Auf neuen Wegen. Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft aus interdisziplinärer Perspektive: Festschrift für Thomas Feltes zum 70. Geburtstag [1 ed.] 9783428557738, 9783428157730

Mit der Festschrift zum 70. Geburtstag von Thomas Feltes am 16. Februar 2021 würdigen seine Kolleginnen und Weggefährten

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German Pages 728 [729] Year 2021

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Auf neuen Wegen. Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft aus interdisziplinärer Perspektive: Festschrift für Thomas Feltes zum 70. Geburtstag [1 ed.]
 9783428557738, 9783428157730

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Auf neuen Wegen Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft aus interdisziplinärer Perspektive Festschrift für Thomas Feltes zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Andreas Ruch und Tobias Singelnstein

Duncker & Humblot . Berlin

ANDREAS RUCH und TOBIAS SINGELNSTEIN (Hrsg.)

Festschrift für Thomas Feltes

Schriften zum Strafrecht Band 366

Auf neuen Wegen Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft aus interdisziplinärer Perspektive Festschrift für Thomas Feltes zum 70. Geburtstag

Herausgegeben von

Andreas Ruch und Tobias Singelnstein

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2021 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: Das Druckteam Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-15773-0 (Print) ISBN 978-3-428-55773-8 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Das Vorwort zu einer Festschrift blickt in der Regel zurück auf das Leben und Wirken der zu ehrenden Person. Auch Thomas Feltes erhält diese Festschrift aus Anlass seines 70. Geburtstages. Gleichzeitig fühlt sich der Blick auf Vergangenes unpassend an, da er suggeriert, der Jubilar nehme den Wegfall der wissenschaftlichen Verpflichtungen in Lehre, Selbstverwaltung und Forschung zum Anlass, sich zur Ruhe zu setzen. Den Herausgebern war ebenso wie Thomas Feltes klar, dass dieser die mit dem Ruhestand verbundenen Freiheiten hingegen vor allem zur Fokussierung seines wissenschaftlichen Wirkens und zur Ausweitung seines akademischen und gesellschaftlichen Engagements und weniger dazu nutzen wird, auf sein Lebenswerk und das Erreichte zurückzublicken. Allerdings ist es auch beim hier zu Ehrenden so, dass das Verständnis vom Gegenwärtigen durch den Blick auf Zurückliegendes geschärft wird. Nach dem Schulbesuch in Dortmund und Mainz nahm Thomas Feltes mit einem Stipendium der Konrad-Adenauer-Stiftung ein Studium der Rechtswissenschaften und der Pädagogik an der Universität Bielefeld auf. Die erste juristische Staatsprüfung legte er 1976 ab; 1978 folgte die Magisterprüfung an der Bielefelder Fakultät für Pädagogik, Philosophie und Psychologie. Die Kombination aus Pädagogik- und Jurastudium verband der Jubilar mit dem Ziel, später als Jugendrichter tätig zu sein. Zunächst einmal bedeutete dies aber das Studium von Fächern, deren Blickwinkel auf abweichendes Verhalten kaum konträrer sein könnte und deren Disziplinen ganz unterschiedlich mit den politischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Debatten der damaligen Zeiten umgegangen sind. In Gesprächen schilderte Thomas Feltes die ihm immer wieder begegnende akademische und praktische Erfahrung, zwischen zwei Stühlen zu sitzen: „Den Pädagogen war ich zu konservativ, den Juristen war ich zu links.“ Die Promotion zum „Dr. iur.“ erfolgte 1979 an der Juristischen Fakultät der Universität Bielefeld mit einer kriminalpädagogischen Arbeit zum Thema „Jugend, Konflikt und Recht“. Das Angebot des einem Ruf nach Bielefeld folgenden Wolfgang Heinz, an dessen Lehrstuhl eine Assistentenstelle anzunehmen, lehnte Thomas Feltes ab und folgte stattdessen seinem Doktorvater Hans-Jürgen Kerner nach Hamburg. Dort war er dann als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Strafrecht tätig und absolvierte sein Referendariat, welches er 1981 mit dem zweiten Staatsexamen abschloss. Im Anschluss daran begann die „Heidelberger Zeit“ des Jubilars. 1981 bis 1992 war er zunächst wissenschaftlicher Angestellter, ab 1986 Hochschulassistent (C 1) am Institut für Kriminologie der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg.

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Vorwort

Während dieser Zeit nahm er mit einem Stipendium der kanadischen Regierung einen sechsmonatigen Forschungsaufenthalt am Centre International de Criminologie Comparée der Universität Montréal in Kanada wahr. 1992 folgten an der Juristischen Fakultät der Universität Tübingen die Habilitation und die Berufung zum Professor auf Lebenszeit für Strafrecht (C 2) an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Berlin. Noch im selben Jahr zog es Thomas Feltes zurück in den Südwesten der Republik: Er wurde Rektor der Fachhochschule VillingenSchwenningen. Der auslastenden Rektorats- und Lehrtätigkeit an einer Polizeifachhochschule zum Trotz sind während des dortigen Wirkens eine ganze Reihe von Arbeiten entstanden, die sich mit kriminologischen und polizeilichen Fragestellungen auseinandersetzen. In Villingen-Schwenningen schärfte Thomas Feltes sein polizeiwissenschaftliches Profil, das in seinem weiteren Wirken stets eine zentrale Rolle spielen sollte. 2002 schließlich wurde Thomas Feltes als Nachfolger von Hans-Dieter Schwind auf den Bochumer Lehrstuhl für Kriminologie berufen, den er bis August 2019 unter der Denomination „Kriminologie, Kriminalpolitik und Polizeiwissenschaft“ inne hatte. Mit der Berufung von Thomas Feltes führte der Lehrstuhl an der Ruhr-Universität als erster in Deutschland die Denomination auch für Polizeiwissenschaft. Von 2007 bis zu seiner Pensionierung war er kooptiertes Mitglied der Fakultät für Sozialwissenschaft. Heute hat er an der Bochumer Juristischen Fakultät eine Seniorprofessur inne. Der Bochumer Lehrstuhl war zu dieser Zeit stets ein höchst lebendiger Verbund, an dem neben dem fachlichen Austausch auch das soziale Miteinander groß geschrieben wurde. Zu Spitzenzeiten waren in den Drittmittelprojekten, im Masterstudiengang und am Lehrstuhl selbst zwölf wissenschaftliche und ebenso viele studentische Mitarbeiter*innen beschäftigt. Thomas Feltes forderte viel – Wissenschaft ist schließlich, so der Jubilar, „keine Fließbandarbeit“. Er gewährte gleichzeitig viele Freiräume und gab – noch wichtiger – Vertrauen und Loyalität. Persönliche und disziplinäre Diversität unter seinen Mitarbeitenden war ihm wichtig, denn er war überzeugt, dass wechselseitige Perspektiven den Erkenntnisprozess fördern und Argumentationen schärfen. Thomas Feltes ist Autor von mehr als 200 Aufsätzen und von mehr als einem Dutzend Monografien. Er ist Mit-Herausgeber der gegenwärtig 50 Bände umfassenden Bochumer Schriftenreihe zur Rechtsdogmatik und Kriminalpolitik. Seit 1999 gibt er den Polizei-Newsletter heraus, der monatlich über 8.500 Adressat*innen erreicht und zu einem wichtigen Sprachrohr polizeiwissenschaftlicher Forschung geworden ist. Der Jubilar hat es verstanden, in den Grundlagen seines Fachgebiets wesentliche Akzente zu setzen. Seine Habilitationsschrift untersucht die rechtliche Begründung und Begrenzung des staatlichen Strafanspruchs und zeigt die Unzulänglichkeit der Legitimation staatlicher Strafen auf. Das schwache Fundament, mit dem Staaten die Ausübung ihrer Strafgewalt und die Freiheitsentziehung gegenüber ihren Bürgern zu rechtfertigen versuchen, hat der Jubilar in seinem weiteren Schaffen

Vorwort

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immer wieder aufgegriffen. Exemplarisch ist hier sein Eintreten für eine restriktive Anwendung des Jugendstrafrechts zu nennen. Vehement wendet er sich gegen die Ausweitung stationärer Sanktionierungen und kritisiert deren fehlende theoretische und empirische Begründung. Ebenso streitbar ist er in Bezug auf die Regelungen zur Sicherungsverwahrung. Diese hat er schon früh als rechtsstaatlich bedenklich kritisiert und in einer an seinem Lehrstuhl entstandenen empirischen Untersuchung mangels oft nicht gegebener Gefährlichkeit der Proband*innen als weitgehend wirkungslos identifiziert. Weitere Schwerpunkte seines Wirkens liegen in der Polizeiwissenschaft. Thomas Feltes befasste sich hier – neben zahllosen weiteren Themen – mit den theoretischen und praktischen Bezügen des „Community Policing“ und setzte sich mit den Bedingungen und Wirkungsweisen polizeilicher Arbeit im Streifendienst auseinander. Seine Arbeiten zu „Notrufen und Funkstreifeneinsätzen“ sind nach wie vor zentrale Referenzpunkte der polizeiwissenschaftlichen Forschung und sie hatten maßgeblichen Einfluss auf kriminalpräventive Konzepte. Unter den zahlreichen Drittmittelprojekten, die Thomas Feltes an der Ruhr-Universität durchgeführt hat, ist das EU-Projekt zur geschlechtsbezogenen Gewalt gegen Frauen hervorzuheben. Der Jubilar koordinierte hier von 2009 bis 2011 eine umfassend angelegte empirische Untersuchung innerhalb Deutschlands, Italiens, Polens und Großbritanniens. Von 2015 bis 2019 war er Teil eines weiteren von der EU geförderten Drittmittelprojekts zum Thema „Community Based Policing and Post-Conflict Police Reform“. Hier führte er Feldforschung zur Polizeiarbeit im Kosovo durch. Für Thomas Feltes war es eine Selbstverständlichkeit, der Lehre denselben Stellenwert einzuräumen wie Forschung und Publikationstätigkeit. Es gibt wohl nur wenige Studierende der Rechtswissenschaft in Bochum, die das Staatsexamen ohne den Besuch der Kriminologie-Vorlesung des Jubilars absolviert haben. Ein Grund dafür ist sicherlich der hohe Stellenwert der Kriminologie innerhalb der Fakultät, die nie einen Zweifel daran gelassen hat, dass die Kriminologie-Lehrveranstaltungen zur Grundlagenausbildung gehören. Mindestens ebenso bedeutsam dürfte aber die Leidenschaft für „sein“ Fach sein, die Thomas Feltes in den Hörsaal transportiert hat und in dem er bereits sehr früh Video- und Internettechnik sowie Podcast-Angebote und Videoaufzeichnungen zum Einsatz gebracht hat. Aus der Heidelberger Zeit brachte Thomas Feltes die „Knastgruppe“ mit nach Bochum, die es als „Bochumer kriminologische Haftgruppe“ Studierenden bis heute ermöglicht, durch regelmäßige Besuche im Justizvollzug die Vollzugswirklichkeit zu erfahren – und die umgekehrt für Strafgefangene ein Angebot außerhalb der üblichen vollzuglichen Strukturen realisiert. Untrennbar mit dem Namen des Jubilars verbunden ist der Masterstudiengang „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“, den Thomas Feltes an der Juristischen Fakultät der Ruhr-Universität gegründet und 15 Jahre lang geleitet hat. Aus Sicht der Fakultät war das Projekt zunächst ein Wagnis: Neben dem für eine Juristische Fakultät ungewöhnlichem Masterabschluss waren schließlich auch

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Vorwort

die Inhalte primär nicht juristischer Art und sollten von Beginn an auch Absolvent*innen von Fachhochschulen – insbesondere der Fachrichtungen Polizei und Soziale Arbeit – ansprechen. Der weiterbildende Studiengang entwickelte sich unter seiner Leitung zu einer Erfolgsgeschichte: Er wurde 2015 akkreditiert, seine Absolvent*innen haben heute auch ohne juristisches Staatsexamen die Möglichkeit zur Promotion an der Fakultät und 2021 startet der 17. Jahrgang in das Studium. Thomas Feltes knüpfte zahlreiche Kontakte ins Ausland. 2007 war er Visiting Professor an der North-West University in Potchefstroom und der University of Cape Town. Auch mit der ungarischen Kriminologie und Polizeiwissenschaft steht Thomas Feltes bis heute in einem engen Austausch. 1993 war er Gastprofessor an der Juristischen Fakultät der Eötvös-Loránd-Universität Budapest, 2000 wurde ihm die Ehrenurkunde und Auszeichnung mit der silbernen Millenniums-Medaille der Republik Ungarn für besondere Verdienste um die Zusammenarbeit zwischen der ungarischen und der baden-württembergischen Polizei verliehen. Auch der Kontakt nach Südafrika ist eng geblieben. In den Jahren 2009 und 2010 baute der Jubilar mit einer Förderung des Deutschen Akademischen Austauschdiensts (DAAD) ein Doktorandennetzwerk mit der University of Cape Town auf. Der Jubilar war und ist Mitglied zahlreicher Berater- und Sachverständigengruppen. Zwischen 1998 und 2002 war er Mitglied der Sucht- und Drogenkommission der Bundesregierung. 1999 war er Generalberichterstatter und Vorstandsmitglied der Konferenz „Polizei und Menschenrechte“ des Europarates. Von 2006 bis 2010 war er Mitglied im Gründungssenat der Deutschen Hochschule der Polizei (DHPol). Er war Mitglied des Beirates für Fanangelegenheiten der Deutschen Fußball-Liga und ist seit 2012 Vorsitzender der Stadionverbotskommission des VfL Bochum. Von 2014 bis 2017 war er Mitglied der G 10-Kommission des Landtags NRW und dort mit der Kontrolle der Eingriffe des Verfassungsschutzes in das Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis (G 10-Maßnahmen) betraut. Zwischen 2018 und 2020 war er deutscher Vertreter beim Europäischen Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (CPT) des Europarates. Für Thomas Feltes war stets klar, dass wissenschaftliche Erkenntnisse in die Praxis transferiert werden müssen. Nach wie vor stellt er sich Debatten und Diskussionsrunden und tritt in Fernseh- und Zeitungsinterviews dafür ein, Kriminal- und Sicherheitspolitik auf eine rationale Grundlage zu stellen. Bei aller von ihm vorgebrachten Kritik und der ihm eigenen Beharrlichkeit, mit der er gegen festgefahrene kriminalpolitische Grundannahmen vorgeht, war und ist es ihm stets ein Anliegen, das Lagerdenken in Kriminologie und Polizeiwissenschaft einerseits und die Kluft zwischen Theorie und Praxis andererseits zu überwinden. Wer Thomas Feltes im persönlichen Umgang erlebt hat, der weiß um seine Fähigkeit, unterschiedliche Interessengruppen an einen Tisch zu bringen. Dass es ihm bei Symposien, Neujahrsempfängen und den Absolvent*innenfeiern des Masterstudiengangs immer wieder gelungen ist, höchst unterschiedliche Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Politik und Polizei zu versam-

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meln, ist Beleg der Wertschätzung, die Thomas Feltes über fachliche, politische und praktische Grenzen hinweg erfährt. Ausdruck dessen ist nicht zuletzt auch diese Festschrift, an der sich neben zahlreichen Kolleg*innen aus ganz verschiedenen Ländern und Lebensabschnitten auch Weggefährt*innen aus anderen gesellschaftlichen Bereichen beteiligt haben. Bei all diesen Autor*innen bedanken wir uns für die äußerst angenehme und stets konstruktive Zusammenarbeit. Zudem danken wir herzlich Benjamin Derin, Julia Gruß, Matthias Michel, Franca Nonn und Kira Rusert vom Bochumer Lehrstuhl für ihre vielfältige Unterstützung und ihren unermüdlichen Einsatz bei der Formalisierung und Korrektur des Manuskripts. Regine Schädlich und die weiteren Mitarbeiter*innen des Verlages Duncker & Humblot haben das Projekt von Beginn an durch eine reibungslose Koordination der Abläufe unterstützt, auch ihnen gilt unser Dank. Thomas Feltes zeigt, wie Forschung einerseits theoretisch und methodisch fundiert und andererseits über den Tellerrand der eigenen Disziplin hinausblickend gestaltet werden kann. Seine mahnende Stimme und seine offenen Worte sind in den gegenwärtigen, von einer Zunahme populistischer und autokratischer Tendenzen geprägten Zeiten von ganz besonderer Wichtigkeit. Dabei macht er immer deutlich, dass es in der Kriminologie darum geht, den Menschen im Blick zu haben – mit seinen individuellen Stärken, Schwächen und Lebensverläufen. Wir schätzen uns glücklich, ihn als Weggefährten und Kollegen an unserer Seite zu haben. Zu seinem 70. Geburtstag wünschen wir Thomas Feltes, dass er auch fortan „neue Wege“ beschreiten möge. Ein Vorteil des beginnenden Lebensabschnitts ist es, dass nunmehr frei von äußeren Einflüssen die Geschwindigkeiten festgelegt und die Ziele bestimmt werden können. Mögen dem Jubilar hierbei noch lange Gesundheit und Zufriedenheit beschieden sein! Bochum, im Februar 2021

Andreas Ruch und Tobias Singelnstein

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I. Kriminologie Oliver Bidlo Narratologische Perspektiven für die Kriminologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Bliesener, Merten Neumann, Christoffer Glaubitz und Dominic Kudlacek Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz. Soziodemografische Einflüsse auf die Einstellung zur polizeilichen Videobeobachtung im öffentlichen Raum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ulrich Eisenberg Zum Tod von Alexander S. Puschkin. Kriminologisch orientierte Erwägungen

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Wolfgang Heinz Die Aufklärungsquote. Wie beeinflusst differentielle polizeiliche Aufklärung das Bild von Kriminalität im zeitlichen Längsschnitt und im regionalen Querschnitt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dieter Hermann Die Moral korrupter Manager . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Robin Hofmann Populismus und Kriminalpolitik. Zur Aktualität der Todesstrafe aus kriminologischer und empirischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 Ralf Kölbel Transparenz und Lobbyismus in der wissenschaftlichen Strafrechtspolitik. Kriminologische Bemerkungen am Beispiel der sog. Ärztekorruption . . . . . . . . . . . 123 Miklós Lévay Criminalization of Homelessness in Hungary and Related Decisions of the Constitutional Court . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Karlhans Liebl Sanktionsforderungen im Vergleich. Die Sanktionsforderungen der Polizei, Justiz und Bevölkerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Michael Lindemann, Janita Menke und Sandra Schwark Psychisch kranke Gewaltopfer vor den Toren der Strafjustiz. Ansätze zur Vermeidung von Sekundärviktimisierungen im Rahmen polizeilicher Erstkontakte 167

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Inhaltsverzeichnis

Bernd-Dieter Meier Ausstiegsbegleitung und Deradikalisierung in Deutschland. Eher C64 als PlayStation 4? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Frank Neubacher und Esther Viviane Arendes Das „Böse“, das „Gute“ und vor allem das dazwischen. Was die Kriminologie von der Rettungsforschung lernen kann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Holger Plank „Neues“ Polizei- bzw. „Sicherheitsrecht“ in Deutschland. Sicherheitspolitischer „Paradigmenwechsel“ oder gebotene Anpassung an eine elementar veränderte Sicherheitslage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Jo Reichertz Automatisierung der Sicherheit in Fußballstadien durch Kamerasysteme? . . . . . 223 Nahlah Saimeh Zur Behandlung von Sexualstraftätern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Jan-Volker Schwind und Hans-Dieter Schwind Ergebnisse der Bochumer Dunkelfeldforschung und ihre kriminalpolitische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Philip Stenning and Marleen Easton Ports as Sites of Geo-political (In)security . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Christian Walburg Fünf Jahre „Flüchtlingskrise“. Eine kleine Zwischenbilanz aus kriminologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Andreas Zick, Beate Küpper und Arin Ayanian In extremen Zeiten. Antidemokratische Orientierungen als Herausforderungen für die zivile Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

II. Polizeiwissenschaft Hartmut Aden Problemfelder an den Schnittstellen zwischen Polizei und privaten Sicherheitsfirmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Clemens Arzt und Stephanie Schmidt Bodycam als Objekt staatlichen Sehens und Zeigens. Wie das Recht den polizeilichen Bedürfnissen angepasst wird . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Rafael Behr „Dem Guten verpflichtet, vom Bösen bedroht“. Was man erkennt, wenn Polizist*innen von ihren Werten sprechen. Eine explorative Skizze aus der verstehenden Polizeiforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Martin Herrnkind Cop Culture meets Bourdieu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Reinhard Kreissl Polizeiforschung zwischen den (Lehr-)Stühlen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 Jeffrey Ian Ross Reversing the Gains. Municipal Policing in the Trump Era . . . . . . . . . . . . . . . . . 371 Tobias Singelnstein Rassismus in der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Elrena van der Spuy Continuities and Discontinuities in Security Deliberations in Contemporary South Africa. Some Observations Drawn from Commissions of Inquiry and Related Documents . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 David Weisburd and Charlotte Gill Assessing Crime Outcomes in Community Policing. Recognizing the Importance of Crime Reporting Inflation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 407

III. Strafrecht, Jugendstrafrecht, Strafverfahrensrecht Adam Ahmed Die Öffentlichkeit unter Quarantäne. Zu den Auswirkungen der Corona-Krise auf das Strafverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 415 Maren Borg und Sabine Swoboda Videoaufzeichnung von Vernehmungen und notwendige Verteidigung bei jungen Beschuldigten. Eine Anmerkung zu § 70c Abs. 2 JGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 429 Ken Eckstein Verständigungsgesetz und unverbindliche Erörterungen. Zur Formalisierung des Informellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 445 Sophie Marie Faustmann und Pedro Michael Faustmann Zur Frage der Persönlichkeitsstörung und Persönlichkeitsakzentuierung im Rahmen der schweren anderen seelischen Abartigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Ingke Goeckenjan Über Prognosen, die nicht die Zukunft betreffen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471 Heribert Ostendorf Gegen die justizielle Ausweitung der Höchststrafe von 15 Jahren Jugendstrafe bei Mord wegen der besonderen Schwere der Schuld gem. § 105 Abs. 3 S. 2 JGG! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 487 Holm Putzke Die Einziehung von Vermögen im Jugendstrafrecht – oder: Was hat der Gesetzgeber sich da bloß gedacht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495

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Andreas Ruch Die strafprozessuale Pflicht zur umfassenden Sachaufklärung. Eine Herausforderung für den polizeilichen Umgang mit mutmaßlichen Opfern von Sexualstraftaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Franz Streng Freiwilliger Rücktritt vom Versuch trotz innerpsychischer Tathemmung? . . . . . 519

IV. Straf- und Maßregelvollzug, Sanktionenrecht Michael Alex Aktuelle Entwicklungen im Justizvollzug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 531 Frieder Dünkel Ehe- und familienfreundliche Gestaltung des Strafvollzugs. Rechtliche und rechtstatsächliche Entwicklungen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545 Jörg Kinzig Die nachträgliche Sicherungsverwahrung für Jugendliche und Heranwachsende vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte: letztes Wort aus Straßburg? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Helmut Kury Zu den Folgeschäden von Freiheitsstrafen. Auswirkungen einer Inhaftierung auf die eigene Familie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 575 Gereon Wolters Neues zum strafgesetzlichen Fahrverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 597

V. Varia Leif Artkämper, Astrid Klukkert, Julian Koch und Marvin Weigert Der Masterstudiengang „Kriminologie, Kriminalistik und Polizeiwissenschaft“. Organisationales Lernen und institutioneller Wandel durch kriminologische Weiterbildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 617 Eckhard Bieger Wurzelwerk des Verbrechens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 633 Pieke Biermann Deutsch-Amerikanische Fremdheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 637 Ulrich Blum Planbarkeit und Vorhersehbarkeit der Wirtschaftspolitik als öffentliche Güter in Zeiten von Extremereignissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Micha Brumlik Die neue Unterschicht, das Prekariat als Herausforderung praktischer Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 659

Inhaltsverzeichnis

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Marco Mona Prävention zum Schutze der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 671 Uli Rothfuss Thomas Feltes: Förderer. Freund. Nonkonformist. Streiter für eine offene Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Istvan Szikinger Slinking Total Power. Symptoms of Hungarian Decline in the Fields of Rule of Law and Democracy . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 689 Schriftenverzeichnis von Thomas Feltes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 699 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 725

I. Kriminologie

Narratologische Perspektiven für die Kriminologie Von Oliver Bidlo

I. Einleitung Der nachfolgende Beitrag möchte sich dem narrativistic turn, der auch in der Kriminologie zunehmend konstatiert wird,1 zuwenden und hier einige grundlegende Aspekte dieses Ansatzes für die Kriminologie anzeigen und nachzeichnen. Leitend ist dabei die Frage, wie sich narratologische Aspekte – Aspekte also, die zum einen aus der Theorie des Erzählens stammen, zum anderen aber auch aus der Semiotik entlehnt werden können – für die Kriminologie fruchtbar kompilieren lassen. Dabei ist das Vorgehen eher explorativ, explanativ und exemplarisch und wird sich auf einige wenige Punkte fokussieren. An dieser Stelle kann bereits eine Besonderheit benannt werden, die zunächst trivial klingt. Wenn es um Erzählungen von Personen im kriminalistisch-kriminologischen Kontext geht, dann meint dies Erzählungen von ZeugInnen, Verdächtigen, PolizeibeamtInnen, TäterInnen oder im weiteren Sinne mit einem Fall, Delikt oder einer Tat Vertrauten. Das wiederum können – man denke an die immer wieder aufflammende Diskussion um die Kriminalitätsfurcht2 – dann alle Rezipierenden sein. Entscheidend ist jedoch, dass sie sich in Form einer Erzählung bzw. Geschichte äußern müssen, damit diese Gegenstand einer narrativen Kriminologie sein kann. Daher lässt sich ein solcher Ansatz zwar nicht ausschließlich, aber doch stärker für eine empirische Sichtweise – sowohl datenerhebend als auch datenanalysierend – verwenden. Denn es geht zunächst um die Rekonstruktion solcher Narrationen im Untersuchungsfeld der Kriminologie. Dollinger sieht in den Polen des Strukturalismus auf der einen sowie interaktionistischen Ansätzen auf der anderen Seite das Feld aufgestellt zwischen Struktur und (Handlungs-)Freiheit. Diese beiden Pole und die Frage nach Graden der Freiheit und Bestimmtheit sind überdies grundsätzliche Fragen innerhalb der Soziologie (und damit mittelbar auch der Kriminologie). Bezogen auf die Erzeugung von Narrationen und ihrer späteren Analyse bzw. Rekonstruktion heißt dies: Sind Narrationen Ausdruck von Freiheit oder Ergebnis von strukturell-diskursiven Vorgaben?

1

Vgl. z. B. Dollinger, in: Dollinger/Schmidt-Semisch, Handbuch Jugendkriminalität. Interdisziplinäre Perspektiven, 3. Aufl. 2018, S. 241. 2 Vgl. Bidlo, in: Klukkert/Feltes/Reichertz, Torn between Two targets: Polizeiforschung zwischen Theorie und Praxis, 2019, S. 205.

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Oliver Bidlo

Zunächst lässt sich aber noch allgemeiner fragen, was unter Narratologie oder einer Narration zu verstehen ist und wie und wo daran anschließend dieser Ansatz für die Kriminologie anschlussfähig ist. Dergestalt folgt zunächst eine kurze Vorstellung der Narratologie aus ihren philologischen Ursprüngen heraus. Daran anschließend soll ein Übertrag auf ausgewählte kriminologische Perspektiven erfolgen und schlussendlich soll ein kurzes Fazit die Möglichkeiten und Reichweite der Narratologie für die Kriminologie zusammenfassen.

II. Narratologie – Narrationen – Narrative – Narr Die Narratologie stellt in einer weiten Fassung die Wissenschaft vom Erzählen dar, indem die Theorie des Erzählens „und die systematisch entwickelten Vorgaben zur Analyse von Erzählungen“3 zu eben jener Narratologie synthetisiert werden. Sie stammt als theoretische und analytische Figur daher ursprünglich aus dem Bereich der Literaturwissenschaft, wird jedoch heute breit im Feld der Kultur- und Sozialwissenschaften betrachtet und genutzt. Narrationen kann man sich „in den verschiedensten (literarischen) Klassen vorstellen: als Mythen, Epen, Romane, als folkloristische Darstellungen, als biografische Selbsterzählungen, als soziologische Modernisierungserza¨ hlungen, als antike Dramen oder moderne, skandaltra¨ chtige News-Stories in den Massenmedien, aber auch als wissenschaftliche, historische Narrative.“4 Dabei stellt sich sowohl für die produktive wie auch für die rezeptive Seite die Frage nach dem, was sie eigentlich beinhalten. Wenn wir Narrationen so befragen, dann werden sie auch Teil der Debatten über die Vorgängigkeit und Reichweite von Handlungstheorien gegenüber Strukturtheorien, in denen sich die Frage nach der Freiheit des Subjekts stellt. Oder anders herum formuliert: Sind Narrationen Ergebnisse sozialer und kultureller Strukturen und Diskurse, die durch die Analyse von Narrationen enthüllt werden können? Oder sind Narrationen Ergebnisse frei handelnder Subjekte? Bei Letzterem steht die Analyse und Rekonstruktion eines subjektiv gemeinten Sinns im Vordergrund, bei Erstgenanntem stärker die Rekonstruktion kultureller Sinnfiguren und latenter Sinnstrukturen. Und noch weiter abstrahiert und polarisiert meint dies pointiert auch die Frage nach der Reproduktion sozialer Strukturen im Gegensatz zur Frage nach sozialem Wandel. Für die weiter unten thematisierte kriminologische Perspektive schimmert hier u. a. die Frage hindurch, ob man sich zuvorderst dem Motiv des Täters bzw. der Täterin oder den diskursiven und strukturellen Bedingtheiten der Tat zuwendet, durch die die Täterin bzw. der Täter nur einen bedingten Einfluss auf den Sinn der Tat hat. Angespielt und in Analogie gesetzt wird hier die Frage nach dem Tod des 3 Schönert, Was ist und was leistet Narratologie? Anmerkungen zur Geschichte der Erza¨ hlforschung und ihrer Perspektiven, 2006, S. 1, online unter https://literaturkritik.de/pu blic/rezension.php?rez_id=9336 (zugegriffen am 13. 4. 2020). 4 Viehöver, in: Arnold/Dressel/Viehöver, Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, 2012, S. 65 (66).

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Autors,5 der in der poststrukturalistischen Perspektive Roland Barthes die Dekonstruktion des Autors und des mit ihm verbundenen Sinnes meint. Der Sinn wird vielmehr durch die RezipientInnen erzeugt, die Bedeutung eines Textes bzw. einer Handlung ist den überzeitlichen Wogen des Diskurses ausgesetzt. Kehren wir zu einer allgemeineren Perspektive zurück so lässt sich sagen, dass Narrationen auf der produktiven Seite Organisationsmuster für Wissen, Denken und Handeln sind. Auf der rezeptiven Seite erzeugen sie Weltbilder, begründen Deutungen und geben auch Deutungen vor. Die zwei Seiten von Erzählungen sind damit zum einen ihre Organisations- sowie Ordnungs- und Orientierungsfunktion. Diese hatten Narrationen nicht erst, seit von Postmoderne und (neuer) Unübersichtlichkeit gesprochen wurde, sondern sie stellen eine Grundfunktion von Narrationen für den „Anthropozän“6 dar. Der Mensch besitzt in diesem Sinne auf produktiver wie rezeptiver Seite das Bedürfnis nach Erzählungen, die wiederum Gestaltungskraft für die Gesellschaft haben. Neben der Ordnungs- und sinnstiftenden Funktion von Narrationen, beinhalten sie eine sich daraus bildende appellative Struktur, die dann aus Narrationen leitende und nicht mehr beliebige Narrative macht. Diese können sich u. a. zu „Mythen des Alltags“7 und schließlich zu Ideologien verfestigen. „So gesehen wären Narrative anthropologisch vorgegebene, kulturell entwickelte und diversifizierte Grundmuster, um sich in der Welt zu orientieren und Sinn zu erzeugen – beispielsweise mit Alltagserzählungen, mit Reportagen in Zeitung, Hörfunk und Fernsehen.“8 Den sich ausbildenden „Ideologien“ nachzuspüren ist u. a. auch die Aufgabe der Soziologie als Mythenjäger und genauer der Wissenssoziologie. Die Nähe zur wissenssoziologischen Diskursanalyse ist an dieser Stelle greifbar. Narrationen sind demnach ein Prozess, der „etwas Gegebenes […] in etwas Begründbares“9 verwandelt. Dieser Prozess ist ein typisch menschlicher und besitzt eine interessante Dialektik. Natur wird in Kultur verwandelt, d. h. das Gegebene wird wie erwähnt begründet und dadurch als etwas Gemachtes, mit Sinn und Absicht Versehenes, aber auch Veränderbares ausgewiesen. Geronnen in Ideologien verfangen solche „Basiserzählungen“10 erneut und neigen dazu Formen der Zwangsläufigkeit auszubilden. Etwas als eine „Erzählung“ anzuerkennen, heißt dergestalt, Intentionalität, Gestaltung und Gestaltbarkeit und mithin Veränderbarkeit anzuerkennen. Interessant ist in diesem Zusammenhang die etymologische Rahmung des Begriffs „Erzählen“, über den sich die beiden Seiten bzw. der Prozess des Ursächlichen und des Gemachten anzeigen lässt. Denotativ weist die Erzählung die Begriffe der „Zahl“ und des „Zählens“ aus. Darin liegt jedoch genau die gegenteilige Perspektive des Ge5

Vgl. Barthes, in: Jannidis u. a., Texte zur Theorie der Autorschaft, 2000, S. 185. Dürbeck, Kulturwissenschaftliche Zeitschrift 2018, 1. 7 Barthes, Mythen des Alltags, 2003. 8 Schönert (Fn. 3), S. 1. 9 Arnold, in: Arnold/Dressel/Viehöver, Erzählungen im Öffentlichen. Über die Wirkung narrativer Diskurse, 2012, S. 17 (19). 10 Arnold (Fn. 9), S. 17 (19). 6

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machten, Intentionalen begründet. Etwas wird „erzählt“, also über die festen und unveränderbaren Abläufe des Zahlensystems dargereicht. Auf eins folgt zwei, folgt drei, folgt vier usw. Die „Erzählung“ verstanden als Geschichte meinte daher ursprünglich die gesprochene Wiedergabe von Ereignissen, deren Sinn sich nur dann erschloss, wenn sie in einer zeitlich richtigen Reihenfolge dargeboten wurde. Die zeitlich richtige Abfolge trug in sich und begründete bereits das Geschehen. Chronologie und Kausalität gingen hier Hand in Hand. Gleichzeitig wurde bei Erzählungen schnell sichtbar, dass es konkurrierende Wiedergaben gab (z. B. durch das „Stille-Post-Prinzip“ oraler Kommunikationskulturen),11 die überdies unterschiedliche (sogar gegenteilige) Sinngehalte besitzen konnten. Erzählungen konnten vom Erzähler verändert, nuanciert oder pointiert werden und wurden so zu etwas Gemachtem. Der Begriff des Erzählens verweist gleichwohl noch auf den Kausalitätscharakter, über den die Zwangsläufigkeit, die den großen Erzählungen (Ideologien) inhärent ist, zurückgespielt werden kann. Wenn also, in freier Anlehnung an Norbert Elias12, Natur in Kultur gewandelt werden sollte, dann kann man Erzählungen als das Ringen der beiden Pole „Natur“ und „Kultur“ verstehen, ein Ringen, das sich epistemologisch zwischen Dimensionen des Realismus (von naiv bis kritisch) und des Konstruktivismus (von radikal bis kommunikativ) abspielt. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Figur und der Begriff des Narren. Der Narr ist etymologisch nicht genau bestimmt.13 Sozial allerdings spiegelt sich in ihm das bisher Gesagte wider, so dass die Nähe von „Narr“ und dem lat. „narrare“ für „erzählen“ im Sinne eines Homonyms einsichtig wird. Der Narr, hier verstanden als Hofnarr, war zum einen ein Geschichtenerzähler. Seine besondere Funktion lag u. a. aber darin, den Herrschenden die Wahrheit (wenn auch im Gewand der Erzählung) sagen zu dürfen, da er das „Rechtsprivileg des offenen Wortes“14 bzw. das verbriefte Narrenrecht (oder auch Narrenfreiheit) besaß. So bindet der Narr in seinen Erzählungen sowohl das Wahre bzw. die Wahrheit als auch das Wahnsinnige und Falsche ein, indem er Geschichten erzählt, die mal wahr, mal falsch sein konnten oder die der Fürst als wahr oder falsch (z. B. ein Spaß) auffassen konnte. Beispielhaft sei folgende Überlieferung geschildert:15 Ein Fürst rief seinen Hofnarren im Bade zu sich, um sich ihm nackt zu zeigen und fragte eitel: „Wieviel bin ich wert?“ Der Narr erwiderte: „Dreißig Asper“ – die kleinste osmanische Währungseinheit, ein heutiger Centbetrag. Der Fürst rief empört: „So viel kostet ja allein das Badetuch!“ Der Hofnarr antwortete: „Das ist bereits 11 Ein Wandel von oraler hin zu einer digital-literalen Kommunikationskultur und damit einhergehenden Veränderungen lässt sich z. B. bei der Polizei beobachten. Vgl. hierzu Bidlo, Vom Flurfunk zum Scrollbalken, 2018. 12 Vgl. Elias, Was ist Soziologie?, 1993, S. 58 ff. 13 Vgl. hierzu Pfeifer u. a., Etymologisches Wörterbuch des Deutschen 2019, „Narr“, online unter https://www.dwds.de/wb/etymwb/Narr (zugegriffen am 12. 4. 2020). 14 Amelunxen, Zur Rechtsgeschichte des Hofnarren, 1991, S. 7. 15 Angepasst nach Amelunxen (Fn. 14), S. 8 f.

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mitgerechnet.“ Er hatte Glück, der Fürst lachte sich halbtot und ließ ihn diese Episode unbeschadet überstehen. Belangt werden konnte der Narr aufgrund seines Narrenrechts in der Regel nicht, obwohl in der Praxis dieses Recht in der Regierungs- und Rechtsform eines totalitären Herrschers auch schnell einmal ausgesetzt oder verändert werden konnte. Dennoch liegt eine enge (deviante) Überschneidung zwischen Herrscher und Narr in ihrem jeweils abseitigen Stand zum Recht vor: „Aus religiösen und rechtlichen Gründen ist hier das Klima für das Narrentum günstig: Beschränktheit, Torheit, Tick oder gar heller Wahnsinn gelten als göttliche Auszeichnung, die dem Betroffenen fromme, respektvolle Scheu seiner Mitmenschen einträgt, ihn vielfach auch unverantwortlich macht und außerhalb der Gesetze stellt. Da aber ebenso der Herrscher als Abgesandter Gottes und Beauftragter des Himmels gilt, so stehen sich Fürst und Narr in geheimnisvoller Wechselbeziehung, ja in mystischer Verwandtschaft gegenüber. Sie gehören zusammen wie die Brennpunkte einer Ellipse. Der Fürst kann nicht Unrecht tun, der Narr ebensowenig.“16

Der Narr wurde so auch zum Typus des Abseitigen (anders als der Herrscher), der zugleich die Funktion eines Spiegels einnimmt – nicht umsonst trägt der Narr als häufiges Utensil einen Spiegel in seiner Hand. Die Moralsatire Das Narrenschift von Sebastian Brant (1457 – 1521) stellt übrigens eine solche Spiegelung gesellschaftlicher Verhältnisse dar, indem der Welt über verschiedene Narren ihre Lasterhaftigkeit und Doppelmoral vor Augen geführt wird.17 Gibt es in Bezug zum Herrscher diese o.g. Überschneidung, stellt der Narr ansonsten die anomische Gegenfigur zum Herrscher dar. „Der Narr ist in seiner Erscheinung wie auch in seiner Entäußerung der geduldete Ausdruck des gesellschaftlich nicht Geduldeten. Herrscher und Narr lassen sich dann als Typus und Antitypus lesen.“18 In Anlehnung an diese Episode beinhalteten Erzählungen ebenfalls sowohl die Ebene der Wahrheit bzw. des Tatsächlichen wie auch die Ebene des Erfundenen. Sie waren eine Narrheit. Glaubte man ihnen blind, war man selbst ein Narr. Erkenntnistheoretisch bewegen sich solche Narrationen wie erwähnt zwischen einem Realismus sowie sozialem Konstruktivismus und genauer einem kommunikativen Konstruktivismus. In diesem Aspekt ähneln sie den Narrationen von Straftätern, wenn diese von ihren Taten erzählen und dort sowohl Wahres, Erfundenes sowie daraus Konstruiertes, seinen Platz findet und unterschiedliche Bedeutungsdimensionen angedeutet werden. In der strukturalistischen Narratologie kann nun das Was einer Erzählung von dem Wie der Präsentation unterschieden werden. Der Inhaltsaspekt (Ereignisse, Personen, Rahmung) wird als Story bezeichnet, die Darstellungsseite, die sich z. B. über die rhe16

Amelunxen (Fn. 14), S. 7. Die Satire hat Michel Foucault als Bezugspunkt für seine Arbeit „Wahnsinn und Gesellschaft“ gedient. 18 Bidlo, Interdisziplinäre Zeitschrift für Theater und Theaterpädagogik Januar/Februar 2014, 4 (6). 17

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torischen oder dramaturgischen Mittel ausdrückt, als Diskurs. Über die unterschiedliche Justierung dieser beiden Ebenen wird nicht nur die Wiedergabe eines Sachverhaltes initiiert, sondern die Erzählung mit Sinn, Intention und damit einem (zumindest impliziten) appellativen Impuls versehen. Das Erzählkonzept in den Sozialwissenschaften verweist im Anschluss darauf, dass die Erzählung – im Sinne der Meadschen Gestaltung der Identität in I und Me –19 weder rein subjektiv noch ganz gesellschaftlich ist, sondern beides beinhaltet. Erzählungen überschreiten immer auch die subjektive Dimension und verweisen auf eine Sprach- und Interaktionsgemeinschaft. In begrifflicher Anlehnung an Paul Ricœur lässt sich hier von narrativer Identität sprechen.20

III. Narrationen in der Kriminologie Die Kriminologie verstanden als eine interdisziplinäre, sozialwissenschaftlich geleitete Wissenschaft wendet sich nicht „nur Taten, Täter[n], Opfer[n] und Entstehungszusammenha¨ nge[n] von Kriminalität [zu], sondern befasst sich ebenso mit Ordnungsvorstellungen, Sicherheit, sozialen Konflikten und Ansätzen ihrer Regulierung in einem weit verstandenen Sinn.“21 Vor diesem Hintergrund spielt der soziale Prozess der Zuschreibung von Kriminalität eine zentrale Rolle. Und im Rahmen dieser sozialen Prozesse – die zuvorderst durch Kommunikation eruierte Prozesse sind – stellen Narrationen wichtige Treiber für z. B. die Zuschreibung von Devianz dar. Vor Gericht wie auch in der Polizeiarbeit besteht ein nicht unerheblicher Teil des zu bearbeitenden Materials aus Geschichten. Und es ist aus einer kulturhistorischen Perspektive kein Zufall, dass sich alle Kulturen auf Mythen bezogen, die christliche Religion z. B. den Aspekt der Schuld und Sühne über Gleichnisse und Geschichten vermittelt.22 Und auch das Motiv, das hinter einer Tat steht, wird über eine Narration angezeigt. Allerdings interessieren sich die Polizei, das Strafrecht und die traditionelle Kriminologie in der Regel nur sehr eingeschränkt für diese Geschichten und nur insoweit, wie sie die eigenen eindeutigen kategorialen Vorgaben erfüllen oder sich daraus ableiten lassen (z. B. Mordmerkmale, Geständnis). Sodann werden sie quantifiziert, d. h. in Statistiken überführt und erfüllen so zugleich den Legitimationsgrund für eben jene Institutionen und ihre Handlungsweisen. Das „Warum“ einer Tat ist dergestalt erst und vor allem dann von Bedeutung, wenn z. B. der subjektive Tatbestand (Vorsatz oder Fahrlässigkeit) erschlossen werden kann. Folgt man Maruna, dann kann es erst einer narrativen Kriminologie gelingen, „die richtigen Fra19

Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 1993. Ricoeur, in: ders., Vom Text zur Person. Hermeneutische Aufsätze (1970 – 1999), 2005, S. 209. 21 Singelnstein/Ostermeier, in: Keller/Truschkat, Methodologie und Praxis der Wissenssoziologischen Diskursanalyse. Band 1: Interdisziplinäre Perspektiven, 2013, S. 481 (481). 22 Vgl. Maruna, in: Presser/Sandberg, Narrative Criminology. Understanding Stories of Crime, 2015, S. vii (viii). 20

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gen zu stellen.“23 Fragen, die man an solche Narrationen stellen könnte, ohne das Feld der Kriminologie zu verlassen, aber zugleich auch nicht allein auf das zu rekurrieren, was bereits die Narrationen auf die o.g. institutionell verankerten Kategorien herunterbricht, wären zum einen jene nach ihrem Widerspiegelungspotential herkömmlicher Diskurse. Und zum anderen Fragen nach ihrem Standort im kommunikativen und wissensspezifischen Netz einer Gesellschaft bzw. Sprach- und Interaktionsgemeinschaft, der Zugriff darauf vom Erzähler und mithin auch seine eigene Verortung darin. Ein Wert für die Kriminologie kann damit in der Rekonstruktion diskursiver Erzeugung von Motivation sein, die in Rückspielung bedeutsam für die kriminologische Theoriebildung sein kann.24 Bei den Narrationen geht es weniger um ihren epistemologischen Standpunkt im Sinne einer Wahr/Falsch-Sichtweise, als mehr um ihre konstitutive und vergemeinschaftende Kraft für den Einzelnen bzw. für mögliche RezipientInnen. So können Geschichten unabhängig von ihrer Wahrheit oder Unwahrheit eine mobilisierende Kraft und Wirkung haben.25 Hier spiegelt sich das Thomas-Theorem wider, das besagt, dass nicht entscheidend ist, ob die subjektive Wirklichkeit mit der objektiven Realität korrespondiert, sondern dass Situationsdefinitionen des Subjekts und sich darauf gründende Handlungen reale Konsequenzen zur Folge haben, unabhängig wie weit subjektive Wirklichkeit und objektive Realität divergieren. Beispielhaft kann hier auf die Kriminalitätsfurcht als kommunikatives Sediment verwiesen werden.26 So lässt sich die Diskrepanz zwischen objektiver Sicherheitslage und subjektiver Kriminalitätsfurcht durch die Kommunikation und die Erzählungen über Kriminalität erklären. In Bezug zur Kriminalita¨ tsfurcht ist nicht allein das Faktum der Tat entscheidend, sondern auch die mittelbare oder unmittelbare Rezipierbarkeit und damit zugleich Kommunizierbarkeit sowie die tatsächliche Kommunikation bzw. Rezeption solcher Taten und Handlungsformen. Will man mehr über die Entstehung von Kriminalita¨ tsfurcht und die Aushandlung eines Sicherheitsempfindens in Erfahrung bringen, das über ein unterstelltes und scheinbares Korrelat zwischen gezählten Fallzahlen und Kriminalita¨ tsempfinden hinausgeht, muss man in Erhebungen und Analysen gerade die Alltagserzählungen sowie Berichte über Straftaten – angestoßen durch die neuen Medien und ihren produktiven und distributiven Gehalt – einbeziehen und in den Blick nehmen.27 Ein solcher Blick sollte in der Regel zudem – als Gegengewicht zu ansonsten quantitativen Studien – ein empirisch-qualitativer sein.

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Maruna (Fn. 22), S. vii (x), eigene Übersetzung. Zum letzten Punkt vgl. auch Aspden/Hayward, in: Presser/Sandberg, Narrative Criminology. Understanding Stories of Crime, 2015, S. 235 (245), zum Verhältnis von Narration und Diskurs vgl. beispielhaft Viehöfer (Fn. 4), S. 65 (82 ff.). 25 Vgl. Presser/Sandberg, in: dies., Narrative Criminology. Understanding Stories of Crime, 2015, S. 1 (5). 26 Vgl. Bidlo (Fn. 2), S. 205 (209 ff.). 27 Vgl. Bidlo (Fn. 2), S. 205 (212). 24

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Ihren empirischen Wert erhalten Narrationen auch darüber, dass sie einen mikrosituativen Einblick in den sozialen Prozess der Kriminalitätserzeugung geben können und zwar aus der Perspektive der Devianz. Es ist sozusagen die andere Seite des Spiegels, der man sich zuwenden und die man rekonstruieren kann, um zu verstehen, ohne zugleich Verständnis haben zu müssen. Dabei setzt diese andere Seite im Rahmen einer Narration nicht zwingend die Tat selbst als Kulminationspunkt, sondern der Erzähler kann die Tat im Rahmen der Geschichte dort selbst verorten. Nicht nur der Prozess der Selbstverortung, sondern auch – aus einer strukturalistischen Perspektive – die Betrachtung der ausgewählten (und möglichen, aber gerade nicht ausgewählten) kulturellen Bruchstücke, Vorgaben und Sinnfiguren28 und deren Bezugnahme und Verarbeitung durch den Erzähler stellen eine nachfolgbare Perspektive dar. Kriminologisch nützlich kann dies nicht nur sein, um Motive besser nachvollziehen zu können – das wäre, wie oben angedeutet, eine „klassische“ Perspektive. Vielmehr können Narrationen z. B. von Täterinnen und Tätern auch als – je nach Reichweitenbetrachtung – Kartographierungen von milieu-, gruppen-, gemeinschafts- oder gesellschaftsspezifischen Vorstellungen und Verhandlungen darüber sein, was wie in welcher Form als kriminell verstanden wird, wie weit oder nahe das Deviante vom Normalen entfernt ist, wie Deviantes entsteht und begründet wird, wann das Deviante als kriminell gelabelt wird und umgekehrt sich anschickt, normal zu werden oder wie und in welchen vielfältigen Formen sich sekundäre Devianz ereignet. Eine narrative Kriminologie, die entsprechende Narrationen in den Blick nimmt, wirft damit einen subkutanen Blick auf die Gesellschaft, schaut unter ihre sichtbare Oberfläche, um die mitunter immer noch verborgenen sozialen Prozesse der Hervorbringung von Kriminalität besser verstehen zu lernen. Sie hat daher Interesse „especially the existential currents and phenomenological specificities that surround the decision to engage in or desist from offending“29 zu betrachten. Und auch wenn Kriminalität als transgressiver Akt verstanden werden kann: „Narrative criminology also shares [the, O.B.] commitment to humanize the offender, and is equally set against such reductive accounts of human action and behavior.“30 Darin liegt die subversive Kraft in einer solchen Perspektive – wie in jeder sozialkonstruktivistischen Sichtweise –, weist sie doch die herrschenden Kategorien zur Einteilung in deviant bzw. nicht-deviant als soziale Erzeugnisse aus, deren Entitätenstatus einem fortwährenden sozialen Wandel unterliegt. Ist das Deviante allerdings aufgrund des sozialen Wandels immer nur etwas Deviantes auf Zeit, erschwert sich einsichtig eine dauerhafte Begründung bzw. Legitimation zur Strafe. Vielmehr ist das Andere, verstanden als Opposition und Kontingenz des aktuellen Zustandes, immer schon eingewoben in die aktuelle Situation, das in diesem Moment strafbar ist, aber dies vielleicht nicht immer bleiben muss.31 28

Vgl. auch Dollinger (Fn. 1), S. 241 (245). Aspden/Hayward (Fn. 24), S. 235 (239). 30 Aspden/Hayward (Fn. 24), S. 235 (239). 31 Beispiele für den letztgenannten Aspekt kann der Muckraking Journalism zum Ende des 19. Jahrhunderts sein, der u. a. prägend auf Robert E. Park, einen der Mitbegründer der Chi29

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IV. Fazit Als kurzes Fazit bleibt festzuhalten, dass die Perspektive einer narrativen Kriminologie eine grundsätzliche weitende ist. Sie weitet die Kriminologie als wissenschaftliche Disziplin, indem sie den Untersuchungsgegenstand „Kriminalität“ selbst entfaltet. Die Verbindung zum Narren sollte zum einen über seine Erzählungen und Erzählfunktion erfolgen. Darin kompilierte er Wahrhaftiges und Erfundenes, um so die Herrschenden zu irritieren und eine Revision des Gegebenen anzustoßen. Zum anderen sollte in lose gedachter Anbindung zur Anomietheorie Emile Durkheims angezeigt werden, dass der ubiquitäre Charakter von Kriminalität und ihren Erzählungen bereits in der Figur des Narren angelegt ist. Ein wesentlicher Unterschied liegt gleichwohl in der Narrenfreiheit: Der Narr war über die meist festgeschriebene Narrenfreiheit vor Strafe bis zu einem gewissen Maße geschützt. Er hatte daher weniger eine normverdeutlichende Funktion, eine Sanktionierung des Normbruchs fand nicht statt. Der Straftäter oder die Straftäterin stehen dagegen nicht außerhalb des Rechts, sie besitzen keine Narrenfreiheit, sondern müssen sich für ihre Taten verantworten. Davor können sie von ihren Taten erzählen und bieten Deutungen und mikrosoziale Bruchstücke milieu- oder gruppenspezifischer Sichtweisen an. Darüber stellen sie die Möglichkeit zur Kartographierung von Devianzprozessen z. B. eingebettet in kriminologischen Regionalanalysen32 zur Verfügung, die die Abweichung nicht nur über eine Gegenüberstellung mit der Norm abgleichen, sondern im gleichen Zuge die Norm selbst hinsichtlich ihrer Normalität befragen können. Letztlich durchschreitet die (kritische) Kriminologie so das Feld der Devianz und ihrer Entstehungsprozesse, an deren beweglichen Grenzen sich das Feld des Normalen aufspannt.

cago School of Sociology, und seine Arbeiten gewirkt hat. Ihre ethnographischen Studien über städtische Lebensräume, Subkulturen und kriminellen Milieus sind auch heute noch für die Kriminologie wichtige Bezugspunkte. Vgl. Bidlo, in: Poferl/Schröer, Handbuch Soziologische Ethnographie, 2020, i.V. 32 Vgl. Feltes/Fischer, in: AK HochschullehrerInnen Kriminologie/Straffälligenhilfe in der Sozialen Arbeit, Kriminologie und Soziale Arbeit, 2013, S. 65 (76).

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz Soziodemografische Einflüsse auf die Einstellung zur polizeilichen Videobeobachtung im öffentlichen Raum Von Thomas Bliesener, Merten Neumann, Christoffer Glaubitz und Dominic Kudlacek

I. Einleitung „Wir schreiben das Jahr 2039.“ So begann ein futurisch-zynisches Szenario zur zukünftigen Entwicklung der Videoüberwachung im öffentlichen Raum, das Thomas Feltes vor 20 Jahren entwarf.1 In seiner Vision hatte sich die Videoüberwachung des innerstädtischen Raumes in Deutschland bis zum Jahr 2039 schnell ausgebreitet, „weil dadurch kleinere Straftaten und Unordentlichkeiten wie das Wegwerfen von Papier oder Zigarettenkippen relativ wirksam verhinder[t]“ werden können.2 Er prognostizierte eine Aufteilung der Innenstädte in videoüberwachte und nichtüberwachte Zonen. Erstere würden die Bürger notgedrungen zum Einkauf und Konsum aufsuchen. Dort würden sie eine Überwachung auf Schritt und Tritt aber in Kauf nehmen, weil sie davon ausgingen, dass ihnen bei einem Übergriff schnell geholfen würde. Parallel dazu würden sich in den Städten nichtüberwachte Areale mit einem bunten Publikum aus Überwachungsgegnern und Randgruppenangehörigen bilden. Diese Areale entzögen sich einer externen Kontrolle, würden aber von Bürgerinnen und Bürgern gern für ungezwungene Freizeitaktivitäten aufgesucht. Seit Feltes’ Formulierung seiner Vision sind etwa 20 Jahre vergangen, in denen zunehmend Kameras zur Beobachtung bzw. Überwachung öffentlicher Räume installiert werden, aber auch deren Auswirkungen mehr und mehr untersucht werden.3 Dabei sind jedoch sowohl die Formen der untersuchten Videoüberwachungsmethoden als auch die Ausrichtungen der Studien hinsichtlich der Wirksamkeitsmaße sehr heterogen. Die untersuchten Maßnahmen lassen sich nach dem Modus ihrer Datenerhebung und -nutzung unterteilen (siehe Tabelle 1). Wird das übertragene Bildma1

Feltes, Bewährungshilfe 48 (2001), 181. Feltes, Bewährungshilfe 48 (2001), 181. 3 Zu den Auswirkungen der Installation von Videokameras hat sich Feltes auch später kritisch geäußert, Feltes, Public Transport International 53 (2004), 26; Feltes, Neue Kriminalpolitik 25 (2013), 48. 2

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Th. Bliesener, M. Neumann, Ch. Glaubitz und D. Kudlacek

terial von einem menschlichen Beobachter oder einer Software4 in Echtzeit gesichtet, wird im Folgenden von Videobeobachtung (VB) gesprochen, erfolgt dagegen lediglich eine Aufzeichnung statischer oder bewegter Bilder mit der Möglichkeit einer späteren Auswertung, wird folgend von Videoüberwachung (VÜ) gesprochen. Tabelle 1 Überblick über verschiedene Arten optisch-technischer Überwachung Maßnahme

Beschreibung

Mögliche Wirkmechanismen

Videobeobachtung (VB)

– Installation funktionsfähiger Kameras – Sichtung des Bildmaterials in Echtzeit durch Beobachter/KI Sicherung des Bildmaterials zur späteren Verwendung

Kriminalitätsbelastung – Abschreckung – Prä- und intervenierende Handeln Aufklärungsquote – Identifikation und Aufklärung

Videoüberwachung (VÜ)

Videoüberwachung (Attrappe)

– Installation funktionsfähiger Kameras – Sicherung des Bildmaterials zur späteren Verwendung

Kriminalitätsbelastung – Abschreckung

– Installation von Kameraattrappen

Kriminalitätsbelastung – Abschreckung

Aufklärungsquote – Identifikation und Aufklärung

Da die VB ein unmittelbares Alarmieren und Eingreifen von Sicherheitsorganen ermöglicht, eröffnet diese Maßnahme die Möglichkeit zu prä- und intervenierendem Handeln, statt auf bloße Abschreckung und auf die Erhöhung der mittelbaren oder unmittelbaren Entdeckungswahrscheinlichkeit beschränkt zu bleiben, wie es bei der VÜ der Fall ist. Eine dritte Maßnahme bilden Kameraattrappen, die lediglich eine Überwachung vortäuschen. Sie werden allerdings eher in privaten Räumen eingesetzt und beschränken sich auf den zentralen Aspekt der Abschreckung. 1. Wirkungen und Akzeptanz der VB/VÜ a) Reduktion der Kriminalität Zur empirischen Prüfung dieser Wirkungsannahmen wurden in der Vergangenheit vor allem im Ausland zahlreiche Studien durchgeführt. Vornehmlich wurden verschiedene Kriminalitätsmaße herangezogen, um den Einfluss der VÜ/VB auf das 4 Auf Videosysteme, die mittels künstlicher Intelligenz (KI) auffällige Bewegungsmuster erkennen oder biometrische Eigenschaften mit Datenbanken abgleichen, wird hier nicht weiter eingegangen.

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz

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Kriminalitätsgeschehen zu untersuchen. Aber auch das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung bzw. der Nutzer überwachter Einrichtungen wurde analysiert. Piza und Kollegen bezogen in einer Meta-Analyse die Effekte von insgesamt 76 Studien aus verschiedenen Ländern ein und kamen zu dem Ergebnis, dass Videoüberwachungsmaßnahmen einen moderat kriminalitätssenkenden Effekt von 13 % haben.5 Wie die Autoren darstellen, ließ sich dieser Gesamteffekt im Wesentlichen auf die positiven Wirkungen von VÜ/VB-Maßnahmen in Parkhäusern und auf Parkplätzen zurückführen. Hier fanden sie eine Reduktion der Kriminalitätsbelastung in Höhe von 37 %. In Wohngebieten ließ sich eine Reduktion von im Mittel 12 % feststellen. Günstige, aber bereits statistisch nicht mehr signifikante Effekte6 ließen sich für VB/VÜ in öffentlichen Transportmitteln finden. In Innenstadtbereichen und öffentlichen Einrichtungen war der Rückgang der Kriminalität dagegen kaum erkennbar.7 Die Autoren deuten zudem darauf hin, dass die zuvor berichteten kriminalitätsreduzierenden Effekte hauptsächlich auf VB-Maßnahmen zurückzuführen sind, da sich für VÜ-Maßnahmen durchweg keine signifikanten Effekte gezeigt haben. Außerdem wird deutlich, dass vor allem das Zusammenspiel von VB-Maßnahmen mit anderen Interventionen zu einer Kriminalitätsreduktion beitragen kann. Zu leicht abweichenden Befunden kommt eine Übersichtsarbeit von Alexandrie.8 Dieser fand in einer Zusammenfassung von sieben Evaluationsstudien9 eine Reduktion der Gesamtkriminalität von 24 – 28 % an öffentlichen Plätzen und U-Bahn-Stationen gegenüber den Kontrollorten. Auf Pendler-Parkplätzen und an Vorort-Bahnhöfen zeigten sich dagegen keine Effekte. Bei Integration der bisherigen Befunde zeigt sich, dass VB/VÜ in unterschiedlichen Settings zur Reduktion der Eigentumsdelikte beiträgt, eine kriminalitätssenkende Wirkung für Rohheits- und Sexualdelikte jedoch nicht festzustellen ist. Seit langem ist zudem bekannt, dass Polizeistrategien, die sich auf bestimmte Orte konzentrieren, zu einer Verlagerung von Straftaten in angrenzende Gebiete führen können.10 Die Befundlage zu solchen Verlagerungs- bzw. Verdrängungseffekten

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Piza/Welsh/Farrington/Thomas, Criminology & Public Policy 18 (2019), 135. OR = 1,37. 7 OR = 1,06. 8 Alexandrie, Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention 18 (2017), 210. 9 Einbezogene Studien: Gomez-Cardona/Mejia/Tobon, The Deterrent Effect of Public Surveillance Cameras on Crime, 2017; Hayes/Downs, Secur J 24 (2011), 237; King/Mulligan/ Raphael, SSRN Journal 2008; La Vigne/Lowry, Evaluation of Camera Use to Prevent Crime in Commuter Parking Facilities: A Randomized Controlled Trial, 2011; Munyo/Rossi, Is it displacement? Evidence on the impact of police monitoring on crime, 2016; Priks, Scand. J. of Economics 116 (2014), 1160; Priks, The Economic Journal 125 (2015), F289. 10 Reppetto, Crime & Delinquency 22 (1976), 166; siehe auch Braga, J Exp Criminol 1 (2005), 317. 6

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Th. Bliesener, M. Neumann, Ch. Glaubitz und D. Kudlacek

ist uneinheitlich. Während die von Alexandrie untersuchten Studien11 mehrheitlich keine diesbezüglichen Effekte fanden, wurden in einer Untersuchung in 100 U-BahnStationen in Stockholm Verlagerungen von 15 % der Straftaten in angrenzende Gebiete beobachtet.12 In einer Studie, die die VÜ in 277 öffentlichen Straßen der uruguayischen Stadt Montevideo in den Blick nahm, ergab sich dagegen auch eine Reduktion der Straßenkriminalität in den an die VÜ-Bereiche angrenzenden Straßenabschnitten, obwohl sich die Kriminalität im gesamten Stadtgebiet nicht verändert hatte.13 Großräumige Verlagerungen statt lokalräumlicher Verdrängungseffekte sind dabei nicht auszuschließen. Zu möglichen Auswirkungen auf ähnliche Delinquenzphänomene (z. B. Vandalismus; Spraying) oder auf andere Erfolgsindikatoren polizeilicher Arbeit wie z. B. die Aufklärungsquote, die Eigensicherung der Polizeibeamten, die Straßenverkehrssicherheit oder gar die Verhinderung terroristischer Aktivitäten liegen bislang keine belastbaren Befunde vor. b) Subjektives Sicherheitsempfinden Die Frage, inwieweit sich das Sicherheitsempfinden der Bürgerinnen und Bürger durch die VB/VÜ im öffentlichen Raum auswirkt, wurde bisher seltener untersucht. Eine groß angelegte Evaluationsstudie in Deutschland14 kam zu dem Schluss, dass sich das subjektive Sicherheitsgefühl an Plätzen mit bzw. ohne VB/VÜ nicht signifikant voneinander unterscheidet. Ein positiver Einfluss der VB/VÜ zeigte sich jedoch für Geschäftstreibende vor Ort. Zu ähnlichen Ergebnissen zum allgemeinen Sicherheitsgefühl in der Bevölkerung kam auch Rothmann in Wien.15 Hier zeigte sich ebenfalls kein Unterschied im subjektiven Sicherheitserleben zwischen Personen, die von der VB wussten, und Personen, die nicht über diese informiert waren. c) Akzeptanz Während Feltes in seinem Szenario eine breite Ablehnung der VB/VÜ prognostizierte, zeigen vorliegende Studien eher eine überwiegende Akzeptanz der VB/VÜ im öffentlichen Raum. Nach einer Zusammenstellung deutscher Studien16 stehen zwi11

Alexandrie, Journal of Scandinavian Studies in Criminology and Crime Prevention 18 (2017), 210. 12 Priks, The Economic Journal 125 (2015), F289. 13 Munyo/Rossi (Fn. 9). 14 Bornewasser/Schulz, in: Bornewasser/Classen/Stolpe, Videoüberwachung öffentlicher Straßen und Plätze. Ergebnisse eines Pilotprojekts im Land Brandenburg, 2008, S. 97. 15 Rothmann, Videoüberwachung als Instrument der Kriminalprävention. Eine quantitative Analyse von Akzeptanz und Sicherheitsgefühl auf ausgesuchten Wiener Kriminalitätsbrennpunkten, 2009. 16 Glaubitz u. a., Ergebnisse der Evaluation der polizeilichen Videobeobachtung in Nordrhein-Westfalen gemäß § 15a PolG NRW, 2018.

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz

33

schen 56 % und 84 % der Personen, die in verschiedenen Studien befragt wurden, der VB/VÜ im öffentlichen Raum positiv gegenüber. Eine Mehrheit der Befragten spricht sich auch für einen Ausbau von VB/VÜ im öffentlichen Raum aus.17 Die Akzeptanz von VB/VÜ-Maßnahmen variiert jedoch stark mit dem jeweiligen Kontext. Liegt die Zustimmung in Banken und an Geldautomaten bei über 90 %, erreicht die Zustimmung zur VB/VÜ am Arbeitsplatz lediglich 11 %. Auch in der Nähe von Umkleidekabinen, in Sporteinrichtungen und im Bereich von Waschräumen und Toiletten wird sie mehrheitlich abgelehnt.18 Die Befunde weisen zudem darauf hin, dass Menschen die VB/VÜ an Orten mit typischerweise kurzer Verweildauer (Parkplätze, Fußgängertunnel, Bahnhöfe und Bahnhofsvorplätze) eher akzeptieren, als etwa in Parkanlagen oder Wohngebieten.19 Dabei zeigt sich auch, dass Männer der VB/ VÜ kritischer gegenüberstehen als Frauen und ältere Personen diese eher befürworten als jüngere; auch stehen Personen mit höherem Bildungsabschluss der VB/VÜ kritischer gegenüber.20 In der Kritik stehen vor allem datenschutzrechtliche Aspekte,21 eine Einschränkung der Privatsphäre,22 eine mögliche Zweckentfremdung der Aufnahmen23 und der technische und personelle Mehraufwand.24 Bislang liegen demnach einige Erkenntnisse zu soziodemografischen Einflussfaktoren der Akzeptanz im Sinne einer Gesamtbewertung der VB/VÜ-Maßnahmen und auch zur Kontextabhängigkeit dieser Gesamtbewertung vor. Ob die Akzeptanz der VB/VÜ-Maßnahmen auf individueller Ebene ein eindimensionales Konstrukt im Sinne einer generellen Zugewandtheit oder Ablehnung darstellt oder aber einer Verrechnung mehrerer unabhängiger Dimensionen im Sinne einer pro-und-contra-Abwägung entspricht, ist dabei bislang nicht bekannt, wenngleich erste Hinweise für Letzteres existieren: So fand Kudlacek in einer Fragenbatterie mit neun Items zur Einstellungsmessung zur VB/VÜ zwei zugrundeliegende unabhängige Faktoren.25 17 Kudlacek, Akzeptanz von Videoüberwachung. Eine sozialwissenschaftliche Untersuchung technischer Sicherheitsmaßnahmen, 2015. 18 Hempel/Töpfer, CCTV in Europe. Final report, 2004; Klauser, Die Videoüberwachung öffentlicher Räume. Zur Ambivalenz eines Instruments sozialer Kontrolle, 2006. 19 Klauser, Die Videoüberwachung öffentlicher Räume. Zur Ambivalenz eines Instruments sozialer Kontrolle, 2006. 20 Belina, Sicherheit, Sauberkeit und Videoüberwachung im ÖPNV, 2006; Bornewasser/ Schulz (Fn. 14), S. 97; Kudlacek (Fn. 17); Lohmann/Rölle, Subjektive Sicherheit der Fahrgäste im ÖPNV. Eine Fahrgastbefragung in Mannheim zur Bestimmung des subjektiven Sicherheitsgefühls an der Haltestelle Hauptbahnhof, 2004; Reuband, Neue Kriminalpolitik 13 (2001), 5; Rothmann (Fn. 15); Zurawski/Czerwinski, Videoüberwachung in Hamburg. Abschlussbericht Teil A. Qualitative Studie zu Einstellung, Wahrnehmung und Verhaltensänderung hinsichtlich Kameraüberwachung in Hamburg, 2007. 21 Hofinger/Knigge, Kurzüberblick zu den Ergebnissen der Akzeptanzstudie (Städteinterviews und Online-Studie) des Projekts ADIS für Online Studienteilnehmer, 2012. 22 Bornewasser/Schulz (Fn. 14), S. 97. 23 Hempel/Töpfer (Fn. 18); Reuband (Fn. 20). 24 Hofinger/Knigge (Fn. 21). 25 Kudlacek (Fn. 17).

34

Th. Bliesener, M. Neumann, Ch. Glaubitz und D. Kudlacek

2. Ziel der Untersuchung Da die von Kudlacek verwendete Skala zur Einstellungsmessung in der vorliegenden Untersuchung um zwei Items erweitert wurde, soll zunächst erneut eine Hauptkomponentenanalyse durchgeführt werden, um die Mehrdimensionalität des Akzeptanzkonstruktes zu replizieren. Anschließend soll der Zusammenhang zwischen den bereits in vorherigen Studien aufgekommenen soziodemographischen Einflussfaktoren und den identifizierten Dimensionen des Akzeptanzkonstruktes analysiert werden. Dafür soll ein statistisches Verfahren verwendet werden, das insbesondere für die Abbildung komplexer Interaktionen geeignet ist.

II. Methode 1. Vorgehen Im Rahmen des KFN-Forschungsprojektes „Evaluation der polizeilichen Videobeobachtung auf öffentlichen Plätzen in NRW (§ 15a PolG NRW)“26 wurde eine Passantenbefragung an videobeobachteten und vergleichbaren unbeobachteten öffentlichen Plätzen in den Städten Aachen, Dortmund, Duisburg, Düsseldorf, Essen, Köln, Mönchengladbach durchgeführt. Zu diesem Zweck wurden knapp 30 Interviewerinnen und Interviewer geschult, die die Interviews in der Zeit von Mai 2018 bis November 2018 durchführten. Dabei wurde auf ein „random walk“-Verfahren zurückgegriffen, d. h., die Interviewerinnen und Interviewer bewegten sich in einem zuvor festgelegten Zeitfenster zufällig im jeweiligen Befragungsraum. Auf ein festgelegtes Signal hin (z. B. Sekundenzeiger auf „voll“), wurde von ihnen die nächste erwachsene Person im Befragungsraum angesprochen und um ein Kurzinterview bestehend aus einem hochstandardisierten Fragebogen gebeten. Abgelehnte Interviewanfragen wurden protokolliert. Die Zeitfenster für die Befragung wurden vorab systematisch festgelegt, um den gesamten Zeitraum der VB abzubilden und rhythmische Schwankungen der Frequentierung der öffentlichen Orte durch die Bevölkerung während der Tages- und Nachtzeit sowie der Wochentage repräsentativ zu berücksichtigen. Die elektronische Eingabe der Daten erfolgte durch die dafür geschulten Interviewkräfte. Die ausgefüllten Fragebögen wurden postalisch an das KFN übermittelt. 2. Interviewfragen Insgesamt wurden den Passanten in streng standardisierter Weise bis zu 26 Fragen (teilweise mit differenzierenden Unterfragen) gestellt. Im Folgenden sollen nur die

26

Glaubitz u. a. (Fn. 16).

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz

35

Inhalte dargestellt werden, die bei der vorliegenden Untersuchung von Relevanz waren. Die Einstellung zur VB wurde mithilfe von elf Items (z. B. „Videobeobachtung kann terroristische Anschläge verhindern“, „Videobeobachtung verletzt mein Recht auf Datenschutz“)27 erfasst. Ferner wurden das Geschlecht, das Alter, der höchste Bildungsabschluss (Hauptschulabschluss/Realschulabschluss/Fachabitur/ Abitur oder höherer Bildungsabschluss) und die Staatsangehörigkeit (deutsch/nichtdeutsch) der Befragten erhoben. 3. Stichprobe Insgesamt standen Angaben von N = 2.109 befragten Passanten zur Verfügung. 192 Fälle wurden ausgeschlossen, weil die Befragten unter 18 Jahre alt waren oder die Interviewer den Eindruck hatten, dass die Befragten während des Interviews unter starkem Alkohol- oder Drogeneinfluss standen. Weitere 46 Fälle wurden aus dem Datensatz entfernt, da die Angaben zur Einstellung zu öffentlicher Videobeobachtung unvollständig waren. Der verbliebene Datensatz mit N = 1.871 Fällen bildet die Grundlage für die folgende Analyse. 48,5 % der Befragten waren weiblich, das durchschnittliche Alter lag bei M = 38,3 Jahren (SD = 15,1). 13,8 % der Befragten hatten keine deutsche Staatsbürgerschaft, 38,5 % gaben an, die allgemeine Hochschulreife oder einen höheren Bildungsabschluss erlangt zu haben. Tabelle 2 zeigt die Verteilung der befragten Personen an den videoüberwachten Plätzen und nichtüberwachten Kontrollplätzen in den einzelnen Zeitfenstern. Tabelle 2 Zahl der befragten Personen nach Geschlecht, Tageszeit und Befragungsort Videobeobachteter Raum

Geschlecht

Nein

Männlich

26

Weiblich Ja

Männlich Weiblich

27

0 – 6 Uhr

6 – 12 Uhr

12 – 18 Uhr

18 – 24 Uhr

87

143

127

21

77

139

136

37

135

228

178

28

123

200

184

Die Items zur Einstellung zur Videobeobachtung entstammen Kudlacek (Fn. 17) und sind u. a. angelehnt an Baier u. a., Sicherheit und Kriminalität in Stade – Ergebnisse einer Schüler- und Erwachsenenbefragung. KFN-Forschungsbericht. Nr. 106, 2009. Für die Beantwortung wurde jeweils eine 5-stufige Skala verwendet, die von 1 = „trifft gar nicht zu“ bis 5 = „trifft voll und ganz zu“ reichte.

36

Th. Bliesener, M. Neumann, Ch. Glaubitz und D. Kudlacek

4. Umgang mit fehlenden Werten Fehlende Werte wurden unter Ausschluss der Einstellungsvariablen mithilfe des Pakets mice28 für die Statistiksoftware R29 imputiert.30

III. Statistische Analyse und Ergebnisse Tabelle 3 zeigt die Interkorrelationen der Einstellungsitems zur VB. Die deutlichen Unterschiede in den Korrelationswerten legen bereits nahe, dass sich nicht alle Items zu einer Gesamtskala zusammenfassen lassen. Auch inhaltlich ist zu erkennen, dass mit den Einstellungsitems zur Videobeobachtung unterschiedliche Aspekte thematisiert werden. Daher wurde zunächst versucht, die erfassten Items auf möglichst wenige zugrundeliegende Dimensionen zurückzuführen. Zu diesem Zweck wurde eine Hauptkomponentenanalyse durchgeführt.31 Bei diesem Verfahren wird das durch die einzelnen Variablen (Items) aufgespannte Koordinatensystem so rotiert, dass möglichst wenige Dimensionen oder Komponenten eine maximale Varianzaufklärung der Variablen erreichen. Dadurch können die Items auf die gefundenen Dimensionen „komprimiert“ werden. Auf die Items zur Einstellung gegenüber der VB angewendet, lassen sich mit der Hauptkomponentenanalyse zwei Dimensionen identifizieren: Auf der ersten Dimension gruppieren sich sieben Items, die einen Sicherheitsgewinn durch die VB thematisieren („Ich fühle mich durch VB sicherer“, „Der Einsatz von VB senkt die Kriminalität“, „Der Einsatz von VB wird dazu beitragen, dass Straftaten wie Diebstahl, Raub und Körperverletzung verhindert werden“). Die zweite Dimension fasst drei Items zusammen, wovon zwei datenschutzrechtliche Bedenken umfassen („VB verletzt mein Recht auf Datenschutz“, „Ich glaube, dass die durch die Videokameras aufgezeichneten Daten zweckentfremdet werden können“). Das dritte Item der zweiten Dimension zielt auf eine affektiv ablehnende Haltung gegenüber der VB ab („Beim Gedanken an VB fühle ich mich unwohl“). Ein Item („Videobeobachtung sollte dort, wo sie eingesetzt wird, immer deutlich sichtbar gekennzeichnet werden“) wurde aus der weiteren Analyse ausgeschlossen, da es keiner der beiden Dimensionen zufriedenstellend zugeordnet werden konnte (h2 = ,14). Entsprechend dieser dimensionalen Aufteilung wurden die Items gemittelt und somit zu den Skalen Sicherheitsförderung (Cronbach’s a = ,89) und Datenschutzbedenken (Cronbach’s a = ,81) zusammengefasst. Beide Skalen korrelieren erwartungsgemäß negativ miteinander 28

Van Buuren/Groothuis-Oudshoorn, J. Stat. Soft. 45 (2011), 1. R Core Team, R: A language and environment for statistical computing, 2020. 30 Der maximale Anteil an fehlenden Werten betrug 5,2 % und betraf die Angaben zum höchsten Schulabschluss. 31 Vgl. Bortz/Schuster, Statistik für Human- und Sozialwissenschaftler. Mit 163 Tabellen, 7. Aufl. 2010, S. 385; Revelle, psych: Procedures for Personality and Psychological Research, 2017, online unter https://cran.r-project.org/web/packages/psych/psych.pdf. 29

3,24 1,11 3,17 1,03

#10 Ich fühle mich durch Videobeobachtung allgemein sicherer.

#11 Der Einsatz von Videobeobachtung senkt die Kriminalität.

Anmerkung. n.s.p > 0,05

2,39 1,23 3,25 1,04

#9 Der Einsatz von Videobeobachtung wird dazu beitragen, dass Straftaten wie Diebstahl, Raub Körperverletzung, verhindert werden.

3,80 1,21

#7 Videobeobachtung sollte dort, wo sie eingesetzt wird, immer deutlich sichtbar gekennzeichnet werden. (-)

#8 Videobeobachtung verletzt mein Recht auf Datenschutz. (-)

3,14 1,10

#6 Ich habe weniger Angst, Opfer einer Straftat zu werden, wenn der Bereich, in dem ich mich befinde, videobeobachtet wird.

-

-

-

-

#4

-

-

-

-

-

#5

0,16

-

-

-

-

-

-

-

#7

-

-

-

-

-

-

-

-

#8

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

0,47 0,51 0,46 -0,19 -0,25 0,57 -0,01n.s. -0,25 0,69 0,68 -

-

-

-

-

-

-

-

-

-

-

#9 #10 #11

0,62 0,61 0,45 -0,26 -0,34 0,66 -0,00n.s. -0,34 0,63

0,46 0,53 0,44 -0,16 -0,26 0,57 -0,00n.s. -0,25

-0,29 -0,44 -0,09 0,56 0,67 -0,27

-0,09 -0,08 -0,12 0,20 0,15 0,01n.s.

-

-

-

-

-

-

#6

Korrelationen

0,55 0,52 0,37 -0,19 -0,24

-0,28 -0,43 -0,08 0,51

2,11 1,16

#5 Beim Gedanken an Videobeobachtung fühle ich mich unwohl. (-)

-

0,34 0,36 -0,22 -0,33 -0,06

2,44 1,35

-

2,87 1,23

-

-

#3

#4 Ich glaube, dass die durch Videokameras aufgezeichneten Daten zweckentfremdet werden können. (-)

0,59

3,62 1,09

#2 Videobeobachtung sollte zur Sicherheit der Bürger zunehmend eingesetzt werden.

-

#2

#3 Videobeobachtung kann terroristische Anschläge verhindern.

-

3,24 1,09

#1

#1 Wenn ich sehe, dass ein Ort videobeobachtet wird, kann ich mich dort entspannter bewegen.

SD

M

Items

Kennwerte (N = 1.871)

Tabelle 3: Kennwerte und Interkorrelationen der Einstellungsitems

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz 37

38

Th. Bliesener, M. Neumann, Ch. Glaubitz und D. Kudlacek

(r = -,37), die moderate Höhe der Korrelation zeigt aber auch, dass beide Einstellungen nicht unvereinbar miteinander sind. Tabelle 4 Mittlere Zustimmung (Standardabweichung) auf den Einstellungsdimensionen nach Geschlecht Sicherheitsförderung

Datenschutzbedenken

Männliche Befragte

3,07 (0,89)

2,59 (1,08)

Weibliche Befragte

3,26 (0,80)

2,32 (0,94)

Gesamt

3,16 (0,86)

2,46 (1,02)

Wie Tabelle 4 zeigt, fallen insgesamt die Zustimmung zur ersten Skala Sicherheitsförderung höher aus als zur Skala Datenschutzbedenken. Mit Blick auf das Geschlecht der Befragten findet sich ein interessanter Interaktionseffekt: Die weiblichen Befragten befürworten die sicherheitsfördernden Aspekte der VB stärker und äußern gleichzeitig weniger stark datenschutzbezogene Bedenken, während die männlichen Befragten auf beiden Skalen eher zur (unentschiedenen) Mitte der Skala tendieren. Die Zusammenhänge der Einstellungen zum Alter der Befragten fallen eher schwach, in ihrer Richtung aber gegenläufig aus. Während die Zuschreibung einer Sicherheitsförderung mit dem Alter eher steigt (r = ,13), sinken die Datenschutzbedenken in etwa gleichem Maße (r = -,10). Ähnlich gegenläufige Einstellungsunterschiede zeigen sich auch hinsichtlich des Bildungsgrades der Befragten. Während Befragte mit einem Haupt- oder Realschulabschluss im Vergleich zu Befragten mit mindestens einem Fachabitur der VB eine eher hohe Sicherheitsförderung unterstellen (Skalenmittelwerte: 3,22 vs. 3,11; t = 2,93; p < ,01), sind sie zugleich auch weniger skeptisch hinsichtlich datenschutzrechtlicher Bedenken (Skalenmittelwerte: 2,35 vs. 2,54; t = 4,09; p < ,001). In Bezug auf die Staatsangehörigkeit der Befragten wird deutlich, dass Personen ohne deutsche Staatsbürgerschaft etwas stärker sicherheitsförderliche Merkmale der VB äußern als Personen mit deutscher Staatsbürgerschaft (Skalenmittelwerte: 3,28 vs. 3,14; t = 2,29; p < ,05). Hinsichtlich der Datenschutzbedenken zeigen sich unter Berücksichtigung der Staatsangehörigkeit keine nennenswerten Unterscheide (Skalenmittelwerte: 2,44 vs. 2,46; t = 0,32; p = ,75). Um komplexere Zusammenhänge zwischen den beiden Einstellungsskalen und den individuellen Merkmalen der befragten Personen näher zu ergründen, wurden im Folgenden Entscheidungsbäume (auch tree-based-modeling oder recursive partitioning) bestimmt. Entscheidungsbäume sind eine Klasse von prädiktiven statistischen Verfahren, die unter den vorliegenden Prädiktorvariablen (hier den soziodemografischen Merkmalen) den besten Trennungspunkt im Hinblick auf die abhängigen Variablen (Sicherheitsförderung und Datenschutzbedenken) suchen. Die Güte dieses Trennungspunktes bestimmt sich daraus, wie stark sich die zwei resultierenden Sub-

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz

39

gruppen auf den abhängigen Variablen unterscheiden. Ist der beste Trennungspunkt identifiziert worden, kann in den Subgruppen wieder genauso vorgegangen werden. In der Fortführung dieses Vorgehens entsteht eine Baumstruktur, die die betrachteten Fälle in möglichst gut unterscheidbare Gruppen (im Sinne hoher vs. niedriger Skalenausprägungen) unterteilt.32 Entscheidungsbäume sind in vielen verschiedenen Varianten in gängigen Statistikanwendungen implementiert.33 Das hier angewandte Verfahren nennt sich Conditional Inference Trees34 und ist implementiert in dem Paket partykit35 für die Statistiksoftware R.36 Die Besonderheit bei diesem Verfahren ist, dass bei jedem Trennungspunkt berücksichtigt wird, ob sich daraus signifikante Gruppenunterschiede ergeben. Die Suche nach weiteren Aufteilungen bricht ab, wenn keine weiteren signifikanten Gruppenunterschiede aus einer Aufteilung resultieren. Zudem ist dieses Verfahren dazu geeignet, mehrere abhängige Variablen in einem Modell zu berücksichtigen. Abbildung 1 zeigt einen Entscheidungsbaum37 im Hinblick auf die abhängigen Variablen Sicherheitsförderung und Datenschutzbedenken. Abgebildet ist dabei für jede identifizierte Gruppe die Abweichung der Gruppenmittelwerte auf beiden Einstellungsskalen vom jeweiligen Gesamtmedian38 der Skala. Zunächst fällt auf, dass die tatsächlichen Unterschiede in den Gruppen auf beiden Skalen eher gering sind. Bei keiner identifizierten Gruppe übersteigt die Abweichung vom Gesamtmedian einen Wert von 0,55. Bei der folgenden Betrachtung der Ergebnisse ist also zu beachten, dass die diskutierten Effekte der Prädiktorvariablen vergleichsweise klein ausfallen. Bei Betrachtung des Entscheidungsbaumes fällt vor allem eine Gruppe deutlich ins Auge: Weibliche Befragte, die maximal einen Realschulabschluss erworben haben und zum Befragungszeitpunkt über 50 Jahre alt waren, zeigen eine hohe Zustimmung zu den sicherheitsförderlichen Merkmalen der VB und stehen ihr in puncto Datenschutz auch vergleichsweise unkritisch gegenüber. Der Rest der weiblichen Befragten scheint sich hingegen nicht sonderlich von der Gesamtstichprobe zu unterscheiden. Bei den männlichen Befragten wird deutlich, dass dieser Einfluss des 32 Für eine nähere Beschreibung des Verfahrens siehe z. B. Strobl/Malley/Tutz, Psychological Methods 14 (2009), 323; James et al., An introduction to statistical learning. With applications in R, 2017, S. 303. 33 Für einen Überblick verschiedener Algorithmen siehe Loh, International Statistical Review 82 (2014), 329. 34 Hothorn/Hornik/Zeileis, The Comprehensive R Archive Network, 2015; Hothorn/Hornik/Zeileis, Journal of Computational and Graphical Statistics 15 (2006), 651. 35 Hothorn/Zeileis, Journal of Machine Learning Research (16) 2015, 3905. 36 R Core Team (Fn. 29). 37 Mit a = ,05 (Bonferroni-Adjustierung), mindestens 100 Fällen pro Gruppe und maximal drei Ebenen. 38 Der Median wurde hier dem Mittelwert vorgezogen, da das hier für die Differenzbildung verwendete Maß der zentralen Tendenz möglichst wenig von Extremwerten beeinflusst werden soll.

40

Th. Bliesener, M. Neumann, Ch. Glaubitz und D. Kudlacek

Abbildung 1: Entscheidungsbaum für die Skalen Sicherheitsförderung (SHF) und Datenschutzbedenken (DSB)

Alters unabhängig vom Bildungsniveau wirksam wird. So zeigen ältere Männer in der betrachteten Stichprobe ebenfalls eine höhere Zustimmung zu den sicherheitsförderlichen Aspekten des VB und stehen ihr in Bezug auf Datenschutzbedenken weniger kritisch gegenüber als jüngere Männer. Unter den befragten jüngeren Männern ist zu beobachten, dass diejenigen ohne eine deutsche Staatsbürgerschaft in Bezug auf die VB zwar Datenschutzbedenken äußern, ihr aber gleichzeitig auch sicherheitsförderliche Merkmale zuschreiben. Jüngere Männer mit deutscher Staatsbürgerschaft schreiben der VB hingegen weniger sicherheitsförderliche Merkmale zu.

IV. Diskussion In der vorliegenden Studie wurden auf Grundlage einer umfassenden Passantenbefragung in Nordrhein-Westfalen, Einflussfaktoren auf die Einstellungen zu VBMaßnahmen analysiert. Zunächst zeigt sich, dass die Einstellungen zur VB unter den befragten Passanten weitgehend homogen sind. Dennoch finden sich Effekte verschiedener Personenmerkmale auf die Einstellungen zur VB. Diese treten sowohl für sich genommen, als auch in teilweise komplexen Wechselwirkungen mit anderen Personenmerkmalen auf. So nehmen Frauen stärker sicherheitsförderliche Eigenschaften der VB an und bewerten die Maßnahmen hinsichtlich des Datenschutzes weniger kritisch als Männer. Ferner zeigt sich ein Effekt des Alters. Ältere Personen

Videobeobachtung zwischen Skepsis und Akzeptanz

41

schreiben der VB mehr sicherheitsförderliche Merkmale zu und äußern auch weniger Datenschutzbedenken. Bei den befragten Frauen zeigt sich dieser Alterseffekt aber nur in Zusammenhang mit einem vergleichsweise niedrigen Bildungsniveau. Bei Männern jüngeren und mittleren Alters erweist sich dagegen die Staatsangehörigkeit als wichtiges Unterscheidungsmerkmal. So sehen Deutsche weniger sicherheitsförderliche Aspekte der VB und bewerten sie auch deutlich kritischer als Nichtdeutsche in dieser männlichen Altersgruppe. Die beschriebenen Merkmale und ihre Wechselwirkungen führen so zu teilweise diametralen Einstellungsmuster. Während die Frauen mittleren und jüngeren Alters mit eher geringerem Bildungsstatus den VBMaßnahmen in hohem Maße sicherheitsförderliche Wirkungen zuschreiben und wenig Datenschutzbedenken hegen, weicht das Einstellungsmuster der deutschen Männer im Alter jüngeren und mittleren Alter genau gegenläufig vom Gesamtmittel ab. Insgesamt unterstützen die Befunde der Studie die These, dass die Einstellung gegenüber VB/VÜ-Maßnahmen kein eindimensionales Konstrukt darstellt, sondern sich aus unabhängigen Einstellungsdimensionen zusammensetzt, von denen in der vorliegenden Untersuchung die beiden Dimensionen Sicherheitsförderung und Datenschutzbedenken untersucht werden konnten. Dabei wird deutlich, dass starke Datenschutzbedenken mit einem hohen Vertrauen in die Förderung der Sicherheit durch die VB/VÜ-Maßnahmen durchaus Hand in Hand gehen können. Die Bestimmung weiterer Einstellungsdimensionen sowie die weitere Analyse der kontextuellen oder personenbezogenen Merkmale, die diese Einstellungsdimensionen aber auch die integrative Verrechnung dieser Einstellungsdimensionen zu einer global ablehnenden oder befürwortenden Haltung gegenüber VB/VÜ-Maßnahmen beeinflussen, ist jedoch noch nicht abgeschlossen. Es bleibt auch die Frage zu klären, welche Prozesse des generellen Erlebens oder der kontextuellen Erfahrung für diese differentiellen Einstellungsmuster verantwortlich sind und wie verschiedene Bevölkerungsgruppen derart differentielle Einstellungen zur VB/VÜ entwickeln. Wenngleich einige Phänomene des von Feltes vor 20 Jahren gezeichneten Scenarios zur VB/VÜ im öffentlichen Raum und deren Bewertung durch die breite Bevölkerung (bisher) nicht eingetreten sind, in seiner Einschätzung zur Entwicklung und Verbreitung der VB/VÜ im öffentlichen Raum lag er goldrichtig. Zum Ende seines damaligen Beitrags forderte er „Sie [die VB/VÜ] sollte nur dort eingesetzt werden, wo es tatsächlich und nachweisbar notwendig ist. Dies ist zu begründen, zu beweisen und offen zu legen. Durch regelmäßige Evaluation und entsprechende Testphasen ist sicherzustellen, dass Video-Überwachung dort wieder entfernt wird, wo sie nicht mehr notwendig ist.“39 Dem ist nicht viel hinzuzufügen.

39

Feltes, Bewährungshilfe 2001, 181.

Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in der katholischen Kirche Von Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

I. Einleitung In seinem umfangreichen Werk hat sich der verehrte Jubilar auch mit der Sexualdelinquenz befasst.1 Der vorliegende Beitrag hat daher ein Thema aus dem Bereich der Sexualdelikte zum Gegenstand. Es geht um die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in der katholischen Kirche. Durch katholische Kleriker begangene sexuelle Missbrauchsdelikte gegen Minderjährige haben in den letzten Jahren große Aufmerksamkeit erfahren. Für die Erklärung dieser Straftaten können neben strukturellen und situativen Variablen2 auch die Persönlichkeiten und die Interaktionen der am Tatgeschehen Beteiligten von Bedeutung sein. Außerdem können Befunde über die Täter für die Konzeption von Präventionsmaßnahmen relevant sein. Es ist daher angebracht, einen Blick auf die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen in der katholischen Kirche zu richten. Im Folgenden werden Merkmale dieser Täter geschildert und wird eine Gruppierung der Täter vorgenommen.

II. Methoden Die in diesem Beitrag dargestellten Befunde stammen aus dem Forschungsprojekt „Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz“. Dieses Projekt wurde im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz von einem Forschungskonsortium durchgeführt, das aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Mannheim, Gießen und Heidelberg bestand. Die Untersuchung wird daher als MHG-Studie bezeichnet. Das Forschungsprojekt setzte sich aus sieben Teilprojekten zusammen. Das Teilprojekt 1 diente der qualitativen und quantitativen Erfassung der Datenlage und Datenhaltungspraktiken bezüglich der Personalakten in den 27 deut1 Vgl. Feltes/List/Ruch, Sexuelle Diskriminierung und Viktimisierung an Hochschulen. Überlegungen zur Aufhellung des Dunkelfeldes und zu Maßnahmen jenseits des Strafrechts, Kriminologisches Journal, 11. Beiheft, 2016, S. 265. 2 Zu institutionellen Bedingungen des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen siehe Hermann u. a., MSchrKrim 2019, 249.

44

Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

schen Diözesen. In Teilprojekt 2 erfolgte eine qualitative biografische Analyse in Form von Interviews mit Betroffenen sowie mit beschuldigten und nicht beschuldigten Klerikern. Es wird von „Betroffenen“ und nicht von „Opfern“ gesprochen, weil die Bezeichnung „Opfer“ von vielen viktimisierten Personen abgelehnt wird. Teilprojekt 3 hatte eine Analyse von staatlichen Strafakten zum Gegenstand. Ausgewertet wurden Strafverfahren, die gegen katholische Kleriker wegen des Vorwurfs des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen geführt wurden. Zum Vergleich wurden Strafakten analysiert, die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen gegen Mitarbeiter anderer Institutionen, z. B. Schulen, betrafen. In Teilprojekt 4 wurde die kirchliche Präventionsarbeit untersucht. In Teilprojekt 5 erfolgte eine Sekundäranalyse von nationalen und internationalen empirischen Studien über den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in Institutionen. Außerdem wurde eine Metaanalyse über Evaluationsstudien zu Präventionsprogrammen gegen den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen in Institutionen durchgeführt. In Teilprojekt 6 wurden die Personal- und Handakten der 27 deutschen Diözesen quantitativ untersucht. Teilprojekt 7 hatte eine anonyme Onlinebefragung von Betroffenen zum Gegenstand.3 Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags stehen die in der Strafaktenanalyse erhobenen Daten über 209 des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen beschuldigte katholische Kleriker.4 Von diesen wurden 67 rechtskräftig verurteilt. Es erscheint gerechtfertigt, auch die Daten über die nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten heranzuziehen, weil die Verfahren gegen diese Beschuldigten ganz überwiegend wegen Verjährung und nicht mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt wurden.5 Die Daten für die rechtskräftig verurteilten Beschuldigten werden gesondert angegeben. Die analysierten Strafverfahren wurden aufgrund von Angaben der Generalvikare der 27 deutschen Diözesen über ihnen bekannte Aktenzeichen von staatlichen Strafverfahren gegen katholische Kleriker wegen sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen und anhand einer Medienrecherche ermittelt. Nach Genehmigung durch die Justiz erfolgte die Aktenauswertung auf der Grundlage eines standardisierten Erhebungsbogens. Die Taten, die Gegensand der Strafverfahren waren, erstreckten sich über einen Zeitraum von den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts bis in das Jahr 2014. Ergänzend zu den Befunden der Strafaktenanalyse werden Daten über die in der Auswertung der Personalakten der katholischen Kirche für den Zeitraum von 1946 bis 2014 ermittelten 1.670 Beschuldigten mitgeteilt.6 3

Vgl. zur gesamten MHG-Studie: Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz. Projektbericht, 2018, online unter https://www.dbk.de/filead min/redaktion/diverse_downloads/dossiers_2018/MHG-Studie-gesamt.pdf. 4 Siehe zu der Strafaktenanalyse Dölling u. a., in: Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch (Fn. 3), S. 131. Zur Aussagekraft von Strafakten vgl. Dölling, in: Kury, Methodologische Probleme in der kriminologischen Forschungspraxis, 1984, S. 265; Hermann, Zeitschrift für Soziologie 1987, 44. 5 Vgl. Dölling u. a., in: Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch (Fn. 3), S. 131 (183 f.). 6 Zu der Personalaktenanalyse siehe Dreßing u. a., in: Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch (Fn. 3), S. 35, S. 249.

Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen

45

III. Befunde Bei den Beschuldigten handelte es sich ganz überwiegend um Diözesanpriester. Der Anteil der im Gestellungsauftrag in einer Diözese tätigen Ordenspriester und der Diakone war gering (vgl. Tabelle 1). Das Durchschnittsalter der Beschuldigten bei der ersten Tat lag bei etwa 40 Jahren. Das arithmetische Mittel belief sich bei allen Beschuldigten auf 40,5 Jahre (Standardabweichung 11,3) und bei den Verurteilten auf 40,7 Jahre (Standardabweichung 9,6). Die in der Personalaktenanalyse ermittelten Beschuldigten waren bei der Ersttat im Durchschnitt 42,6 Jahre alt (Standardabweichung 11,4). Häufig vergingen also einige Jahre zwischen dem Dienstantritt und der ersten (bekannt gewordenen) Tat. Bei einer Reihe von Beschuldigten lag das Alter bei der ersten Tat jedoch deutlich früher bzw. erheblich später als im Durchschnitt. Das niedrigste Alter im Zeitpunkt der Ersttat war bei den Beschuldigten 20 Jahre und das höchste Alter 79 Jahre (siehe zur Altersverteilung Tabelle 2). Tabelle 1 Amt während der Tatbegehung (in %) Amt

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

Diözesanpriester

78,0

83,6

Ordenspriester im Gestellungsauftrag

18,7

16,4

Diakon

1,0

4,5

keine Angabe

3,4

4,5

Tabelle 2 Alter bei der ersten Tat (in %) Alter

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

bis 30 Jahre

15,8

11,9

31 bis 40 Jahre

33,5

46,9

41 bis 50 Jahre

21,5

26,9

51 bis 60 Jahre

9,1

9,0

61 bis 70 Jahre

4,8

4,5

über 70 Jahre

1,0

1,5

keine Angabe

14,4

-

Einigen Strafakten konnten Angaben über die sexuelle Ausrichtung des Beschuldigten entnommen werden. Danach lag der Anteil der Beschuldigten mit homosexueller Ausrichtung mit 19,1 % über dem Anteil der Beschuldigten mit heterosexueller Orientierung (vgl. Tabelle 3). Außerdem ergaben sich aus einer Reihe von Strafakten insbesondere aufgrund von Sachverständigengutachten Informationen über sexuelle Präferenzstörungen der Beschuldigten. Danach wurde bei 28,2 % der Beschuldigten

46

Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

eine pädophile Haupt- oder Nebenströmung diagnostiziert oder bestanden Hinweise auf eine solche Störung. Bei den Verurteilten war dies bei 49,3 % der Fall. Sonstige sexuelle Präferenzstörungen waren selten zu verzeichnen (siehe Tabelle 4). Tabelle 3 Sexuelle Ausrichtung der Beschuldigten (in %) Sexuelle Ausrichtung

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

heterosexuell

10,5

13,4

homosexuell

19,1

28,4

bisexuell

1,9

1,5

keine Angabe

68,4

56,7

Tabelle 4 Sexuelle Präferenzstörungen von Beschuldigten (in %, Mehrfachnennungen möglich) Sexuelle Präferenzstörung

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

pädophile Hauptströmung (diagnostiziert)

4,8

7,5

pädophile Nebenströmung (diagnostiziert)

1,9

6,0

Hinweise auf eine pädophile 21,5 Haupt- oder Nebenströmung

35,8

Hinweise auf eine ephebophile Haupt- oder Nebenströmung

1,0

3,0

Sadismus (diagnostiziert)

2,4

1,5

infantile/pubertäre/ verzögerte Sexualität (diagnostiziert)

2,4

7,5

keine ersichtliche Präferenzstörung

6,7

9,0

Bei 38,3 % der Beschuldigten enthielten die Strafakten Angaben über einschlägig auffälliges Verhalten der Beschuldigten vor der Tat, also über Verhaltensweisen, die auf eine Gefährdungslage im Hinblick auf den sexuellen Missbrauch von Minderjährigen hinweisen könnten, wie z. B. das gezielte Suchen von körperlicher Nähe zu Kindern und Jugendlichen. Bei den Verurteilten betrug der entsprechende Anteil 44,8 %. Die Verhaltensweisen sind in Tabelle 5 dargestellt. Außerdem waren in einer Reihe von Strafakten Hinweise auf sonstige Auffälligkeiten Beschuldigter zu verzeichnen, die auf Probleme und Belastungen der Beschuldigten hindeuteten, wie z. B. vermehrter Alkoholkonsum (vgl. Tabelle 6).

Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen Tabelle 5 Einschlägige Auffälligkeiten von Beschuldigten vor der Tat (in %, Mehrfachnennungen möglich) Einschlägige Auffälligkeiten

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

gezieltes Suchen körperlicher Nähe zu Kindern/Jugendlichen

22,5

23,9

Fokussierung auf den Kontakt zu Kindern/ Jugendlichen bestimmten Geschlechts

18,2

25,4

Bevorzugung von bestimmten Kindern/ Jugendlichen

12,0

14,9

Missbrauchsvorwürfe/ Missbrauchsgerüchte

12,0

16,4

sexualbezogenes Verhalten gegenüber Kindern/ Jugendlichen

2,4

4,5

verminderter oder gestörter Kontakt zu Gleichaltrigen/Erwachsenen

1,9

3,0

sonstige

11,5

4,5

Tabelle 6 Hinweise auf sonstige Auffälligkeiten von Beschuldigten (in %, Mehrfachnennungen möglich) Sonstige Auffälligkeiten

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

vermehrter Alkoholkonsum

9,1

9,0

Überforderung mit Dienstpflichten

7,2

17,9

Verstoß gegen Zölibat

6,2

9,0

Vereinsamung

5,3

9,0

Depression

5,3

11,9

regelmäßige Konflikte mit Institutionsmitgliedern

3,3

7,5

psychische Probleme

2,9

6,0

Pflichtverstöße im Amt

2,4

4,5

weitere

9,1

20,9

47

48

Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

Die Tatzeiträume waren breit gestreut (siehe Tabelle 7). Die sexuelle Missbrauchsdelinquenz war erheblich. 51,1 % der Beschuldigten begingen Taten gegen mehrere Betroffene, 19,5 % gegen mehr als fünf Betroffene. Von den Verurteilten begingen 70,2 % Taten gegen mehrere Betroffene, bei 47,8 % der Verurteilten lag die Zahl der Betroffenen über fünf (vgl. Tabelle 8). 78,0 % der Beschuldigten verübten mehr als ein Delikt, 23,5 % mehr als zehn Taten. Von den Verurteilten begingen 82,1 % mehr als eine Tat und 41,8 % mehr als zehn Delikte (siehe Tabelle 9). Der Zeitraum zwischen der ersten und der letzten Tat erstreckte sich bei 62,7 % der Beschuldigten über ein Jahr und mehr und bei 24,9 % über mehr als fünf Jahre. Bei den Verurteilten belaufen sich die entsprechenden Anteile auf 62,6 % und 28,3 % (vgl. Tabelle 10). Tabelle 7 Jahr der ersten Tat (in %) Tatjahr

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

1931 bis 1940

1,9

6,0

1941 bis 1950

3,8

9,0

1951 bis 1960

11,0

17,9

1961 bis 1970

15,3

13,4

1971 bis 1980

17,2

4,5

1981 bis 1990

22,0

11,9

1991 bis 2000

11,5

13,4

2001 bis 2010

12,4

19,4

2011 bis 2014

2,9

3,0

keine Angabe

1,9

1,5

Tabelle 8 Anzahl der Betroffenen pro Beschuldigtem (in %) Anzahl der Betroffenen

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

1

47,4

26,9

2 bis 5

31,6

22,4

6 bis 10

10,0

22,4

11 bis 15

6,7

16,4

16 bis 20

1,4

4,5

mehr als 20

1,4

4,5

keine Angabe

1,4

3,0

Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen

49

Tabelle 9 Anzahl der Taten pro Beschuldigtem (in %) Anzahl der Taten

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

1

19,1

16,4

2 bis 10

19,1

20,9

11 bis 30

11,0

16,4

31 bis 50

5,3

14,9

51 bis 100

2,4

4,5

mehr als 100

4,8

6,0

mehrere Taten1

24,4

11,9

2

1 2

viele Taten

11,0

7,5

keine Angabe

2,9

1,5

Der Betreffende beging jedenfalls mehr als eine Tat, die genaue Zahl der Taten steht nicht fest. Es lag eine regelmäßige Tatbegehung über einen längeren Zeitraum vor, die genaue Zahl der Taten steht nicht fest.

Tabelle 10 Zeitraum zwischen erster und letzter Tat des Beschuldigten (in %) Zeitraum

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

eintägiges Geschehen

16,7

13,4

unter 1 Jahr 18,2 (ohne eintägiges Geschehen)

22,4

1 bis 2 Jahre

15,8

16,4

mehr als 2 bis 5 Jahre

22,0

17,9

mehr als 5 bis 9 Jahre

9,6

13,4

mehr als 9 bis 14 Jahre

8,1

10,4

mehr als 14 Jahre

7,2

4,5

keine Angabe

2,4

1,5

Die von den Delikten Betroffenen waren überwiegend männlich (vgl. Tabelle 11). Das durchschnittliche Alter der Betroffenen zum Zeitpunkt der ersten Missbrauchstat betrug bei den Beschuldigten 12,0 Jahre (Standardabweichung 2,7) und bei den Verurteilten 11,9 Jahre (Standardabweichung 2,2). Ein Schwerpunkt lag bei den Betroffenen im Alter von 10 bis 13 Jahren (siehe Tabelle 12). Die Betroffenen wurden ganz überwiegend durch geplante und nicht durch spontane Taten viktimisiert (vgl. Tabelle 13). Wegen Gewaltanwendung wurde in 10,7 % der Strafverfahren gegen die Beschuldigten und in 6,5 % der Verfahren gegen die Verurteilten ermittelt. Die Strafverfahren hatten ganz überwiegend Hands-on-Handlungen zum Gegenstand, also Handlungen mit einem körperlichen Kontakt zwischen den Beteiligten. Der Anteil der Verfahren, in denen es ausschließlich um Hands-off-Handlungen ging, war gering (siehe Tabelle 14). Bezogen auf alle Beschuldigten kam es bei 15,7 % der Be-

50

Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

troffenen zu einem Eindringen in den Körper des Betroffenen und bei 6,2 % in den Körper des Beschuldigten. Hinsichtlich der Verurteilten sind die entsprechenden Anteile 11,8 % und 4,0 % (vgl. Tabelle 15). Tatfolgen für die Betroffenen waren insbesondere im psychosozialen Bereich zu verzeichnen, z. B. Schwierigkeiten in sexuellen Beziehungen, Depression und sozialer Rückzug.7 Tabelle 11 Geschlecht der Betroffenen (in %) Geschlecht

Beschuldigte n=645 Betroffene

Verurteilte n=372 Betroffene

männlich

80,2

82,5

weiblich

19,8

17,5

Tabelle 12 Alter der Betroffenen bei der ersten Tat (in %) Alter

Beschuldigte n=645 Betroffene

Verurteilte n=372 Betroffene

2 bis 5 Jahre

1,4

0,3

6 bis 9 Jahre

15,3

15,4

10 bis 13 Jahre

53,3

59,6

14 Jahre und älter

26,7

23,7

keine Angabe

3,3

1,1

Tabelle 13 Spontane und geplante Tatbegehung (in %) Alter

Beschuldigte n=645 Betroffene

Verurteilte n=372 Betroffene

spontan

5,4

4,8

geplant

83,1

92,7

beides (bei mehreren Taten)

5,3

3,2

keine Angabe

6,2

-

7 Vgl. dazu näher Dölling u. a., in: Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch (Fn. 3), S. 131 (142 f.).

Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen

51

Tabelle 14 Ermittlungen wegen Hands-on- und Hands-off-Handlungen in den Strafverfahren (in %) Tathandlung

Beschuldigte n=243 Strafverfahren

Verurteilte n=77 Strafverfahren

mindestens eine Hands-onHandlung

91,8

96,1

ausschließlich Hands-offHandlungen

8,2

3,9

Tabelle 15 Eindringen in den Körper bei der Tat (in %) Eindringen

Beschuldigte n=645 Betroffene

Verurteilte n=372 Betroffene

beim Betroffenen

15,7

11,8

beim Beschuldigten

6,2

4,0

Tabelle 16 Stellungnahme des Beschuldigten zum Tatvorwurf im Strafverfahren (in %, Mehrfachnennungen möglich) Stellungnahme

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

Eingeständnis

30,1

56,7

Teilgeständnis

23,4

37,3

Verharmlosung

16,7

25,4

Angabe, keine Erinnerung zu haben

11,5

16,4

Erklärung, Rechtfertigung

10,5

23,9

Abstreiten

27,8

35,8

Schweigen

3,8

1,5

keine Reaktion mangels Herantretens an den Beschuldigten

28,2

1,5

Sonstiges

3,8

1,5

Die Beschuldigten bzw. Verurteilten reagierten in den Strafverfahren auf die Tatvorwürfe in unterschiedlicher Weise. Die Reaktionen reichten von einem Geständnis in vollem Umfang über ein Teilgeständnis oder eine Verharmlosung der Tat bis zum völligen Abstreiten des Delikts (siehe Tabelle 16). Auch abgesehen von den strafpro-

52

Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

zessualen Einlassungen war der Umgang der Beschuldigten mit den Tatvorwürfen sehr heterogen (vgl. Tabelle 17).8 Tabelle 17 Sonstiger Umgang der Beschuldigten mit dem Tatvorwurf (in %, Mehrfachnennungen möglich) Umgang mit Tatvorwurf

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

Verharmlosung der eingestandenen Handlungen

16,7

23,9

Anschuldigungen ggü. Betroffenen/Bezichtigung der Lüge/Diffamierung des Betroffenen

12,4

17,9

Selbstmitleid/Betonung 10,5 der entstandenen Nachteile für Beschuldigten/Opferrolle

10,4

Beschuldigter als Opfer einer 9,6 Verleumdungskampagne/ Racheaktion

14,9

Betonung der Initiative des Betroffenen zur Tat/ Einvernehmlichkeit der Handlungen

7,7

14,9

Versuch der Entziehung vor 7,7 Strafverfolgung/aktive Erschwerung der Aufklärung der Tat

16,4

Fehlen von Unrechtsbewusstsein/ Reue/Schuldgefühl

7,2

11,9

Rückzug aus dem beruflichen Leben/ Amtsaufgabe

13,9

14,9

begibt sich in psychologische/ psychotherapeutische Behandlung

13,9

14,9

Entschuldigung bei dem/ den Betroffenen aus eigener Initiative

13,4

16,4

8 Zu den größtenteils übereinstimmenden Befunden anderer Studien über des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen beschuldigte Kleriker der katholischen Kirche siehe Dölling/Hermann/Horten, in: Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch (Fn. 3), S. 211 (225 ff.).

Über die Täter des sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen

53

Tabelle 17 Sonstiger Umgang der Beschuldigten mit dem Tatvorwurf (Fortsetzung) Umgang mit Tatvorwurf

Beschuldigte n=209

Verurteilte n=67

Selbstanzeige (ggf. erst nach Strafanzeige) Reue/Unrechtseinsicht

10,5

10,7

9,1

17,9

Sonstiges

50,2

1,5

Im Anschluss an die Beschreibung der Einzelmerkmale wird nun der Versuch unternommen, eine Gruppierung der Täter zu bilden. Zum Zweck der Gruppierung wurden Clusteranalysen durchgeführt. Das Verfahren der Clusteranalyse dient der Einteilung einer Anzahl von Fällen in Gruppen, wobei die Fälle einer Gruppe hinsichtlich relevanter Variablen möglichst ähnlich sein sollen, während sich die Gruppen möglichst unterscheiden sollen.9 Es wurde zunächst eine Clusteranalyse für die Beschuldigten durchgeführt. Anschließend erfolgte eine Clusteranalyse für die Verurteilten. Auf ihre Eignung für die Aufnahme in die Clusteranalyse wurden Variablen untersucht, von denen eine Relevanz für die Gruppenbildung vermutet werden konnte und bei denen nicht häufig fehlende Werte vorlagen. Es handelte sich um die folgenden Variablen: Hinweise auf eine pädophile Störung des Beschuldigten, soziale Auffälligkeiten des Beschuldigten, Zeigen von Reue, Anzahl der namentlich bekannten Betroffenen, Zahl der Taten, Länge des Zeitraums von der ersten bis zur letzten Tat, Anwendung von Gewalt oder Drohung, Alter des jüngsten Betroffenen und Geschlecht der Betroffenen. Hiervon setzten sich die folgenden Variablen durch: pädophile Störung, Reue, Anzahl der namentlich bekannten Betroffenen, Tatzeitraum, Alter des jüngsten Betroffenen und Geschlecht der Betroffenen. Wegen fehlender Werte konnten bei der Klassifikation nicht alle Beschuldigten berücksichtigt werden. Es gingen in die Clusteranalyse 196 der 209 Beschuldigten und 64 der 67 Verurteilten ein. Zur Feststellung der Clusteranzahl wurde auf die K-Means-Methode10 zurückgegriffen. Die Drei-Cluster-Lösung lieferte die am besten interpretierbaren Cluster, weil sich die einzelnen Cluster klar voneinander unterschieden. Sowohl für die Beschuldigten als auch für die Verurteilten wurden drei Gruppen identifiziert, die als Intensivtäter I, Intensivtäter II und Gelegenheitstäter bezeichnet wurden.

9

Vgl. Wiedenbeck/Züll, Klassifikation mit Clusteranalyse: Grundlegende Techniken hierarchischer und K-means-Verfahren (GESIS-How-to, 10), 2001, S. 2. 10 Siehe Wiedenbeck/Züll, in: Wolf/Best, Handbuch der sozialwissenschaftlichen Datenanalyse, 2010, S. 525.

54

Dieter Dölling, Harald Dreßing und Barbara Horten

Um die genannten Gruppen auf ihre Verschiedenheit bezüglich charakteristischer Merkmale zu untersuchen, wurde das Verfahren der Diskriminanzanalyse11 angewandt. Die Cluster unterschieden sich signifikant voneinander. Wilks’s Lambda K war, bezogen auf die Beschuldigten, in allen Funktionen statistisch höchst signifikant, Funktion 1 bis 2, Wilks’s K = 0,088, w2 = 463,062 (12, n=196), p