesang als usprüngliche Musik, als 'völlig productiv an sich', wie es im 'Schema der Tonlehre' heißt, ist eine der Herderschen visuellen Rückkopplung des Sprachlauts durch Merkzeichen (so in der Ursprungsschrift) ähnliche Konstruktion, nur werden bei Goethe nicht Auge und Ohr, sondern Stimme und Ohr in einem produktiven Prozeß der 'Gegenwirkung' und 'Forderung' verknüpft - und wenn nicht die Sprache „unstreitig das Höchste [wäre], was wir haben, so würde ich Musik noch höher als Sprache und ganz zu oberst setzen" (Goethe, Werke, 2, 11, 174). Der Gesang als elementare Musik am menschlichen Körper und die Zurückweisung der künstlichen Instrumente als Surrogate verweist zum einen auf den durch die Bekanntschaft mit Chladni gewonnenen Kontakt mit der Akustik, als auch natürlich auf jene Sprachursprungs- und Musiktheorien, die dem Gesang eine anthropologisch bedeutsame Rolle zuerkannnten. Nur ist in Goethes Konzeption der Gesang als Instrument der Phylogenesis monologisch und steht damit eindeutig im Gegensatz zur Bestimmung der entwickelten Musik, die Diderot in der 'Lettre sur les sourds et muets' dialogisch begriff. Ich will noch einmal zum Ausgangspunkt meiner Darstellung zurückkommen, zur Szene, als Diderot mit seinem Taubstummen das Atelier Castels besuchte. Mon sourd s'imagina que ce génie inventeur étoit sourd & muet aussi; que son clavecin lui servait à converser avec les autres hommes; que chaque nuance avait sur le clavier la valeur d'une des lettres de l'alphabet; & qu'à l'aide des touches & de l'agilité des doigts, il combinoit ces lettres, en formoit des mots, des phrases; enfin tout un discours en couleurs. (Diderot 1965, 50)

Die musikalischen Töne werden in ihrer sichtbaren, in Farben übersetzten Form - erinnern wir uns an Engels Theorie der Musik - zu Zeichen; die Berührung der Tasten erzeugt einen 'discours en couleurs'. Diese Sprache

Zum Ursprung der Musik vgl. insbesondere Goethes Briefwechsel mit Zelter.

4.12. Hegels Ästhetik: Rückschau und Endpunkt

175

der Farben entsteht ohne den 'Mittelsinn' des Gehörs (Herder), denn es ist ein Taubstummer, der diese 'Sprache' wahrnimmt. Castels 'musique muette', wie er sie nannte, war zu mehr als nur einer musique 'pour les muets' geworden (zu deren Genuß sich alle Blinden von Paris versammelten, wie Voltaire höhnte). Welche Art von Sprache aber sah Diderots Taubstummer wirklich? Eine mögliche Antwort gibt Herder am Ende des Jahrhunderts in seinem Dialog 'Vom Angenehmen und Schönen' (Kalligone, 1800): Die Musik spielt in uns ein Klavichord, das unsre eigne innigste Natur ist. Es ist doch nicht etwa P.Castels Farben- o d e r ein Bilderklavier, was in uns gerührt wird? (Herder, Sämtliche Werke, 18, 7 7 )

In einem englischen Bericht aus den 50er Jahren hieß es, Castels 'ocular harpsichord' sei für 'philosophische Augen' gebaut. Diderot selbst nannte den Helden der 'Lettre sur les aveugles' einen wahren Philosophen und meinte, sein Taubstummer habe tiefere Einsicht in die Natur der Töne und Sprache bewiesen als die meisten Philosophen vor ihm. Er habe nämlich geglaubt, daß die Musik eine besondere Form der Gedankenübermittlung sei, als er bemerkt habe, wie aufmerksam die Menschen der Musik lauschten und wie sie mit ähnlich deutlichen Zeichen der Anteilnahme auf eine schöne Harmonie wie auf die menschliche Rede reagierten. Harmonische, tönende Strukturen als Form der Verständigung zwischen den Menschen organisieren nicht allein die innere Natur des Menschen, sondern wenden sie nach außen, machen sie „dem Menschen vorstellig" (Hegel, Ästhetik, 1, 80) und mitteilbar. Die Farbenmusik könnte also den Zeichencharakter, der der Musik von einigen ohnehin zugesprochen wurde, mit dem Abbildcharakter der Malerei zu einem 'discours en couleurs' verbinden, einer 'verschobenen' Sprache, die freilich nur dem zugänglich ist, der gegebenenfalls die Augen schließt oder sich die Ohren zuhält, wenn er wahrnehmen will, was wirklich um ihn herum geschieht. Allein so kann die Verbindung von Musik und Malerei nicht nur Vergnügen und Anteilnahme, sondern auch Sinn schaffen.

4.12. Hegels Ästhetik: Rückschau und Endpunkt In seiner Entwicklungscharakteristik der Kulturepochen als der symbolischen, klassischen und romantischen Kunst beschreibt Hegel die Ablösung der früheren Dominanz symbolisch-visueller Formen durch die des

95

Vgl. Wellek 1935, 368.

176

Teil I 4. Farbenhören und Tonsehen

Hörens und Sprechens. Der „Grundton des Romantischen" als Vermittlung von Empfindung und Empfundenem, wie es Mendelssohn und Herder vorgetragen hatten, „sei musikalisch und, mit bestimmtem Inhalte der Vorstellung, lyrisch." (Hegel, Ästhetik, 2, 141) Das „Innere in diesem Verhältnis [von 'Innigkeit' und 'äußerlich scheinendem'], so auf die Spitze hinausgetrieben, ist die äußerlichkeitslose Äußerung, unsichtbar gleichsam nur sich selbst vernehmend, ein Tönen als solches, ohne Gegenständlichkeit und Gestalt [...]." (Hegel, Ästhetik, 2, 140) Daraus erklärt sich das Scheitern von Castels Idee - wollte er doch den Tönen Gestalt geben. Das herrschende Moment in der Musik sei, so erklärt Hegel im systematischen Teil seiner Vorlesungen, neben der Harmonie und Melodie das der Zeit, in Form von 'Zeitmaß, Takt und Rhythmus'. Die Gestalten der Skulptur und Malerei sind im Raum nebeneinander und stellen diese reale Ausbreitung in wirklicher oder scheinbarer Totalität dar. Die Musik aber kann Töne nur hervorbringen, insofern sie einen im Raum befindlichen Körper in sich erzittern macht und ihn in schwingende Bewegung versetzt. Diese Schwingungen gehören der Kunst nur nach der Seite an, daß sie nacheinander erfolgen, und so tritt das sinnliche Material überhaupt in die Musik, statt mit seiner räumlichen Form, nur mit der zeitlichen Dauer seiner Bewegung ein. (Hegel, Ästhetik, 3, 163)

Damit sind die Grenzen zwischen Musik und Malerei und zugleich die Nähe von Musik und Poesie deutlich markiert. Hier freilich, und das darf nicht übersehen werden, tritt eine andere Differenz ins Blickfeld, die schon im Sprachskeptizismus Lockes eine Rolle spielte: Der Ton der gesprochenen Sprache, der Sprachlaut, ist vom musikalischen Ton nicht physikalisch, sondern durch seine Bedeutung, oder wie Hegel sagt, seinen 'Gebrauch' unterschieden; die Musik drückt „das Tönen nicht zum Sprachlaut herunter, sondern macht den Ton selbst für sich zu ihrem Elemente." (Hegel, Ästhetik, 3, 145). Und doch ist der artikulierte Laut als „bloßes Redezeichen" (Hegel, Ästhetik, 3, 144) mehr als nur Merkzeichen, das auf sein designatum verweist. Der Sprachlaut, so Hegel in der 'Enzyklopädie', verwandelt die unmittelbare räumliche Anschauung in ein Zeichen von zeitlicher Dauer - das Farbenklavier hatte das Zeitlich-tönende zu verräumlichen versucht. Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter artikulierende Ton, die Rede, und ihr System, die Sprache, gibt den Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen ein zweites, höheres als ihr unmittelbares Dasein, überhaupt eine Existenz, die im Reiche des Vorstellens gilt. (Hegel, Enzyklopädie, 3, 271)

Die Schriftkritik liefert dazu die Parallele, insbesondere die kritische Bewertung der Hieroglyphe als reifizierende Form der Darstellung (Pluche, Warburton, Diderot) und der allgemein behauptete Vorzug der alphabetischen Schrift. Vgl. dazu Teil II, Kap. 6.3.

4.12. Hegels Ästhetik: Rückschau und Endpunkt

177

Geprochene Sprache sei so - im Gegensatz zur Schrift - der wahre Ausdruck des menschlichen Geistes. (Hegel, Enzyklopädie, 3, 459) Doch Hegel bleibt, wie J.Trabant hervorhebt, zumindest in der Enzyklopädie monologisch befangen und ist darin Goethe durchaus ähnlich. Das Hören auf die Sprache sei ihm nicht der Rede wert, der „theoretische Geist ist [...] phono-zentrisch im allerengsten Sinne des Wortes." (Trabant 1988, 65) Wer nicht hören kann, muß fühlen. Wer nicht hören will, kann auch schreiben.

5. Der Taubstumme Das wird die goldene Zeit seyn, wenn alle Worte Figurenworte - Mythen - und alle Figuren - Sprachfiguren - Hieroglyphen seyn werden - Wenn man Figuren sprechen und schreiben - und Worte vollkommen plastisiren, und Musiciren lernt. (Novalis)

Wer immer sich über den Beitrag der Augen zur kognitiven Abbildung der Welt Gedanken machte, nahm ganz selbstverständlich an, daß jeder Mensch, auch der von Geburt an Blinde, über die elementaren Fähigkeiten des Vergleichens und des Unterscheidens verfüge, und Gedanken- wie Realmodelle hatten auch keine Schwierigkeiten, das Resultat dieser Operation mitzuteilen, selbst dann nicht, wenn sie - wie Condillacs Statue überhaupt nicht zum Sprechen eingerichtet waren. Dessen Zurückhaltung in der Ausstattung seines Modells hatte gute Gründe, denn es war unbestritten, daß die Untersuchung des Beitrags, den die sinnliche Wahrnehmung beim Erwerb von Wissen lieferte, empfindlich gestört wurde, wenn die Namen der Dinge ins Spiel kamen. Zum Experiment mit Cheseldens Blindgeborenen gab er deshalb den Rat: [...] il faudrait l'interroger avec adresse, et éviter toutes les questions, qui indiquent la réponse. Lui demander s'il voit un triangle ou un carré, ce seroit lui dire comment il doit voir, et donner des leçons à ses yeux. (Condillac, Traité des sensations, 1798/1984, 204)

Ich verwende in der Regel den historischen Begriff 'taubstumm' und nicht die angemessenere Bezeichnung 'gehörlos', um die in der Verbindung taub & stumm enthaltene, über den medizinischen Befund hinausgehende psycho-soziale Konsequenz der Behinderung nicht aus den Augen zu verlieren, denn allein ihretwegen war der Taubstumme so interessant - als sprachlose, nicht gehörlose Figur. Dieses und das folgende Kapitel gelten nicht zeichentheoretischen, kognitiven, neurolinguistischen oder pädagogischen Aspekten der Gebärdensprache schlechthin und sind auch nicht als Beitrag zur Geschichte der Gebärdensprache gedacht. Es geht mir um die Rolle des Taubstummen in der Geschichte der Sprachwissenschaft im 18. Jahrhundert. Einen Überblick über aktuelle Diskussionen geben u.a. Schlesinger/Namir 1978, Poizner/Klima/Bellugi 1987, Bishop/Mogford 1988 und Bausch/Grosse 1989.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

Die an der Debatte um die Molyneux-Locke-Hypothese und die Auswertung des Cheselden-Experiments Beteiligten entledigten sich auf ganz verschiedene Weise des Problems der Sprach-Falle. Entweder wählten sie geometrische Objekte wie Dreiecke, Würfel oder Kugeln, deren Namen mathematisch festgezurrt waren und deren Gewißheit auch durch falsche Ansichten, ja nicht einmal durch jene Gegenstände, die sie nie zuvor gesehen hatten, erschüttert werden konnte oder aber sie assoziierten, wie Bonnet im 'Essai analytique', die Namen nicht unmittelbar mit den Dingen, sondern mit den Vorstellungen, die die Menschen sich von ihnen machten, was vor allem dann zum Zuge kam, wenn es um die Wahrnehmung von Farben oder Tönen ging. Die Einführung der Figur als Form, in der sich die komplexen Beziehungen zwischen der Außenwelt und ihrer inneren Repräsentation verorten ließen, hatte den großen Vorteil, nicht auf eine andere, schon längst vorhandene, aber mehr und mehr fragwürdig gewordene Form der Repräsentation von Wissen angewiesen zu sein - doch auf Dauer ließ sich das Sprachproblem nicht beiseite schieben. Im Lichte der durch Newton möglich gewordenen Berechenbarkeit des visuell Wahrnehmbaren und Wahrgenommenen und angesichts der ebenfalls seit Beginn des Jahrhunderts neu entbrannten Frage, wie sich denn die sinnliche zur gedanklichen Repräsentation verhalte, mußten neben den referentiellen Eigenschaften sprachlicher Zeichen deren Verhältnis zur Vorstellung oder Idee untersucht werden. Die Analyse qua Reduktion dieser beiden Problembereiche führte zu den Grundbausteinen des sprachlichen Materials (die Etymologie ä la de Brosses), zur Physiologie des Denkens (Bonnet, Sulzer, Tetens, Tiedemann, Mendelssohn, Cabanis, Gall), zu grammatisch-logischen Mikroschnitten durch sprachliches Material (Moritz, Böckh, Bernhardi). Der Fall des Taubstummen von Chartres schien dem des durch die Molyneux-Locke-Hypothese in die Welt gesetzten hypothetischen Blindgeborenen ähnlich, doch die Theologen, die den durch das Glockengeläut von seiner Behinderung befreiten jungen Mann examinierten, fragten nicht, ob er sich ein Dreieck vorstellen könne oder ob er wisse, was eine Kugel oder ein Würfel sei, sondern was er von Gott, der Seele und der Moral zu sagen habe; vermutlich wollten sie das Glaubensbekenntnis, die heiligen Sakramente oder den Katechismus hören. Als der Proband nicht das Gewünschte von sich gab, sahen sie sich in der verbreiteten Feststellung bestätigt, daß Taubstumme auf der Stufe von Tieren verharrten und nur der unmittelbaren Befriedigung primärer Bedürfnisse zugewandt seien, höheres Denken sei eng an Zeichengebrauch und sozialen Austausch gebunden. Auch wenn diese Theologen in ihrer Borniertheit der gerade überwundenen Harthörigkeit des Probanden nicht viel nachstanden und ein langlebiges Artefakt - den stummen Automaten oder das Tier gebliebene mensch-

5. Der Taubstumme

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liehe Monstrum - (re)produzierten, so haben sie doch in ihrem grotesken Fehlschluß nicht nur den Zusammenhang von Sprechen und Denken behauptet, sondern auch das Defizit dokumentiert, das in der Erforschung dieses Zusammenhangs bestand. Sie sind ein schlagendes Beispiel für die These, daß der Erkenntnisfortschritt auch dem profunden Irrtum verpflichtet ist. Für die Taubstummen selbst bedeutete freilich die Weigerung, die ihnen eigene Ausdrucksform als Sprache zu akzeptieren, eine Verlängerung, wenn nicht gar Verschärfung der sozialen Ausgrenzung und des Drucks, sich eine Sprache anzueignen, die wahrzunehmen sie selbst gehindert waren. Nahezu zeitgleich mit dem Bericht über den Taubstummen von Chartres erschienen die beiden Publikationen2 des Taubstummenlehrers Johann Conrad Amman. Sie wurden breit rezipiert, nicht zuletzt wohl auch deshalb, weil sie sich ziemlich gut mit der von Locke vertretenen Auffassung vom wahrnehmungsabhängigen Lernen vertrugen. Ammans Berichte über den Erfolg seiner Methode, den Taubstummen neben Lippen- und Buchstabenlesen auch artikuliertes Sprechen beizubringen, trugen keineswegs dazu bei, die behauptete Abhängigkeit des Denkens vom Sprechen zu überdenken, sondern nur in eine (onto)genetische Fassung umzubauen: Mit der Entstummung der Gehörlosen, so lautete eine bis weit über das Jahrhundertende hinausreichende Maxime, sei auch eine Hebung ihrer Moralität und ihres Denkvermögens verbunden. Sei es nicht - wenn nicht schon Gebot christlicher Nächstenliebe - der Mühe wert, die armen Kreaturen in den Schoß der Gesellschaft zu führen, um sie dort als arbeitsfähige und strafmündige Bürger an den Segnungen der Gesellschaft teilhaben zu lassen? Warum aber bevölkerten zunächst sehende Blinde und nicht hörende Stumme die Abhandlungen Lockes, Berkeleys und Condillacs? Der neuzeitliche Primat des visuell erworbenen Wissens, der Vorrang der klaren und distinkten Augenerkenntnis gegenüber den dunklen und konfusen Wahrnehmungen der anderen Sinnesorgane wurde durch Newton und durch Locke auf ganz verschiedene Weise auf die Probe gestellt. Newtons Entdeckung des nicht-homogenen, mehrfarbigen Lichts raubte dem optischen Medium jene Einfachheit, die die Überlegenheit des Auges bisher begündete - es hatte nun auf einmal mehrere Farbeindrücke gleichzeitig zu verarbeiten. Locke bezweifelte, daß allein die visuelle Wahrnehmung hinreichende Grundlage für ein zutreffendes Bild der Außenwelt sei. Beide, Newton wie Locke, zögerten aber nicht, ihr Programm gegen eine mögliche Erosion der neuzeitlichen Epistemologie zu offerieren. Newton machte das Licht und seine Wahrnehmung zugleich 2

'Surdus loquens [...]' (1692) und 'Dissertatio de loquela (...) (1700). Zu Ammans Sprachtheorie s. u., Teil I, Kap. 6.1.1, zu seiner Phonetik Teil II, Kap. 4.3.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

berechen- und darstellbar und damit zum Gegenstand der zu seiner Zeit als Wissenschaft par excellence angesehenen Geometrie, Locke setzte auf Erziehung und Erfahrung, und beide gingen selbstverständlich davon aus, daß ihr Verfahren, die Eigenschaften der Objekte zu beschreiben, den an Anderen beobachteten Verfahren des Wissenserwerbs gleich war. [...] thus I have given a short, and, I think, true History of the first beginnings of Humane Knowledge; whence the Mind has its first Objects, and by what steps it makes its Progress to the laying in, and storing up those Ideas, out of which is to be framed all the Knowledge it is capable of; wherein I must appeal to Experience and Observation, whether I am in the right [...]. (Locke, Essay, Book II, Chap. XII, 1700/1975, 162)

Locke gab - um seine Auffassung von Verstehen anschaulich zu machen — mit der camera obscura die Versuchsanordnung Newtons vor. [...] That external and internal Sensation, are the only passages that I can find, of Knowledge, to the Understanding. These alone, as far as I can discover, are the Windows which light is let into this dark Room. For, methinks, the Understanding is not much unlike a Closet wholly shut from light, with only some little openings left, to let in external visible Resemblances, or Ideas of things without; would the Pictures coming into such a dark Room but stay there, and lie so orderly as to be found upon occasion, it would very much resemble the Understanding of a Man, in reference to all Objects of sight, and the Ideas of them. (Locke, Essay, Book II, Chap. XII, 1700/1975, 162 f.)

So wurde Beobachtung mit Erfahrung, geometrische Darstellung mit Berechenbarkeit assoziiert und damit die Einheit von Sehen und Wissen bewahrt, selbst dann noch, als Sehen nicht mehr als schlichte retinale Projektion \ die Repräsentation von Wissen nicht mehr als einfaches Abbild der Wirklichkeit in der Dunkelkammer des uninstruierten Geistes aufgefaßt wurde. Was mit den eigenen Augen gesehen (oder gelesen) wurde, war allemal sicherer als die Kenntnis vom Hörensagen. Mit der Beschreibung der Möglichkeiten und Grenzen visuell gewonnener Erkenntnis hatten die Philosophen ihre eigene Methode der Wissensaneignung theoretisch abgesichert und damit die Voraussetzungen für 1

"Une Pyramide se présente à ma Vue: les rayons réfléchis par tous les points de la surface de l'Objet entrent dans mon Œil, traversent ses humeurs, en sont rompus s'il tombent obliquement, & vont peindre sur ma Rétine une très-petite image, une miniature parfaite, qui est celle de la grande Pyramide que j'ai sous les yeux.

U

J e puis donc comparer mon Œil à une Chambre obscure. Les Humeurs de l'Œil en sont les verres; la rétine est le carton qui reçoit l'image. Mais, est-ce en qualité de Chambre obscure que mon Œil fait naître dans mon Ame la perception très-claire d'une Pyramide? [...] J e sais certainement que la chose ne se passe point ainsi [...]." (Bonnet, Méditations sur l'origine des sensations et sur l'union de l'ame et du corps. Œuvres, 1783, 18, 208 f.)

5. Der Taubstumme

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die Etablierung der kühlen, genauen Beobachtung und des kontrollierten Experiments 1 als Formen wissenschaftlichen Erkenntisgewinns geschaffen. Die Entfernung der getrübten Linse durch den geschickten Chirurgen bedeutete auch für sie mehr Klarheit. Die Molyneux-Locke-Hypothese und das Experiment von Cheselden hatten aber auch ihren Preis, denn die Absicherung der visuellen Wahrnehmung war nur durch den Rekurs auf andere Sinne möglich. So war es nur eine Frage der Zeit, wann das Defizit in der Erforschung anderer Sinnesorgane und Sinneswahrnehmungen die Beantwortung der Frage 'Was ist der Mensch' ernsthaft behinderte. An frühen Anregungen, sich nicht nur auf die Augen 7xl beschränken, hatte es nicht gefehlt. Im Jahre 1700, dem gleichen Jahr, in dem Dodart in der Pariser Akademie seine erste Abhandlung über die menschliche Stimme vortrug, eröffneten die 'Mémoires' eine neue Rubrik 'Acoustique'. In der zusammenfassenden Darstellung des Vorschlags Sauveurs zur Bestimmung des absoluten Tons" und der Intervalle (1701) schrieb der Sekretär der Académie: Cette matière pourroit être poussée beaucoup plus loin, elle est aussi féconde que nouvelle 1...] Que ne devroit-on point aux spéculations des Philosophes, si elles venoient à donner d'aussi grands secours au Sens de l'Oüie, que ceux qu'elles ont donnés à la Vüe? (Hist. Ac. Se., 1701, 138)

Der erhoffte Beistand ließ bis zur Jahrhundertmitte auf sich warten, es brauchte seine Zeit, bis die anfangs gestellten Fragen ausreichend bearbeitet, der Blindgeborene der Molyneux-Locke-Hypothese und Cheseldens, die Statue Condillacs und Bonnets soweit ausgedeutet und ausgebeutet waren, daß sie keine weiteren Aufschlüsse mehr versprachen. Diderots 'Lettre sur les aveugles' war nicht nur der glänzende Abschluß der Anstrengungen, die Verläßlichkeit des Sehens wiederherzustellen und es zugleich als Methode wissenschaftlicher Forschung zu etablieren, sondern enthielt schon die Ankündigung einer die zweite Jahrhunderthälfte prägenden Verschiebung der Aufmerksamkeit auf die Sprache: In explorativem Dialog konstituierte sich die neue Methode der Aneignung von Wissen und zugleich der neue Gegenstand. Mit der Analyse des Zusammenhangs von Sprachform und Denkform in der 'Lettre sur les sourds et muets' setzte Diderot gleich den ersten, wesentlichen Akzent für die weitere Diskussion. Nicht alle kamen mit dieser Verschiebung zurecht und versuchten, die inzwischen bewährte Methode des analytischen Blicks und der adäquaten Modellierung des Gegenstands als Figur auch auf Objekte anzuwenden,

4 5

'Expérience' bedeutete zugleich Erfahrung und Experiment. Veröffentlicht in der Histoire de l'Académie, 1700, 131 - 140. S. auch Teil II, Kap. 5.1.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

die sich üblicherweise dem Blick entziehen. Ein instruktives Beispiel ist Charles Bonnets 'Essai analytique sur les facultés de l'âme' (1760), der die Erkenntnismöglichkeiten eines allein mit dem Geruchssinn versehenen sensorischen Torsos mit dem Vokabular der Augenwahrnehmung zu beschreiben versuchte. Offrons successivement à chaque sens, & ensuite à différens sens à la fois, les Objets propres à les affecter: voyons ce qui doit résulter de ces impressions: suivons, pour ainsi dire, à l'œil le développement de l'ame de cet Homme [...]. (Bonnet, 1760, 8) 6 Dort, wo sich die Phänomene außerhalb der Reichweite der Augen befinden, endet die Analyse, [...] les yeux du Corps n'atteignent pas à une Méchanique si éloignée de leur portée, & les yeux de l'Esprit ne percent pas ici fort au delà de ceux du Corps. (Bonnet, 1760, 42) Bonnets Blick war nicht etwa in die Ferne gerichtet, als er an die Grenzen der Beobachtung erinnerte, sondern nach innen, wo sich die Veränderung in der Beschaffenheit der Nervenfasern durch die Einwirkung der Objekte oder der Seele (also afferente und efferente Prozesse) unsichtbar, aber doch merklich vollzog. In besonderer Weise waren Sprechen und Hören dieser Beobachtungsbeschränkung unterworfen: Zwar waren die Sprachzeichen sichtbar, sobald sie geschrieben waren, aber die Segmentierung das Sprachlauts bereitete schon mehr Probleme, ganz zu schweigen von den Vorgängen bei der Phonation und Artikulation oder gar beim Hören. Eine Theorie der akustischen Wahrnehmung von Schall, Musik und Sprache war, wie seinerzeit die Theorie des Sehens, auf Resultate einer Physiologie der akustischen Zeichenerzeugung und -Wahrnehmung angewiesen, sofern sie nicht als reine Metaphysik gescholten werden wollte. Nach den Arbeiten zur Akustik durch Sauveur und Carré in den beiden ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts waren es vor allem Euler, d'Alembert, Rameau und Haller, die bis zur Jahrhundertmitte das Terrain vorbereitet hatten. 7 Es lag durchaus in der Entwicklungslogik der wissenschaftlichen Methode, sich nach dem Blinden an einem Taubstummen zu versuchen, doch dies konnte nicht auf eine schlichte Übertragung der Molyneux-LockeHypothese auf einen Taubgeborenen, auf ein Experiment, das ihm die Ohren öffnete, hinauslaufen. Dazu waren die Unterschiede zwischen einem Blind- und einem Taubgeborenen zu offensichtlich.

'' 1

Gerade gegen diese Tendenz wandte sich später Mendelssohn in der 'Bildsäule', s. o., Kap. 3.5. S. Teil II, Kap. 3 und Kap. 4.

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Größtes Hindernis und Quelle hartnäckiger Irrtümer war die fehlende oder eingeschränkte Möglichkeit, sich mit Taubstummen überhaupt zu verständigen, einer der wenigen, dem es durch eine gedankliche Modellierung des Taubstummen gelang, daraus einen Erkenntnisgewinn zu ziehen, war Diderot. Die klassische Medizin hatte die Stummheit als physiologische Folge einer Schädigung der mit dem für die Mundbewegung verantwortlichen Gesichtsnerven vermeintlich zusammenfallenden Hörnerven erklärt, doch selbst innerhalb dieses Erklärungsrahmens gab es schon zu Beginn des 17. Jahrhunderts Autoren, die den Taubstummen ganz anders beurteilten als die für den Bericht über den Taubstummen von Chartres verantwortlichen Theologen. 8 André du Laurens, der in leichter Abwandlung der Theorie Galens meinte, die chorda tympani bewege als ein vermeintlicher Seitenast des Gehörnervs die Zunge, machte allein die Läsion der entsprechenden Nerven dafür verantwortlich, daß die Menschen in ihrer Stummheit verharren müßten. An den mentalen Fähigkeiten fehle es ihnen also nicht. ' Könnte man ihnen die Zunge lösen, würden sie sich in gleicher Weise die Sprache zu eigen machen. Du Laurens billigte den Taubstummen die potentiell gleichen intellektuellen Fähigkeiten wie den Normalsinnigen zu. Eine strikt organische Erklärung der Stummheit im Verein mit einer rationalistischen Auffassung vom Denken ließ daran nicht zweifeln. Erst als beide Doktrinen ins Wanken gerieten, wurde Raum geschaffen für eine entwicklungsbezogene Verknüpfung von Sprechen und Denken, die den Taubstummen erst einmal zum Tier in Menschengestalt deklassierte, um ihn dann zum Menschen erziehen zu können. An zwei Belegen aus dem 17. Jhd. möchte ich zeigen, wie schwierig es war, das Aristotelische Erbe zu überwinden. Erste gut dokumentierte Therapien von Taubstummen sind aus dieser Zeit von spanischen Geistlichen überliefert, die sich an Kindern meist adeliger Familien versuchten.10 Der spanische Taubstummenlehrer Ponce de Leon, dessen Arbeit über Carrion u.a. im 18. Jahrhundert rezipiert wurde, bemühte sich, die verschiedenen ideologischen Vorgaben in Einklang zu bringen. " 9

10

Vgl. dazu Werner 1932 und die neuere Arbeit von Stichnoth 1985. "Vulgare enim illud non probo, ideo obmutescere surdos, quia idioma addiscere nullum potuerunt et quia auditus est sensus disciplinae (...). Annon ut primi verum inventores verba et dictiones fingerent, quibus animi sensa et conceptus exprimerent, si eas proferre possent? Hominem quantumvis surdum ratione ad inventionem armavit Natura." (du Laurens, De mira aurium et palatis, linguae ac laryngis sympatica (1600), zit. nach Werner 1932, 57) Zu der ganz unterschiedlichen sozialhistorischen Einbettung der Erziehung spanischer Aristokratenkinder durch Benediktinermönche wie Ponce de León und der klösterlichen Gebärdensprache (Zisterzienser, Trappisten) und zu den typologischen Unterschieden zwischen CSL (Cistercian Sign Language) und ASL vgl. Stokoe 1987.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

[...] a u n q u e a mi p a r e e r y juicio e s gran error d e Aristotiles y de Plinio s i e n d o tan e x c e l e n t e s f i l o s o p h o s [...] testefiar y de?ir, q u e d e n u n c a oir ni a b e r o i d o l o s h o m b r e s d e e n f e r m e d a d e s , q u e c o b r a s e n s i e n d o n i ñ o s p e r d i e n d o el oir, b i e n e n a ser m u d o s y n o hablar; p o r q u e si e s t o ansi f u e s e , d a r í a m o s verdadera la o p p i n i o n d e a l g u n o s filosophos, q u e han t e n i d o q u e el h a b l a r e s artificio a d q u e r i d a y apredida c o m o las otras artes e q u e n o p u d i e n d o oir n o p o d i a d e p r e n d e r s e y q u e ansi" q u e d a b a n l o s h o m b r e s m u d o s ; p o r q u e a q u e s t o

es

error y falso. P u e s el hablar e s c o s a natural e n los h o m b r e s s e g ú n la c o m m u n e s c u e l a d e t o d o s l o s f i l o s o p h o s [...]. (Lasso, Tratado legal [...], ed. L o p e z - N u ñ e z , 33, zit. n a c h W e r n e r 1 9 3 2 , 1 4 1 ) " D e r T h e o l o g e Anton Deusing antwortete unmittelbar auf das von

du Laurens

in s e i n e r Schrift ' F a s c i c u l u s d i s s e r t a t i o n u m

Argument selectarum'

(1660): D i e Fähigkeit zu s p r e c h e n , w o d u r c h d i e I d e e n durch b e s t i m m t e vermittels d e r S t i m m e a u s g e d r ü c k t e Zeichen erläutert w e r d e n k ö n n e n , ist d e m a n g e b o r e n , a b e r d i e einzelnen

Menschen

N a m e n d e r D i n g e u n d damit d i e

Sprachen

selbst o d e r die e i n z e l n e n I d i o m e b e s t e h e n nicht v o n Natur aus, s o n d e r n w e r d e n d u r c h Unterweisung, Ü b u n g u n d G e w o h n h e i t g e s c h a f f e n . 1 2 Daraus müsse geschlossen werden, daß Taubgeborene auch dann, ihre

S p r a c h o r g a n e nicht geschädigt sind, aufgrund

ihrer

Taubheit

wenn nicht

s p r e c h e n lernen konnten. Selbst n a c h d e m d i e medizinische F e h l d i a g n o s e deutlich e r k a n n t

wor-

d e n w a r u n d d i e S p r a c h l o s i g k e i t als p s y c h o s o z i a l e F o l g e d e r T a u b h e i t d i a g n o s t i z i e r t w u r d e l 1 , ä n d e r t e sich w e n i g a n d e m P r o b l e m , d a ß S p r a c h - u n d

" 12

Zu Ponce de Leon vgl. auch Emmerig 1926. "[...] ipsam quidem sermonicinandi facultatem, qua nempe per signa quaecumque vocibus elata, animi conceptus declarari queant, homini essentialem esse at rerum nomina adeoque linguas ipsas seu idiomata sermonum non esse a natura, sed doctrina exercitio ac consuetudine hauriri." (Deusing 1660. Übersetzung und lat. Originaltext nach Werner 1932, 62).' "Mais la parole, qui est une voix significative, exprimant les conceptions de l'ame raisonnable procede totalement d'une science ou discipline, laquelle on comprend par le moyen de l'ouye. Tellement qu'il est impossible, que un sourd de naissance, persévérant en sa surdité, sçache iamais parler: combien que sa langue, & les autres parties à ce ordonnées, soyent tresbien composées & ordonnées, de sorte qu'il n'y ait rien à désirer." (L. Joubert, La première et seconde partie des erreurs populaires, touchant la medecine & le regime de santé, [Bordeaux 11558], Rouen l601, 2, 213.). Vgl. auch Montaigne in einem Kommentar zu Lukrez: "Si on m'allegue [..], que les sourds naturels ne parlent point, je respons que ce n'est pas seulement pour n'avoir peu recevoir l'instruction de la parolle par les oreilles, mais plustost pour c e que le sens de l'ouye, duquel ils sont privez, se rapporte à celuy du parler et se tiennent ensemble d'une cousture naturelle: en façon que ce que nous parlons, il faut que nous le parlons premièrement à nous et que nous le facions sonner au dedans à nos oreilles, avant que de l'envoyer aux estrangeres." (Montaigne, Essais, Livre II, chap. XII, O.C., 1, 504)

5. Der Taubstumme

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Gehörlosigkeit gemeinsam auftraten und eine Evaluation eines der beiden Leiden erschwerten. Versuche, Taubstummen operativ oder durch mechanische wie chemische Behandlung die Ohren zu öffnen, hatten sich als ebenso erfolglos erwiesen wie die noch blutigere Praxis, ihnen das Zungenbändchen zu durchtrennen. Die 'Objekte' von Sprechen und Hören waren von ganz anderer Beschaffenheit als Dreieck, Kubus und Kugel, waren als Sprachlaute weder sichtbar noch fühlbar, weder geometrisch darstellbar noch quantifizierbar; als Schriftzeichen waren sie für die Taubstummen zwar sichtbar, doch diese mochten zunächst nicht einsehen, warum sie sie als Repräsentationen von etwas ansehen sollten, das sie überhaupt nicht wahrnehmen konnten. Das Formproblem verwies auf die Notwendigkeit, mentale Vorgänge in die Analyse mit einzubeziehen. Die an der visuellen Wahrnehmung entwickelte handliche Vorstellung, Sinneseindrücke würden sich als wie auch immer modifizierte Abbilder im Gehirn wiederfinden, also räumliche Konfigurationen erzeugen, paßte nicht sonderlich gut auf das Hören, das zwar auch mit oszillierender Materie zu tun hatte, die sich aber nicht als räumliche, sondern zeitliche Ordnung präsentierte. Die Sukzession der Höreindrücke (wie auch der visuellen Eindrücke beim Lesen) konnte nur durch das komplexere Modell der Nervenassoziationen abgebildet werden. Es war mühselig, durch die verschiedenen Repräsentationsebenen unmittelbar zu den physikalischen Objekten (Schallwellen) und der Physiologie ihrer Wahrnehmung vorzudringen, was Berkeley zu dem kühnen Schluß brachte, wir hörten etwas völlig anderes, als wir zu hören meinten. Ein letzter Punkt: Sprechen und Hören war das allen vertraute Exempel für (langwieriges) Lernen. Wann immer auf Lernprozesse verwiesen wurde, kam Sprache ins Spiel, wie bei Voltaire, der in seiner 'Philosophie de Newton' meinte, man müsse genauso sehen wie sprechen lernen. Sprache bedeutete immer auch Zeit, denn diese bestimme ihre innere Ordnung, Hören, Sprechen und Schreiben, und sei doch zugleich flüchtig. Damit ist der Fall eines plötzlich Sprechenden ausgeschlossen. Der Übergang vom gehörlosen Stummen zum gehörlosen Sprecher ist langwierig, und taub bleibt er allemal. Und selbst wenn ein Gehörloser unvermutet zum Hörenden wird - wie der Taubstumme zu Chartres - , versteht man ihn nicht.

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Teil I, 5- Der Taubstumme

5.1. Der Taubstumme von Chartres - ein Mißverständnis mit später Wirkung Die Geschichte der Gehörlosen ist ein ausgesprochen auffallendes Beispiel für die Unfähigkeit des Menschen, über die Grenzen seiner eigenen theoretischen Meinungen hinauszuschauen. (H. G. Furth, 1972)

Die 'Lettre sur les sourds et muets' erschien 1751, zwei Jahre nach der 'Lettre sur les aveugles' und fünf Jahre nach Condillacs 'Essai sur l'origine des connaissances humaines'. Zwischen 1747 und 1751 aber hatte der Taubstummenlehrer Pereire seine Kunst der Öffentlichkeit angepriesen und 1749 in seinem Schüler Azy d'Etavigny der Académie des Sciences einen ehemals Taubstummen präsentiert, der zur Überraschung seiner Zuhörer nicht nur artikuliert sprechen, sondern auch religiöse Texte deklamieren konnte. Vor allem schien er zu begreifen, was er sagte und sein Publikum verstand ihn.14 Zwei Jahre später wurde dann der 12jährige Saboureux de Fontenay vorgestellt, dem Pereire erfolgreich das Vaterunser auf Latein beigebracht hatte." Wenn auch Condillacs Bearbeitung des Taubstummenthemas Diderots 'Lettre' von 1751 unverkennbar beeinflußte, so darf doch nicht übersehen werden, daß sich Diderot auf neue Beobachtungen beziehen konnte, die in einem entscheidenden Punkt diametral entgegengesetzte Schlüsse zuließen. 16 Die Notiz Fontenelles von 1703 hatte schon Christian Wolff Argumente für seine Auffassung vom Zusammenhang der Zeichenverwendung mit der Abstraktionsfähigkeit geliefert und mit eben dieser Auffas-

14

In diesem Zeitraum erschienen zahlreiche Artikel von Pereire, so die 'Observation remarquable sur deux enfants sourds et muets d e naissance à qui l'on a appris à articuler des sons' (Journal des Sçavans, vol. 142, Dez. 1747, 513 - 520), im 'Mercure d e France' das 'Mémoire sur l'instruction d'un sourd et muet, qu'il a présenté à l'Académie Royale des Sciences' (August 1749, 141 -159), ferner Hinweise u n d Berichte über Pereire u.a. in Buffons 'Histoire naturelle de l'Homme', in den 'Nouvelles Littéraires de France' (1748 1752), in der 'Histoire de l'Académie des Sciences' (1749, 183) und in den Greifswalder 'Kritischen Nachrichten' (1750). Zu Einzelheiten vgl. auch Lane 1988, 114 und Séguin 1847.

15

Vgl. Philip/Lane 1984, 14. Vgl. Ricken im Vorwort zur deutschen Übersetzung des 'Essai' (1746/1977, 37 f.) und H. Dieckmann, der in seiner Rezension von Meyers Edition der 'Lettre' hervorhebt, daß der Taubstumme v o n Chartres einer früheren Periode angehöre als Diderots 'Fälle'. (Dieckmann 1967, 381)

16

5.1. Der Taubstumme von Chartes

189

sung setzte sich Condillac in seinem Kommentar zum Fall von Chartres auseinander. 17 Der Taubstumme der 'Lettres sur les sourds et muets' erschien dagegen in einem ganz anderen Licht. Mit seiner Hilfe versuchte Diderot, der von vielen geteilten Auffassung Wolfis den Garaus zu machen - und das macht die Frage interessant, wie weit Condillac Wolff noch gefolgt war und ob der von den Theologen als bloß tierisches Wesen identifizierte Mensch von 1703 immer noch die historische Vorlage für den Helden Diderots abgeben konnte - oder ob es einer von Pereires Kandidaten war. Condillac mußte sich auf den inzwischen über vier Jahrzehnte zurückliegenden Fall des Taubstummen von Chartres beziehen, um eine 'Bestätigung' für seine Theorie vom Zusammenhang von Zeichengebung und Verstandesoperationen zu finden. Für wie wichtig er Félibiens Bericht und die Schlußfolgerungen Fontenelles hielt, läßt sich daran erkennen, daß er den Text von 1703 in voller Länge zu Beginn des zweiten Kapitels der vierten Sektion wiedergab. Neben der Ausdeutung durch Wolff dürfte vor allem der Schlußsatz im Bericht über den Taubstummen von Chartres Condillac bewogen haben, ihn im 'Essai' zu kommentieren. Ce n'est pas qu'il n'eût naturellement de l'esprit, mais l'esprit d'un homme privé du commerce des autres est si peu exercé, & si peu cultivé, qu'il ne pense qu'autant qu'il y est indispensablement forcé par les objets exterieurs. Le plus grand fonds des idées des hommes est dans leur commerce réciproque. (Hist. Acad. Se., 1703, 19)

„Es wäre wünschenswert gewesen, diesen jungen Mann über die wenigen Ideen zu befragen, die er hatte, als er noch nicht sprechen konnte", begann Condillac seinen Kommentar zu dem Bericht, „über die ersten, die er erwarb, nachdem er hören konnte, [...], in einem Wort über alles, was einen Anstoß zur Ausbildung seines Geistes geben konnte." (Condillac, Essai, 1746/1977, 151) Die beteiligten Theologen hätten sich in die Irre führen lassen, weil sie die Erfahrungen, die der junge Mann aus Chartres gemacht habe, mit seiner Natur verwechselt hätten. Condillac blieb nichts weiter übrig, als sich in die Lage des Taubstummen zu versetzen und Mutmaßungen anzustellen, wie es ihm während seiner dreiundzwanzig stummen Jahre ergangen sei. Wie weiland Christian Wolff sah ihn auch Condillac den Eindrücken der Außenwelt ausgeliefert, seine Kenntnisse habe er nicht durch bewußt auf die Gegenstände gerichtete Aufmerksamkeit erworben, sondern deren unterschiedlich starke Impressionen hätten ihn geformt. Zugleich aber - und damit deutete Condillac auf eine bemerkenswerte Inkonsistenz des Es war also nicht allein die Vorsicht, die Condillac zum Text der Akademieschriften greifen ließ, sondern der ganz selbstverständliche Bezug auf die klassische Vorlage, die in ihrer Wirkung freilich nicht ganz mit dem Cheselden-Experiment vergleichbar ist.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

Berichts — sei der Mann unter Menschen aufgewachsen „und erhielt von ihnen einige Hilfe, die ihn verschiedene seiner Ideen mit Zeichen verknüpfen ließ." (Condillac, Essai, 1746/1977, 151) Der abschließende Satz Fontenelles hatte einen Vergleich des Taubstummen mit dem in den Wäldern Litauens aufgewachsenen 'Wildkind' suggeriert, das isoliert von jeder menschlichen Gemeinschaft, allein auf seine tierische Natur verwiesen, aufgewachsen war. Condillac vermutete ganz richtig, daß es eine sprachliche Verständigung zwischen dem Taubstummen und seinen Eltern und Nachbarn gegeben haben müsse, mit Hilfe von Gesten habe er die Befriedigung seiner unmittelbaren Bedürfnisse gesichert. Getreu der im 'Essai' ausgearbeiteten Zeichentheorie seien aber Gebärden an die Präsenz der Dinge gebunden, auf die sie hindeuteten; zunächst verknüpfe sich „die Perzeption eines Bedürfnisses [...] mit derjenigen eines Gegenstandes, der dazu gedient hatte, es zu befriedigen" (Condillac, Essai, 1746/1977, 187), danach werde durch körperliche Bewegung das Verlangen nach diesem Gegenstand ausgedrückt. Gebärden wurden also als Körperdeixis interpretiert, der die wesentlichen Eigenschaften von Sprachzeichen fehlten: Repräsentativität, um sie vom unmittelbaren sinnlichen Anlaß zu lösen, und Arbitrarität, um sie in eine Form zu bringen, in der sie erinnerbar und kommunizierbar waren. Ohne Verwendung der Wörter sei ein Nach-Denken, eine Ausbildung des Gedächtnisses, nicht m ö g l i c h . D e r Taubstumme habe also 23 Jahre lang in mehr oder weniger tiefer Lethargie verharrt, in seinem schmalen Vorrat von Vorstellungen habe sich keine gefunden, die ihn aus seinem Dämmerzustand gerissen habe. Wenn hier die Ausübung dieser ersten Operationen so eingeschränkt war, wieviel mehr muß das für die anderen gelten? Da er unfähig war, die von den Sinnen vermittelten Ideen exakt zu bestimmen, konnte jener junge Mann weder durch die Zusammensetzung noch durch die Zerlegung der Ideen sich Begriffe nach seiner Wahl bilden. Da er nicht über hinreichend bequeme Zeichen für den Vergleich seiner vertrautesten Ideen verfügte, kam es selten vor, daß er Urteile bildete. Es ist sogar wahrscheinlich, daß er während der ersten dreiundzwanzig Jahre seines Lebens nicht eine einzige Schlußfolgerung [raisonnement] vorgenommen hat. (Condillac, Essai, 1746/1977, 152 f.)

Soweit hielt sich Condillac an Wolffs Vorgabe, "sine vocum usu ratiocinari nequimus" (Wolff 1755b, 16), wenn auch seine Formulierungen weniger apodiktisch waren. Dem Taubstummen fehlten 'Konjunktionen und Partikel', um Redeteile in Beziehung zu setzen, denn Gebärden hätten - wie Das vermeintlich fehlende Gedächtnis machte den Taubstummen zum denkbar schlechten Kandidaten für die Frage,- wie es ihm denn vor der Sprachwerdung ergangen sei (er hätte konsequenterweise antworten müssen, davon wisse er nichts oder daran könne er sich nicht erinnern). Zur Frage des Zusammenhangs von Sprachverwendung und Gedächtnis s. auch unten, Teil I, Kap. 5-3-4.

5.1. Der Taubstumme von Chartres

191

Condillac meinte - keine Grammatik, weshalb jener Unglückliche aus dem Vergleich seiner Vorstellungen nicht das habe machen können, was möglich gewesen wäre." Dennoch, behauptete Condillac, „wir sehen bei diesem jungen Mann einige schwache Spuren der Seelenoperationen." (Condillac, Essai, 1746/ 1977, 154) Was hatte der Philosoph, den Text Fontenelles vor Augen, sehen können? Als imaginärer Beobachter jener Szene, in der die Theologen den Mann nach den höheren Wahrheiten der Religion, nach seiner Vorstellung vom Tod fragten, hatte er erfahren, daß der Proband nicht wußte, was der Tod sei und auch niemals daran gedacht habe, weil er völlig mit denjenigen Vorstellungen beschäftigt gewesen sei, 'die ihm die Augen vermittelten'. Wenn es auch anscheinend genügte, „zu existieren und sich selbst zu fühlen, um zu wissen, was Leben ist", so fehlte ihm doch die rechte Vorstellung davon, weil er „nicht deutlich wußte, was der Tod ist." (Condillac, Essai, 1746/1977, 153) Einmal abgesehen von der unbehaglichen Boshaftigkeit der Theologie, das Leben vom Tod her zu betrachten, beginnen die Konturen des Theoriegebäudes Condillacs unscharf zu werden. Der Mann ohne Gedächtnis lasse sichtbare, wenn auch schwache Spuren geistiger Tätigkeit erkennen, er habe unterschiedliche Wahrnehmungen gehabt, selten, aber immerhin geurteilt, habe nicht nur gelebt, sondern auch gewußt, was Leben sei und was der Tod wirklich ist, das weiß nur jemand, der ihn erlebt hat. Was aber hatte denn nun die Hilfe seiner Mitmenschen, die ihn Zeichen mit Vorstellungen verknüpfen ließ, bewirkt? Perzeption, Bewußtsein, Aufmerksamkeit, Erinnerung und noch ungebändigte Einbildungskraft einmal beiseite gelassen, [...] würde man keinerlei Spur der anderen Seelenoperationen in jemandem finden, der allen Verkehrs mit den Menschen beraubt gewesen wäre und der mit gesunden, wohl ausgebildeten Organen zum Beispiel unter Bären aufgewachsen wäre. (Condillac, Essai, 1746/1977, 154)

Übergangslos verlegte Condillac den Schauplatz von Chartres in die litauischen Wälder, vom taubstummen Kind katholischer Eltern zum etwa zehnjährigen, normalsinnigen Gefährten von Pflanzenfressern. Es machte keine Mühe, den Zustand dieses Wald- oder Wildkindes zu erklären. Nach den Berichten sei es auf allen Vieren gelaufen und habe unverständliche Laute von sich gegeben. Ohne Gedächtnis, ohne Zeichen, ohne Reflexion reagierte es nur instinktiv auf die Umwelt, würde es die Bären nachahmen. 20 19

20

Vgl. aber Condillacs späteren Kommentar zu den 'signes méthodiques' des Taubstummenlehrers de l'Épée, s. u., 289/• Über diesen litauischen 'Menschenbären' stellte auch Herder in seiner Ursprungsschrift allerlei Mutmaßungen an.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

Wir neigen so sehr zur Nachahmung, daß vielleicht sogar ein Descartes an der Stelle eines solchen Menschen nicht einmal versuchen würde, aufrecht zu gehen. (Condillac, Essai, 1746/1977, 154)

Die Nachahmung war ein Schlüsselbegriff für Condillacs Theorie der Entwicklung von Sprache überhaupt wie des individuellen Sprechens. Im Falle des Taubstummen jedoch erwies er sich als nur bedingt brauchbar, denn dem Gehörlosen war die Nachahmung des Tönenden versagt. Das 'Lernspiel' mußte sich auf wechselseitige Nachahmung von Gebärden beschränken. Diese Gebärden spräche unterschied sich ganz eindeutig von dem, was der Taubstumme seinen Eltern während des regelmäßigen Kirchgangs abgeschaut hatte: Diese Gesten waren nach dem Urteil der Theologen leer, ohne Bedeutung für ihn. Das Dilemma Condillacs bestand darin, die Gebärden des Taubstummen als Verständigungsmittel und als Form der inneren Repräsentation zu akzeptieren, sie aber nicht als solche Sprachzeichen gelten zu lassen, die Abstraktion, Generalisierung, Kombinatorik und Schlußfolgerung ermöglichten. Die einfache Lösung, wie sie Diderot einige Jahre später anbot, war Condillac deshalb wohl nicht in den Sinn gekommen, weil sich der historische Taubstumme von Chartres innerhalb des Dreiecks Descartes, Locke und Wolff zu einem reinen Gedankenmodell verflüchtigte, das gut genug war, Hypothesen zu testen und weil ihn ein wirklicher Taubstummer nicht eines besseren belehren konnte. Condillacs doppelte Beweisführung hatte folgende Struktur: Das normalsinnige Wildkind verharrte in einem tierischen Zustand, weil es von Menschen isoliert aufgewachsen war und bestenfalls durch Nachahmung lernen konnte, wie sich litauische Bären äußerten und fortbewegten, nicht aber sprechen und denken. Der Taubstumme blieb in seinem dumpfen Zustand, weil er nicht hören und deshalb nicht lernen konnte, wie andere Menschen zu sprechen und zu denken. Das Wildkind habe bloß über zufällige Zeichen (signes accidentels) verfügen können, der Taubstumme über natürliche Zeichen. Allein die konventionellen Zeichen aber lassen das Gedächtnis sich entfalten, lösen das Denken aus den Fesseln der Anschauung und überführen Perzeptionen in Urteile, machen die 'Verwandlung der Erscheinungen in ihre Ursache' möglich - und konventionelle Zeichen entstehen nur im sozialen Verkehr. Der blinde Fleck in Condillacs Argumentation entstand durch die Identifikation der Gebärdensprache des Taubstummen mit den 'signes naturels' des 'langage d'action' als einer frühen Stufe der Sprachentwicklung. Wie sich Condillac diese Phase vorstellte, beschrieb er im zweiten Teil des 'Essai'. Um ungestört von etwaigen Hinweisen auf theologische Doktrinen seine Ansicht von der Sprachgenese entfalten zu können, verlegte er den Beginn erster sprachlicher Entwicklungsschritte in die (historische) Zeit nach der Sintflut.

5.1. Der Taubstumme von Chartres

193

Zwei in der-Wüste umherirrende Kinder entwickelten als Minimalpaar durch verschiedene Stadien hindurch miteinander eine Form artikulierter Verständigung. Zunächst begannen sie, die mit verschiedenen Leidenschaften verbundenen Laute als 'natürliche Zeichen' Für jene unterschiedlichen Empfindungen anzusehen, die die Ursache dieser Seelenzustände waren. Für gewöhnlich begleiteten sie diese mit einigen Bewegungen, einigen Gesten oder Handlungen, deren Ausdruck noch sinnfälliger war. Wer zum Beispiel darunter litt, daß ihm ein Gegenstand fehlte, den seine Bedürfnisse erforderten, begnügte sich nicht damit, Rufe auszustoßen; er unternahm Anstrengungen, um diesen Gegenstand zu erlangen, er bewegte den Kopf, die Arme und alle Teile seines Körpers. (Condillac, Essai, 1746/1977, 188)

Aus diesem Stadium der Verwendung 'natürlicher Zeichen' gliederten sich nach und nach die Lautzeichen als arbiträre aus. Als das Paar ein Kind in die Welt setzte, dessen Zunge sich durch außerordentliche Flexibilität auszeichnete, hatten die Eltern große Mühe, dessen ungewohnte Artikulationen zu verstehen und bevorzugten die ihnen sicherer erscheinende Gebärdensprache. Die damals so natürliche Gebärdensprache war ein großes Hindernis, das man überwinden mußte. Konnte man diese Sprache aufgeben zugunsten einer anderen, deren Vorteile man noch nicht erkannte und deren Schwierigkeit so sehr zu spüren war? (Condillac, Essai, 1746/1977, 190)

Einer der Vorteile sei, wie Wolff in der 'Solutio' von 1707 ausführlich beschrieben hatte, daß der Verstand, wenn er den Grund des Unterschieds der Begriffe erkannt habe, durch beliebige Festlegungen viele Folgerungen ersinnen könne. 21 Diese Abhängigkeit des Raisonnements von der sprachlichen Differenzierung des Wahrgenommenen durch willkürliche Lautzeichen wurde von Condillac ganz ähnlich beurteilt, mit Verweis auf eine spätere Darstellung des Problems in Wolfis 'Psychologia rationalis' kritisierte er sogar, dieser habe die „absolute Notwendigkeit der Zeichen nicht erkannt [...]." (Condillac, Essai, 1746/1977, 159) Wolff ging es jedoch mehr darum, nachzuweisen, daß Schlußfolgerungen nicht nur auf Abstraktion von Sinnesdaten, sondern auch auf beliebige Kombinationen von Begriffen gegründet werden könnten. Gerade Algebra und Geometrie böten mit ihren Zahlen und Buchstaben den besten Beleg dafür, daß es vieles im Denken gebe, das nicht zuvor über die Sinne aufgenommen worden sei - 'multa esse in intellectu, quae non fuerunt in sensu.' Bisher war Condillac Wolff weitgehend gefolgt, doch zu erwarten, daß er die mentalistische Interpretation der Fälle des Taubstummen und des "[...] mentem, fundamento differentiae notionum animadverso, per determinationes arbitrarias multa rationum genera comminisci." (Wolff 1755b, 13 f.)

194

Teil 1 , 5 . Der Taubstumme

Waldkindes teilte, hieße, von ihm zu erwarten, daß er eine der sensualistischen Grundüberzeugungen verriete. Tatsächlich ließ auch Condillac die Zahlen nicht aus, doch nutzte er deren unbestrittenen Vorzug der Exaktheit, um sie gegen Wolffs Quintessenz in Anschlag zu bringen. Zahlzeichen waren für den französischen Philosophen der Ausweg aus der Schwierigkeit, die in der behaupteten Gemeinsamkeit von sprachlicher und intellektueller Entwicklung lag: Wenn Vorstellungen allein durch Sprachzeichen fixiert würden, "notiones non per abstractionem, super perceptionibus reflectendo, sed per arbitrariam combinationem [formantur]" (Wolff 1755b, 13), dann „laufen unsere Gedanken und Schlußfolgerungen in Gefahr, sich oft nur um Worte zu drehen, was uns in zahlreiche Irrtümer führen muß." (Condillac, Essai, 1746/1977, 158) Eine exakte Analyse der mit jedem Zeichen verbundenen einfachen Vorstellungen schütze vor solchen Irrtümern, „die Gefahr der Täuschung [sei] nicht größer als für die Mathematiker, wenn sie sich ihrer Ziffern [chiffres] bedienen." (Condillac, Essai, 1746/1977, 158) Dieser negativen Heuristik der algebraischen Zeichen stellte er später eine positive an die Seite - und diese entwickelte er im 'Traité des sensations' bezeichnenderweise nicht etwa an Wolff, sondern an Locke, dem er unterstellte, sich nicht ganz sicher über die Notwendigkeit der Zeichen für die Vorstellung von Zahlwerten, also der Ziffern, gewesen zu sein. Sans les signes, dit-il, avec lesquels nous distinguons chaqué collection d'unités, ä peine pouvons-nous faire usage des nombres, surtout dans les combinaisons fort composées. (Condillac 1798/1970, 153)22 Locke hatte sich im 'Essay' (2. Buch, Kap. 16 'Of number') über das Zählen Gedanken gemacht. Alles Zählen, so Locke, bestehe im Addieren einer Einheit zu einer bestehenden und der Benennung der Summe als neue Einheit. Diese verschiedenen Namen, die Zahlbezeichnungen wie 'eins', 'zwei' etc., sind diskret und in mehr oder weniger begrenzter Menge vorhanden. Es könne also nur soviel Zahlenvorstellungen geben, wie Numeralia existieren, diese seien also als Zeichen für jede unterschiedliche Zahlenwertkombination notwendiger als es für andere, nicht-numerische Vorstellungen der Fall sei. For without such Names or Marks, we can hardly well make use of Numbers in reckoning, especially where the Combination is made up of a great multitude of Unities, which put together without a Name or Mark, to distinguish that precise Collection, will hardly be kept from being a heap in Confusion. (Locke, Essay, 1700/1975, 207)

Da hier der genaue Wortlaut der Paraphrase Condillacs wichtig ist, zitiere ich den Originaltext.

5.1. Der Taubstumme von Chartres

195

Die Abhängigkeit des Zählens von geeigneten Zahlwörtern und die konkurrierende Repräsentation der Zahlenwelte durch Ziffern demonstrierte Locke an folgender Zusammenstellung: Nonilions. Octilions. Septilions. Sextilions. Quintilions. Trilions. Bilions. Milions. Unites 857324

162486

437916

432147

248106

235421 261734 368149 623137

(Locke, Essay, 1700/1975, 2 0 7 ) 2 5

Condillac bezog Lockes Bemerkung über die Zahl Wörter auf die Ziffern, was im Hinblick auf Wolffs Argument, die algebraischen und geometrischen Charaktere erlaubten rein abstrakte Denkoperationen, nicht ohne Bedeutung war: Lockes Zahlwörter waren immer an Vorstellungen von numerischen Einheiten gebunden, Wolffs mathematische Zeichen von dieser Bindung frei. Beide redeten über recht verschiedene Dinge. Condillacs Kritik am Engländer unterstellt diesem, er hätte die Notwendigkeit der Darstellung komplexer Zahlenwerte verneint und damit grundsätzlich die Möglichkeit eingeräumt, intellektuelle Operationen ohne Zeichen vorzunehmen. Es gehört recht wenig dazu, u m selbst die größten G e n i e s in ihrem Fortschritt aufzuhalten. Wie man s o e b e n g e s e h e n hat, genügt hierfür ein kleines Versehen, das dem G e n i e in d e m Augenblick unterläuft, w o es die Wahrheit verteidigt. Das ist es, w a s L o c k e gehindert hat, zu e n t d e c k e n , w i e notwendig die Z e i c h e n für die Ausübung von S e e l e n o p e r a t i o n e n

sind. (Condillac,

Essai,

1 7 4 6 / 1 9 7 7 , 159)

Welche 'Wahrheit' Locke hier auch immer verteidigt haben mochte, gegen die Theorie von der nicht-empirischen Natur mathematischer Zeichen war sie nicht gerichtet und auch nicht zu verwenden. Wolffs Schlußfolgerung aus der vermeintlich gemeinsamen Prämisse - ohne Zeichengebrauch sei kein Gebrauch der Ratio gegeben - nämlich: Zeichenkonstitution und -kombinatorik befreiten Denkoperationen vom sinnlichen Substrat, ließen reines Denken zum Vorschein kommen, war so jedenfalls nicht in Zweifel gezogen. Wolffs Vergleich des Taubstummen und des Wildkindes mit einem Schlummernden, der sich nach dem Erwachen nicht daran erinnern könnte, was er im Schlafe gedacht habe, deutet, wie schon anfangs dargestellt 2\ darauf hin, daß er beiden von vornherein eine Ratio zugestand, diese aber mangels Zeichengebrauch nicht aktiviert worden sei. So kamen die beiden Vertreter sehr unterschiedlicher Auffassung über die Genese des Denkens zu ganz ähnlichen Urteilen über den Taubstummen, der, als vernunftbegabtes Tier, sich nach Wolff nicht erinnern konnte, je gedacht zu haben und der nie nachgedacht haben konnte, weil es ihm am Ge-

23

24

857324162486437916432147248106235421261734368149623137 ? Vgl. auch Maimon, lieber symbolische Erkenntnis und philosophische Sprache, 1790. S.o., 9, Fußnote 15.

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Teil I, 5. Der Taubstumme

brauch arbiträrer Zeichen mangelte. Dieser Mangel war auch der Grund für Condillac, ihm als sinnlich wahrnehmendem Wesen, das sich nie über das Stadium der instinktiven Lebenssicherung und einer situationsgebundenen Gebärdensprache erhob, die Fähigkeit, nachzudenken, abzusprechen, denn für Condillac waren die Gebärden des Taubstummen keine konventionellen Zeichen. Für dieses Wesen, das schon zu Beginn des Jahrhunderts von 'geschickten Theologen' so zugerichtet worden war, daß es gleich mehreren Generationen zum Modell dienen konnte 2\ begann die posthume Karriere erst wirklich, als es als Beleg für Condillacs These herhalten mußte, wie notwendig der gesellschaftliche Umgang für die Sprachentwicklung der Menschheit insgesamt wie jedes einzelnen Menschens sei (damit war auch die Entwicklung des menschlichen Denkens an diese Voraussetzung gebunden). 26 Die historische Bedeutung dieses späten Kommentars zu dem Bericht von 1703 liegt darin, daß er bis ins 19. Jahrhundert hinein zur theoretischen Grundlage der Taubstummeninstruktion in Europa wurde.

5.2. Die sprechenden Gehörlosen des J. R. Pereire In der Augustnummer des 'Mercure de France' von 1749 wurde die von Jacob Rodriguez Pereire in der Akademiesitzung vom 11. Juni vorgetragene Abhandlung veröffentlicht und damit einem breiteren Publikum bekannt. Pereire hatte schon der Akademie von Caën seine Kunst demonstriert und dort seinen gelehrigen taubstummen Schüler präsentiert, den jungen Azy d'Etavigny. Ihn hatte er auch zur Pariser Vorstellung mitgebracht. Der Artikel im 'Mercure' ist aufschlußreich, nicht nur deshalb, weil er den Bericht Pereires ausführlich dokumentierte und kommentierte, sondern in einem Auszug aus den 'registres' der Académie die Meinungen der versammelten Wissenschaftler zu der Präsentation Pereires wiedergab. Die Darstellung Pereires soll hier nicht auf ihren Wahrheitsgehalt, vielmehr auf ihre mögliche Ausstrahlung auf die Taubstummendebatte überprüft werden. Le jeune Sourd & muet prononce distinctement, quoique très lentement encore, les lettres, les syllabes, les mots, soit qu'on les lui écrive, soit qu'on les lui 21

26

Auch Johann Peter Süßmilch nahm sich des Falles 1766 nochmals an; in England wurde er durch P. Templeman (1753) und im gleichen Jahr vom 'London Magazine' publiziert. (Angaben nach Seigel 1969, 101) Er war damit auch alles andere als ein 'Ärgernis' für diejenigen, die Sprache als die den Menschen auszeichnende Eigenschaft ansahen, wie Lane (1988, 115) etwas kurzschlüssig behauptet.

5.2. Die sprechenden Gehörlosen des J.R.Pereire

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indique par signes. [...] Il demande, par le moyen de la langue, les choses dont il a besoin journellement. Il recite par cœur le Décalogue [...]. En grammaire, il donne l'article convenable à chaque nom [...]. (Mercure de France, 1749, 142 f.)

Azy d'Etavigny war also der genaue Gegenentwurf zu Condillacs gerade erst wieder aktualisiertem Taubstummen von Chartres. Dank der Instruktion eines geschickten Lehrers benutzte er nicht irgendwelche Gebärden als Sprachersatz, sondern verfügte über eine artikulierte Sprache, über Gedächtnis, grammatische Kenntnisse und wußte vielleicht sogar, was die zehn Gebote bedeuteten. Er kannte, so das Mémoire Pereires, sogar die Regeln der französischen Orthographie, der Konjugation und Rektion. Die Verständigung mit ihm hatte freilich durch die Gehörlosigkeit des jungen Schülers einige Besonderheiten, "soit qu'on lui parle par écrit ou par l'alphabet manuel dont son Maître se sert envers lui." (Mercure de France, 1749, 1 4 2 )

Der 'Mercure' kommentierte diese außerordentliche Leistung folgendermaßen: On voit par le contenu de ce Mémoire, que les vues de Pereire sur l'instruction des sourds & muets s'étendent à leur apprendre non seulement à prononcer tous les mots de la langue Françoise, (ou de toute autre Langue, pourvû qu'il ait apprise lui-même auparavant,) mais encore, ce qui en est l'essentiel, à comprendre le sens de ces mots, & à produire d'eux-mêmes, tant verbalement que par écrit, toutes leurs pensées comme les autres hommes*, c e qui les rendra capables d'apprendre & de pratiquer comme eux quelque art ou quelque science que ce soit, si l'on excepte seulement, à l'égard de la pratique, les choses pour lesquelles l'oüie est indispensablement nécessaire. (Mercure de France, 1749, 147 ff.)

Und als wenn dies noch nicht deutlich genug wäre, wurde zu der mit Asterisk bezeichneten Stelle angemerkt: Il y a une très-grande différence (laquelle est beaucoup plus considérable chez les muets que dans les autres hommes,) entre sçavoir prononcer, & comprendre ce qu'on sçait prononcer [...]. (Mercure de France, 1749, 148)

So paradox es klingen mag, dieser so ganz andere Taubstumme, der, im Gegensatz zu seinem Vorgänger aus Chartres, auch nach wie vor nicht hören konnte, paßte sich in den von Condillac vorgegeben theoretischen Rahmen ein, und dies gleich so perfekt, daß die Vermutung nicht ganz unbegründet erscheint, Pereire habe seinen Bericht in Kenntnis des 'Essai' auf den Punkt hin formuliert. Dem Bericht zufolge seien nämlich die beiden von Condillac als essentiell für die Entwicklung von Denken und Sprechen angesehenen Bedingungen hinreichend erfüllt gewesen — der enge gesellschaftliche Umgang mit anderen Menschen und der Gebrauch von Lautsprache. Das Journal zog daraus den praktischen Schluß, daß dieser Mensch damit für handwerkliche Tätigkeiten, ja selbst für die Gelehr-

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Teil I, 5- Der Taubstumme

samkeit tauglich sei - ein Gedanke, der bald immer häufiger als Argument zugunsten einer von der Gesellschaft getragenen Unterweisung von Taubstummen vorgetragen wurde. Das Gutachten der Akademiemitglieder de Mairan27, Buffon und Ferrein 28 vom 9- Juli 1749 bestätigte im wesentlichen die Angaben Pereires, machte einige Einschränkungen über die Artikulationsfähigkeit von Azy d'Etavigny und die von ihm praktizierte Methode des Lippenlesens und kam schließlich zu dem Resultat: Nous jugeons donc que l'art d'apprendre à lire & à parler aux muets, tel que M. Pereire le pratique, est extrêmement ingénieux; que son usage interesse beaucoup le bien public, & qu'on ne scauroit trop encourager M. Pereire à le cultiver & à le perfectionner. Au reste il nous paroît qu'il n'a rien exageré dans son Mémoire. (Mercure de France, 1749, 158 f.)

Pereire hatte offensichtlich eine Mischung aller bekannten Methoden der Taubstummeninstruktion angewandt: Handalphabet29, Lippenlesen und normales Lesen30 - der Taubstumme beherrschte also mehr oder weniger Laut- und Schriftsprache, die er beide optisch wahrzunehmen gelernt hatte 31, von einer systematischen Unterweisung in einer irgendwie gearteten Gebärdensprache war nicht die Rede. Sie tauchte, wenn ich den Text richtig lese, nur in einem allerdings sehr charakteristischen Zusammenhang auf. Das Lippenlesen, so hatte Pereire eingeräumt, machte vor allem dann Schwierigkeiten, wenn sich Fremde mit dem Taubstummen unterhalten wollten, "il faudra, pour se faire entendre aux muets, avoir souvent recourir à l'écriture ou aux signes ordinaires." (Mercure de France, 1749, 159) Nicht also der Taubstumme war auf die Gebärdensprache verwiesen, sondern der Normalsinnige, der - wenn z.B. gerade kein Schreibgerät vorhanden war - in Unkenntnis des Handalphabets und der für das Lippenlesen notwendigen genauen und langsamen Artikulation sich mit gewöhnlichen, pantomimischen Gesten behelfen mußte. Am 27. Januar 1751 präsentierte Pereire seinen neuen Schüler Saboureux vor der Akademie. Auch diesmal fiel der Bericht sehr günstig aus. Harlan Lane behauptet nun, Saboureux sei der taubstumme 'Freund', von

Der zeitweise Sekretär der Akademie, d e Mairan, war 1737 mit einer längeren Abhandlung 'Sur la propagation du son dans les différents tons' hervorgetreten. Ferrein hatte mit seinem Mémoire 'De la formation de la voix de l'homme' ( 1 7 4 1 ) eine weithin beachtere Theorie der menschlichen Stimmgebung publiziert. (S. Teil II, Kap. 3-2) Die historischen Vorgaben lieferten u.a. J . Bulwer: Chirologia or t h e natural language o f the hand, London 1644 und J . P. B o n e t , Reducción de las letras, Madrid 1620. Diese beiden Methoden fanden sich beschrieben bei J . C. Amman, Dissertatio de loquela, Amsterdam 1700. Zu Amman s. ausführlicher Teil I, Kap. 6.1.1

und Teil II, Kap. 4.3-

Weitere Berichte über die Fähigkeiten dieses Pereire-Schülers finden sich bei Lane 1988, 116-118.

5.2. Die sprechenden Gehörlosen des J.R.Pereire

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dem Diderot in seiner 'Lettre sur les sourds et muets' geschrieben habe. 12 Diese Hypothese, wenn sie denn stimmte, würde bedeuten, daß Diderot keinen fiktiven Taubstummen auftreten ließ, sondern ihn nach einem realen Vorbild, jenem Fontenay de Saboureux, modellierte, daß die philosophischen Dialoge womöglich auf tatsächliche Unterhaltungen - in welcher Sprache sie auch immer stattgefunden haben mochten - zurückgingen. Gegen diese zweifellos reizvolle Hypothese sprechen jedoch zunächst einige Fakten. Saboureux kam nach seinen eigenen Angaben im September 1749 nach Paris - als Diderot noch im Château von Vincennes festgehalten wurde M — und lernte dort mit Hilfe des Handalphabets Französisch zu verstehen und zu artikulieren: Eventually overcoming with patience and persistence the tedium and difficulty of the study which at first set me trembling, I began to understand and repeat French, and by grasping the intellectual, abstract, and general ideas designated by words, sentences, and turns of phrase, I gave u p the idea that it was impossible for the congenitally deaf to become as knowledgeable, educated, capable of reasoning and thinking as others [...]. The manner by which I achieved an understanding of language and of various topics is nothing other than a continual repetition of the same words, phrases, and ways of speaking [...]. (Saboureux nach Philip/Lane 1984, 22)

Die Lernfortschritte müssen so gewaltig gewesen sein, daß es Pereire wagte, ihn Anfang 1751 vor der Akademie auftreten zu lassen, doch hätten sie ausgereicht, Diderot zu bewegen, ihm solch scharfsinnige Äußerungen zuzuschreiben, wie sie der Taubstumme der 'Lettres' an den Tag legte? Die 'Lettre sur les sourds et muets' erschien am 12. Januar 1751, zwei Wochen bevor Fontenay de Saboureux in das Licht der Öffentlichkeit trat. Lane (1988, 120) bezieht sich auf eine Bemerkung in der 'Lettre à Mademoiselle ***' [Mlle de La Chaux], eine wenige Monate nach Erscheinen der 'Lettre sur les sourds et muets' entstandene Nachschrift, in der Diderot einige Erläuterungen zur 'Lettre' gab. "Je vous avoue que je ne suis pas en état de répondre aux questions que vous me proposez sur les sourds & muets de naissance. Il faudrait recourir au muet, mon ancien ami; ou, ce qui vaudrait encore mieux, consulter M. Pereire." (Diderot 1965, 95) Pommier (1951) verweist in diesem Zusammenhang auf den Titel eines verlorenen Textes, der sich als 'Observations d'un sourd et muet' in einem von Dieckmann gefundenen Verzeichnis findet. Eine Schrift gleichen Namens ist allerdings 1779 von Desloges erschienen. Der gehörlose Desloges setzte sich darin mit der Kritik des Abbé Deschamps an der Gebärdensprache auseinander. Sie soll, wie Lane schreibt, seinen Helden Laurent Clerc in seiner Überzeugung bestärkt haben, daß sich in der Gebärdensprache, wenn sie in der Gesellschaft anderer Taubstummen erworben werde, auch die abstraktesten Gedanken ausdrücken ließen. (Lane 1988, 27 f.) Wie dem auch sei, Diderot jedenfalls konnte sich auf diesen Text nicht bezogen haben. Meyer nun knüpft an Pommiers Hinweis die Vermutung, die von Diderot weiter unten (233) beschriebene Schach-Episode habe sich wahrscheinlich im Café de la Regence zugetragen. Mir scheint sie aus den gleichen Gründen unhaltbar wie auch Lanes suggestive Deutung. Diderot kam am 3. Nov. 1949 frei.

200

Teil I, 5. Der Taubstumme

Aber selbst wenn Diderot den jungen Saboureux in der kurzen Zeit zwischen der Entlassung aus der Haft und der Publikation der 'Lettre' kennengelernt haben sollte, so zeigt schon ein oberflächlicher Blick in den Text, daß Pereires Vorführungen von 1749 zwar möglicherweise in ähnlicher Weise den Anlaß für die 'Lettre sur les sourds et muets' abgaben wie zwei Jahre zuvor Reaumurs etwas obskure Wiederholung des Cheselden-Experiments für die 'Lettre sur les aveugles', Pereires Schüler d'Etavigny und Fontenay aber auf keinen Fall dem Helden Diderots unmittelbar Modell gestanden haben konnten. Vielmehr war es, so meine These, nach wie vor der Taubstumme aus Chartres, der Taubstumme Fontenelles, Wolffs und Condillacs, der jetzt gegen seine philosophischen Väter und damit auch indirekt gegen den Oralisten34 Pereire aufgeboten wurde.

5.3. Diderot: Gedankenfiguren - Sprachfiguren Condillac hatte den Zusammenhang von Denken und Sprache vom Anfang her aufgerollt und im Taubstummen ein frühes Entwicklungsstadium der Sprache verkörpert sehen wollen. Diderot näherte sich dem Thema vom anderen Ende, vom zeitgenössischen Zustand der französischen Sprache her und versuchte sich in Projektionen auf frühere Stadien. Meine Lektüre der 'Lettre sur les sourd et muets' wird sich in diesem Kapitel darauf beschränken, die mit dem Zusammenhang von Denken und Sprache verbundenen zeichentheoretischen, epistemologischen und methodologischen Fragen sichtbar zu machen.35 Damit sind die Themen noch keineswegs erschöpft. Der Brief über die Taubstummen war, wie auch der vorangehende über die Blinden, tatsächlich eine Zäsur in der Jahrhundertmitte, wie d'Alembert sie verspürte - freilich in anderer Form, als sie das Erscheinen des ersten Bandes der 'Encyclopédie' markierte.36 Jede der beiden 'Lettres' nahm den Faden einer Debatte wieder auf, die durch Condillac abschließend bearbeitet schien, doch nicht, um die schon etwas angestaubten Helden, den Blinden und den Taubstummen, erneut in fruchtlose Paradigmenschlachten zu schicken. Diderot setzte die alten Figuren ein, um den Debatten eine neue Wendung zu geben. Die ParadoAls Oralisten werden die Befürworter einer 'Entstummung' der Gehörlosen bezeichnet. Durch Lese- und Artikulationsübungen sollte eine mündliche Verständigung mit der sprechenden Gesellschaft ermöglicht werden. Zur historischen Entwicklung des Streits zwischen Oralisten und den Anhängern der Gebärdensprache vgl. die in den letzten Jahren erschienenen Darstellungen von Cuxac 1983, Lane 1985 (dort vor allem das Kapitel 'Die große Zeichenkontroverse') und Lane 1988. Weitere Hinweise in Teil I, Kap. 6. Die ästhetischen und wahrnehmungspsychologischen Aspekte habe ich schon im Kontext der ausführlichen Darstellung zum Farbenklavier behandelt. 36

Vgl. dazu Dieckmann 1972, 12 - 114.

5.3. Diderot: Gedankenfiguren - Sprachfiguren

201

xie beider 'Lettres' liegt nicht so sehr, wie es auf den ersten Blick scheint, im Verhältnis von Titel und Untertitel, sondern in der thematischen Verschränkung beider Schriften: Der Brief für die Sehenden handelte auch - ohne daß dies auf den ersten Blick so recht erkennbar ist - vom Verhältnis von innerer Anschauung und sprachlichem Begriff und den Möglichkeiten, diese paradigmatische Achse auf der lexikalischen Ebene metaphorisch zu verschieben; im Brief an die Hörenden und Sprechenden ging es um die Abbildungsrelation von realer, mentaler und sprachlicher Ordnung, um den ästhetischen Ausdruck syntagmatischer Beziehungen in malerischen, musikalischen und poetischen Visualisierungen. Während die 'Encyclopédie' mit der doppelten Struktur von alphabetischer Folge und einem dichten Netz von Querverweisen zwei unterschiedliche Lesweisen zuließ (die beide ihren Reiz haben), hatte Diderot in den beiden Briefen von 1749 und 1751 eine fast enzyklopädische thematische Vielfalt17 zu einer sehr komplexen Struktur verdichtet, die dem nahe kam, was er in der Bachschen Kunst der Fuge so schätzte - ein 'hiéroglyphe musical', dessen Lektüre er dringend empfahl. w Im Taubstummenbrief entwickelte Diderot eine 'ricercata', in der das Thema - analoge vs. inverse Abbildung nach der Exposition in verschiedenen Transpositionen durchgeführt wurde: Als Gebärde, Gemälde, Gedicht, musikalische Komposition, durchsetzt mit kurzen Zwischensätzen zum Farbenklavier, zur darstellenden Kunst, zum mechanischen Spielwerk, zur Literaturgeschichte; immer wieder jedoch nahm Diderot das Eingangsthema auf, als Übersetzung, Anapher und Deixis, Harmonie und Hieroglyphik. In der Antwort auf Einwände, die in einem Artikel der Aprilnummer des 'Journal de Trévoux' erhoben wurden, brachte Diderot die thematische Struktur der 'Lettre sur les sourds et muets' in thesenhafte Listenform,

37

w

Was Herder zu dem etwas giftigen Kommentar in der zweiten Fassung seiner Ursprungsschrift veranlaßte, Diderot sei nicht auf die „Hauptmaterie gekommen, da er sich nur bei Inversionen und hundert andern Kleinigkeiten aufhält". (Herder, Abhandlung, 60) Welches die Hauptmaterie hätte sein müssen, ist weiter unten in Teil I, Kap. 6 zu erfahren. Vgl. das Vorwort von Jean Mayer in Diderot, Musique, 1983, XI. Im Gegensatz zu den älteren und neueren Kommentaren - Raynal hielt die Arbeiten Diderots für unfertig (Correspondance littéraire, philosophique et critique. II, 32. Paris 1877 - 1882) und mit ähnlicher Tendenz Mortier ("un ouvrage à peu près illisible" in Mortier 1961) - sieht Georges May in seiner Einleitung zur kritischen Ausgabe des Textes durch Hugo Meyer einen tieferen Sinn in der vermeintlichen Unordnung: "La multitude et la diversité des idées qui y tourbillonnent sont telles que Diderot a dû renoncer à les arranger de manière ordnonnéé, - à supposer qu'il en ait jamains eu l'intention. Mais ce désordre même est le signe de l'ivresse et du vertige auxquels il se laisse aller avec volupté durant 'l'intervalle de beau temps' qu'il accorde comme une récréation bien méritée et compensatrice de la lourde tâche encyclopédique. Et, au fond, ce désordre est peut-être d'une signification plus profonde [...]." (May in Diderot 1965, XVI)

202

Teil I, 5. Der Taubstumme

als ironische Anwort auf den Vorwurf, die 'Lettre' sei für den normalen Leser nicht verständlich: Je n'ai point écrit pour le commun des lecteurs [...]. J'ai dit moi-même: 'Le titre de ma lettre est équivoque. Il convient indistinctement au grand nombre de ceux qui parlent sans entendre; au petit nombre de ceux qui entendent sans parler, & au très-petit nombre de ceux qui savent parler et entendre, quoique ma lettre ne soit proprement qu'à l'usage de ces derniers.' 1 ' Et je pourrais ajouter sur le suffrage des connoisseurs, que, si quelque bon esprit se demande, après m'avoir lu: 'Quels traits de lumière & d'érudition ces considérations ontelles laissés à leur suite?' rien n'empêchera qu'il ne se réponde: 'On m'a fait voir:* 1". Comment le langage oratoire a pu se former. [...]' (Diderot 1965, 104)

Es folgte die Liste von 18 Punkten, an deren Ende Diderot seinen imaginären gutwilligen Leser ausrufen ließ: 'Voilà,' [...], 'ce que des considérations abstraites ont amené; voilà les traces qu'elles ont laissées à leur suite'; & c'est quelque chose. (Diderot 1965, 10)

Der folgende Versuch, einige Linien herauszuarbeiten, läuft ebenfalls Gefahr, die 'Lettre' auf die Dimensionen einer 'Linie', einer Antwort auf Condillac zu verkürzen und ihr damit einen Großteil des Reizes zu nehmen; ihr kann eigentlich nur durch die Lektüre des Diderotschen Textes selbst begegnet werden. Ich baue auch ein wenig auf Spuren, die die Lektüre der vorangehenden Kapitel hinterlassen haben könnte.

5-3 -1- Anatomie métaphysique oder Analyse der natürlichen Ordnung der Gedanken A présent que je vous écris, je n'ai point d'arbre présent; cependant j'en ai l'image. (Diderot zu Hemsterhuis)

Seine Absicht sei es gewesen, den Menschen zu zerlegen, um auf diese Weise betrachten zu können, was jeden einzelnen Sinn ausmache. Diese Vorliebe für die Methode der Anatomie métaphysique hatte Diderot mit seinem Freund Condillac gemein, neben der biographischen Notiz Rousseaus, die drei hätten regelmäßig zusammen diniert, ein weiterer Hinweis auf den damals sehr engen Zusammenhang zwischen dem Autor des 'Essai' und dem der anonym erschienenen beiden 'Lettre'.40 Vgl. die entsprechende Passage in der die Schrift begleitenden 'Lettre ä Monsieur ***' vom 20. Januar 1751. (Diderot 1965, 37)

5.3.1- Anatomie métapysique

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Diderot stellte den 'Essai' Condillacs auf den Kopf, griff ihn vom Ende her auf, kam von den Zeichen und Gedanken zu den Sinnen, allerdings nicht auf der elementaren E b e n e der sinnlichen Wahrnehmung naturbelassener oder geometrischer Objekte, den 'Materialien unserer Erkenntnisse', wie das erste Kapitel des 'Essai' überschrieben war, sondern zur ästhetischen Materialität von Musik, Malerei und Poesie. Zu Beginn der 'Lettre' wurden zwei Aspekte verbunden, die Condillac in den letzten beiden Sektionen des 'Essai' kritisch aufgegriffen hatte: Die 'natürliche Wortfolge' und die Methode und Sprache der Philosophie. Dort hatte Condillac noch einmal bekräftigt, [...] daß die Analyse als die Methode, die man in der Erforschung der Wahrheit anzuwenden hat, auch die richtige Methode für die Darlegung der Entdeckungen ist, die man gemacht hat. (Condillac, Essai, 1746/1977, 309) Diderot griff nun Condillacs Kritik an jenen Philosophen auf, die Begriffe w i e das Sein, die Substanz, das Wesen auf Realitäten anwendeten, von denen sie keine Vorstellung hätten (Condillac, Essai, 1746 /1977, 2 8 7 ) und nahm sich dessen vorsichtiger Kritik an der Doktrin der 'natürlichen Wortfolge' als Begründung für den Vorzug des Französischen als Wissenschaftssprache an. Er ließ den Sprachgebrauch der zeitgenössischen Philosophie als Endprodukt einer im Zeitraffer vorgestellten Sprachentwicklung erscheinen, die mit der B e n e n n u n g sinnlich wahrnehmbarer Qualitäten begonnen, sich mit deren Absonderung und Verallgemeinerung fortgesetzt und in einer Reifikation der Abstraktionen geendet habe. [...] on a formé les noms métaphysiques & généraux, & presque tous les substantifs. Peu ä peu, on s'est accoutumée ä croire que ees noms représentoient des étres réels. [...] Qu'on vous demande ce que c'est qu'un corps, vous répondrez que c'est une substance étendue, impénétrable, figurée, coloree & mobile. (Diderot 1965, 42) Entferne man jedoch hier alle Adjektive, was bliebe für dieses imaginäre Etwas namens Substanz? "

Wie einflußreich dieser methodische Ansatz für die Ideologen war, wird aus einer Bemerkung Cabanis' deutlich: "La vraie Métaphysique est en un mot la Science des méthodes; méthodes qu'elle fonde sur la connaissance des facultés de l'homme, et qu'elle approprie à la nature des différens objets." (Cabanis, Lettre sur un passage de la 'Décade Philosophique' et en général sur la perfectibilité de l'esprit humain, in: Cabanis, Œuvres philosophiques, éd. Lehec/Cazeneuve, 2, 514). Vgl. auch das 'Système figuré des connaissances humaines' im ersten Band der 'Encyclopédie'. Padley (1976, 37) weist darauf hin, daß die Ansicht, allein Adjektive drückten die qualitas der Dinge aus, auf eine mißverständliche Übernahme der klassischen grammatischen Unterscheidung von substantia und qualitas für die logische Distinktion von Substanz (Fortsetzung nächste Seite)

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Würden die einzelnen Teile dieser Definition jedoch nach der natürlichen Reihenfolge angeordnet, wie sie in die Sinne fielen, so müsse es heißen: "colorée, figurée, étendue, Impénétrable, mobile, substance." (Diderot 1965, 42) Zunächst falle die Form, Farbe und Ausdehnung von Körpern ins Auge, der Tastsinn entdecke die Festigkeit, Gesicht und Gefühl gemeinsam die Beweglichkeit. Das alles mache dann insgesamt den festen Gegenstand aus. Die Adjektive als Bezeichnungen für die sinnlich wahrnehmbaren Qualitäten seien die ersten nach der natürlichen Ordnung der Gedanken, für einen Philosophen jedoch, der Abstraktionen für Realitäten ansehe, rangierten nach der wissenschaftlichen Ordnung zu allererst die Substantive. Die philosophische, die wissenschaftliche Ordnung der Gedanken stelle also die natürliche auf den Kopf.42 und Akzidenz bei Grammatikern des 17. Jahrhunderts zurückgehe. Für Diderot freilich ist dies kein Mißverständnis, sondern ein Prozeß der schleichenden Sinnentleerung philosophischer Begriffe, wie es sich trefflich an einem der Hauptbegriffe der Metaphysik, eben der Substanz selbst, demonstrieren läßt. Dies war kein Streit um Worte. Diderot und Condillac plauderten über diese Frage mit Hingabe, selbst beim Essen, wie aus einer Mitschrift eines ihrer Tischgespräche im 'Panier fleuri' hervorgeht: Clondillac]: Dessert und Käse? Dliderot]: Käse und Dessert! C : Wie? Wollen Sie nun auch noch die Ordnung des Essens umstürzen? Der Käse kommt nach dem Dessert! D : Zum Teufel mit der alten Ordnung! Ich habe nie verstanden, wie der Geschmack des Süßen dem des Käses vorausgehen sollte, um ihm dann im Kaffee wieder zu folgen. Der Käse gehört nicht ans Ende. - Doch was erlebe ich? Man serviert Süßes nach dem Gemüse und alle Welt glaubt, das Essen sei damit beendet. Und dann reicht man den Käse. Die Damen verziehen das Gesicht... C : Damen essen nicht! D : ...und die Männer nehmen kaum etwas davon, nicht einmal Käseliebhaber. Hinweg mit dieser Speisefolge, die weder vernünftig noch natürlich ist! C : Warum dann nicht gleich den ganzen Käse streichen? D : 'Un dessert sans fromage est une belle à qui manque un œil.' [Rabelais, Le quart livre des faicts et dicts héroïques du bon Pantagruel. Chap. LX: Comment, es jours maigres entrelardez, à leur Dieu sacrifioient les Gastrolatres] C : Schön. Sie haben es aber eben selbst gesagt: 'Un dessert sans fromage...' Ihre Worte verraten Sie, mein Freund, 'fromage' kommt nach 'dessert'! D : Sie verwechseln die Ordnung der Wörter mit der Grammatik. Wenn ich sage: 'dessert sans fromage', dann ist 'dessert' die Hauptsache und 'sans fromage' das Attribut. 'Sans fromage' ergibt keinen Satz, 'dessert' hingegen durchaus. C : Versteh' ich nicht. D : Versuchen Sie doch mal, 'sans fromage' zu bestellen. C : Aber Sie haben mir doch neulich erst erklärt, die französische Sprache sei die natürlichste aller Sprachen? D : Gewiß doch. C : Und daß die Sprache die Ordnung der Dinge abbildet? D : Richtig.

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5.3-1. Anatomie métaphysique

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Condillac hatte im 'Essai' das genaue Gegenteil behauptet, als er die Genese der sprachlichen Formen beschrieb. Anfangs habe man komplexe Substanzen (z.B. 'Baum') benannt, hieß es im Kapitel 'Über die Wörter', dann, nach Maßgabe ihrer Analyse, ihre Teilaspekte ('Stamm', 'Zweig', 'Blatt') und schließlich „aber nur allmählich, die verschiedenen sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften der Gegenstände" unterschieden. (Condillac, Essai, 1 7 4 6 / 1 9 7 7 , 2 3 4 ) « C : Dann bildet also die französische Sprache unter allen Sprachen die Ordnung der Dinge aufs Natürlichste ab? D : So muß es wohl sein C : Dann verstehe ich nicht, wie Sie einerseits sagen können, 'der Käse am Ende... D : 'Käse' steht am Anfang des Satzes... C : ...verstoße gegen die Vernunft und die Natur' und andererseits 'Un dessert sans fromage...'??? D :Sie müssen unterscheiden zwischen der natürlichen Ordnung der Dinge und der institutionellen Ordnung der Dinge. C : Ah! D : Der Satz 'Un dessert sans fromage...' gehört zur institutionellen Ordnung der Dinge, wie die Sprache, in der er gesprochen wird und wie die Küche, die er beschreibt. Wenn ich als Philosoph über das Essen spreche, benutze ich die philosophische, die wissenschaftliche Sprache. C: - ? D : Warten Sie ab! Wir Philosophen reden häufig über Dinge, die es gar nicht gibt. Das Dessert kann es ohne Käse ebensowenig geben wie - Sie erinnern sich an den Vergleich - eine einäugige Schöne. Eine contradictio in adiecto. Ein Dessert ohne Käse ist undenkbar. Und wir setzen das Undenkbare an den Anfang des Satzes, um von vornherein klar zu machen, daß es sich um einen philosophischen Diskurs und nicht um den Text einer Speisekarte handelt. Die Speisekarte ordnet die Dinge nach dem Geschmack der Gastrosophen. C : Dann ist die Philosophie eine Inversion des guten Geschmacks! D : Nein, ganz und gar nicht! Sie verwechseln 'gut' mit 'natürlich'... [...] (Entretien de M. de Condillac avec M. Diderot, La métaphysique du gôut ou le gôut de la métaphysique à l'usage de ceux qui n'ont ni lu ni entendu parler de l'un ou de l'autre, par M. Fédéric, zit. nach Gessinger 1984, 74 - 76) Zur abendländischen Tradition dieses Textgenres vgl. die kenntnisreiche Studie von Grafton 1990. Noch deutlicher wird dieser Gegensatz im Kapitel 'Entendement' der 'Éléments de Physiologie' beschrieben: "Il y a dans la nature des liaisons entre les objets et entre les parties d'un objet. Cette liaison est nécessaire. Elle entraine une liaison ou une succession nécessaire de sons correspondants à la succession nécessaire des choses aperçues, senties, vues, flairées, ou touchées. Par exemple, on voit un arbre, et le mot arbre est inventé. On ne voit point un arbre sans voir immédiatement et très constament ensemble des branches, des feuilles, des fleurs, une ecorce, des noeuds, un tronc, des racines, et voila qu'aussitôt que le mot arbre est inventé, d'autres signes s'inventent, s'enchainent et s'ordonnent." (Diderot, Éléments, 1964, 233 f.) Zu Maupertuis' Variante dieses Themas in den 'Réflexions' vgl. Aarsleff 1982, 178 - 182. Moritz weist auf die Bedeutung der Kopula hin: „Sie sagen also Z.B. der Baum - grün: aber nun haben Sie noch nicht geredet, sondern bloß zweierlei benannt, und dasjenige, was Sie gesagt haben, ist unverständlich, (Fortsetzung nächste Seite)

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Wenn Condillac dennoch die Überzeugung in Zweifel zog, die französische Sprache ordne die Redeteile nach der natürlichen Folge der Gedanken, meinte er mit 'natürlich' tatsächlich die sinnliche Wahrnehmung oder den spontanen körperlichen Ausdruck, mit 'Inversion' die Relation von sinnlich-mentaler Ordnung und Wortfolge? [...] wir d e n k e n uns, die natürliche Reihenfolge verlange, d a ß man das Subjekt, von d e m m a n spricht, zu erkennen gibt, b e v o r man anzeigt, was man darüber b e h a u p t e t [...) Wir sahen aber [...], d a ß b e i der Entstehung der Sprachen die natürlichste Satzkonstruktion eine ganz a n d e r e Reihenfolge verlangte. (Condillac, Essai, 1 7 4 6 / 1 9 7 7 , 2 5 3 )

In der aus der Gebärdensprache abgeleiteten 'natürlichen' Folge werde erst auf das Objekt der Begierde gezeigt, dann eine aktive Handlung als Ausdruck des Gemütszustandes vorgenommen, dann das Substantiv nachgestellt, weil es nicht zwischen Objekt und Verb treten durfte; „man sagte fruit vouloir Pierre, um auszudrücken Pierre veut du fruit, und erstere Konstruktion war damals nicht weniger natürlich, als die andere es heute ist. Das beweist die lateinische Sprache, in der beide Konstruktionen gleichermaßen zulässig sind." (Condillac, Essai, 1 7 4 6 / 1 9 7 7 , 2 3 6 ) Der Begriff natürlich war hier ein anderer als der apriorische der rationalistischen Grammatik, unterschied sich aber auch von dem Diderots, der ihn, wie ich noch zeigen werde, aus einer Naturgeschichte der Zeichen ableitete. 'Natürlich' meinte bei Condillac die jeweils verschiedene Projektion eines aus der Verknüpfung verschiedener Vorstellungen entstandenen gedanklichen Gesamtbilds auf die lineare Folge der Redeteile, wobei die jeweilige Gedankenperspektive die Reihenfolge bestimmte. Die beiden Ausdrücke 'Alexander vicit Darium' und 'Darium vicit Alexander' seien äquivalent, weil in ihnen die Subordination verschiedener 'Bindungen' (liaisons) zwischen Subjekt, Verb und Objekt in gleicher Weise vorhanden sei. Generell sei die Bindung zwischen Subjekt und Verb, Verb und Objekt enger als zwischen Subjekt und Objekt, letztere sei also den beiden ersten untergeordnet. Es genüge, sich nur an die engste Bindung zu halten und unter diesem Aspekt seien beide Konstruktionen gleichwertig. Man täuscht sich in dieser Hinsicht nur deshalb, weil man eine Reihenfolge für natürlich hält, die nichts anderes ist als eine G e w o h n h e i t , die wir auf Grund des Charakters unserer Sprache a n g e n o m m e n haben. (Condillac, Essai, 1 7 4 6 / 1977, 2 5 5 )

weil kein Zusammenhang darinn ist: die Beschaffenheit grün kann man sich wohl an den Baum hinandenken, allein man weiß doch nicht, ob man sie an denselben hinandenken soll. Es ist also drittens nöthig, daß Sie die nothwendige Hinandenkung des einen an das andre durch einen eignen Laut bezeichnen, und dieser ist nun das Wort ist, wodurch Sie dasjenige, was vorher bloße Benennungen waren, erst zur wirklichen zusammenhängenden Rede erheben. (Moritz, Deutsche Sprachlehre für die Damen [...], 1782, 270 f.)

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Der Streit um den 'ordre naturel' " hätte sich so in Wohlgefallen aufgelöst, doch aufmerksame Leser bemerkten schnell, daß damit das Problem nur von der Ebene der sprachlichen auf die gedankliche Konstruktion verschoben war, denn alles lastete nun auf einer 'natürlichen', d.h. allgemeinen Form der Gedankenverknüpfung, die 'liaison des idées'. Einer dieser aufmerksamen Leser war Nicolas Beauzée, der sich in der 'Encyclopédie' ausführlich der 'Inversion' annahm ' die durch die Schriften von Batteux und seinen Proselyten Pluche und Chompré *' zum Thema aktueller grammatiktheoretischer und ästhetischer Kontroversen geworden war. Im Gegensatz zu der traditionellen Auffassung, die syntaktischen Konstruktionen müßten auf eine als fundamental und universell angesehene Gedankenordnung bezogen werden, um eindeutig zwischen direkter und inverser Konstruktion unterscheiden zu können (sofern geklärt war, wie diese fundamentale Ordnung der Gedanken beschaffen war), hatte Batteux vorgeschlagen, sich nicht auf eine vermutete Gedankenordnung zu beziehen, sondern auf die Ausdrucksform im Verhältnis zur Intention, zur Hörererwartung und zu den Eigenschaften dessen, was dargestellt werden sollte. Qu'il y ait dans l'esprit un arrangement grammatical, relatif aux règles établies pour le mécanisme de la langue dans laquelle il s'agit de s'exprimer; qu'il y ait encore un arrangement des idées considérées métaphysiquement, c'est-à-dire, comme sujets ou attributs, ou liaisons; que ces idées mêmes, dans certains cas, se présentent toutes à la fois, & sans aucun ordre successif, comme quand l'œil embrasse d'un seul coup toutes les parties d'un tableau: ce n'est pas dequoi il s'agit dans la question présente. Nous ne cherchons pas l'ordre dans lequel les idées arrivent chez nous; mais celui dans lequel elles en sortent, quand, attachées à des mots, elles se mettent en rang pour aller, à la suite l'une de l'autre, opérer la persuasion dans ceux qui écoutent. En un mot, nous cherchons l'ordre oratoire, l'ordre qui peint, l'ordre qui touche: & nous disons que cet ordre doit être dans les récits le même que celui de la chose dont on fait le récit; & que, dans les cas où il s'agit de persuader, de faire consentir l'auditeur à ce que nous lui disons, l'intérêt doit régler les rangs des objets, & donner par conséquent les premières places aux mots qui contiennent l'objet le plus important. (Batteux, Cours de belles-lettres, part. II., 253 f ) Beauzée erkannte sehr richtig den grammatiktheoretischen Kern in Batteux' Hinweis auf eine Art Topic-Comment-Struktur der Rede. Es war nämlich keineswegs unerheblich, ob das grammatische Arrangement der Gedanken von den Regeln einer jeweiligen Sprache abhänge oder aber umgeVgl. Rickens Darstellung der Auseinandersetzung um die 'natürlichen Wortfolge' hei Condillac in Condillac 1746/1977, 47 - 50 und in Ricken 1978. Nicht nur im Artikel 'Inversion' selbst, sondern auch in 'Méthode' und 'Langue'. Batteux, Cours de belles-lettres distribué par exercices, Paris 1750, auch in Batteux 1755; Pluche, La mécanique des langues, et l'art de les enseigner, Paris 1751; Chompré, Traduction des modèles choisis de latinité tirés des meilleurs écrivains, Paris 1752 - 1759.

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kehrt die Ordnung des Denkens die der Sprache bestimme. Im ersten Fall würde jede Sprache ihre jeweils besondere grammatische Repräsentation im Denken erzeugen, im anderen Fall existiere die grammatische Ordnung im Denken schon vor jeder Sprache. Mit der ersten Vorstellung konnte er sich schon deshalb nicht anfreunden, weil es neben den 'analogen' Sprachen, die in ihrer Syntax dem Gedankengang folgten, auch 'transpositive' Sprachen mit freier Wortstellung gab, bei denen eine reichere Morphologie (inflexions) die Syntax fixiere - und damit wäre die einheitliche grammatische Basis aller Sprachen aufgegeben. [...] dans toutes les langues, la Parole ne transmet la pensée, qu'autant qu'elle peint fidèlement la succession analitique des idées qui en sont l'objet & que l'abstraction y considère séparément. Dans quelques idiomes cette succession des idées est représentée par celle des mots qui en sont les signes; dans d'autres, elle est seulement désignée par les inflexions des mots, qui, au moyen de cette marque de relation, peuvent, sans conséquence pour le sens, prendre dans le discours telle autre place que d'autres vûes peuvent leur assigner: mais à travers ces différences considérables du génie des langues, on reconnoît sensiblement l'impression uniforme de la nature, qui est une, qui est simple, qui est immuable, & qui établit partout une exacte uniformité entre la progression des idées & celle des mots qui les représentent. (Beauzeé, Enc. Méth., Gramm. & Lit., 2, 361)

Condillacs Identifikation der sich z.B. in Flexionsmorphologie, Rektion und Wortarten ausdrückenden unterschiedlich starken grammatischen Bindungen zwischen den einzelnen Komponenten eines Satzes mit der gedanklichen Bindung, die Auflösung der 'succession des mots' in die 'liaison des idées', war für Beauzée eine zu grobe und schematische Form der Abbildung des Denkens auf Sprache, [...] toutes ces parties sont ressemblantes, mais elles ne sont pas à leur place (...) il ne suffit pas d'y rendre sensible la liaison des mots pour peindre l'analyse de la pensée [...]: il faut peindre telle liaison [...]. (Beauzeé, Enc. Méth., Gramm. & Lit., 2, 362)

Wenn von zwei Dingen, zwischen denen ein enger Zusammenhang bestehe, das zweite vor dem ersten genannt werde, dann sei es mit Händen zu greifen, daß die Natur auf den Kopf gestellt werde, [...] tout autant qu'un peintre qui nous présenterait l'image d'un arbre ayant les racines en haut & les feuilles en terre; ce peintre se conformerait autant à la plus grande liaison des parties de l'arbre, que vous à celle des idées. (Beauzeé, Enc. Méth., Gramm. & Lit., 2, 362)17 17

O b dies eine eine Anspielung auf Condillacs Baum der Erkenntnis war? Ein Blick in die kanonische Fassung von Saussures 'Cours' (Cours d e linguistique générale, ed. de Mauro, Paris 1984, 97 - 99) zeigt sinnfällig, was in der Geschichte der Sprach-

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