Zwischen höllischem Feuer und doppeltem Segen: Geniekonzepte in Thomas Manns Romanen Lotte in Weimar, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus 9783737097901, 9783899718409, 9783862348404


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German Pages [459] Year 2011

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Zwischen höllischem Feuer und doppeltem Segen: Geniekonzepte in Thomas Manns Romanen Lotte in Weimar, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus
 9783737097901, 9783899718409, 9783862348404

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Christian Baier

Zwischen höllischem Feuer und doppeltem Segen Geniekonzepte in Thomas Manns Romanen Lotte in Weimar, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-89971-840-9 ISBN 978-3-86234-840-4 (E-Book) Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Johanna und Fritz Buch-Gedächtnis-Stiftung. Ð 2011, V&R unipress in Göttingen / www.vr-unipress.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Albrecht Dürer: ›Melencolia I‹ (Kupferstich, 1514) Druck und Bindung: CPI Buch Bücher.de GmbH, Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Im Gedenken an den alten Kommandanten Prof. Dr. Klaus-Peter Philippi (1940 – 2010) »Hier ruht der alte Kommandant. Seine Anhänger, die jetzt keinen Namen tragen dürfen, haben ihm das Grab gegraben und den Stein gesetzt. Es besteht eine Prophezeiung, daß der Kommandant nach einer bestimmten Anzahl von Jahren auferstehen und aus diesem Hause seine Anhänger zur Wiedereroberung der Kolonie führen wird. Glaubet und wartet!« Franz Kafka: In der Strafkolonie

Inhalt

Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I.

Das Genie ist tot – lang lebe das Genie! . . . . . . . . . . . . . . .

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II.

Systematische Bestimmung des Geniebegriffs . . . . . . . . . 1. Fragestellung und Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Konstitutive Merkmale des Genies . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Authentizität: Der Absolutheitsanspruch des genialen Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Autonomie: Die Eigengesetzlichkeit genialer Existenz . 2.3. Alterität: Das Genie und die Welt . . . . . . . . . . . .

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III. Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ingenium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Römischer genius und griechischer daimon . . . . . . . . . . . .

65 66 69

IV.

Weimar, September 1816: Das klassische Genie? . . . . . . . . . 1. »Wie ein Genie sich bildet« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Die Goethesche Vererbungslehre . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Krankheit, Tod und metaphysische Schuld . . . . . . . . . 1.3. Verrat des Lebens an die Kunst . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Das Selbstopfer des Künstlers . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Erklärungsversuche: »Warum nur er?« . . . . . . . . . . . . . 2.1. Goethe und die Genie-Tradition . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1. Originalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2. Inspiration . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Riemers Genie-Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Proteus und Jupiter, Christus und Gott . . . . . . . 2.2.2. Goethes Nihilism und der Blick der absoluten Kunst 2.2.3. Goethe als Träger des doppelten Segens? . . . . . .

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75 76 78 83 87 95 100 102 103 106 110 112 118 121

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Inhalt

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Inspiration und man„a . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Melancholie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.2.4. Das Scheitern des Friedrich Wilhelm Riemer . . . . 2.3. Das Selbstverständnis des ›großen Mannes‹ . . . . . . . . 2.3.1. Größe als ›universelle Ubiquität‹ . . . . . . . . . . . 2.3.2. Geistverstärkte Lebenserneuerung . . . . . . . . . . 2.3.3. Exkurs: Die verblassten Anspielungen der Charlotte Kestner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.4. »Immer oben in der Zeit …« . . . . . . . . . . . . . 3. Genie und Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Goethe und die Weimarer Sozietät . . . . . . . . . . . . . 3.1.1. Der Gesellschafts-Tyrann . . . . . . . . . . . . . . . 3.1.2. Der große Mann und die Deutschen . . . . . . . . . 3.1.3. Selbstinszenierung und Devotion . . . . . . . . . . 3.2. Die Opfer der Faszination . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1. Charlotte Kestner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Friedrich Wilhelm Riemer . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. August von Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.4. Ottilie von Pogwisch . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. »Ich werde nicht ihresgleichen sehen …« . . . . . . . . . 3.3.1. Der Aristokrat des Geistes: Schiller . . . . . . . . . 3.3.2. Der Düster-Gewaltige: Napoleon . . . . . . . . . . . 3.3.3. Das ›innere Exil‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Strukturen des Genies: Johann Wolfgang von Goethe . . . . . 5. Resümee: Goethe – Größe und Genie . . . . . . . . . . . . . . V.

VI. Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie? . . 1. Der Erzähler Zeitblom . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entstehung des Genies . . . . . . . . . . . 2.1. Vererbung und Anlagen . . . . . . . . . . 2.2. Prinzenerziehung . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2. Die Vorträge Wendell Kretzschmars 2.2.3. Musikalische Ausbildung . . . . . . 2.2.4. Theologisches Intermezzo . . . . . 3. Die drohende Sterilität der Kunst . . . . . . . 3.1. Originalität als Problem . . . . . . . . . . 3.2. Die Fragwürdigkeit genialen Schaffens . .

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9

Inhalt

3.3. Der ›strenge Satz‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Die Utopie des Durchbruchs . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Genie in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Exkurs: Die Relevanz des Paktes . . . . . . . . . . . . . 4.2. Strukturelle Mehrdeutigkeit: Medizin und Metaphysik . 4.3. Die Verschreibung: Leistung und Zahlung . . . . . . . . 4.4. Die Eingießungen des Adrian Leverkühn: Inspiration . . 4.5. Der dunkle Untergrund des Genies: Melancholie . . . . 4.6. Die Legitimität des diabolischen Genies . . . . . . . . . 5. Der Eremit und die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Adrian Leverkühn und die Gesellschaft . . . . . . . . . . 5.1.1. Das Refugium des Genies . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2. Genialität versus Künstlertum . . . . . . . . . . . 5.2. Die Verehrergemeinde des Genies . . . . . . . . . . . . . 5.2.1. Serenus Zeitblom . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2. Rüdiger Schildknapp . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3. Die dienenden Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.4. Kongenialität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Publikum und künstlerische Wirkung . . . . . . . . . . 6. Adrian Leverkühn – Der Erlöser der Kunst? . . . . . . . . . 7. Strukturen des Genies: Adrian Leverkühn . . . . . . . . . . 8. Resümee: Adrian Leverkühn – Genie zwischen Tradition und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Kanaan und Ägypten, um 1400 v. Chr.: Das mythische Genie? 1. Die Inszenierung des Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Mythos und Genie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Das ›Fest der Erzählung‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Ordnung der mythischen Welt . . . . . . . . . . . 2. Entstehung des Genies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Das Erbe: Vatergeist und Mutterdunkel . . . . . . . . 2.2. Metaphysische Einflüsse: Von Sternen und Göttern . . 2.3. Bildung und Ausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1. Das Wissen der mythischen Welt . . . . . . . . . 2.3.2. Die Klärung des Geistes . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3. Das Fest und die Verkörperung des Tammuz . . 2.4. Der doppelte Segen: Schönheit und Geist . . . . . . . 3. Der Lebens-Künstler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1. Das Spiel mit den mythischen Mustern . . . . . . . . . 3.2. Der mythische Hochstapler : Imitationes Deorum . . .

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Inhalt

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366 370 374 381 386 392 400 400 406 413 421 425

VIII. Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne . . . . .

431

IX.

437

3.2.1. Tammuz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.2. Osiris . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.3. Gilgamesch, Thot und der Bringer der neuen Zeit 3.2.4. Hermes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3. Traumdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4. Gottesklugheit und das Heilige Spiel . . . . . . . . . . . 4. Der Gesonderte und die Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1. Der Erzgescheite und die Hundsköpfe . . . . . . . . . . 4.2. Die Jahre des Wachstums . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3. Als ein Großer Ägyptenlandes . . . . . . . . . . . . . . 5. Strukturen des Genies: Joseph, Jaakobs Sohn . . . . . . . . . 6. Resümee: Joseph – die stille Hoffnung Gottes? . . . . . . . .

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Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Dank

Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um die durchgesehene und geringfügig überarbeitete Fassung meiner Arbeit, die im Juni 2010 von der Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg als Dissertation angenommen wurde. Mein erster und wichtigster Dank gilt meinem Doktorvater, Herrn Professor Dr. Friedhelm Marx, der mich als Doktoranden angenommen hat, obwohl er mich nicht kannte, der für die alltäglichen kleinen Probleme immer eine rasche Mail und für die größeren immer ein offenes Ohr hatte. Ohne seine kenntnisreichen Ratschläge – wenn ich sie auch nicht immer befolgt habe – wäre meine Arbeit in dieser Weise nicht möglich gewesen. Ich danke ferner Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Dieter Borchmeyer für seine Bereitschaft, meine Dissertation als Zweitgutachter zu bewerten, sowie den Mitgliedern meiner Prüfungskommission, Herrn Professor Dr. Heinrich Bedford-Strohm und Herrn Professor Dr. Hartwin Brandt, die beide dazu beigetragen haben, meine Disputation zu einer angenehmen Erfahrung zu machen. Ein besonderer Dank, den ich leider nicht mehr persönlich abstatten kann, gilt meinem akademischen Lehrer, Herrn Professor Dr. Klaus-Peter Philippi, der mir nicht nur das meiste von dem beigebracht hat, was ich über Literaturwissenschaft weiß, sondern mit seinen lakonischen Anmerkungen zum FaustusKapitel auch dafür gesorgt hat, dass diese Arbeit nicht noch länger geworden ist. Wie er haben auch weitere Korrekturleser Teil an ihrem Gelingen: Herr Markus Herrmann, dessen gedankenscharfe Einwände mich immer wieder dazu gebracht haben, meine Argumentation zu überdenken, und Herr Ruprecht Bühling, der mit seiner genauen Lektüre manche Falte ausgebügelt hat. Zu erwähnen ist außerdem Herr Ralf Entner, obwohl er kein einziges Wort dieser Dissertation gelesen hat: Er hat mir nicht nur bei allen Computer-Problemen beigestanden, sondern auch dafür gesorgt, dass ich von Zeit zu Zeit meinen Schreibtisch verlassen und über andere Dinge gesprochen habe als über Thomas Mann oder das Genie.

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Dank

Ich hätte diese Arbeit nicht schreiben können ohne die Unterstützung meiner Familie. Ich danke meinen Eltern, Edda und Hans-Erhard Baier, für ihren Zuspruch, ihren Rückhalt und ihre ermutigenden Worte in Zeiten des Selbstzweifels, und meiner Schwester Elisabeth für die vielen guten Gespräche – über die Dissertation und das Leben im Allgemeinen. Ich hatte das Glück, in die Graduiertenförderung der Konrad-AdenauerStiftung e. V. aufgenommen zu werden, ohne deren finanzielle und ideelle Förderung diese Dissertation nicht hätte geschrieben werden können. Darüber hinaus danke ich der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses, der mir die Publikation dieser Arbeit ermöglicht hat. Christian Baier

Göttingen, im Juni 2011

I. Das Genie ist tot – lang lebe das Genie!

Im Jahre 1985 erklärt der französische Philosoph und Literaturtheoretiker JeanFranÅois Lyotard die Vorstellung des Genies für überholt: Der Begriff der künstlerischen Schöpfung kommt aus der romantischen Ästhetik, aus der Ästhetik des Genies. Allerdings werden Sie mit mir darin übereinstimmen, daß die Vorstellung eines ›Schöpfers‹ heute ein bißchen veraltet ist. Darüber sind wir schon hinaus. Wir philosophieren nicht mehr übers geniale Subjekt und die ›Aura‹, die es umgibt.1

Lyotard formuliert mit diesen Sätzen die communis opinio der Zeit. Nachdem Hans-Georg Gadamer schon 1960 »eine Art Geniedämmerung«2 konstatiert, wird dem Genie, diesem »mythic concept of the artist«,3 mit dem von poststrukturalistischen Theoretikern postulierten ›Verschwinden des Subjekts‹4 vollends die Grundlage entzogen – mit weitreichenden Konsequenzen: »Ulti1 Kunst heute? Gespräch zwischen Jean-FranÅois Lyotard und Bernhard Blistºne, in: Lyotard, Jean-FranÅois: Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 55 – 74, hier : S. 63. 2 Hans-Georg Gadamer : Gesammelte Werke, 10 Bde., Bd. 1: Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1986, S. 98. »Die Vorstellung von der nachtwandlerischen Unbewußtheit, mit der das Genie schafft […,] erscheint uns heute als eine falsche Romantik« [ibid.]. 3 Johanna Drucker : Theorizing Modernism. Visual Art and the Critical Tradition, New York 1994, S. 109. 4 Vgl. Hermann Schrödter (Hrsg): Das Verschwinden des Subjekts, Würzburg 1994 sowie Peter Bürger : Das Verschwinden des Subjekts, Frankfurt am Main 1998. Zima weist darauf hin, dass die Formel vom ›Verschwinden des Subjekts‹ »zu einem Gemeinplatz der Diskussion zu werden [drohe], der lediglich die fehlende Begriffsbestimmung verdeck[e], die uns befähigen würde zu beschreiben, was eigentlich verschwinde[] oder gar verschwunden« sei [Peter V. Zima: Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne und Postmoderne, 2., durchgesehene Aufl., Tübingen 2007, S. 2]. So berechtigt dieser Einwand auch sein mag, ist es im vorliegenden Zusammenhang weder notwendig noch sinnvoll, auf die Diskussion um das Subjekt einzugehen. Um die Problematik zu verdeutlichen, genügt der Hinweis, dass im Rahmen der Genieideologie des 18. Jahrhunderts das Werk als authentischer Ausdruck der Persönlichkeit seines Schöpfers angesehen wurde, so dass das ›Verschwinden des Subjekts‹ im schöpferischen Prozess zu einer Aporie führen würde.

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Das Genie ist tot – lang lebe das Genie!

mately the critique of the artist leads to a critique of the notions of originality, transcendent genius and mastery which had been central to the romantic model.«5 Vor diesem Hintergrund kann es nicht verwundern, dass »der Geniebegriff etwa seit Mitte des 20. Jh. zunehmend fragwürdig erscheint«6 und am Beginn des 21. Jahrhunderts sogar von einem ›Tabu des Genies‹7 gesprochen wird. Im selben Jahr wie Lyotard bezeichnet Ken Frieden das Genie als »the intellectual obsession of our time«,8 die ihre Wirkung trotz aller Fragwürdigkeit nicht eingebüßt habe: Although the contemporary persona of the genius rings hollow, no original figure can be severed from the masks it has successively worn: the guise of the prophet, the poetry of imagination, the rhetoric of consciousness.9

Es ist kennzeichnend, dass Frieden sich auf die selben Zeugen berufen könnte, die zur Stützung des entgegengesetzten Standpunkts herangezogen wurden: Unmittelbar im Anschluss an seine Verurteilung der Genievorstellung als ›falsche Romantik‹ zeigt Gadamer sich überzeugt, das »allgemeine Bewußtsein«10 seiner Zeit werde noch immer »von den Wirkungen des Geniekults des 5 Drucker (1994), S. 110. »Poststructuralist critics such as Michel Foucault and Julia Kristeva have […] criticiz[ed] the myth of the transcendent artist or individual genius and emphasiz[ed] the social constrains exercised on the construction of identity« [ibid., S. 109]. 6 Eberhard Ortland: Artikel ›Genie‹, in: Barck, Karlheinz (Hrsg): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000 – 2005, Bd. 2: DekadentGrotesk, S. 661 – 709, hier : S. 702 f. 7 Vgl. ibid., S. 704. In einem interessanten Aufsatz unternimmt Christoph Schmidt den Versuch, die traditionelle Genievorstellung durch »eine Art erste Typologie des modernen Genies« zu ersetzen [Christoph Schmidt: Die Endzeit des Genies. Zur Problematik des ästhetischen Subjekts in der (Post-)Moderne, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 172 – 195, hier : S. 174]. 8 Ken Frieden: Genius and Monologue, Ithaca 1985, S. 7. 9 Ibid. In seiner alltagssprachliche Verwendung hat der Geniebegriff diese Konnotationen weitgehend eingebüßt. So ist es zwar »noch immer möglich, von ›genialen‹ Erfindern, Strategen oder Spekulanten zu sprechen. Hervorragende Wissenschaftler genießen den Ruhm des Genies ebenso wie Schachgroßmeister. Unter den Künstlern fällt das Prädikat schnell und viel produzierenden Malern oder Musikern sowie charismatischen Performern zu« [Ortland (2000 – 2005), S. 662], aber von den Konnotationen der traditionellen Genievorstellung ist bei dieser Verwendung kaum mehr etwas übrig. Das Wort ›Genie‹ ist umgangssprachlich zu einer Leerformel geworden, die wenig mehr denotiert als eine unspezifische Form von Vorzüglichkeit, und zudem inflationär verwendet wird. Das lässt sich exemplarisch daran ablesen, dass das Attribut ›Genie‹, das ursprünglich die außergewöhnliche Stellung Pindars, Shakespeares oder Goethes bezeichnete, nun auf Daniel Kehlmann angewendet wird, den »Sieger [des] Literaturjahres« 2005, in dessen Fall sich »der Genieverdacht zu verdichten« scheine [Gustav Seibt: Eine Eule auf Panoramaflug. Internetdokument, Adresse siehe Literaturverzeichnis, zuletzt geprüft am: 11. Mai 2010]. 10 Gadamer (1986), S. 98.

Das Genie ist tot – lang lebe das Genie!

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18. Jahrhunderts und der Sakralisierung des Künstlertums«11 bestimmt, und auch Drucker gesteht bereitwillig ein, dass die Dekonstruktion der theoretischen Grundlagen des Geniekonzepts durch die Poststrukturalisten seiner praktischen Wirksamkeit keinen Abbruch getan habe: The old concept of transcendent genius, of self-willed or determined individualism, and of tormented but autonomous identity are all legacies which remain attached to the image of the artist through the twentieth century.12

Obwohl das autonome künstlerische Subjekt, dessen Werke als authentischer Ausdruck seiner Persönlichkeit aufzufassen sind, unter kunsttheoretischen Gesichtspunkten zweifelsohne ›ein bisschen veraltet‹ ist, bleibt die Vorstellung des Genies »one of the most forceful legacies of the nineteenth century«13 und ist in »vielfältigen Transformationen, Totalisierungen und Radikalisierungen […] bestimmend für die Moderne«:14 So kritisch sich viele Künstler des 20. Jh. mit dem Mythos des Genies, der göttlichen Kreativität auseinandergesetzt haben mögen, so bleibt doch ihr Image, ihre eigene professionelle Identität noch weitgehend vom Anspruch auf Authentizität, Expressivität und besonders auf die Exzentrizität ihrer Künstlerexistenz gegenüber den Konventionen der Gesellschaft geprägt.15

Selbst die postulierte Tabuisierung des Geniebegriffs16 bedeutet nicht das Verschwinden des Genies, sondern kann als eine neue Form der Auseinandersetzung 11 Ibid. 12 Drucker (1994), S. 109. Ducker illustriert das ›Paradigma des künstlerischen Genies‹ in überzeugender Weise am Beispiel Pablo Picassos: »Pablo Picasso exemplifies this paradigm; he embodied, for modernism, the very essence of artist/genius – he was a childhood prodigal, a foreign outsider, a male whose virility was flaunted in his biography and in his works (process and themes), whose inventiveness and originality were the trademarks of his productivity« [ibid., S. 114]. 13 Ibid., S. 113. 14 Ortland (2000 – 2005), S. 697. 15 Cornelia Klinger: Artikel ›Modern/Moderne/Modernismus‹, in: Barck, Karlheinz (Hrsg): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000 – 2005, Bd. 4: Medien-Populär, S. 121 – 167, hier : S. 162. 16 Das ›Genie-Tabu‹ erstreckt sich unzweifelhaft auch auf den wissenschaftlichen Diskurs, denn als »literaturwissenschaftlicher Terminus ist Genie weder geeignet noch in Gebrauch« [Klaus Weimar : Artikel ›Genie‹, in: Weimar, Klaus; Fricke, Harald (Hrsg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2007, Bd. I: A-G, S. 701 – 703, hier : S. 701]. Dessen ungeachtet taucht der Begriff gelegentlich in literaturwissenschaftlichen Texten auf, so bezeichnet Heftrich Thomas Mann als »ein wahres synkretistisches Genie« [Eckhard Heftrich: Mythos – Typos – Psychologie. Thomas Manns Josephs-Romane, in: Link, Franz (Hrsg): Paradeigmata. Literarische Typologie des Alten Testaments, Berlin 1989a, S. 723 – 736, hier : S. 724], obgleich es sich bei dieser Wortfügung – zumindest nach den Genie-Vorstellung des Sturm und Drang – um eine contradictio in adjecto handelt.

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mit den alten Fragen nach Wesen und Ursprung des schöpferischen Impulses angesehen werden: Nicht vom Genie zu sprechen könnte eine der möglichen – unter bestimmten Umständen unausweichlich werdenden – Formen sein, das Verhältnis zu den sprachlos machenden Mächten zu gestalten, das vormals in die Form der Rede vom Genie gebracht worden war17.

Als ästhetische Kategorie und theoretisches Konzept mag das Genie überholt sein – seine Wirkung und sein Einfluss aber sind auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch allgegenwärtig.18 Knapp hundert Jahre früher lässt sich eine ähnlich widersprüchliche Situation ausmachen, wenn auch unter anderen Umständen und mit veränderten Vorzeichen. In den Jahren vor dem ersten Weltkrieg kommt es zu einer »Inflation des Geniebegriffs«,19 die dazu führt, dass er seine ursprüngliche Bedeutung weitgehend eingebüßt, wie eine berühmte Passage aus Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften illustriert: Es hatte damals schon die Zeit begonnen, wo man von Genies des Fußballrasens oder des Boxrings zu sprechen anhub, aber auf mindestens zehn geniale Entdecker, Tenöre oder Schriftsteller entfiel in den Zeitungsberichten noch nicht mehr als höchstens ein genialer Centre-half oder großer Taktiker des Tennissports […]. Aber gerade da las Ulrich irgendwo […] plötzlich das Wort ›das geniale Rennpferd‹.20

Ein Beispiel dafür, dass die Ideologie der Genie-Ästhetik trotz inflationärer Verwendung und damit zusammenhängendem Bedeutungsverlust des Geniebegriffs weiterhin ihre Wirksamkeit behält, bildet Alfred Kerrs 1913 in der Zeitschrift Der Tag erschienene Kritik von Thomas Manns Drama Fiorenza. Kerr beginnt seine Ausführungen nicht mit einer Inhaltsangabe oder einer formalen Analyse des Stückes, sondern mit einer Kritik an der Person des Autors und seiner Art des künstlerischen Schaffens: 17 Ortland (2000 – 2005), S. 661 f. 18 »Vom Geniegedanken bleibt die Ästhetik (und nicht nur die Ästhetik) auch dann noch bestimmt, wenn ihre Theoretiker darauf verzichten, über seinen Stellenwert im Gefüge der Begriffe Rechenschaft zu geben« [ibid., S. 661]: »Tout ce mouvement de pens¤e du XXe siºcle montre donc bien que le concept de g¤nie, malgr¤ une phase d’affaiblissement (due ” une r¤action contre les excºs du romanticisme), conserve en esth¤tique une place n¤cessaire. Le concept de g¤nie a ¤t¤ un des concepts fondeurs de l’esth¤tique moderne, au XVIIIe siºcle […] alors terme-cl¤ de la r¤ception esth¤tique. Aujourd’hui, malgr¤ quelques vicissitudes, affin¤, mis en relation avec les faits tant historiques que psychologiques, il reste toujours pour l’esth¤tique un concept majeur« [Rainer Rochlitz, Anne Souriau: Artikel ›Genie‹, in: Souriau, Ãtienne (Hrsg): Vocabulaire d’esth¤tique, Paris 1990, S. 785 – 788, hier: S. 788]. 19 Ortland (2000 – 2005), S. 704. 20 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Roman. Erstes und zweites Buch, 22. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2007, S. 44. Der Roman, dessen erster Band 1930 erschienen ist und dessen Vorarbeiten bis zur Jahrhundertwende zurückreichen, spielt im Jahr 1913 in Wien.

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Der Verfasser ist ein feines, etwas dünnes Seelchen, dessen Wurzel ihre stille Wohnung im Sitzfleisch hat. […] Es gibt ja zwei Gattungen von Schriftstellern; die erste gleicht in irgend etwas dem raschen Siegfried: heiter ; unverwundbar kraft seiner hölzernen Haut; schier ; blitzend. Die andre Gattung (zu ihr zählt Herr Th. Mann) ist weniger im Blitzen als im Sitzen stark. Bei dieser Gattung bildet sich die Siegfried-Hornhaut nur an einer Stelle.21

Im Hintergrund von Kerrs Kritik steht der stumme Vorwurf, Mann sei nicht kreativ, nicht originell, nicht inspiriert, nicht genial genug,22 und in seinem vermutlich zeitgleich entstandenen Spottgedicht Thomas Bodenbruch spricht er ihn offen aus: Ich kenne keine Blitze, / Kein Feuer, das erhitzt. / Ich schreibe mit dem Sitze, / Auf dem man sitzt. […] / Mein Zustand zeugt geheime Tücke / (Man ist nicht eben ein Genie) – / Romane werden … Schlüsselstücke: / ›Das geht auf Den!‹, ›Das geht auf Die!‹23

Noch im Jahre 1913 misst also ein Kritiker, den Hermann Kurzke als den »ReichRanicki seiner Zeit«24 bezeichnet, nicht nur die Qualität des Dramas Fiorenza, sondern auch Arbeitsweise und Person seines Verfassers an den Kriterien der Genieästhetik. Dieser Maßstab ist insbesondere deshalb so unzeitgemäß, weil die Künstlergeneration des Fin de siºcle aus ihrer Geringschätzung gegenüber allem »romantischen Brimborium« (GKFA 10.1, 42)25 keinen Hehl macht. Geschult an der Entlarvungspsychologie Friedrich Nietzsches, der den »Aberglaube[n] vom Genie« im Nachlass schlicht »die Superstition unseres Jahr21 Zitiert nach Klaus Schröter : Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891 – 1955, 2., unveränderte Aufl., Frankfurt am Main 2000, S. 61. Kerrs boshaftes Urteil mag auch persönliche Gründe haben: In ihren ›ungeschriebenen Memoiren‹ berichtet Katja Mann, Kerr habe sich um ihre Hand beworben, sei aber abgewiesen worden, was er »Thomas Mann zeit seines Lebens furchtbar übelgenommen« habe [Katia Mann: Meine ungeschriebenen Memoiren, Frankfurt am Main 1984, S. 20]. 22 Kerrs Postulat der ›zwei Gattungen von Schriftstellern‹ entspricht strukturell der einflussreichen Ansicht Edward Youngs, der zwei Typen des Genies unterscheidet: »Of genius, there are two species, an earlier, and a later ; or call them infantine, and adult. An adult genius comes out of nature’s hand, as Pallas out of Jove’s head, at full growth, and mature […]. On the contrary, […] an infantine genius […], like other infants, must be nursed, and educated, or it will come to nought« [Edith J. Morley : Edward Young’s Conjectures on Original Composition, Nachdruck der zweiten Ausgabe London 1759, Norwood 1979, S. 15]. 23 Peter Mendelssohn: Der Zauberer. Das Leben des deutschen Schriftstellers Thomas Mann, Bd. 2: 1905 – 1918, überarb. und erw. Neuausg., Frankfurt am Main 1975, S. 1502 f. 24 Hermann Kurzke: Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk, München 2000, S. 159. 25 Die Werke Thomas Manns werden, sofern bereits erschienen, mittels der Sigle GKFA unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Thomas Mann: Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, hrsg. von Heinrich Detering, Eckhard Heftrich, Hermann Kurzke, Terence J. Reed, Hans Rudolf Vaget, Ruprecht Wimmer, Frankfurt am Main 2002 ff. Diejenigen Werke, die noch nicht in der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe erschienen sind, werden mittels der Sigle GW zitiert nach Thomas Mann: Gesammelte Werke in 13 Bänden, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1974.

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hunderts« (Nietzsche III, 514) nennt,26 vollzieht sie eine »unverblümte[] Abkehr von den Paradigmen der Genie-Ästhetik«,27 von der Forderung nach Originalität und Erfindungsgabe, der Vorstellung inspirierten Schaffens und einer künstlerischen creatio ex nihilo. Auch Thomas Mann teilt diese Einstellung: In seinem Aufsatz Bilse und ich (1906) formuliert er die Grundlagen seines poetologischen Selbstverständnisses und spricht dabei dem Talent der ›Erfindung‹ jede poetische Bedeutung ab: Es scheint gewiß, daß die Gabe der Erfindung, mag sie dichterisch sein, doch bei weitem nicht als Kriterium für den Beruf zum Dichter gelten kann. Mehr noch, es scheint, daß sie eine schlechthin untergeordnete Gabe ist, die von den Guten und Besten oft als fast schon verächtlich empfunden und jedenfalls ohne Kummer entbehrt wurde (GKFA 14.1, 99).

Fast 40 Jahre später beschreibt Mann seine Arbeitsmethode in einem Brief an Theodor W. Adorno als eine »Art von höherem Abschreiben«28 im Sinne einer »Aneignungsoriginalität« (GKFA 9.2, 75) und weist darauf hin, dass er schon Hannos Todesszene in den Buddenbrooks (1901) in dieser Weise gestaltet habe. Wie die Figur Gustav von Aschenbach hat er seine Werke »aus aberhundert Einzelinspirationen zur Größe emporgeschichtet« (GKFA 2.1, 510), wobei er sein Verständnis von Inspiration in einer Äußerung zur Physiologie des dichterischen Schaffens (1928) mit einem paraphrasierten Baudelaire-Zitat erläutert: »L’inspiration est sans doute la sœur du travail journalier« (GW XI, 778). Indem er die Erfindungsgabe für entbehrlich erklärt, mit Originalität und Inspiration zwei zentrale Konzepte der Genieästhetik umdeutet und stattdessen die Bedeutung regelmäßiger und ausdauernder Arbeit hervorhebt,29 lässt Mann keinen Zweifel daran aufkommen, dass er die Postulate der Genie-Ästhetik als überholt betrachtet und sein eigenes künstlerisches Schaffen wenig gemein hat mit der geheimnisvollen creatio ex nihilo des Originalgenies.30 26 Die Werke Friedrich Nietzsches werden unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Friedrich Nietzsche: Werke in drei Bänden, hrsg. von Karl Schlechta, München 1994. 27 Friedhelm Marx: »Ich aber sage ihnen …«. Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt am Main 2002, S. 12. »Das Genie-Konzept der Erfindung, der Kreativität, der künstlerischen Originalität muss einer Generation problematisch erscheinen, die alles schon gesehen und gelesen zu haben glaubt« [ibid., S. 11 f.]. 28 Brief Thomas Manns an Theodor W. Adorno vom 30. 12. 1945, zitiert nach Thomas Mann: Selbstkommentare. ›Doktor Faustus‹ und ›Die Entstehung des Doktor Faustus‹, hrsg. von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Eich-Fischer, Frankfurt am Main 1998, S. 72. 29 Dazu passt, dass Mann die biblische Tetralogie Joseph und seine Brüder unmittelbar nach Abschluss der Niederschrift vor allem als »ein Monument der Beharrlichkeit und des Durchhaltens« betrachtet wissen will [Brief Thomas Manns an Agnes E. Meyer vom 5. 1. 1943, zitiert nach Thomas Mann: Selbstkommentare. ›Joseph und seine Brüder‹, hrsg. von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Eich-Fischer, Frankfurt am Main 1999, S. 234]. 30 In seiner Rede Die Kunst des Romans (1940) beschreibt Mann seine eigene Arbeitsweise,

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Diese Ablehnung hindert ihn nicht daran, sich, zunächst in essayistischer Form, immer wieder mit dem Phänomen des ›großen Mannes‹ auseinander zu setzen: Neben den beiden »Ideenverbindungen ›Pädagogik‹ und ›Autobiographie‹« (GKFA 15.1, 819) gehört auch die Frage nach dem Wesen des Genies zu den zentralen Themen seines großen Essays über Goethe und Tolstoi von 1925. In der Nachfolge von Schillers Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung31 unterscheidet Mann Schiller und Dostojewski, die »Söhne des Geistes« (GKFA 15.1, 864), von den »Söhnen der Natur« (GKFA 15.1, 870), also Goethe und Tolstoi, wobei er betont, dass es sich bei diesen Personen um individuelle Ausprägungen universeller Prinzipien handle: Offenbar gibt es zweierlei Erhöhungen und Steigerungen des Menschlichen: eine ins Göttliche, von Gnaden der Natur, und eine ins Heilige […] von Gnaden des Geistes (GKFA 15.1, 832).

Die für Thomas Mann kennzeichnende enge Verbindung von ›Geist‹ und ›Krankheit‹ führt ihn dazu, dem »heidnische[n] Natur-Aristokratismus« (GKFA 15.1, 888) Goethes und Tolstois die Schwindsucht Schillers und die Epilepsie Dostojewskis gegenüberzustellen (vgl. GKFA 15.1, 832), die er »als Adelsattribut[e] höherer Menschlichkeit« (ibid.) versteht. Dabei repräsentiert jede Seite einen Typus des Genies: Zwischen den naiven, naturhaften, »antäischen Genies« (GKFA 15.1, 900)32 Goethe und Tolstoi und den sentimentalischen »kranken Genien Schiller und Dostojewski« (ibid.) öffnet sich der Raum seiner Genievorstellungen, deren strukturelle Grundlage Mann an dieser Stelle formuliert. Doch ist die antithetische Konstellation nicht so eindeutig, wie es den Anschein hat, da er die entwickelte Dichotomie, kaum etabliert, schon wieder unterläuft: Auch das naturgesegnetste Genie ist niemals im Sinne des Philisters natürlich, das heißt gesund, normal und nach der Regel. Da bleibt im Physischen immer viel Zartes und Irritables, zu Krise und Krankheit Geneigtes, im Psychischen immer viel den wenn er das epische Werk definiert als »ein Wunder von Unternehmen, in welchem Massen von Leben, Geduld, innigem Kunstfleiß, einer ausharrenden, die Inspiration täglich erneuernden Treue investiert werden, – mit seinem gigantischen Miniaturismus, der auf das einzelne versessen zu sein scheint, als sei es ihm alles, und dabei das Ganze unerschütterlich im Auge behält« (GW X, 354). 31 Mann nennt Schillers Aufsatz von 1795/96 den »klassischen und umfassenden Essay[] der Deutschen, welcher eigentlich alle übrigen in sich enthält und überflüssig macht« (GKFA 15.1, 812), und es steht außer Zweifel, dass sein Denken in Gegensatzpaaren, das sich nicht zuletzt in der antithetischen Struktur seiner fiktionalen Welten manifestiert, von dieser Dichotomie – wie auch von Nietzsches Unterscheidung zwischen dem Apollinischen und dem Dionysischen – maßgeblich geprägt ist. 32 Das Adjektiv ›antäisch‹ ist eine Neubildung zum Namen des »Riesen Antäus, der unbesieglich war, weil ihm aus der Erde, seiner Mutter, immer neue Kräfte zuströmten, solange er sie berührte« (GKFA 15.1, 846): Es verweist damit auf die Naturverbundenheit dieses GenieTypus.

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Durchschnitt Befremdendes, ihn unheimlich Berührendes, dem Psychopathischen Nahes (ibid.).

Selbst Goethe, eine für Mann paradigmatische Verkörperung des Genies, ist also nicht frei von Krankheit und Wahnsinn, und diese pathologischen Elemente bilden nicht nur keinen Gegensatz zu seinem Genie, sondern können als dessen Ermöglichungsbedingungen angesehen werden. Diese Auffassung gewinnt an Bedeutung für das literarische Werk, als Mann es unternimmt, »Goethen einmal persönlich auf die Beine zu stellen.«33 In Lotte in Weimar wird Goethes Größe, die Art und Beschaffenheit seines Genies zum zentralen Thema, und viele seiner Charakteristika sind in Goethe und Tolstoi bereits vorgeprägt. Doch während der fiktionale Goethe, trotz aller pathologischen Einschläge seines Genies, strukturell noch immer zu den ›Naturkindern‹ zählt, gehört der Teufelsbündner Adrian Leverkühn schon durch seine syphilitische Infektion in die Gruppe der »von Krankheit Genialisierten« (GKFA 19.1, 54), wie Schiller oder Dostojewski.34 Im Fall des ›deutschen Tonsetzers‹ gewinnt die Frage nach der Möglichkeit des Genies noch dadurch an Brisanz, dass er ein avantgardistischer Künstler ist, der seine Werke unter den Bedingungen der Moderne schafft und sich mit ihren Problemen, ästhetischen Anforderungen und Tabus konfrontiert sieht. Obwohl der Genie-Diskurs in Joseph und seine Brüder weniger prominent ist, sprechen gute Gründe dafür, auch die biblische Tetralogie in diese Untersuchung einzubeziehen. Thomas Mann beginnt ihre Niederschrift im Dezember 1926, und schon die verhältnismäßige zeitliche Nähe zu Goethe und Tolstoi35 deutet darauf hin, dass die Genie-Thematik ihn auch während der Vorarbeiten zum Joseph beschäftigt haben dürfte – zumal der junge Joseph seine Umgebung ebenso überragt wie Goethe oder Leverkühn die ihre: Auch er ist eine Künstlerfigur, ein »überlegen begabter Mensch«;36 vor allem aber ist er gesegnet mit dem doppelten Segen »oben vom Himmel herab und aus der Tiefe, die unten liegt« (GW IV, 880), der es ihm erlaubt, die Gegensätze von ›Vatergeist‹ und ›Mutterdunkel‹ in seiner Person zu vereinen – nicht als »Balance-Kunststück genauer Not« (GKFA 9.1, 323) wie Manns fiktionaler Goethe, sondern als harmonische Synthese. Da es Joseph gelingt, die antithetische Struktur, die die 33 Brief Thomas Manns an Anna Jacobsen vom 21. 11. 1936, zitiert nach Thomas Mann: Selbstkommentare. ›Lotte in Weimar‹, hrsg. von Hans Wysling unter Mitwirkung von Marianne Eich-Fischer, Frankfurt am Main 1996, S. 10. 34 Eine ausdrückliche Parallelisierung der Syphilis Friedrich Nietzsches mit der Fallsucht Dostojewskis vollzieht Mann in Dostojewski – mit Massen [sic!]. Beiden Erkrankungen schreibt er genialisierende Wirkung zu. 35 Die Essayfassung entstand »[v]on Dezember 1924 bis Februar 1925« (GKFA 15.2, 504). 36 Herbert Lehnert: Der sozialisierte Narziß. ›Joseph und seine Brüder‹, in: Hansen, Volkmar (Hrsg): Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 2005, S. 186 – 227, hier : S. 220.

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Grundlage der erzählten Welten Thomas Manns bildet, in seiner Person aufzuheben, kann er – mit Einschränkungen – als »Gestalt der Erfüllung«37 gelten. Angesichts einer Figur aber, die nicht nur »vereint, was selbst Goethe trennen mußte«,38 sondern darüber hinaus die in Goethe und Tolstoi entwickelte Dichotomie von naturhaftem und krankem Genie transzendiert, drängt sich die Frage auf, ob sie als mythisches Genie aufgefasst werden kann, das in der Welt des Alten Orients exemplarisch verwirklicht, was in Kaisersaschern wie in Weimar unweigerlich Utopie bleiben muss. Die Genie-Thematik spielt auch im Zauberberg eine Rolle: Mynheer Peeperkorn ist eine exemplarische Inkarnation der großen Persönlichkeit, Hans Castorp erörtert mit Madame Chauchat die steigernde Wirkung der Krankheit und postuliert den Tod als »das geniale Prinzip« (GKFA 5.1, 903), und Leo Naphta versteigt sich gar zu der Behauptung, dass aller Fortschritt »einzig der Krankheit verdankt werde, und das heiße: dem Genie, – als welches eben nichts anderes als Krankheit sei!« (GKFA 5.1, 701). Im Gegensatz zu den drei behandelten Romanen bleibt es im Zauberberg jedoch bei Fragmenten eines GenieDiskurses: Zwar unterliegt der ›schlichte Held‹ Hans Castorp »einer gewissen alchemistischen Steigerung seines Wesens« (GKFA 5.1, 818), doch ist er deswegen noch lange kein »homme de g¤nie« (GKFA 5.1, 902) – ebenso wenig wie Mynheer Peeperkorn, dessen Versuch, die Rolle des ›großen Mannes‹ zu spielen, auch daran scheitert, dass sie zur leeren Maske geworden ist. Und die Bemerkung Naphtas, die wie ein vorweggenommener Kommentar zum Doktor Faustus erscheinen könnte, geht in der »großen Konfusion« (GKFA 5.1, 821) der widersprüchlichen Standpunkte unter und bleibt damit letztlich bedeutungslos. Es gibt im Zauberberg weder ein geschlossenes Geniekonzept noch eine exponierte Figur, die, wie Goethe in Lotte in Weimar, als Kristallisationspunkt für die divergierenden Genievorstellungen des Textes fungieren könnte. Hinzu kommt, dass nicht nur zwischen der biblischen Tetralogie und dem ›eingeschobenen‹ Roman Lotte in Weimar ein enger innerer Zusammenhang besteht, sondern auch zwischen ihnen und dem Doktor Faustus. Alle drei Werke teilen ein gemeinsames motivisches Verweisungsgeflecht, in das »[d]ie Geschichte Hans Castorps« (GKFA 5.1, 9) nur sehr lose eingebunden ist.39 37 Hermann Kurzke: Mondwanderungen. Wegweiser durch Thomas Manns Joseph-Roman, Frankfurt am Main 2003, S. 127. 38 Eckhard Heftrich: Geträumte Taten. ›Joseph und seine Brüder‹, in: Bludau, Beatrix (Hrsg): Thomas Mann, 1875 – 1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck, Frankfurt am Main 1977, S. 659 – 676, hier: S. 674. 39 Diese enge Verbindung zeigt sich etwa daran, dass Riemer sich bei seinem Versuch, das ›Phänomen Goethe‹ zu erklären, auf den »Jakobssegen der Schrift« (GKFA 9.1, 89) beruft, wobei er allerdings »nicht den Wortlaut der Luther-Bibel [zitiert], sondern jene Fassung, die Thomas Mann [ihm] in seinem Joseph gegeben hat« [Hubert Ohl: Riemers Goethe. Zu Thomas Manns Goethe-Bild, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 27 (1983),

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Neben der Auswahl der untersuchten Werke bedarf auch die Reihenfolge ihrer Bearbeitung der Erläuterung, da sie sich nicht an der Chronologie ihrer Entstehung, sondern an inhaltlichen Gesichtspunkten orientiert. Die Analyse beginnt mit Lotte in Weimar, weil Thomas Mann sich bei seiner Auseinandersetzung mit dem Konzept des Genies von Beginn an auf Goethe bezieht, der für ihn eine paradigmatische Verkörperung des ›großen Mannes‹ darstellt. Hinzu kommt, dass der fiktionale Goethe des Romans, der in seiner Jugend als Inbegriff des Originalgenies galt, sich noch im Alter mit den Vorstellungen der Genieästhetik auseinandersetzen muss, so dass seine Kritik an Konzepten wie Originalität und Inspiration im Rahmen dieser Untersuchung eine doppelte Funktion erfüllt: Sie erläutert zentrale Kategorien der traditionellen Genievorstellung und zeigt zugleich ihre Fragwürdigkeit sowie Möglichkeiten ihrer Adaption und Restituierung auf. Damit ist Lotte in Weimar von allen drei Romanen am besten geeignet, in die Problemstellung dieser Untersuchung einzuführen und ihre Grundlagen zu etablieren. Im Doktor Faustus werden diese Schwierigkeiten durch die Übertragung des Geniekonzepts auf einen avantgardistischen Künstler des 20. Jahrhunderts radikalisiert und verschärft, die Risse in dieser überlieferten Vorstellung, die schon im Goethe-Roman sichtbar werden, brechen vollends auf und lassen es beinahe unmöglich erscheinen, im Kontext der Moderne noch vom ›Genie‹ zu sprechen. Hinzu kommt die zentrale Bedeutung der ›genialisierenden Krankheit‹ in Manns Altersroman: Nach Goethe, dem Vertreter des ›naturhaften‹ Genies, ist mit dem ›genialen Kranken‹ Adrian Leverkühn die in Goethe und Tolstoi entwickelte Konstellation in ihrer literarischen Umsetzung vervollständigt. Joseph steht jenseits dieser Dichotomie von Natur und Geist, er transzendiert sie, und schon deshalb ist es sinnvoll, die biblische Tetralogie zuletzt zu behandeln. Ihrer mythischen Welt wohnt eine utopische Dimension inne, die es dem Protagonisten erlaubt, das Potential seiner Anlagen und Talente zu voller Entfaltung zu bringen und auf diese Weise den »Inbegriff des Menschen«40 in S. 381 – 395, hier : S. 389]. Darüber hinaus spielt mit dem mythischen Konzept des In-SpurenGehens ein zentrales strukturelles Elemente des Joseph auch in Lotte in Weimar eine Rolle. Diesen Roman wiederum nennt Wimmer ein ›Vorspiel‹ zur Lebensgeschichte Adrian Leverkühns, da Goethe »in mehrfacher Brechung als der große, vielgesichtige Deutsche mit durchaus rätselhaft-dämonischen Zügen« (GKFA 10.2, 23) erscheine und damit auf den ›deutschen Tonsetzer‹ vorausweise. – Thomas Mann selbst bezeichnet »die Josephs-Bücher, den Goethe-Roman und den ›Faustus‹« als den »zweite[n] Teil [s]eines Lebenswerkes, zu dem der ›Zauberberg‹ den Übergang« bilde [Brief Thomas Manns an Hermann Ebers vom 29. 3. 1949, zitiert nach Mann (1998), S. 277]; vgl. Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche – Werk – Wirkung, 3., erneut überarb. Aufl., München 1997, S. 271. 40 Rüdiger Sturm: Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹. Der Mythos als göttliche Unterhaltung, in: Gaisbauer, R. Gustav (Hrsg): Der zweite Kongreß der Phantasie, Passau 1989, S. 259 – 269, hier: S. 263.

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seiner Vollendung zu verkörpern: »die stille Hoffnung Gottes« (GW IV, 48) auf ein Menschentum, »das gesegnet [ist] mit Segen von oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt« (GW IV, 49). Jaakobs Sohn wächst über das Konzept des Genies hinaus, und auch deshalb steht der Roman Joseph und seine Brüder am Ende dieser Untersuchung. Obwohl das Genie zu den zentralen Themen von Lotte in Weimar und Doktor Faustus gehört, sowohl im Zauberberg als auch in Joseph und seine Brüder seine Spuren hinterlassen hat, und in den Essays spätestens seit 1925 erörtert wird,41 ist ihm in der Forschung bisher erstaunlich wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden. Zwar sprechen die Interpreten von Lotte in Weimar mit großer Selbstverständlichkeit von dem »Genie Goethes«,42 der »übermenschliche[n] Stellung des Genies«43 in Kultur und Gesellschaft und der »potentielle[n] Katastrophe des genialen Geistes«,44 ohne dabei jedoch auf die Frage einzugehen, was genau unter Goethes Genie zu verstehen ist.45 Und obwohl einzelne Aufsätze sich mit dem Genie im Doktor Faustus auseinandersetzen,46 ist diese Frage auch 41 Wenn man die langen biographischen Wurzeln des Doktor Faustus berücksichtigt, lässt sich schon 1904 ein Interesse Thomas Manns für das Genie nachweisen. In dem sogenannten ›Neun-Zeilen-Plan‹ schreibt Mann über den Protagonisten seiner geplanten Faust-Novelle: »Figur des syphilitischen Künstlers […]. Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf [geniale] in entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufel: Paralyse« [Thomas Mann: Notizbücher. Edition in 2 Bänden, hrsg. von Hans Wysling, Bd. 2: Notizbücher 7 – 14, Frankfurt am Main 1992, S. 121 f.]. 42 Volkmar Hansen: ›Lebensglanz‹ und ›Altersgröße‹ Goethes in ›Lotte in Weimar‹, in: Hansen, Volkmar (Hrsg): Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 2005, S. 228 – 269, hier: S. 236. 43 Herbert Lehnert: Dauer und Wechsel der Autorität. ›Lotte in Weimar‹ als Werk des Exils, in: Bernini, Cornelia (Hrsg): Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck, Bern 1987, S. 30 – 52, hier: S. 45. 44 Werner Frizen: »Wiedersehn – ein klein Kapitel«. Zu ›Lotte in Weimar‹, in: Thomas-MannJahrbuch 11 (1998), S. 171 – 202, hier : S. 185. 45 Einzig Friedhelm Marx verweist darauf, dass »die (verbreitete) Rede vom Originalgenie Goethe ergänzungsbedürftig« sei [Friedhelm Marx: »Die Menschwerdung des Göttlichen«. Thomas Manns Goethe-Bild in ›Lotte in Weimar‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 113 – 132, hier : S. 119], da Goethe im Roman »nicht als Originalgenie geschildert« werde [ibid.]. 46 Hier ist vor allem zu nennen die umfassende Arbeit von Dieter Borchmeyer : Musik im Zeichen Saturns. Melancholie und Heiterkeit in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 7 (1994a), S. 123 – 167; aber auch Thomas Steinfeld: Genie und Dämon in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Text und Kontext 13 (1985), S. 80 – 89; Renate Böschenstein: ›Doktor Faustus‹ und die Krankheit als Inspiration, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Vom Zauberberg zum Doktor Faustus. Die Davoser Literaturtage 1988, Frankfurt am Main 2000, S. 129 – 156; Thomas Rütten: Krankheit und Genie. Annäherungen an Frühformen einer Mannschen Denkform, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Literatur und Krankheit im Fin-de-Siºcle (1890 – 1914). Thomas Mann im europäischen Kontext. Die Davoser Literaturtage 2000, Frankfurt am Main 2002, S. 131 – 170 und Reinhard Steinberg: Genie und

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für Adrian Leverkühn noch nicht beantwortet – und erst recht nicht für Joseph, Jaakobs Sohn. Dieses geringe Interesse ist umso verwunderlicher, als die Idee des Genies ins Zentrum einer Problemstellung führt, mit der Thomas Mann sich zeitlebens in immer neuen Variationen auseinandergesetzt hat, von der Novelle Der kleine Herr Friedemann (1898) bis zum Versuch über Schiller (1955): dem Problem der immer prekären, herausgehobenen und abgesonderten Lebensform des Künstlers. Auch Goethe, Joseph und Adrian Leverkühn sind Künstlerfiguren, dabei aber vor Hanno Buddenbrook, Tonio Kröger oder Gustav von Aschenbach ausgezeichnet durch das Attribut Genie, das eine Person »von singulärer intellektueller bzw. künstlerischer Begabung«47 bezeichnet und somit den höchsten Grad schöpferischer Potenz indiziert. Die vorliegende Arbeit ist also bestrebt, eine Lücke zu schließen, die, von den Interpreten bisher weitgehend unbemerkt, an zentraler Stelle der Thomas-Mann-Forschung besteht. Die Analyse des Geniediskurses und seiner Bedeutung für das Werk Thomas Manns impliziert die Frage, wie dieser Diskurs im 20. Jahrhundert überhaupt noch geführt werden kann. Nachdem die Genie-Ideologie, ihrer fortdauernden Wirksamkeit ungeachtet, bereits im Fin de siºcle einen Großteil ihrer früheren Überzeugungskraft eingebüßt hat, wird diese Entwicklung durch die zeitgeschichtlichen Umstände noch verstärkt. Im Jahre 1938, inmitten seiner Arbeit an Lotte in Weimar, erörtert Thomas Mann in seinem Essay Bruder Hitler das Phänomen des Genies »auf der Stufe der Verhunzung« (GW XII, 848), und obgleich er davor warnt, sich durch Hitler »das Genie überhaupt, das Phänomen des großen Mannes verleiden« (GW XII, 851) zu lassen, steht doch außer Zweifel, dass die Vorstellung des genialen ›großen Mannes‹ durch den Führerkult und die Masseninszenierungen des europäischen Faschismus nur noch fragwürdiger geworden ist. Diese zeitgeschichtliche Dimension hat in allen drei behandelten Romanen ihre Spuren hinterlassen, und sie führt zu der grundlegenden Frage, die sich bereits in bezug auf die Figur des fiktionalen Goethe stellt und sich angesichts Adrian Leverkühns noch verschärft, dessen Geschichte nicht zu Beginn des 19. Jahrhunderts spielt, sondern – vom Standpunkt eines Lesers im Erscheinungsjahr 1947 aus betrachtet – in der jüngsten Vergangenheit: Wie ist es Thomas Mann vor dem Hintergrund der weitgehenden Diskreditierung der Genie-Ideologie überhaupt möglich, Goethe, Leverkühn oder auch Joseph als Genies zu inszenieren, ohne sie dadurch hoffnungslos unzeitgemäß erscheinen Wahnsinn. Spuren des Kreativitätsmythos im ›Doktor Faustus‹, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt am Main 2004, S. 105 – 131. 47 Weimar (2007), S. 701. Dabei handelt es sich nur um eine vorläufige und oberflächliche Bestimmung dessen, was unter ›Genie‹ verstanden werden kann; im vorliegenden Zusammenhang ist sie jedoch ausreichend.

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zu lassen und sich selbst dem Verdacht der Rückständigkeit, wenn nicht der Reaktion auszusetzen?48 Obwohl der Bedeutung des zeithistorischen Kontextes mittels schlaglichtartiger Verweise auf die Entstehungsumstände der drei untersuchten Romane Rechnung getragen wird, gilt das Hauptaugenmerk der Untersuchung fraglos der textimmanenten Inszenierung der verschiedenen Geniefiguren: Welche Kategorien der traditionellen Genieästhetik – Originalität, Inspiration, Melancholie, Irrationalität, die Vorstellung der creatio ex nihilo – werden zu ihrer Darstellung herangezogen? Wie werden sie modifiziert, um den Anforderungen einer Zeit Rechnung zu tragen, die eine unveränderte Übernahme historischer Konzepte nicht mehr erlaubt, und welche Konsequenzen ergeben sich aus diesen Adaptionen für die Interpretation der betreffenden Werke? Im Zentrum dieser Arbeit steht dabei eine doppelte Fragestellung: Welche Konzeptionen von Genie werden in Lotte in Weimar, Joseph und seine Brüder und Doktor Faustus entwickelt, und in welchem Verhältnis stehen sie zu den Kategorien und Vorstellungen der Genietradition?

48 Eine ähnliche Problematik zeigt sich im Zusammenhang mit der Joseph-Tetralogie bei der Behandlung des Mythos: Nach dem Erscheinen der Geschichten Jaakobs sah sich Thomas Mann dem Vorwurf ausgesetzt, er leiste einen »Beitrag zur Rückführung des deutschen Volkes in die Barbarei« [vgl. Alfred Kurella: Die Dekadenz Thomas Manns, in: Internationale Literatur 4/2 (1934), S. 155 – 158, zitiert nach Kurzke (2003), S. 170]. Auch eine unvorsichtige, unreflektierte Berufung auf das Genie hätte Mann dem Vorwurf aussetzen können, er verbreite »Geist vom Geiste der Henker Deutschlands« [ibid., S. 171].

II. Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

1.

Fragestellung und Methode

Ehe die Frage nach den Geniekonzepten in Thomas Manns Romanen beantwortet oder auch nur sinnvoll gestellt werden kann, ist es notwendig zu bestimmen, was im Kontext der vorliegenden Untersuchung unter dem Begriff Genie verstanden werden soll. Dabei wäre es methodisch unzureichend, eine der historischen Genievorstellungen, etwa die des Sturm und Drang, als Referenzpunkt heranzuziehen, da ein solcher Vergleich nur geringen Erkenntnisgewinn verspräche: Er würde unweigerlich zu dem Ergebnis führen, dass weder Goethe, noch Adrian Leverkühn oder Joseph dem Bild des Originalgenies entsprechen,49 denn keines der untersuchten Geniekonzepte ist ›historisch‹ im Sinne eines einfachen Abbildungsverhältnisses von Wirklichkeit und Text. Zwar lässt sich, zumal in Lotte und im Faustus, der Einfluss geschichtlicher Genie-Vorstellungen nachweisen, doch werden diese Elemente fiktionalisiert, das heißt: aus ihrem historischen Kontext gelöst und in einen Zusammenhang gebracht, in dem ihnen eine neue und dezidiert anachronistische Bedeutung zukommt. So gewinnen Inspiration und Melancholie durch ihre Assoziation mit dem Teufelspakt und der dämonisch-illuminierenden Wirkung der Syphilis im Doktor Faustus bisher unbekannte Dimensionen, und in Lotte in Weimar verbindet sich der Begriff der ›Größe‹ mit der Vorstellung des Nihilismus in der Tradition Friedrich Nietzsches: Aller Übereinstimmungen mit traditionellen Vorstellun-

49 Das Originalgenie des Sturm und Drang dient hier nur der Illustration, da das Ergebnis immer das selbe wäre, unabhängig davon, welche der einander ablösenden Vorstellungen des Genies zum Vergleich herangezogen würde: Die in Manns Romanen entwickelten Geniekonzepte nehmen auf verschiedene Aspekte historisch gewachsener Genievorstellungen Bezug, stimmen jedoch mit keiner von ihnen vollständig überein. Einen Überblick über den Wandel der Genievorstellungen zwischen 1750 und 1945 bietet Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750 – 1945, 3. Aufl., 2 Bde., Heidelberg 2004a.

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

gen ungeachtet wird in jedem Roman eine genuin eigenständige Konzeption des Genies entwickelt. Dennoch steht außer Zweifel, dass der Begriff ›Genie‹, wenn er nicht der Beliebigkeit verfallen soll, nur aus seiner Entstehungsgeschichte heraus verstanden werden kann und auf sie bezogen bleiben muss. Die Herausforderung besteht darin, diesen Bezug zu gewährleisten und zugleich sicherzustellen, dass das verwendete Geniekonzept nicht zu eng an einen spezifischen historischen Kontext gebunden ist. Dazu wird in diesem Kapitel die These entwickelt, das Genie lasse sich mittels dreier systematischer Kategorien kennzeichnen: der Authentizität des künstlerischen Ausdrucks, dem Anspruch des genialen Subjekts auf Autonomie und seinem durch Alterität gekennzeichnete Verhältnis zur Welt. Jede dieser Eigenschaften kann als notwendige Bedingung einer geniale Existenz angesehen werden, und alle drei zusammen konstituieren das Genie.50 Zwei Ziele gilt es im Zuge der folgenden Argumentation zu erreichen: Es ist (1) notwendig nachzuweisen, dass Authentizität, Autonomie und Alterität tatsächlich konstitutive Merkmale des Genies darstellen, und diese Kategorien sind (2) so aus der Genietradition abzuleiten, dass die Verallgemeinerung von einem konkreten Text zu einer generellen Aussage über das Genie plausibel wird. Die Analyse geht dabei von der Prämisse aus, die Vorstellung des Genies finde ihre für den deutschen Kulturraum paradigmatische und damit wirkungsmächtigste Ausprägung in der ›Geniezeit‹ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Diese Annahme führt dazu, dass die Bedeutung von Authentizität und Autonomie für die Vorstellung des Genies aus zwei Texten abgeleitet wird, deren Bedeutung für die Genieästhetik es legitimiert, den gewonnenen Befunden den Status allgemeiner Aussagen über das Genie zuzusprechen: Gemeint sind Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772) und seiner Rede Zum Shakespeares-Tag (1771). Im Gegensatz dazu ist der Begriff der Alterität kein Bestandteil der Genietradition, so dass seine Bedeutung nicht unter Bezugnahme auf einschlägige poetologische Texte nachgewiesen werden kann. Statt dessen wird zunächst mit Hilfe von Niklas Luhmanns Systemtheorie das Verhältnis des Künstlers sowie des Genies zur Gesellschaft analysiert und mit den Begriffen Alienität und Alterität bezeichnet; anschließend wird am Beispiel zweier fiktionaler Figuren – des Protagonisten von Goethes Jugendroman Die Leiden des jungen Werthers und des Goldschmieds Ren¤ Cardillac aus E. T. A. Hoffmanns Das Fräulein von Scuderi – exemplarisch dargestellt, dass sich diese beiden Kategorien zur Beschreibung fiktionaler Genie- und Künstlerfiguren eignen, so dass auch Alterität 50 Die drei Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität stehen in einem so engen inneren Zusammenhang, dass sie als verschiedene Ausprägungen eines einzigen gedanklichen Komplexes angesehen werden können. Obwohl die vorgenommene Unterscheidung vor diesem Hintergrund forciert und künstlich erscheinen könnte, ist sie als heuristisches Konstrukt notwendig.

Konstitutive Merkmale des Genies

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als eine notwendige Bedingung des Genies angesehen werden kann. Der Umstand, dass zwei der drei Kategorien, die den Geniebegriff dieser Untersuchung konstituieren, anhand kanonischer Texte der Genieästhetik bestimmt werden, bildet dabei eine Gewähr dafür, dass dieser auf die Genietradition bezogen bleibt, während er sich durch die Einbeziehung und systemtheoretische Herleitung des Alteritätsbegriffs signifikant von jeder historischen Genievorstellung unterscheidet. Diese Unabhängigkeit von spezifischen geschichtlichen Kontexten ermöglicht es, ihn auf so divergente Figuren wie Goethe, Joseph und Adrian Leverkühn anzuwenden. Es ist dabei wichtig zu betonen, dass es sich bei der Annahme, eine der untersuchten Figuren sei ein Genie, um eine Arbeitshypothese handelt, die erst im Verlauf der Untersuchung verifiziert oder verworfen wird: Zunächst wird auf einer textinternen Ebene analysiert, welche Elemente der Genietradition sich im Text identifizieren lassen, inwiefern sie abgewandelt werden und welchen Standpunkt Erzähler und Figuren zur Frage des Genies einnehmen. Dieses Vorgehen birgt jedoch die Gefahr einer zirkulären Argumentation, in der die Frage, ob es sich beispielsweise bei Adrian Leverkühn um ein Genie handelt, auf der Grundlage des Maßstabes beantwortet wird, den der Text selbst zur Verfügung stellt, und der folglich entscheidend von Serenus Zeitbloms Einschätzung des ›deutschen Tonsetzers‹ beeinflusst ist. Um dieser Gefahr zu begegnen, wird am Ende jedes Kapitels untersucht, ob sich die betreffende Figur durch Authentizität, Autonomie und Alterität auszeichnet. Diese Kategorien fungieren als textexterne Referenzpunkte und binden das Geniekonzept des Textes damit an die historisch gewachsenen Genievorstellungen zurück. Erst dadurch ist der Nachweis erbracht, dass es sich bei einer der fiktionalen Figuren tatsächlich um ein Genie handelt.51

2.

Konstitutive Merkmale des Genies

2.1.

Authentizität: Der Absolutheitsanspruch des genialen Subjekts

In diesem Abschnitt wird der Begriff der Authentizität, wie ihn »[d]ie Genieästhetik des 18. Jh.s […] im Sinne eines ursprünglich-echten Subjektausdrucks in der Dichtung«52 geprägt hat, als eines der konstitutiven Elemente der Vor51 Dieses Vorgehen impliziert die Möglichkeit, dass eine Figur sich beispielsweise durch Authentizität und Autonomie, nicht aber durch Alterität auszeichnet und deshalb – nach Maßgabe des hier entwickelten methodischen Ansatzes –, nicht als Genie anzusehen ist, unabhängig von den inhaltlichen Befunden der vorherigen Untersuchung. Über die Konsequenzen eines solchen Befundes wird im Falle seines Eintretens nachzudenken sein. 52 Christoph Deupmann: Artikel ›Authentizität‹, in: Burdorf, Dieter ; Fasbender, Christoph;

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

stellung des Genies ausgewiesen, da es nur unter dieser Voraussetzung gerechtfertigt ist, ihn als systematische Kategorie zur Bestimmung des Genies heranzuziehen. Schon die Definition von ›Authentizität‹ als »glaubwürdige[r] Ausdruck der Autor-Subjektivität im lit[erarischen] Text«53 macht deutlich, dass dieses Konzept nicht ohne Bezugnahme auf die Vorstellungen von ›Subjekt‹ und ›Individuum‹54 gedacht werden kann, und obgleich der historische Prozess der Individualisierung schon in der Renaissance beginnt, nehmen die genannten Konzepte doch erst in der von Reinhard Koselleck so genannten ›Sattelzeit‹,55 noch genauer um 1770,56 eine Bedeutung an, die es rechtfertigt, von einem »ent-

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Moennighoff, Burkhard et al. (Hrsg): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2007, S. 57. Ibid. Zu verschiedenen andere Bedeutungen von Authentizität, die für den vorliegende Zusammenhang nicht relevant sind, vgl. Klaus Grubmüller: Artikel ›Authentizität‹, in: Weimar, Klaus; Fricke, Harald (Hrsg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2007, Bd. I: A-G, S. 168 – 169; Charles Taylor : The Ethics of Authenticity, 11. Aufl., Cambridge 2003; Alessandro Ferrara: Reflective Authenticity. Rethinking the Project of Modernity, London 1998; Erika Fischer-Lichte: Inszenierung von Authentizität, 2., überarb. und akt. Aufl., Tübingen 2007 und Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tübingen 2002. Im vorliegenden Argumentationszusammenhang können beide Kategorien als synonym betrachtet werden, zumal Niklas Luhmann, dessen Begrifflichkeit im Alteritäts-Kapitel zur Anwendung kommt, die »Gleichsetzung von Individuum und Subjekt« [Niklas Luhmann: Individuum, Individualität, Individualismus, in: Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt am Main 1993, S. 149 – 258, hier : S. 207] als kennzeichnend für das Verständnis von Individualität »[i]n der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« ansieht [ibid., S. 206]. Vgl. Reinhart Koselleck: Vorwort, in: Brunner, Otto; Conze, Werner ; Koselleck, Reinhart (Hrsg): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 8 Bde., Stuttgart 2004, Bd. 1, S. XIII–XXVII, hier : S. XV. – Nach Kemper gibt es »sowohl interdisziplinär als auch innerhalb der verschiedenen methodischen Ansätze der Literaturwissenschaft einen gewissen Konsens, die Makroepoche der Moderne in der von Reinhard Koselleck so genannten Sattelzeit um 1800, im weiteren Sinne zwischen 1750 und 1850 beginnen zu lassen« [Dirk Kemper : Ästhetische Moderne als Makroepoche, in: Vietta, Silvio; Kemper, Dirk (Hrsg): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 97 – 126, hier : S. 101]. Zu weiteren Bestimmungen des Epochenbegriffs ›Moderne‹ als Makroepoche vgl. Silvio Vietta, Dirk Kemper : Einleitung, in: Vietta, Silvio; Kemper, Dirk (Hrsg): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 1 – 55, hier : S. 17 f. – Angesichts der zentrale Bedeutung, die der ›Wende zum Subjekt‹ nicht nur für die Vorstellung des Genies, sondern auch als Kennzeichen der Moderne zukommt, kann das Genie trotz seiner über zweitausendjährigen Tradition als ein im Kern ›modernes‹ Konzept betrachtet werden. Diese Annahme wird, gerade in bezug auf das Geniekonzept der vorliegenden Arbeit, gestützt durch die Position Klingers, die »die ästhetische Ideologie der Moderne« [Klinger (2000 – 2005), S. 150] nicht mit Hilfe inhaltlich-stilistischer Merkmale bestimmt, sondern mittels dreier struktureller Kategorien: Autonomie, Authentizität und Alterität. Kemper weist darauf hin, dass »sich das Individualitätskonzept der Moderne in der Sattelzeit

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scheidenden Wendepunkt in der Entwicklung moderner Subjektivität«57 zu sprechen. Hermann Kurzke formuliert: Zu den erstaunlichsten Vorgängen der abendländischen Geistesgeschichte gehört die Herausbildung des modernen Individuums im Laufe eines einzigen Jahrhunderts. Menschen der Jahre um 1700 herum wirken auf uns fremdartig, hölzern und steif, mit sonderbar standardisierten Emotionen, ohne Ichbewußtsein und Gefühlskultur. Menschen um 1800 herum sind uns hingegen sehr ähnlich, mit ihrem Anspruch auf Unverwechselbarkeit, ihrer Empfindlichkeit und ihrem hochgezüchteten Individualismus.58

Das Konzept des Genies ist insofern als ein Produkt dieser Entwicklung und zugleich als einer ihrer Exponenten anzusehen, als »das sich herausbildende moderne Individuum seinen prägnantesten Ausdruck in den Genie-Proklamationen«59 des Sturm und Drang findet: Die Genie-Proklamationen, in denen die literaturästhetische Entwicklung des 18. Jahrhunderts gipfelt, sind Manifestationen eines unabhängig gewordenen, oft genug auch nur die Unabhängigkeit ersehnenden, auf seine eigenen produktiven Energien stolzen bürgerlichen Menschen, der keine andere Autorität mehr anerkennt.60

Das Genie wird zum Paradigma – auch deshalb, weil es eine »Antwort auf die beiden grundlegenden Orientierungskrisen der Frühen Neuzeit«61 bietet,

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zwischen 1750 und 1850 entwickel[e], wobei dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts als Phase der Entfaltung eines emphatischen Begriffs von Individuum, seiner experimentellen Erprobung, aber auch schon der Ausleuchtung von Aporien dieses Konzepts zentrale Bedeutung« zukomme [Dirk Kemper : Ineffabile. Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne, München 2004, S. 12]. In seiner Habilitationsschrift, die es sich zur Aufgabe macht, »die historische Genese dieses Konzepts in der Sattelzeit der Dekaden vor und nach 1800 im Spiegel des literarischen Werks Goethes zu rekonstruieren« [ibid., S. XI], und die ihr Hauptaugenmerk damit auf eine Fragestellung richtet, die für die vorliegende Arbeit nur argumentatives Mittel ist, dringt Kemper naturgemäß weit tiefer in die Problemzusammenhänge ein, als es im Rahmen der vorliegenden Argumentation möglich oder sinnvoll ist. Roland Hagenbüchle: Subjektivität. Eine historisch-systematische Hinführung, in: Fetz, Reto Luzius; Hagenbüchle, Roland; Schulz, Peter (Hrsg): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Berlin 1998, Bd. 1, S. 1 – 88, hier : S. 44. Einen knappen Überblick über philosophische Voraussetzungen, Implikationen und Folgen der Entstehung der modernen Individualitätsproblematik bietet Kemper (2004), S. 1 – 11. Hermann Kurzke: Nicht bosseln und nicht basteln. Der Radikalpietismus und die Erfindung der Subjektivität, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 151 (3. 7. 1995), S. 28. Hans-Georg Kemper: »Ich wie Gott«! Zum Geniekult der Goethezeit. Für Jürgen Schröder zum 65. Geburtstag, in: Häusermann, Jürg (Hrsg): Inszeniertes Charisma. Medien und Persönlichkeit, Tübingen 2001a, S. 83 – 115, hier : S. 171. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, Bd. 1: Von der Aufklärung zum Idealismus, 3. verbesserte Auflage, Heidelberg 2004b, S. 4. So zutreffend diese Aussage auch ist, darf nicht übersehen werden, dass der Gestus gerade der Originalgenies des Sturm und Drang antigesellschaftlich ist: gegen Regeln, Autoritäten, überkommene Traditionen gerichtet. Kemper (2001a), S. 84.

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auf die religiöse Krise des Verlusts der einen Wahrheit seit dem Auseinanderbrechen des Christentums in drei miteinander rivalisierende Konfessionen sowie […] auf die wissenschaftlich-weltanschauliche Krise der Desorientierung angesichts der divergierenden und widersprüchlichen Erkenntnisse und Hypothesen der ›new science‹ über Welt und Mensch.62

Die zunehmende Unsicherheit der traditionellen Ordnungssysteme konfrontiert das Individuum mit der Unmöglichkeit, Selbstgewissheit weiterhin durch den Bezug auf äußere Instanzen zu gewinnen, seien sie gesellschaftlicher, staatlicher oder religiöser Natur. Der Mensch wird auf sich selbst verwiesen63 – und [f]ür diese Problemsituation liefert die Genieästhetik des Sturm und Drang ein funktional adäquates, wenngleich semantisch überhöhtes Selbstdeutungsmuster, das zur zentralen Leitidee der Moderne werden wird: die Idee selbstbestimmter Individualität.64

Ehe untersucht wird, inwiefern die Kategorie der Authentizität sich als kennzeichnend für die Genieästhetik des Sturm und Drang erweist, soll anhand der Essaysammlung Characteristics of Men, Manners, Options, Times (1711) des englischen Politikers und Philosophen Anthony Ashley Cooper of Shaftesbury exemplarisch dargestellt werden, von welchen Maßstäben die Bewertung eines Kunstwerks vor der »Wende zum Subjekt«65 bestimmt sein konnte. Dass diese Argumentation sich gerade auf Shaftesbury bezieht, liegt einerseits in der Bedeutung seiner Essays für die deutsche Genietradition begründet, andererseits aber in den Unterschieden gegenüber den Vertretern des Sturm und Drang. Dabei soll nicht auf die offensichtliche und seit Walzels Studie66 immer wieder 62 Ibid., S. 84; vgl. zu diesem Problemfeld außerdem Hans-Georg Kemper : Konfessionalismus, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 2, Tübingen 1987 sowie idem: Frühaufklärung, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 5.2, Tübingen 1991. 63 Dirk Kemper formuliert in bezug auf Werther : »Wenn aber der Entwurf des eigenen Ich und der dieses Ich einbettenden Welt nicht mehr durch den Bezug nach außen geleistet wird, ist das Individuum auf den Weg nach innen verwiesen, wo das eigene Selbst im Verhältnis zur umgebenden Welt nunmehr gefunden oder entworfen werden muß« [Kemper (2004), S. 73 f.]. Diese ›Wende zum Subjekt‹, deren Exponent auf dem Gebiet der Ästhetik das Genie ist, wird im Bereich der Epistemologie von Ren¤ Descartes vollzogen und in der Transzendentalphilosophie Kants radikalisiert, der »die subjektiven Momente der Erkenntnis zur Bedingung der Erkennbarkeit von Gegenständen« erhebt [Jürgen H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung, Stuttgart 1991, S. 30]; vgl. zu dieser Entwicklung Kemper (2004), S. 2 – 7. 64 Marianne Willems: Wider die Kompensationsthese. Zur Funktion der Genie-Ästhetik der Sturm-und-Drang-Bewegung, in: Euphorion 94 (2000), S. 1 – 41, hier: S. 39. 65 Dagmar Fenner : Kunst – jenseits von Gut und Böse? Kritischer Versuch über das Verhältnis von Ästhetik und Ethik, Tübingen 2000, S. 127. 66 Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe, Reprographischer Nachdruck der 2., neubearbeiteten Aufl., München 1932, 3., unveränderte Aufl., Darmstadt 1968. Nicht ganz zu Unrecht spottet David Wellbery über »die von der Forschung immer wieder neuentdeckte Shaftesburynachfolge« Goethes [David Wellbery : Die Form der Autonomie.

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hervorgehobene Verbindung durch die Prometheus-Gestalt eingegangen werden, sondern auf das Konzept der »inward Form«,67 das, von Goethe übernommen und umgedeutet,68 den »vielleicht wichtigsten Beitrag[] der Stürmer und Dränger zur Ästhetik«69 darstellt und damit auch die Entstehung des Geniekonzepts beeinflusst. Gerade diese Ambivalenz von Übernahme und Umdeutung macht Shaftesbury zu einer geeigneten Folie, um die Entstehung des Authentizitätspostulats in der Genieästhetik zu verdeutlichen. Eine grundlegende Übereinstimmung zwischen Shaftesbury und den Vertretern der Genieästhetik besteht in der Ablehnung der reinen Naturnachahmung im Sinne des ›Kopierens‹ der Wirklichkeit: »A Painter, if he have any Genius, understands the Truth and Unity of Design; and he knows he is even then unnatural, when he follows Nature too close, and strictly copies Life.«70 Diese Überzeugung führt Shaftesbury jedoch nicht zur Ablehnung aller Regeln, im Gegenteil weist er explizit darauf hin, dass »the standing Pieces of good Artists must be form’d after […] those natural Rules of Proportion, and Truth. The Creature of their Brain must be like one of Nature’s Formation.«71 Was den ›true

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Goethes Prometheus-Ode, in: Pankow, Edgar; Peters, Günter (Hrsg): Prometheus. Mythos der Kultur, München 1999, S. 109 – 125, hier : S. 113]; vgl. Eberhard Lämmert: Die Entfesselung des Prometheus. Selbstbehauptung und Kritik der Künstlerautonomie von Goethe bis Gide, Paderborn 1985, S. 4. Anthony Ashley Cooper of Shaftesbury : Soliloquy or Advice to an Author, in: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Nachdruck der Ausgabe London 1711, Hildesheim 1978a, S. 151 – 364, hier : S. 207. Goethe verwendet den Begriff ›innere Form‹ zwar nicht im Baukunst-Aufsatz, dafür aber in seiner 1806 erschienenen Besprechung von Des Knaben Wunderhorn in einer Weise, die sowohl den Einfluss Shaftesburys als auch die Bedeutung dieses Konzepts für den Geniebegriff illustriert: »Das wahre dichterische Genie, wo es auftritt, ist in sich vollendet; mag ihm Unvollkommenheit der Sprache, der äußeren Technik oder was sonst will entgegenstehen, es besitzt die höhere innere Form, der doch am Ende alles zu Gebote steht« (HA 12, 282). Die Werke Goethes werden mittels der Sigle HA unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, München 1998. Beddow charakterisiert das Verhältnis von Übernahme und Umdeutung folgendermaßen: »The term ›inner form‹ itself may well come from the aesthetics of Shaftesbury […]. But the association of the genesis and perception of such inner form with the highest pitch of emotional intensity is some way from Shaftesbury’s polite urbanity« [Michael Beddow: Goethe on Genius, in: Murray, Penelope (Hrsg): Genius. The History of an Idea, Oxford 1989, S. 98 – 112, hier : S. 101]. Klaus Gerth: Die Poetik des Sturm und Drang, in: Hinck, Walter (Hrsg): Sturm und Drang, durchges. Neuaufl., Frankfurt am Main 1989, S. 55 – 80, hier : S. 61. Anthony Ashley Cooper of Shaftesbury : Sensus Communis. An Essay on the Freedom of Wit and Humour. In a Letter to a Friend, in: Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Nachdruck der Ausgabe London 1711, Bd. 1, Hildesheim 1978b, S. 57 – 150, hier : S. 142 f. Dass Shaftesbury hier von einem Maler spricht, hat auf das Argument keinen Einfluss, da er das, was er am Beispiel des Malers verdeutlicht, auf den Poeten überträgt. Alle Hervorhebungen in Shaftesbury-Zitaten sind original. Ibid., S. 145.

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poet‹ von dem »mere Face-Painter«72 unterscheidet, ist also seine Fähigkeit, sich von der oberflächlichen Nachahmung zu lösen und die wahre Natur der Dinge in seinem Kunstwerk auszudrücken: [H]is Art allows him not to bring All Nature into his Piece, but a Part only. However, his Piece, if it be beautiful, and carries Truth, must be a Whole, by it-self, compleat, independent, and withal as great and comprehensive as he can make it.73

Die Ursache dieser »spezifischen Ganzheit des dichterischen Werkes«74 ist ein »plastisches Vermögen, das Shaftesbury an anderer Stelle ›inward form‹ nennt – Goethes ›innere Form‹.«75 Der maßgebliche Unterschied zu Goethe besteht darin, dass Shaftesburys ›inward Form‹ zwar ein innerliches Vermögen des Künstlers bildet, der Referenzpunkt, an dem die Bewertung dieser Form sich orientiert, aber eindeutig außerhalb des Individuums liegt. Dies zeigt sich gerade in dem Vergleich des Künstlers mit dem göttlichen Schöpfer : »Like that Sovereign Artist or universal Plastick Nature, he forms a Whole, coherent and proportion’d in it-self«.76 Aufgabe und Fähigkeit des ›wahren Poeten‹ sieht Shaftesbury also darin, »die innere Natur des Menschen zu einer Welt der Kunst [zu fügen], einem Mikrokosmos, der die schönen Proportionen der äußeren Schöpfung wiederholt.«77 Der Künstler ahmt nicht die einzelnen Werke nach (natura naturata), wohl aber das Werk und damit die schöpferische Kraft Gottes (natura naturans).78 Dieser heteronome Bezug zeigt sich auch darin, dass Shaftesbury das Gelingen des Kunstwerks nur indirekt von der ›inneren Form‹ abhängig macht. Sie ist für ihn nur ein Mittel, seine harmonische Überein72 73 74 75 76 77

Ibid., S. 144 f. Ibid., S. 142 f. Schmidt (2004b), S. 260. Ibid. Shaftesbury (1978a), S. 207. Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1982, S. 3. 78 Der Vergleich des Künstlers mit (einem) Gott stellt eine Umkehrung der traditionellen Vorstellung des Schöpfers als eines Künstlers dar, wie sie sich etwa in Platons Timaios findet (vgl. Timaios 28c/29a): »Der Weltbildner oder Demiurg in Platons Timaeus ist kein Schöpfer im christlichen Sinn. […] Er ist ein ins Übermenschliche gesteigerter handwerklicher Künstler« [Vinzenz Rüfner : Homo secundus deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum, in: Philosophisches Jahrbuch 63 (1955), S. 248 – 291, hier : S. 248]. Die ›umgekehrte‹ Vorstellung wird in ihrer für die Gedankenwelt der Neuzeit wirkungsmächtigsten Form von Julius Caesar Scaliger artikuliert, der darauf verweist, dass »ein Dichter […] nicht nur eine zweite Natur, sondern auch noch mehr Lebensschicksale erschaff[e], und sich eben hierdurch selbst gewissermaßen zu einem zweiten Gott mach[e]«: »At poeta et naturam alteram et fortunas plures etiam ac demum sese istoc ipso perinde ac deum alterum efficit« [Julius Caesar Scaliger : Poetices libri septem = Sieben Bücher über die Dichtkunst. Unter Mitwirkung von Manfred Fuhrmann hrsg. von Luc Deitz und Gregor VogtSpira, Stuttgart 1994, S. 70 f.].

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stimmung mit der äußeren Schöpfung zu gewährleisten, die den eigentlichen Maßstab darstellt. Kriterien dieser Übereinstimmung sind Schönheit und Wahrheit des Kunstwerks:79 For all Beauty is Truth. True Features make the Beauty of a Face, and true Proportions the Beauty of Architecture; as true Measures that of Harmony and Musick. In Poetry, which is all Fable, Truth still is the Perfection.80

Was den »Moral Artist«81 auszeichnet, ist also die Fähigkeit »[to] imitate the Creator«.82 Damit bleibt das Kunstwerk, dieser in sich geschlossene und stimmige ›Mikrokosmos‹, unlösbar an die Gesetze des Makrokosmos gebunden: »Der ›wahre Poet‹ imitiert den Schöpfer bzw. die universal schaffende Natur, indem er deren Ordnung nachahmt, nicht indem er seine Ordnung hervorbringt.«83 Entsprechend ist, laut Shaftesburys berühmtem Vergleich, »[s]uch a Poet […] indeed a second Maker, a just Prometheus, under Jove.«84 Dezidiert stellt er den Künstler, auch als Prometheus, nicht neben oder gar gegen, sondern unter Jupiter.85 Für Shaftesbury bilden innere ›Ganzheit‹ und Harmonie des Kunstwerks den Maßstab künstlerischen Gelingens, insofern sie als Reflexion und Abbild der Wahrheit und Schönheit göttlicher Schöpfung aufzufassen sind, nicht aber, wie für den jungen Goethe und die Genieästhetik, als möglichst authentischer Ausdruck der Subjektivität des Künstlers. Dieser Wechsel des Referenzrahmens von der äußeren auf die innere Welt im Zuge der ›Wende zum Subjekt‹ stellt nichts weniger als einen ästhetischen Paradigmenwechsel dar, wie nun am Beispiel eines Textes dargestellt wird, der auf engstem Raum »die Genieästhetik 79 Als Eigenschaften Gottes tragen diese Kategorien eminent theologische Konnotation: »Wie ›Schönheit‹ traditionell als Attribut Gottes verwendet wird, das sich in der Schöpfung widerspiegelt, ist die Schöpfung eines Genies daran zu erkennen, dass ›lebendige Schönheit‹ aus ihr quillt« [Christina Juliane Fleck: Genie und Wahrheit. Der Geniegedanke im Sturm und Drang, Marburg 2006, S. 234]. Zur ›Theologisierung der Ästhetik‹ bei Goethe vgl. ibid., S. 231 – 238. 80 Shaftesbury (1978b), S. 142. 81 Shaftesbury (1978a), S. 207. 82 Ibid. 83 Willems (2000), S. 25. Schmidt spricht von der »Autonomie, die dem Kunstwerk als einem in sich gegründeten und geschlossenen Ganzen bereits zukomm[e]« [Schmidt (2004b), S. 261], ohne jedoch »zur Behauptung vollständig autonomen Schaffens« [ibid., S. 261] zu führen, was erst bei Goethe der Fall sei. Doch scheint die Bezeichnung ›Autonomie‹ nicht angemessen für ein Werk, dessen Bewertung so vollständig von seinem Bezug auf die göttliche Schöpfung und damit von heteronomen Kategorien bestimmt wird. 84 Shaftesbury (1978a), S. 207. 85 Schmidt verweist auf die ausdrückliche Unterordnung von »Shaftesburys Dichter-Prometheus […] ›unter Jupiter‹« [Schmidt (2004b), S. 261] und korrigiert damit Walzel, »der ihn schon in unmittelbarer Nachbarschaft Gottes« sehe [ibid.]; vgl. außerdem Gerth (1989), S. 60 und Willems (2000), S. 25.

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des Sturm und Drang formuliert«,86 so dass die gewonnenen Erkenntnisse im Sinne genereller Aussagen über das Genie verallgemeinert werden dürfen: Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst (1772).87 Wie bereits ausgeführt, stellt das Konzept der ›inneren Form‹ ein verbindendes Element zwischen Shaftesbury und Goethe dar, und wenn Goethe seinen Heros Erwin von Steinbach dafür preist, dass es ihm gegeben sei, »einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen, ganz, groß, und bis in den kleinsten Teil notwendig schön, wie Bäume Gottes« (HA 12, 7), so scheint er mit Shaftesbury überein zu stimmen, denn Ganzheit, notwendige Schönheit sowie die Analogie des Kunstwerkes mit der Schöpfung Gottes finden sich auch bei diesem. Doch nimmt Goethe nicht nur eine grundlegende Umdeutung der verschiedenen Elemente vor, er führt auch die Kategorie des Charakteristischen ein und ordnet ihr »das Schöne […] völlig unter«:88 »Die Kunst ist lange bildend, eh’ sie schön ist, und doch so wahre, große Kunst, ja oft wahrer und größer als die schöne selbst« (HA 12, 13). Aus dem ›Ganzen‹ bei Shaftesbury wird bei Goethe das »charakteristische[] Ganze« (ibid.): Diese charakteristische Kunst ist nun die einzige wahre. Wenn sie aus inniger, einiger, eigener, selbständiger Empfindung um sich wirkt, unbekümmert, ja unwissend alles Fremden, da mag sie aus rauher Wildheit oder gebildeter Empfindsamkeit geboren werden, sie ist ganz und lebendig (ibid.).

In dem Attribut ›charakteristisch‹ drückt sich der Subjektbezug des neuen Kunstverständnisses aus. Das ›Ganze‹ des Kunstwerks ist nicht mehr analogon mundi, sondern die »Kunst ahmt, durch die Organisation ihrer Werke, die Subjektivität ihres Schöpfers nach.«89 Eine Andeutung dieses neuen Verständnisses zeigte sich schon in dem bereits zitierten Satz von der Gabe Erwin von Steinbachs, »einen Babelgedanken in der Seele zu zeugen« (HA 12, 7; Hervorhebung CB). Hier vollzieht sich die ›Wende zum Subjekt‹, wird »Innerlichkeit zu einem Wesenszug des Genies«,90 und [d]ie Authentizität der genialen Schöpfung wird […] verbürgt in der Individualität des Schaffenden. Das Genie vermag eine authentische Schöpfung hervorzubringen, wenn es ihm ›aus der Seele quillt‹.91

86 Hans-Georg Kemper : Sturm und Drang: Genie-Religion, Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 6.2, Tübingen 2002, S. 214. 87 Vor allem dieser Teil ist in manchem dem Aufsatz von Marianne Willems verpflichtet. 88 Willems (2000), S. 26; vgl. Gerth (1989), S. 64. 89 Peters (1982), S. 57. 90 Schmidt (2004b), S. 77. 91 Fleck (2006), S. 170. Das eingebettete scheinbare Zitat ist eine Kombination aus Faust I, Vers 535 und Vers 569; vgl. HA 3, 25 f.

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Das Genie, wie der junge Goethe es in Erwin von Steinbach personifiziert sieht, unterscheidet sich von Shaftesburys ›true poet‹ also dadurch, dass es in seinen Werken nicht eine äußere Ordnung nachahmt, sondern »durch seine subjektive Ordnungsleistung ein ›Ganzes‹«92 schafft. Diese »Auffassung vom Künstler bzw. Dichter als verantwortlichem Subjekt seiner Artefakte«,93 die in dem »subjektzentrierte[n] Kreativitätskonzept«94 der Genieästhetik ihren Ausdruck findet, ersetzt den äußeren Kosmos als Referenzrahmen durch den inneren, und »[d]ie Individualität bildet nun das Ordnungsprinzip, das an die Stelle der objektiven Normen der Natur tritt und die Qualität des Werkes verbürgt«.95 Der authentischen Ausdruck der eigenen Individualität wird zum alleingültigen Kriterium künstlerischen Gelingens, zum Signum des höchsten Grades künstlerischer Vollkommenheit und zur Voraussetzung der legitimen Zuweisung des Prädikats ›genial‹ an ein Werk sowohl als an eine Person. Somit kann Authentizität als notwendige Bedingung und erstes Kriterium des Genies angesehen werden.

2.2.

Autonomie: Die Eigengesetzlichkeit genialer Existenz

Eine Folge des Anspruchs, den Wert eines Kunstwerks allein aus der Authentizität des künstlerischen Ausdrucks abzuleiten, ist das Autonomie-Postulat des Genies: Ein Werk, das als Emanation der Subjektivität des Schaffenden angesehen wird, kann nicht von äußeren Gesetzen abhängig sein. Das aber impliziert die Forderung nach Originalität des genialen Werkes, die im Sturm und Drang in einer bis dahin ungekannten Radikalität erhoben wird. Eine ebenso maßgebliche wie aufschlussreiche Vorstufe zum Originalitätsbegriff der Geniezeit bilden Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759). Zwar ist dieser Originalitätsbegriff noch weit vom Autonomie-Postulat der Originalgenies entfernt, doch lassen sich gerade anhand des Gegensatzes zwischen Youngs Essay und Goethes Rede Zum Shakespeares-Tag (1771) die charakteristischen Merkmale des Goethe’schen Originalitäts- und Autonomieverständnisses herauszuarbeiten, das als exemplarisch für die Auffassung des Sturm und Drang gelten kann.96 92 Willems (2000), S. 16; vgl. auch Fleck (2006), S. 233. 93 Günter Blamberger : Das Geheimnis des Schöpferischen oder: Ingenium est ineffabile? Studien zur Literaturgeschichte der Kreativität zwischen Goethezeit und Moderne, Stuttgart 1991, S. 5. 94 Ibid. 95 Willems (2000), S. 22 f. 96 Auf eine zentrale Prämisse ist an dieser Stelle hinzuweisen: Als Kennzeichen des Genies, und damit als Kriterium für die legitime Anwendbarkeit dieses Begriffs auf eine literarische Figur, wird nicht die tatsächlich erreichte, sondern die angestrebte Autonomie angesehen: Der Gestus, für Werk, Leben und eigene Person Autonomie zu fordern, ist das eigentliche

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Der Begriff der Autonomie, der »ursprünglich ein politischer, seit dem 17. Jh. auch ein juristischer, erst seit Kant ein zentraler philosophischer Begriff«97 ist, soll im vorliegenden Zusammenhang ästhetisch verstanden werden, grundsätzlich also als »Freiheit der künstlerischen Produktivität oder des aus ihr hervorgehenden Werkes oder der Kunst/Literatur als ganzer von äußeren Zweckbestimmungen.«98 Allerdings dient diese moderne Definition nur der ersten Orientierung, so dass ein Ergebnis dieser Untersuchung immer auch in der Modifikation und Adaption dieses Autonomiebegriffs besteht. Und da im Kontext des Autonomie-Postulats der Subjektivität des Künstlers eine eminente Bedeutung zukommt, bezieht sich die Forderung nach Autonomie nicht nur auf die ›Produktivität‹ und das ›Werk‹, sondern dezidiert auch auf das geniale Individuum, das sich von der Gesellschaft abgrenzt.99 Gerade in dieser Einbeziehung der Person ist die Besonderheit des ›genialen‹ Autonomieanspruchs zu sehen. Von zentraler Bedeutung für das die eigene Person umfassende AutonomieVerständnis wie für den Begriff des Genies ist das Konzept der Originalität als der »einem Menschen, insbesondere einem Künstler (Autor) zugeschriebene[n] Kreativität bzw. d[er] an seinem (literarischen) Werk wahrgenommene[n] Neuheit.«100 Diese Chiffre ist nicht nur deshalb zum stehenden Attribut des Genies geworden, weil sie sich sowohl auf das Werk als auch auf die Person bezieht, sondern auch, weil sie sich zur »Abgrenzung von als vorbildlich angesehenen Autoren der Antike wie der Neuzeit, geltenden Gattungskonventionen

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Charakteristikum des Genies. Konkret wird also nicht gefragt, ob etwa der schöpferische Prozess, der zur Ode Prometheus geführt hat, tatsächlich ›eigengesetzlich‹ verlaufen ist, auch nicht danach, ob das lyrische Ich dieser Ode, also die literarische Figur Prometheus, nach seiner Selbstermächtigung als autonom angesehen werden kann, und erst recht nicht danach, ob das reale Individuum Goethe zur Zeit der Niederschrift seinen gegen Welt und Gesellschaft erhobenen Autonomieanspruch durchzusetzen vermochte. Wenn Fleck also die These vertritt, »dass selbst der Schaffensakt des sich selbst vergöttlichenden Genies bei Goethe, dessen Autonomie am vehementesten behauptet wird, nicht als autonom bezeichnet werden kann« [Fleck (2006), S. 11], stellt dieser Befund keinen Einwand gegen die hier entwickelte Argumentation dar. Michael Einfalt: Artikel ›Autonomie‹, in: Barck, Karlheinz (Hrsg): Ästhetische Grundbegriffe (ÄGB). Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Stuttgart 2000 – 2005, Bd. 1: Absenz-Darstellung, S. 431 – 479, hier: S. 431. Friedrich Vollhardt: Artikel ›Autonomie‹, in: Weimar, Klaus; Fricke, Harald (Hrsg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2007a, Bd. I: A-G, S. 173 – 176, hier : S. 173. Dieser gesellschaftliche Aspekt individuellen Autonomiestrebens wird, ebenso wie die Autonomie der ›Kunst als ganzer‹, aus strukturellen Gründen erst im Alteritäts-Kapitel untersucht und in der Argumentation berücksichtigt. Friedrich Vollhardt: Artikel ›Originalität‹, in: Weimar, Klaus; Fricke, Harald (Hrsg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2007b, Bd. II: H-O, S. 768 – 771, hier: S. 768.

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und poetologischen Normen [eignet], vornehmlich jenen der Nachahmung«,101 also als Kampfbegriff gegen die Vertreter der Regelpoetik. Es ist in diesem Zusammenhang weder möglich noch erforderlich, ausführlich auf die Geschichte der Regelpoetik oder die Etappen ihrer Infragestellung einzugehen.102 Es genügt festzustellen, dass mit den Begriffen ›Regelpoetik‹ und ›Originalität‹ das Gegensatzpaar bezeichnet ist, das im Sturm und Drang die Auseinandersetzung über die Frage bestimmt, woran künstlerisches Schaffen sich zu orientieren habe und nach welchen Maßstäben künstlerisches Gelingen zu bewerten sei. Zwar erinnert diese Konstellation in hohem Maße an diejenige, die ein knappes Jahrhundert früher in Frankreich bestanden hat, so dass Dirk Kemper von einer »verspäteten Fortführung der ›Querelle des anciens et des modernes‹ in Deutschland im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts«103 sprechen kann; dennoch ist der zentrale Begriff des ›Originalgenies‹ zweifelsohne ein Produkt der englischen Tradition. Und der Text, der wie kein zweiter auf engem Raum die wichtigsten Aspekte dieser Tradition zusammenfasst, »brief, brilliantly pointed, enthusiastic, and readable«,104 und der nicht zufällig das Epitheton ›original‹ im Titel führt, ist Edward Youngs Essay Conjectures on Original Composition aus dem Jahr 1759. Zwar besteht ein signifikanter Unterschied zwischen Youngs Forderung nach Originalität und dem Autonomie-Postulat des 101 Ibid., S. 768. 102 Jochen Schmidt bietet einen Überblick über diese Entwicklung von der aristotelischen Poetik über die Querelle des Anciens et des Modernes, das ›deutsche Sonderproblem‹ der Nachahmung der französischen Klassizisten bis zur Gottsched’schen Regelpoetik, gegen die die Stürmer und Dränger polemisieren; vgl. Schmidt (2004b), S. 10 – 47. Zwar hat das von Schmidt zitierte Standartwerk von Manfred Fuhrmann: Einführung in die antike Dichtungstheorie, Darmstadt 1973 inzwischen eine 2. Auflage (1992) und eine Neuausgabe erfahren [Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung, überarb. Neuaufl., Düsseldorf 2003], doch hat der Autor sich in den beiden aktuelleren Fassungen entschlossen, »auf den wirkungsgeschichtlichen Teil zu verzichten« [ibid., S. IX], so dass für den vorliegenden Zusammenhang die Auflage von 1973 vorzuziehen ist. Vgl. außerdem den grundlegenden Aufsatz von Hans Blumenberg: »Nachahmung der Natur«. Zur Vorgeschichte des schöpferischen Menschen, in: Blumenberg, Hans: Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1999, S. 55 – 103; sowie das Aristoteles-Kapitel bei Fenner (2000), S. 64 – 77. Zur Querelle vgl. zudem Hans Robert Jauß: Antiqui/moderni (Querelle des Anciens et des modernes), in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 1500 Fachgelehrten hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 1: A-C, Darmstadt 1971 – 2007, S. 410 – 414 sowie Christoph Hubig: ›Genie‹ – Typus oder Original? Vom Paradigma der Kreativität zum Kult des Individuums, in: Wischer, Erika (Hrsg): Propyläen Geschichte der Literatur. Literatur und Gesellschaft der westlichen Welt, Berlin 1988, Bd. 4: Aufklärung und Romantik (1700 – 1830), S. 187 – 210, hier : S. 191 f. 103 Kemper (2004), S. 17. 104 Edith J. Morley : Edward Young’s Conjectures on Original Composition, Nachdruck der zweiten Ausgabe London 1759, Norwood 1979, S. xvi. Die Conjectures werden nach dieser Ausgabe zitiert.

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Sturm und Drang, doch lässt sich die spezifische Besonderheit der deutschen Originalgenies gerade anhand der Gemeinsamkeiten und Unterschiede verdeutlichen. Zunächst jedoch gilt es, kurz auf die Einwände Gerhard Sauders einzugehen, der, nach einem Überblick über die nach seinen Worten »überschaubare[] Wirkungsgeschichte von Youngs Schrift in Deutschland«,105 davor warnt, »die Vielzahl von Äußerungen zum Genie-Problem nach 1760 monokausal auf die Young-Rezeption zu reduzieren«.106 Er kommt zu dem Schluss: Allem Anschein nach haben die Stürmer und Dränger Youngs Schrift nicht mehr gelesen. […] Offenbar genügten die Schriften der Jahre 1760 – 1770, in welchen auch Youngsche Gedanken benutzt worden waren, zur Begründung ihres Selbstverständnisses.107

Sauder weist also darauf hin, dass Youngs Schrift vor allem »für die erste Phase der Geniediskussion in Deutschland von großer Bedeutung«108 gewesen sei, während seine Vorstellungen vom Originalgenie zur Hochzeit des Sturm und Drang weniger direkt als vielmehr »in vielfacher Vermittlung und Umformulierung«109 rezipiert worden seien. Da es im vorliegenden Zusammenhang jedoch nicht um den Nachweis direkter Übernahmen aus den Conjectures geht, sondern an diesem Text exemplarisch die Bedeutung des Originalitätskonzepts für den Geniebegriff aufgezeigt werden soll, sind Sauders Einschränkungen nicht als Einwände gegen die hier unternommene Vorgehensweise anzusehen – umso weniger, als er selbst anmerkt, Youngs Gedanken seien »[a]m Ende der sechziger Jahre […] zum Topos der literarischen Diskussion geworden«.110 Die Conjectures können somit als ein Werk gelten, das »die Geniediskussion des Sturm und Drang vorbereitet[]«,111 vielleicht sogar »am stärksten auf die deutsche Geniebewegung gewirkt hat.«112 105 Edward Young, Gerhard Sauder (Hrsg): Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Englischen von H. E. Teubern, Faksimile nach der Ausgabe von 1760. Nachwort und Dokumentation der Wirkungsgeschichte von Gerhard Sauder, Heidelberg 1977, S. 42. Die Zitation wird dadurch erschwert, dass sowohl der faksimilierte Text als auch die Zusätze in arabischen Ziffern paginiert sind. Zitate aus dem Primärtext dieser Ausgabe werden daher zitiert mit Young (1977); Passagen aus dem Nachwort oder den Anmerkungen mit Sauder (1977). 106 Sauder (1977), S. 36. 107 Ibid., S. 49. 108 Gerhard Sauder : Geniekult im Sturm und Drang, in: Grimminger, Rolf (Hrsg): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680 – 1789, Bd. 3, 2., durchges. Aufl., München 1984, S. 327 – 340, hier : S. 327. 109 Sauder (1977), S. 49. 110 Ibid., S. 46. 111 Blamberger (1991), S. 60. 112 Willems (2000), S. 22.

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Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Text, der in der Geschichte des Originalitätsbegriffs eine so prominente Rolle spielt, selbst alles andere als originell ist. Young »does not add anything strikingly new to that various statements made by his immediate predecessors and contemporaries.«113 Der Grund für die Wirkung der Conjectures liegt weniger in neuen und originellen Gedanken, als vielmehr in den »[e]indrucksvolle[n] Paradoxa und provozierenden Antithesen«114 sowie der »Fülle von Metaphern«,115 die »Youngs Empfehlungen des Originalgenies als Werk der Natur wirksam illuminieren«.116 Nach Young zeichnet sich das Originalgenie dadurch aus, dass es ›OriginalWerke‹ schafft, die sich von allen durch Nachahmung geschaffenen Werken nicht nur graduell, sondern substantiell unterscheiden. »Young insists that no imitation, however great, can reach the height of an original. It is inherently incapable of attaining the first rank«:117 Originals are, and ought to be, great favourites, for they are great benefactors […]: Imitators only give us a sort of what we had, possibly much better, before […]. But suppose an Imitator to be most excellent (and such there are), yet he but nobly builds on another’s foundation; his debt is, at the least, equal to his glory118.

Dabei ist von großer Bedeutung, was Young unter ›Imitation‹ versteht: »Imitations are of two kinds; one of nature, one of authors: The first we call Originals, and confine the term Imitation to the second.«119 Nur die Nachahmung anderer Autoren führe also zu minderwertiger Imitation, nicht die Nachahmung der Natur. Dabei bestreitet Young weder die Vorbildlichkeit antiker Autoren,120 noch die Notwendigkeit, sich schöpferisch auf sie zu beziehen, sofern es in der richtigen Weise geschehe: »Imitate; but imitate not the Composition, but the Man«,121 denn: »The less we copy the renowned antients, we shall resemble them the more.«122 Als paradigmatisches Beispiel für diese ›richtige‹ Art der Nach113 Morley (1979), S. xv. Einen Überblick über die englische Tradition vor Young bieten Schmidt (2004b), S. 155 – 158; Sauder (1977), S. 17 f. und Morley (1979), S. xii–xv. 114 Sauder (1977), S. 18. 115 Ibid. 116 Ibid. Auch Morley sieht den lebendigen Stil als ausschlaggebend an – und schon der Vergleich, den sie wählt, unterstreicht die Bedeutung, die sie Youngs Essay beimisst: »The treatise is a sort of literary Bill of Rights and Declaration of Independence, couched not in legal and learned, but in popular and comprehensible terms, in sparkling aphorisms written with evident enjoyment and conviction« [Morley (1979), S. xvi]. 117 Ibid., S. xvii. 118 Ibid., S. 6 f. 119 Ibid., S. 6. 120 »Yet let not assertors of classic excellence imagine, that I deny the tribute it so well deserves. He that admires not antient authors, […] tells the world that he does not understand them« [Ibid., S. 10]. 121 Ibid., S. 11. 122 Ibid.

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ahmung führt Young, einen Topos des Sturm und Drang vorwegnehmend,123 William Shakespeare an: Shakespeare mingled no water in his wine, lower’d his genius not by vapid imitation: Shakespeare gave us Shakespeare, nor could the first in antient fame given us more! Shakespeare is not their son, but brother ; their equal; and that, in spite of all his faults.124

Hier zeigt sich der zentrale Aspekt der Young’schen Konzeption des Originalgenies: Das Vertrauen auf seine naturgegebenen und angeborenen Fähigkeiten. Die Sinnlosigkeit überlieferter Regeln für das Genie ist damit offensichtlich, »[f]or rules, like crutches, are a needful aid to the lame, tho’ an impediment to the strong«.125 Doch geht Young über die reine Ablehnung hinaus und »stellt die kühne These auf, das Genie gewinne seinen größten Ruhm durch Verachtung der Gelehrsamkeit«:126 »Have not some, tho’ not famed for erudition, so written, as almost to persuade us, that they shone brighter, and soared higher for escaping the boasted aid of that proud ally?«127 Ein weiterer wirkungsmächtiger Aspekt, den Young geradezu zum Kennzeichen des Genies erhebt, ist die Irrationalität der genialen Schöpfung: »A genius differs from a good understanding, as a magician from a good architect; that rises his structure by means invisible; this by his skilful use of common tools.«128 Damit ist Youngs Bild des Originalgenies komplett: Das Bild eines ›Zauberers‹, 123 Zur Bedeutung Shakespeares als eines ›Genie-Paradigmas des 18. Jahrhunderts‹ vgl. Schmidt (2004b), S. 150 – 192. Er geht auch auf die englische Genie-Tradition, auf Young und seine Vorläufer sowie auf den Gegensatz zum französischen Genieverständnis ein. Bate postuliert sogar : »Shakespeare was the cardinal exemplar of the ›original genius‹ – so much so, that it was above all because of him that the concept was developed and became so widely accepted« [Jonathan Bate: Shakespeare and Original Genius, in: Murray, Penelope (Hrsg): Genius. The History of an Idea, Oxford 1989, S. 76 – 97, hier : S. 76 f.]. 124 Morley (1979), S. 34. 125 Ibid., S. 13 f. 126 Sauder (1984), S. 328. Unter bestimmten Umständen hält Young angelerntes Wissen für erlaubt und notwendig, »because there is a genius, which stands in need of learning to make it shine. Of genius, there are two species, an earlier, and a later ; or call them infantine, and adult. An adult genius comes out of nature’s hand, as Pallas out of Jove’s head, at full growth, and mature« [Morley (1979), S. 15]. Diese Zweiteilung hatten bereits Scaliger, Shaftesbury und Addison vor ihm verwendet; allerdings lässt Young keinen Zweifel daran, dass er das ›natürliche‹ Genie für überlegen hält. 127 Ibid., S. 13. Young bezieht sich zur Stützung seines Arguments auf die ›üblichen Verdächtigen‹ – auf Pindar, »who […] boasted of his no-learning, calling himself the eagle, for his flight above it« [ibid., S. 14 f.], und auf Shakespeare: »Who knows whether Shakespeare might not have thought less, if he had read more? […] Perhaps he was as learned as his dramatic province required; for whatever other learning he wanted, he was master of two books, unknown to many of the profoundly read […]; the book of nature, and that of men« [ibid., S. 36]. 128 Ibid., S. 13.

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der auf geheimnisvoll-undurchschaubare Weise sein Werk hervorbringt, ohne dabei auf Regeln angewiesen zu sein, geleitet nur von seinem angeborenen Wissen (»knowledge innate«129), seinen naturgegebenen Fähigkeiten (»native powers«130) und der ihm innewohnenden göttlichen Inspiration (»god within«131). Der letzte Aspekt ist insofern bedeutsam, als das Young’sche Genie somit »ganz in der Tradition des Künstlers als des ›Inspirierten‹ steht«132 – was die Frage aufwirft, wie dieses ›inspirierte‹ Originalgenie unter dem Gesichtspunkt des Autonomie-Postulats zu beurteilen ist, das ja den eigentlichen Gegenstand dieses Kapitels bildet. Wie dargestellt, lehnt Young zwar ›äußere‹ Regeln als ›Krücken‹ ab, keineswegs aber die Nachahmung der Natur oder beispielhafter Originalgenies, sofern dies nicht ein geistloses ›Kopieren‹ ihrer Werke bedeutet. Er spielt das Genie »gegen Gelehrsamkeit und Regeln, aber […] noch nicht gegen das Konzept der Naturnachahmung aus«,133 so dass von einem Autonomie-Anspruch, wie ihn die Originalgenies des Sturm und Drang erheben, nicht die Rede sein kann. Ein Blick auf den Maßstab, an dem Young die Werke der Künstler misst, um zu beurteilen, ob es sich um ›Original Compositions‹ handelt, lässt die Ursache für diesen Unterschied klarer erkennbar werden. Das erste Kriterium der Originalität ist Neuheit: »Originals […] extend the republic of letters, and add a new province to its dominion«.134 Doch erreicht das ›originale‹ Werk seine höchste Wirksamkeit erst, wenn es sich außerdem durch Vollkommenheit auszeichnet: »But if an Original, by being as excellent, as new, adds admiration to surprize, then we are in the writer’s mercy«.135 Das Urteil ›Vollkommenheit‹ muss sich dabei notwendig auf einen Referenzrahmen beziehen, und dieser Rahmen kann bei Young nur die äußere Natur sein: Das Original ist als Neues und Ursprüngliches der Wiederholung und der Vermittlung durch Regeln und Traditionen entgegengesetzt; seine Qualität ergibt sich jedoch aus 129 130 131 132

Ibid., S. 15. Ibid. Ibid., S. 19. Willems (2000), S. 23. Die folgende Argumentation ist in manchem Willems’ Ausführungen verpflichtet. 133 Ibid., S. 22. 134 Morley (1979), S. 6 f. Young vergleicht die ›Original-Werke‹ außerdem mit einem exotischen indischen Prinzen und einem neuentdeckten Stern, die Imitation hingegen mit einem »twice-told tale« [ibid., S. 7]. Zur Bedeutung der Entdecker-Metaphorik in den Conjectures und in der englischen Genie-Tradition allgemein vgl. Bernhard Fabian: Der Naturwissenschaftler als Originalgenie, in: Hugo Friedrich; Fritz Schalk (Hrsg): Europäische Aufklärung. Herbert Dieckmann zum 60. Geburtstag, München 1967, S. 47 – 68. 135 Morley (1979), S. 7. In der Teubern-Übersetzung lautet die Passage: »Aber wenn ein Original, das eben so vollkommen als neu ist, außer dem Erstaunen auch Bewunderung verursacht, dann sind wir in der Gewalt des Scribenten« [Young (1977), S. 18]; daher die Bezeichnung ›Vollkommenheit‹.

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seiner Vollkommenheit. Auch das Originalwerk gilt noch als Repräsentation einer objektiven Ordnung der Natur.136

Die Nachahmung der Natur steht bei Young nicht nur in keinem Widerspruch zur Forderung nach Originalität, sie ist sogar eine ihrer Voraussetzungen, da sie einen Maßstab für das eine der Originalitäts-Kriterien bildet, die Vollkommenheit.137 Von Autonomie kann also nur im Sinne einer Unabhängigkeit von überlieferten Regeln gesprochen werden, und der Individualität des Genies, die im Sturm und Drang eine so zentrale Rolle spielt, »kommt bei Young nur insofern Relevanz zu, als sie Bedingung der Neuheit, d. h. Bedingung dafür ist, daß ein vollkommenes Werk überrascht und Erstaunen erregt.«138 Wenn Willems nun als entscheidenden Unterschied zwischen dem Originalgenie Youngs und der Genieästhetik des Sturm und Drang die ›Umkehrung dieses Bewertungsverhältnisses‹ benennt und hervorhebt, dass »[b]eide Konzeptionen […] qualitativ voneinander unterschieden«139 werden müssten, so lässt sich dieser Unterschied mit einem Verweis auf das vorhergehende Kapitel präzise erfassen: Der Wandel von der Genievorstellung Youngs zu derjenigen des Sturm und Drang ist in dem Augenblick vollzogen, als das Subjekt des Künstlers die Natur als Referenzpunkt ablöst und damit anstelle der ›Vollkommenheit‹ und Neuheit des Werkes die Authentizität des künstlerischen Ausdrucks zum Kriterium der Bewertung wird. Dieses neue Stadium der Entwicklung lässt sich an Goethes Rede Zum Shakespeares-Tag darstellen. Diese Rede aus dem Jahr 1771 stimmt mit Youngs Conjectures darin überein, dass Shakespeare als paradigmatisches Beispiel des Originalgenies angesehen wird. Goethe stilisiert die Begegnung mit seinem Werk zum quasi-religiösen Erweckungserlebnis,140 und die Hellsichtigkeit141 seines neuen Zustandes führt 136 Willems (2000), S. 22. 137 Wenn Fischer behauptet, Youngs Conjectures führten »bezogen auf das Formgesetz des Einzelkunstwerks […] über die Authentizität des subjektiven Ausdrucks hinaus« [Bernhard Fischer : Authentizität und ästhetische Objektivität. Youngs ›Gedanken über die Original-Werke‹ (1759) und Goethes ›Von deutscher Baukunst‹ (1771), in: Germanisch-Romanische Monatsschrift 73 (1992), S. 178 – 194, hier : S. 178] und thematisierten »eine neue Vorstellung ästhetischer Objektivität, welche in der pointierten Eigengesetzlichkeit des Gebildes« gründe [ibid.], so verkennt er eben diese Rückbindung der Young’schen ›Original-Werke‹ an die Ordnung der äußeren Natur: Obgleich er sie signifikant modifiziert, bleibt Young der Tradition der Naturnachahmung verhaftet, weshalb weder von der Vorstellung eines »freien, ganz aus sich lebenden Einzelwerks« [ibid., S. 181] noch von derjenigen eines »sich im Werk selbst setzenden ›Genies‹« [ibid.] die Rede sein. Gerade die ›Selbstsetzung‹ des Genies kann erst nach einem Wechsel des Referenzrahmens vollzogen werden. 138 Willems (2000), S. 22. 139 Ibid., S. 23. 140 »Die erste Seite, die ich in ihm las, machte mich zeitlebens ihm eigen, und wie ich mit dem ersten Stücke fertig war, stund ich wie ein Blindgeborner, dem eine Wunderhand das

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ihn zur Ablehnung des ›nach den Regeln‹ eingerichteten französisch-klassizistischen Theaters: Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Orts so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft. Ich sprang in die freie Luft und fühlte erst, daß ich Hände und Füße hatte (HA 12, 225).

Auch von der Ablehnung der antiken Vorbilder ist Goethe weit entfernt, er hält nur die Nachahmung dieser Werke für falsch, da die antike Tragödie »nach innrer und äußerer Beschaffenheit« (ibid.) griechischen Menschen und Verhältnissen angemessen gewesen sei, nicht heutigen: »Französchen, was willst du mit der griechischen Rüstung, sie ist dir zu groß und zu schwer« (ibid.). Der maßgebliche Unterschied zu Young liegt darin, dass Goethe, wenn er ausruft: »Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen« (HA 12, 226), nicht die äußere, sondern ausschließlich die innere Natur Shakespeares meint: »Er wetteifert mit dem Prometheus, bildet ihm Zug vor Zug seine Menschen nach, nur in kolossalischer Größe […]; und dann belebt er sie alle mit dem Hauch seines Geistes« (HA 12, 227). Das kling sehr nach Youngs »Shakespeare gave us Shakespeare«,142 hat aber einen substantiell anderen Gehalt: »Das Genie ahmt nicht mehr die Natur nach, sondern, so verkündet nun Goethe, es schafft selbst ›wie die Natur‹«.143 Nicht nur der Bezug auf die Prometheus-Gestalt, die in diesem Kontext und zu dieser Zeit unausweichlich die Vorstellung von Shaftesburys ›second Maker‹ evoziert, verdeutlicht den Unterschied zu Young, sondern die Komposition der gesamten Rede, in der es »zwar oberflächlich um Shakespeare […], in der Tiefe des Textes aber ausschließlich um Goethe selbst«144 geht, und nicht zufällig steht an exponierter Stelle, unmittelbar im Anschluss an die Einleitung, der Ausruf: »Für nichts gerechnet! Ich! Der ich mir alles bin, da ich alles nur durch mich kenne! So ruft jeder, der sich fühlt« (HA 12, 224). Im Zentrum dieser »poetologischen Programmschrift der expressivistischen Ästhetik des Sturm und Drang«145 steht nicht William Shakespeare, sondern »[d]as sich selbst […] unter Zurückweisung aller Tradition und Autorität in den Mittelpunkt setzende

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Gesicht in einem Augenblicke schenkt. […] Nach und nach lernt’ ich sehen, und, Dank sei meinem erkenntlichen Genius, ich fühle noch immer lebhaft, was ich gewonnen habe« (HA 12, 224). Zur Lichtmetaphorik der Rede vgl. Matthias Luserke: Der junge Goethe. »Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe«, Göttingen 1999, S. 70. Morley (1979), S. 34. Luserke (1999), S. 76. Ibid., S. 68. Kemper (2004), S. 14. Zu den folgenden Ausführungen vgl. ibid., S. 14 – 18.

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Ich«:146 das geniale Individuum als Schöpfer ›originaler‹ Kunst und alleinige Begründungsinstanz seiner Werke. Diese Selbstermächtigung legitimiert sich aus dem Selbst-Bewusstsein des Ich, aus dem Wissen darum, dass es ›alles nur durch sich selbst‹ kennt: »Das Ich beschreibt sich hier als Origo des eigenen Weltentwurfs, indem es darum weiß, daß ihm alles in der Welt nur in der Weise gegeben ist, wie es das Ich selbst konstituiert hat.«147 Aus diesem Selbstverständnis ergibt sich mit innerer Notwendigkeit die Negation aller äußeren ›Regeln‹, da das Kunstwerk ebenso von der Individualität des Genies geprägt ist wie die Welt, so dass »dieser gestalterische Selbstausdruck durch die Anerkennung jedweder Regeln verfälscht«148 würde. Das Genie hat also nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, den »Herrn der Regeln« (HA 12, 225) die Fehde anzukündigen und »ihre Türne [sic!] zusammenzuschlagen« (ibid.). Doch ist seine Ablehnung noch weit umfassender : Negiert werden nicht nur ›Regeln‹, sondern auch die Abbildungsfunktion der Kunst (mimesis) sowie »die Poetik des prodesse und delectare, die religiöse und didaktische ›Zweck‹- bzw. ›Interessen‹-Bezogenheit«149 des künstlerischen Schaffens und der entstandenen Werke – und damit jede Art von Legitimation, die jenseits des Individuums selbst liegt, sei sie gesellschaftlicher, religiöser oder moralischer Natur : An die Stelle der hierarchischen Ordnung des Seins tritt die individuelle, aus Natur und Schöpferkraft des Individuums entspringende Ordnung des Kunstwerks, die ihre Origo und damit auch ihren ästhetischen Wertungsmaßstab im Künstler selbst, in dessen Individualität und Natur findet.150

Damit wird ein Grad an Autonomie beansprucht, der zwar nicht dem im 20. Jahrhundert entwickelten Verständnis von ›Eigengesetzlichkeit der Kunst‹ entspricht,151 aber das von Edward Young angestrebte Ausmaß dennoch weit übertrifft. Im Shakespeares-Tag wird die Welt, ausgehend vom Subjekt, als ›ego-zentristisches‹ Konstrukt aufgefasst und die Autonomie des Kunstwerks daraus abgeleitet, dass es ein ebensolches Konstrukt darstellt. Schon diese Argumen146 147 148 149

Ibid., S. 16. Ibid. Ibid., S. 17. Hans H. Hiebel: Artikel ›Autonomie‹, in: Nünning, Ansgar (Hrsg): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4., aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart 2008, S. 39 – 40, hier : S. 40. 150 Kemper (2004), S. 17. 151 »Daß die Autonomie der Kunst dann auch gegen den Eigensinn der Prätendenten auf Autorschaft geltend gemacht wird, ist ein notwendiger zweiter Schritt, der aber das Problembewußtsein der Genieperiode zunächst noch übersteigt« [Ortland (2000 – 2005), S. 692].

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tationsstruktur legt die Möglichkeit nahe, das Autonomie-Postulat in einem umgekehrtem Analogieschluss vom Kunstwerk auf das Ich und sein Verhältnis zu Welt und Gesellschaft zu übertragen.152 Diese ›Übertragung‹ soll im Folgenden anhand eines Zitats aus Dichtung und Wahrheit verdeutlicht werden. Die einzigartige Bedeutung der mythologischen Figur des Prometheus für die Genievorstellung nicht nur des Sturm und Drang ist nach den vorstehenden Ausführungen evident: Es gibt in der produktionsästhetischen Selbstreflexion des Sturm und Drang keine Sinnbilder oder Mythen, die dem Prototyp der Genialität, Prometheus, vergleichbar wären […]. [I]n einem kaum überbietbaren Maße [verkörpert er] die schöpferischen und selbstschöpferischen Fähigkeiten des Menschen.153

Nicht zufällig fällt sein Name sowohl in Zum Shakespeares-Tag als auch in Von deutscher Baukunst, bezogen jeweils auf das gefeierte Originalgenie, auf William Shakespeare oder Erwin von Steinbach. In beiden Texten ist bereits eine Autonomieästhetik in Form einer Genieästhetik vorgezeichnet, und zwar am titanischen Leitbild des Schöpferischen, Prometheus. […] Die Autonomie des Kunstwerks wird in der Autonomie des Künstlers begründet, Prometheus ästhetisch funktionalisiert154.

Wie das Prometheus-Mythologem nicht nur auf dem Gebiet von Poesie und Ästhetik, sondern sehr lebenspraktisch ›funktionalisiert‹ und zur Selbstvergewisserung des schöpferischen Individuums instrumentalisiert wird, zeigt ein Zitat aus dem 15. Buch von Dichtung und Wahrheit, geschrieben 1813: Indem ich mich also nach Bestätigung der Selbständigkeit umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein produktives Talent. […] Wie ich nun über diese Naturgabe nachdachte und fand, daß sie mir ganz eigen angehöre und durch nichts Fremdes weder begünstigt noch gehindert werden könne, so mochte ich gern hierauf mein ganzes Dasein in Gedanken gründen. Diese Vorstellung verwandelte sich in ein Bild, die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir auf (HA 10, 47 f.).

152 Das Verhältnis zwischen Ich und Welt bzw. Individuum und Gesellschaft bildet, unter dem Stichwort der Alterität, den Gegenstand des nächsten Teilkapitels. 153 Gerhard Sauder, Karl Richter : Vom Genie zum Dichter-Wissenschaftler. Goethes Auffassungen vom Dichter, in: Grimm, Gunter E. (Hrsg): Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1992, S. 84 – 104, hier : S. 87 f. 154 Dieter Bremer: Griechische Paradigmen in der neuzeitlichen Autonomieästhetik. Zum Verhältnis von poetischer und politischer Realität, in: Wittkowski, Wolfgang (Hrsg): Revolution und Autonomie. Deutsche Autonomieästhetik im Zeitalter der Französischen Revolution. Ein Symposium, Tübingen 1990, S. 157 – 174, hier : S. 158. Die folgenden Ausführungen zu dem Zitat aus Dichtung und Wahrheit folgen der Darstellung Bremers.

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

Diese Passage, die der »Affirmation der Selbstbehauptung, Eigenständigkeit und Unabhängigkeit des Künstlers als des Schöpfers«155 gilt, »enthält alle entscheidenden Momente dessen, was wir Autonomie nennen.«156 Dass als Grundlage dieses Autonomie-Postulats das ›produktive Talent‹ als eine ›Naturgabe‹ angenommen wird, die jeder Fremdbestimmung und äußeren Einflussnahme entzogen sei, spricht dabei aus, was in Zum Shakespeares-Tag noch aus der argumentativen Struktur der Rede erschlossen werden muss: Es geht Goethe »primär um die Sicherung und Vergewisserung der künstlerischen Existenz und ihrer Eigenständigkeit […], nicht um die Eigengesetzlichkeit des Kunstwerks«.157 Die Autonomie des Werkes ist die Folge des Autonomie-Anspruchs seines Schöpfers, »Autonomieästhetik erscheint als Produktionsästhetik im Interesse der Existenzsicherung des Produzenten«,158 und Prometheus fungiert als Identifikationsfigur der individuellen Existenz und ihrer ästhetischen Eigenständigkeit, d. h. einer künstlerischen Selbstbegründung, die ihrerseits die Eigenständigkeit der Kunst begründet.159

Wenn aber das Autonomie-Postulat des genialen Individuums die Grundlage für die Autonomie des künstlerischen Werkes bildet, ist es nur folgerichtig, dass das Genie sich selbst und seine Gaben gegenüber Welt und Gesellschaft für autonom erklärt, und auch die Bezugnahme auf Prometheus kann nicht verwundern, da der »Prototyp der Genialität«160 sich ganz vorwiegend durch diese Eigenschaft auszeichnet: Nicht erst seit Goethes Prometheus-Ode,161 dieser »AutonomieErklärung des ganz auf seine eigene Produktionskraft vertrauenden Menschen«,162 in der die Selbstermächtigung des Künstlers als eine der »Grundideen

155 156 157 158 159 160 161

162

Ibid., S. 159. Ibid. Ibid. Ibid. Hinzu kommt noch der Umstand, dass es sich um eine autobiographische Äußerung handelt, deren Gültigkeit folglich über den Bereich des Werkes im engeren Sinne hinausgeht. Ibid. Sauder, Richter (1992), S. 87. Obwohl Goethes Frankfurter Hymnen als »Formulierungen des genialen Selbstverständnisses des Sturm und Drang« [ibid., S. 87] und »Kulminationspunkt des frühneuzeitlichen Weges zur Autonomie des Individuums im Medium der Kunst« [Kemper (2002), S. XII] gelesen worden sind – Jochen Schmidt nennt Wandrers Sturmlied eine der »ersten großen Dichtung[en] der Geniezeit, die das Genie-Thema selbst ins Zentrum stellt« [Schmidt (2004b), S. XV] – wird die »grandiose Selbstapotheose« [Kemper (2002), S. 400] des genialen Individuums in der Figur des Prometheus an dieser Stelle nicht weiter erörtert, da mit dieser Untersuchung keine substantiell neuen Erkenntnisse verbunden wären. Vgl. zu diesem Thema die Überblicksdarstellungen von Schmidt (2004b), S. 196 – 282 und Kemper (2002), S. 353 – 430. Schmidt (2004b), S. 196.

Konstitutive Merkmale des Genies

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der Genie-Bewegung ihren letztgültigen Ausdruck«163 findet, ist er die Personifikation des seine individuelle Autonomie einfordernden Genies. Vor diesem Hintergrund kann das Autonomie-Postulat als ein weiteres konstitutives Merkmal des Genies angenommen werden.

2.3.

Alterität: Das Genie und die Welt

Da Alterität, anders als Autonomie und Authentizität, nicht zu den traditionellen Kategorien des Genie-Diskurses gehört, gibt es keine poetologischen Texte, anhand derer dieses Konzept sich als Attribut des Genies ausweisen ließe. Um dennoch die These zu untermauern, dass Alterität eine konstitutive Eigenschaft des Genies darstellt, wird deshalb ein anderes methodisches Vorgehen gewählt: Nachdem das Verhältnis sowohl des Künstlers wie auch des Genies zur Gesellschaft unter Bezugnahme auf Kategorien Niklas Luhmanns analysiert worden ist, wird die These formuliert, dass das Genie sich nicht nur graduell, sondern strukturell vom Künstler unterscheide, und um diesen Unterschied präziser zu fassen, werden die Begriffe Alienität und Alterität eingeführt. Anhand der Figuren Werther und Ren¤ Cardillac soll dann exemplarisch dargestellt werden, dass das Konzept der Alterität geeignet ist, als notwendige Bedingung des Genies verstanden zu werden. Niklas Luhmann sieht »den entscheidenden Zug der Moderne«164 in dem »Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Differenzierung«165 der Gesellschaft, der sich »in der Sattelzeit um 1800«166 vollziehe. In vormodernen Gesellschaften sei die Individualität des Einzelnen »durch soziale Inklusion gegeben«:167 Jeder gehöre, abhängig von dem Stand, der Schicht oder Klasse, in die er geboren sei, »einem und nur einem Subsystem der Gesellschaft«168 an, und Individualität bedeute nichts anderes als »gelingende, durch Stratifikation und somit durch Außenbestimmung geregelte Einbettung in die zugewiesene gesellschaftliche Struktur.«169 Im Gegensatz dazu kann die Einzelperson in einer modernen Gesellschaft 163 164 165 166

Ibid. Luhmann (1993), S. 155; vgl. die Zusammenfassung bei Kemper (2004), S. 75 f. Luhmann (1993), S. 155. Kemper (2004), S. 75. Schon diese zeitliche Übereinstimmung unterstreicht den engen Zusammenhang zwischen diesem gesellschaftlichen Paradigmenwechsel und der Herausbildung des modernen Individuums. 167 Luhmann (1993), S. 156. 168 Ibid., S. 157. 169 Kemper (2004), S. 75 f.

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

nicht mehr einem und nur einem gesellschaftlichen Einzelsystem angehören. Sie kann sich beruflich/professionell im Wirtschaftssystem, im Rechtssystem, in der Politik, im Erziehungssystem usw. engagieren […]; aber sie kann nicht in einem der Funktionssysteme allein leben.170

Da die Gesellschaft außerdem nicht eines ihrer eigenen Funktionssysteme sein, »nicht selbst in sich selbst als Ganzes noch einmal vorkommen kann, bietet sie dem Einzelnen keinen Ort mehr, wo er als ›gesellschaftliches Wesen‹ existieren kann«.171 Daraus aber folgt, dass es unmöglich ist, das Individuum als Teil eines Ganzen, als Teil der Gesellschaft aufzufassen. Was immer das Individuum aus sich selbst macht und wie immer Gesellschaft dabei mitspielt: es hat seinen Standpunkt in sich selbst und außerhalb der Gesellschaft.172

In einer modernen Gesellschaft kann das Individuum daher »nicht mehr durch Inklusion, sondern nur noch durch Exklusion definiert werden«,173 so dass Identität nicht mehr als von der gesellschaftlichen Stellung des Einzelnen bestimmt, sondern »als etwas Singuläres, Einzigartiges und vor allem der gesellschaftlichen Einbettung Vorgelagertes verstanden werden«174 muss. Das Individuum ist gezwungen, »sich durch Bezug auf seine eigene Individualität zu identifizieren, und das kann nur heißen: durch Bezug auf das, was es von allen anderen unterscheidet.«175 Mit der Prämisse aber, dass »Individualität in Richtung auf Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit«176 zu konstituieren sei, ist dem Individuum ein prinzipielles und unhintergehbares Moment der ›Fremdheit‹ oder ›Andersheit‹177 inhärent, nicht nur gegenüber der Gesellschaft, sondern auch gegenüber jedem anderen Individuum. Dieser Befund wiederum ermöglicht es, soziale Devianz [zu] begründen, [er] kann erklären und legitimieren, warum sich das Individuum als Individuum gesellschaftlichen Erwartungen verweigert und gänzlich abweichende Wege geht.178 170 Luhmann (1993), S. 158. 171 Ibid. 172 Ibid., S. 212. Dieser Befund bedeutet nicht, dass das moderne Individuum tatsächlich eine Existenz jenseits der Gesellschaft führen kann: »Daß man seine Individualität nicht mehr der sozialen Inklusion, sondern der sozialen Exklusion verdankt, ist eine systemtheoretische Aussage. Sie sagt nichts über kausale Abhängigkeiten. Nach wie vor können Menschen nur in sozialen Zusammenhängen leben, in der modernen Gesellschaft gilt dies nicht weniger als früher« [ibid., S. 159]. 173 Ibid., S. 158. 174 Kemper (2004), S. 76. 175 Luhmann (1993), S. 215. 176 Ibid., S. 186. 177 Beide Begriffe werden hier noch in einem unbestimmten Sinne verwendet, da ihre präzise Bestimmung als Alienität und Alterität noch aussteht. 178 Kemper (2004), S. 76.

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– ein Verhalten, das, so ein gängiger Topos, Künstler im allgemeinen und Genies im Besonderen auszeichnet.179 Zur Beantwortung der Frage, wie sich die gesellschaftliche Stellung des ›Künstlers‹ von der anderer Individuen unterscheidet, gilt es einen Aspekt zu untersuchen, der noch in den Autonomie-Teil zu gehören scheint, sich jedoch erst mit Hilfe der Luhmann’schen Kategorien begrifflich präzise fassen lässt: die Frage nach der Autonomie der Kunst. Da die Kunst laut Luhmann »ihr eigenes Publikum, ihre eigene Inklusion, ihre eigene Sozialisation«180 aufweist, lässt sie sich als ein eigenständiges gesellschaftliches Funktionssystem neben anderen auffassen. Zugleich aber ist das Subsystem ›Kunst‹ anderen Subsystemen wie Wirtschaft, Recht und Politik181 insofern entgegengesetzt, als diese bestimmte Funktionen in der Gesellschaft übernehmen, während sich »die Kunst gerade durch ihre Weigerung charakterisiert, sich in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft einbinden zu lassen«:182 »Kunst ist in der Moderne nicht einfach eine Sphäre neben den Sphären Wissenschaft und Moral, sondern eine aus dem Geist der Moderne geborene Gegeninstitution.«183 Diese Sonderstellung hat zur Folge, dass sie, wiewohl gesellschaftliches Subsystem, nicht nur als ein »der gesellschaftlichen Realität […] enthobener Bereich konstruiert«184 wird, der »außerhalb seiner selbst keinen Bezug, keinen Zweck mehr hat«,185 sondern ihr geradezu den Status eines gegengesellschaftlichen, vom Standpunkt der Gesellschaft ›fremden‹ Bereichs zukommt. Ausgehend von diesem Sonderstatus der Kunst bietet sich die Möglichkeit, die Stellung des Künstlers in der Gesellschaft zu beschreiben und von der des Genies zu unterscheiden. Um diesen Unterschied präziser fassen zu können, 179 Von der Wirksamkeit dieses Topos zeugt der deutsche Titel des Werkes von Margot Wittkower, Rudolf Wittkower: Künstler – Außenseiter der Gesellschaft, 2. dt. Ausgabe, Stuttgart 1989; im Original Rudolf Wittkower, Margot Wittkower : Born under Saturn. The Character and Conduct of Artists. A Documented History from Antiquity to the French Revolution, erstmals 1963, Reprint New York 2007. Zwischen beiden Ausgaben besteht eine interessante Abweichung: Das Vorwort des englischen Originals beginnt mit der Feststellung, »[t]he ›otherness‹ of the artists« [ibid., S. xix] sei »widely accepted by the public« [ibid.]: »[A]rtists are, and always have been, egocentric, temperamental, neurotic, rebellious, unreliable, licentious, extravagant, obsessed by their work, and altogether difficult to live with« [ibid.]. In der deutschen ›Übersetzung‹ endet die Aufzählung mit der Feststellung, Künstler seien »extravagant, von ihrer Arbeit besessen, der bürgerlichen Gesellschaft entfremdet und alles in allem schwierige Lebensgefährten« [Wittkower, Wittkower (1989), S. 11; Hervorhebung von mir, CB]. 180 Luhmann (1993), S. 204. 181 Vgl. ibid., S. 158. 182 Peter Bürger : Prosa der Moderne, Frankfurt am Main 1992, S. 15. 183 Ibid., S. 17. 184 Harry Olechnowitz: Autonomie der Kunst. Studien zur Begriffs- und Funktionsbestimmung einer ästhetischen Kategorie, Berlin 1982, S. 34. 185 Fenner (2000), S. 17.

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

werden die Begriffe ›Alienität‹ und ›Alterität‹ eingeführt, wobei die These lautet, dass der gesellschaftliche Status des Künstlers durch Alienität, der des Genies durch Alterität adäquat beschrieben sei. Da vor allem der Alteritäts-Begriff bereits auf verschiedenen literatur- und kulturwissenschaftlichen Teilgebieten verwendet wird,186 ist es notwendig, zunächst auf einige dieser Bereiche zu verweisen, ehe die beiden Begriffe sinnvoll voneinander abgegrenzt und auf die hier untersuchte Fragestellung übertragen werden können. Der Terminus Alterität stellt einen »Neologismus zu lat. alter, alterum = der/ das Andere«187 dar, der »häufig synonym mit ›Fremdheit‹ und ›Verschiedenheit‹ sowie als Antonym von ›Identität‹«188 verwendet wird; er verweist auf »fundamentale Problemfiguren von Philosophie (insbesondere Hermeneutik und Poststrukturalismus), Religionswissenschaft, Soziologie, Anthropologie und Ethnologie.«189 Vermittelt vor allem über die Post-Colonial Studies sind »Interkulturalität und Alterität […] zentrale forschungsleitende Begriffe«190 »einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft«191 geworden. Der Alteritätsbegriff ist gekennzeichnet durch seine inhärente Mehrdeutigkeit, ja 186 Schlieben-Lange spricht von einem »modischer Begriff, der im Zusammenhang interkultureller Kommunikation geradezu inflationär verwendet« werde [Brigitte Schlieben-Lange: Die Dialektik von Identität und Alterität, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998a, S. 41 – 57, hier : S. 41]. 187 Jörg Glasenapp: Artikel ›Alterität‹, in: Burdorf, Dieter ; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2007, S. 16. 188 Ibid. 189 Peter Strohschneider: Artikel ›Alterität‹, in: Weimar, Klaus; Fricke, Harald (Hrsg): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft (RLW). Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte, Berlin 2007, Bd. I: A-G, S. 58 – 59, hier: S. 58. Neben den zitierten Lexikonartikeln vgl. Annegreth Horatschek: Kulturelle Alterität, in: Nünning, Ansgar (Hrsg): Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, 4., aktualisierte und erw. Aufl., Stuttgart 2008, S. 16 f.; Norbert Mecklenburg: Über kulturelle und poetische Alterität. Kultur- und literaturtheoretische Grundprobleme einer interkulturellen Germanistik (1987), in: Krusche, Dietrich; Großklaus, Götz (Hrsg): Hermeneutik der Fremde, München 1990, S. 80 – 102 und Horst Turk: Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22 (1990), S. 8 – 31. Eher methodentheoretisch angelegt ist die Arbeit von Dietrich Krusche: Alterität und Methode. Zur kommunikativen Relevanz interpretatorischer Verfahren, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998, S. 58 – 75. 190 Ortrud Gutjahr: Einleitung zur Teilsektion ›Interkulturalität und Alterität‹, in: Wiesinger, Peter (Hrsg): Zeitenwende – Die Germanistik auf dem Weg vom 20. ins 21. Jahrhundert. Akten des X. Internationalen Germanistenkongresses Wien 2000, Bern 2003, Bd. 9, S. 15 – 19, hier : S. 15. 191 Ibid.; vgl. außerdem Monika Fludernik (Hrsg): Der Alteritätsdiskurs des Edlen Wilden. Exotismus, Anthropologie und Zivilisationskritik am Beispiel eines europäischen Topos, Würzburg 2002, S. 157 – 248.

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Paradoxie: Das ›Andere‹ ist das zugleich Fremde und Vertraute, oder das verfremdete Vertraute, es konstituiert sich in Abgrenzung zu ›Identität‹ und bleibt gerade dadurch auf sie verwiesen;192 es verortet sich in einem ›Außen‹ und bildet dennoch gleichzeitig einen »unumgängliche[n] Ort inmitten des Zentrums«.193 Schlieben-Lange formuliert: Der vielfach fraglos verwendete Begriff der Alterität ist von Anfang an auf beunruhigende Weise zweideutig und oszilliert zwischen Intersubjektivität und Fremdheit: ist [sic!] damit das ganz Andere, Opake, Unzugängliche […] gemeint? Oder aber ist Alter der virtuell Gleiche? Oder müssen diese beiden Aspekte zusammengedacht werden […]?194

Nachdem sie das Problem der begrifflichen Mehrdeutigkeit aufgezeigt hat, bietet sie – wenn auch in Form einer Frage – eine mögliche Lösung an: Soll man […] die beunruhigende Mehrdeutigkeit von Alterität (das virtuell Gleiche und das Unverfügbare) umgehen, indem man, statt vom Anderen zu sprechen, vom Fremden spricht?195

Obgleich Schlieben-Lange diesen Gedanken verwirft,196 ist zumindest zu fragen, ob er überhaupt eine praktikable Möglichkeit darstellt. In einem gegebenen Kontext das ›Andere‹ durch das ›Fremde‹ zu ersetzen, wäre nur dann legitim, wenn dies ohne Bedeutungsveränderung möglich wäre; bei vollständiger Synonymie der beiden Begriffe. Nun definiert sie aber selbst: »Alter ist der [sic!] eine von zwei gleichartigen und gleichursprünglichen, einander zugeordneten Wesen, nicht irgendein beliebiger anderer : alius oder der Fremde: xenos, peregrinus«,197 und führt damit eine Unterscheidung zwischen dem Anderen und dem Fremden ein. An dieser Stelle ist somit eine Präzisierung der bereits zitierten Alteritäts-Definition vorzunehmen: Alterität wird nicht »synonym mit 192 Nicht nur in den Post-Colonial Studies [vgl. Artikel ›Alterity‹, in: Ashcroft, Bill; Griffiths, Gareth; Tiffin, Helen (Hrsg): Post-colonial Studies. The Key Concepts, Reprinted, London 2006, S. 11 – 12, hier : S. 12], sondern auch auf dem Gebiet der Subjekttheorie ist der enge Zusammenhang von Identität und Alterität virulent, denn »the ›construction‹ of the subject itself can be seen to be inseparable from the construction of its others« [ibid., S. 11]: »[D]as ›anders sein‹ setzt ein ›gleich sein‹ voraus, und vice versa« [Wolfgang Raible: Alterität und Identität, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998, S. 7 – 22, hier : S. 11]. 193 Elisabeth Bronfen: Vorwort, in: Bhabha, Homi K; Schiffmann, Michael; Freudl, Jürgen et al. (Hrsg): Die Verortung der Kultur, unveränd. Nachdr. der 1. Aufl., Tübingen 2007, S. IX–XIV, hier : S. XI. 194 Brigitte Schlieben-Lange: Vorwort, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998b, S. 5 – 6, hier : S. 5. 195 Ibid., S. 6; Fettdruck im Original. 196 Vgl. ibid. 197 Ibid., S. 5.

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Fremdheit, Verschiedenheit, Differenz«198 verstanden, sondern bezeichnet »die Vorstellung von einem, in Bezug auf das Eigene, gleichursprünglichen Anderen«,199 Alienität hingegen ein beliebiges Anderes.200 Wenn Alienität und Alterität nun zur Beschreibung des Unterschieds zwischen Künstler und Genie herangezogen werden, handelt es sich um mehr als eine einfache Übertragung. Der neue Kontext zieht zwangsläufig einen Bedeutungswandel nach sich, doch bleiben aller kontextuellen Anpassung ungeachtet bestimmte Kernbedeutungen erhalten, die die Kontinuität der beiden Konzepte verbürgen. Der Nachweis, dass ihre Adaption für den Kontext der Künstler- und Genie-Problematik als gelungen anzusehen ist, wird nun dadurch erbracht, dass die literarischen Figuren Werther und Ren¤ Cardillac unter Verwendung der Kategorien Alienität und Alterität als Künstler resp. Genie ausgewiesen werden. Werther ist besonders gut geeignet, den Nutzen des Alienitäts-Begriffs zur Beschreibung des Verhältnisses von Künstler und Gesellschaft zu illustrieren, weil der Roman Die Leiden des jungen Werthers als eine literarische Versuchsanordnung gelesen werden [kann], die das neue Individualitätskonzept der Exklusion nicht nur feiert, sondern zugleich ein Experimentum crucis durchführt, in dem dieses neue Konzept bis ins Extrem durchgespielt und mit seinen Aporien offengelegt wird.201

Eine dieser Aporien besteht im Falle Werthers darin, dass er sich als unfähig zur Inklusion in die gesellschaftlichen Funktionssysteme erweist, die normalerweise auf die Phase der Exklusion folgt.202 Dies zeigt sich beispielhaft an seinem Verhältnis zu dem Gesandten, bei dem er eine Stellung annimmt und der in seinen Augen der »pünktlichste Narr [ist], den es nur geben kann« (HA 6, 61). Er 198 Strohschneider (2007), S. 58. 199 Gutjahr (2003), S. 16. 200 Diese Unterscheidung korrespondiert mit der lateinischen Bedeutung von alter und ali(en)us: »Das lateinische alienus drückt im Unterschied zu peregrinus (ausländisch), externus (auswärtig) und barbarus (nicht römisch) die fremde Zugehörigkeit aus. […] Das lateinische alter […] bezeichnet den anderen von zweien im Unterschied zum einen ohne markierte differente Zugehörigkeit. So ist der andere als alter ego ein ego wie ich, nur eben anders, das heißt dasselbe in einer Varietät« [Turk (1990), S. 10 f.]. 201 Kemper (2004), S. 113. Dirk Kemper entwickelt diese Lesart, die Analyse von Werthers prekärem Ich- und Weltverhältnis mittels der Terminologie Luhmanns und die daraus abzuleitenden Schlussfolgerungen für die Interpretation des Textes, in überzeugender Weise; vgl. ibid., S. 73 – 112 und 124 – 138. Die Darstellung in diesem Teil der Arbeit folgt bis zu einem gewissen Punkt seinen Ausführungen. 202 Im Luhmannschen Modell erfolgen Individualitätsbildung und gesellschaftliche Partizipation in zwei Schritten: »Indem sich das Individuum in der Entwicklungsphase seiner Individualität durch eine strikte Exklusionshaltung vor Fremdbestimmung schützt, bereitet es sich darauf vor, im zweiten Schritt als bereits individualisiertes Individuum Inklusionsschritte in verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme zu unternehmen« [ibid., S. 81].

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begegnet Werthers leichthin geäußerter Arbeitsmaxime »[W]ie es steht, so steht es« (ibid.) mit der Forderung nach buchstabengenauer Einhaltung der stilistischen Gepflogenheiten juristischer Amtssprache: Kein Und, kein Bindewörtchen darf außenbleiben, und von allen Inversionen, die mir manchmal entfahren, ist er ein Todfeind; wenn man seinen Period nicht nach der hergebrachten Melodie heraborgelt, so versteht er gar nichts drin (ibid.).

Werthers insistentes Beharren auf seinem individuellen Stil ist dabei mehr als eine persönliche Schrulle. Es kommt darin sein Anspruch zum Ausdruck, auch in beruflicher Funktion nicht nur als Individuum wahrgenommen zu werden, sondern auch als solches agieren zu dürfen. […] Nicht im entferntesten kommt ihm dabei in den Sinn, daß seine Individualität nicht funktionsadäquat und im Zusammenhang seiner beruflichen Funktion ein gänzlich unpassender Maßstab sein könnte.203

Werthers in gesellschaftlicher Exklusion konstituierte Identität ist zu ungefestigt, als dass es ihm möglich wäre, sie teilweise aufzugeben, um in verschiedenen Rollen an unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen zu partizipieren. Im Gegenteil erhebt er den »Anspruch auf Totalität der eigenen Individualitätsentwicklung«,204 was seine Inklusion in funktionale Teilsysteme der Gesellschaft behindert und auf Dauer unmöglich macht. Dabei weist Werther diese Möglichkeit nicht prinzipiell zurück, sondern nur insofern, als er dadurch gezwungen wäre, seinen Totalitätsanspruch aufzugeben. Was Lotte für ihn so anziehend macht, ist ihre scheinbare Selbstidentität, die sich in ihrer Fähigkeit ausdrückt, ganz in ihrem häuslichen Leben Erfüllung zu finden (vgl. HA 6, 23).205 Von Werthers Sehnsucht nach gelingender Inklusion zeugt daher weniger sein Versuch, durch Annahme der Stelle in der Gesandtschaft »eine ihm vorge-

203 Ibid., S. 79. Dass es sich nicht um einen Einzelfall, sondern um ein typisches Verhaltensmuster Werthers handelt, zeigt der Vorfall in der Gesellschaft des Grafen von C. (vgl. HA 6, 67 – 71). Erneut vermag Werther nicht zwischen dem privat Möglichen (dem freundlichvertrauten Verhältnis des Grafen zu ihm) und dem gesellschaftlich Angemessenen zu unterscheiden, weil er »sich auch im Funktionszusammenhang einer bestimmten Rolle nicht als Funktions- oder Rollenträger von außen bestimmen lassen will« [Kemper (2004), S. 79], sondern auf seiner Anerkennung als Individuum beharrt: »Gänzlich unmöglich erscheint ihm […] die Subordination als Mensch unter die Rollennormen einer beruflichen [oder gesellschaftlichen, CB] Funktion, weil Werther dies als Degradierung seines Menschseins, als Bedrohung seiner Individualität empfindet« [ibid., S. 81]. 204 Ibid., S. 82. 205 Dass es sich dabei um eine Projektion der eigenen Wünsche handelt, und Lotte, der »ihre soziale Rolle fremdbestimmt durch den Tod ihrer Mutter zugewiesen worden ist« [ibid., S. 131], weitaus ›unfreier‹ ist als er, ist dabei nicht relevant; ausschlaggebend ist Werthers Sehnsucht nach gelingender gesellschaftlicher Inklusion.

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zeichnete soziale Position einzunehmen«,206 als vielmehr sein Wunschtraum, Teil der Familie des Amtmanns zu werden: Ich könnte das beste, glücklichste Leben führen, wenn ich nicht ein Tor wäre. […] Ein Glied der liebenswürdigsten Familie zu sein, von dem Alten geliebt zu werden wie ein Sohn, von den Kleinen wie ein Vater, von Lotten! – (HA 6, 44).

Werther erkennt nicht, dass er auch mit der Einordnung in das funktionale Subsystem ›Familie‹, mit der Übernahme der Rollen ›Sohn‹, ›Vater‹ und ›Ehemann‹, seinen Totalitätsanspruch aufgeben müsste. Aus dem Befund, dass auch Werthers Wunschtraum sich unter den gegebenen Bedingungen als unerfüllbar erweist, ergibt sich die Frage, ob sein Scheitern, das Beharren auf Totalität vorausgesetzt, unausweichlich ist. Anders formuliert: Wäre es denkbar, individuellen Totalitätsanspruch und gesellschaftliche Inklusion zu vereinen? Kemper verneint diese Möglichkeit, da sich Werthers Individualität »in keinem sozialen Teilsystem […] in Gänze als funktional erweisen«207 könne. Demgegenüber soll hier jedoch argumentiert werden, dass eine solche Möglichkeit zumindest prinzipiell besteht. Das gesellschaftliche Funktionssystem der Kunst würde die Aufrechterhaltung des Totalitätsanspruchs zumindest theoretisch erlauben, da sie sich »gerade durch ihre Weigerung charakterisiert, sich in den Funktionszusammenhang der Gesellschaft einbinden zu lassen«208 – eine Beschreibung, die frappant der soeben skizzierten Einstellung Werthers entspricht. Zugleich bietet sich in der Kunst, und nur in ihr, dem Individuum die Möglichkeit, seine Individualität in toto zum Ausdruck zu bringen. Selbst Werther, dem dieser Weg verschlossen ist, erkennt diesen Umstand, wenn feststellt, mit der Kunst sei es »wie mit der Liebe« (HA 6,16), denn beide erforderten vollkommene Hingabe und den Einsatz aller Kräfte und Mittel, und hier wie dort führe die Befolgung der gesellschaftlichen oder poetologischen Regeln zur Verkümmerung: Folgt ein Verliebter dem Rat des Philisters zur Mäßigung, »so gibt’s einen brauchbaren jungen Menschen […]; nur mit seiner Lebe ist’s am Ende und, wenn er ein Künstler ist, mit der Kunst« (ibid.). 206 Ibid., S. 77. Der Text lässt keinen Zweifel daran, dass diese Entscheidung mehr dem Drängen seiner Umgebung als eigener Überzeugung geschuldet und somit in hohem Maße fremdbestimmt ist: »Meine Mutter möchte mich gern in Aktivität haben, sagst du, das hat mich zu lachen gemacht. […] Alles in der Welt läuft doch auf eine Lumperei hinaus, und ein Mensch, der um anderer willen, ohne daß es seine eigene Leidenschaft, sein eigenes Bedürfnis ist, sich um Geld oder Ehre oder sonst was abarbeitet, ist immer ein Tor« (HA 6, 40). Entsprechend bitter sind seine Vorwürfe nach dem Scheitern des Plans: »[I]hr seid doch allein schuld daran, die ihr mich sporntet und triebt und quältet, mich in einen Posten zu begeben, der nicht nach meinem Sinne war. Nun habe ich’s! nun habt ihr’s!« (ibid., 67). 207 Kemper (2004), S. 82. 208 Bürger (1992), S. 15.

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Allerdings wird Werther von seinem Kunstverständnis daran gehindert, diesen Inklusionsschritt zu vollziehen und »[s]einem auffallend einseitig oder rudimentär ausgebildeten Selbstentwurf«209 entsprechend als Künstler an der Gesellschaft zu partizipieren. Zwar verwirft er die Bindung an überlieferte Regeln, da sie »das wahre Gefühl von Natur und den wahren Ausdruck derselben zerstör[t]en« (HA 6, 15), doch führt ihn diese Ablehnung der Regelpoetik keineswegs zu einer subjektivistische Genieästhetik,210 sondern zu dem künstlerischen Grundsatz der möglichst getreuen Nachahmung der Natur : Zufrieden berichtet er, wie er eine »wohlgeordnete, sehr interessante Zeichnung verfertigt [habe], ohne das mindeste von dem [S]einen hinzuzutun« (HA 6, 15; Hervorhebung CB),211 und schließt mit der programmatischen Aussage: »Das bestärkte mich in dem Vorsatz, mich künftig allein an die Natur zu halten« (ibid.)212 Da Werther künstlerisches Schaffen nicht als möglichst authentischen Ausdruck seiner Individualität begreift, ist es ihm unmöglich, die Kunst als Bereich potentieller individueller Selbstverwirklichung wahrzunehmen. Seine Versuche gesellschaftlicher Partizipation scheitern auch deshalb, weil sein vormoderner, an einer strengen Nachahmungsdoktrin orientierter Kunstbegriff eine gelingende Inklusion in das einzige funktionale Subsystem verhindert, das nicht die Aufgabe seines individuellen Totalitätsanspruchs erzwingen würde: das sich in der modernen Gesellschaft ausdifferenzierende autonome Funktionssystem der Kunst. Ob eine derart gelungene Inklusion zur Stabilisierung von Werthers Individualität als ›Künstler‹ geführt und ihm möglicherweise die Inklusion in andere Teilbereiche der Gesellschaft ermöglicht hätte,213 ist reine Spekulation. Doch ist

209 Kemper (2004), S. 128. 210 Zwar spricht Werther mit Emphase von dem »Strom des Genies« (HA 6, 16), der »in hohen Fluten hereinbraus[e] und eure staunende Seele erschütter[e]« (ibid.), doch dient diese typische Genie-Metapher vor allem dazu, seine Ablehnung der Philister mit ihren »Gartenhäuschen, Tulpenbeete[n] und Krautfelder[n]« (ibid.) auszudrücken. Und obgleich sich Werther angesichts des Gegensatzes von Genie und Philister naturgemäß auf die Seite des Genies schlägt, ist seine eigene Poetik weit entfernt von der Genieästhetik des Sturm und Drang. – Zu der »für die ganze Geniezeit zentralen Metapher des Stroms« vgl. Schmidt (2004b), S. 271 – 277. 211 Was Werther hier »von der Malerei sagt[], gilt gewiß auch von der Dichtkunst« (HA 6, 17); auch mit Worten will er nur ›rein abschreiben‹ und »Wort für Wort wiederholen« (ibid., 18), möglichst ohne künstlerische Überformung: »[W]as soll Dichtung, Szene und Idylle? muß es denn immer geboßelt sein, wenn wir teil an einer Naturerscheinung nehmen sollen?« (ibid.). 212 Indem Werther ›Naturnachahmung‹ als Darstellung der natura naturata versteht – er zeichnet Pflug, Scheunentor, Wagenräder – fällt er poetologisch noch hinter Shaftesbury zurück, der sich dezidiert gegen das bloße ›Kopieren‹ der Natur ausspricht. 213 Da das Individuum in der modernen differenzierten Gesellschaft »nicht mehr einem und nur einem gesellschaftlichen Einzelsystem angehören« [Luhmann (1993), S. 158] kann,

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

diese Überlegung insofern fruchtbar, als Werthers Scheitern als Folie dienen kann, ex negativo die Frage nach dem Ort des Künstlers in der modernen Gesellschaft zu beantworten: Als Künstler kann vor diesem Hintergrund ein Individuum verstanden werden, dessen Rolle in der differenzierten Gesellschaft, nach gelungener Konstituierung der eigenen Individualität durch Exklusion, sich primär durch Inklusion in den Funktionsbereich ›Kunst‹ bestimmt. Derart an die Gesellschaft rückgebunden, kann und muss der Künstler zwar Rollen in anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen übernehmen, doch wird er durch seine Selbst-Bestimmung über die ›gesellschaftliche Gegenwelt‹ der Kunst in diesen immer ein ›Fremder‹ sein, gekennzeichnet durch Alienität.214 Damit ist die vorliegende Argumentation jedoch noch nicht abgeschlossen, denn Alienität ist nicht Alterität, und nicht jeder Künstler ist ein Genie. Bisher wurde gezeigt, dass (1) das moderne Individuum seine Identität prinzipiell nur im »Außen der Gesellschaft«215 zu konstituieren vermag, und (2) der Künstler, wegen seiner dominanten Inklusion in die gesellschaftliche ›Gegenwelt‹ der Kunst, durch ein besonders hohes Maß an ›Fremdheit‹ charakterisiert ist. In einem dritten und letzten Schritt soll nun am Beispiel der Figur des Ren¤ Cardillac dargestellt werden, wie sich das Genie in diesen Kontext einordnen lässt und inwiefern seine gesellschaftliche Verortung sich von der des Künstlers unterscheidet. Es wurde bereits ausgeführt, dass das Autonomie-Postulat im Sturm und Drang nicht nur für das Kunstwerk, sondern auch für die Person des Genies erhoben wird: Wie das geniale Werk, so wird das geniale Individuum als vollkommen eigengesetzlich gedacht – und erhebt auch selbst diesen Anspruch. Daraus legitimiert sich die Ablehnung der überlieferten Regeln, doch reichen die Implikationen dieser Forderung weit über das Gebiet der Poetik hinaus: Wenn vermag auch der erfolgreiche Inklusionsschritt in die Kunst nicht isoliert von der Inklusion in andere Funktionssysteme gedacht zu werden. 214 Plumpe argumentiert gewissermaßen umgekehrt, indem er nicht den Sonderstatus des Künstlers aus der Autonomie des Funktionssystems Kunst, sondern die Autonomie der Kunst aus der gesellschaftlichen ›Ortlosigkeit‹ des Individuums ableitet: »Um ›autonom‹ zu sein, mußte sich die Kunst aus Ressourcen speisen, die sonst in der Gesellschaft nicht vorkamen. Das ›Individuelle‹ – samt seiner Steigerung im ›Genialen‹ – bot sich als solche Ressource in scheinbar idealer Weise an, weil die neue Form der gesellschaftlichen Differenzierung in spezifische Funktionssysteme die Person gewissermaßen ›ortlos‹ machte« [Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Von Kant bis Hegel, Bd. 1, Opladen 1993, S. 45]. Allerdings habe diese Konstruktion zu einem ›Kommunikationsparadoxon‹ geführt: »Ist der Künstler als ›geniales Individuum‹ nur im Außen der Gesellschaft ganz bei sich, dann verfehlt er sich notwendigerweise immer dann, wenn er sich ausdrücken will – bedarf er dazu doch der Gesellschaft« [ibid.] – womit das Phänomen des »Künstlers ohne Werk« [ibid., S. 46] zu erklären sei. Obgleich Plumpes Argumentation an sich überzeugt und sich in mancher Hinsicht mit den hier gewonnenen Erkenntnissen überschneidet, wird in dieser Arbeit methodisch und argumentativ anders verfahren. 215 Ibid., S. 45.

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nicht nur das Werk, sondern auch das Genie als Person »autonom ist, darf es sich prinzipiell über alle Normen hinwegsetzen, nicht nur über die rationalen, sondern auch über die sozialen und moralischen.«216 In dieser Schlussfolgerung drückt sich »die wohl radikalste Konsequenz des Autonomie-Gedankens«217 aus, denn ein solches (Selbst-)Verständnis führt in letzter Konsequenz zum Immoralismus des Genies: Mit der Absolutsetzung der eigenen Individualität negiert es jede Gebundenheit an externe Normen, seien diese nun gesellschaftlicher, religiöser oder moralischer Natur.218 Damit ist es möglich, das Verhältnis des Genies zur Gesellschaft von dem des Künstlers abzugrenzen: Das des Künstlers ist bestimmt durch Alienität, weil er seine Identität maßgeblich durch Inklusion in das jenseits des gesellschaftlichen Funktionszusammenhanges bestehende Subsystem der Kunst konstituiert. Sie bestimmt sein Verhältnis zu allen anderen Funktionssystemen, in denen er unausweichlich als alienus erscheint – man könnte auch sagen: als Sonderling. Diese prinzipielle Affirmation gesellschaftlicher Inklusion geht dem Genie ab. Natürlich kann es ebenso wenig eine ›gesellschaftslose‹ Existenz führen wie vollkommene Autonomie erreichen; die tatsächliche Loslösung aus den gesellschaftlichen Bezugssystemen ist nicht realisierbar.219 Doch wie das Genie Autonomie beansprucht – und in der Tat als direkte Folge dieses Anspruchs –, verweigert es die Einordnung in gesellschaftliche Funktionszusammenhänge. Sein Autonomie-Postulat negiert jegliche soziale Inklusion, und damit stellt es sich gegen die Gesellschaft, konstituiert sich als alter, als ein ganz Anderes und wird auch so wahrgenommen:220 »Die arbiträre Setzung des Genies wird als exemplarische Selbstverwirklichung eines radikal fremd dem Bestehenden sich 216 Schmidt (2004b), S. 41. 217 Ibid., S. 319. 218 Christina Fleck kommt – auf methodisch sehr anderem Wege – hinsichtlich der Ästhetik Goethes zu ähnlichen Ergebnissen und resümiert: »In Goethes Ästhetik wird die Ethik an das Individuum gebunden […]. Wenn der Mensch sich aber in sich selbst begründet […], dann wird auch die Frage nach Gut und Böse zu einer individuellen Entscheidung. In Goethes Vorstellung kann daher das Individuum nur noch gegen die eigene Individualität ›sündigen‹, da es keiner moralischen Macht mehr verpflichtet ist« [Fleck (2006), S. 243]. – Der fiktionale Goethe in Lotte in Weimar vertritt gegenüber Charlotte Kestner n¤e Buff genau diese Position. 219 »Nach wie vor können Menschen nur in sozialen Zusammenhängen leben, in der modernen Gesellschaft gilt dies nicht weniger als früher« [Luhmann (1993), S. 159]. 220 Dieser auf der Grundlage gesellschaftlicher Verortung getroffene prinzipielle Unterscheidung zwischen Genie und Künstler entspricht auf der Ebene der Begabung die Trennung zwischen Genie und Talent. Seit der Ablösung der aufklärerischen Geniekonzeptionen durch diejenigen des Sturm und Drang ist es ein Topos der Genieideologie, dass das Genie »nicht mehr als außergewöhnliche Steigerung natürlicher Anlagen und Fähigkeiten, sondern als etwas radikal Anderes, von dem ›normalen‹ Menschen Verschiedenes« angesehen wird [Klaus Gerth: Studien zu Gerstenbergs Poetik. Ein Beitrag zur Umschichtung der ästhetischen und poetischen Grundbegriffe im 18. Jahrhundert, Göttingen 1960, S. 122].

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entgegensetzenden Willens bewundert«221 – oder als wahnsinnig, pathologisch oder verbrecherisch verurteilt.222 In jedem Fall aber beansprucht das Genie eine im Wortsinne a-soziale Stellung. Anhand der Figur des Ren¤ Cardillac aus E. T. A. Hoffmanns Erzählung Das Fräulein von Scuderi soll diese anti-gesellschaftliche Stellung des Genies erläutert werden. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Geschichte des mörderischen Goldschmieds »im Herbste des Jahres 1680« (Hoffmann IV, 780)223 spielt, in einer Epoche also, in der von einer ständischen, stratifikatorisch organisierten Gesellschaft ausgegangen werden muss,224 und in der folglich die Individualität des Einzelnen mit »Namen, Bekanntsein, Rechten und Pflichten und vor allem mit Aufgehobensein in einem Kontext von Leistungen und Gegenleistungen durch soziale Inklusion gegeben«225 ist. In Cardillac porträtiert Hoffmann jedoch den »spezifisch moderne[n] Typus des Künstlers«226 und überträgt somit zeitgenössisch-romantische Vorstellungen von Individualität und Künstlertum auf das »Zeitalter Ludwig[s] des Vierzehnten« (Hoffmann IV, 780). Es ist dieser strukturelle Widerspruch zwischen moderner Individualität und vormoderner Gesellschaft, der zu einer Spaltung Cardillacs in zwei personae führt: in die des »guten Bürgers« (Hoffmann IV, 805), der »in ganz Paris als der rechtlichste Ehrenmann [bekannt ist], uneigennützig, offen, ohne Hinterhalt, stets zu helfen bereit« (Hoffmann IV, 799),227 und die des nächtlichen Mörders, der alle ethischen und moralischen Normen negiert und sich als alter außerhalb der Gesellschaft stellt. Seine Alterität, so die These, liegt gerade in der Modernität 221 Ortland (2000 – 2005), S. 699. 222 Zum Topos ›Genie und Wahnsinn‹ vgl. George Becker : The Mad Genius Controversy. A Study in the Sociology of Deviance, London 1978. 223 Die Werke E. T. A. Hoffmanns werden unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke in sechs Bänden, hrsg. von Wulf Segebrecht, Hartmut Steinecke, Frankfurt am Main 1985 – 2004. 224 Zum Begriff der Stratifikation vgl. Luhmann (1993), S. 155 f. 225 Ibid., S. 156. 226 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750 – 1945, Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs, 3. verbesserte Aufl., Heidelberg 2004c, S. 34. 227 Dass es sich bei dieser Harmlosigkeit um eine Maske handelt, verrät »sein ganz besonderer Blick aus kleinen, tiefliegenden, grün funkelnden Augen« (Hoffmann IV, 799), der ihn, so der Erzähler, leicht »in den Verdacht heimlicher Tücke und Bosheit« (ibid.) hätte bringen können. – Auch diese Rolle ist, in ihrer Ausgestaltung durch Cardillac wie in ihrer Bewertung durch Dritte, deutlich von der modernen Vorstellung des ›individuellen Künstlertums‹ bestimmt. Aus Cardillacs Äußerung gegenüber der Maintenon – »In der Tat, Frau Marquise, man muß Ren¤ Cardillac’s Arbeit schlecht kennen, um nur einen Augenblick zu glauben, daß irgend ein anderer Goldschmied in der Welt solchen Schmuck fassen könne« (Hoffmann IV, 802) – spricht das ausgeprägte Selbstbewusstsein des modernen Individuums, und auch die von der Scuderi formulierte Vorstellung des ›künstlerischen Sonderlings‹ stimmt schlecht mit dem Bild des in Gilden organisierten Kunsthandwerkers überein.

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seiner Kunstauffassung begründet, in eben den Grundsätzen und Charaktereigenschaften, die ihn als Genie kennzeichnen. Schon bei der ersten Erwähnung wird Cardillac durch seine kunsthandwerklichen Fähigkeiten und seinen Sonderlingsstatus charakterisiert: »Ren¤ Cardillac war damals der geschickteste Goldarbeiter in Paris, einer der kunstreichsten und zugleich sonderbarsten Menschen seiner Zeit« (Hoffmann IV, 799). Meisterschaft wie Außenseitertum werden sowohl durch Aussagen anderer Personen betont, als auch durch einzelne Szenen illustriert,228 die deutlich machen, dass die Zuschreibung ›Sonderling‹ sich vor allem auf Cardillacs Missachtung gesellschaftlicher Normen229 und höfischer Etikette bezieht. Dies zeigt sich exemplarisch, nachdem die Scuderi, von der Marquise de Maintenon gedrängt, den von Cardillac gefertigten Schmuck als Geschenk angenommen hat: [N]un stürzte Cardillac nieder auf die Knie – küßte der Scuderi den Rock – die Hände – stöhnte – seufzte – weinte – schluchzte – sprang auf – rannte wie unsinnig, Sessel – Tische umstürzend, daß Porzellan, Gläser zusammenklirrten, in toller Hast von dannen (Hoffmann IV, 804).

Cardillacs ›sonderliches‹ Verhalten, das »das comme il faut der Gesellschaft wie die Syntax der Erzählung«230 sprengt, erregt zwar einen Augenblick lang Befremden und sogar Schrecken, wird dann aber zum Gegenstand des Scherzes. Diese Reaktion der beiden adligen Damen zeigt, dass der Konventionsbruch zwar empfunden, zugleich aber im Falle des Künstlers Cardillac als ›natürlich‹ angesehen und akzeptiert wird,231 »weil Künstler nun mal ’nen Vogel haben« (GKFA 10.1, 344).232

228 Ein Kunde des Goldschmieds in Genf, bei dem Olivier Brusson lernt, bezeichnet Cardillac als den »erste[n] Goldschmied […], den es auf der Welt gibt« (Hoffmann IV, 824), und von der Hingabe an seine Kunst zeugt die Beschreibung des Erzählers: »Tag und Nacht hörte man ihn in seiner Werkstatt hämmern und oft, war die Arbeit beinahe vollendet, mißfiel ihm plötzlich die Form, er zweifelte an der Zierlichkeit irgend einer Fassung der Juwelen, irgend eines kleinen Häkchens – Anlaß genug, die Arbeit wieder in den Schmelztiegel zu werfen und von neuem anzufangen. So wurde jede Arbeit ein reines, unübertroffenes Meisterwerk« (Hoffmann IV, 799). Die Bezeichnung »Meister Sonderling« (Hoffmann IV, 802) kommt von Magdaleine de Scuderi. 229 Auf einen neuen Auftrag reagiert Cardillac in kaum angemessener Weise: »Ohne Unterschied, mag er nun ein reicher Bürgersmann oder ein vornehmer Herr vom Hofe sein, wirft sich Cardillac ungestüm an seinen Hals, und drückt und küßt ihn« (Hoffmann IV, 800). 230 Schmidt (2004c), S. 37. 231 Die Maintenon unterstellt Cardillac scherzend Verliebtheit, womit sie sein unkonventionelles Verhalten sowohl erklärt als entschuldigt, da er unter diesen Bedingungen »nach richtigem Brauch und bewährter Sitte« (Hoffmann IV, 804) gehandelt habe. 232 In der Tat ist dies ein Auftritt, der auch anderen ausgewiesenen Sonderlingen im Werk Hoffmanns zuzutrauen wäre, etwa Rat Krespel oder dem Kapellmeister Kreisler, aber auch so ›ungenialen‹ Figuren wie dem Studenten Anselmus aus dem Goldenen Topf.

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

Cardillacs Widerwille, ein vollendetes Werk seinem Auftraggeber zu überlassen,233 kann in diesem Zusammenhang als ein weiteres Beispiel seiner Unkonventionalität gedeutet werden, als Missachtung des gesellschaftlichen Grundsatzes, dass derjenige, der die Anfertigung eines Schmuckstücks in Auftrag gibt und dafür bezahlt, damit das Recht erwirbt, über das entstandene Produkt zu verfügen. Doch geht die Bedeutung dieses Verhaltens über schlichten »Eigensinn« (Hoffmann IV, 802) hinaus: Cardillac kümmert sich weder um die Gelegenheit, zu der ein bestimmter Schmuck bei ihm in Auftrag gegeben wird,234 noch um das Geld, das er dafür bekommt,235 es geht ihm nur um das Werk an sich. Jochen Schmidt deutet dies als »das für die Genie-Ideologie charakteristische Abrücken von jener älteren Auffassung, der die Kunst als bloße Zierde gesellschaftlicher Gelegenheiten galt.«236 So zutreffend diese Deutung ist, geht sie doch nicht weit genug. Was sich hier zeigt, ist Cardillacs Anspruch auf künstlerische Autonomie – eine Forderung, die ihm nur als ›Eigensinn‹ ausgelegt werden kann in einer Gesellschaft, der sein ›modernes‹ Kunstverständnis notwendig fremd ist. Zugleich scheint hier ein entlarvender Zug durch die Maske der Harmlosigkeit hindurch, denn die Forderung nach künstlerischen und individueller Autonomie führt direkt zur Immoralität des Genies. Cardillac ist in einem Maße an seine Werke gebunden, dass buchstäblich sein körperliches Wohlbefinden von ihnen abhängt: »So wie ich ein Geschmeide gefertigt und abgeliefert, fiel ich in eine Unruhe, in eine Trostlosigkeit, die mir Schlaf, Gesundheit – Lebensmut raubte« (Hoffmann IV, 833).237 Er ist unfähig, zwischen sich und seinen Werken zu trennen, diese stellen Extensionen seiner Person und Persönlichkeit dar. Ein solches Verhältnis zwischen Schöpfer und Werk ist nur denkbar, wenn dieses als Ausdruck, ja geradezu Ausfluss und Emanation der eigenen Individualität angesehen wird,238 womit es absurd wäre, es als Ware begreifen zu wollen – es ist so unveräußerlich wie die eigene Persönlichkeit:

233 »Aber nun war es kaum möglich, die fertige Arbeit von ihm zu erhalten. […] Mußte er dann endlich dem Andringen des Bestellers weichen, und den Schmuck herausgeben, so konnte er sich aller Zeichen des tiefsten Verdrusses, ja einer innern Wut, die in ihm kochte, nicht erwehren« (Hoffmann IV, 800). 234 Das nachvollziehbare Argument »Aber Meister Cardillac, bedenkt, morgen ist meine Hochzeit« (Hoffmann IV, 801) macht keinen sonderlichen Eindruck auf ihn: »Was schert mich Eure Hochzeit, fragt in vierzehn Tagen wieder nach« (ibid.). 235 »Jeden Auftrag übernahm er und machte einen Preis, der, so geringe er war, mit der Arbeit in keinem Verhältnis zu stehen schien« (Hoffmann IV, 799). 236 Schmidt (2004c), S. 37. 237 Über den wunderbaren Halsschmuck, den er Magdaleine de Scuderi verehrt, sagt er : »[E]s zerriß mir die Brust, wenn ich daran dachte, mich von dem Schmuck, der mein Herzenskleinod geworden, trennen zu müssen« (Hoffmann IV, 836). 238 Die Kategorie, die dieses Verhältnis von Schöpfer und Werk beschreibt, ist Authentizität.

Konstitutive Merkmale des Genies

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Weil er sein Inneres in das Werk hineinlegt, es nicht von äußeren Zwecken, Gelegenheiten und Wirkungen her konzipiert, gehört es auch in tieferem Sinne nur ihm allein. Das genial-autonome Schaffen ist weltlos, und so darf und kann die Welt keinen Anteil daran haben. Sie würde das Werk, wie Cardillac zu verstehen gibt, zerstören.239

Die ›Welt‹ wird in der Erzählung repräsentiert von den Liebhabern, die Cardillacs Werke als beliebige Waren ansehen und »auf unwürdige Weise vergeude[n]« (Hoffmann IV, 797). Dieser Zusammenhang macht, vom Standpunkt Cardillacs aus betrachtet, die Wiederbeschaffung der Schmuckstücke zu einer Lebensnotwendigkeit und legitimiert folglich auch den Mord an jenen, die sie sich unrechtmäßig zugeeignet haben. Cardillacs Verbrechen werden damit weder auf ein pränatales Trauma als Folge des Zwischenfalls mit dem »Cavalier in spanischer Kleidung« (Hoffmann IV, 832) zurückgeführt, noch auf den Einfluss eines ›bösen Sterns‹ (vgl. Hoffmann IV, 835)240 oder der »Stimme des Satans« (Hoffmann IV, 834), die ihn zum Mord treibe, sondern auf seine ›moderne‹ Kunstauffassung: Die vollständige Identifikation mit den eigenen Werken und der daraus sich ableitende Anspruch auf künstlerische Autonomie bringen Cardillac dazu, diejenigen zu ermorden, die diese Autonomie – und damit die Integrität und Unverletzbarkeit seiner Individualität – in Frage stellen, indem sie die von ihm geschaffenen Schmuckstücke als Ware behandeln.241 Die Untersuchung der Geniefigur Ren¤ Cardillac hat gezeigt, dass ein Kunstverständnis, das das Werk als authentischen Ausdruck der Individualität seines Schöpfers ansieht, und das auf dieser Grundlage vollständige Autonomie sowohl für dieses Werk als auch für den genialen Künstler beansprucht, zwangsläufig in den Immoralismus des Genies führen muss, zum »äußerste[n] Grad der Opposition von Kunst und Leben.«242 Daraus folgt, dass die Stellung die Genies zur Gesellschaft – oder zur ›Welt‹ – sich grundlegend von der des Künstlers in der Gesellschaft unterscheidet. Dieser mag ein Sonderling sein, aber er ist, in eigener wie in fremder Wahrnehmung, auch als alienus Teil der Gesellschaft. Das Genie hingegen negiert jede gesellschaftliche Bindung, es 239 Schmidt (2004c), S. 37. 240 Blamberger stellt hier die Verbindung zur Inspirations-Theorie her : »Die lateinische Übersetzung von ›böser Stern‹ (in dieser Bedeutung) heißt ›genius malus‹ […]. Der Stern ist Dämon, Muse und Unterscheidungszeichen Cardillacs« [Blamberger (1991), S. 116]: »Cardillacs Stern ist ihm […] der Dämon, der böse Geist, der ihn von ›frühester Kindheit‹ an ungesehen begleitet und seinen Lebensweg bestimmt. Er ist außerdem […] die ›Stimme‹, die ihm den Mordbefehl ›in die Ohren raunt‹. Er ist also der Inspirator, die geheime Muse, der Quellpunkt der künstlerischen und der verbrecherischen Begabung« [ibid., S. 118]. 241 Da Cardillac selbst sich dieser Zusammenhänge natürlich nicht bewusst ist, können der ›böse Stern‹ und die ›Stimme des Satans‹ als Metaphern für das Unerklärliche verstanden werden. 242 Schmidt (2004c), S. 34.

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Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

konstituiert sich außerhalb der Gesellschaft als ein ›ganz Anderes‹, so dass Alterität als drittes und letztes konstitutives Merkmal des Genies angenommen werden kann. Damit ist zugleich die Bestimmung des Begriffs abgeschlossen, der die Grundlage der folgenden Untersuchung bildet: Ein Genie wird demnach konstituiert durch die drei Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität, wie sie in diesem Kapitel dargestellt worden sind, und die literarischen Figuren Goethe, Joseph und Adrian Leverkühn werden nur dann als Genies betrachtet, wenn sie diese drei Eigenschaften aufweisen.

III. Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I

Der einschlägige Artikel im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm bestimmt ›Genie‹ als »die franz. form des lat. genius«, die »unter dem einflusz von ingenium von einem masc[ulinum] zu einem neutr[um]«243 geworden sei, und zu diesen beiden Begriffen sei »auch das griech. dämon, da„lym«244 noch hinzugetreten. Da alle drei Begriffe »eigentlich ein und dasselbe«245 bedeuteten, sei als Ergebnis dieses historischen Prozesses vor allem »eine wunderliche wirrnis«246 zu konstatieren. An diesem Zustand hat sich bis heute kaum etwas geändert. Trotz ihrer offensichtlichen Bedeutung für die Entstehung der modernen Genievorstellung werden die antiken Konzepte ingenium, genius und daimon247 in den Arbeiten zum Genie oft nur am Rande und sehr verkürzt behandelt, nicht selten auch ganz übergangen.248 Dabei erscheint es als methodische Notwen243 Rudolf Hildebrand: Artikel ›Genie‹, in: Grimm, Jacob; Grimm, Wilhelm (Hrsg): Deutsches Wörterbuch, Bd. 5: Gefoppe-Getreibs, München 1984 – 1991, Sp. 3396 – 3450, hier : Sp. 3396. 244 Ibid, Sp. 3398. 245 Ibid. 246 Ibid. Ken Frieden stimmt dieser Aussage zu [vgl. Frieden (1985), S. 28], während SchmidtDengler bemerkt, er könne »der Meinung des Wortforschers in dem Punkte nicht beipflichten« [Wendelin Schmidt-Dengler: Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit, München 1978, S. 9]. 247 Des besseren Verständnisses wegen wird mittels unterschiedlicher Schreibweise markiert, ob die Begriffe in antikem oder modernem Sinne zu verstehen sind. So ist mit genius das altrömische Konzept, mit ›Genius‹ seine neuzeitliche Adaption und Interpretation bezeichnet. 248 Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Penelope Murray : Poetic Genius and its Classical Origins, in: Murray, Penelope (Hrsg): Genius. The History of an Idea, Oxford 1989b, S. 9 – 31, während dieser Aspekt in der umfangreichen Studie von Schmidt (2004a), bedingt durch die Beschränkung auf den Zeitraum zwischen 1750 und 1945, gänzlich unberücksichtigt bleibt. – Ein Beispiel für die Notwendigkeit begrifflicher Klarheit bildet die Arbeit von Ceia, der zwar die Worte genius, daimon und ingenium verwendet, ihre historischen Hintergründe und Implikationen jedoch so weitgehend ignoriert oder verkürzt, dass sie der vollständigen begrifflichen Beliebigkeit verfallen. Ein Ergebnis dieser Vorgehensweise ist die bemerkenswerte Kategorie des »super-genius« [Carlos Ceia: Comparative Readings of

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I

digkeit, diese grundlegenden Begriffe zu bestimmen, ehe sich die Untersuchung einer aus ihnen hervorgegangenen komplexen Vorstellung wie der des modernen Genie zuwenden kann. Entsprechend werden in diesem und einem weiteren Exkurs zu den historischen Wurzeln des Genies grundlegende antike Konzepte erläutert, die (1) zur Entstehung des modernen Geniebegriffs beigetragen haben und (2) für diese Untersuchung relevant sind249 – neben ingenium und genius/daimon meint das die platonischen Vorstellungen von Inspiration und man„a sowie das Konzept der Melancholie in der Tradition des pseudo-aristotelischen Problem XXX, 1. Die Zweiteilung dieser Ausführungen hat sachlich-inhaltliche Gründe. ingenium und genius, die schon etymologisch als Grundlagen des Genies erkennbar sind, werden auf alle in dieser Arbeit untersuchten Figuren angewandt: Goethe wird mehrfach mit dem Attribut des ›Genius‹ belegt, Zeitblom spricht »von dem musikalischen Genius [s]eines verewigten Freundes« (GKFA 10.1, 12 f.), und nicht nur Leverkühns geistige Fähigkeiten, sondern auch diejenigen Josephs werden summarisch als »Ingenium« (GW V, 934) bezeichnet. Im Gegensatz dazu sind Inspiration und Melancholie, obgleich sie auch in Lotte in Weimar und Joseph und seine Brüder eine Rolle spielen, vor allem für die ›unlautere Steigerung‹ Adrian Leverkühns und damit für die Geniekonzeption im Doktor Faustus von Bedeutung, weshalb die antiken Hintergründe dieser Vorstellungen erst im Vorfeld des Faustus-Kapitels erläutert werden.

1.

Ingenium

In seiner berühmen Bestimmung definiert Immanuel Kant das Genie als das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regeln gibt. Da das Talent, als angeborenes produktives Vermögen des Künstlers, selbst zur Natur gehört, so könnte man sich auch so ausdrücken: Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), d u r c h w e l c h e die Natur der Kunst die Regeln gibt.250 Poems Portraying Symbolic Images of Creative Genius. Sophia de Mello Breyner Andresen, Teixeira de Pascoaes, Rainer Maria Rilke, John Donne, John of the Cross, Edward Young, Lao Tzu, William Wordsworth, Walt Whitman, Lewiston, 2002, S. 4]. 249 Die Kritik Hans-Georg Kempers, der Versuche, »die Idee des Genies als eine Art Bündelung aus unterschiedlichen, bis in die Antike zurückreichenden literarischen, philosophischen und ästhetischen Traditionen herzuleiten« [Kemper (2002), S. 10] grundsätzlich verwirft, da sie den religiösen Wahrheitsanspruch nicht zu erklären vermöchten, mit dem das Genie auftrete, ist prinzipiell anzuerkennen. Doch ist sie in diesem Zusammenhang nicht relevant, da hier nicht der Anspruch erhoben wird, das moderne Genie ausschließlich als Produkt antiker Traditionen zu postulieren. Ohne die Bedeutung anderer, frühneuzeitlicher Einflüsse zu negieren, geht es in diesen historischen Exkursen ausdrücklich nur darum, die wichtigsten antiken Traditionslinien nachzuvollziehen. 250 Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Weischedel, Wilhelm (Hrsg): Werke in sechs

Ingenium

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Kant bestimmt das Genie als Talent und Naturgabe, als ›angeborenes produktives Vermögen‹ sowie ›angeborene Gemütslage‹, als ingenium,251 und schon diese Verwendung des lateinischen Begriffs unterstreicht die Bedeutung des antiken Konzepts für die Genievorstellung. Die Tatsache, dass Kant die geistigen Fähigkeiten eines Menschen mit seiner charakterlichen Disposition identifiziert und damit zwei Aspekte einer Persönlichkeit gleichsetzt, die in der Moderne normalerweise unterschieden werden, geht auf ein Verständnis des Wortes ingenium zurück, wie es sich etwa bei Sallust findet: Daher erscheint es mir richtiger, mit den Kräften des Verstandes [ingeni] Ruhm zu suchen als mit denen des Leibes […]. Denn der Ruhm, den uns Geld und gutes Aussehen bringen, ist flüchtig und hinfällig, eine tüchtige Leistung [virtus] aber ein herrlicher und unvergänglicher Besitz.252

Die Verwendung von ingenium in Kombination mit virtus (›Tugend‹) weist darauf hin, dass der Begriff nicht nur geistige Fähigkeiten, sondern auch charakterliche Vorzüge meint. Entsprechend führt das Oxford Latin Dictionary als ersten Eintrag unter dem Lemma ingenium »[n]atural disposition, temperament«253 einer Person an, und erst danach folgt »[m]ental powers, natural abilities, talent, intellect etc. (esp[ecially] w[ith] implication of excellence)«.254 Im Gegensatz zu Sallust unterscheidet Cicero zwischen angeborenen Eigenschaften, die ein Mensch nicht willentlich beeinflussen könne, und den Tugenden im engeren Sinne, die seinem Willen unterworfen seien:

251

252

253 254

Bänden. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe Darmstadt 1957, Bd. V: Kritik der Urteilskraft und Schriften zur Naturphilosophie, 6. Aufl., Darmstadt 2005, S. 171 – 620, hier : S. 405 f. Zu dem Genie-Kapitel in der Kritik der Urteilskraft und seiner Bedeutung für die zeitgenössische Diskussion des Geniebegriffs vgl. Blamberger (1991), S. 65 – 71 und Bernhard Greiner : Genie-Ästhetik und Neue Mythologie. Versuche um 1800, das Neue als Neues zu denken, in: Moog-Grünewald, Maria (Hrsg): Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne, Heidelberg 2002, S. 39 – 53. Einen Überblick über die Entwicklung der Kantischen Genievorstellung sowie weiterführende Literatur bietet Piero Giordanetti: Das Verhältnis von Genie, Künstler und Wissenschaftler in der kantischen Philosophie, in: Kant-Studien 86 (1995), S. 406 – 430, und die Bedeutung der kantischen Ästhetik für die ›kopernikanische Wende‹ hin zu einer autonomen Kunst entwickelt Fenner (2000), S. 127 – 165. Kant unterscheidet zwischen dem Begriff ›Genie‹, dessen Gehalt er von ingenium ableitet, und dem Wort ›Genie‹, das seiner Vermutung nach »von genius, dem eigentümlichen, einem Menschen bei der Geburt mitgegebenen schützenden und leitenden Geist, von dessen Eingebungen jene originalen Ideen herrühren, abgeleitet ist« (Kant V, 405). Zu einer Gegenposition vgl. Hildebrand (1984 – 1991), Sp. 3407. Sallust, De coniuratione Catilinae I, 3 f.: »quo mihi rectius videtur ingeni quam virum opibus gloriam quaerere […]. Nam divitiarum et formae gloria fluxa atque fragilis est, virtus clara aeternaque habetur« [zitiert nach Sallust: Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. und übers. v. Werner Eisenhut und Joseph Lindauer, Düsseldorf 2006]. Artikel ›ingenium‹, in: Glare, P. G. W; Souter, Alexander; Wyllie, J. M. (Hrsg): Oxford Latin Dictionary, Oxford 1990a, S. 905 – 906, hier : S. 905 f. Ibid., S. 906.

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I

Zur ersten Gruppe gehören die leichte Auffassungsgabe und das gute Gedächtnis; diese alle werden mit einem Worte Begabung [ingenii] genannt, und wer sie besitzt, heißt begabt [ingeniosi].255

Schon bei Cicero zeigen sich verschiedene Charakteristika des modernen Geniebegriffs: »[I]ngenium in the sense of ›natural ability‹ is a quality which can not be acquired by learning, nor is it a quality which everyone possesses.«256 Der Begriff findet sich damit »in einer das Angeborene mit ›Natur‹ assoziierenden Linie kontrastiert gegen ›studium‹ oder ›ars‹«,257 und da ingenium, verstanden im Sinne Ciceros als die Gesamtheit aller geistigen Fähigkeiten »[with] implication of excellence«,258 überdies nicht jedem Menschen eigen ist, beginnt es zum Kennzeichen herausragender Persönlichkeiten zu werden: In einem anspruchsvolleren Sinn wird ingenium nur den durch besondere Leistungen ausgezeichneten Menschen nachgesagt. Es heißt nun: eine große Begabung, ein herausragender Geist.259

Auch für diese Verwendung findet sich ein Beispiel bei Cicero, der die Größe der geistigen Fähigkeiten des Sokrates mit ingenium bezeichnet.260 Er legt damit zugleich Zeugnis ab für die Wertschätzung, die er diesem Begriff entgegenbringt, gilt doch Sokrates in der Antike als außergewöhnlicher, von den Göttern begnadeter Mensch. Es ist dabei »von entscheidender Wichtigkeit, herauszustellen, was die alteuropäische Vorstellung der Naturbegabung als ingenium von der modernen Konzeption des Genies unterscheidet«:261 Bei aller Individualität bleibt ingenium der antiken Lehre von der Kunst als Darstellung der Natur (mimesis) verhaftet; es beschreibt die Fähigkeit, die überlieferten Regeln in möglicher Vollkommenheit anzuwenden und bietet folglich »keine Möglichkeit, die konventionel255 Cicero, De finibus 5, 13: »Animi autem et eius animi partis, quae princeps est, quaeque mens nominatur plures sunt virtutes, sed duo prima genera, unum earum, quae ingenerantur suapte natura appellanturque non voluntariae, alterum earum, quae in voluntate positae magis proprio nomine appellari solent […]. prioris generis est docilitas, memoria; quae fere omnia appellantur uno ingenii nomine, easque virtutes qui habent ingeniosi vocantur« [zitiert nach Marcus T. Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns. Lateinisch-deutsch = De finibus bonorum et malorum, hrsg. u. übers. v. Olof Gigon, 2. Aufl., Düsseldorf 2002]. 256 Penelope Murray : Introduction, in: Murray, Penelope (Hrsg): Genius. The History of an Idea, Oxford 1989a, S. 1 – 8, hier : S. 3. 257 Ortland (2000 – 2005), S. 669. 258 Glare (1990a), S. 906. 259 Ortland (2000 – 2005), S. 669. 260 Cicero, Tusculanae disputationes 5, 11: »Cuius [i. e. Sokrates’] multiplex ratio disputandi rerumque varietas et ingenii magnitudo Platonis memoria et litteris consecrata« [zitiert nach Marcus T. Cicero: Gespräche in Tusculum. Lateinisch-deutsch = Tusculanae disputationes, hrsg. u. übers. v. Olof Gigon, 7. Aufl., Düsseldorf 1998]. 261 Plumpe (1993), S. 73.

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len Kunstlehren zu überwinden«.262 Das unterscheidet es vom modernen Genie, das sich maßgeblich gerade über das Autonomiepostulat und die Ablehnung der überlieferten Regeln bestimmt. Ingenium bezeichnet in der Antike also einerseits den Charakter und die Wesensart eines Menschen, andererseits und in zunehmendem Maße seine geistigen Fähigkeiten. Da diese Eigenschaften angeboren und nicht erlernbar sind, bildet sich der Gegensatz von ingenium und studium heraus, der einen ebenso prägenden Einfluss auf den modernen Geniebegriff ausübt wie das Verständnis des ingenium als Auszeichnung des herausragenden Menschen, die diesen über die ›Menge‹ heraushebt.

2.

Römischer genius und griechischer daimon

Da der Begriff des genius »nicht nur zu den wichtigsten, sondern auch zu den ältesten Bestandteilen der römischen Religion«263 gehört, ist es kaum möglich, über Entstehung und ursprüngliches Verständnis mehr als Vermutungen zu äußern. Unstrittig ist, dass die Vorstellung des genius in engem Zusammenhang steht mit der »der Zeugungskraft und der damit verbundenen schützenden Funktion des Mannes als Vater und Oberhaupt der römischen Familie«,264 und gerade dieser »Zusammenhang des Genius mit Zeugungskraft und Fruchtbarkeit […] wird bedeutsam, wenn in neuzeitlichen Adaptionen des Genius Kreativität in den Mittelpunkt des Interesses rückt.«265 Die Frage, ob genius als personifizierte »Schutzgottheit außerhalb des Mannes«266 oder abstrakt als »die ihm innewohnende Kraft zur Zeugung und zu den anderen Vorgängen seines Lebens«267 zu denken sei, war unter Althistorikern lange umstritten.268 Die neuere Forschung bildet eine Synthese aus beiden Positionen und deutet genius als

262 Ibid. 263 Walter F. Otto: Artikel ›Genius‹, in: Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft. Neue Bearbeitung, unter Mitwirkung zahlreicher Fachgenossen herausgegeben von Georg Wissowa und Wilhelm Kroll, Dreizehnter Halbband: Fornax bis Glykon, Stuttgart 1910, Sp. 1155 – 1170, hier : Sp. 1155. 264 Hille Kunckel: Der römische Genius, Heidelberg 1974, S. 9. Auf diesen Zusammenhang verweist auch die etymologische Herleitung des Wortes genius »von der in gingere steckenden Wurzel gen« [Otto (1910), Sp. 1156]. gingere bedeutet ›erzeugen, hervorbringen‹. 265 Ortland (2000 – 2005), S. 666 f. 266 Wolfram-Aslan Maharam: Artikel ›Genius‹, in: Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart 1998, Bd. 4: Epo-Gro, Sp. 915 – 918, hier : Sp. 915. 267 Ibid. 268 Zu dieser Forschungsdiskussion, die hier darzustellen zu weit vom eigentlichen Thema wegführen würde, vgl. Otto (1910), Sp. 1155 – 1170; Kunckel (1974), S. 10 f. und Edgar

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I

vergöttlichte/s Persönlichkeit/Konzept mit Sitz in der Stirn, wie sie in den angeborenen Eigenschaften des Einzelnen existiert, als dem Manne innewohnende Zeugung, seine Persönlichkeit umfassende Macht.269

Es spricht einiges dafür, dass sich das Konzept des genius im Laufe seines Bestehens270 von dem unmittelbaren Bezug auf die männliche Zeugungskraft löst und eine numinose ›hervorbringende‹ Kraft bezeichnet; »[d]ie Existenz des Genius von Korporationen und Orten, der eine überpersönliche Kraft repräsentiert, bestätigt diese Auffassung.«271 Zur menschengestaltigen genius-Figur kommt es hingegen erst unter dem Einfluss der griechischen Vorstellung von anthropomorphen Göttern: Die gestaltlosen römischen numina werden personifiziert, und der genius wird zum Schutzgeist und Begleiter des Menschen.272 Diese Vorstellung des genius als einer »dem einzelnen Bürger beigesellte[n], mit seiner Geburt ins Dasein tretende[n] und bis zu seinem Tode über ihn wachende[n], ihn am Leben haltende[n] Schutzgottheit«273 ist für die Entwicklung des modernen Geniebegriffs von großer Bedeutung. Ein weiterer Entwicklungsschritt besteht darin, dass der genius nicht mehr nur als vergöttlichte Persönlichkeit verstanden, sondern ihm aktive Einflussnahme auf Charakter und Verhalten seines Schützlings zugesprochen wird. Horaz illustriert diesen Einfluss am Beispiel zweier Brüder, von denen der eine das süße Leben, der andere, trotz Reichtums, harte Arbeit vorziehe; warum das so ist,

269

270

271 272

273

Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1926, Hildesheim 1972, S. 9 – 11. Maharam (1998), Sp. 915. Das Verhältnis von ingenium zu genius ist zunächst einmal von einem fundamentalen Gegensatz geprägt: »Gegenüber der Faszination für die bestenfalls zu erhoffende, aber unerklärlich bleibende Intervention des Genius halten die Autoren, die vom ingenium sprechen, sich eher an das, was der Mensch selber kann« [Ortland (2000 – 2005), S. 669]. Dennoch nähert sich der Begriff genius zumindest hinsichtlich der Bezugnahme auf die ›angeborenen Eigenschaften des Einzelnen‹ dem des ingenium an: »Entscheiden für die Attraktion, die der Topos [des Genius, CB] auf das neuzeitliche Bewußtsein ausübte, ist nicht allein das Faszinosum der Produktion, sondern insbesondere die Apotheose der individuellen Eigenart« [ibid., S. 667]. »[B]elieve in a Genius lasted at least seven centuries, from the earliest literally references by Plautus in the third century b. c. to its condemnation in the Codex Theodosianus of a. d. 392. And the earlier Italian worship of the figure, as recorded in burial art and shrines, extends backward by several centuries, in addition. Clearly its form and meaning must have changed over this long span of time« [Jane Chance Nitzsche: The Genius Figure in Antiquity and the Middle Ages, 3. Aufl., New York 1975, S. 3]. Kunckel (1974), S. 12. »The introduction of Greek polymorphism into Italian culture […] in the second century b.c. […] influenced Roman religion and helped, in particular, to broaden the scope of the genius. The original Italian deities were anthropomorphized; a system of gods permeated the universe. The genius loci grew specialized: it became a genius urbis and a tutelary spirit of legions, schools, colonies; it was attributed to the Senate, the plebs, granaries, storehouses, market places, treasuries, even to a particular tax. The gods, especially Jupiter, were allotted genii« [Nitzsche (1975), S. 13]. Ortland (2000 – 2005), S. 666.

Römischer genius und griechischer daimon

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[d]as weiß nur der Genius, der mit uns lebt, der unsrer Geburtsstunde Gestirn regiert,274 das Göttliche im Menschen, das mit ihm dem Tod verfällt, im Ausdruck wechselnd bei jedem Einzelwesen: bald voll Ernst, bald heiter.275

Der Genius ist also sowohl göttlich als auch sterblich,276 er nimmt Einfluss auf das individuelle Schicksal und ist für jeden Menschen verschieden, wobei sich dieser Umstand nicht auf bloß Äußerliches […] erstreckt, sondern vor allem auf die ethische Dimension. Das polare Paar ›albus et ater‹ verweist aber auch darauf, daß im Genius alle Möglichkeiten menschlichen Verhaltens beschlossen liegen.277

Im Gegensatz zu Schmidt-Dengler, der die Entwicklung vom antiken genius zum modernen Genie als den »Verlust der mythologischen Dimension«278 auffasst und das Genie als einen missverstandenen Restbestand des Genius-Mythologems betrachtet, geht die vorliegende Arbeit von der Annahme aus, dass der römische genius als eine der antiken Wurzeln des modernen Geniebegriffs anzusehen und dieser nur als Produkt einer historischen Entwicklung erklärbar ist, im Zuge derer das Konzept des genius nicht nur Aspekte seiner Bedeutung einbüßt, sondern auch hinzugewinnt.279 Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang die Verschmelzung mit dem griechischen daimon, der sich, trotz aller Ähnlichkeit,280 in einem zentralen Punkt vom römischen genius unterscheidet: Während dieser prinzipiell jedem Menschen zugesprochen wurde, 274 Ebenfalls neu im Konzept des genius, aber in diesem Zusammenhang nicht relevant, ist die Heranziehung astrologischer Gedanken. Ihr Einfluss ist noch in der frappierenden Entsprechung der Horaz-Stelle mit der ersten Strophe von Goethes Urworte. Orphisch spürbar, die nicht zufällig mit DAILYM überschrieben ist. 275 Horaz, Epistulae 2, 2, 187 – 189: »scit Genius, natale comes qui temperat astrum, / naturae deus humanae mortalis, in unum / quodque caput voltu mutabilis, albus et ater« [Die Werke des Horaz werden zitiert nach Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Hans Färber, München 1979]. 276 Diese Mittelstellung des genius entspricht der griechischen Vorstellung vom daimon. Kunckel weist auf eine abweichende Vorstellung hin, nach der der genius »auch nach dem Tode seines Patrons weiterleben« könne [Kunckel (1974), S. 12]. Diese Variante der geniusVorstellung bietet ebenfalls einen Anknüpfungspunkt für das Konzept des griechischen daimon, der nach Platon auch als Psychopompos fungiert: »Denn man sagt ja, daß jeden Gestorbenen sein Dämon, der ihn schon lebend zu besorgen hatte, […] an einen Ort zu führen sucht von wo aus mehrere zusammen, nachdem sie gerichtet sind, in die Unterwelt gehen« (Phaidon 107d). Die Werke Platons werden zitiert nach Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 2001. 277 Schmidt-Dengler (1978), S. 26. – Zur Bedeutung des Genius in der Gegenwart vgl. Giorgio Agamben: Genius, in: Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt am Main 2006, S. 7 – 17, hier : S. 8. 278 Schmidt-Dengler (1978), S. 257. 279 Vgl. Gerth (1960), S. 118. 280 Zilsel bringt dieses Verhältnis in seiner eingängigen, wenn auch etwas saloppen Art auf einen Begriff, indem er bemerkt, der daimon sei »gewissermaßen ein Vetter des römischen Genius« [Zilsel (1972), S. 12].

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I

ist der daimon – vor allem in seiner berühmtesten Ausprägung, dem sokratischen daimonion – ganz ausgesprochen die »Sondermitgift eines ausgezeichneten Einzelnen«,281 wodurch das Moment der Auszeichnung, das in der Bedeutung des Wortes ingenium bereits enthalten ist, eine entscheidende Betonung erfährt. In den Dialogen Platons wird zwischen zwei Formen des daimon unterschieden:282 »[I]t was a cosmic messenger of the gods, and it was also the highest form of the soul, that housed at the top of the human body.«283 Es ist die Vorstellung des daimon, der als Bote und Vermittler zwischen Göttern und Menschen fungiert und auch seinem Wesen nach eine kosmische Mittelstellung einnimmt,284 die in diesem Zusammenhang von größerem Interesse ist. Die zentrale Belegstelle findet sich im Symposion: Diotima erläutert Sokrates, es sei die Aufgabe der daimones, [z]u verdolmetschen und zu überbringen den Göttern, was von den Menschen, und den Menschen, was von den Göttern kommt […]. Und durch dies Dämonische geht auch alle Weissagung und die Kunst der Priester […]. Denn Gott verkehrt nicht mit den Menschen; sondern aller Umgang und Gespräch der Götter mit den Menschen geschieht durch dieses, sowohl im Wachen als im Schlaf (Symposion 202e-203a).

Verbunden mit der platonischen Vorstellung des daimon ist das Konzept der Inspiration. Wenn es die Aufgabe des daimon ist, »to transmit the knowledge with which they are gifted by the gods, the stars, and Jove, or by man, to the appropriate recipient«,285 dann wird dieser, der Priester oder Wahrsager, damit göttlichen Wissens teilhaftig. Dieses Wissen, aber auch der Umstand selbst, dass er durch seinen daimon mit den Göttern zu kommunizieren weiß, erhebt ihn über gewöhnliche Sterbliche: »Wer sich nun hierauf versteht, der ist ein dämonischer Mann, wer aber nur auf andere Dinge oder irgend auf Künste und Handarbeiten, der ist ein gemeiner« (Symposion 203a). Die paradigmatische Verkörperung dieses Typus ist Sokrates: »Later ages saw in Socrates an example of the daimonic man, an extraordinary being who embodies in himself that 281 Ibid. 282 Die Folgen einer fehlenden Unterscheidung zwischen den beiden Formen des daimon demonstriert Brög in seinen knappen Ausführungen zu den antiken Grundlagen des modernen Geniebegriffs, vgl. Hans Brög: Zum Geniebegriff. Quellen, Marginalien, Probleme, Ratingen 1973, S. 15. 283 Nitzsche (1975), S. 30. Der daimon als edelster Teil der Seele findet sich im Timaios 89e-90a: »Die maßgebendste Form von Seele bei uns müssen wir uns aber folgendermaßen denken, daß nämlich Gott sie jedem als einen Schutzgeist verliehen hat; von ihr behaupten wir, daß sie im obersten Teil unseres Körpers wohnt und uns von der Erde zu unserer Verwandtschaft im Himmel erhebt«. 284 Der daimon ist »neither mortal nor immortal, but sharing attributes of both gods and men« [Nitzsche (1975), S. 35]. 285 Ibid.

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mysterious power which is traditionally attributed to divinity.«286 In der Apologia lässt Platon Sokrates zur Begründung seiner Zurückhaltung in Dingen der polis auf sein daimonion verweisen: Hiervon ist nun die Ursache […], daß mir etwas Göttliches und Dämonisches widerfährt […], eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will, zugeredet aber hat sie mir nie (Apologia 31 c-d).

Plutarch versteht Sokrates’ innere Stimme als »the unspoken communication of a daimon«287 und schreibt ihr einen weit umfassenderen Einfluss auf dessen Leben zu als nur die Warnung vor unklugen Entscheidungen: »[He] suggests that Socrates’ oracular daemon (genius in the Latin) […] was a vision lighting his way to the exploration of difficult matters beyond most men.«288 Doch sind es nicht erst die vom daimon gewährten Einsichten, die Sokrates zu einem außergewöhnlichen Individuum machen: Such prophetic messages were transmitted from the gods to many men, but only an individual like Socrates, with a mind free of distracting and tumultuous passion, could fully comprehend the daemonic instruction. His pure mind allowed the soundless utterance of the genius to reach him via revelation: they communicated mentally.289

Da Sokrates nur dank seiner außergewöhnlichen Persönlichkeit und seiner besonderen geistigen Eigenschaften in der Lage ist, die Botschaft seines daimon wahrzunehmen und zu verstehen, kommen in der Vorstellung des sokratischen daimonion verschiedene bereits analysierte Aspekte zusammen: Die Grundlage bildet die platonische Vorstellung vom daimon als Vermittler zwischen Göttern und Menschen; er verhilft Sokrates zu Einsichten, die das normale menschliche Verständnis übersteigen. Zugleich bilden dessen außergewöhnliche geistigen und charakterlichen Fähigkeiten – sein ingenium – die Voraussetzung dafür, die 286 Murray (1989b), S. 27. Murray nimmt auf die Bedeutung des sokratischen daimonion für den modernen Geniebegriff bezug, indem sie fortfährt: »The irrational nature of his [Sokrates’] experience combined with its uniqueness provided at last one eighteenth-century thinker with the starting point from which to develop a new concept of genius which would challenge the rationality of the Enlightenment« [ibid., S. 27 f.]. Bei dem ungenannten ›Denker‹ handelt es sich um Johann Georg Hamann mit seinem 1759 erschienenen Werk Sokratische Denkwürdigkeiten. 287 Ibid., S. 27; vgl. Plutarch: De Genio Socratis 588e: »What reached him […] was not spoken language but the unuttered words of a daemon making voiceless contact with his intelligence by their sense alone« [Übersetzung zitiert nach Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes, Vol. 7, hrsg. von Phillip H. DeLacey, Cambridge 1994]. 288 Nitzsche (1975), S. 35; vgl. Plutarch: De Genio Socratis 588d-e: »Socrates […] had an understanding which, being pure and free from passion […], was so sensitive and delicate as to respond at once to what reached him.« 289 Nitzsche (1975), S. 35 f.; vgl. Plutarch: De Genio Socratis 24: »[T]he messages of daemons pass through all other men, but find an echo in those only whose character is untroubled and soul unruffled, the very men in fact we call holy and daemonic.«

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies I

Stimme seines daimon deutlich zu vernehmen und seinen Ratschlägen gemäß zu handeln. Und nachdem der griechische daimon und der römische genius zu nahezu synonymen Begriffen geworden sind,290 kann auch die Rolle des Überbringers göttlicher Botschaften auf den genius übergehen, der so zum unmittelbaren Spender der Inspiration wird.

290 Zu den Einzelheiten dieser Entwicklung vgl. Nitzsche (1975), S. 30 – 34.

IV. Weimar, September 1816: Das klassische Genie?

Die Frage, die neben Orts- und Zeitangabe die Überschrift dieses Kapitels bildet, zielt vor allem darauf, den Widerspruch des Lesers zu provozieren, denn es ist unverkennbar, dass der fiktionale Goethe in Lotte in Weimar nicht dem Bild des ›Klassikers‹ entspricht,291 sein Genie292 sich nicht ohne weiteres mit den herkömmlichen Kategorien der Genie-Tradition beschreiben lässt: Nicht umsonst nennt Werner Frizen den Roman »eine gnadenlose Parodie auf den deutschen Genie- und Goethemythos«.293 Doch welche Vorstellungen von Genie bestimmen dann das Goethe-Bild in Lotte in Weimar? Inwiefern bezieht sich diese ›Parodie‹ auf traditionelle Genievorstellungen, welche ihrer Elemente werden übernommen, modifiziert oder verworfen, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Interpretation des Romans? Die Untersuchung beginnt mit der Frage nach den Voraussetzungen, unter denen das Genie entsteht, und den Faktoren, die diesen Prozess beeinflussen. Entsprechend wird mit Hilfe von Goethes spekulativ-intuitiver Vererbungslehre zunächst seine physische und psychische Disposition analysiert und dann un291 Bezugnehmend auf die »drei großen Goethe-Aufsätze von 1932« nennt von der Lühe Thomas Manns Goethe »einen Klassiker, dem die zentralen Attribute des Klassikers gerade fehlen« [Irmela von der Lühe: ›Lotte in Weimar‹. Thomas Manns Goethe zwischen Dichtung und Wahrheit, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 22 (2009), S. 9 – 21, hier : S. 12]. – Sofern nicht ausdrücklich auf die historische Person verwiesen wird, meint ›Goethe‹ in diesem Kapitel die fiktionale Figur des Romans Lotte in Weimar. 292 Da eine systematische Bestimmung dessen, was im Roman Lotte in Weimar als ›Genie‹ bezeichnet wird, Gegenstand und Ziel dieses Kapitels ist, muss der Begriff an dieser Stelle notwendig unscharf bleiben. Ausgegangen werden soll von der Minimaldefinition eines Menschen »von singulärer intellektueller bzw. künstlerischer Begabung« [Weimar (2007), S. 701]. Zugleich ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass die Annahme, Goethe sei in der Tat ein Genie, zunächst nicht mehr als eine Arbeitshypothese darstellt, die erst nach Abschluss dieser Untersuchung unter Rückgriff auf die im Methodenteil entwickelten Kriterien Authentizität, Autonomie und Alterität bestätigt oder verworfen werden wird. 293 Werner Frizen: Aschenputtels neue Kleider. Ein Werkstattbericht zur Neuedition von Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 79/3 (2005), S. 505 – 528, hier: S. 526.

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Weimar, September 1816: Das klassische Genie?

tersucht, welcher Produktionsstrategien er sich bedient, um angesichts dieser problematischen Voraussetzungen überhaupt schöpferisch tätig sein zu können. Anschließend wird anhand der grundlegenden Kategorien Originalität und Inspiration Goethes Verhältnis zu den Genievorstellungen des Sturm und Drang illustriert, bevor der Versuch Friedrich Wilhelm Riemers dargestellt wird, mittels seiner eigenen Genie-Theologie die Gründe für die Ausnahmestellung seines »Meisters« (GKFA 9.1, 80) zu erhellen. Anschließend wird die Frage untersucht, in welchen Kategorien Goethe selbst seine exzeptionelle Existenz begreift; besonders bedeutsam sind in diesem Zusammenhang die Vorstellungen ›universelle Ubiquität‹ und ›geistverstärkte Lebenserneuerung‹, die das eigentlichen Zentrum des in Lotte in Weimar entfalteten Geniekonzepts bilden. Es folgt eine Untersuchung des Verhältnisses von Genie und Welt, also der Konsequenzen, die sich aus Goethes persönlicher Größe ergeben. Zur Beantwortung der Frage, ob der »große Mann […] ein öffentliches Unglück« (GKFA 9.1, 411) ist, wird die Stellung Goethes in der Weimarer Gesellschaft und das Verhältnis ihrer Mitglieder zu ihm analysiert: Sind sie der Wirkung des ›großen Mannes‹ hilflos ausgesetzt, oder tragen sie selbst dazu bei, »Opfer [s]einer Größe« (GKFA 9.1, 444) zu werden?294 In einem letzten Schritt werden die Konsequenzen aufgezeigt, die sich für Goethe selbst aus seiner gesellschaftlichen Dominanz ergeben: Napoleon und Schiller, die er als ebenbürtige Gegenüber anerkannt hatte, sind tot oder verbannt, und so bleibt ihm nur das ›innere Exil‹. Am Ende des Kapitels steht der Versuch, die Frage zu beantworten, die alle anderen Fragen in sich vereint: Wie lässt sich das Genie-Konzept beschreiben, das in Lotte in Weimar entwickelt wird?

1.

»Wie ein Genie sich bildet«

In seinem großen Essay Goethe und Tolstoi von 1925 bestimmt Thomas Mann die Liebe der »Götterlieblinge« (GKFA 15.1, 821) zu sich selbst als das naiv-aristokratische Interesse an dem Mysterium hoher Bevorurteilung [sic!], substantieller Vornehmheit, gefährlicher Auszeichnung, als deren Träger sie sich fühlen, [als] die Lust, aus geheimster Erfahrung zu bekunden, wie ein Genie sich bildet (GKFA 15.1, 822).295 294 Den Topos des ›großen Mannes‹ in Thomas Manns Essays untersucht Dirk Werle: Große Männer. Zur Entfaltung einer Topik in Thomas Manns essayistischen Schriften, in: Börnchen, Stefan; Liebrand, Claudia (Hrsg): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München 2008, S. 243 – 265. Angesichts der zeithistorischen Umstände im Erscheinungsjahr 1939 kommt diesem Themenkomplex eine dezidiert politische Bedeutung zu, die in dieser Arbeit jedoch nur angedeutet werden soll. 295 Wenn hier und im Folgenden Thomas Manns einschlägige Essays zur Argumentation

»Wie ein Genie sich bildet«

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Im Roman Lotte in Weimar wird dieses Interesse zur »insistenteste[n] Neugier nach […] den weitläufig-verschlungenen Wegen und Dunkel-Laborationen der Natur« (GKFA 9.1, 321), zu einem »inständig autobiographische[n] Betreiben« (ibid.) Goethes, das der Frage gilt, »wie ein Genie sich bildet« (ibid.). Es umfasst dabei nicht nur »die Neugier […] nach dem Stoff des Werdens, dem Sein« (ibid.), sondern auch nach den Ermöglichungsbedingungen dieses Entstehungsprozesses: Goethes Interesse gilt der Doppelfrage nach Stoff und Form, nach Sein und Werden, wobei das ›Sein‹ die physische und psychische Dimension der Existenz umfasst, die für Goethe untrennbar aufeinander bezogen sind.296 Die doppelte Frage lautet also: (1) Wie ist der Stoff beschaffen, aus dem Goethe gebildet ist und sich gebildet hat? Und (2) Wie verläuft der Prozess, der den ›großen Mann‹ hervorbringt, als der Goethe im Roman erscheint? Unter produktiv-künstlerischem Gesichtspunkt gefragt: Welches sind die Bedingungen, die Goethes kreatives Schaffen und damit seine Existenz als Künstler ermöglichen? Entsprechend dieser doppelten Fragestellung wird im Folgenden zunächst dargestellt, wie Goethe selbst mit Hilfe einer spekulativ-intuitiven Vererbungslehre seine physische und psychische Disposition analysiert; diese Befunde werden ergänzt und vervollständigt durch Beobachtungen und Anmerkungen Augusts, dem die Nähe zu seinem Vater »Einblicke in die psycho-physische Fragilität des Genies gewährt« (GKFA 9.2, 428). Ausgehend von den gewonnenen Befunden werden anschließend die Produktionsstrategien des Künstlers Goethe untersucht, und beide Aspekte gemeinsam erlauben eine Antwort auf die Frage nach den Bedingungen von Goethes kreativem Schaffen und dem Preis, den er und die Menschen seiner Umgebung dafür zu zahlen haben. herangezogen werden, geschieht dies in dem Bewusstsein, dass sich das Goethe-Bild des Romans erheblich von dem der verschiedenen essayistischen Äußerungen unterscheiden kann, eine Übertragung also nur nach kritischer Prüfung zulässig ist. Die Folgen allzu leichtfertiger Gleichsetzung der verschiedenen Goethe-Bilder demonstriert Kraske, wenn er davon spricht, der Goethe des Romans sei gekennzeichnet durch »Maßhalten und Toleranz, die aus Milde komm[e]« [Bernd M. Kraske: Von der unio mystica mit dem Vater. Der Goethe-Roman ›Lotte in Weimar‹, in: Kraske, Bernd M. (Hrsg): Nachdenken über Thomas Mann. Sechs Vorträge, Glinde 1997, S. 103 – 131, hier: S. 120]. Diese Charakterisierung trifft zwar auf das Goethe-Bild der Rede Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters zu, nicht aber auf die Romanfigur, von der Riemer ausdrücklich feststellt, ihre Konzillianz habe »mit Milde nichts zu tun, sondern [laufe] vielmehr auf eine ganz eigentümliche Kälte, einen vernichtenden Gleichmut hinaus« (GKFA 9.1, 92). 296 Diese Überzeugung zeigt sich etwa, wenn Goethe seinen Schreiber John belehrt, Seele und Leib seien »so innig auf einander bezogen und in einander verwoben, daß keine Wirkung auf das eine auszugehen vermag, ohne auch das andre segensreich oder unselig zu affizieren« (GKFA 9.1, 339). In humoristischer Brechung scheint sie außerdem in der Bemerkung auf, eine akkurate Frisur befördere das Denken: »[Z]wischen Haar und Hirn, da gibts Relationen, ein ungekämmt Hirn, was soll das taugen« (GKFA 9.1, 319).

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Weimar, September 1816: Das klassische Genie?

1.1.

Die Goethesche Vererbungslehre

Angeregt von dem Gegensatz zwischen seinem »fein-feinen Haare« (GKFA 9.1, 321) und seiner »Hand auf dem Pudermantel« (ibid.), die »kein schmal-vergeistigtes Edelpfötchen [sei], sondern breit und fest, Handwerkerhand, vermacht von Hufschmied- und Metzgergeschlechtern« (GKFA 9.1, 321 f.), wenden sich Goethes Gedanken während der Morgentoilette den eigenen Vorfahren und dem Erbe zu, das er ihnen verdankt.297 Dabei wird deutlich, dass er sich selbst als »Naturziel, R¤sum¤, Vollendung, Apotheose« (GKFA 9.1, 322) der Geschlechterfolge seiner Familie begreift, als »ein Hoch- und Letztergebnis« (ibid.), das allen vorangegangenen Generationen erst einen Sinn verleihe: Aus seiner Perspektive bilden sie nur Etappen einer Entwicklung, und vor allem aus der Formulierung, die Natur habe sich seine Hervorbringung »das Umständlichste […] kosten lassen« (ibid.), spricht die Überzeugung eines gleichsam absichtsvollen Vorgangs, unternommen zu dem einzigen Zweck, seine Existenz zu gewährleisten: Erhalten Geschlechter sich lange, so kommts, daß, ehe sie aussterben, ein Individuum erscheint, das die Eigenschaften seiner sämtlichen Ahnen in sich begreift und alle bisher vereinzelten und angedeuteten Anlagen vereinigt und vollkommen ausspricht (ibid.).

Zugleich ist Goethe sich bewusst, dass diese teleologische Beurteilung der Generationenfolge seiner Vorfahren zwangsläufig retrospektiv erfolgt und somit von seinem eigenen »gewaltige[n] Dasein« (GKFA 9.1, 197) beeinflusst ist: Aber war nun diese ganze Anzucht und Bürgerhecke, dies Sich kreuzen und gatten der Sippen durch die Jahrhunderte, […] war dies Quodlibet von Stammesblutwerk nun so sonderlich glückhaft günstig und gottbetreut? Die Welt wird’s finden, da es zu mir führt (GKFA 9.1, 322 f.).

Seine Gedanken sind zu diesem Zeitpunkt bereits von den physiologischen Charakteristika zu den psychischen Veranlagungen übergegangen, die er als Erbe seiner Ahnen versteht und die auf seelisch-geistiger Ebene den Gegensatz zwischen dem ›fein-feinen Haar‹ und der ›Handwerkerhand‹ widerspiegeln: 297 Der Kommentar weist als hauptsächliche Quelle für diese Passage Bradish aus (vgl. GKFA 9.2, 597 f.); zudem nimmt Frizen als eines der auslösenden Momente für Manns Beschäftigung mit dem Stoff der Lotte-Anekdote den »Gesamtkomplex der Pathologie des Genies [an], in den die Episode bei Theilhaber eingebettet ist« (GKFA 9.2, 11). Der Verweis bezieht sich auf Felix Aaron Theilhaber : Goethe. Sexus und Eros, Berlin 1929, S. 288 ff. – Glebe bedient sich dieser Reflexionen, um Goethe mit den Künstlerfiguren in Manns Frühwerk zu vergleichen; vgl. William V. Glebe: The ›Diseased‹ Artist Achieves a New ›Health‹. Thomas Mann’s ›Lotte in Weimar‹, in: Modern Language Quarterly 22 (1961), S. 55 – 62, hier : S. 56 f.

»Wie ein Genie sich bildet«

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Was muß an Zartheit und Tüchtigkeit, an Schwäche und Charakter, infirmit¤ und Derbheit, Wahnsinn und Vernunft, ermöglichter Unmöglichkeit sich glücklich-zufällig verbunden, durch die Jahrhunderte sich familiär herangemischt haben, damit am Ende das Talent, das Phänomen erscheine? (GKFA 9.1, 322)

Der Goethe des Romans entwickelt eine spekulativ-intuitive Vererbungslehre und »analysiert sein Erbpotential« (GKFA 9.2, 597)298 – ein Gedanke, den Thomas Mann von Bradish übernommen hat: Das zusammenfassende Betrachten der Geschlechtertafel Goethes zeigt, dass das Werden eines Genies die Folge einer durch glückliche Fügung zusammengekommenen Ahnenreihe ist. Jahrhunderte müssen Familien, vom Schicksal gelenkt, an sich arbeiten, bis einer gezeugt wird, der das himmlische Feuer in sich hat. Denn das Genie ist die glückliche Zusammenfügung der besten Erbeinheiten. Eine Synthese vieler gehobener Wesenszüge.299

Besonders aufschlussreich für das Geniekonzept in Lotte in Weimar sind die Abwandlungen, die Mann an Bradishs Einschätzung vornimmt: ›Glückliche Fügung‹ und ›lenkendes Schicksal‹ werden ersetzt durch die ›Natur‹, in deren Wirken viel Beliebigkeit und Zufall einschlägig ist; das planvolle ›An-sich-Arbeiten‹ wird zum eher zufälligen ›Heranmischen‹ gemildert, der Genie-Topos des ›himmlischen Feuers‹ fällt gänzlich weg, und es tragen auch keineswegs nur die ›besten Erbeinheiten‹ der Vorfahren zur Entstehung des Genies bei. Thomas Manns Goethe weiß, dass es »ohn einiges Entsetzen in der Freude, ohne das Ungeheuer im Halbgott nicht abgeht« (GKFA 9.1, 322): »Erst eine lange Reihe Böser oder Guter bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude der Welt hervor« (ibid.).300 298 Dass »die Vererbungslehre als spekulative, nicht als genetische oder gar rassenbiologische, Thomas Mann schon immer interessiert« hat (GKFA 9.2, 597), lässt sich an vielen Stellen seines Werkes nachweisen: Ein frühes Beispiel bildet die vom alten Johann Buddenbrook bis zu seinem Ur-Enkel Hanno stetig zunehmende Sensibilität bei abnehmender lebenspraktischer Tüchtigkeit, ein anderes Hannos von seiner Mutter Gerda ererbte Neigung zur Musik. Und auch in den anderen im Rahmen dieser Arbeit behandelten Romanen finden sich analoge Strukturen: Josephs sprichwörtliche Schönheit steht in direkter »erblicher Nachfolge seiner Mutter, die hübsch und schön gewesen« ist (GW IV, 10), während er seine exzeptionellen »Geistesgaben« (ibid.) von seinem Vater erbt; und Adrian Leverkühns Wesen und Schicksal sind nach Zeitbloms Worten in hohem Maße von der mütterlichen Musikalität wie von dem väterlichen Hang zur Spekulation bestimmt. 299 Joseph A. von Bradish: Goethe als Erbe seiner Ahnen, Berlin/New York 1933, S. 7; zitiert nach GKFA 9.2, 598. 300 Goethe zitiert hier verdeckt aus Iphigenie auf Tauris (vgl. GKFA 9.2, 598): »Denn es erzeugt nicht gleich / Ein Haus den Halbgott, noch das Ungeheuer. / Erst eine Reihe Böser oder Guter / Bringt endlich das Entsetzen, bringt die Freude / Der Welt hervor« (HA 5, S. 17). Allerdings liegt in Lotte in Weimar gegenüber dem Drama eine merkliche Akzentverschiebung vor: Während Iphigenies Familiengeschichte um Tantalos und die Atriden die Interpretation nahe legt, nur ›eine Reihe Böser‹ könne das Entsetzen und ›eine Reihe Guter‹

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Nach diesen allgemeinen Überlegungen wendet sich Goethe dem Einfluss einzelner Vorfahren zu: »Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann […] und hatte einen Bruder, der klärlich verrückt war und in Verblödung starb – wie schließlich auch der Vater« (GKFA 9.1, 325). Es sind also keineswegs die ›besten Erbeinheiten‹, die »der morose, berufsuntätge Halbnarr, der Eigenbrötler und lastende Pedant« (GKFA 9.1, 324) seinem Sohn vermacht hat, und trotzdem bekennt Goethe sich zu ihrem charakterbildendem Einfluss:301 Du hast viel von ihm, Statur und manches Gehaben, die Sammel-Lust, die Förmlichkeit und Polypragmosyne, – verklärtest seine Pedanterie. Je älter du wirst, je mehr tritt der gespenstische Alte in dir hervor, und du erkennst ihn, bekennst dich zu ihm, bist mit Bewußtsein und trotziger Treue wieder er, das Vater-Vorbild, das wir ehren (ibid.).302

Anhand des väterlichen Erbteils reflektiert er darüber, wie in ihm »Anlagen, gefährlichste, durch Charakterkräfte, die man woanders hernahm, überwunden, genutzt, verklärt, versittlicht wurden, zum Guten und Großen gewendet und gezwungen« (GKFA 9.1, 323). Die Mischung aus ›Narrheit‹ und ›Pedanterie‹, die seinen Vater zum »dekrepiten Tyrannen« (GKFA 9.1, 324) werden ließ, ist im Sohn zur Grundlage und Vorbedingung künstlerischen Schaffens geworden:303 [I]st aber hinlänglicher Wahnsinn übrig in mir, als Untergrund des Glanzes, und hätt ich das Aufrechterhalten in Ordnung nicht ererbt, die Kunst sorgfältiger Schonung, eines ganzen Systems von Schutzvorrichtungen – wo wär ich! (GKFA 9.1, 325)304

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die Freude der Welt hervorbringen, wird eine solche Trennung im Roman gerade nicht vorgenommen, sondern nur ›Böse und Gute‹ gemeinsam können ein Individuum hervorbringen, das die Anlagen sowohl zum Halbgott wie zum Ungeheuer in sich trägt. Darmaun fasst Goethes Verhältnis zu seinen Vorfahren allzu pejorativ, wenn er formuliert: »Er selbst, das Genie, muß zugeben, daß er aus dem Schlamm weniger begabter Ahnen stammt« [Jacques Darmaun: ›Lotte in Weimar‹. Leiden an Deutschland oder Unbehagen in der Kultur, in: Wellnitz, Philippe (Hrsg): Thomas Mann. Lotte in Weimar. Künstler im Exil – L’Artiste et son Exil, Strasbourg 1998, S. 179 – 212, hier : S. 204]. Schon hier zeigt sich eine Andeutung des Wandelns in den Spuren der Väter, das in Joseph und seine Brüder zum bestimmenden Prinzip der fiktionalen Welt wird. – »Polypragmosyne] (griech.) Vielgeschäftigkeit« (GKFA 9.2, 605). In Goethe und Tolstoi verallgemeinert Mann diese Konstellation zu einer generellen »Pathologie des Genies« (GKFA 9.2, 11): »Auch das naturgesegnetste Genie ist niemals im Sinne des Philisters natürlich, d. h. gesund, normal und nach der Regel. Da bleibt im Physischen immer viel Zartes und Irritables, zu Krise und Krankheit Geneigtes, im Psychischen immer viel den Durchschnitt Befremdendes, ihn unheimlich Berührendes, dem Psychopathischen Nahes« (GKFA 15.1, 900). Die Formulierung ›Wahnsinn als Untergrund des Glanzes‹ führt in den Kontext der Melancholietheorie, und in den selben Zusammenhang gehören die oft zitierten Verse Goethes: »Zart Gedicht, wie Regenbogen, / Wird nur auf dunklen Grund gezogen; / Darum behagt dem Dichtergenie / Das Element der Melancholie« (AG I, 429). Zugleich kann die Betonung von Ordnung und Selbstdisziplin als Voraussetzung künstlerischen Schaffens einen erster Hinweis auf eine Distanzierung von der traditionellen Vorstellung des ›inspirierten Genies‹ angesehen werden. – Da das Gedicht in der Hamburger Ausgabe nicht enthalten ist, wird es zitiert nach Johann Wolfgang von Goethe: Sämtliche Werke. Unver-

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An dieser Stelle zeigt sich die zentrale Bedeutung des Gleichgewichts der Gegensätze. Wahnsinn und Ordnung, durch Ordnung gebändigter Wahnsinn bilden die Voraussetzung für Goethes künstlerisches Schaffen: »Goethe’s achievements in life and art seem wrested from these adverse conditions, so that life and art appear precariously balanced.«305 Fehlen die bändigenden Schutzvorrichtungen, besteht die Gefahr ausartender Irrationalität, die nicht nur für die künstlerische Produktion, sondern auch für das Leben negative Folgen haben kann. Seine Erinnerung an einen Mann namens »von Sonnenberg, den sie den Cimbrier nannten« (GKFA 9.1, 325),306 und der eben diesen Fall repräsentiert, schließt Goethe mit der lakonischen Bemerkung: »Schließlich stürzt das Genie sich aus dem Fenster« (ibid.). Allerdings bildet das Vatererbe, das fragile Gleichgewicht von Wahnsinn und Ordnung, naturgemäß nur einen Teil der erblichen Einflüsse. Die mütterliche Seite trägt lichtere Elemente zu Goethes Persönlichkeit bei, obgleich auch hier ein zweideutiges Element einschlägig ist: Urahne war der Schönsten hold, – o ja, von fröhlich aufstutzenden Gemütes wegen, der Textor war es, meiner Mutter Vater, ein Schlemmer […] und Schürzenjäger […], aber ein Wahrträumer dabei, der Gabe der Weissagung teilhaftig. Wunderlich Gemisch! (GKFA 9.1, 325)307

An seine Feststellung, dass er Stirn und Augen »nebst Kopfgestalt und Mund und mittelmeerländischem Teint ganz einfach von Mutters Mutter habe, der selig Lindheymerin, verehelichten Textor« (GKFA 9.1, 326), schließt sich eine laudatio auf die Lindheymers an, die »das Brävst und Beste« (ibid.) in ihm seien.308

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änderter Nachdruck der Bände 1 – 17 der Artemis-Gedenkausgabe, hrsg. von Ernst Beutler unter Mitarbeit zahlreicher Fachgelehrter, Zürich 1977. Werner Frizen: ›Lotte in Weimar‹, in: Lehnert, Herbert (Hrsg): A Companion to the Works of Thomas Mann, Rochester, 2004a, S. 181 – 202, hier : S. 196. Die Anmerkungen zu von Sonnenberg im Kommentar enthalten ein ausführliches Zitat aus Dichtung und Wahrheit; vgl. GKFA 9.2, 607 f. Der Kommentar (vgl. GKFA 9.2, 564) verweist auf Goethes berühmte Verse aus den Sprüchen, doch zitiert er nur die ersten vier Zeilen, während gerade das Übrige im vorliegenden Kontext aufschlussreich ist: »Vom Vater hab’ ich die Statur, / Des Lebens ernstes Führen, / Vom Mütterchen die Frohnatur / Und Lust zu fabulieren. / Urahnherr war der Schönsten hold, / Das spukt so hin und wieder, / Urahnfrau liebte Schmuck und Gold, / Das zuckt wohl durch die Glieder. / Sind nun die Elemente nicht / Aus dem Komplex zu trennen, / Was ist denn an dem ganzen Wicht / Original zu nennen?« (HA 1, S. 320). – Wie im Fall der Übernahmen von Bradish werden klassische Genie-Topoi bewusst vermieden: Die ›Gabe der Weissagung‹ und die ›Wahrträume‹ werden dezidiert nicht auf Goethe übertragen, was als ein Hinweis darauf gelesen werden kann, dass sein Genie mit herkömmlichen Kategorien wie ›Inspiration‹ nicht adäquat zu bezeichnen ist. Das erinnert an die ›besten Erbeinheiten‹ und ›gehobenen Wesenszüge‹, von denen Bradish spricht; an die »Charakterkräfte, die man woanders hernahm« (GKFA 9.1, 323), um mit ihrer Hilfe die ›gefährlichsten Anlagen‹, den »Wahnsinn […] als Untergrund des Glanzes« (GKFA 9.1, 325) zum Guten und Großen zu läutern.

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Warum das mütterliche Erbe der ›Urahnfrau‹ für Goethes Sein und Schaffen so eminent wichtig ist, spricht er selbst aus, als er die »Originalitätsgrimasse der genialen Schule« (GKFA 9.1, 334) kritisiert und verwirft: Ich verachte sie unsäglich, weil ich das Produktive will, das Weibheit und Mannheit auf einmal, ein empfangendes Zeugen, persönliche Hochbestimmbarkeit. Nicht umsonst seh ich dem wackren Weibe ähnlich. Ich bin die braune Lindheymerin in Mannsgestalt, bin Schoß und Samen, die androgyne Kunst (GKFA 9.1, 334).309

Thomas Manns Goethe entfaltet hier eine »romantische Utopie des Androgynen, in der die Aufhebung der Geschlechterpolarität […] Emblem des Schöpferischen ist« (GKFA 9.2, 629), und erscheint »als ein Mittler zwischen den dualistisch entgegengesetzten Welten, als ein Vereiner von Geist und Natur, von männlichem und weiblichem Prinzip.«310 Angesichts dieses Befundes könnte man versucht sein, diese Vereinigung der Gegensätze als Kennzeichen von Goethes Persönlichkeit und Signum seiner Größe anzusehen: Vaterwelt und Mutterwelt, germanische Volkhaftigkeit und romanische Kultur311 harmonisch vereint, wie es der »Jakobssegen der Schrift« (GKFA 9.1, 89) verspricht? Für den mütterlichen Teil des Erbes erscheint diese Einschätzung zutreffend; das Vatererbe hingegen gemahnt mit seinen pathologischen Elementen, seinen Einschlägen von Wahnsinn, die von einem pedantischen Ordnungszwang mühsam balanciert werden, eher an die Konstellation des Faustus, wobei diese beiden Aspekte nicht als gleichwertig anzusehen sind: Zwar besteht sowohl das Vater- wie das Muttererbe jeweils aus gegensätzlichen Elementen, doch während sich die mütterlichen Einflüsse in Goethe 309 Einen knappen Überblick über das Motiv der Androgynie bei Thomas Mann bietet Klaus Peter Luft: Erscheinungsformen des Androgynen bei Thomas Mann, New York 1998, S. 1 – 4. Während etwa Joseph oder Felix Krull sich für eine Analyse unter dem Androgynie-Gesichtspunkt geradezu aufdrängen, hat dieser Aspekt in Lotte in Weimar bisher kaum Beachtung gefunden. Eine Ausnahme bildet der Aufsatz von Julia Schöll: Geschlecht und Politik in Thomas Manns Exilroman ›Lotte in Weimar‹, in: Schöll, Julia (Hrsg): Gender – Exil – Schreiben, Würzburg 2002, S. 165 – 182; vgl. außerdem Jelka Keiler : Geschlechterproblematik und Androgynie in Thomas Manns Joseph-Romanen, Frankfurt am Main 1999, besonders 34 – 47. 310 Schöll (2002), S. 169. Androgynie ist ein zentrales Motiv in Manns biblischer Tetralogie, allerdings mit dem maßgeblichen Unterschied, dass Joseph erst wahrhaft zum ›Mittler‹ wird, nachdem er seinen Anspruch aufgegeben hat, »beide Geschlechtsmächte in sich« (GW IV, 875) zu vereinigen; vgl. unten S. 359 f. und 415 ff. 311 Den Lindheymers und ihrer Herkunft nah »dem römischen Grenzwall […], wo antikes und Barbarenblut von je« (GKFA 9.1, 326) zusammengeflossen sei, verdankt Goethe nach eigenem Urteil »die Distanz vom Deutschen, den Blick für seine Gemeinheit« (ibid.). Diese Kombination hat zur Folge, dass er das »[e]rbreich-traulich-heidnisch[e] Naturelement« (GKFA 9.1, 286) des ›Barbarenbluts‹ »nach [s]eines Geistes Form und Siegel […] in Klarheit und Anmut und Ironie« (GKFA 9.1, 327) kultiviert. Zu den politischen Implikationen von Goethes Abstammung vgl. Schöll (2002), S. 171.

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zu einer mannweiblichen Synthese androgyner Schöpferkraft emporsteigern, bilden die vom Vater ererbten Eigenschaften kein harmonisches Ganzes, sondern ein prekäres und immer gefährdetes Gleichgewicht. Diese widerstreitenden Einflüsse in sich zu vereinen und fruchtbar zu machen, ist die Aufgabe, der Goethe sich gegenübersieht.312 Schon Blume verweist darauf, dass sich Goethes Größe vor allem an der Bewältigung dieser Aufgabe ablesen lasse: Ricarda Huch bestimmt einmal das Maß der Größe nach dem Umfang der Widersprüche, die ein Mensch in sich vereinen könne; Gegensätzlichkeit, Polarität der Anlage, verbunden mit der Fähigkeit zur Synthese, hat auch Thomas Mann als innere Struktur des Schöpferisch-Lebendigen kennengelernt, und unter diesem Zeichen nähert er sich der bedeutenden Erscheinung.313

1.2.

Krankheit, Tod und metaphysische Schuld

Bevor die Frage untersucht werden kann, wie Goethe seine Lebensaufgabe bewältigt und welcher Mittel er sich bedient, das ›Kunststück‹314 des Ausgleichs zu vollbringen, müssen noch weitere Aspekte seiner körperlich-seelischen Disposition erläutert werden, die in diesem Zusammenhang von Bedeutung sind: Die Anfälligkeit für Krankheiten und seine Scheu vor dem Tod. Dabei ist unschwer zu erkennen, dass Goethe, »dieser zwar dauerhafte, aber stets kränkliche und längst an unverbrüchlich-unentbehrliche Gewohnheiten gebundene Mann« (GKFA 9.1, 188), auch seinen Hang zur Kränklichkeit vom Vater geerbt hat, der ein »quärulierende[r] Hypochondrist« (GKFA, 9.1, 324) war, dem »jeder Luftzug die mühsame Ordnung störte« (ibid.). Im Roman ist es vor allem August von Goethe, der diese Seite seines Vaters beleuchtet. Er spricht nicht nur von der »Blatterrose«, dem »Krampfhusten«, der »Nervenschwäche« und dem »Brustfieber mit Krämpfen« (alle GKFA 9.1, 231), die Goethe »an den Rand des Grabes« (GKFA 9.1, 162) gebracht hätten, sondern auch von einer langwierigen »kränkliche[n] Genesung« (GKFA 9.1, 231) und von »Perioden, wo es ohne greifbares Detriment doch immer auf Spitze und Knopf 312 In der »Ambivalenz aus Leiden und Größe, aus Krankheit und Genie, Kunst und Bürgerlichkeit« [von der Lühe (2009), S. 13] sieht von der Lühe einen maßgeblichen Grund dafür, dass Goethe »für Thomas Manns intensive literarische und essayistische Auseinandersetzung mit Genie und Meisterschaft […] zur zentralen Figur« wird [ibid.]. Vgl. außerdem Morten Dyssel Mortensen: Humanität als universelle Ubiquität. Zu Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Text und Kontext 26 (2004), S. 7 – 41. 313 Bernhard Blume: Thomas Mann und Goethe, Bern 1949, S. 98. Das Zitat von Ricarda Huch konnte nicht ermittelt werden. 314 In Goethe und die Demokratie formuliert Mann, unter Verweis auf die Verse aus den Zahmen Xenien: »Man hat dieses Leben ein Kunstwerk genannt, man sollte es ein Kunststück nennen« (GKFA 19.1, 612).

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mit ihm« (GKFA 9.1, 233) gestanden habe. »Aus der intimen Kenntnis des Sohnes heraus werden Einblicke in die psycho-physische Fragilität des Genies gewährt« (GKFA 9.2, 428), in Goethes »empfindliche[s] System, das alles Düstere und Verstörende zu meiden genötigt ist« (GKFA 9.1, 232), und in dem August die Ursache für seines Vaters Scheu vor dem Tod erkennt: Es ist […] eine gefährdete Freundschaft, die er unterhält mit dem Leben, und das macht es wohl, daß er sich gegen makabre Bilder, Agonie und Grablegung so sorglich entschieden abschließt (GKFA 9.1, 233).

August verweist zudem auf seines Vaters frühe Begegnung mit dem Tod, indem er Charlotte fragt: »Sie wissen, daß vier Geschwister von ihm im Säuglingsalter gestorben sind?« (GKFA 9.1, 232).315 Zwar erklärt Goethe selbst dieses Schicksal mit dem großen Altersunterschied zwischen den Eltern (vgl. GKFA 9.1, 324), doch konstatiert er angesichts der zahlreichen divergenten Elemente, die seine Persönlichkeit bilden: »Wunderlich Gemisch! Wahrscheinlich mußt ich all meine Geschwister töten, damits in mir ansprechend-genehmere Formen annahm, weltgewinnende« (GKFA 9.1, 325). Er stellt damit einen Kausalzusammenhang her zwischen dem Tod seiner Geschwister und seiner eigenen Fähigkeit, die widerstreitenden Einflüsse seines Vater- und Muttererbes in jener Balance zu halten, die das Ergebnis ›weltgewinnend‹ macht. Die »lebensgesegnete und weltwillkommene Form seelischer Inkorrektheit« (GW X, 759), als die Thomas Mann das Künstlertum einmal definiert, stellt sich hier als ein Zustand des erzwungenen Ausgleichs dar, als ein Willensakt, der nur mittels ›geraubter‹ Kraft geleistet werden kann: Ich lebe an eurer Statt, auf eure Kosten, wälze den Stein für fünfe. Bin ich so egoistisch, so lebenshungrig, daß ich mördrisch an mich zog, wovon ihr hättet leben können? (GKFA 9.1, 324)

315 Goethes Schwester Cornelia, das einzige Geschwister, das »zu seinem Unheil […] die frühesten Tage überlebte« (GKFA 9.1, 324), ist als »[s]ein weiblich Neben-Ich« (GKFA 9.1, 323) konstruiert: Ihr »Gattenekel« (ibid.) – »[g]emeint ist der Ekel vor dem Gatten (gen. obj.), nicht Cornelias Gatte Johann Georg Schlosser selbst (gen. subj.)« (GKFA 9.2, 602) – ist »das physische Gegenstück zu [s]einer Eheflucht« (GKFA 9.1, 323 f.); und dem Umstand, dass sie »zum Weibe nicht geschaffen« (GKFA 9.1, 323) ist, korrespondiert »der weibliche Einschlag beim Bruder« (GKFA 9.2, 602). Die Deutung Frizens, diese Konstellation erlaube es Thomas Mann, »die Bruder-Schwester Symbiose als wechselseitig androgynes Bild zu gestalten« (ibid.), überzeugt jedoch nicht: Zum einen gibt es keine Anzeichen einer Symbiose, d. h. einer Beziehung zu gegenseitigem Nutzen, und überdies steht der fruchtbaren und geistig produktiven Androgynie Goethes im Falle seiner Schwester eine Vermännlichung gegenüber, die ihr nur Leid bringt: »Indefinibles Wesen, bitter-fremd auf Erden, sich selbst nicht und keinem verständlich […], im ersten unnatürlichen, verhaßten Kindbett wunderlich verdorben und gestorben« (GKFA 9.1, 324); vgl. GKFA 9.2, 602 f.

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Der Preis für die »metaphysische[] Habsucht« (GKFA 19.1, 308) des fiktionalen Goethe ist eine ebenso metaphysische Schuld: »Es gibt tiefere, verborgenere Schuld, als die wir wissentlich empirisch auf uns laden« (GKFA 9.1, 324). Dieser düstere Untergrund seines Genies, der Erbteil seines Vaters und die potentiell verhängnisvolle Wirkung seiner Gegenwart,316 rücken ihn in die Nähe Adrian Leverkühns, womit, wie in Goethe und Tolstoi, auch im literarischen Werk der Gegensatz zwischen den gesunden »Naturkindern« (GKFA 15.1, 871) und den kranken »Söhnen des Geistes« (ibid.) unterlaufen wird: Goethes Eingeständnis einer ›metaphysischen Schuld‹ am Tod der Geschwister, und die Bemerkung, er habe »nie von einem Verbrechen gehört, daß [er] nicht hätte begehen können« (GKFA 9.1, 353), erinnern an Leverkühns Selbstanklagen beim Tode Echos sowie an das Diktum des Teufels, der Künstler sei »der Bruder des Verbrechers und des Verrückten« (GKFA 10.1, 345). Und Serenus Zeitbloms Definition, Genialität resultiere aus einem »selten geglückten und gewiß immer prekären Gleichgewicht von Vitalität und Infirmität(GKFA 10.1, 421), ist auf Goethe ebenso anwendbar wie auf den ›deutschen Tonsetzer‹ von Kaisersaschern.317 Wenn Manns Goethe dann noch ausführt, dass die Natur »nicht einmal von Krankheit und Gesundheit viel [wisse] und aus dem Kranken Freude und Belebung schaff[e]« (GKFA 9.1, 322),318 und schließlich sogar erkennt, dass »von der Seite der Krankheit her die kühnsten Vorstöße ins Dunkel des Lebendigen zu vollbringen sein« (GKFA 9.1, 330 f.) möchten,319 kann kein Zweifel mehr daran bestehen, 316 Die hier angedeutete Möglichkeit, er hätte seinen Geschwistern die Lebenskraft geraubt, bildet einen ersten Hinweis auf die Aura des Dämonisch-Verhängnisvollen, die den ›Schmarutzer‹ Goethe umgibt: Wie seine Geschwister, so fallen auch seine Geliebten und die Mitglieder der Weimarer Gesellschaft in seiner Nähe der Verkümmerung anheim: »Das Dämonische, das in Lotte in Weimar verhandelt wird, kann sich zwar nicht mit der Apokalypse messen, die der Doktor Faustus behandelt. Schatten, die der Aufhellung und Aufheiterung bedürfen, liegen aber auch über […] Goethe« [Claudia Liebrand: Im Kabinett der Spiegel. Masken und Signifikantenspiele, Memoria und Genre in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Börnchen, Stefan; Liebrand, Claudia (Hrsg): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München 2008, S. 267 – 298, hier : S. 285]. 317 Mann hat auch diese Bestimmung in einem Essay verallgemeinert: In Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters postuliert er, mit der »Verbindung von Sensibilität und Zähigkeit [sei] in der Tat die besondere Vitalität des Genies ein für allemal bestimmt« (GW IX, 322). 318 Vgl. die Äußerung des Teufels: »Das Leben ist nicht heikel, und von Moral weiß es einen Dreck. Es ergreift das kühne Krankheitserzeugnis, verspeist, verdaut es, und wie es sich seiner nur annimmt, so ist’s Gesundheit« (GKFA 10.1, 354). 319 Den Vorwurf einer anachronistischen »overdose of Freudian morbidity« [Brief Thomas Manns an Gustav Mueller vom 26. 12. 1944, zitiert nach Mann (1996), S. 75], den Gustav Mueller in Bezug auf die »Darstellung der sozusagen biologischen Entstehung eines Genies« [ibid.] in Lotte in Weimar erhebt, weist Thomas Mann zurück: »[D]as eigentlich Psychologische habe ich wissentlich vermieden, wenigstens soweit nicht analytische Elemente in Goethe selbst vorhanden waren, wie ja auch schon in Schopenhauer, Nietzsche, Dostojewski und anderen. Es gab viel Freudianismus lange vor Freud« [ibid.].

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dass einer der zentralen Motivkomplexe des Doktor Faustus, Krankheit und Genie, bereits in der Goethe-Figur in Lotte in Weimar angelegt ist.320 Diese Befunde machen deutlich, dass alles, was man gemeinhin an Vorstellungen von Harmonie, glücklicher Ausgewogenheit und Klassizität mit Goethes Namen verbinde[t], nichts leichthin Gegebenes, sondern eine gewaltige Leistung (GKFA 19.1, 611)

darstellt. Der fiktionale Goethe in Lotte in Weimar schafft nicht »heiter und quallos« (GKFA 2.1, 426), wie Manns Schiller in Schwere Stunde argwöhnt, und verfügt auch nicht über jene schlafwandlerische Sicherheit, die der historische Schiller dem naiven Genie zuschreibt.321 Thomas Manns Goethe »trotzt Leben und Werk seinen Neurosen ab« (GKFA 9.2, 483), er ist ein Balance-Kunststück genauer Not, knapp ausgewogener Glücksfall der Natur, ein Messertanz von Schwierigkeit und Liebe zur Fazilität, ein Nur-gerade-möglich, das gleich auch noch Genie – mag sein, Genie ist immer ein Nur-eben-möglich (GKFA 9.1, 323).322

In dieser Selbstcharakterisierung zeigt sich noch einmal in aller Deutlichkeit, wie weit das Genie der literarischen Figur von allen Genie-Vorstellungen des Sturm und Drang und der Klassik entfernt ist, wie nah hingegen modernen Konzepten von Kunst und Künstlertum: Dieser Goethe sieht sich mit der »unauflösbare[n] Ambivalenz der modernen Künstlerexistenz«323 konfrontiert, er 320 In einem der wenigen Aufsätze, die sich ausdrücklich mit dem Phänomen der Krankheit in Lotte in Weimar befassen, postuliert Glebe einen Gegensatz zwischen der ›Krankheit des Künstlers‹ und der natürlichen Lebensnähe des Genies. Auch er sieht Goethe als eine Figur der Synthese: »Goethe is ›diseased‹, because he is […] an artist; but he is also ›healthy‹ – in contrast to Mann’s previous artists – because of the ›natural‹ source and quality of his genius, because he is ›naturgesegnet.‹ It is this combination which […] enabled Goethe to achieve such artistic greatness without having to lose contact with live« [Glebe (1961), S. 56]. Obgleich sein Interesse nicht dem Genie gilt, sondern dem Vergleich Goethes mit den Künstlerfiguren in Manns Frühwerk, nimmt Glebe einige der hier gewonnenen Erkenntnisse vorweg. 321 Vgl. Schiller V, 704 f. Die Werke Schillers werden unter Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Friedrich Schiller : Sämtliche Werke in fünf Bänden. Dünndruck-Ausgabe, hrsg. von Herbert G. Göpfert, Peter-Andr¤ Alt, München 2004. 322 »Auch mit dieser berühmten Selbstcharakteristik betreibt der Roman-Goethe Mimikry ; denn eigentlich ist Hafis gemeint. Dem persischen Dichter eignet jedoch in Harmonie […], was seinem Gegenstück im Roman ein Nur-eben-möglich ist« (GKFA 9.2, 600). In dieser abgewandelten ›Mimikry‹ zeigt sich, dass Goethes mütterliches Erbe zwar eine Verbindung zu Joseph herstellt, der väterliche Einfluss aber zweifellos überwiegt: Nicht Harmonie zeichnet ihn aus, sondern die »Messerschmerzen der kleinen Seejungfrau« (GKFA 10.1, 343), die das Signum des modernen Künstlers darstellen. Ein entscheidender Unterschied zwischen Goethe und dem ›deutschen Tonsetzer‹ drückt sich in dem Vers aus den Zahmen Xenien aus: »Machs Einer nach und breche nicht den Hals« (GKFA 9.1, 323). Goethe ist dieses »Kunststück« (GKFA 19.1, 612) gelungen – Adrian Leverkühn nicht. 323 von der Lühe (2009), S. 13.

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liebt die Fazilität, aber er hat sie nicht: Die um die Welt werbende moderne Kunst tanzt auf Messern – wie die kleine Seejungfrau, die […] bei Thomas Mann gleichsam zu einem Symbol für den Künstler der Moderne und seine Leiden an der Kunst erhoben wird (GKFA 9.2, 600).

1.3.

Verrat des Lebens an die Kunst

Vor dem Hintergrund dieser ebenso komplizierten wie fragilen psychischen Disposition stellt sich die Frage, wie Goethe überhaupt in der Lage ist, seine Werke zu schaffen: Welcher Mittel und Strategien bedient er sich, um Leben und Werk ›seinen Neurosen abzutrotzen‹? Den ersten Hinweis auf eine Antwort liefert die Behauptung Augusts, für seinen Vater sei »all Werk und Leben […] ein Produkt der Entsagung« (GKFA 9.1, 251). Doch ist das Motiv der Entsagung nur der augenfälligste Aspekt eines ganzen Komplexes, der den gesamten Roman durchzieht und den Kern Goethescher Produktionsstrategie bildet: Der Verrat des Lebens an die Kunst. In engem Zusammenhang mit dem Thema der Entsagung steht Goethes Bindungsunfähigkeit, deren bedeutsamstes Beispiel das Dreiecksverhältnis zwischen dem jungen Goethe, Charlotte Buff und Hans Christian Kestner darstellt.324 In diesem ist Goethe »der von außen gekommene Dritte« (GKFA 9.1, 37), der sich »in anderer Leute Verlobtheit vernarrt, sich niederläßt auf anderer Lebensschöpfung und naschhaft von fremder Zubereitung profitiert« (GKFA 9.1, 116), indem er »in ein gemachtes Nest das Kukuksei seines Gefühles legt« (GKFA 9.1, 115). In ihrem Gespräch mit Riemer bezeichnet Charlotte dieses Verhalten mit einem »grassen Wort« (GKFA 9.1, 119) als »Schmarutzertum« (GKFA 9.1, 117), weil sie erkannt hat, dass Goethes Verliebtheit nicht primär ihr als Person, sondern den Verhältnissen selbst gegolten hatte, ihrem Verlöbnis mit Kestner und den »wohl bereiteten Lebensumständen« (GKFA 9.1, 109): »Auch war er garnicht verliebt in mich vorderhand […], sondern er war verliebt in unsere Verlobtheit und unser wartendes Glück« (GKFA 9.1, 110). Die Begriffe 324 Eine weitere Facette des Themenkomplexes ›Bindungsunfähigkeit‹, auf die an dieser Stelle jedoch nur verwiesen werden soll, ist Goethes Distanz zu Mutter, Familie und Heimatstadt. Riemer bemerkt, Goethe habe seine Blutsverwandten, »nach den Begriffen üblicher Pietät gesprochen, allzeit sträflich vernachlässigt« (GKFA 9.1, 102); gleiches gelte für seine Heimatstadt. Durch das Christuswort aus Joh. 2, 4: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?« (GKFA 9.1, 104) wird erneut die Verbindung zu Adrian Leverkühn unterstrichen, auf den Zeitblom das Wort ebenfalls anwendet (vgl. GKFA 10.1, 733). Diese Chiffre für die »Emanzipation des Genies aus den Schranken, aber auch aus der Wärme und Geborgenheit der mütterlichen Herkunft […] weist voraus auf die tragischen Dimensionen des GenieMythos, auf Vereinsamung und Verlassenheit des seine Epoche repräsentierenden schöpferischen Menschen im Doktor Faustus« (GKFA 9.2, 312).

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›Kukuksei‹ und ›Schmarutzertum‹ weisen darauf hin, dass sie dem ›Dritten‹ trotz seines unbestrittenen »Vorrang[s] und höheren natürlichen Glanz[es]« (GKFA 9.1, 37) nicht recht traut, weshalb sie sich auch nicht für ihn, sondern für Kestner entscheidet, »den schlicht Ebenbürtigen, den ihr Bestimmten und Zukommenden« (GKFA 9.1, 38). Sie trifft diese Wahl auf der Grundlage eines tiefgefühlten Schreckens vor dem Geheimnis im Wesen des Anderen, – vor etwas Unwirklichem und Lebensunzuverlässigem in seiner Natur, das sie nicht zu nennen gewußt und gewagt hätte und für das sie erst später ein klagend-selbstanklägerisches Wort gefunden hatte: ›Der Unmensch ohne Zweck und Ruh‹ (ibid.).325

Charlotte beweist ein feines Gespür für das genialisch-unzuverlässige Wesen des ›Dritten‹, für die Gefahr, die von ihm ausgeht, und die sie in der Bezeichnung ›Schmarutzer‹ ausdrückt. Denn der junge Goethe, wie er im Roman in ihrer Erinnerung geschildert wird, ist zu bürgerlicher Treue nicht fähig. Er ist der treuherzige und aufrichtige, aber auch wieder treulose und in irdischem Sinn unzuverlässige Vagabund des Gefühls, der eben Friederike Brion verraten und verlassen [hat], weil er vor der bindenden Heirat zurückgeschreckt ist (GW IX, 644 f.).

Der Verweis auf Friederike, die »Kleine da unter ihrem Hügel« (GKFA 9.1, 250), wie Charlotte sie despektierlich-herablassend nennt, illustriert exemplarisch die Gefahren einer Bindung an den ›emotionalen Parasiten‹ Goethe: Selbstaufgabe, Verkümmerung und ein früher Tod.326 Und es wird deutlich, dass sein Verhalten gegenüber Charlotte kein singulärer Vorfall, sondern Teil eines Musters ist: Die m¤nage ” trois in Wetzlar, gekennzeichnet durch die von vornherein aussichtslose »Liebe zu einer Braut« (GKFA 9.1, 116), ist eine Variation der gescheiterten Zweierbeziehung von Sesenheim, und Goethes Flucht vor der Verbindung mit Friederike Brion bildet eine der Urszenen in seinem Leben.327 Die Erinnerung an diese erste Trennung aus eigenem Entschluss328 wird für ihn zur 325 »Wie es im Goethe-Biographismus gang und gäbe war, überträgt Charlotte Fausts Selbstanklage auf dessen Autor, obwohl die Situation nur in dem einen analog ist, dass der ›Flüchtling‹ ihren ›Frieden […] untergraben‹ hat« (GKFA 9.2, 227); vgl. Faust I, V. 3348 f. 326 Lehnert bemerkt: »Lottes Entscheidung für ihren Bürger Kestner und gegen den dämonischen Goethe enthält […] beinahe etwas Vorbildliches. Sie ist nicht ›verkümmert‹ wie Friederike Brion. Die Berührung mit dem Großen hat ihre bürgerlich-nüchterne Solidität angerührt, aber nicht umgeworfen« [Herbert Lehnert: Repräsentation und Zweifel. Thomas Manns Exilwerke und der deutsche Kulturbürger, in: Durzak, Manfred (Hrsg): Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945, Stuttgart 1973, S. 398 – 417, hier: S. 403]. 327 August fasst diese ›Urszene‹ in ein Bild, »wie der Abreitende dem Mädchen, das ihn von ganzer Seele liebt, und von dem sein Dämon ihm nun die grausame Trennung gebietet, […] noch vom Pferde herab die Hand reicht und ihre Augen voll Tränen stehen« (GKFA 9.1, 249). 328 Die Tatsache, dass Goethe im Falle Friederikes als Handelnder auftritt, ist relevant, weil dadurch der Aspekt der Schuld in den Motivkomplex mit einbezogen wird. Im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit schreibt er : »Gretchen hatte man mir genommen, Annette mich verlassen, hier war ich zum erstenmal schuldig; ich hatte das schönste Herz in seinem

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fixen Idee, die immer sich wiederholen will […]; ihr Gegenstand […] ist das Anfängliche, Entscheidende, Schicksalbestimmende, es wird […] zum Generalmotiv und Prägemuster des Lebens und alles weitere Verzichten, Entsagen und Resignieren ist nur Folge davon, wiederholende Erinnerung daran (GKFA 9.1, 249).

Aus dieser prägenden Erfahrung erklärt sich Goethes Unzuverlässigkeit in Liebesdingen, und sie ist auch der Grund dafür, dass er nach Charlottes Zeugnis die Ungebundenheit Dorothea Brandts »als einen Vorzug erachtete […], den er nicht brauchen konnte« (GKFA 9.1, 122): Goethe sucht die Beziehung zu gebundenen Frauen wie Charlotte Kestner, Maximiliane Brentano oder Marianne Willemer, weil auf diese Weise die bürgerliche Sanktionierung des Verhältnisses, an der er kein Interesse hat, von vornherein ausgeschlossen ist.329 Welche Bedeutung aber hat Goethes Verhalten in Liebesdingen für die Frage nach seinen Produktionsstrategien und dem Verrat des Lebens an die Kunst? Die Verbindung zwischen Leben und Werk wird wiederum hergestellt von August, der darauf verweist, dass Werk und Leben des Dichters […] so weitgehend eins [seien], daß man genau genommen nur eines zu nennen brauch[e] und von dem Werke als seinem Leben, von dem Leben aber als seinem Werke sprechen könn[e] (GKFA 9.1, 248 f.).

Diese Einheit von Leben und Werk zeigt sich exemplarisch in einer Äußerung Charlottes in ihrem »geisterhafte[n] Zwiegespräch«330 mit Goethe. Sie spricht von Friederike als von der Ersten, »bei der die Entsagung gegründet ward […]: der Tochter des Volks, der du im Abreiten die Hand reichtest vom Pferde herab« (GKFA 9.1, 441 f.). Die Entsagung ist ein Grundzug des Lebens, aber die Urszene, die das Muster begründet, wird unter Rückgriff auf Dichtung und Wahrheit geschildert331 und mit einer Anspielung auf Egmont illustriert,332 so dass die Tiefsten verwundet, und so war die Epoche einer düsteren Reue […] höchst peinlich, ja unerträglich« (HA 9, S. 520). 329 In diesen ›Reigen‹ gehören auch Ottilie von Pogwisch, die für Goethe schlicht »eine Lilli« (GKFA 9.1, 323) ist, und sogar Ulrike von Levetzow, in deren Fall nicht eine bereits bestehende Bindung, sondern der Altersunterschied von 57 Jahren eine Beziehung unmöglich macht. Obwohl sie im Roman nicht vorkommt, da Goethe sie erst 1821 kennenlernt, lässt auch sie sich im Sinne seiner Produktionsstrategie als ›Mittel zur Kunst‹ verstehen, wenn Sprecher fragt: »Hat er [Goethe, CB], bewußt oder unbewußt, die Abweisung und schon die Liebe provoziert, um zu jungen, starken, herrlich unbedingten Gefühlen zu kommen, als notwendige Grundlage literarischer Produktion?« [Thomas Sprecher : Alterliebe als Entwürdigung und Grösse [sic!]. Thomas Mann in Marienbad, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 22 (2009), S. 23 – 44, hier: S. 25]. 330 Brief Thomas Manns an Karl Loewenstein vom 15. 9. 1940, zitiert nach Mann (1996), S. 63. Dass Goethe nicht als reale Person in der Kutsche sitzt, ist in der Forschung seit Cassirers Studie von 1945 allgemein akzeptiert; vgl. Ernst Cassirer : Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über ›Lotte in Weimar‹, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Thomas Mann, Darmstadt 1975, S. 1 – 34, hier : S. 31. 331 In Dichtung und Wahrheit schreibt der historische Goethe über seinen Abschied von

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Grenze zwischen Leben und Kunst verschwimmt. Goethe selbst spricht Charlotte gegenüber von dem Geheimnis der ›großen Einheit‹ von »Welt, Leben, Person und Werk« (GKFA 9.1, 444), und seinem Sohn, der ihn bei der Arbeit am Paria-Gedicht unterbricht, erwidert er auf die Frage, ob er an der »Lebensgeschichte« (GKFA 9.1, 356) arbeite: »Nicht akkurat. Lebensgeschichte ist’s immer« (ibid.). Diese enge Verknüpfung von Leben und Werk verbürgt die Authentizität von Goethes Werken und kann damit als eines der Merkmale angesehen werden, die ihn als Genie ausweisen. Eine weitere Bemerkung Charlottes kann dazu dienen, diese Beziehung zwischen Leben und Werk genauer zu spezifizieren: In dem ›Gespräch‹ in Goethes Kutsche gesteht sie die Möglichkeit ein, dass bei der Entstehung des Werther »die unterm Hügel vielleicht mit im Spiele war, daß bei ihr die Gründung lieg[e], und daß sie [ihm] möglicherweise das Herz erst erschlossen [habe] für Werthers Liebe« (GKFA 9.1, 442). Sie verweist damit auf die Bedeutung dieser Liebesbeziehung für die Entstehung des Werther ; auf einen Zusammenhang, der Goethes ganzes Leben durchzieht. »Friederike ist die erste in einer Reihe verschiedener Frauen, die offenbar immer dieselbe inspirierende Rolle in Goethes Leben gespielt haben«,333 und alle großen Werke sind mit inspirierenden Frauengestalten verknüpft: die Leiden des jungen Werthers mit Charlotte Buff und Maximilane Brentano, die Iphigenie mit Charlotte von Stein,334 die Wahlverwandtschaften mit Minna Herzlieb,335 der Divan mit Marianne Willemer ; und

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Friederike Brion: »Als ich ihr die Hand noch vom Pferde reichte, standen ihr die Tränen in den Augen, und mir war sehr übel zu Mute« (HA 9, S. 500). Eine weitere »Ursituation im Liebesleben des Helden, in welcher der Roman ihn immer wieder antrifft« (GKFA 9.2, 435), und in der Leben, autobiographisches und fiktionales Werk miteinander verquickt sind, besteht in der Konstellation »Egmont und die Tochter des Volkes« (GKFA 9.1, 440): »Egmont, der sich dem guten Klärchen im spanischen Hofkleide zeigt, – nichts charakteristischer für die goethe’sche Liebes-Wunschwelt als diese Szene« (GW IX, 615). – Zum Egmont-Motiv vgl. auch Frizen (1998), S. 184, Anm. 22 sowie den dortigen Verweis auf Hinrich Siefken: Thomas Mann. Goethe ›Ideal der Deutschheit‹. Wiederholte Spiegelungen 1893 – 1949, München 1981, S. 232. Theo Kramer: Thomas Mann. ›Lotte in Weimar‹, in: Enklaar, Jattie; Ester, Hans (Hrsg): Von Goethe war die Rede …, Amsterdam 1999, S. 21 – 38, hier: S. 34. Charlotte von Stein wird im Roman nur beiläufig erwähnt (vgl. GKFA 9.1, 368); die Verknüpfung mit Iphigenie auf Tauris ist textintern nicht herzustellen. August führt Minna Herzlieb ein als »die Pflegetochter der Frommanns, bei denen der Vater zu Jena viel aus- und einging zur Zeit, als er an den ›Wahlverwandtschaften‹ schrieb« (GKFA 9.1, 241). Eine Bemerkung Goethes deutet die amourös-inspirierende Natur ihrer Beziehung an: »Weißt du die Fahrt von Frankfurt nach Heidelberg, wo du ihm [Boisar¤e, CB] von Ottilie sprachst bei erscheinenden Sternen, wie du sie lieb gehabt und um sie gelitten« (GKFA 9.1, 315). Die befremdete Reaktion des Reisegefährten ist verständlich, verwischt Goethe doch die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion, indem er seine Gefühle für die reale Person Minna Herzlieb auf die literarische Figur Ottilie überträgt. Zu den historischen Verhältnissen vgl. GKFA 9.2, 443.

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wollte man über den im Roman geschilderten Zeitraum hinausgehen, könnte man außerdem die Marienbader Elegie und Ulrike von Levetzow anführen.336 Betrachtet man diesen ›Reigen‹, so fällt auf, dass die aufgezählten Beziehungen zwar künstlerisch fruchtbar, aber nicht im herkömmlichen Sinne ›glücklich‹ sind, was als ein weiterer Bestandteil des Gesamtkomplexes ›Lebensverrat‹ angesehen werden kann: [W]o er liebte, so, daß hohe Dichtung daraus wurde […], endete regelmäßig der Roman mit Entsagung. Er hat weder Lotte, noch Friederike, noch Lili, noch die Herzlieb, noch Marianne, noch endlich Ulrike, noch auch jemals Frau von Stein besessen. […] Meistens floh er (GKFA 15.1, 881).

Als Zwischenergebnis lässt sich somit festhalten, dass sich der ›emotionale Parasit‹ Goethe in Thomas Manns Roman von seinen Liebesbeziehungen zur Schaffung seiner Werke anregen lässt, wobei nur ein Scheitern der tatsächlichen Beziehung einen gelungenen kreativen Akt zu ermöglichen scheint. Vor diesem Hintergrund können Verzicht und Entsagung sowie Schuld als Voraussetzungen für schöpferische Produktivität angesehen werden: Der fiktive Goethe in Lotte in Weimar ist groß durch menschliche Unzuverlässigkeit, unfähig zur Treue, weil er seine Liebe ins Werk umsetzt, sie in künstlerischer Form der Welt anbietet, was ihn unfähig macht, gegenseitige, partnerschaftliche, Gemeinschaft stiftende Liebe durchzuhalten.337

Vom konkreten Kontext der Liebesbeziehungen abstrahiert, zeigt sich hier das in Thomas Manns Werken bekannte Muster des Künstlers im Spannungsfeld zwischen Kunst und Leben. Damit ist die Argumentation an einer Stelle angelangt, die es erlaubt, die bisher nur behauptete Bedeutung des ›Lebensverrats‹ als These zu formulieren: Thomas Manns Goethe vermag die Spannung seiner von inneren Gegensätzen, von Schuld und Entsagung bestimmten Existenz nur kreativ fruchtbar zu machen, indem er sich an seinen Mitmenschen emotional bereichert, die gewonnenen Eindrücke zum Werk formt und so Leben, Welt und Menschen an die Kunst verrät. Charlotte prägt einen Begriff, der das Lebens336 Auch Lili Schönemann gehört mit in den ›Reigen‹, wird aber von Charlotte nicht für voll genommen, da »bei dem Verhältnis nicht gar viel herausgekommen [sei]. Einige Lieder, aber kein weltbewegendes Werk« (GKFA 9.1, 247). Herbert Kraft weist auf die Implikationen dieser Bemerkung hin: Wenn Charlotte den ›Wert‹ ihrer Rivalin nur nach dem Ausmaß der künstlerischen Anregung beurteilt, die Goethe aus ihrer Beziehung gezogen habe, und die an dem Rang des entstandenen Werkes abzulesen sei, übernehme sie damit genau die Bewertungskategorien, gegen die sie sich mit ihrer Weigerung, sich gänzlich auf ›Werthers Lotte‹ reduzieren zu lassen, zur Wehr zu setzen versuche; vgl. Herbert Kraft: Goethe 1939. Thomas Manns Roman ›Lotte in Weimar‹, in: Gockel, Heinz; Neumann, Michael; Wimmer, Ruprecht (Hrsg): Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, Frankfurt am Main 1993, S. 310 – 323, hier : S. 314. 337 Lehnert (1987), S. 44.

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Motiv der Entsagung auf die Ebene der Kunst transponiert: Ihr Leben lang habe sie über Goethes »Dichter-Genügsamkeit«338 (GKFA 9.1, 101) nachgegrübelt, über »die Genügsamkeit mit Schattenbildern, die Genügsamkeit der Poesie, die Genügsamkeit des Kusses, aus dem […] keine Kinder« (GKFA 9.1, 107) würden. Anhand des Kuss- und des Silhouetten-Motivs soll nun das Verhältnis von Kunst und Leben sowie der Standpunkt Goethes innerhalb dieser Konstellation exemplarisch dargestellt werden. Charlottes Assoziation des Kusses mit der Poesie vollzieht sich unter Bezugnahme auf eine von Riemer referierte Äußerung Goethes: »Ein Gedicht […] ist eigentlich garnichts. Ein Gedicht […] ist wie ein Kuß, den man der Welt gibt. Aber aus Küssen werden keine Kinder« (GKFA 9.1, 96). Diese Charakterisierung macht den Kuss zu einem Signum der Kunst als Gegensphäre des Lebens, denn, wie Goethe ausführt, »die Fülle des Lebens, der Menschheit, das Kindermachen ist nicht Sache der Poesie, des geistigen Kusses auf die Himbeerlippen der Welt« (GKFA 9.1, 316): »The kiss is purest art, for it represents the passion and beauty of art without ist burdens and responsibilities.«339 Der Zusammenhang von ›Kuss‹ und ›Kunst‹ wird erneut zum Thema in der Anekdote von dem jungen Mann, der den Abdruck eines Kusses auf dem Bild der Charitas hinterlässt. Charlotte reagiert mit heftiger Verlegenheit (vgl. GKFA 9.1, 419),340 weil sie diese »saucy little anecdote«341 auf sich selbst bezieht und eine 338 Die scheinbare Harmlosigkeit dieses Ausdrucks könnte über seine Bedeutsamkeit hinwegtäuschen, doch »[d]ie Synonyme für diese Genügsamkeit lauten […] zwiespältiger : ›Kuckucksei‹ und ›Schmarutzertum‹ « [Eckhard Heftrich: ›Lotte in Weimar‹, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Thomas-Mann-Handbuch, 3., aktualisierte Aufl., Frankfurt am Main 2005a, S. 423 – 446, hier: S. 435]. 339 Keith Dickson: The Technique of a ›musikalisch-ideeler Beziehungskomplex‹ in ›Lotte in Weimar‹, in: Modern Language Review 59 (1964), S. 413 – 424, hier : S. 416. – Die Gleichsetzung von ›Kuss‹ und ›Kunst‹ geht so weit, dass die Beschreibungen beider Begriffe nahezu austauschbar werden: Den Kuss bestimmt Goethe als »Poesie der Liebe, Siegel der Inbrunst, sinnlich-platonisch, Mitte des Sakraments zwischen geistlichem Anfang und sinnlichem End« (GKFA 9.1, 315); und die Kunst sei deshalb einzigartig und reizvoll, »weil sie geistig und sinnlich auf einmal, oder, platonisch zu reden, göttlich und sichtbar zugleich sei und gleichsam durch die Sinne für das Geistige werbe« (GKFA 9.1, 420). 340 Zu den verschiedenen Deutungen von Charlottes heftiger Reaktion vgl. Siefken (1981), S. 240; Reinhard Baumgart: Joseph in Weimar – Lotte in Ägypten, in: Thomas-MannJahrbuch 4 (1991), S. 75 – 88, hier : S. 83; Volkmar Hansen: Wie vergeht Zeit? Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Wellnitz, Philippe (Hrsg): Thomas Mann. Lotte in Weimar. Künstler im Exil – L’Artiste et son Exil, Strasbourg 1998, S. 247 – 265, hier : S. 259; Holger Rudolff: Die Leiden des jungen August. Bilderphantasien von Liebesverzicht und Entsagung in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Wellnitz, Philippe (Hrsg): Thomas Mann. Lotte in Weimar. Künstler im Exil – L’Artiste et son Exil, Strasbourg 1998, S. 107 – 128, hier : S. 117 – 119 und Holger Rudolff: Wer hat das Bild der Charitas geküßt? Die ›heiter-criminologische Angelegenheit‹ in Thomas Manns Roman ›Lotte in Weimar‹, in: Wirkendes Wort 53 (2003), S. 59 – 83. Hervorzuheben ist die überzeugende Analyse von Keith Dickson, der das KussMotiv mit dem Geruch nach Himbeeren verknüpft und damit die Verbindung zwischen

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Verbindung herstellt zu dem Kuss, den der junge Goethe ihr einst »beim Himbeersammeln in der Sonne« (GKFA 9.1, 34) gegeben hatte, und der ihr schon damals als »ein wirrer und sinnloser, ein unerlaubter, unzuverlässiger und wie aus einer anderen Welt kommender Kuß« (GKFA 9.1, 35) erschienen war. In beiden Fällen handelt es sich um einen »kiss of poetry«,342 »totally unconcerned with realities«,343 und Charlotte errötet, weil sie begreift, dass auch der junge Goethe nicht sie meinte, als er sie küsste,344 sondern seine Verliebtheit »im Grunde werdende Dichtung« (GW IX, 646) gewesen ist, sie selbst aber, wie alle Frauen nach ihr, nur »Mittel zum Zweck« (GKFA 9.1, 256). Schon damals hatte sie geahnt, dass es sich bei Goethes Verliebtheit »um eine Art von Spiel handelte, auf das gar kein menschlich Bauen war, um etwas wie ein Herzensmittel zu außerwirklichen – […] zu außermenschlichen Zwecken« (GKFA 9.1, 118), und mehr als vierzig Jahre später wird ihr dieser Argwohn indirekt bestätigt. Der Leser hingegen erhält sogar eine explizite Bestätigung, wenn Goethe seinem früheren Ich der Werther-Zeit gratuliert: Gut gemacht, talentvoller Graßaff, der schon von Kunst so viel wußt wie von Liebe und heimlich jene meint, wenn er diese betrieb, spatzenjung und schon ganz bereit, Liebe, Leben und Menschheit an die Kunst zu verraten (GKFA 9.1, 316).

Liebe, Leben und Menschheit sind für Goethe »nur Material für das ästhetische Gebilde. Die Mitmenschen sind nur Handlanger und Lieferanten interessanter Gefühle«.345 Die Konsequenzen dieser Einstellung des Dichters, »der auch seine Freunde, oder was ihm vorkommt, bloß als Papier ansieht, worauf er schreibt« (GKFA 9.1, 332),346 formuliert Mann in seiner Phantasie über Goethe: »Wo Werk

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Goethes Anekdote und Charlottes Jugenderinnerung herausarbeitet; vgl. Dickson (1964), S. 416 f. Ibid., S. 417. Ibid., S. 416. Ibid., S. 417. Rudolff kommt zu einem ähnlichen Ergebnis: Goethe »küsst das Bild einer Braut mehr als die leibliche Lotte. Eben darüber empört sich die alte Dame bei ihrem Besuch in Weimar. Die Lektüre des Werther zeigt ihr, dass sie kaum als Person gemeint war. Vielmehr entzückt den Jüngling ihr Status als Braut« [Rudolff (2003), S. 68]. Der Wert dieser an sich zutreffende Erkenntnis wird jedoch eingeschränkt durch argumentative Unstimmigkeiten: Gemäß der Analogie entspricht Charlotte dem Bild der Charitas und Goethe dem jungen Mann; Rudolff hingegen führt aus, Charlotte fände sich, »schamrot geworden, in der Position des fehlgeleiteten Liebhabers der Anekdote wieder« [ibid.]. Kurzke (1997), S. 261. Kurzke weist außerdem auf »das Motiv der Kälte des großen Mannes und sein fast asoziales Verhältnis zu seinen Mitmenschen« hin [ibid.], ein Aspekt, der im Zusammenhang der Analyse von Riemers Genie-Konzept und Goethes Verhältnis zur Gesellschaft noch ausführlich diskutiert werden wird und außerdem für die Frage nach der Alterität des Genies von Bedeutung ist. Auch Thomas Mann sah sich wiederholt mit entsprechenden Vorwürfen konfrontiert, wenn einer seiner Bekannten sich in einer literarischen Figur unvorteilhaft dargestellt glaubte, wie etwa der Dichter Arthur Holitscher in Detlev Spinell (vgl. GKFA 14.1, 103). In Bilse und

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und Leben eins sind […], da haben diejenigen das Nachsehen, die es nur mit dem Leben, dem Menschenleben ernst zu nehmen verstehen« (GKFA 19.1, 336), nicht auch mit der Kunst. Die Neigung Goethes zur Geringschätzung der Wirklichkeit wird in Lotte in Weimar durch »die Schattenbilder, die Silhouetten«347 vor Augen geführt, die Goethe »offenbar mehr schätzt[] als die Wirklichkeit«.348 Das zeigt sich etwa an seinem Verhältnis zu Charlottes Kindern, denn obwohl er »sie alle aus der Taufe« (GKFA 9.1, 99) hatte heben wollen, beschränkte er sich realiter darauf, »von ihren Schattenrissen Kenntnis zu nehmen« (GKFA 9.1, 117). Von dem Augenblick an, da das Leben in die Kunst überführt ist, »zählt die Wirklichkeit nicht mehr, sondern allein noch die Kunst, da in ihr das damals Gegenwärtige zeitlos geworden ist.«349 Wie die CharitasAnekdote deutet auch das Silhouetten-Motiv darauf hin, dass für Goethe nicht Charlotte zählt, sondern der Schattenriß, nicht die Person, sondern das Bild,350 nicht das Leben, sondern die Kunst.

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ich (1906) weist Mann die Annahme eines Abbildungsverhältnisses zwischen Werk und Wirklichkeit, die solchen Reaktionen zu Grunde liegt, als poetologisches Missverständnis zurück. Seine Argumentation fasst er in dem Satz zusammen: »Wenn ich aus einer Sache einen Satz gemacht habe – was hat die Sache noch mit dem Satz zu tun?« (GKFA 14.1, 101). Helmut Koopmann: Schattenspiele, Schattenrisse. Die Auseinandersetzung Thomas Manns mit Gerhard Hauptmann und Veränderungen im Wirklichkeitssinn des Emigranten Goethe in Weimar, in: Wellnitz, Philippe (Hrsg): Thomas Mann. Lotte in Weimar. Künstler im Exil – L’Artiste et son Exil, Strasbourg 1998, S. 21 – 46, hier : S. 37. Koopmann liest die Schattenbilder als Zeichen eines »Wirklichkeitsverlust[s], dem auch die Kunst nicht abhelfen [könne], da die von ihr geschaffene Wirklichkeit eine solche sui generis« sei [ibid.]. Er verkennt dabei, dass die Verwandlung von Leben in Kunst für Goethe ein Mittel zur »Lebenserneuerung aus dem Geist« (GKFA 9.1, 313) darstellt, während der ›Wirklichkeitsverlust‹ nur die anderen trifft: Charlotte, deren bürgerliches Leben von der »große[n] Wirklichkeit« (GKFA 9.1, 34) überschattet und »von der poetisch verfälschenden literarischen Darstellung nachträglich überformt« worden ist [FranÅoise Salvan-Renucci: Die Goethe-imitatio in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Wellnitz, Philippe (Hrsg): Thomas Mann. Lotte in Weimar. Künstler im Exil – L’Artiste et son Exil, Strasbourg 1998, S. 47 – 79, hier : S. 60], oder Friederike Brion, der es an der Resolutheit fehlt, »einen Zweck aus sich selber zu machen« (GKFA 9.1, 256), was sie ›unter den Hügel‹ bringt. Darmaun konstatiert zutreffend: »Wer der Kunst das Leben aufzuopfern bereit ist, gewinnt an Lebensintensität« [Jacques Darmaun: Wandel und Beständigkeit. Thomas Manns Bild vom ›Literaten‹, in: Cahiers d’¤tudes germanques 36/1 (1999), S. 71 – 81, hier : S. 77]. Koopmann (1998), S. 39. Ibid. Dass dies auch für das ›Geistergespräch‹ in der Kutsche gilt, weist in einer ebenso aufschlussreichen wie überzeugenden Interpretation Nutt-Kofoth nach, wodurch er das Romanende seiner scheinbar ›versöhnlichen‹ Dimension weitgehend beraubt: »Nicht Charlotte Kestners Individualität ist gemeint, der ein Wiedersehen mit Goethes Individualität in Aussicht gestellt wird, sondern allein die ›Bilder‹, die Goethe aus der individuellen Begebenheit hergestellt hat. Nicht der realen Person, sondern der als Literatur gestalteten Welt wird die Unvergänglichkeit zugeordnet« [Rüdiger Nutt-Kofoth: Charlotte Kestners Tradierungsstrategie. Zur Funktion von Erinnerung und Gedächtnis in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Plachta, Bodo; Woesler, Winfried (Hrsg): Literatur als Erinnerung. Winfried

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Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Charlottes »grasse[s] Wort« (GKFA 9.1, 119) vom ›Schmarutzertum‹ Goethes diesen weit umfassender charakterisiert als ihr selbst bewusst ist, da es nicht nur sein Verhalten als ›Dritter‹ in amourösen Verhältnissen kennzeichnet, sondern auf sein ganzes Leben zutrifft. Goethe ist ein ›Lebens-Schmarutzer‹, der Leben, Welt und Menschen an die Kunst verrät, ohne sich dabei um ihr weiteres Schicksal zu kümmern: Schon während des Erlebnisses selbst ist die »vollste, schmerzlich-hingegebene Aufrichtigkeit des Gefühls […] allezeit mit dem Zweckgedanken der Dichtung vermischt« (GW IX, 646), um die es eigentlich geht.

1.4.

Das Selbstopfer des Künstlers

Dass Goethes Verhalten nicht nur für die Frauen Konsequenzen hat, die »in seine Dichtung hineingeopfert[]«351 werden, sondern auch für ihn selbst, zeigt sich in der Einsamkeit des ›großen Mannes‹, die sowohl Voraussetzung als auch Folge seiner Lebens- und Arbeitsweise ist. Voraussetzung, weil die Umwandlung des Lebens in die Kunst nur funktionieren kann, wenn Goethe dem Leben entsagt – abstrakt formuliert: weil der ›große Dichter‹ »nur groß sein kann um den Preis der sozialen Insuffizienz.«352 Und Folge, weil ein Verhältnis zum Leben, das dieses nur als ›Material‹ zur Verfertigung von Kunst ansieht, den Künstler unweigerlich von diesem Leben ausschließt: »Aufgabe des Dichters ist die Verwandlung des Wirklichen. Damit tritt er aus dem Wirklichen heraus. Seine Rechtfertigung ist nur in der Dichtung selbst.«353 Diese Stellung des Dichters ›außerhalb‹ des Lebens bildet einen ersten Hinweis auf die Alterität des Genies. Eine weitere Konsequenz von Goethes Produktionsstrategie ist die Schuld, die er mit diesem Verhalten auf sich lädt. Sie wird im Roman zunächst exemplifiziert an der »Indiskretion des Genius, […] seiner bürgerlich schwer zu rechtfertigenden Art, mit […] Personen […] dichterisch umzuspringen« (GKFA 9.1, 66). Goethe erkennt diese Schuld an – nicht nur in dem konkreten Fall der JugendWoesler zum 65. Geburtstag, Tübingen 2004, S. 245 – 268, hier: S. 259]. Allerdings lässt sich auch diese Interpretation ins Versöhnliche wenden, wenn man annimmt, dass es für die von Goethe in dem variierten Zitat aus den Wahlverwandtschaften – »[U]nd welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn wir dereinst wieder zusammen erwachen« (GKFA 9.1, 445) – versprochene Auferstehung »nur einen denkbaren Raum gibt – den der Kunst. Und der eröffnet sich in Thomas Manns Roman« [Frizen (1998), S. 178]. Dann nämlich vollzieht sich die Wiedervereinigung sozusagen vor den Augen des Lesers; vgl. Reinhard Baumgart: Eine Fata Morgana deutscher Kultur. Über Thomas Mann. Reinhard Baumgart über ›Lotte in Weimar‹, in: Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg): Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933 – 1945, Frankfurt am Main 1990, S. 215 – 223, hier : S. 223. 351 Ibid., S. 222. 352 Lehnert (1987), S. 49. 353 Ibid., S. 46.

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freunde aus Wetzlar (vgl. GKFA 9.1, 316), sondern prinzipiell, wenn er in dem ›Geistergespräch‹ in der Kutsche354 von sich spricht als von »Eine[m], dessen Schicksal es vielleicht von jeher [gewesen sei], sich in unschuldiger Schuld zu winden« (GKFA 9.1, 441).355 Warum aber spricht Goethe von unschuldiger Schuld? Hat er nicht die Wahl, so zu handeln, wie er es tut – oder eben nicht? Er selbst gibt auf diese Frage eine aufschlussreiche Antwort: Woher nimmt man die Frechheit, sich einen Gott zu dünken […], der auch seine Freunde, oder was ihm vorkommt, bloß als Papier ansieht, worauf er schreibt? Ist es Frechheit und Hybris? Nein, es ist auferlegte und in Gottes Namen getragene Wesensform (GKFA 9.1, 331 f.).

Nach eigenem Selbstverständnis kann Goethe nicht anders handeln, als es der ihm ›auferlegten Wesensform‹ entspricht. August fasst diese Vorstellung in einen Begriff mit weitreichenden Implikationen: in den des »Dämon« (GKFA 9.1, 149), der seinen Vater lenke und ihm etwa die Trennung von Friederike Brion ›geboten‹ habe.356 Doch nicht mit der Berufung auf seinen ›Dämon‹ begegnet 354 Der ›schwankende Realitätsgrad‹ dieser Szene stellt den Interpreten vor argumentative Probleme, zumindest, wenn er von der Lühes Ansatz folgt, »im Gespräch zwischen Charlotte und Goethe spreche nur Charlottes Inneres« [Irmela von der Lühe: »Opfer einer Fascination«. Die Frauengestalten in ›Lotte in Weimar‹, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt am Main 2004, S. 89 – 104, hier: S. 92]. In diesem Fall ist es zumindest diskussionswürdig, die Äußerungen des von Charlotte imaginierten Goethe dem Goethe der fiktionalen Welt zuzuschreiben, allerdings fügen sie sich so nahtlos in die Motiv- und Verweisungsstruktur des Romans ein, dass eine solche Übertragung vertretbar erscheint. Einen interessanten Aspekt der Lesart von der Lühes hebt Michael Neumann hervor, wenn er darauf verweist, »daß es sich bei der ›Erscheinung‹ in der soeben noch leeren Kutsche […] um ein Wesen von der Art des Teufels handelt, der Adrian Leverkühn in Palestrina aufsuchen wird […]: eine imaginäre Projektion, die ihre Worte ganz aus dem Wissen der Person schöpft, mit der sie sich unterredet« [Michael Neumann: Thomas Mann. Romane, Berlin 2001, S. 141]. 355 Damit wird das Motiv des ›schuldlosen Schuldig-Werdens‹ wieder aufgenommen, das bereits im Zusammenhang mit Goethes ›metaphysischer Schuld‹ am Tod seiner Geschwister angespielt worden ist. 356 ›Dämon‹ ist ein »Schlüsselbegriff Goethes, der die schicksalsbestimmende Individualität, die charismatische Kraft der Persönlichkeit und ihre suggestiven Wirkungen bezeichnet; er unterscheidet sich von dem des Dämonischen, das als indefinible Schicksalsmacht das Natur- und Weltgeschehen bestimmt […]. Das Begriffspaar wird besonders am Ende von Dichtung und Wahrheit im Zusammenhang mit Egmonts vis attrativa, Goethes ›Flucht‹ vor Lili Schönemann und seiner Berufung nach Weimar entwickelt und gipfelt in der Sentenz: ›Nemo contra deum nisi deus ipse‹ « (GKFA 9.2, 456). Zum ›Dämon‹ vgl. außerdem die erste, mit ›DAILYM, Dämon‹ überschriebene Strophe von Urworte. Orphisch; vgl. HA 1, S. 359. – Sofern Existenz und Wirksamkeit einer solchen wesensinhärenten Determiniertheit anerkannt werden, kann angesichts der daraus sich ergebenden Einschränkung der Willens- und Handlungsfreiheit tatsächlich nur noch von ›schuldloser Schuld‹ die Rede sein.

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Goethe dem von Charlotte stellvertretend erhobenen Vorwurf, in seiner Nähe gehe es zu »wie in eines bösen Kaisers Reich« (GKFA 9.1, 444), weil er alle Menschen um sich her zu Opfern mache.357 Seine Rechtfertigung besteht vielmehr darin, dass er sich »der in seine Dichtung hineingeopferten Charlotte selbst als Opfer seiner Dichtung«358 zu erkennen gibt, wobei er das Bild der Flamme aufgreift, die der Mücke zum Verhängnis werde: Willst du denn, daß ich diese sei, worein sich der Falter begierig stürzt, bin ich im Wandel und Austausch der Dinge die brennende Kerze doch auch, die ihren Leib opfert, damit das Licht leuchte, bin ich auch wieder der trunkene Schmetterling, der der Flamme verfällt (ibid.).359

Hier zeigt sich ein dezidiert moderner Zug des fiktionalen Goethe: Thomas Mann versteht ihn »von Nietzsche her […] als einen Künstler, dessen Werk auf Kosten des Lebens«360 gehe, und ›modern‹ ist auch Goethes Reaktion auf Charlottes Vorwurf: Er antwortet mit einem »Wort ästhetischer und moralischer Autonomie. Das Opfer, das er anderen abverlangt, ist durch sein Selbstopfer […] legitimiert«,361 denn es ist sein Schicksal als Künstler, »›allzeit zu Geist und Licht‹ zu verbrennen«,362 um unter Opferung des eigenen Lebens »die Wirklichkeit der Kunst zu schaffen.«363 In diesem Sinne kann er zu Charlotte sagen: »[I]ch zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt« (GKFA 9.1, 444 f.). Goethe formuliert hier das Autonomie-Postulat des Genies und nimmt mit seiner »Verteilung der Opferrolle nach beiden Seiten hin«364 eine ebenso doppeldeutige 357 Anders als in der vorliegenden Arbeit wird im Roman nicht zwischen den Menschen unterschieden, die zu Goethes Opfern werden, weil er sie und ihr Leben zu Dichtung macht (Charlotte, Friederike, Lili), und jenen, die in den Bannkreis seiner übermächtigen Persönlichkeit geraten (Riemer, August, Ottilie). Die erste Gruppe, vorwiegend bestehend aus den Frauen des ›Reigens‹, wurde in diesem Abschnitt behandelt, die andere im Kapitel Opfer der Faszination; vgl. unten S. 152 – 165. 358 Baumgart (1990), S. 222. Vgl. zu diesem Thema außerdem Lehnert (1987), S. 46; Eckhart Kleßmann: ›Lotte in Weimar‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 4 (1991), S. 45 – 57, hier: S. 54 f. sowie Siefken, der Nietzsche zitiert: »Mit einem Talent ist man auch das Opfer seines Talents: man lebt unter dem Vampyrismus seines Talents« [Hinrich Siefken: Thomas Mann Edits Goethe. ›The permanent Goethe‹, in: Modern Language Review 77 (1982), S. 876 – 885, hier : S. 882 f.; vgl. Nietzsche III, 623]. 359 Mit dieser Erläuterung aktualisiert Goethe »einen alten kunstphilosophischen Topos, nämlich die Behauptung, das eigentliche Opfer bringe der Künstler, der für die Kunst auf Leben, Lebendigkeit und irdisches Glück verzichte« [von der Lühe (2004), S. 91]. 360 Siefken (1981), S. 231; vgl. von der Lühe (2009), S. 17 f. 361 Christian Rakow: Autorphantasie(n). Zur Kontextualisierung von Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Baßler, Moritz; Staszak, Heinz-Jürgen (Hrsg): Der Mensch ist nicht gegeben. Zur Darstellung des Subjekts in der Moderne. Für Heinz-Jürgen Staszak, Rostock 2005, S. 62 – 78, hier : S. 77. 362 Siefken (1981), S. 243. 363 Ibid. 364 Hansen (2005), S. 267.

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wie unangreifbare Position ein: Er akzeptiert seine Schuld, wie er »Gerechtigkeit und Ehrwürdigkeit« (GKFA 9.1, 441) von Charlottes »Leidenszorn« (ibid.) akzeptiert – und negiert zugleich jeden aus diesem Eingeständnis ableitbaren Anspruch auf Wiedergutmachung oder Sühne: Vor dem Hinweis auf seinen eigenen Opferstatus, dem Selbstopfer des Gottes auf dem Altar der Kunst, verlieren alle Forderungen ihre Legitimität: Die Metamorphose des persönlich Erlittenen in die Liebenswürdigkeit und Kühnheit des Werkes dank der göttlichen Gabe der Kunst – das ist die Antwort, vor der alle Vorwürfe […] verstummen.365

Die Ansprüche des Lebens an die Kunst werden allenfalls anerkannt für einen Zeitpunkt, der jenseits dieses Lebens liegt: »Wenn Sühne verlangt wird, so wird sie mit dem Tod kommen«,366 und nicht früher : Verlangt dich nach Sühne? Laß, ich sehe sie mir entgegenreiten in grauem Kleide. Dann wird wieder die Stunde Werthers und Tassos schlagen […], und daß ein Gott mir gab zu sagen, was ich leide, – nur dieses Erst und Letzte wird mir dann bleiben (GKFA 9.1, 445).

Im Leben sieht Goethe seine Schuld durch sein Opfer als abgegolten.367 Das Lebensopfer aber, das er für sein künstlerisches Schaffen erbringen muss, besteht in Entsagung, Einsamkeit und Schuld, woraus sich die Frage ergibt, in welchem Verhältnis Liebesverzicht, Isolation und unausweichliche Verstrickung 365 Siefken (1981), S. 243. Der Kommentar zitiert ein bei Theilhaber überliefertes Wort von Alexandre Dumas, das diesen Anspruch des Genies noch radikalisiert: »Aber das Genie hat seine Privilegien: es hat das Recht, zu zerstören und zu töten, unter der Bedingung, daß es die geraubte Ehre mit Ruhm und das Leben mit Unsterblichkeit bezahlt. Ist dies ein gerechtes Leben für das Opfer?« [Theilhaber (1929), S. 85, zitiert nach GKFA 9.2, 454 f.]. 366 Siefken (1981), S. 243. 367 Die Tatsache, dass das ganze ›Geistergespräch‹ in der Kutsche als Produkt von Charlottes Imagination anzusehen ist, lässt sich laut von der Lühe »als Infragestellung der Goetheschen Behauptung lesen, im Grunde sei das Genie das Opfer« [von der Lühe (2004), S. 92]. Bereits die Möglichkeit, dass »der große Goethe und seine Idee vom Genie als Opfer als Produkt von Charlottes Phantasie, als projektiver Entwurf einer Frau« [ibid.] erscheine, rücke »den Opfer-Diskurs in ein völlig anderes Licht« [ibid.]: »Der in spukhafter Irrealität vom Selbstopfer des Künstlers räsonierende Goethe ist dann von ungleich geringerer Glaubwürdigkeit als die auf der Wirklichkeit ihres Lebens insistierende Charlotte« [ibid.]. – Die Versuche, das Verhältnis von Charlotte und Goethe in dieser Szene genauer zu bestimmen, sind so vielfältig wie widersprüchlich; hier seien nur die wichtigsten Positionen exemplarisch angeführt: Salvan-Renucci nimmt, in Nachfolge Ernst Cassirers [vgl. Cassirer (1975), S. 31 f.], einen »durch den Hinweis auf die Identität von Gott und Opfer« [SalvanRenucci (1998), S. 53] ermöglichten versöhnlichen Ausgang an; und während Volkmar Hansen Charlotte »eine Art von neuer Ebenbürtigkeit« attestiert [Hansen (1998), S. 260], postuliert Christian Rakow, es gelinge ihr gerade nicht, »die Aufklärung ihrer Lebensrolle, ein Mehr an Wissen über ihren Jugendfreund« [Rakow (2005), S. 75] zu erlangen.

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in Schuld368 zur Möglichkeit kreativen Schaffens stehen. Den Ansatzpunkt einer Antwort bietet das Egmont-Motiv. Egmont ist dabei nicht nur literarisches alter ego Goethes, sondern wird von Riemer auch zur Personifikation der Poesie erklärt: Diese habe viel von dem sehr großen Herrn […], den es freut, vor dem geblendeten kleinen Mädchen aus dem Volk […] den Mantel auseinanderzuschlagen und sich ihr in der Pracht des spanischen Hofkleides zu zeigen (GKFA 9.1, 119).

Auch Narziss ist nach Riemers Worten ein Sinnbild der Poesie, denn sie neige »auf eine Weise zur Selbstbespiegelung, die [ihn] das alte, liebliche Bild des Knaben assoziieren [lasse], der sich entzückt über den Widerschein seiner eigenen Reize« (ibid.) neige. Zugleich aber ist diese narzisshafte Erotik kennzeichnend für »die Treulosigkeit und das sexuelle Defizit des Künstlers, das zum Verzicht, zur Entsagung führt – nicht im Dienst des Lebens, sondern der Kunst«,369 mit anderen Worten: kennzeichnend für Goethes Verhältnis zur Liebe und zum Leben.370 Im Zentrum dieses Motivgeflechts, das die Figur des Egmont, den NarzissMythos, Goethes Bindungsunfähigkeit und Thomas Manns Vorstellungen vom Künstler miteinander verwebt, steht der Komplex Schuld und Verführung, in den Goethes Sinnen »sich innig versenkt hat in Lust und Schrecken« (GKFA, 9.1, 353). Verführung ist für ihn die Sünde, deren wir schuldlos schuldig werden, schuldig als ihr Mittel und als ihr Opfer auch […], – es ist die Prüfung, die niemand besteht, denn sie ist süß, und als Prüfung schon selbst bleibt sie unbestanden (ibid.).

Das Werk, in dem Goethe »Verführung feiern und schaurig verkünden will« (GKFA, 9.1, 354), ist das Paria-Gedicht,371 und das zentrale Bild dieses Gedichts ist die 368 Wieder werden die Parallelen zum Schicksal Adrian Leverkühns offenbar, denn vieles von dem, was der Komponist um seiner diabolischen Inspiration willen auf sich nimmt, ist in abgeschwächter Form in Goethe vorgebildet: Goethes Entsagung spiegelt sich in der Bestimmung des Teufelspakts »Du darfst nicht lieben« (GKFA 10.1, 363); seine Distanz und Isolation in der Leverkühn umgebenden »Atmosphäre unbeschreiblicher Fremdheit und Einsamkeit« (GKFA 10.1, 596); und die Schuld, die Goethe um der Kunst willen auf sich nimmt, findet ihr radikalisiertes Pendant in Leverkühns Bereitschaft, »die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals« (GKFA 10.1, 723) zu nehmen, um den »Durchbruch […] in eine Wagniswelt neuen Gefühls« (GKFA 10.1, 468) zu erzwingen und zum »Erlöser der Kunst« (ibid.) zu werden. 369 Kramer (1999), S. 32. 370 Vgl. Marx (2002), S. 213. 371 Vgl. HA 1, S. 361 – 366; eine Paraphrase des Inhalts liefert der fiktionale Goethe selbst, vgl. GKFA 9.1, 354 f.

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krystallne[] Kugel […], die das reine Weib des Reinen täglich in heiterer Andacht nach Hause trägt, kühl-tastbares Sinnbild der Klarheit und Ungetrübtheit, der unangefochtenen Unschuld und dessen, was sie in Einfalt vermag (ibid.).

Durch die Verknüpfung mit einer Metapher aus dem Divan-Gedicht Lied und Gebilde überträgt der Goethe des Romans das Motiv der ›krystallnen Kugel‹ von einer Figur seiner Dichtung auf ›den Dichter‹ und damit auf sich selbst:372 Schöpft des Dichters reine Hand, Wasser wird sich ballen … Ja, ich wills ballen zur krystallenen Kugel, das Gedicht der Verführung, denn der Dichter, der vielversuchte, der verführerisch-vielverführte kanns immer noch, ihm bleibt die Gabe, die das Zeichen der Reinheit (GKFA 9.1, 354 f.).

Hier vollzieht sich »[n]ach dem Schuldbekenntnis des Beginns die Selbstbehauptung des Künstler-Narzissmus« (GKFA 9.2, 667): Auch nachdem er schuldig geworden ist durch Verführung, verbleibt dem Künstler die Fähigkeit, dem Stoff eine Form zu geben. Damit kann eine erste Hypothese formuliert werden, die erklärt, warum Goethe trotz Entsagung und Schuld noch schöpferisch sein kann: Augenscheinlich ist die Reinheit des Künstlers keine moralische Kategorie, nicht die ›Reinheit des Herzens‹ wie im Fall der Brahmanin, sondern eine amoralische Qualität, die von Schuld und Verführung nicht berührt werden kann. Goethe, wie Thomas Mann ihn inszeniert, steht jenseits der üblichen moralischen Konventionen: Selbst eine Schuld, die er anerkennt, hat für ihn nur insofern Konsequenzen, als er sie sich selbst auferlegt; äußere Ansprüche, wie Charlotte sie an ihn heranträgt, können ihn nicht erreichen. In diesem Sinne kann von einer weitgehenden geistig-moralischen Autonomie des ›großen Mannes‹ gesprochen werden, und angesichts der Tatsache, dass er sich außerhalb des ›Lebens‹ stellt, um es zu Kunst machen zu können, obendrein von einem deutlichen Hinweis auf die Alterität des Genies.

2.

Erklärungsversuche: »Warum nur er?«

Riemers ganzes Sein und Denken kreist um das »Phänomen Goethe« (GKFA 9.2, 281) und um die Frage, die die Überschrift dieses Kapitels bildet. Der Famulus vergleicht seinen Herrn und Meister mit »de[m] frommen Claudius, de[m] lieben Hölty, de[m] edlen Matthison« (GKFA 9.1, 83) und fragt: »Was kommt hinzu bei ihm, das ihn […] zu den Sternen erhebt?« (GKFA 9.1, 84) Er ist gewiss, 372 Vgl. HA 2, S. 16. In der Paria-Legende »war ein einzelner Zug, der den Dichter nicht mehr los ließ: die Kraft der Brahmanin, das geschöpfte Wasser zur Kugel sich ballen zu lassen, die der unschuldig schuldig Gewordenen abhanden kommt – […] und im Divan wird die gleiche Kraft dem rein anschauenden Gemüt des Dichters verheißen« [Hans Heinrich Schaeder : Goethes Erlebnis des Ostens, Leipzig 1938, S. 145, zitiert nach GKFA 9.2, 667].

Erklärungsversuche: »Warum nur er?«

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dass der Unterschied nicht im Werk zu suchen ist, aber alle seine Versuche, die Person Goethe zu erfassen, bleiben erfolglos. Weder »Charakter« (GKFA 9.1, 83) noch »Persönlichkeit« (GKFA 9.1, 75)373 oder »Größe« (GKFA 9.1, 85) werden ihm gerecht, so wenig wie Titel oder mythischen Beschreibungsversuche: Riemer nennt ihn »Meister« (GKFA 9.1, 57), »Heros« (GKFA 9.1, 68) und »Halbgott« (GKFA 9.1, 83), vergleicht ihn mit Herkules (GKFA 9.1, 55) und Proteus (GKFA 9.1, 94), mit Jupiter und Christus (GKFA 9.1, 126). Er sieht in ihm den »deutschen Genius« (GKFA 9.1, 54) verkörpert und gesteht mit dem Wort vom »inkalkulable[n] Genie« (GKFA 9.1, 68) sein Scheitern: ›Eine der inkalkulabelsten Produktionen‹ nannte Goethe seinen Roman Wilhelm Meister und gestand, dass ihm der Maßstab fehle, ihn zu beurteilen […]. Die GoetheTrabanten würden Goethe wohl gern ›kalkulieren‹, doch ihnen fehlt der Schlüssel zu seiner Persönlichkeit (GKFA 9.2, 260).374

Im Folgenden werden Riemers Versuche, Goethe zu ›kalkulieren‹, zu kategorisieren und damit die Eingangsfrage »Warum nur er?« (GKFA 9.1, 84) zu beantworten, einer kritischen Analyse unterzogen. Ausgehend von ihren Befunden wird versucht, eine eigene Antwort zu formulieren und zu bestimmen, was Goethes Person und Werk über alle anderen erhebt, und in welchen Kategorien er selbst sein Genie fasst und beschreibt.375 Seit der Zeit des Sturm und Drang, die in Lotte in Weimar in den ErinnerungsSzenen Charlotte Kestners und Goethes gegenwärtig ist, bildet das Genie die zentrale Kategorie zur Beschreibung außergewöhnlicher künstlerisch-kreativer Leistungen sowie der sie vollbringenden Personen, und niemandem ist diese Bezeichnung von seinen Zeitgenossen häufiger und enthusiastischer beigelegt worden als Johann Wolfgang von Goethe:

373 In Goethe und Tolstoi bezeichnet Thomas Mann ›Persönlichkeit‹ als »eine Notbezeichnung für etwas, was sich der Bestimmung und Benennung im Grunde entzieht« (GKFA 15.1, 829 f.). 374 In dem Tag- und Jahresheft von 1797 schreibt Goethe über die Entstehung des Wilhelm Meister : »Seit sechs Jahren hatte ich Ernst gemacht, diese frühe Konzeption auszubilden, zurechtzustellen und dem Drucke nach und nach zu übergeben. Es bleibt daher dieses eine der inkalkulabelsten Produktionen, man mag sie im Ganzen oder in ihren Teilen betrachten; ja um sie zu beurteilen, fehlt mir beinahe selbst der Maßstab« (HA 10, S. 446). 375 Hansen hat zweifellos recht, wenn er feststellt, dass »Thomas Mann dem Genie-Begriff nur eine sekundäre Rolle in dem Entwicklungsprozeß« [Hansen (2005), S. 244] Goethes zuschreibt – zumindest, was den traditionellen Geniebegriff des Sturm und Drang betrifft. Da jedoch die Annahme, Goethe sei ein Genie, dieser Untersuchung als Arbeitshypothese zugrunde liegt, sollen Goethes außergewöhnliche Fähigkeiten zunächst durchgehend mit diesem Begriff bezeichnet werden. Was genau im vorliegenden Zusammenhang unter ›Genie‹ zu verstehen ist, wird im Laufe der Darstellung herausgearbeitet werden.

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Die Literatur der siebziger Jahre des 18. Jahrhunderts ist voll von […] Hymnen auf den jungen Goethe. […] Leicht ist auch das Zauberwort der Zeit bei der Hand, und so spricht man vom Genie, wenn man von Goethe spricht.376

Doch ist der junge Goethe, die Personifikation des Sturm-und-Drang-Genies, nur eines der Genie-Konzepte in Lotte in Weimar, denn der Goethe des Jahres 1816 hat für die »Originalitätsgrimasse der genialen Schule« (GKFA 9.1, 334), die er selbst einst mit begründete, nur noch Spott übrig. Er denkt in anderen Kategorien – in welchen, das soll in diesem Abschnitt herausgearbeitet werden.

2.1.

Goethe und die Genie-Tradition

Es sind vor allem zwei Wesenszüge, die Charlotte in ihrer Erinnerung mit dem jungen Goethe der Wetzlarer Zeit verbindet: die besondere Persönlichkeitswirkung des »Götterjünglings« (GKFA 9.1, 120) und seine Stimmungsschwankungen zwischen Ausgelassenheit und Schwermut. Sie charakterisiert ihn als »tolle[n] Junge[n], […] halb Wirbelwind, halb Melancholicus« (GKFA 9.1, 34),377 der über »eine schöne Kraft des Herzens« (GKFA 9.1, 72) und einen besonderen »Lebensglanz« (ibid.) verfügt habe, so »daß andere, noch so vortreffliche Menschen einem leicht fade [vorgekommen seien] in seiner Gegenwart oder selbst in seiner Abwesenheit« (GKFA 9.1, 73).378 Während Charlotte ihre Erinnerungen an die Wetzlarer Zeit pflegt und insgeheim der Überzeugung ist, dass Goethe auch nach 44 Jahren »der Alte geblieben [sei], will sagen: der Junge« (GKFA 9.1, 135), blickt dieser selbst mit 376 Werner Frizen: Goethe tritt auf, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt am Main 2004b, S. 67 – 88, hier : S. 67. Als Beispiel führt Frizen eine Äußerung Lavaters aus den Physiognomischen Fragmenten an: »Wer ist – der absprechen könnte diesem Gesichte – GENIE. Und Genie, ganzes, wahres Genie, ohne Herz – ist […] – Unding – Denn nicht hoher Verstand allein; nicht Imagination allein, nicht beide zusammen machen Genie – Liebe! Liebe! Liebe ist die Seele des Genies« [zitiert nach Sturm und Drang. Dichtungen und theoretische Texte in zwei Bänden, ausgewählt und mit einem Nachwort versehen von Heinz Nicolai, Bd. 1, München 1971, S. 341]. Die 1774/75 entstandene Radierung von Georg Friedrich Schmoll, die Lavater zu diesem Ausbruch angeregt hat, findet sich bei Frizen (2004b), S. 81. 377 Der Kommentar liest die Bezeichnung ›Melancholicus‹ als ersten Hinweis »auf die Psychopathologie des ›tollen Jungen‹ « (GKFA 9.2, 223): »Die pathologische Komponente findet sich hier noch ausgedrückt mit einem Schlüsselwort der Geniezeit, für die im Anschluss an den aristotelischen, bei Cicero überlieferten Topos Genie und Melancholie notwendig zusammengehören« (ibid.). 378 In seinem Aufsatz Goethe’s Werther fasst Thomas Mann die Eigenschaften des jungen Goethe zu einem Charakterporträt des Sturm-und-Drang-Genies zusammen: »Ein liebenswürdiger Unmensch: schön, hochbegabt, geladen mit Geist und Leben, feurig, gefühlvoll, ausgelassen und schwermütig, kurz – närrisch in einem lieben Sinn« (GW IX, 645).

Erklärungsversuche: »Warum nur er?«

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deutlicher Distanz, »allenfalls mit Wohlwollen, aber geringschätzig« (GKFA 9.1, 292) auf sein früheres Ich: Er möchte nicht »wieder jung und der Spatz sein von dazumal« (ibid.); anders als Charlotte ist er über dieses Lebensstadium hinausgewachsen. Zwar gedenkt auch er beim morgendlichen Bad seiner Jugendeskapaden, als er »mit nächtlichem Aufrauschen, langen, triefenden Haars, den späten Bürger phantastisch erschreckte[]« (GKFA 9.1, 308),379 doch statt die Erinnerung zu verklären, bezeichnet er sich als »ungezogene[n] Narr[en]« (ibid.) – ungeachtet der Tatsache, dass bei einem solchen nächtlichen Bad ein Gedicht entstanden ist, in dem sich wie in kaum einem anderen das Lebens- und Selbstgefühl des Sturm-und-Drang-Genies ausspricht: Alles geben die Götter, die Unendlichen, ihren Lieblingen ganz – Alt ist die Mondnacht, da du es, aus der Ilm steigend, tief belebt und im reinen Rausch deiner Haut, in die Silberluft redetest aus begeisterter Selbstergriffenheit (ibid.).380

2.1.1. Originalität Goethes abfälliges Urteil bringt nicht nur Missbilligung über sein damaliges Verhalten zum Ausdruck, sondern eine grundsätzliche, kritisch-ablehnende Haltung gegenüber jeder Form von ›Genie-Attitüde‹, und diese Ablehnung erstreckt sich auch auf eines der wichtigsten poetologischen Postulate der Genieästhetik, auf die Forderung nach Originalität: »Die Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts verlangt gerade vom Dichter jene Originalität, die sich allenfalls mit der Schöpferkraft Gottes vergleichen ließe.«381 Künstlerisches Schaffen wird als eine creatio ex nihilo aufgefasst, und jede Orientierung an vorgegebenen ›Regeln‹, jede Bezugnahme auf mögliche Vorgänger ist aus der Perspektive des ›Originalgenies‹ »mit dem Makel eines epigonalen, uneigenständigen Künstlertums behaftet.«382 Der fiktionale Goethe hingegen lehnt Originalität im Sinne einer voraussetzungslosen Schöpfung ab, weil er sie für illusionär und künstlerisch unfruchtbar hält: »Selbständigkeit, möcht wissen, was das ist. Er war ein Original, und aus Originalität – er andern Narren gleichen thät« (GKFA 9.1, 334). Mit diesen Worten paraphrasiert er Verse aus seinem 1774 begonnenen Frag379 »In Zeiten ihrer Sturm-und-Drang-Umtriebe badeten Carl August und Goethe im Sinne des geniezeitlichen Naturkultes nachts oft […] in der Ilm und ›erschreckten als Nix späte Wanderer‹ « [Paul Kühn: Weimar, Leipzig 1908, S. 63 f., zitiert nach GKFA 9.2, 563]. 380 »›Alles geben die Götter, die unendlichen, / Ihren Lieblingen ganz: / Alle Freuden, die unendlichen, / Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.‹ […] [V]gl. Goethes Brief an Auguste zu Stolberg vom 17. Juli 1777: ›So sang ich neulich als ich tief in einer herrlichen Mondnacht aus dem Flusse stieg der vor meinem Garten durch die Wiesen fliest [sic!]; und das bewahrheitet sich täglich an mir‹« (GKFA 9.2, 564). 381 Marx (2002), S. 201. 382 Ibid.

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ment Des ewigen Juden erster Fetzen,383 und auf diese Zeit bezieht er sich, wenn er fortfährt: Da war ich zwanzig und ließ schon die Anhänger im Stich, machte mich lustig über die Originalitätsgrimasse der genialen Schule. Ich wußte, warum. Ist ja Originalität das Grauenhafte, die Verrücktheit, Künstlertum ohne Werk, empfängnisloser Dünkel, Altjungfern- und Hagestolzentum des Geistes, sterile Narrheit. Ich verachte sie unsäglich (ibid.).384

Der ›sterilen Narrheit der genialen Schule‹ setzt Goethe sein Konzept der »androgyne[n] Kunst« (ibid.) entgegen, der Vorstellung einer künstlerischen creatio ex nihilo seine Idee der »Kontaktnahme« (GKFA 9.1, 332) mit der Sphäre des entstehenden Werkes unter Verwendung von ›Subsidia‹: Sein Bett ist schon umstellt von Folianten, die der Inspiration auf die Beine helfen sollen. Kaum aufgewacht, ruft er nach den ›Subsidia‹, den Hilfsmitteln, die er braucht, um die Divan-Lyrik voranzutreiben. Über den Originalitätswahn der Geniezeit kann er dabei nur spotten.385

Bereits der Gedanke, ein Künstler könne im Zuge seines kreativen Prozesses »Hilfsquellen [und] Stimulantien« (GKFA 9.1, 330) als »Mittel zur Eroberung gelehrter Welten zu produktivem Zweck« (ibid.) gebrauchen, stellt das Originalitätspostulat und damit, nach den Maßstäben der Genieästhetik, das Genie des Schaffenden in Frage (vgl. GKFA 9.2, 620). Vollständig obsolet wird die Kategorie der Originalität, wenn Goethe den Begriff der ›Kontaktnahme‹ bestimmt als ein Sich vergraben und Schürfen besessener Sympathie, die [ihn] zum Eingeweihten macht der liebend ergriffenen Welt, sodaß [er] mit freier Leichtigkeit ihre Sprache sprich[t] und niemand das studierte D¤tail vom charakteristisch erfundenen soll unterscheiden können (GKFA 9.1, 332).

Nicht nur kehrt Goethe den Anspruch der Originalgenies um, indem er seinen Ehrgeiz darein setzt, dass ›niemand das studierte D¤tail vom charakteristisch erfundenen soll unterscheiden können‹; er hebt zugleich den Gegensatz zwischen dem Genie und dem Gelehrten auf, der einen Topos der Genieideologie darstellt. Dass Goethe sich sehr wohl bewusst ist, wie weit seine Arbeitsweise von 383 »›Genug, er war Original. / Und aus Originalität / Er andren Narren gleichen thät.‹ « (zitiert nach GKFA 9.2, 628). Zur Datierung vgl. GKFA 9.2, 629; eine Inhaltsangabe und Skizze des Handlungsverlaufs liefert Goethe im 15. Buch von Dichtung und Wahrheit; vgl. HA 10, S. 45 – 47. 384 Wie der historische Goethe im Alter über die Originalität dachte, verdeutlicht ein Gedicht aus den Sprüchen: »Ein Quidam sagt: ›Ich bin von keiner Schule! / Kein Meister lebt, mit dem ich buhle; / Auch bin ich weit davon entfernt, / Daß ich von Toten was gelernt.‹ – / Das heißt, wenn ich ihn recht verstand: / Ich bin ein Narr auf eigne Hand« (HA 1, S. 318). 385 Frizen (2004b), S. 75.

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herkömmlichen Genie-Vorstellungen entfernt ist, zeigt eine Bemerkung über die zahlreichen ›Subsidia‹, deren er zur Arbeit am Divan bedarf: Die Leute würden sich wundern, daß einer für ein Büchlein Gedichte und Sprüche mit soviel Reisebeschreibungen und Sittenbildern sich nähren und aufhelfen muß. Würdens schwerlich genialisch finden (ibid.).

Seine Arbeitsweise ist nicht ›genialisch‹ im Sinne einer Originalschöpfung ex nihilo, sondern dem »höhere[n] Abschreiben«386 Thomas Manns nachempfunden; sie wird treffend beschrieben mit den Worten Bretschneiders, die Goethe paraphrasierend referiert: Einen Samen von Fähigkeit hast du schon, ein poetisches Genie, das dann würkt, wenn du sehr lange Zeit einen Stoff mit dir herumgetragen und in dir bearbeitet und alles gesammelt hast, was zu deiner Sache dienen kann – dann gehts allenfalls, dann mag es was werden (GKFA 9.1, 333).387

»Warten und verschieben ist gut« (GKFA 9.1, 284), hatte Goethe schon vorher geäußert, und so stimmt er dem »melancholisch scharfsinnige[n] Esel« (GKFA 9.1, 333) Bretschneider weitgehend zu, dessen Charakterisierung ebenso treffend wie boshaft ist: Hatt er nicht dreimal recht, oder doch zweieinhalbmal mit allem, was er mir unter die Nase rieb von Unbeständigkeit, Unselbständigkeit und Bestimmbarkeit und dem Genie, das eben nur zu empfangen und lange auszutragen, subsidia zu wählen und zu brauchen weiß? (GKFA 9.1, 333 f.)388

Das Wort ›Genie‹, wie Thomas Mann es seinen fiktionalen Goethe hier verwenden lässt, hat mit dem Sinn, den der Sturm und Drang ihm beilegt, nur noch 386 Brief Thomas Manns an Theodor W. Adorno vom 30. 12. 1945, zitiert nach Mann (1998), S. 72. 387 Mann überträgt hier die Invektive Alfred Kerrs, seine Fähigkeit beschränke sich auf ein ausgeprägtes ›Sitzfleisch‹ [vgl. Schröter (2000), S. 61], auf seine literarische Figur. – Der Begriff des Genies, wie Bretscheider ihn hier verwendet, steht in der Tradition des aufklärerischen, unter anderem von Lessing vertretenen Geniekonzepts, das dem Genie Eigenschaften zuschreibt, die die Stürmer und Dränger als rationalistisch geringschätzten und der als minderwertig angesehenen Fähigkeit des ›Witzes‹ zuordneten: »›Witz‹ ist die verstandesmäßige, auf geistreicher Kombinationsfähigkeit beruhende Begabung; Genie dagegen die gefühlshafte Begabung, deren Zentrum das ›Herz‹ ist« [Schmidt (2004b), S. 65], und die sich durch ihre rational nicht nachvollziehbare Wirkung auszeichnet. – Der Kommentar zitiert den Brief Bretschneiders im Wortlaut, vgl. GKFA 9.2, 626 f. 388 Begriffe wie ›empfangen‹ und ›austragen‹ verleihen Goethes Genie unübersehbar weibliche, geradezu mütterliche Züge: »Ein Zug von Bedächtigkeit, von Langsamkeit, von mütterlicher Geduld im Austragen ist untrennbar von seinem Genie« (GW IX, 306), schreibt Mann in Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters. Diese Charakterisierung stellt die Verbindung her zu der Aussage des fiktionalen Goethe, er sei »die braune Lindheymerin in Mannsgestalt, [sei] Schoß und Samen« (GKFA 9.1, 334), letztendlich zur Chiffre der »androgynen Kunst« (ibid.).

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wenig gemein, da der zentrale Bestandteil dieser Genievorstellung, die Originalität, im Roman als poetische Kategorie praktisch verworfen wird. Sofern überhaupt noch von Originalität gesprochen werden kann, dann vom Paradoxon einer Aneignungsoriginalität: Aus der Verschmelzung von Erfundenem und Gefundenem entsteht ein Amalgam, in dem das Eigene vom Fremden nicht mehr zu unterscheiden ist (GKFA 9.2, 75).

Thomas Mann überträgt hier die ihm eigene Arbeitsweise auf seine Figur, was Goethes Künstlertum einen weiteren modernen Zug verleiht: »Der Furor, mit dem Thomas Mann Goethe gegen das Originalitätskonzept zu Felde ziehen lässt, ist […] Manns eigener.«389 2.1.2. Inspiration In ihrem Gespräch mit Riemer vertritt Charlotte die traditionelle Vorstellung von der »Dichter-Begeisterung« (GKFA 9.1, 88) Goethes; sie lässt nicht ab von den Idealen der Geniezeit und deren Lehre vom göttlichen Wahnsinn der Dichterbegeisterung […]. Sie besteht auf einer Laudatio des enthusiastischen Dichterjünglings, den sie kennen gelernt hat (GKFA 9.2, 288).390

Ein Dialog mit seinem Diener Carl verdeutlicht, dass Goethe selbst diese Vorstellung ablehnt. Als er einige Faust-Verse vor sich hin murmelt, kommt das Gespräch auf die jugendliche Neigung, mit sich selbst zu reden: »Ich rannte herum, es pochte was in mir, da sprach ich den Halb-Unsinn mit, und es war ein Gedicht« (GKFA 9.1, 328). Carl, der in den gleichen Kategorien denkt wie Charlotte, merkt an: »[D]as war ja nun wohl eben, was man die geniale Eingebung nennt« (ibid.). Goethe repliziert lakonisch: »Meinetwegen. So nennens, dies nicht haben« (GKFA 9.1, 329), und setzt hinzu: »Später dann müssen Vorsatz und Charakter aufkommen für die närrische Natur, und was sie leisten, ist uns im Grunde verständig-werter« (ibid.). Goethes Spott über die konventionelle Vorstellung seines Dieners von ›genialer Eingebung‹ macht deutlich, dass Carl die Unwissenden repräsentiert, die selbst keinen Anteil am schöpferischen Prozess haben, und stellvertretend für sie alle zurechtgewiesen wird. Doch auch der ›dichterischen Eingebung‹ selbst begegnet Goethe mit missbilligender Geringschätzung: Für ihn hat sie ihren 389 Liebrand (2008), S. 284. Die Annahme Lehnerts, dass »die originelle Phantasie des Dichters seine Größe« begründe [Lehnert (1987), S. 38], trifft daher nur eingeschränkt zu; ›Originalität‹ bedeutet in Lotte in Weimar geradezu das Gegenteil dessen, was im Sturm und Drang unter diesem Konzept verstanden wurde. 390 Dieses Verharren bei Vorstellungen ihrer Jugend ist ein weiteres Zeichen für Charlottes Rückwärtsgewandtheit: Erneut zeigt sich, dass sie in der Vergangenheit lebt, während Goethe diese Vorstellungen seit langem hinter sich gelassen hat.

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Ursprung in der ›närrischen Natur‹ der Jugend, und ihre Ergebnisse sind allenfalls ›Halb-Unsinn‹, der sich erst nachträglich als Gedicht erweist.391 Wie die »Originalitätsgrimasse« (GKFA 9.1, 334) ist dieser Zustand nur vorübergehend, Kennzeichen einer Stufe der Entwicklung, die Goethe hinter sich gelassen hat. Auch unter dem Gesichtspunkt der Inspiration möchte er nicht »wieder jung und der Spatz sein von dazumal« (GKFA 9.1, 292). Das »Galatheagesicht« (GKFA 9.1, 308) beweist allerdings, dass Goethe die Vorstellung der Inspiration nicht vollständig ablehnt: »Mit Augen, blind überschwemmt von der Flut, die ich aus deinen Poren drücke, seh ich …« (ibid.) Angeregt von dem kalten Wasser,392 orakelt der Alte in seiner Badewanne von »Galatheas farbenstreuende[m] Wagen« (ibid.) und erscheint auf diese Weise als humoristische Reinkarnation des poeta vates, der in göttlicher Begeisterung seine Gesichte kündet. Allerdings nimmt Goethe keine metaphysisch-transzendente Quelle seiner ›Vision‹ an, sondern weiß genau, was sie ausgelöst hat: »Eingebung, Einfall, Idee als Geschenk physischer Stimulation, gesunder Erregung, glücklicher Durchblutung, antäischer Berührung mit Element und Natur« (GKFA 9.1, 308 f.), so verhelfen ihm »die Nackengüsse zum Galatheagesicht« (GKFA 9.1, 308).393 Indem er Inspiration als Folge physischer Stimulanz auffasst, beweist der fiktionale Goethe den Scharfblick Nietzsches, der »das Reden von der Inspiration als Künstlereitelkeit oder als Illusion überreizter Nerven«394 entlarven wird. 391 Auch hier wird, wie im Falle des Originalitätspostulats, das Gewicht der Goetheschen Ablehnung dadurch erhöht, dass sie sich auf ein bedeutsames Werk bezieht: Wandrers Sturmlied [vgl. GKFA 9.2, 616 sowie HA 1, S. 33 – 36] ist die »erste[] große[] Dichtung der Geniezeit, die das Genie-Thema selbst ins Zentrum stellt« [Schmidt (2004b), S. XV]. – Die Vorstellung, diese Hymne sei eine spontanen Erlebnisdichtung gewesen, geht zurück auf Goethes Äußerungen im 12. Buch von Dichtung und Wahrheit: »Unterwegs sang ich mir seltsame Hymnen und Dithyramben, wovon noch eine, unter dem Titel Wanderers Sturmlied, übrig ist. Ich sang diesen Halbunsinn leidenschaftlich vor mich hin, da mich ein schreckliches Wetter unterwegs traf, dem ich entgegengehen mußte« [HA 9, S. 521; Schmidt (2004b), S. 203, Anm. 26 schreibt fälschlich: S. 251]. Der biographische Zusammenhang dieser Episode mit der Trennung von Friederike rückt in Lotte in Weimar diesen »Inspirationsmythos […] in den Motiv-Komplex der Flucht und der Schuld gegenüber der Frau« (GKFA 9.2, 616). Zur Frage der Plausibilität des Goetheschen Selbstzeugnisses vgl. Schmidt (2004b), S. 203. 392 Das ›kalte Wasser‹ stellt die Verbindung zu den nächtlichen Flussbädern in der Ilm her, und schon in der Erinnerung an dieses Ereignis lassen sich Hinweise auf die physischen Ursprünge der Inspiration finden: Ausdrücklich bemerkt Goethe, er habe damals »tief belebt und im reinen Rausch [s]einer Haut« (GKFA 9.1, 308) gedichtet, also unter physischer Stimulation. 393 Die Formulierung von der ›antäischen Berührung mit Element und Natur‹ verweist unmittelbar auf den Essay Goethe und Tolstoi, in dem Goethe als Personifikation des »antäischen Genies« (GKFA 15.1, 900) den genialisierten Kranken Schiller und Dostojewski gegenübergestellt wird. 394 Schmidt (2004c), S. 163.

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Mann beschreibt Goethes Erfahrungen in Kategorien der Entlarvungspsychologie – allerdings mit einer bedeutsamen Veränderung, denn wenn die mythologische Phantasmagorie des Ägäischen Festes ad oculos aus der ›physischen Stimulation‹ durch morgendliche Kaltwassergüsse herausgezaubert wird […], ist der Desillusionierungspsychologe aus Nietzsches Schule am Werk, der aber – Nietzsche gegen den Strich gelesen – die Größe des Werks durch die trivial-absonderlichen Zustände seiner Entstehung nicht beschädigt sieht.395

Wenn Heftrich also den Nietzsche-Bezug in Lotte in Weimar unter anderem darin erkennt, dass »die von Nietzsche geborgte Inspiration […] als ›DichterBegeisterung‹ […] von Lotte gegen Riemer ins Feld geführt«396 werde, kehrt er die Zusammenhänge um: Charlotte beharrt auf »den Idealen der Geniezeit und deren Lehre vom göttlichen Wahnsinn der Dichterbegeisterung« (GKFA 9.2, 288), doch wird ihre Ansicht durch Goethes Erfahrung, dass auch rein physische Stimulation inspirierend wirken könne, als Klischeevorstellung entlarvt. Wie der Originalität wird auch dem Begriff der Inspiration in Lotte in Weimar eine Bedeutung beigelegt, die nicht den Vorstellungen der Geniezeit entspricht, sondern dezidiert auf das von Nietzsche (mit-)geprägte Künstlerbild der Moderne verweist. Doch ist das Galathea-Gesicht nicht das einzigen Beispiel für ›Inspiration‹, obgleich Goethe, wenn er von ›Eingebungen‹ oder ›Einfällen‹ spricht,397 keine großen Visionen meint, sondern einzelne Gedanken und treffende Formulierungen. Als er über die Figur des Faust sinniert, stellt er zufrieden fest: »Das war ein Einfall. Sehnsuchtsvolle Hungerleider, notieren wir das, an schicklicher Stelle solls eingeflochten sein« (GKFA 9.1, 349); und bei anderer Gelegenheit freut er sich über eine spontane Umdeutung des Wortes »himmeln« (GKFA 9.1, 307): [D]as war hübsch. […] Sie sprechen wohl von himmelnden Augen – hab ich aus der dummen Schwärmerei, dem ins Frömmelnde verspöttelten Zeitwort im Handumdrehen ein luftig-heiter-goßes Schau- und Daseinsbild gemacht. Könnte beiträgig sein zur Definition des Einfalls (ibid.).

395 Neumann (2001), S. 140. Diese Nietzsche-Lektüre ›gegen den Strich‹ stellt eine Verbindung zum Teufelsgespräch im Faustus her, wo der Teufel ebenfalls argumentiert, es sei für die Wirkung eines Werkes völlig unerheblich, wie es zustande gekommen sei: »Nie hab ich etwas Dümmeres gehört, als daß von Krankem nur Krankes kommen könne. […] Vor dem Faktum der Lebenswirksamkeit […] wird jede Unterscheidung von Krankheit und Gesundheit zunichte« (GKFA 10.1, 354) – und, so könnte man mit Blick auf Goethe in seiner Badewanne hinzufügen, jeder Unterschied von physischer und metaphysischer Inspiration. 396 Heftrich (2005a), S. 433. 397 Auch darin ist er ein Vorläufer Adrian Leverkühns, in dessen Gesellschaft man das Wort ›Inspiration‹ »durchaus zu vermeiden und allenfalls durch ›Einfall‹ zu ersetzen« (GKFA 10.1, 43) hat.

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Er sammelt diese kleinen Einfälle wie Mosaiksteine eines großen Gesamtbildes, um sie dann ›an schicklicher Stelle‹ in seine Werke einzufügen – ein Grund unter anderen, dass er diese über Jahre hinweg ›austrägt‹, ehe sie reif sind.398 Goethe, wie Mann ihn in Lotte in Weimar schildert, ist so wenig ein Inspirierter wie ein Originalgenie. Er ist ein Spätling, ein Alexandriner, er hat sein Werk ›aus aberhundert Einzelinspirationen zur Größe emporgeschichtet‹ wie Gustav Aschenbach. […] Es ist ein weiter Weg von der Metaphysik genialen Schaffens […] zu dem spätzeitlichen Goethe hier (GKFA 9.2, 74 f.).399

Wieder ist zudem die Parallele zur Arbeitsweise Thomas Manns unverkennbar, der 1940, ein Jahr nach dem Erscheinen von Lotte in Weimar, das epische Werk in seiner Rede Die Kunst des Romans definiert als einen »gigantischen Miniaturismus, der auf das einzelne versessen zu sein scheint, als sei es ihm alles, und dabei das Ganze unerschütterlich im Auge behält« (GW X, 354). Hinsichtlich der überlieferten Genie-Ideologie des Sturm und Drang lassen sich in Lotte in Weimar also zwei Standpunkte unterscheiden: Die communis opinio wird vertreten von Charlotte und Carl, die an »den Idealen der Geniezeit und deren Lehre vom göttlichen Wahnsinn der Dichterbegeisterung« (GKFA 9.2, 288) festhalten. Im Gegensatz dazu hat Goethe sich von den Genie-Vorstellungen seiner Jugend abgewandt; er betrachtet sie als ein Stadium seiner Entwicklung, das er hinter sich gelassen hat und nun als »Originalitätsgrimasse« (GKFA 9.1, 334) verspottet. Diese Ablehnung erstreckt sich auch auf die zentralen Konzepte Originalität und Inspiration, die er allenfalls in abgewandelter, ›modernisierter‹ 398 So sagt Goethe über das Paria-Gedicht: »[D]aß ichs bewahre und immer vertage, ihm Jahrzehnte des In-mir-Ruhens und Werdens gönne, ist mir das Merkmal seiner Wichtigkeit. Ich mags nicht abtun, hege es bis zur Überreife, trage es durch die Lebensalter« (GKFA 9.1, 354). 399 An anderer Stelle weist Frizen darauf hin, der Roman »signifies a historical change: it portends a farewell to Lavater’s idea of genius, a farewell to a conception of art that pretends to be in arbitrary control of the material« [Frizen (2004a), S. 194]. Das Problem dieser Aussage besteht darin, dass aus ihr nicht klar wird, wo dieser ›historical change‹ zeitlich zu verorten ist: Sicher nicht erst zur Entstehungszeit des Romans in den 1930er Jahren; die Abkehr von Lavaters Genievorstellung ist zu dieser Zeit längst vollzogen. Ebenso wenig lässt sich aber aus Lotte in Weimar ein historischer Paradigmenwechsel für das Jahr 1816 ableiten, da die ›kompilatorische‹ Arbeitsweise Goethes, wie sie im Roman geschildert wird, historisch gesprochen ein anachronistisches Phänomen darstellt. Diese Uneindeutigkeit ist die Folge eines argumentativen Fehlers: Die Frage nach den unterschiedlichen Genievorstellungen in Lotte in Weimar kann nur sinnvoll beantwortet werden, wenn die Untersuchung textintern verbleibt, die Bezugnahme auf die Realgeschichte vermeidet und Zitate wie das von Lavater nur verwendet, um die Unterschiede zwischen den verschiedenen im Text dargestellten Genie-Konzeptionen zu illustrieren – der tatsächliche historische Paradigmenwechsel vom Originalgenie Lavaterscher Prägung zu späteren Vorstellungen spielt in diesen Überlegungen keine Rolle. – Das eingebettete Zitat findet sich in GKFA 2.1, 510.

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Form noch gelten lässt: Originalität versteht er im Sinne einer »Aneignungsoriginalität« (GKFA 9.2, 75),400 die ihn zu einer Vertrautheit mit der Sphäre seines Werks befähigt, während er die Idee der Inspiration auf ein rein organisches Phänomen reduziert und sie damit ihrer metaphysischen Dimension vollkommen entkleidet. Die Auffassung des fiktionalen Goethe von der »Eingebung […] als Geschenk physischer Stimulation« (GKFA 9.1, 308 f.) ist geprägt von der Entlarvungspsychologie Nietzsches und kann daher, ebenso wie Goethes Arbeitsweise, die das Finden dem Erfinden vorzieht und das Werk aus hunderten von Fundstücken und »aberhundert Einzelinspirationen zur Größe empor[]schichtet« (GKFA 2.1, 510), als Signum der Moderne angesehen werden: »Als Kind der Jahrhundertwende lässt Thomas Mann seinen Goethe so arbeiten und schaffen, wie er es von sich selbst kennt« (GKFA 9.2, 74), und sein »Spott über die ›Originaldichter‹ und die Genieästhetik formuliert das ästhetische Programm«401 seiner Zeit. Mehr noch als die Ablehnung überkommener Vorstellungen kreativen Schaffens sind es diese dezidiert modernen Züge, die den grundlegenden Unterschied verdeutlichen, der zwischen Goethes Selbstverständnis und den Genievorstellungen des Jahres 1816 besteht: Thomas Manns Goethe ist eine moderne Künstlerfigur – »in jenem emphatischen Sinne, in dem sich die Zeit um 1900 selbst die Moderne genannt hat« (GKFA 9.2, 483).

2.2.

Riemers Genie-Theologie

Einen dritten, gleichsam ›zwischen‹ den Positionen Charlottes und Goethes gelegenen Standpunkt nimmt Friedrich Wilhelm Riemer ein. Er beschreibt Goethe mit Hilfe der konventionellen Vergleichsgrößen der Genie-Tradition »als Proteus, als Narziß, als Jupiter- und Christusfigur«,402 deutet diese Kategorien aber zugleich auf eine Weise um, die sie aus ihren hergebrachten Kontexten löst, neue Deutungsbezüge herstellt und so die Modernität der Mann’schen GoetheFigur unterstreicht. Dezidiert modern wird die Darstellung des Goetheschen Genies auch durch die auf Nietzsche verweisende Eigenschaft des »Nihilism« 400 Hamacher entwickelt das Konzept einer »postgeniale[n] Kreativität« [Bernd Hamacher : Zauber des Letzten – Zauber des Ersten? Epigonalität, Avantgardismus und das Problem der Kreativität – in der Moderne und bei Thomas Mann, in: Börnchen, Stefan; Liebrand, Claudia (Hrsg): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München 2008, S. 29 – 50, hier : S. 48] und nimmt davon ausgehend eine Umdeutung der »Originalität als Wertkategorie künstlerischer Kreativität« vor [ibid.], die weitgehend mit dem Konzept der ›Aneignungsoriginalität‹ übereinstimmt; vgl. ibid., S. 48 – 50. 401 Liebrand (2008), S. 284. 402 Marx (2002), S. 209. Da das Narziss-Motiv bereits im Zusammenhang mit dem Verführungs-Motiv erwähnt worden ist, soll hier nicht erneut darauf eingegangen werden.

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(GKFA 9.1, 88), die nach Riemers Urteil Goethes Persönlichkeit kennzeichnet. Darüber hinaus versucht der Adlat, die Größe seines ›Meisters‹ mit der Aufhebung der »apprehensive[n] menschliche[n] Doppelsituation« (GKFA 9.1, 90) des Gegensatzes von Geist und Natur in »unchristlicher Harmonie und Menschengröße« (GKFA 9.1, 91) zu erklären, wobei er einen expliziten Bezug zum »Jakobssegen der Schrift« (GKFA 9.1, 89) herstellt. Schon diese widersprüchlichen Erklärungsversuche machen deutlich, dass allen Äußerungen Riemers mit Skepsis zu begegnen ist. Es gehört zu den Gemeinplätzen der Lotte-Forschung, dass es, vom siebenten Kapitel abgesehen, »[e]inen reinen, nackten, maskenlosen Goethe, einen Goethe an sich«403 im Roman nicht gibt: Was sich dem Leser präsentiert, sind Interpretationen eines Charakters, nicht dieser Charakter selbst. Seine proteische Vieldeutigkeit ist nur in perspektivischer Brechung zu erfahren (GKFA 9.2, 216).404

Jeder der Besucher entfaltet vor Charlotte nur sein Bild Goethes, ehe sie sich im achten Kapitel ihr eigenes machen kann – soweit seine Selbstinszenierung es zulässt. Verschärft wird dieser grundsätzliche narratologische Vorbehalt durch die Mischung von Ressentiment und Verehrung, die Riemers Beziehung zu Goethe kennzeichnet. Sie verhilft diesem »scharfsichtigste[n], aber auch bösartigste[n] unter Goethes Opfern«405 zwar zu einer »keen, if traumatic insight into the destructive aspects of the quasi-›divine‹ genius«,406 beeinflusst aber zugleich seine Wahrnehmung und sein Urteilsvermögen: His mechanism for overcoming the humiliation inflicted by Goethe’s superiority and for the restoration of his pride is moral outrage. In an imaginary act of revenge – as Nietzsche teaches – the famulus takes advantage of the creative and active person; he disparages him in private in an attempt to degrade him in his own mind.407

403 Frizen (1998), S. 182; vgl. außerdem Lilian R. Furst: »Yes and no«. Thomas Mann’s ›Lotte in Weimar‹, in: Prier, Raymond Adolph; Gillespie, Gerald (Hrsg): Narrative Ironies, Amsterdam 1997, S. 75 – 89, hier : S. 88 und Liebrand (2008), S. 270 f. 404 »Daß das Erzählen auf mehrere Figuren verteilt wird, läßt den grundsätzlichen Perspektivismus des Mannschen Erzählens einmal sichtbar nach außen treten. Es zieht aber auch die formale Konsequenz aus der Absicht, die ›Größe‹ aus ihren Wirkungen sprechen zu lassen« [Neumann (2001), S. 136]. 405 Frizen (2004b), S. 87. 406 Peter Heller : ›Narcissism‹ in Thomas Mann’s Goethe novel, in: Adams, Jeffrey ; Williams, Eric (Hrsg): Mimetic Desire. Essays on Narcissism in German Literature from Romanticism to Post Modernism, Columbia 1995, S. 119 – 141, hier : S. 127. 407 Frizen (2004a), S. 187. Die Formulierung ›moral outrage‹ scheint zu stark gewählt, um Riemers »hülfloses Ringen nach Würde« (GKFA 9.1, 65) adäquat zu bezeichnen, was die Richtigkeit des Zitats jedoch nicht beeinträchtigt.

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2.2.1. Proteus und Jupiter, Christus und Gott Die Bezeichnung ›Olympier‹ ist eine der am weitesten verbreiteten mythologischen Überhöhungen Goethes.408 In Lotte in Weimar ist es das von Charlotte gebrauchte Wort »Schmarutzertum« (GKFA 9.1, 117), das den literarisch gebildeten Riemer zu der Ausführung veranlasst, es gebe ein göttliches Schmarutzertum, ein Sich niederlassen der Gottheit auf menschlicher Lebensgründung […], ein göttlich schweifendes Partizipieren an irdischem Glück, die höhere Erwählung einer hier schon Erwählten, die Liebesleidenschaft des Götterfürsten für das Weib des Menschenmannes (GKFA 9.1, 117).

Riemer bezieht sich dabei nicht auf den »Jupiter olympischer Souveränität, mit dem Goethe in der Goethe-Literatur traditionell gleichgesetzt wird«,409 sondern auf einen Jupiter, »wie ihn Kleists Drama Amphitryon vor Augen führt.«410 Sein Verständnis des Gottes entspricht der Interpretation, die Thomas Mann 1927 in seinem Essay Kleists Amphitryon entwickelt hat. Sie begreift Jupiter als »Künstlernatur, die das einfache Glück des Ehepaars ein wenig beneidet, ein wenig verachtet und nur als ›Schmarutzer‹ an ihm teilhaben kann«,411 als ein einsames und kompliziert-gebrochenes Wesen: »Der Jupiter-Goethe, von dem im Roman gesprochen wird, ist auf Menschen angewiesen, er verzehrt sich sogar nach ihnen und leidet auf seine Weise darunter«.412 Riemers olympische Topologie verliert vor diesem Hintergrund ihre Banalität. Wenn er Goethe mit Jupiter vergleicht, ist gerade nicht olympische Weltüberlegenheit und Schöpferkraft gemeint, wie das seit der Genie-Ästhetik des 18. Jahrhunderts der Fall war.413

Eine ähnliche Umdeutung findet statt, wenn Goethe als Christusfigur erscheint.414 Nicht nur zählt Riemer Charlotte und sich selbst »zu den Menschen 408 Ein Reflex dieses Topos findet sich im Doktor Faustus, wo der Numismatiker Dr. Kranich seine Kritik an Goethes Toleranz gegenüber dem Sinnlichen in der Kunst in die Worte fasst: »Die Betulichkeit und die Duldsamkeit gegen das Zweideutige […] sind nie als die vorbildlichsten Züge im Charakter unseres Olympiers angesehen worden« (GKFA 10.1, 600). 409 Kramer (1999), S. 32. 410 Marx (2002), S. 209 f. 411 Ibid., S. 210. Der Kommentar weist darauf hin, dass bei dieser »Mythisierung des Dreiecksverhältnisses« (GKFA 9.2, 321) zwei literarische Modelle parallelisiert werden: »Egmonts Selbstoffenbarung im spanischen Hofkleid entspricht der des Donnergottes vor der ungläubigen Alkmene. Zwei Modelle, das vom ›einsamen Künstlergeist‹, der in die Wonnen der Gewöhnlichkeit eintaucht, und das vom Bindungsschwachen, der sei Ich-Ideal vergöttlicht, überlagern sich« (GKFA 9.1, 321 f.). 412 Marx (2002), S. 210. 413 Ibid. 414 Frizen verweist darauf, dass »[i]n den Notizen zu den Goethe-Essays wie denen zum Roman […] die verwandtschaftliche Gegenüberstellung von Zeus und Jesus schon zur stehenden Formel geworden« sei (GKFA 9.2, 330), die »sakrilegische Assoziation nun von Zeus und

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[…], auf die durch ihn das Licht der Geschichte, der Legende, der Unsterblichkeit [falle] wie auf die um Jesus« (GKFA 9.1, 126);415 im Zusammenhang mit der Tatsache, dass Goethe seine Mutter vor deren Tod »elf Jahre nicht mehr gesehen« (GKFA 9.1, 103) habe, zitiert er außerdem das Christuswort aus Joh. 2, 4: »Weib, was habe ich mit dir zu schaffen?« (GKFA 9.1, 104). Dieser Ausspruch, der die radikale Unterordnung menschlicher Bindungen unter die »höhere[], welterlösende[] Sendung« (ibid.) Christi hervorhebt, wandelt durch diese Übertragung auf Goethe seine Bedeutung: Dessen ›welterlösende Sendung‹ ist die Kunst, so dass die anscheinende Kälte Christi plötzlich zum Signum des Künstlers wird und Christus selbst als ›Künstlerfigur‹ erscheint.416 Diese Umdeutung wiederum erlaubt es, Goethe, der sich selbst für die Kunst opfert, als Erlöserfigur zu begreifen417 und auf diese Weise »nicht nur die Kälte, sondern auch das Leid, die Vereinsamung und die Entsagungsleistung des Künstlers mythologisch zu nobilitieren.«418 Der »große Mann« (GKFA 9.1, 411) wird damit »zur Heilandsfigur einer modernen Menschheit […]. Der Olympier wird zum Christus, der auch sich selbst den anderen aufopfert.«419 Auch der Vergleich Goethes mit Proteus ist »ein Grundmotiv, geradezu ein Topos der Goethekritik seiner Zeitgenossen«,420 der sich ursprünglich allerdings nicht auf die Persönlichkeit, sondern auf das Werk des Dichters bezieht, auf Goethes

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Jesus einerseits, Jesus und Goethe andererseits [aber] nur hier, in der Fiktion, erträglich sein« könne (ibid.). Allerdings hat Thomas Mann, in dem nicht-christlichen Kontext von An die japanische Jugend (1932), diese Parallele zumindest als Möglichkeit angedeutet: »Wer weiß, ob sie [die Gestalt Goethes, CB] als mythusbildendes Persönlichkeitswunder nicht eines Tages der des Jesus von Nazareth gleich geachtet werden wird?« (GW IX, 286). Weitere christologische Anspielungen nennt Marx (2002), S. 226; vgl. außerdem GKFA 9.2, 580. Diese subtile Umdeutung Christi verkennt Frizen, wenn er ausführt, das »Motiv der Kälte, das im Kontrast steh[e] zu einer Christologie vom all-liebenden Heiland« (GKFA 9.2, 312), sei ein der Christusfigur wesensfremdes Element, das die »in sich schon fragwürdige Verbindung Goethes mit dem Schmerzensmann« (ibid.) noch weiter relativiere. Die Analogie zwischen Christus und Goethe wird außerdem gestützt durch Goethes Äußerungen im siebenden Kapitel, die zu verstehen geben, »daß er sich ungeachtet seiner paganen Lebensart in Christus spiegelt« [Marx (2002), S. 224]: »Aber die Hauptsache bleibt Er [Christus, CB] und die gesteigerte Lehre, das Geistige, immerfort mißverstanden vom Volk, die Verlassenheit, das Seelenleiden, die höchste Qual – und dabei trösten und stärken. Sollten merken, daß man, alter Pagane, vom Christentum mehr los hat, als sie alle« (GKFA 9.1, 284 f.). Das tertium comparationis zwischen Goethe und Christus ist die Existenz des Einsamen, Unverstandenen, Isolierten. Marx (2002), S. 219. Darmaun (1998), S. 209. Karl Robert Mandelkow: Der proteische Dichter. Ein Leitmotiv in der Geschichte der Deutung und Wirkung Goethes, in: Mandelkow, Karl Robert (Hrsg): Orpheus und Maschine. Acht literaturgeschichtliche Arbeiten, Heidelberg 1976, S. 23 – 37, hier : S. 30. Mandelkows Überblick über die historische Entwicklung dieses Vergleichs umfasst etwa Äußerungen des historischen Friedrich Wilhelm Riemer und Friedrich Schlegels.

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Bestreben wie seine Fähigkeit, sich den jedesmaligen Anforderungen, die ein neuer Gegenstand stellt, in Form, Stil und Aussage anzupassen und seine Individualität hinter der Objektivität des gestalteten Werkes zu verbergen421.

In Lotte in Weimar hingegen wird »Goethes proteische[r] Charakter nicht eigentlich aus der Formenvielfalt des dichterischen Werks«,422 sondern aus seiner Persönlichkeit selbst hergeleitet,423 aus einer »ins Ungreifbare, Undefinierbare entgleitende[n] Freiheit« (GKFA 19.1, 330) und »umfassenden Ironie« (GKFA 9.1, 94), die, »wie es im Verschen heißt, ›ihr Sach auf nichts gestellt‹ hat« (GKFA 9.1, 92). Diese Verschiebung ermöglicht es Riemer, »die Schattenseiten der proteushaften Wandlungsfähigkeit«424 Goethes psychologisch zu erklären: Wie schon bei der Rede vom Olympier erweitert Riemer auch hier das mythologische Muster um eine psychologische Perspektive, sozusagen um die Innensicht der mythischen Lebensform.425

Auf diese Weise kann er verdeutlichen, dass es sich bei Goethes ›proteischem‹ Wesen »um eine durch und durch problematische Begabung handelt«:426 Es ist bei alldem »kein Glaube an etwas Gutes in der Welt und keine Parteinahme für dieses, will sagen: kein Gemüt und keine Begeisterung« (GKFA 9.1, 95). Die Kälte, die Riemer bei der Parallelisierung Goethes mit Christus betont, erscheint hier als »ein alles umfassender Skeptizism – der Skeptizism des Proteus« (ibid.). Doch wird dieser gemäßigte Begriff gleich wieder um eine radikalere, kältere Dimension erweitert, wenn der Adlat den alten Meergott, »der sich in alle Formen verwandelt und in allen zu Hause ist, der zwar immer Proteus, aber immer ein anderer ist« (GKFA 9.1, 94), kurzerhand zur Personifikation des Nihilismus erklärt, weil er, mehr als jeder andere, »sein Sach’ auf nichts gestellt« (ibid.) habe.427 421 Ibid. 422 Marx (2002), S. 216. 423 Marx begründet diesen Wechsel des Bezugspunktes mit der Tatsache, dass es für Manns Goethe-Nachfolge nicht dienlich gewesen wäre, »bei seinem Vorbild das unerschöpfliche, eben proteische Spektrum dichterischer Gattungen hervor[zu]heben« [Marx (1997), S. 126]. Zwar trifft diese ›autorpsychologische‹ Begründung zu, doch ist der Bezug auf die Persönlichkeit Goethes auch eine textinterne Notwendigkeit, die sich aus der inneren Logik des Romans ergibt: Sein Thema ist Natur und Wirkung des ›großen Mannes‹ Goethe, und das Werk ist nur Emanation und Ausdruck seiner Persönlichkeit. Es dient als Reservoir für Anhaltspunkte und Hinweise, die zu Erklärungsversuchen herangezogen werden können, ist aber selbst sekundär. 424 Marx (2002), S. 212. 425 Ibid. 426 Ibid. 427 Die proteische Wandelbarkeit von Goethes Persönlichkeit findet ihre strukturell-narrative Entsprechung im Fehlen einer übergeordneten Erzählinstanz: »Die Vieldeutigkeit dieses Phänomens, das Proteushafte seines Wesens, das Riemer keine Ruhe läßt, ist nur in polyperspektivischer Brechung zu erahnen« [Frizen (1998), S. 182].

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Dass auch Goethe ›sein Sach’ auf nichts gestellt‹ hat, schließt Riemer daraus, dass man von ihm »gar häufig Aeußerungen [vernehme], die den Widerspruch zu sich selber schon in sich« (GKFA 9.1, 57) enthielten.428 Diese Neigung zu »naturelbische[r] Unberechenbarkeit« (GW IX, 316) bildet den Anknüpfungspunkt für den Proteus-Vergleich, und den Ursprung dieses Wesenszugs verrät das Attribut ›elbisch‹ : »Im Zentrum der Begriffsschöpfung steht […] die Beziehung zu dem unberechenbaren, nicht-festlegbaren, amoralischen Wesen der Natur« (GKFA 9.2, 298);429 ein Konzept, das Thomas Mann auch in seinen Essays entwickelt hat. In Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters formuliert Mann die Folgen dieser Prägung durch die amoralische Natur für die geistigseelischen Disposition des ›Naturkindes‹ Goethe: Die Natur gibt nicht Frieden, Einfachheit, Eindeutigkeit; sie ist ein Element der Fragwürdigkeit, des Widerspruchs, der Verneinung, des umfassenden Zweifels. Sie verleiht nicht Güte, denn sie selbst ist nicht gut. Sie erlaubt kein scheidendes Urteil, denn sie ist neutral. Sie verleiht ihren Kindern eine Indifferenz und Problematik, die mit Qual und Bösartigkeit mehr zu tun hat als mit Glück und Heiterkeit (GW IX, 316 f.).

Genau diese Geisteshaltung ist es, die Riemer als »Skeptizism des Proteus« (GKFA 9.1, 95) bezeichnet, als Ausdruck eines »vernichtende[n] Gleichmut[s]« (GKFA 9.1, 92). Dieser Gleichmut fungiert als argumentatives Bindeglied zwischen proteischem Skeptizism und Nihilism, und den Ausgangspunkt für Riemers Gedankengang bildet die Beobachtung, dass Goethe zwar duldsam sei, dass einem aber »nicht immer ganz wohl [sei] bei seiner Duldung« (GKFA 9.1, 57), da sie der Milde entbehre: Was seine Duldsamkeit angeht […], so gilt es wohl, zwischen einer Toleranz zu unterscheiden, die aus der Milde kommt, […] und einer anderen, die der Gleichgültigkeit,

428 Schon diese harmlose Beobachtung »weist voraus auf den Nihilismus der Stärke, den Nietzsche Goethe attestiert: ›Unbedenklich zwischen Gegensätzen lebend, voll jener geschmeidigen Stärke, welche sich vor Überzeugungen und Doktrinen hütet, indem sie eine gegen die andere benutzt und sich selber die Freiheit vorbehält.‹« (vgl. Nietzsche III, 509; zitiert nach GKFA 9.2, 249). 429 Über den Hintergrund der Wortschöpfung ›elbisch‹ verzeichnet der Kommentar unter anderem: »In Wagners Ring des Nibelungen verkörpert Alberich die Nachtseite der Natur und entsagt um der Macht willen der Liebe. Adrian Leverkühn, der auf Goethe folgende kalte Künstler, wird ihm diesen Fluch nachsprechen, wenn er das Teufelsbündnis eingeht und sich mit dem ›Du sollst nicht lieben!‹ die Genialität erkauft« (GKFA 9.2, 298). Das Verbot des Teufels lautet »Du darfst nicht lieben« (GKFA 10.1, 363). – Darmaun liest ungenau, wenn er behauptet, mit seinem Urteil ›elbisch‹ stehe Riemer »vor Goethe wie später Serenus Zeitblom vor Adrian Leverkühn in Doktor Faustus« [Darmaun (1998), S. 189]: Zeitblom wendet das Attribut ›elbisch‹ nicht auf Leverkühn, sondern auf Rudi Schwerdtfeger an (vgl. GKFA 10.1, 617), außerdem fehlt dem Begriff in Lotte in Weimar die homoerotische Komponente, die der Erzähler des Faustus ihm beilegt.

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der Geringschätzung entspringt und härter ist, härter wirkt als jede Strenge und Verdammung (GKFA 9.1, 58).430

Obgleich er Goethes Gleichgültigkeit als einen naturelbischen und proteischen Charakterzug einführt, nehmen Riemers Expektorationen nun eine Wendung, die diese Konzepte zugleich radikalisiert und von einem pagan-naturmystischen in einen christlich-theologischen Kontext transponiert. In Goethe und Tolstoi fragt Mann unter deutlicher Bezugnahme auf Riemers Charakterisierung: »Toleranz ohne Milde, harte Toleranz – was ist das? Das ist ja außermenschliche, eisige Neutralität, entweder etwas Göttliches oder etwas Teuflisches« (GKFA 15.1, 877). Das Konzept einer ›Toleranz ohne Milde‹ aber bildet den Kern von Riemers Goethe-Bild.431 Ehe jedoch untersucht werden kann, wie Riemer diesen Aspekt entwickelt, ist auf eine implizite Voraussetzung der folgenden Argumentation hinzuweisen, auf die unausgesprochene Gleichsetzung Goethes mit Gott – zunächst nur mit ›einem Gott‹ wie Jupiter oder Proteus, dann aber sogar mit »Gott, de[m] Herrn« (GKFA 9.1, 88).432 Riemer ist sicher, in Goethes Gegenwart das Göttliche zu empfinden, denn das Göttliche spüren wir gleich, die Alten haben uns gelehrt, daß ein eigentümlicher Wohlgeruch damit verbunden ist, woran man es gleich erkenne, und an diesem Got-

430 »Ein Beobachter, der nicht dumm gewesen sein kann, schrieb über ihn [Goethe, CB] ein Wort, das geheimen Schrecken erregt, irgendwie erstarren läßt: ›Er ist tolerant, ohne milde zu sein!‹ Man überlege doch, was das heißt! Toleranz, Duldsamkeit ist unsrer menschlichen Erfahrung nach stets mit Milde, mit Menschen- und Weltfreundlichkeit verbunden; unsres Wissens ist sie ein Produkt der Liebe« (GKFA 15.1, 877). Der Kommentar zum Essay-Band verzeichnet an dieser Stelle ›Nicht ermittelt‹ ; der Lotte-Kommentar hingegen verweist auf »Ernst von Pfu×l, dessen AperÅu: ›Er ist tolerant, ohne milde zu sein‹ […] in den Notizen und in den Essays Thomas Manns intensive Spuren hinterlassen« habe (GKFA 9.2, 250). 431 Vgl. Lehnert (1987), S. 38. Gerade bei diesem Aspekt des Mann’schen Goethe-Bildes ist es notwendig, zwischen dem Roman und den Essays zu trennen und genau abzuwägen, welche Essay-Stelle zur Argumentation herangezogen wird: Während die in Goethe und Tolstoi (1925) entwickelte Ansicht weitgehend der des Romans entspricht, lassen sich in anderen Essays, etwa in Goethe und die Demokratie (1949), abweichende, gelegentlich gegenteilige Äußerungen finden; vgl. GKFA 19.1, 614. 432 Ein Indiz für die Vorstellung von der ›Göttlichkeit‹ Goethes, die dieser Gleichsetzung zugrunde liegt, bildet die Vermeidung der direkten Namensnennung, die ihre Ursache nicht nur in »magischer Scheu« (GKFA 9.2, 220) hat, sondern den Namen Goethes behandelt wie die nomina sacra Gottes oder Christi: »›[D]er Alte‹, ›der Große‹, ›der in Rede Stehende‹, ›Jener‹, ›Einer‹, ›Er‹ sind nur einige der vielen Paraphrasen und Antonomasien, die helfen sollen, den Namen Goethes nicht zu missbrauchen« (ibid.). Auch die von Frizen gewählte Formulierung unterstützt die Assoziation zwischen Goethe und Gott, klingt in ihr doch hörbar das zweite Gebot an: »Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der Herr wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht« (Ex. 20, 7).

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tesozon, den wir in seiner Nähe atmen, erkennen wir auch den Gott oder das Göttliche, – es ist ein unbeschreiblich angenehmer Eindruck (GKFA 9.1, 95).

Auch er habe sich »neun plus vier Jahre beglücken [lassen] von diesem Fluidum« (ibid.) und sei deshalb trotz aller Beeinträchtigungen der »Mannesehre« (GKFA 9.1, 60) in Weimar geblieben. Die Behauptung eines tatsächlichen Sinneseindrucks deutet die Möglichkeit der ›Realpräsenz‹ eines Gottes an, wodurch Goethe nicht nur über das menschliche Maß erhoben, sondern auch mit der mythischen Welt der Joseph-Romane assoziiert wird.433 Riemers Erklärung für seinen Verbleib im Haus am Frauenplan stellt eine erste Verbindung zwischen Goethe und dem christlichen Gott her, denn der »Famulus« (GKFA 9.1, 118) führt aus, der Widerspruch zwischen Wohlgefühl und Unbehagen löse sich auf »in einer Liebe und Bewunderung, die, wie es in der Schrift heiß[e], höher [sei] als alle Vernunft« (GKFA 9.1, 57), womit er erneut ein Bibelwort auf Goethe anwendet.434 Als er Charlottes Vorstellung von der »Dichter-Begeisterung« (GKFA 9.1, 88) widerspricht, beginnen die sprachlichen Grenzen zwischen ›Gott‹ und ›Goethe‹ zu verschwimmen: [E]r ist nicht begeistert. […] Können Sie sich Gott, den Herrn, begeistert vorstellen? Das können Sie nicht. […] Wofür sollte Gott sich begeistern? Wofür Partei nehmen? Er ist ja das Ganze, und so ist er seine eigene Partei, er steht auf seiner Seite, und seine Sache ist offenbar eine umfassende Ironie (GKFA 9.1, 88).

Zunächst spricht Riemer von Goethe, dann von Gott, und zuletzt ist es ist nicht mehr ganz eindeutig, wer Subjekt der Aussage ist – der Charakterzug der ›umfassenden Ironie‹ passt weit eher auf den ›proteischen‹ Goethe als auf den christlichen Gott. Zu einem direkten Analogieschluss kommt es, wenn von der ›harten Toleranz‹ und ›gleichgültigen Duldsamkeit‹ Goethes die Rede ist, die unerträglich und vernichtend wäre, sie käme denn von Gott, – in welchem Falle ihr aber nach allen unseren Begriffen die Liebe unmöglich fehlen könnte, – und das tut sie tatsächlich denn wohl auch nicht, es mag in der Tat so sein, daß Liebe und Verachtung in dieser Duldsamkeit eine Verbindung eingehen, die an Göttliches zum Mindesten 433 Riemers ›Gottesozon‹ korrespondiert mit dem ›Wohlgefühl‹, das Potiphar in Josephs Gegenwart verspürt, und das auch er als Zeichen einer göttlichen Gegenwart deutet: »Ein solches Wohlgefühl, hieß es, hatten Leute empfunden, zu denen in der Gestalt eines Wanderers oder Bettlers oder irgendeines Verwandten oder Bekannten ein Gott sich gesellt […]. Sie hatten ihn, sagte man, daran erkannt oder doch einen glücklichen Verdacht daraus geschöpft« (GW IV, 896). – Allerdings wird der Tatsache, dass Lotte in Weimar in einer historischen, nicht in einer mythischen Welt verortet ist, durch die humoristische Brechung Rechnung getragen, die dieses Motiv erfährt, wenn Charlotte beim Mittagessen am Frauenplan Goethes »Eau de Cologne-Duft, frisch wie er war, als die nüchterne Wirklichkeit des sogenannten Gottesozons« (GKFA 9.1, 396) erscheint. 434 »Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus« (Phil. 4, 7), vgl. auch GKFA 9.2, 249.

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erinnert, woher es denn kommen mag, daß man sie nicht nur erträgt, sondern sich ihr hingibt zu lebenslanger Hörigkeit (GKFA 9.1, 58).

Die Schlussfigur Riemers ist formal tadellos, das Ergebnis somit zumindest logisch unanfechtbar : Goethes ›harte Toleranz‹ wäre unerträglich, es sei denn, sie käme von Gott. Dass sie nicht unerträglich ist, beweist die ›lebenslange Hörigkeit‹ des Gelehrten. Also ist Goethe – wenn schon nicht Gott, so doch etwas, das, wie der Famulus pietätvoll abschwächt, ›an Göttliches zum Mindesten erinnert‹.

2.2.2. Goethes Nihilism und der Blick der absoluten Kunst Trotz dieser Einschränkung ist die Assoziation Goethes mit Gott unabweisbar – und zugleich besteht kein Zweifel daran, dass Riemer sich nicht auf den liebenden Gott des Neuen Testaments bezieht, sondern das Bild eines von Kälte und vernichtendem Gleichmut geprägten Wesens zeichnet. Er verspricht sich »im großen Maßstabe« (GKFA 9.1, 85), denn die Beschreibung des Göttlichen schlägt unversehens ins Teuflische um, in Kälte und Amoralität.435 Der Famulus löst dieses argumentative Dilemma, indem er eine »Einerleiheit des Alls mit dem Nichts, dem nihil« (GKFA 9.1, 88), postuliert und daraus einen Begriff ableitet, der »eine Gesinnungsart, ein Weltverhalten bezeichnet« (ibid.): den Begriff »Nihilism« (ibid.). Riemer führt aus, man könne den Geist der Allumfassung mit demselben Recht den Geist des ›Nihilism‹ nennen, – woraus sich ergäbe, daß es ganz irrtümlich [sei], Gott und Teufel als entgegengesetzte Prinzipien aufzufassen (ibid.).

435 Frizen weist darauf hin, dass Riemer schon bei der Wahl der Beispiele zur Illustration von Goethes Größe – dem Vorspiel auf dem Theater und der Parabel vom Fliegentod (vgl. GKFA 9.1, 85 f.) – damit beginne, seinen ›Meister‹, »den er gerade noch als Gott gefeiert [habe], in sein satanisches Gegenteil zu verkehren« (GKFA 9.2, 285). Dabei repräsentiert die Fliege die »Opfer um Goethe, die von Goethe geködert und verführt werden, ohne in ihrer Blindheit zu merken, dass sie mit dem Tode ihres Selbst zahlen müssen. […] Eine Fliege, die dem Teufel auf den Leim geht, soll nach Mephistos Willen ja auch Faust sein […]. So schlägt die Christologie Riemers unmittelbar in eine Satanologie um: Goethe ist zugleich der Versuchergott, Baal, der Herr der Fliegen« (GKFA 9.2, 285 f.). – Damit wird eine Verbindung hergestellt vom Motiv der Kälte und des Nihilismus zum Komplex der Opfer von Goethes Persönlichkeitswirkung. Es ist jedoch festzuhalten, dass der Opfer-Aspekt für Riemers Argumentation nicht relevant ist, da die Analogie ihm vermutlich nicht bewusst wird – er hätte sonst wohl kaum ein Beispiel gewählt, das ihn als hilflos auf dem Leim zappelnde Fliege zeigt. Bemerkenswert ist allerdings, dass der Gelehrte selbst einmal von der ›Begnadung‹ spricht, an Goethes »Seite zu leben und täglich seinen Anblick zu schlürfen –, unabgesetzt, vom ersten Zug verführt« (GKFA 9.1, 91).

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Er argumentiert damit, obgleich er »kein Theolog […] und kein Philosoph« (ibid.) ist, offensichtlich metaphysisch und setzt, ohne Scheu vor Paradoxien und Aporien, die beiden Antipoden in eins: Da Gott das Ganze ist, so ist er auch der Teufel, und man nähert sich offenbar dem Göttlichen nicht, ohne sich auch dem Teuflischen zu nähern, sodaß einem sozusagen aus einem Auge der Himmel und die Liebe und aus dem anderen die Hölle der eisigsten Negation und der vernichtendsten Neutralität hervorschaut (GKFA 9.1, 88 f.).

Der Hinweis darauf, dass »zwei Augen, ob sie nun näher oder weiter bei einander l[ä]gen, […] einen Blick« (ibid.) ergäben, stellt eine Anspielung auf die »vielbeschrieenen Augen« (GKFA 9.1, 326) Goethes dar und deutet an, dass hier erneut metaphysische Kategorien auf die Person des Dichters angewandt werden. Die Übertragung wird offensichtlich, wenn der Adlat ausführt, Goethes Konzilianz habe nichts mit »Milde und Christentum« (GKFA 9.1, 91) zu tun, weil sie »kein Phänomen für sich bild[e], sondern ihrerseits zusammenhäng[e] mit der Einerleiheit von All und Nichts, von Allumfassung und Nihilism, von Gott und Teufel« (GKFA 9.1, 92). Thomas Mann bedient sich seiner Figur, um Goethe einmal mehr in den gedanklichen Kontext Friedrich Nietzsches zu stellen: Das Goethe-Bild in Lotte in Weimar ist »aus dem Horizont des modernen Nihilismus entworfen«,436 wenn auch »aus der Optik eines Ressentiment-Menschen« (GKFA 9.2, 292). Dieser Bezug unterstreicht erneut die Modernität von Goethes Künstlertum und macht ihn überdies zu einem Vorläufer und ›Bruder im Geiste‹ der Nietzsche-Figur Adrian Leverkühn.437 Weit stärker noch als durch die Kritik des Inspirationsbegriffs aus dem Geist der Entlarvungspsychologie wird die Goethe-Figur durch die Verwendung des zentralen Konzepts der Philosophie Nietzsches »in der Geschichte der Heraufkunft des Nihilismus und damit in der Moderne angesiedelt« (ibid.). Dabei liegt, wie Frizen hervorhebt, nicht nur eine Übertragung, sondern zugleich auch eine Umdeutung vor: Was Nietzsche an Goethe feierte: seine Existenz jenseits von Gut und Böse, seinen Egoismus als Ausdruck des Willens zur Macht, den großen Stil, seine pagane Überwindung der d¤cadence-Geschichte des Christentums, seinen Triumph über den Gegensatzcharakter von Gut und Böse und damit seine Überwindung des Nihilismus, all das erfährt in Riemers Perspektive eine neuerliche Umwertung und heißt nun seinerseits ›Nihilism‹ (ibid.). 436 Ohl (1983), S. 391. 437 Frizen weist darauf hin, dass »die Tragödie vom Nihilismus des Genies, von der Unmenschlichkeit des Kreativen, von der Amoralität des Künstlers« [Frizen (1998), S. 185] in Lotte in Weimar noch ›eingebettet‹ sei ins Menschliche: »Noch – im Doktor Faustus haben sich die Zeitumstände dann so gewandelt, daß die Fragwürdigkeit des Kreativitätsmythos keine schalkhafte Behandlung mehr erlaubt« [ibid.]. Allerdings ist von dem ›komödiantische Ambiente‹ vor allem des ersten Kapitels an dieser Stelle nur noch wenig zu spüren.

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Um die Konsequenzen dieser ›nihilistischen Gesinnungsart‹ Goethes zu erläutern, entwickelt Riemer das Bild der Augen weiter, aus dessen einem »der Himmel und die Liebe und aus dem anderen die Hölle der eisigsten Negation438 und der vernichtendsten Neutralität hervorschau[e]« (GKFA 9.1, 88 f.).439 Den Blick, »in dem der erschreckende Widerspruch der Augen sich aufheb[e]« (GKFA 9.1, 89), bestimmt er als de[n] Blick der Kunst, der absoluten Kunst, welche zugleich die absolute Liebe und die absolute Vernichtung oder Gleichgültigkeit [sei] und jene erschreckende Annäherung ans Göttlich-Teuflische bedeute[], welche wir ›Größe‹ nennen (ibid.).

Diesen ›Blick der absoluten Kunst‹, den Ausdruck »vollendeter Unglaubigkeit und […] elbische[r] All-Ironie« (GKFA 9.1, 96),440 richtet Goethe nach Riemers Überzeugung auf Welt und Menschen – womit deutlich wird, dass seine »mangelnde[] Anteilnahme an Menschen und Dingen« (GKFA 9.1, 393) eine Konsequenz dieser allironisch-nihilistischen Gesinnung ist: Die Menschen achtet sie nicht – es sind Bestien, und ewiglich wird’s nicht besser werden mit ihnen. An Ideen glaubt sie nicht – Freiheit, Vaterland, das hat keine Natur und ist leeres Stroh. Aber da sie der Sinn der absoluten Kunst ist, – glaubt sie denn auch nur an die Kunst? Das tut sie mit nichten (GKFA 9.1, 96).441

Goethes Blick auf Leben, Welt und Menschen ist ›nicht von dieser Welt‹,442 sondern richtet sich auf sie 438 Zum Motiv der ›Kälte‹ schreibt Frizen: »Noch ist das Thema nicht (wie später im Doktor Faustus) mit dem Teufelspakt und dem Liebesverbot verbunden, jedoch mit der Liebesunfähigkeit, der ›Inhumanität‹ und dem Verzicht auf Glück. […] Die Elemente der Künstlerdämonie liegen freilich nahe beisammen; die Künstlerkritik der Moderne braucht sie nur zu radikalisieren« (GKFA 9.2, 291); vgl. ebenfalls Ohl (1983), S. 391. – Auf die Einschränkungen, die sich aus der Gebundenheit dieser Ausführungen an die Figurenperspektive ergeben, weist Frizen an anderer Stelle hin: »Der Roman kennt das Motiv der Kälte, auch das der Eiseskälte, sehr wohl, aber es ist in den Kontext von Riemers nihilistischer Goethe-Interpretation verwiesen […] oder ist gar doppelt vermittelt als Eindruck Ludens, von dem Adele erzählt« [Frizen (1998), S. 199]; vgl. GKFA 9.1, 164 f. 439 Auch in dieser Hinsicht erweist sich Goethe und Tolstoi als Reservoir und Vorläufer des Romans. Mann referiert: »›Aus dem einen Auge blickt ihm ein Engel‹, schreibt jemand, der auf Reisen seine Bekanntschaft machte, ›aus dem andern ein Teufel, und seine Rede ist eine tiefe Ironie über alle menschlichen Dinge.‹« (GKFA 15.1, 877). 440 »Der Blick der ›absoluten Kunst‹ ist der Blick Adrian Leverkühns« [Ohl (1983), S. 395], der im Doktor Faustus leitmotivische Bedeutung gewinnt: »Der Blick, den er auf mich richtete, war der Blick […]: stumm, verschleiert, kalt distanziert bis zum Kränkenden, und es folgte das Lächeln darauf, bei verschlossenem Mund und spöttisch zuckenden Nasenflügeln, – und das Sich abwenden« (GKFA 10.1, 450). 441 Diese Einstellung spricht auch aus dem in Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters referierten Wort, dass »die Einäscherung eines Bauernhofes ein wirkliches Unglück und eine Katastrophe, der ›Untergang des Vaterlands‹ aber eine Phrase sei« (GW IX, 313). 442 Man kann diesen Befund als einen weiteren Aspekt der Christus-Figuration Goethes lesen,

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aus einer Welt des allgemeinen Geltenlassens und der vernichtenden Toleranz […], einer Welt ohne Zweck und Ursach’, in der das Böse und das Gute ihr gleiches ironisches Recht haben (GKFA 9.1, 93).

Wie Adrian Leverkühn kommt Goethe »aus einem Lande, wo sonst niemand lebt« (GKFA 10.1, 596), aus einer ›Welt der absoluten Kunst‹ – an der »sentimentalen Lebensschicht« (GKFA 10.1, 216), in der neben Serenus Zeitblom auch Charlotte Kestner und Friedrich Wilhelm Riemer ihr Leben führen, kann er allenfalls als ›Schmarutzer‹ teilhaben, wird in ihr aber immer ein Fremder sein. Goethes elementare Lebensfremdheit ist »außer- und übermoralischer Natur«443 und damit unvereinbar mit »den Ansprüchen einer die moralische, eindeutige, und überzeugungsgebundene Parteinahme des Dichters fordernden Gesellschaft«,444 so dass der Nihilism der ›absoluten Kunst‹ als Voraussetzung für die Alterität des Genies aufgefasst werden kann. Es könnte der Eindruck entstehen, Riemers Ausführungen über Goethes Größe hätten an dieser Stelle Ziel und Endpunkt erreicht: Nicht nur hat er mit dem Begriff der ›absoluten Kunst‹ eine Chiffre für das gefunden, was »wir ›Größe‹ nennen« (GKFA 9.1, 89) und ist damit »der Lösung [d]es verjährten Rätsels« (GKFA 9.1, 58), das ihn quält, schon recht nah gekommen. Diese Bestimmung umfasst überdies alle vorhergehenden ›mythologischen‹ Erklärungsversuche: Jupiters Künstlernatur und Einsamkeit, die Kälte und Lebensdistanz Christi, den Skeptizismus und die Ironie des Proteus sowie die elbische Unberechenbarkeit des ›Naturkindes‹ Goethe – alle diese Kategorien und Charaktereigenschaften gehen in Goethes Nihilism auf, der die Grundlage der ›absoluten Kunst‹ bildet und sein Verhältnis zu Welt und Menschen bestimmt.

2.2.3. Goethe als Träger des doppelten Segens? Doch enden Riemers Ausführungen nicht an diesem Punkt, denn er nimmt eine weitere Umdeutung vor, stellt eine weitere biblische Verbindung her und gibt seiner ganzen Argumentation auf diese Weise eine neue Wendung: Er identifiziert das Phänomen der ›absoluten Kunst‹ mit dem »Doppelsegen des Geistes und der Natur« (GKFA 9.1, 90), dem Jakobssegen der Schrift, am Ende der Genesis […], wo es […] von Joseph heißt, er sei von dem Allmächtigen gesegnet ›mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt‹ (GKFA 9.1, 89). als eine versteckte Anspielung auf das Christus-Wort »Mein Reich ist nicht von dieser Welt« (Joh. 18, 36). 443 Mandelkow (1976), S. 24. 444 Ibid.

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Dieser argumentative Schritt wirft mehrere Fragen auf: (1) Ist die Gleichsetzung von Nihilism und Doppelsegen legitim? (2) Was bewegt den Gelehrten, zwei so augenscheinlich unterschiedliche Konzepte miteinander zu identifizieren, und (3) wie geht er dabei vor? Zur Beantwortung der ersten Frage gilt es genauer zu bestimmen, wie Riemer den Doppelsegen versteht. Den Ausgangspunkt seiner Argumentation bildet die Feststellung, »der Mensch gehör[e] ja grundsätzlich mit erheblichen Teilen seines Wesens der Natur, mit anderen aber […] der Welt des Geistes« (GKFA 9.1, 90) an, was im allgemeinen zu einer »halsbrecherische[n] Stellung« (ibid.) führe und den Doppelsegen als einen »Fluch und eine Apprehension« (ibid.) erscheinen lasse. Kennzeichen des »großen Menschen« (ibid.) aber sei es, dass jener Segensfluch, jene apprehensive menschliche Doppelsituation in ihm zugleich auf die Spitze getrieben und aufgehoben erschein[e], […] und die Segenskombination ›oben vom Himmel herab und von der Tiefe, die unter liegt,‹ […] zur Formel [werde] einer […] ungedemütigten und absolut vornehmen Harmonie und Erdenseligkeit (GKFA 9.1, 90 f.).445

Die Vorstellungen von Nihilism und doppeltem Segen haben also gemein, dass es sich um Bestimmungen von ›Größe‹ handelt, außerdem das strukturelle Merkmal, jeweils aus der Vereinigung eines Gegensatzpaares zu bestehen: Im Nihilism verbinden sich nach Riemers Bestimmung »absolute Liebe und […] absolute Vernichtung« (GKFA 91, 89), im doppelten Segen hingegen Geist und Natur.446 Dabei handelt sich jedoch um Kategorien, die sich nicht ohne weiteres zur Deckung bringen lassen; schon die Parallelisierung von ›Liebe‹ mit ›Natur‹ sowie ›Vernichtung‹ mit ›Geist‹ erscheint bestenfalls diskutabel. Doch selbst angenommen, eine solche Gleichsetzung der Ausgangsbegriffe wäre tragfähig, gilt das sicher nicht für die Konzepte von Größe selbst, denn die »absolut vornehme[] Harmonie« (GKFA 9.1, 91), die das Ergebnis des doppelten Segens ist, unterscheidet sich zweifellos von der Kälte, Gleichgültigkeit und »umfassende[n] Ironie« (GKFA 9.1, 92) des Nihilism: Während die Gegensätze in dem einen Fall eine Synthese bilden und sich gegenseitig steigernd ergänzen, löschen 445 Darmaun weist darauf hin, dass Riemers Auffassung, »[i]n dem großen Menschen kulminier[e] das Geistige, ohne daß irgendwelche Feindseligkeit gegen das Natürliche ihm anhafte[]« (GKFA 9.1, 91), in enger Beziehung stehe zu den Genie-Vorstellungen des Sturm und Drang: »Was hier von Riemer vorgetragen wird, deutet eine Kunstauffassung an, die sich zwischen 1750 und 1772 unter dem Einfluß von Hamann, Lessing, Herder u. a. entwickelt und zum Geniebegriff führt« [Darmaun (1998), S. 187 f.]. 446 Dabei ist festzuhalten, dass Riemers Naturbegriff nicht von ›elbischer Unzuverlässigkeit‹ bestimmt ist. Indem er Natur als Gegensatz von Geist definiert, bewegt er sich innerhalb der Schiller’schen Dichotomie von naiv und sentimentalisch, so dass die Natur durch Attribute wie ›Vollendung‹, ›Harmonie‹ und »ewige Einheit mit sich selbst« (Schiller V, 695) gekennzeichnet ist.

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sie einander im zweiten Fall wechselweise aus, so dass eben ›nihil‹ übrig bleibt. Die Verknüpfung, die Riemer zwischen dem Nihilism und dem doppelten Segen herstellt, vermag also nicht zu überzeugen, da ein Unterschied besteht zwischen dem »Phänomen unchristlicher Harmonie und Menschengröße« (GKFA 9.1, 91) und dem nihilistischen Blick der ›absoluten Kunst‹. Dieser Befund führt zu der Frage, warum Riemer diese beiden Konzepte gleichsetzt, und wie er dabei argumentativ vorgeht. Seine Argumentation beginnt bei Goethes ›Naivität‹ : Sprachen wir doch von der Vereinigung der mächtigsten Geistesgaben mit der stupendesten Naivität in einer menschlichen Verfassung und merkten an, dass es diese Verbindung sei, die das höchste Entzücken der Menschheit ausmache. Von nichts anderem aber ist in jenem Segenswort die Rede (GKFA 9.1, 89 f.).447

Riemer spricht nicht nur vom »Entzücken der Welt« (GKFA 9.1, 83), sondern bestimmt Goethes Größe gar als den »Gipfel der Liebenswürdigkeit« (GKFA 9.1, 85), als »die sanfteste Form, worin Großheit auf Erden« (ibid.) erscheine, als »Größe in Gestalt höchster Liebenswürdigkeit, das Liebenswürdige zur Größe gesteigert« (ibid.).448 Er spricht Goethe also einerseits Liebenswürdigkeit und »goldn[e] Gefälligkeit« (GKFA 9.1, 86) zu, andererseits Gleichgültigkeit und Kälte, und versucht, die »Indifferenz der absoluten Kunst« (GKFA 9.1, 92) in Übereinstimmung zu bringen mit dem »Sigillum der Gottheit« (GKFA 9.1, 74), dem Geheimnis des »schönen Geiste[s]« (ibid.). Das Mittel, diese Gegensätze argumentativ zu vereinen, ist die Vorstellung des doppelten Segens: In einem Träger dieses Segens nimmt der Geist laut Riemer einen Charakter an, zu dem die Natur Vertrauen ha[be] wie zum Schöpfergeist selbst, weil er auf irgend eine Weise mit diesem verbunden, ein dem Schöpferischen vertrauter 447 Auch der Hinweis auf Goethes Naivität stellt eine Verbindung her zu Schillers Essay Von naiver und sentimentalischer Dichtung, dessen berühmte Genie-Definition lautet: »Naiv muß jedes wahre Genie sein, oder es ist keines. Seine Naivetät allein macht es zum Genie« (Schiller V, 704). Und hinter Riemers Bemerkung, Goethe sei, »wenigstens zu der Frist, als er den ›Meister‹ schrieb, nach seinem eigenen Geständnis noch durchaus schlafwandlerisch zu Werke« (GKFA 9.1, 80) gegangen, steht sowohl der ›Schlafwandler‹ Egmont als auch die Bestimmung Schillers, das Genie bleibe »immer sich selbst ein Geheimnis« (Schiller V, 705). Zu Thomas Manns Quelle vgl. GKFA 9.2, 276. 448 Thomas Mann hat diese Position, die im Roman als inadäquat entlarvt wird, in seinen Essays und Reden wiederholt vertreten, wenn es galt, Goethe »einer von ideologischen Kämpfen heimgesuchten Nation als nationales und pädagogisches Vorbild« [Kramer (1999), S. 24] zu präsentieren; vgl. GW IX, 587 und GKFA 19.1, 614. Auf solche Diskrepanzen bezieht sich Kurzke, wenn er bemerkt: »Das Gedichtete ist auch in den dreißiger Jahren wahrer als das Gerede für den Tag und die Stunde: erst Lotte in Weimar kann bei aller Verehrung auch die Inhumanität der Größe thematisieren, während die Reden von 1932 dieses Moment aus volkspädagogischen Gründen weitgehend unterdrücken« [Kurzke (1997), S. 260].

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Geist [sei], der Bruder der Natur, dem sie willig ihre Geheimnisse offenbar[e] (GKFA 9.1, 91).

Durch die Gleichsetzung der Natur, die den Geist als ›Bruder‹ annimmt, mit der Natur, die dem Geist das ›Sigillum der Gottheit‹ aufdrückt, werden Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit des Genies mit dem Doppelsegen assoziiert – den Riemer wiederum mit dem Nihilism identifiziert. Mit Hilfe dieser halsbrecherischen gedanklichen Konstruktion gelingt es ihm, Sanftheit und Kälte, Nihilism und Naivität argumentativ zu verbinden, wobei jedoch unverkennbar ist, dass diese divergenten Konzepte sich nicht sinnvoll zusammenführen lassen. 2.2.4. Das Scheitern des Friedrich Wilhelm Riemer Der Grund dafür, dass der Adlat zwei so unterschiedliche Bestimmungsversuche von Goethes Größe unternimmt und dann versucht, sie miteinander zu verbinden, besteht in der ›proteischen Natur‹ des großen Mannes, der Inkalkulabilität seiner Persönlichkeit, der Riemer nicht gewachsen ist. Zwar bemüht er sich, den Widerspruch zwischen dem »außerordentliche[n] Wohlgefühl« (GKFA 9.1, 57) und dem »Unbehagen« (ibid.), das er in Goethes Gegenwart empfindet, durch die Übersteigerung ins Göttliche aufzulösen, doch schlägt ihm dabei das Göttliche unversehens ins Teuflisch-Nihilistische um, so dass angesichts von Kälte und Gleichgültigkeit nur noch das ›Unbehagen‹ übrig bleibt. Die Gleichsetzung der ›absoluten Kunst‹ mit dem Doppelsegen, der durch assoziative Verknüpfung Elemente der Liebenswürdigkeit und Gefälligkeit mit einschließt, kann somit als vergeblicher Versuch Riemers angesehen werden, seine widersprüchlichen Eindrücke Goethes in einem Konzept zu vereinigen, das Wohlgefühl und Unbehagen, Liebenswürdigkeit und Kälte, harmonische Synthese und nihilistische Antithese gleichermaßen umfasst. Dieses Unterfangen kann nur scheitern – und so findet die Unfähigkeit Riemers, das ›Phänomen Goethe‹ zu erfassen, ihren strukturellen Ausdruck darin, dass sein Unternehmen, der Goetheschen Größe argumentativ Herr zu werden, in einer Aporie endet. Die Feststellung, dass die beiden von Riemer entwickelten Geniekonzepte sich nicht sinnvoll vereinigen lassen, sagt allerdings noch nichts darüber aus, wie jedes einzelne von ihnen zu bewerten ist: Wird Riemers Vorstellung der nihilistischen ›absoluten Kunst‹ der Goethe-Figur gerecht, wie sie im Text inszeniert ist? Oder ist Thomas Manns Goethe wie Joseph ein Träger des ›doppelten Segens‹?449 An dieser Stelle lässt sich konstatieren, dass zumindest Riemers Ver449 In der Forschung ist diese Position vielfach vertreten worden, zumeist jedoch ohne die perspektivische Gebundenheit der Aussagen Riemers zu berücksichtigen; vgl. etwa Baumgart (1991), S. 84; Kraske (1997), S. 118 f.; Schöll (2002), S. 169 f. und Käte Hamburger : Thomas Manns Goethe, in: Kreuzer, Helmut (Hrsg): Käte Hamburger. Aufsätze und

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such, den ›großen Mann‹ als Segensträger auszuweisen, nicht überzeugt, da er argumentativ auf der Identität des Doppelsegens mit dem nihilistischen ›Blick der absoluten Kunst‹ und damit auf einer Grundlage beruht, die sich als nicht tragfähig erwiesen hat. Hinzu kommt, dass die Analyse von Goethes psychischer Disposition nicht Harmonie und Ausgeglichenheit, sondern Zerrissenheit und ein nur mühsam aufrechterhaltenes inneres Gleichgewicht ergeben hat. Riemers Irrtum ist auf seine begrenzte Perspektive zurückzuführen, der die Einsicht in das Innenleben des ›großen Mannes‹ versagt bleibt. Anders als der Leser erfährt er nicht, dass die scheinbaren ›milden‹ Charakterzüge Goethes, um derentwillen er den Doppelsegen in seine Argumentation einbezieht und sein bis zum Immoralismus radikalisiertes Genie-Konzept wieder abschwächt, nur gespielt sind: Das Leben wäre nicht möglich ohne etwelche Beschönigung durch wärmenden Gemütstrug, – gleich drunter aber ist Eiseskälte. Man macht sich groß und verhaßt durch Eiseswahrheit und […] versöhnt die Welt durch fröhlich-barmherzige Lügen des Gemüts (GKFA 9.1, 324 f.).450

Goethe selbst spricht hier von der ›Eiseskälte‹, die unter dem ›wärmenden Gemütstrug‹ liege, und auch jenseits einzelner Äußerungen hat die bisherige Untersuchung gezeigt, dass die Vorstellung einer nihilistischen Grundhaltung, die sich in Goethes ›Blick der absoluten Kunst‹ auf die Welt äußert und in dem Motiv der Künstlerkälte ihren Ausdruck findet, sich bruchlos in das Verweisungsgeflecht des Romans einfügt. Es ist dieser ›Blick der absoluten Kunst‹, der bewirkt, dass Goethe Leben, Welt und Menschen nur als ›Rohmaterial‹ erscheinen, das er als ›Mittel zum Zweck‹ seiner Kunst gebraucht. Doch sind die Konsequenzen dieser »Gesinnungsart« (GKFA 9.1, 88) weit umfassender, denn Goethes nihiGedichte zu ihren Themen und Thesen. Zum 90. Geburtstag, Siegen 1986, S. 11 – 24, hier : S. 23. – Andererseits ergibt sich aus den Schwächen in Riemers Argumentation nicht zwangsläufig, dass Goethe nicht als Träger des ›doppelten Segens‹ angesehen werden kann, zumal dieser sich im Verlauf von Joseph und seine Brüder in unterschiedlicher Weise manifestiert. So besteht eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen Goethes Konzept der »universelle[n] Ubiquität« (GKFA 9.1, 328), das sich in dem »Fruchtbarmachen des Einen wie des Anderen« (GKFA 9.1, 327) ausdrückt, und der Eigenschaft t’m, die Joseph kennzeichnet, nachdem er zum ›Ernährer‹ geworden ist, und ihn zu einem »Mann des Wendepunktes und der Vertauschung der Eigenschaften [macht], der oben und unten zu Hause« ist (GW V, 1617). Um die Frage zu beantworten, ob zwischen den verschiedenen Ausprägungen des Doppelsegens und dem auf Goethes Nihilismus basierenden Mittlertum hinreichende Übereinstimmungen bestehen, die es rechtfertigen, ihn als ›Segensträger‹ zu bezeichnen, wäre jedoch eine eingehende Untersuchung erforderlich, die hier nicht geleistet werden kann. 450 Gerade vor dem Hintergrund der weitgehenden Ähnlichkeit zwischen Goethe und Leverkühn lässt sich ein kennzeichnender Unterschied ausmachen: Beider Persönlichkeit ist maßgeblich von ›Eiseskälte‹ bestimmt, doch während Goethe diese durch ›Lügen des Gemüts‹ verbirgt, der Gesellschaft gegenüber die Form wahrt und »den Minister, den Höfling« (GKFA 9.1, 264) spielt, ist der Künstler der Moderne zu derartigen gesellschaftlichen Konzessionen nicht mehr bereit.

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listisches Verhältnis zum Leben hat Auswirkungen nicht nur auf seine Mitmenschen, sondern auch auf ihn selbst: Es schließt ihn von diesem Leben aus, löst ihn aus allen menschlichen Bindungen und gesellschaftlichen Konventionen,451 macht ihn zu einem alterus: zum Bewohner einer Welt, in der ›sonst niemand lebt‹. Die Folge ist vollkommene Isolation – und die prinzipielle Unerreichbarkeit von jedem menschlichen, gesellschaftlichen oder moralischen Anspruch.452 Damit lässt sich nun die Frage beantworten, die im Zusammenhang mit Goethes Produktionsstrategie bereits gestellt wurde, wie ihm nämlich in Anbetracht der unausweichlichen Verstrickung in Schuld kreatives Schaffen überhaupt noch möglich sei. Es wurde, unter Bezugnahme auf die Metaphorik des Paria-Gedichts, die These aufgestellt, das Genie Goethe sei gekennzeichnet durch eine ›amoralische Reinheit‹, die die Voraussetzung für sein Schaffen bilde und durch persönliche Schuld nicht berührt werden könne. Vor dem Hintergrund von Riemers nihilistischem Geniekonzept kann diese These als plausibel gelten: Goethes Existenz in einer Sphäre der ›absoluten Kunst‹, in der »das Böse und das Gute ihr gleiches ironisches Recht haben« (GKFA 9.1, 93), macht ihn unberührbar für Charlottes Ansprüche und die daraus resultierende Schuld. Die gesellschaftlichen, ethischen und moralischen Kategorien, die die Grundlage ihrer Ansprüche bilden, gelten für ihn nicht. Obgleich Riemer diesen Aspekt Goethescher Größe, den Nihilismus und Immoralismus des Genies, adäquat erfasst, misslingt sein Versuch, die Widersprüche im Wesen des ›großen Mannes‹ in einem Konzept zu vereinen, weil der Famulus, bei all seinem psychologischen Scharfblick, das ›Phänomen Goethe‹ nicht zu begreifen vermag – es erweist sich für ihn als inkalkulabel.

2.3.

Das Selbstverständnis des ›großen Mannes‹

2.3.1. Größe als ›universelle Ubiquität‹ Im Gegensatz zu Riemer hat der Leser Einsicht in Goethes Innenleben und erfährt so, was dieser selbst als Ursache und Ermöglichungsbedingung seiner Größe ansieht. Dabei spielt ein Faktor eine Schlüsselrolle, dessen Bedeutung für das Selbstverständnis des ›großen Mannes‹ auch der Famulus partiell erfasst: die 451 Gemeint ist selbstverständlich nicht die faktische Loslösung Goethes aus gesellschaftlichen Bindungen, sondern seine geistige Einstellung des prinzipiellen ›Außerhalb-Stehens‹. 452 Vor diesem Hintergrund erscheint Kraskes Behauptung, Goethe erscheine »als großer Bürger, der einen ganzen Katalog bürgerlicher Tugenden in seiner Person vereinig[e]« [Kraske (1997), S. 120] als eine allzu leichtfertige Übertragung des Goethe-Bildes etwa des Essays Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters auf den Roman.

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Zeit. Goethes Respekt für die Zeit drückt sich nicht nur in seinem »minuziösen, um nicht zu sagen pedantischen Zeitkulte« (GKFA 9.1, 56) aus, sondern auch in seiner Arbeitsweise, die ein »zähes und unablässiges Festhalten und Fortspinnen an einem Gegenstande durch ungeheuere Zeitstrecken ist« (GKFA 9.1, 77), sowie in seinem ganz und gar ungenialischen Arbeitsethos: Halte die Zeit. Überwache sie, jede Stunde, jede Minute! […] Heilige jeden Augenblick! Gib ihm Helligkeit, Bedeutung, Gewicht durch Bewußtsein, durch redlich-würdigste Erfüllung! (GKFA 9.1, 296 f.).

Was der Famulus nicht wissen kann: Zeit ist für Goethe weit mehr als eine Abfolge von Stunden und Tagen, die es zu nutzen gilt. Sie ist eine ›geniebildende Macht‹, weil erst sie das Wachsen und Reifen der Werke und damit den schöpferischen Prozess ermöglicht:453 [N]ur Zeit bringts heran. Zeit muß man haben. Zeit ist Gnade, unheroisch und gütig, wenn man sie nur ehrt und emsig erfüllt; sie besorgt es im Stillen, bringt dämonische Intervention … Ich harre, mich umkreist die Zeit (GKFA 9.1, 288).454

Und so bittet er um Zeit, um neben den Anforderungen des Alltags (vgl. GKFA 9.1, 289) auch für »kurios-geheimere[] Werke« (GKFA 9.1, 356) noch Muße zu haben: Zeit, Zeit, gib mir Zeit, gute Mutter, und ich tu alles. Als ich jung war, sagte mir Einer : Du gibst dir die Miene auch, als sollten wir hundertundzwanzig Jahre alt werden. Gib sie mir, gute Natur, gib mir so wenig nur von der Zeit, über die du verfügst, gemächliche, und ich nehm allen andern die Arbeit ab, die du getan sehen möchtest und die ich am besten mache« (GKFA 9.1, 296).

Doch bittet er nicht einfach um die Verlängerung seines Lebens, denn ›Zeit‹ bedeutet vor allem Steigerung und Wachstum: »Alles wird immer schöner, bewußter, bedeutender, mächtiger und feierlicher« (GKFA 9.1, 293). Hier kommt Goethe selbst auf den Begriff der ›Größe‹ zu sprechen, an dessen Bestimmung Riemer scheitert: 453 Die Bedeutung der Zeit verdeutlicht der Gegensatz zu Schiller, der »keine Zeit hatte« (GKFA 9.1, 288): »Während Schiller urgieren muss, um die Zeit nicht zu verlieren, ist Goethe ihr Günstling. Die Zeit kommt zu ihm wie zur Seherin Manto« (GKFA 9.2, 513), der »wahrsagend-zeitlose[n] Priesterin des Apollo und Tochter des Teiresias« (ibid.), deren Ausspruch Goethe hier auf sich bezieht und so die ›ewige Fortdauer‹, die sie auszeichnet, für sich beansprucht: »Ich harre, mich umkreist die Zeit« [Faust II, V. 7481]. 454 Es ist fraglich, ob sich diese ›dämonische Intervention‹ auf Goethes Konzept des Dämonischen im Sinne einer »charismatische[n] Kraft der Persönlichkeit und ihre[r] suggestiven Wirkungen« (GKFA 9.2, 456) beziehen lässt. Sie erscheint eher als ein Reflex der alten Vorstellung des griechischen daimon, der seinem Schützling zu kreativ-schöpferischen Erkenntnissen verhilft – womit die Vorstellung transzendenter Inspiration, die schon ›entlarvt‹ zu sein schien, zumindest indirekt wieder Eingang in den Roman findet.

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Größe ist nur beim Alter. Ein Junge kann ein Genie sein, aber nicht groß. Größe ist erst bei der Macht, dem Dauergewicht und dem Geist des Alters. Macht und Geist, das ist das Alter und ist die Größe – und die Liebe ist’s auch erst! (GKFA 9.1, 292).

›Größe‹ bezeichnet also ein Entwicklungsstadium, das über ›bloßes‹ Genie hinausgeht – ein auf den ersten Blick frappierender Befund, doch hat sich bereits gezeigt, dass Goethe ›Genialität‹ im hergebrachten Sinn als ein Attribut der »närrische[n] Natur« (GKFA 9.1, 329) der Jugend ansieht, so dass eine Steigerung von ›Jugendnarrheit‹ zu ›Altersgröße‹ postuliert werden kann. Die außerordentliche Fruchtbarkeit dieser Steigerung erklärt sich daraus, dass sie zwar eine Folge des Alters ist, dabei aber verjüngende Wirkung hat: »Wachstum, Wachstum. Solange man wächst und die Krone breitet, ist man jung« (GKFA 9.1, 284) – was Goethes Altersgröße eine dezidiert erotische Dimension verleiht: Was ist Jugendliebe gegen die geistige Liebesmacht des Alters? Was für ein Spatzenfest ist das […] gegen die schwindlichte Schmeichelei, die holde Jugend erfährt, wenn Altersgröße sie liebend erwählt und erhebt […] – gegen das rosige Glück, worin lebensversichert das große Alter prangt, wenn Jugend sie [sic!] liebt? (GKFA 9.1, 292 f.)

Die Entwicklung zur Größe hat jedoch noch eine weitere Dimension. Sie führt nicht nur zu einer Intensivierung der Lebenserfahrungen, sondern lässt Goethe auch immer größere Bereiche des menschlichen Wissens als zugehörig empfinden: Dem Unzugehörigen verschließt sich der Geist. Aber freilich wirds immer mehr, was dazu gehört, je älter man wird, je mehr man sich ausbreitet, und treibt mans so fort, wirds bald nichts Unzugehöriges mehr geben (GKFA 9.1, 330).

Während »die blöde Menge« (GKFA 9.1, 237) in ihm noch immer vor allem »Deutschlands große[n] Dichter« (GKFA 9.1, 217) sieht, ist er über die Poesie längst hinausgewachsen: Ach, das poetische Talent, zum Kuckuck damit, die Leute glauben, das sei es. Alsob man noch vierundvierzig Jahre lebte und wüchse, nachdem man mit vierundzwanzig den Werther geschrieben, ohne hinauszuwachsen über die Poesie! Alsob es die Zeit noch wäre, daß mein Kaliber sich im Gedichte machen genügte! (GKFA 9.1, 290).

Goethe will sich nicht auf das ›Gedichte machen‹, auf die Dichtung beschränken lassen. Zur Zeit des Werther hatte Bretschneider ihm ›poetisches Genie‹ attestiert, und was sein jugendliches Ich betrifft, stimmt Goethe diesem Urteil weitgehend zu. Im Jahre 1816 ist das Konzept, mit dem er sich selbst beschreibt, nicht mehr das des Genies: Wisse [sic!] nicht, die Dusselköppe, daß ein großer Dichter vor allem groß ist und dann erst ein Dichter […]. Aber das Narrenvolk glaubt, man könne groß sein, wenn man den Divan macht, und bei der Farbenlehre, da wär mans nicht mehr (ibid.).

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›Größe‹ ist für Goethe eine persönliche Qualität, bei der es sich »weniger darum handelt, ob einer etwas kann, als darum, ob einer etwas ist« (GKFA 15.1, 825). Sie besteht »im esse, nicht im operari […], und nicht aufs Meinen, Sagen oder auch Tun kommt es an, sondern aufs Existentielle, auf die Substanz« (GKFA 19.1, 325). Goethes Konzept von Größe »richtet sich gegen die einseitig schöngeistige Genie-Auffassung seiner Zeit« (GKFA 19.1, 314), und es findet seinen treffendsten Ausdruck eben in der Feststellung, »daß ein großer Dichter vor allem groß – und erst dann ein Dichter ist« (ibid.). Es handelt sich bei Goethes Größe also um eine existentielle und substantielle Eigenschaft seines Wesens, und damit hängt es zusammen, dass die Poesie für ihn nur noch »Liebhaberei ist und der Ernst bei ganz was anderem, nämlich beim Ganzen« (GKFA 9.1, 290) – das heißt überall dort, wo es zu einer fruchtbaren ›Kontaktnahme‹ kommt, unabhängig davon, ob es sich um Optik (vgl. GKFA 9.1, 294) oder Evolutionsbiologie (ibid.) handelt, um Meteorologie455 oder Architektur (vgl. GKFA 9.1, 295). Goethes Anspruch ist allumfassend geworden, und Carl bemerkt zurecht: »Den Interessenbezirk von Ew. Excellenz, den kann man geradhin universell nennen« (GKFA 9.1, 301). Diese Universalität hat ihren Ursprung in Goethes Wesen und Sein: Weil ich von der Poesie zu den Künsten kam und von diesen zur Wissenschaft […], so soll ich ein Dilettant sein. Laß dirs gefallen! […] Alsobs nicht Alleines wäre, das Alles; alsob nicht nur der etwas davon verstünde, der Einheit hat, und die Natur sich nicht dem nur vertraute, der selber eine Natur (GKFA 9.1, 295).

Unmittelbar führt Goethe hier die Möglichkeit der Einsicht in All und Natur auf das esse des Individuums zurück: Nur wer selbst ›eine Natur‹ ist kann die Natur, nur wer ›Einheit hat‹, den Kosmos begreifen. Von zentraler Bedeutung für diesen Anspruch auf Universalität ist der Begriff der Liebhaberei, des ›Dilettantism‹,456 der für Goethe den Gegensatz bildet zu jeder spezialisierten und damit notwendig partikularen Bildung: »Liebhaberei ist nobel und, wer vornehm, ein Liebhaber. Gemein dagegen ist alles, was Gilde und Fach und Berufsstand« (ibid.). Dieser Gegensatz erklärt auch, warum Riemer, wie alle anderen, bei dem 455 Noch aus dem Bett heraus schließt Goethe vom Barometerstand auf die Bewölkung: »Dann kann ich mir die Troposphäre schon denken. […] Es sind langezogene Kumulus [sic!], Haufenwolken in der untern Region, stimmt das? Und höher stehen leichte Zirri und Windbäume und Besenstriche bei stellenweise durchblickendem Himmelsblau« (GKFA 9.1, 300). Die angesprochenen atmosphärischen Phänomene »sind eher beliebiger Art und haben das Ziel, Goethes Beschlagenheit auch auf diesem Gebiet zu demonstrieren sowie seine Sensibilität für das Atmosphärische […], seine Naturnähe (vgl. Goethe und Tolstoi; GKFA 15.1, 851 f.), all das, was Thomas Mann in Goethe und Tolstoi seine antäische Natur genannt hat, einzubeziehen« (GKFA 9.2, 548). 456 Vgl. zu diesem Thema allgemein Hans Rudolf Vaget: Dilettantismus und Meisterschaft. Zum Problem des Dilettantismus bei Goethe. Praxis, Theorie, Zeitkritik, München 1971.

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Versuch scheitert, Goethe zu begreifen: Er ist kein ›Natur‹, sondern gekennzeichnet durch die Partikularität des Gelehrten, der der intuitiven Einheit des Genies verständnislos gegenübersteht.457 Was hingegen Goethe unter ›Dilettantism‹ versteht, ist höchst aufschlussreich für die vorliegende Untersuchung: Ahndete euchs wohl je, daß Dilettantism ganz nah verwandt dem Dämonischen und dem Genie, weil er ungebunden ist und geschaffen, ein Ding zu sehen mit frischem Aug, das Objekt in seiner Reinheit, wies ist, nicht aber, wie Herkommen will, daß mans sehe (ibid.).

Die Bezugnahme auf das ›Dämonische‹ verrät, dass Goethe auch ›Dilettantism‹ als eine Folge des esse versteht, der angeborenen »und in Gottes Namen getragene[n] Wesensform« (GKFA 9.1, 332), also der Persönlichkeit. Überdies zeigt sich, dass er den Geniebegriff nicht grundsätzlich verwirft, sondern nur die zu eng gefasste Vorstellung eines ›poetischen Genies‹, das aufs ›Gedichte machen‹ reduziert ist. Eine solche Einschränkung wird seiner Wirklichkeit ebenso wenig gerecht wie Charlottes laienhafte Vorstellung von inspirierter »Dichter-Begeisterung« (GKFA 9.1, 88). Goethes Geniebegriff ist umfassender, denn er schließt alles ein, was er unter ›Größe‹ versteht und als Folge seiner ›natürlichen Verdienste‹, seines Wesens und Seins ansieht; alles, was sich in der Intensivierung seiner Lebenserfahrungen und in seinem Anspruch auf Universalität ausdrückt. In diesem Sinne sind Genie, Größe und Persönlichkeit für ihn synonyme Begriffe, und es kann nicht verwundern, dass er das, worauf sie verweisen, »das höchste Glück der Erdenkinder« (GKFA 9.1, 75) nennt. An dieser Stelle kann formuliert werden, warum Riemer an einer Antwort auf die Frage scheitert, die am Beginn dieses Kapitels steht. Wenn er sich fragt, was seinen »Herrn und Meister« (GKFA 9.1, 409) über »den frommen Claudius, den lieben Hölty, den edlen Matthison« (GKFA 9.1, 83) erhebe, vergleicht er ihn mit Dichtern, die eben ›nur‹ Dichter sind, während Goethe dieses Stadium bereits überwachsen hat: Die Zeit, da »[s]ein Kaliber sich im Gedichte machen genügte« (GKFA 9.1, 290), ist lange vorbei. Und hier zeigt sich auch, dass Riemers Konzept der ›absoluten Kunst‹, so treffend es auch sein mag, immer noch zu kurz greift, 457 Zugleich verkörpern Goethe und Riemer den alten Topos vom Gegensatz zwischen dem Genie und dem Gelehrten, der sich bereits in der Antike findet und noch bei Nietzsche seine Wirkung entfaltet [vgl. Schmidt (2004b), S. 184 sowie Schmidt (2004c), S. 155]: »Goethe and Riemer are polar opposites when regarded as ideal types: creative man and reactive scholar confront each other ; Riemer’s activity as philologist and antiquarian merely amounts to a substitute creativity« [Frizen (2004a), S. 187]. In diesen Zusammenhang gehört sowohl Goethes Geringschätzung »einer schulgerecht systematischen Bildung und Erziehung« (GKFA 9.1, 69) als auch Riemers eigenes Urteil über den Wert akademischer Bildung im Vergleich mit den Werken der Dichtung: »›Füllest wieder Busch und Tal‹ ist ein Juwel, ich gäbe mein Doktordiplom dafür, nur zwei Strophen davon gemacht zu haben« (GKFA 9.1, 83).

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eben weil es sich auf die Kunst beschränkt. Es ist Ausdruck und Folge von Riemers Partikularität, dass er dank psychologischer Scharfsicht zwar diesen einen Aspekt von Goethes Wesen zu erfassen vermag, aber gerade dadurch die Totalität des ›großen Mannes‹ verkennt. Goethes Universalitätsanspruch erstreckt sich jedoch nicht nur auf konkrete Wissensgebiete wie Optik oder Architektur, sondern bildet das Prinzip, das sein Verhältnis zur Sphäre des Geistigen überhaupt bestimmt und seine proteische Wandelbarkeit zu einer Zwischenstufe werden lässt. Diese Entwicklung beginnt mit seiner nihilistischen Weigerung, sich auf einen Standpunkt festlegen zu lassen: Gibts etwas Lustigeres, als den Verrat an den Anhängern? Ein Vergnügen, diebischer, als dies, ihnen zu entkommen, sich von ihnen nicht festhalten zu lassen, sie zum Narren zu haben, – einen größeren Spaß, als ihre offenen Mäuler, wenn man sich selbst überwindet und die Freiheit gewinnt? (GKFA 9.1, 311 f.)

Doch beschränkt Goethe sich nicht darauf, keinen Standpunkt zu haben und jeder Partikularität zu negieren, sondern erhebt einen prinzipiellen, auch das Geistige umfassenden Anspruch auf Totalität, der den ›Nihilism‹ transzendiert und Riemers Begriffsvermögen übersteigt: Ist nicht […] meine Sache Bejahen, Geltenlassen und Fruchtbarmachen des Einen wie des Anderen, Gleichgewicht, Zusammenklang? […] Individualität und Gesellschaft, Bewußtheit und Naivität, Romantik und Tüchtigkeit, – beides, das andre immer auch und gleich vollkommen, – aufnehmen, einbeziehen, das Ganze sein, die Partisanen jedes Prinzips beschämen, indem man es vollendet – und das andre auch (GKFA 9.1, 327 f.).

Die Kombination von proteisch-nihilistischer Ungebundenheit mit dem Anspruch auf umfassende Universalität verleiht Goethes Größe eine transzendente Qualität, die er selbst mit dem Begriff der »universelle[n] Ubiquität« (GKFA 9.1, 328)458 bezeichnet. Dabei weist er explizit darauf hin, dass ein solcher geistiger Zustand nur durch die Aufgabe der eigenen Existenz erlangt werden könne, was nicht jedem gegeben sei: Die Existenz aufgeben, um zu existieren, das Kunststück will freilich gekonnt sein; gehört mehr dazu als ›Charakter‹, gehört Geist dazu und die Gabe der Lebenserneuerung aus dem Geist (GKFA 9.1, 313). 458 Der Kommentar erläutert ›Ubiquität‹ als »(lat.) Allgegenwart (ursprünglich Gottes oder Christi). Zu vergleichen ist Goethes Aphorismus, der dem Genie Ubiquität zuspricht: ›Das Genie übt eine Art von Ubiquität aus, in’s Allgemeine vor, in’s Besondere nach der Erfahrung.‹« (GKFA 9.2, 614 f.). Der Begriff der ›Ubiquität‹ unterstreicht damit nicht nur ein weiteres Mal die Assoziation Goethes mit Gott bzw. Christus, sondern weist auch erneut auf die Präsenz des Geniebegriffs hin.

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2.3.2. Geistverstärkte Lebenserneuerung Thomas Mann selbst hat wiederholt auf die große Bedeutung der Josephs-Romane für Lotte in Weimar hingewiesen: Der Vergleich mit dem Joseph ist sehr richtig. Ohne die lange mythische Schule, die ich bei ihm durchgemacht, hätte ich mich nie in das Abenteuer der Realisierung des Goethe-Mythos zu stürzen gewagt.459

Mit der Formel ›Realisierung des Mythos‹ bezieht sich Mann auf die erzählerische Technik, die dem Leser »die Illusion [vermittelt], ganz genau zu erfahren, wie Er wirklich gewesen ist«,460 ihn scheinbar zum Augenzeugen der Ereignisse auf dem Grund des »Brunnen[s] der Vergangenheit« (GW IV, 9) macht. Mehr noch als an dieser formalen Parallele oder der Vielzahl von Details, die den engen inneren Zusammenhang der beiden Werke belegen, lässt sich der Einfluss der Tetralogie auf den Goethe-Roman im Rahmen der vorliegenden Untersuchung an einer strukturellen Übereinstimmung nachweisen: an dem Motiv des ›InSpuren-Gehens‹, des »zitathafte[n] Lebens« (GW IX, 497), das in Lotte in Weimar eine beinahe ebenso maßgebliche Rolle spielt wie in Joseph und seine Brüder – allerdings in charakteristischer Abwandlung, die mit der Übertragung aus einem mythischen in ein historisches Umfeld zusammenhängt. Im Kontext des 19. Jahrhunderts, so formuliert Nutt-Kofoth den wesentlichen Unterschied, wird das mythische Muster zur literarischen Produktionsstrategie der Autorfigur Goethe, nun nicht mehr wie im Joseph auf eine Kette von Generationen ausgelegt, sondern auf die Zeitfolge eines Menschenlebens begrenzt […]. Der Autor Goethe […] steht nicht in einer Kette mythisch geprägter Ereignisse, sondern er ist selbst der Produzent dieses Mythos durch die Art der Verarbeitung seiner Erlebnisse im literarischen Text, also der eigentliche Urheber des Mythos.461

Die Analyse ist zutreffend, greift in ihrer Beschränkung auf das Werk jedoch zu kurz. Da Werk und Leben Goethes in so unmittelbarer Wechselbeziehung stehen, dass man »von dem Werke als seinem Leben, von dem Leben aber als seinem Werke« (GKFA 9.1, 249) sprechen kann, bildet das ›In-Spuren-Gehen‹ in Lotte in Weimar weit mehr als eine bloß literarische Produktionsstrategie. Es ist, ganz im Geiste von Joseph und seine Brüder, eine Lebens-Strategie, deren Spuren sich erst in zweiter Linie auch in Goethes Werken abzeichnen, die nur »Wiederholungen und Steigerungen eines Lebensmusters«462 sind. Die Beschränkung auf die Dauer eines Menschenlebens bringt es mit sich, 459 460 461 462

Brief Thomas Manns an Käte Hamburger vom 7. 3. 1940, zitiert nach Mann (1996), S. 52. Brief Thomas Manns an Kuno Müller vom 3. 3. 1940, zitiert ibid., S. 51. Nutt-Kofoth (2004), S. 261. Siefken (1981), S. 230.

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dass Goethe, statt in den Spuren mythischer Urbilder und Vorfahren, in seinen eigenen Spuren wandelt, was für das Wesen seiner Nachahmung nicht ohne Folgen bleibt: »In the Goethe novel the patterns of recurrent imitation […] are psychological and literary rather than mythical or divine.«463 Goethe richtet sein Leben so ein, dass er das bereits Gelebte noch einmal leben kann – nicht als banale Wiederholung, sondern in gesteigerter Form: »Leben ist Steigerung, das Gelebte ist schwach, geistverstärkt muß mans noch einmal leben« (GKFA 9.1, 307).464 Ablesen lässt sich diese Strategie der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ vor allem an Goethes Liebschaften, »denn um eine […] Wiederholung des LotteErlebnisses handelt es sich ja bei der Hatem-Liebschaft mit Marianne Willemer«:465 Lotte am Klavier […] – war das nicht Marianne schon, akkurat, oder richtiger : wars diese nicht wieder, wie sie Mignon sang, und Albert saß auch dabei, schläfrig und duldsam? War schon wie ein Festbrauch diesmal, Ceremonie, Nachahmung des UrGesetzten, feierlicher Vollzug und zeitlos Gedenkspiel, – weniger Leben, als erstmals, und auch wieder mehr, vergeistigtes Leben (GKFA 9.1, 317).466

Hier zeigt sich erneut die charakteristische Verquickung von Leben und Werk: ›Lotte am Klavier‹ rekurriert auf die entsprechende Werther-Szene (vgl. HA 6, S. 80); der Verweis auf Marianne, ›wie sie Mignon sang‹, bezieht sich auf die Ereignisse während Goethes Aufenthalt auf der Gerbermühle im Jahre 1814 (vgl. GKFA 9.1, 243 f.), und die Benennung Geheimrat Willemers als ›Albert‹ verweist wiederum auf den Werther : Sie identifiziert den Gatten Mariannes mit der literarischen Figur von Lottes Verlobtem und bezeichnet so die Rolle, die er in dieser Konstellation zu spielen hat.467 Auch das Phänomen der Steigerung lässt sich sowohl auf der Ebene des Lebens wie auf der des Werkes nachweisen: Bei dem Bericht von seines Vaters zweitem Aufenthalt bei den Willemers bemerkt August, dieser habe »eine vollkommene Wiederholung, ja noch eine Steigerung des Wohlseins [gebracht], das Vater beim ersten Mal genossen« (GKFA 9.1, 252) habe. Eine Steigerung vollzieht sich auch im Geistig-Poetischen, denn während Marianne Willemer sich bei 463 Heller (1995), S. 135. 464 »Progression und Modifikation durch Progression ist für Goethe ein Grundphänomen der Natur und neben der Polarität deren Grundantrieb […]. Den an der Metamorphose abgelesenen Gedanken überträgt er nicht nur auf moralische und ästhetische Phänomene, sondern besonders auch auf sich selbst« (GKFA 9.2, 559). 465 Brief Thomas Manns an Karl Ker¤ryi vom 16. 2. 1939, zitiert nach Mann (1996), S. 31. 466 Mit dem ›Festbrauch‹ wird auf ein zweites grundlegendes Motiv der biblischen Tetralogie angespielt, das mit dem des In-Spuren-Gehens in engem Zusammenhang steht. 467 Zu diesem ganzen Komplex vgl. die Anmerkungen im Kommentarband, GKFA 9.2, 446 – 448.

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Goethes erstem Aufenthalt nur reproduzierend betätigt, indem sie ihm »seine Mignon, sein Mondlied, seine Bajadere« (GKFA 9.1, 244) singt,468 antwortet sie, als er beim zweiten Besuch aus dem Divan vorträgt, auf seine »leidenschaftlichen Ansprachen in Suleika’s Namen geradezu ebenbürtig« (GKFA 9.1, 253);469 und bei dem »überletzten Abschiedsabend« (ibid.) fördert sie »ein Erwiderungsgedicht von solcher Schönheit zu Tage […], daß es ebenso gut von [Goethe] hätte sein können« (ibid.). Das Verhältnis der gesteigerten Wiederholung besteht jedoch nicht nur zwischen den beiden Besuchen Goethes auf der Gerbermühle, sondern auch zwischen den ›Geliebten‹ Marianne und Charlotte: Während letztere es »für der Frauen Teil [ansieht], sich bloß zu verwundern, was so ein Mann nicht alles, alles denken kann« (GKFA 9.1, 252),470 wird Marianne-Suleika gerade dadurch charakterisiert, dass sie »keineswegs zu den Frauenzimmern zu gehören scheint, welche sich nur darüber verwundern, was so ein Mann nicht alles denken kann« (GKFA 9.1, 252 f.): »Marianne von Willemer wird wegen ihrer kongenialen Mitarbeit an den Divan-Gedichten mit Charlotte Kestner kontrastiert, die nur des Zitats fähig scheint« (GKFA 9.2, 460).471 Goethes Leben ist somit gekennzeichnet durch die Synthese der Phänomene ›Wiederholung‹ und ›Steigerung‹ :

468 Alle drei Gedichte behandeln bezeichnenderweise erotische Themen (vgl. GKFA 9.2, 447 f.). »Wegen der überdeutlichen Anspielungen auf Marianne von Willemers Biographie protestiert Goethe im siebenten Kapitel gegen den Vortrag der Ballade [Der Gott und die Bajadere, CB] – was er auch in Wirklichkeit getan hat« (GKFA 9.2, 448): »Singt die kleine Frau Der Gott und die Bajadere, sollte sie nicht singen, ist ja beinahe ihre eigene Geschichte. Singt sie Kennst du das Land – mir kamen die Thränen und ihr auch, der Lieblich-Hochgeliebten, die ich mit Turban und Schal geschmückt« (GKFA 9.1, 297). 469 »Suleika] In der islamischen Tradition der Name von Potiphars Weib, das in der Bibel (Gen. 39) namenlos bleibt. Suleika gilt unter Muslimen als Märtyrerin der Liebe, deren unerfüllte Leidenschaft zu Joseph sich zur Gottesliebe läuterte. Mit dem Namen, den Goethe am ersten Tag der Rheinreise 1815 seiner Figur verleiht, legt er zugleich die Spielregeln ihres Verhältnisses fest« (GKFA 9.2, 449); vgl. Katharina Mommsen: Goethe und die arabische Welt, Frankfurt am Main 1988, S. 542 – 544. 470 Die Empfänge im ›Elephanten‹ bilden da eine Ausnahme, wie Charlotte selbst bemerkt: »Aber was rede ich? Es fließt mir heute so zu« (GKFA 9.1, 252). In der Forschung ist mehrfach darauf hingewiesen worden, dass sie in dieser Situation eine ›Steigerung‹ durchlaufe; Siefken etwa führt aus, Charlotte sei, »ähnlich wie Felix Krull in seinen Gesprächen mit dem Marquis de Venosta und Professor Kuckuck, in der Lage, ihre neuerworbenen Kenntnisse dieses Morgens nun gleich wieder einzusetzen. […] Eine gewisse hochstaplerische Steigerung hat sich im Laufe des Morgens der Hofrätin bemächtigt« [Siefken (1981), S. 220 f.]. – Die Formulierung Charlottes, es ›fließe ihr so zu‹, stellt außerdem eine Assoziation zu der diabolischen »Eingießung« (GKFA 10.1, 336) Adrian Leverkühns her, den »divinis influxibus ex alto« (GKFA 10.1, 13), mit denen er begnadet ist, und damit zur Inspirations-Theorie. 471 Bei dem Zitat handelt es sich um einen Ausspruch Gretchens aus Faust I: »Du lieber Gott! was so ein Mann / Nicht alles, alles denken kann!« [V. 3211 f.].

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Thomas Mann konzipiert Goethes Größe im Sinne mythischer Zeitlosigkeit. Goethe spielt sein Leben mythisch, er wiederholt seine Liebeserlebnisse so, daß er […] eine schöpferische Regeneration gewinnt472.

Mit der Steigerung im Leben korrespondiert die Steigerung im Werk.473 Nachdem Goethe über die Qualitäten und Eigenschaften des Werther sinniert hat, fügt er hinzu: Mit dem Divan ists ganz dasselbe, – wunderlich, wie es immer wieder dasselbe ist. Divan und Faust, schon recht, aber Divan und Werther sind ja Geschwister noch mehr, besser gesagt: dasselbe auf ungleichen Stufen, Steigerung, geläuterte Lebenswiederholung (GKFA 9.1, 317).

Im Vergleich zum Werther ist der Divan »zur Größe gereift, übers Pathologische hinaus […], höheren Sphären entgegengesteigert« (GKFA 9.1, 318). Wiederholung wie Steigerung wirken in Leben und Werk, und die Synthese beider Elemente formt das Leben zu einem stimmigen Ganzen, weshalb es nach Goethes Überzeugung nur ›in der Ordnung‹ ist, dass ihm gerade jetzt der Werther »wieder zu Handen« (GKFA 9.1, 316) kommt: »War kein Zufall […], gehört zur wiederkehrenden Phase, zur Lebenserneuerung, geistverstärkt, zur hoch-heiteren Feier der Wiederholung« (ibid.). Im ›Geistergespräch‹ erläutert er Charlotte: Zufall gibt es nicht in der Einheit eines irgend bedeutenden Lebens, und nicht umsonst war mir kürzlich erst, im frühen Jahre, unser Büchlein, der Werther, wieder in die Hände gefallen, daß Ihr Freund untertauchen mochte im Frühen-Alten, da er sich durchaus in eine Epoche der Erneuerung und der Wiederkehr eingetreten wußte, über welcher denn freilich nicht unbeträchtlich höhere Möglichkeiten walteten (GKFA 9.1, 438).

Goethe formuliert hier den Kern dessen, was sich hinter der Chiffre ›geistverstärkte Lebenserneuerung‹ verbirgt: Es ist die Einheit des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen, die Aufhebung der Zeit, die Rückgewinnung der Jugend bei gleichzeitiger Steigerung der eigenen kreativen Möglichkeiten: [D]er Mensch kennt die Wiederholung seiner Zustände […]; ihm ist gegeben, das Gelebte noch einmal zu leben, geistverstärkt, sein ist die erhöhte Verjüngung, die da der

472 Lehnert (1973), S. 403. 473 Die Position Koopmanns, der einen Gegensatz zwischen Goethes Leben und seiner Kunst postuliert und behauptet, »Steigerung im Leben [gebe] es nicht, sondern allenfalls Wiederholung« [Koopmann (1998), S. 42], ist vor dem Hintergrund dieser engen Verquickung nicht überzeugend. Die Wiederholung des Lebens als ›Festbrauch‹ ist »weniger Leben, als erstmals, und auch wieder mehr, vergeistigtes Leben« (GKFA 9.1, 317), was zuletzt bedeutet: Steigerung des Lebens durch Geist und Kunst.

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Sieg ist über Jugendfurcht, Ohnmacht und Lieblosigkeit, der todverbannende Kreisschluß« (GKFA 9.1, 313).474

Die Inszenierung des eigenen Lebens als quasi-mythologischer »Festbrauch« (GKFA 9.1, 317) im Geiste der Joseph-Romane bedeutet eine ›Verjüngung‹ für Goethe, »der das Spiel der Wiederholung spielen und zum Werk umsetzen kann […]. Die Flucht in die Wiederholung erscheint […] als Flucht vor dem Tod«475 – oder, positiv gewendet: als der Weg zu stets erneuerter Jugend und ewigem Leben. Die ›geistverstärkte Lebenserneuerung‹, die Goethe in dem »todverbannenden Zeichen« (GKFA 9.1, 319) des Kreises symbolisiert sieht, bildet die vollkommene Synthese »zwischen Beharren, dem Trachten nach Lebenseinheit, dem Zusammenhalten des Ich – und der Erneuerung, der Verjüngung« (ibid.), zwischen Wiederholung und Steigerung, Leben und Kunst, Jugend und Altersgröße.

2.3.3. Exkurs: Die verblassten Anspielungen der Charlotte Kestner Den Gegenpol zu Goethes lebendigem Gleichgewicht der Gegensätze bildet der Kristall, den er seinem Sohn zeigt, und dessen »totes Sein« (GKFA 9.1, 358) beispielhaft ist für einen »falsche[n] Sieg […] über Zeit und Tod« (ibid.).476 Die Ausführungen zu dem Kristall sind für den vorliegenden Zusammenhang relevant, weil Goethe eine Analogie zur menschlichen Existenz herstellt: »[V]on Anbeginn überwiegt im Organischen auch die Strukturierung, und so kristallisieren wir und dauern nur noch in der Zeit, gleich den Pyramiden« (GKFA 9.1, 359), das aber hat »nicht Leben noch Sinn, es ist tote Ewigkeit, es hat keine Biographie« (GKFA 9.1, 358). Nach allem, was bisher über Goethes ›Verjüngung‹ und die damit verbundene künstlerische Fruchtbarkeit gesagt worden ist, steht außer Zweifel, dass er hier nicht von sich selbst redet; und der Kontext der Szene gibt Aufschluss darüber, auf wen seine Bemerkungen gezielt sind: Gerade hat 474 »Aus Aristoteles’ Konzept der Entelechie (der im Organismus liegenden Kraft zur Selbstentwicklung und -verwirklichung) folgert Goethe die Fortdauer eines Unsterblichen im Menschen, postuliert für starke (geniale) Entelechien das ›Vorrecht einer ewigen Jugend‹ und nimmt für sich selbst ›temporäre Verjüngung‹ und ›wiederholte Pubertät‹ in Anspruch« [Goethe zu Eckermann am 11. 3. 1828, zitiert nach GKFA 9.2, 576]. 475 Siefken (1981), S. 230. 476 Vgl. Baumgart (1991), S. 78. – Der Hinweis auf die »krystallinischen Pyramiden« (GKFA 9.1, 358) stellt erneut die Verbindung zur Joseph-Tetralogie her, und in dem Gegensatz zwischen der toten Dauer des Kristalls und Goethes schöpferisch-verjüngender Lebenserneuerung spiegelt sich derjenige zwischen den ägyptischen Pyramiden, die »verlassen von ihrer Zeit, übrig herein[stehen] in Gottes Gegenwart« (GW IV, 741), die »eben nur Dauer […] und falsche Ewigkeit« (GW IV, 745) sind, und der zukunftsvollen Verheißung Gottes an Abraham, er »solle zu einem Volke werden, zahlreich wie Sand und Sterne, und allen Völkern ein Segen sein« (GW IV, 13).

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August seinem Vater Charlottes Billet überbracht und erwartet nun seine Antwort – doch Goethe unternimmt einiges, »um eine verbindliche Stellungnahme zu diesem Kuriosum zu verzögern« (GKFA 9.2, 670): Erst spricht er von dem Kristall, dann von häuslichen und höfischen Angelegenheiten, anschließend entfaltet er den Maskenzug aus dem Faust II und gibt seinem Sohn zuletzt das Gedicht vom Gänsespiel477 aus dem Divan zu lesen. Ganz offensichtlich sucht er die Konfrontation mit dem ihm unangenehmen Besuch der alten Dame hinauszuzögern, und da sowohl die Frage nach den Ereignissen bei Hofe478 als auch die Abschweifung in den Divan479 versteckte Bezüge zu Charlotte enthalten, kann ein solcher auch für die Ausführungen über die ›tote Dauer‹ des Kristalls angenommen werden. Auch Charlotte unternimmt ja mit ihrem »sinnigen Scherz, diese[r] heiterbedeutsame[n] Idee des Volpertshausener Ballkleides mit der ausgesparten rosa Schleife« (GKFA 9.1, 374), den Versuch einer ›Lebenswiederholung‹ : Angetreten zur Weimar-Wallfahrt war sie mit dem teils komödiantisch, teils tragikomisch inszenierten Vorhaben, das Wiedersehen als Wiederholung anzulegen, also der Zeit und dem, was sie zeitigt, der Veränderung nämlich, keinen Tribut zollen zu wollen.480

Doch ihr Unterfangen, »die vergangenen 44 Jahre als eine quantit¤ n¤gligeable«481 zu behandeln, scheitert auf ganzer Linie: Tochter Lottchen, ihr »kritisches Gewissen« (GKFA 9.1, 381), steht dem Scherz mit »humorlose[m] Unwille[n]« (GKFA 9.1, 382) gegenüber, in der Gesellschaft wird das Gerücht verbreitet, »die Alte sei zu Goethe in einem Aufzuge gegangen, der von geschmacklosen Allu477 August zitiert nur vier Verse des Gedichts; das ganze Gedicht sowie Informationen zum ›Gänsespiel‹ verzeichnet der Kommentar, vgl. GKFA 9.2, 685 f. 478 Hier ist die Assoziation über eine lautliche Entsprechung hergestellt: Auf die Frage Augusts »Was schreibt denn die Frau Hofrätin?« (GKFA 9.1, 360) antwortet Goethe: »Und bei Hofe, wie steht’s?« (ibid.), was ihm eine weitere Frist verschafft; vgl. GKFA 9.2, 678. 479 »Auf den ersten Blick scheint sich hinter dieser Anspielung eine doppelte Bosheit des Thomas Mann’schen Goethe zu verstecken […]; sie liegt zum einen in der auf die Hofrätin angewandten Analogie aus dem Tierreich. Hinzuzudenken ist Nicht-Ausgesprochenes: Charlotte Kestner soll diejenige sein, die […] Goethe ›rückwärts bedeutet‹, ihn auf Vergangenes, Überwundenes, Abgetanes festlegen will« (GKFA 9.2, 686). Diese Deutung wird gestützt durch Goethes ungnädig-ablehnende Bemerkung: »Die Vergangenheit verschwört sich mit der Narrheit gegen mich, um Trouble und Unordnung zu stiften« (GKFA 9.1, 367). Zum ›Gänsespiel‹ vgl. Stewart Atkins: Das Leben ist ein Gänsespiel. Some Aspects of Goethe’s ›West-östlicher Divan‹, in: Schwarz, Egon (Hrsg): Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, Göttingen 1967, S. 90 – 102 und Ruprecht Wimmer : Goethe und das Gänsespiel. Anmerkungen zu Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Marx, Friedhelm; Meier, Andreas; Jacobs, Jürgen (Hrsg): Der europäische Roman zwischen Aufklärung und Postmoderne. Festschrift zum 65. Geburtstag von Jürgen C. Jacobs, Weimar 2001, S. 205 – 218. 480 Frizen (1998), S. 174. 481 Hansen (1998), S. 255.

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sionen auf die Werther-Liebschaft nicht frei gewesen sei« (GKFA 9.1, 430), und Goethe selbst weigert sich vollständig, »den kleinen sinnigen Scherz« (GKFA 9.1, 30) zur Kenntnis zu nehmen: Er »lässt sich das Gesetz des Handelns nicht von der bescheidenen […] Gegen-Inszenierung der Bürgersfrau aufzwingen« (GKFA 9.2, 693), der »ein wesentliches Element der Entwicklung [fehlt], in Goethes Worten: das Vermögen der Metamorphose.«482 Pointiert formuliert: Charlotte versucht, wieder ›Lotte‹ zu werden, sie vollzieht ihre Lebenswiederholung ohne Steigerung, ohne Geist – ein Versuch, ungefähr so abgeschmackt, wie wenn es Goethe einfiele, »im blauen Frack mit gelber Weste und Hose herumzugehen« (GKFA 9.1, 440).483 Der Grund für Goethes Weigerung, auf dieses defizitäre Spiel einzugehen, lässt sich aus seiner Reaktion auf Charlottes Erwähnung der Gerbermühle ableiten: Er sieht sie »einen Augenblick mit einer Art von Entgeisterung an, zu schreckhaft, als daß man sie bloßem Sich besinnen auf die Begegnung hätte zuschreiben können« (GKFA 9.1, 391). Sein Schrecken ist der Tatsache geschuldet, dass Charlotte, ohne es zu wollen, eine direkte Verbindung zwischen der ehemaligen und der gegenwärtigen Geliebten herstellt, zwischen sich selbst und Marianne von Willemer, geborene Jung: »Sie heißt auch noch Jung. Die Geliebte ist immer jung; aber das leicht Verwirrende ist, daß neben der Zeitlosen die alt gewordene Lotte auch noch da ist und sich meldet.«484 Die alt gewordene Lotte mit dem wackelnden Kopf und den »verblaßte[n] Anspielungen« (GKFA 9.1, 438) auf dem weißen Kleid hat zwar durchaus ihren Platz im »bedeutungsvollen Wallen der Erscheinungen« (ibid.); dennoch kommt ihre leibliche Anwesenheit Goethe ungelegen,

482 Frizen (1998), S. 175. 483 Das Motiv wird wieder aufgenommen durch den »in blauer Livree mit Goldknöpfen und einer gelb gestreiften Weste« (GKFA 9.1, 379) gekleideten Diener. Es handelt sich um die Werther-Kleidung; sie war »in der Geniezeit – insbesondere nach der Ankunft Goethes in Weimar – eine Modeerscheinung. Werther trug blauen Frack mit Messingknöpfen, gelbe Weste und Hosen an dem Tag, als er zum ersten Mal mit Lotte tanzte und sie das Kleid mit den blassroten Schleifen angelegt hatte« (GKFA 9.2, 705); vgl. HA 6, 21 und 123 f. Wenn Frizen hinzusetzt, »der Dienstbote [halte] das Bewusstsein an die Werther-Zeit wach und spiel[e] die Kleiderkomödie Charlottes auf seine Weise mit« (ibid.), ist zu beachten, dass er sich der Anspielung nicht bewusst ist. Dennoch wird allein dadurch, dass er und nicht der eigentliche Adressat von Charlottes Anspielung, Goethe, ihr ›modisches Pendant‹ bildet, ihre gesamte Selbstinszenierung ein weiteres Mal als inadäquat gekennzeichnet. 484 Brief Thomas Manns an Karl Ker¤nyi vom 16. 2. 1939, zitiert nach Mann (1996), S. 31. Goethe selbst bemerkt zum Auftauchen der ›Wiedergängerin‹ Charlotte: »Wenn Vergangenheit und Gegenwart eins werden, wozu mein Leben von je eine Neigung hatte, nimmt leicht die Gegenwart einen spukhaften Charakter an. Das nimmt sich recht wohl aus im Gedicht, hat in der Wirklichkeit aber doch was Apprehensives« (GKFA 9.1, 366).

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weil sie sein Spiel dichterischer Verjüngung stört, das er gerade mit Marianne von Willemer zelebriert hatte und das er mit Ottilie von Pogwisch, der künftigen Frau seines Sohnes, fortsetzen wird.485

»Konnt’ sie sich’s nicht verkneifen, die Alte, und mir’s nicht ersparen?« (GKFA 9.1, 367) – diese Frage drückt aus, was Goethe von Charlottes Besuch hält, sie ist ungnädig genug. Und doch ist dem Text jenseits der Figurenrede ein noch weit vernichtenderes Urteil eingeschrieben: Als Goethe seinen Sohn bestimmt, Charlotte Gruß und Einladung zu überbringen, erwidert dieser, er habe seinen Vater »selten bei bedeutenderem Anlaß« (GKFA 9.1, 369) vertreten dürfen: »Nur Wielands Begräbnis wäre allenfalls zum Vergleiche heranzuziehn« (ibid.). Der Vergleich ist so ehrend wie entlarvend: Indem August Charlotte implizit mit dem toten Wieland gleichsetzt, spricht er, ohne sich dessen bewusst zu sein, das Urteil über sie: Für Goethe ist Charlotte Kestner ebenso tot wie Wieland;486 was bleibt, ist allenfalls die literarische Figur Lotte.487

485 Lehnert (1987), S. 44. Schon Cassirer kommt zu diesem Schluss und erklärt daraus die Formalität und Distanz, mit der Goethe seiner Jugendfreundin begegnet: Lottes »physische Wiederkehr unterbricht und hemmt den Prozeß der geistig-ideellen Erneuerung. Und so muß er sich gegen diese Wiederkehr innerlich zur Wehr setzen – nicht aus Laune oder Willkür, sondern aus einem inneren Muß heraus« [Cassirer (1975), S. 34]. 486 Vgl. Liaoyu Huang: Ist der große Mann ein öffentliches Unglück? ›Lotte in Weimar‹ als Künstlerroman, in: Literaturstraße 8 (2007), S. 197 – 206, hier : S. 203. – Diese Verbindung hat schon Bernhard Blume hergestellt, dessen Formulierung vom »bösartig zweideutigen Schlußwort Augusts« [Blume (1949), S. 111] jedoch impliziert, dieser sei sich des Hintersinns seiner Worte bewusst. Huang hingegen fährt, nachdem er das ›Konnt’ sie sich’s nicht verkneifen, die Alte, und mir’s nicht ersparen?‹ zitiert hat, mit den Worten fort: »Noch schlimmer ist aber, daß er [Goethe, CB] August als seinen Vertreter zu Lotte schickt, was eine zynische Doppeldeutigkeit hat« [Huang (2007), S. 203]. Diese Deutung setzt voraus, Goethe habe, indem er August zu Charlotte schickte, die Verbindung zum toten Wieland herstellen wollen. Beide Lesarten sind wenig plausibel, anzunehmen ist, dass weder August noch sein Vater sich dieser Assoziation und der mit ihr verbundenen Aussage über Charlotte Kestner bewusst sind, sondern dass diese dem Text eingeschrieben und somit nur für den Leser erkennbar ist. 487 Auf die Notwendigkeit, zwischen der Person Charlotte und der Figur Lotte zu unterscheiden, verweist eindringlich Nutt-Kofoth. Er fasst, unter Bezugnahme auf die einschlägigen Ausführungen Jan Assmanns zu Joseph und seine Brüder, die Chiffre vom ›zitathaften Leben‹ als Beschreibung einer »spezifische[n] Form des kulturellen Gedächtnisses« auf [Nutt-Kofoth (2004), S. 261]. Diese Annahme führt ihn dazu, den Gegensatz von Goethe und Charlotte auf unterschiedliche ›Tradierungsstrategien‹ zurückzuführen: »Der auf mythische Vergegenwärtigung angelegten Konzeption Goethes entgegen legt Charlotte Kestner es gerade auf identifizierende Festschreibung ihrer Person an […]. Nicht Teil eines Goetheschen Typus will sie sein, sondern individuelle Repräsentanz im Literarischen gewinnen« [ibid.].

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2.3.4. »Immer oben in der Zeit …« Charlotte also scheitert bei dem Versuch der ›Selbstverjüngung‹, wie aber steht es um Goethe? Fasst man die Befunde der Untersuchung zusammen, lässt sich feststellen, dass sowohl in seinem Leben als auch in seinem Werk ein Muster der gesteigerten Wiederholung erkennbar ist: Marianne von Willemer erscheint als »Lotte rediviva«,488 deren Steigerung gegenüber der Vorgängerin sich in ihrer künstlerischen Produktivität zeigt. Diese kommt – zumindest bei einer Gelegenheit – derjenigen Goethes gleich, so dass die »Liebenden in ebenbürtigem Austausch eine gemeinschaftliche Dichtung schaffen« (GKFA 9.2, 418), während Charlotte nur zu zitieren vermag. Und auch das Urteil über die mit den Frauen assoziierten Werke fällt eindeutig aus: Zwar sind »Divan und Werther […] dasselbe auf ungleichen Stufen« (GKFA 9.1, 317), doch lässt Goethe keinen Zweifel daran, dass er die künstlerische Qualität des Divan höher einschätzt: Er ist »zur Größe gereift […], höheren Sphären entgegengesteigert« (GKFA 9.1, 318). Was das Ziel der ›Verjüngung‹ angeht, zieht Charlotte in dem ›Geistergespräch‹ den Erfolg der Goetheschen Lebensstrategie in Zweifel: »[A]ller poetischen Erneuerung und Verjüngung ungeachtet, ist dein Stehen und Treten ja von einer Steifigkeit geworden, daß Gott erbarm’« (GKFA 9.1, 439). Dennoch kann sie nicht bestreiten, dass selbst die Merkmale des Alters in Goethes Fall von der Größe geadelt werden: Zeit, Alter, hier waren sie mehr als Ausfall, Bloßlegung, natürliche Mitgenommenheit, die hätte rühren und melancholisch stimmen können; sie waren voller Sinn, waren Geist, Leistung, Geschichte, und ihre Ausprägungen, sehr fern davon, bedauerlich zu wirken, ließen das denkende Herz in freudigem Schrecken klopfen (GKFA 9.1, 387).

Im Gegensatz zu Charlottes Kopfzittern, das eine allenfalls rührende Alters- und Ausfallerscheinung darstellt, rufen die Zeichen des Alters bei Goethe ›freudigen Schrecken‹ und Ehrfurcht hervor, so dass schon rein äußerlich ein Unterschied im Verhältnis zu Alter und Zeit sichtbar wird, während die ausschlaggebende Differenz in Goethes Fähigkeit zur poetischen Erneuerung und Verjüngung besteht, in seiner ungebrochenen künstlerischen Fruchtbarkeit: Seine ›Jugend‹ zeigt sich darin, dass er noch immer schöpferisch tätig sein kann, dass er nach dem Werther, dem ersten Teil des Faust und den Wahlverwandtschaften jetzt den Divan hervorbringt und am Faust II, am Paria-Gedicht arbeitet. Charlotte hingegen, deren letzte Schwangerschaft »schon so wehmütig lange her« (GKFA 9.1, 245) ist, kann August gegenüber nur ihre Bewunderung äußern »für ein Ausharren, eine Erneuerungsfähigkeit der hervorbringenden Kräfte, die als ein rechtes Gnadengeschenk des Himmels anzusprechen« (ibid.) sei. Damit aber 488 Frizen (1998), S. 176.

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verkennt sie die wahren Ursachen für dieses Ausharren: Es ist nicht der Himmel, es ist Goethe selbst, der durch die Strategie der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ seine schöpferischen Kräfte nicht nur erhält, sondern sogar steigert. Die »größere Beständigkeit […], mit der geistige Fruchtbarkeit gegen weiblichkreatürliche im Vorteil ist« (ibid.), muss damit als eine Leistung Goethes anerkannt werden, als Folge der geistigen Steigerung, der er sein Leben unterzieht.489 Damit hat er zumindest insofern ›Unsterblichkeit‹ erlangt, als das Alter weder sein Leben noch sein Werk zu beeinträchtigen vermag, sondern beides im Gegenteil zu »Altersgröße« (GKFA 9.1, 293) emporsteigert. Charlotte sinniert über das Schicksal der Menschen in der Zeit: »Wir welkten in ihr und stiegen hinab, aber Leben und Jugend waren allzeit oben […]: wir waren noch zusammen mit ihr in der Zeit, die noch unsere und schon ihre Zeit war« (GKFA 9.1, 225). Auch sie muss letztlich anerkennen, dass diese Überlegungen für Goethe nicht gelten – obgleich sie zunächst widerspricht, als er die Werther-Zeit als ›ihre‹ Zeit bezeichnet: [D]a sprichst du nun von meiner Zeit, statt ›unsere Zeit‹ zu sagen, da’s doch die deine auch war. Aber es ist deine Zeit eben wieder, erneut und verjüngt, als geistreiche Gegenwart, da es die meine bloß einmal war (GKFA 9.1, 440).

Charlotte muss akzeptieren, dass ›ihre Zeit‹ vorbei, dass sie zwar noch ›in der Zeit‹ ist, aber der Vergangenheit angehört, während es Goethe gelingt, sich durch seine Strategie der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ eine Art immerwährender geistiger Gegenwart und Jugend zu schaffen: Er ist, obgleich er altert, allzeit oben in der Zeit,490 ist immer ›jung‹ und fruchtbar – das ist Ursprung und Wesen seiner Größe.

489 Dass auch bei Goethe ›natürlich-kreatürliche‹ Elemente eine Rolle spielen, belegt neben den noch im Alter fortdauernden Liebschaften die vielzitierte Eingangsszene des großen Monologs im siebenten Kapitel: Goethe erwacht »in gewaltigem Zustande« (GKFA 9.1, 283) aus einem erotischen Traum, der von dem Gemälde Venus und Adonis des Alessandro Turchi inspiriert ist (vgl. GKFA 9.2, 493), nicht von einer lebenden Person, was die enge Verbindung zwischen der künstlerischen und der sexuellen Sphäre unterstreicht und somit auf »das organisierende Zentralthema des Romans an[spielt]: das von den Bedingungen der Produktivität und den Relationen zwischen Eros und Werkschöpfung« (GKFA 9.2, 492). 490 Des großen Mannes besondere Beziehung zur Zeit zeigt sich auf der kompositorischstrukturellen Ebene daran, dass am Beginn des siebenten Kapitels »die Uhr, bisher am Ankunftstag Lottes in Weimar in ihrem und ihrer langen Gespräche Dienst, zurückgestellt wird auf sieben: Goethe hat […] seine eigene Zeit« [Uve Fischer : Die Begegnung MannGoethe im VII. Kapitel von ›Lotte in Weimar‹. Anmerkungen zum Parodiebegriff bei Thomas Mann, in: Studi Germanici 13 (1975), S. 389 – 398, hier: S. 390].

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3.

Weimar, September 1816: Das klassische Genie?

Genie und Welt

Nachdem untersucht worden ist, wie in Lotte in Weimar Entstehung und Natur des Phänomens Genie erklärt werden, soll in diesem Teilkapitel Goethes Verhältnis zur ›Welt‹, zur Sphäre politischer und sozialer Interaktion bestimmt werden, da auf diesem Gebiet die Alterität des Genies zu Tage treten muss. Die Darstellung beginnt mit der Untersuchung seiner Stellung in der Weimarer Gesellschaft, den Erwartungen und Anforderungen, die sie an ihn stellt und der Art und Weise, wie er ihnen nachkommt oder sich ihnen entzieht. Hier ist vor allem die Selbstinszenierung beim Mittagessen am Frauenplan zu untersuchen, und die Frage zu stellen, ob ›die Chinesen‹ recht haben, wenn sie behaupten, der »große Mann [sei] ein öffentliches Unglück« (GKFA 9.1, 411). Anschließend wird Goethes Verhältnis zu zwei Personen untersucht, die im Roman nicht leibhaftig auftreten: zu Schiller, mit dem er gedankliche Zwiesprache hält, und zu Napoleon, mit dem er im Jahre 1808 »zu Erfurt konversiert« (GKFA 9.1, 246) hat. Goethe erkennt sie als gleichrangig an und ist nun, da der eine seit zehn Jahren tot, der andere nach St. Helena verbannt ist, allein zurückgeblieben, umgeben von servilen Bewunderern, aber ohne Gegenüber. Das Motiv der Künstlereinsamkeit, das den Roman durchzieht, zeigt sich hier in einer neuen, sozialen Variante. Zusammengeführt werden Goethes Reserviertheit gegenüber den Ansprüchen und Überzeugungen der Gesellschaft, seine innere Distanz zu den Personen seiner Umgebung und seine Vereinsamung in der Chiffre des ›inneren Exils‹. Und so lautet die Leitfrage dieses Kapitels: Ist der ›große Mann‹ ein öffentliches Unglück – oder ist es ein Unglück, ein ›großer Mann‹ zu sein?

3.1.

Goethe und die Weimarer Sozietät

3.1.1. Der Gesellschafts-Tyrann Goethe, dieser »Stolz Deutschlands, der den Ruhm der Nation so herrlich gemehrt« (GKFA 9.1, 163) hat, verfügt auch in der Gesellschaft über einen einzigartigen Status. Charlotte erkennt mit »Frauenscharfblick« (GKFA 9.1, 394), dass dieser exzeptionellen Rang nicht in der Stellung des »Favoriten und Ministers« (GKFA 9.1, 408) begründet liegt, sondern Ämter und Würden im Gegenteil als Insignien seiner persönlichen Größe erscheinen: Das Seltsame war […], daß sich in seinem Falle das Geistige auf eine sonst nicht vorkommende Weise, für den Respekt nicht mehr unterscheidbar, mit dem Gesellschaftlich-Amtlichen vermischte; daß der große Dichter von ungefähr – und auch wieder nicht nur von ungefähr – zugleich ein großer Herr war, und daß man diese

Genie und Welt

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zweite Eigenschaft nicht als etwas von seinem Genie Verschiedenes, sondern als dessen weltlich-repräsentativen Ausdruck empfand (GKFA 9.1, 407 f.).

Goethes ›Genie‹ ist Grund und Ursache einer gesellschaftlichen Ausnahmestellung, die Adele schon als Kind empfunden haben will: »Zu Goethen aber habe ich niemals ›Onkel‹ gesagt […], dazu war er doch zu sehr Respektsperson, nicht nur für mich, sondern auch für die Erwachsenen« (GKFA 9.1, 139). Die enge Verbindung von gesellschaftlichem Rang und persönlicher Größe zeigt sich exemplarisch in Augusts vollständiger gesellschaftlicher Abhängigkeit von seinem Vater. Adele weist darauf hin, dass die Werbung Augusts, des unehelichen Sprosses »eines sehr jungen Adels um eine von Pogwisch-HenckelDonnersmarck« (GKFA 9.1, 157) einen gesellschaftlichen Affront für das alte preußische Adelsgeschlecht bedeutet habe. Dieser aber habe nicht laut werden dürfen wegen der ganz besonderen Ansprüche, die dieser majestätische Neu-Adel nun einmal stellen durfte und die er denn auch für den Sohn mit Bewußtsein und Genugtuung geltend zu machen gesonnen sein mochte (ibid.).

Die Formulierung zeigt, dass das Attribut des ›majestätischen Neu-Adels‹ nur auf Goethe senior bezogen ist, obgleich der Herzog seinen Sohn schon mit elf Jahren »propter natales mit einem Legitimationsdekret begnadet [hat], womit der Adelstitel verbunden« (GKFA 9.1, 161) ist. Formal ist August von Adel – doch seine gesellschaftliche Stellung ist vollständig abhängig von dem »Ruhm, [der] Autorität seines Vaters, [der] Gnade des Herzogs für diesen« (GKFA 9.1, 162), und damit indirekt von dessen Größe.491 Die Art, wie Goethe sich seines Einflusses bedient, macht ebenfalls deutlich, dass dieser nicht an Amt und Stellung, sondern an die Person gebunden ist. Um zu verhindern, dass August mit den Freiwilligen Jägern gegen Napoleon zieht, wirft er »sein Dasein in die Wagschale, – ein gewaltiges Dasein […], und der Minister, der Herzog beeil[]en sich, ihm zu willfahren« (GKFA 9.1, 197). Auch als es gilt, das Duell zwischen August und dem Rittmeister v. Werthern-Wiehe abzuwenden, trifft der große Vater Gegen-Maßnahmen. Seine Verbindungen spielen zu lassen, sein Ansehen in die Schanze zu schlagen […], bereitet[] ihm […] eine gewisse Genugtuung 491 Dass August sich dieser Abhängigkeit bewusst ist, zeigt sich darin, dass er sich auf die Überlegenheit des »Adel[s] des Genies« (GKFA 9.1, 239) gegenüber dem »der bloßen Geburt und Natur und des blauen Blutes« (ibid.) beruft, seinen eigenen Adelstand also von seinem Vater herleitet und nicht in dem formalen Akt der Erhebung durch den Herzog begründet sieht. Problematisch dabei ist, dass ›Verdienstadel‹ kaum übertragbar und August von Goethe selbst kein Genie ist, so dass die Legitimation seines Adels auf schwankenden Füßen steht.

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Weimar, September 1816: Das klassische Genie?

noch über die Sorge um Augusts Leben hinaus; denn immer hat er seine Freude an der aristokratischen Ausnahme, an distinguierter Ungerechtigkeit gehabt (GKFA 9.1, 203).

Goethes Ansehen, das Minister und Herzog bewegt, ›ihm zu willfahren‹, ist Ausdruck und Folge seines Daseins, seiner Persönlichkeit und Größe, die sich somit auch in gesellschaftlicher Hinsicht als maßgeblich erweisen. Dennoch ist Goethes Verhältnis zur Weimarer Gesellschaft keineswegs ungebrochen: Seine Heirat mit Christiane Vulpius, der »Mamsell« (GKFA 9.1, 149), ist ein ebensolcher Gegenstand der Missbilligung wie Augusts Werbung um Ottilie. August ereifert sich: [W]as für ein Anstoß war es und blieb’s immerdar für die Gerechten, die Pharisäer und Sittenwächter, und wie haben sie Vater gehechelt und ihm moralisch am Zeuge geflickt, weil er’s gewagt, gegen den Stachel zu löken und gegen den Sittenkodex (GKFA 9.1, 236 f.).

Aufschlussreich für die Frage nach dem Verhältnis von genialem Individuum und gesellschaftlicher Konvention ist die Art, wie August den Bruch des ›Sittenkodex‹ rechtfertigt, den die Mesalliance »des großen Dichters und großen Herrn im Staate« (GKFA 9.1, 235) mit dem »einfache[n] Mädchen aus dem Volke« (GKFA 9.1, 237) bedeutet: Er stellt die Behauptung auf, ein Mann wie sein Vater habe das Recht, »nach eigenem Gesetz zu leben und nach dem klassischen Grundsatz der sittlichen Autonomie« (ibid.), und er leitet dieses Recht aus der Annahme ab, dass »das Gesetz der freien und autonomen Schönheit eine Lebenssache [sei] und nicht eine Sache der Kunst nur« (ibid.). August überträgt das Autonomie-Postulat des Genies vom Werk auf das Leben, beansprucht seine umfassende Geltung und negiert damit die Gültigkeit gesellschaftlicher Regeln, etwa der ständischen Bindung, für einen Mann vom Format seines Vaters: Alsob ein solcher Mann […] überhaupt einen Stand hätte, da er doch einzig ist! Geistig muß solch ein Mann auf jeden Fall unter seinen Stand gehen, – warum dann nicht auch gleich gesellschaftlich? (GKFA 9.1, 238)

Goethes Verhältnis zur Weimarer Gesellschaft ist ambivalent: Seine individuelle Größe verleiht ihm einen exzeptionellen Rang und eine Autorität, die diejenige seiner amtlichen und höfischen Stellung weit übersteigt; zugleich aber trägt ihm die Mesalliance mit Christiane Vulpius die Missbilligung dieser Gesellschaft ein. Doch weist zumindest August die Berechtigung dieser Kritik unter Berufung auf die Werk und Leben umfassende Autonomie des Genies zurück. Dass auch Goethe selbst diese Autonomie für sich beansprucht, lässt sich exemplarisch an einem kleinen Wortwechsel mit August zeigen. Als der Vater im Zusammenhang mit der »ersten Redoute beim Prinzen« (GKFA 9.1, 360) die Maskenball-Szene aus dem Faust II entfaltet, schwebt ihm eine geistreiche religiöse Anspielung vor : »Der Plutus im Turban müßte zum reizenden Buben

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sagen: ›Mein lieber Sohn, ich habe Wohlgefallen an dir!‹492 […] So hätten wir Vater, Sohn und Heiligen Geist« (GKFA 9.1, 364). August hält das für gesellschaftlich unmöglich: »Das ginge beileibe und absolut nicht, Vater […]. Es wäre gegen die Pietät und entschieden blasphemisch« (ibid.), was wiederum Goethe senior nicht versteht – oder nicht zu verstehen vorgibt: Wieso? […] Die Religion und ihr Vorstellungsschatz sind ein Ingrediens der Kultur, dessen man sich denn heiter-bedeutsam bedienen mag, um ein Allgemein-Geistiges im behaglich-vertrauten Bilde sichtbar und fühlbar zu machen (ibid.).

Augusts Erwiderung verdeutlicht den Unterschied zwischen seiner Position und der seines Vaters: Aber doch kein Ingrediens wie ein anderes, Vater. Das mag das Religiöse wohl sein für deine Überschau, aber nicht für den durchschnittlichen Festteilnehmer und auch nicht für den Hof (ibid.).

Während der Sohn Rücksicht auf die Pietät der durchschnittlichen Festteilnehmer nimmt, für die die Religion kein Kulturgut ›wie ein anderes‹ sei, stellen sich die Verhältnisse für Goethes ›Blick der absoluten Kunst‹ anders dar : Für ihn sind die gesellschaftlichen Vorbehalte nichts als »modische[] Skrupel« (GKFA 9.1, 365), denen er sich nur widerwillig unterwirft,493 ohne ihre Berechtigung anzuerkennen. Auch hier zeigt sich die innere Distanz des durch umfassende Autonomie gekennzeichneten Genies zur Gesellschaft und ihren Konventionen.494

492 Es handelt sich um eine Paraphrase der Anrede Gottes an Christus in Mk. 1, 11: »Du bist mein lieber Sohn, an dir habe ich Wohlgefallen.« Friedhelm Marx weist darauf hin, dass Mann den Vers aus Faust II – »Mein lieber Sohn, an dir hab’ ich Gefallen« (V. 5629, vgl. HA 3, S. 175) – in spezifischer Weise modifiziert: »Thomas Mann hebt die im Faust II angedeuteten blasphemischen Aspekte dieses Umzugs eigens hervor: Zum einen werden Gottvater, Sohn und Heiliger Geist explizit genannt, zum anderen greift die Erkennungsformel auf das biblische Original zurück. […] Der blasphemische Charakter dieser Szene wird dadurch unmittelbar evident – und von August auch sogleich bestätigt« [Marx (2002), S. 226]; vgl. GKFA 9.2, 684. 493 Goethes Reaktion auf Augusts Einwände lässt keinen Zweifel an seinem Widerwillen gegen die Beschränkungen, die ihm durch die Notwendigkeit gesellschaftlicher Rücksichtnahme auferlegt sind: »Nun, basta, so will ich mein kleines Theater wieder einpacken […] und zu euch sprechen wie die Pharisäer zum Judas: ›Da sehet ihr zu!‹ « (GKFA 9.1, 365). 494 Wenn man annimmt, dass August auch in diesem Fall »nichts als des Vaters Echo« (GKFA 9.1, 192) darstellt, lassen sich seine Ausführungen zur »Selbstgesetzlichkeit« (GKFA 9.1, 238) des Genies als die durch ihn vermittelten Überzeugungen Goethe senioris auffassen.

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3.1.2. Der große Mann und die Deutschen Am ausgeprägtesten zeigt sich Goethes Distanz zu seiner Umgebung in der vehementen Ablehnung der Freiheitskriege und der »bewunderungsvolle[n] und innerlich freundschaftliche[n] Ehrerbietung« (GKFA 15.1, 890), die er für Napoleon empfindet. Adele Schopenhauer klagt in der ihr eigenen empfindsamüberschwänglichen Diktion, Goethe habe weder den Gram edler Herzen über den Fall des Vaterlandes, noch den Enthusiasmus, der uns anderen allen fast die Seele sprengen wollte, als die Stund der Befreiung zum Schlagen ansetzte, je irgend geteilt (GKFA 9.1, 163),

sondern sie »sozusagen vor dem Feinde im Stiche« (GKFA 9.1, 163 f.) gelassen. Dieses »patriotisch anstößige[] Verhalten« (GKFA 15.1, 890) dient nicht nur dazu, dem Roman Lotte in Weimar einen gegen den Nationalsozialismus gerichteten Subtext einzuschreiben,495 sondern hebt auch die Distanz hervor, die zwischen dem ›großen Mann‹ und seinem Volk besteht. Die »Gesinnungsvereinsamung« (GKFA 9.1, 194) Goethes, die sich in den Äußerungen »verdrießlich tadelnden Unglauben[s]« (GKFA 9.1, 190) angesichts der patriotischen Begeisterung seiner Mitmenschen ausspricht, ist nichts anderes als der ins Politische gewendete Ausdruck der »vollendete[n] Unglaubigkeit« (GKFA 9.1, 96), die Riemer in der Formel vom »Skeptizism des Proteus« (GKFA 9.1, 95) ausdrückt und die in Goethes Nihilism umfassende Gültigkeit gewinnt. Dass es sich tatsächlich um eine weitere Ausprägung des bekannten Motivs handelt, lässt sich exemplarisch zeigen an Goethes Antwort auf die Frage Ludens, wie er denn »hindurchgekommen sei durch die Tage der Schmach und des Unglücks« (GKFA 9.1, 164). Lukrez paraphrasierend, erwidert er : Wie ein Mann, der von einem festen Felsen hinab in das tobende Meer schaut und den Schiffbrüchigen zwar keine Hilfe zu bringen vermag, aber auch von der Brandung nicht erreicht werden kann […,] so habe ich wohlbehalten dagestanden und den wilden Lärm an mir vorübergehen lassen (GKFA 9.1, 164 f.).496 495 Mann »stilisiert die Zeit der Befreiungskriege zu einem nationalen Gründungsakt, den er jedoch zugleich zum Ausgangspunkt eines deutschen chauvinistischen Nationalismus erklärt, der im Dritten Reich seinen Höhepunkt und seine logische Konsequenz erreichte« [Julia Schöll: Goethe im Exil. Zur Dekonstruktion nationaler Mythen in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 16 (2003), S. 141 – 158, hier : S. 146]. – Diese Bedeutungsebene ist im Rahmen der vorliegenden Arbeit nur insofern relevant, als sie der Frage nach den gesellschaftlichen Implikationen der Existenz des ›großen Mannes‹ eine politische Dimension hinzufügt. Zu den zeitgeschichtlichen Bezügen in Lotte in Weimar, die in der Forschung breiten Raum einnehmen, vgl. vor allem den Aufsatz von Gesa Dane: Lotte im Hotel ›Zum Elephanten‹. Zur Codierung des Historischen in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 43 (1999), S. 353 – 376 sowie die einschlägigen Literaturangaben bei Heftrich (2005a), S. 445 f. und 1011 f. 496 Vgl. De rerum natura II, 1 – 4: »Süß, wenn auf hohem Meer die Stürme die Weiten erregen, /

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Wenn Luden berichtet, ihm sei »eine Eiseskälte […] über die Brust gelaufen bei diesen in der Tat mit einer gewissen Behaglichkeit ausgesprochenen Worten« (GKFA 9.1, 165), so ist diese Reaktion kennzeichnend: Sie entspricht dem »Unbehagen« (GKFA 9.1, 57), das Riemer bei manchen Bemerkungen Goethes empfindet, und benennt als Ursache dafür die ›Eiseskälte‹, die nach Goethes eigenem Zeugnis den Kern seines Wesens ausmacht. Der Vorfall deutet an, was geschähe, wenn der ›große Mann‹ auf die »Beschönigung durch wärmenden Gemütstrug« (GKFA 9.1, 324) verzichten und der Gesellschaft den Blick hinter seine Maske, auf die »Eiseswahrheit« (GKFA 9.1, 325) seines Nihilism erlauben würde. »Mitmenschen sind nicht gemeint und gemacht, solcher Wahrheit anders zu begegnen, als mit kaltem Grauen« (GKFA 10.1, 722), wie auch Adele zu berichten weiß: »Nun denken Sie sich […] den Engel, der durch das Zimmer zog!« (GKFA 9.1, 167). Wie Goethes politischer Unglaube nur ein sekundäres Phänomen, nur Folge und Ausdruck seiner nihilistischen Geisteshaltung ist, so beruht auch seine »Distanz vom Deutschen […], die an tausend nährenden Wurzeln zerrende Antipathie gegen das Sackermentsvolk« (GKFA 9.1, 326) nicht primär auf den politischen Differenzen, sondern ist ebenfalls als Konsequenz einer Veranlagung anzusehen, die ihm keine Wahl lässt, als sein »unbeschreiblich prekäre[s] und penible[s], nicht nur durch Rang, auch durch Instinkt schon isolierte[s] Leben« (ibid.) zu führen. Fasst man diese beiden Aspekte zusammen, wird das ganze Ausmaß der Fremdheit deutlich, die zwischen Goethe und seinem Volk besteht – einer Fremdheit, die Helmut Koopmann in die ebenso knappe wie treffende Formulierung fasst: »Im Lotte-Roman sind die Deutschen zunächst einmal die anderen«.497 3.1.3. Selbstinszenierung und Devotion »Der Fremde unter den Seinen: das erklärt nicht wenig auch jene zeremonielle Steifheit, mit der Goethe im Roman auftritt.«498 Diese Steifheit und Gezwungenheit wiederum sind als Folgen des Zwanges anzusehen, unablässig jene ist es, des anderen mächtige Not vom Lande zu schauen, / nicht weil wohlige Wonne das ist, daß ein andrer sich abquält, / sondern zu merken, weil es süß ist, welcher Leiden du ledig« (zitiert nach GKFA 9.2, 379). 497 Helmut Koopmann: Exilspuren in Thomas Manns Goethe-Roman, in: Sautermeister, Gert; Baron, Frank (Hrsg): Goethe im Exil. Deutsch-amerikanische Perspektiven, Bielefeld 2002, S. 141 – 159, hier : S. 158. 498 Koopmann (1998), S. 33. – Den Kausalzusammenhang zwischen Goethes gesellschaftlicher Befangenheit und seiner nihilistischen Geisteshaltung betont Mann auch in Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters, wenn er Goethes »lebenslängliche und unbezwingliche Verlegenheit und Befangenheit im Verkehr mit Menschen, die sich hinter zeremonieller Steifheit verbarg« (GW IX, 319) erklärt als »ein Merkmal jenes ironischen

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Maske zu tragen, »die die Welt ihm auferlegt[] und hinter der er das Geheimnis und die Abgründe seiner Größe« (GKFA 15.1, 828) verbirgt:499 »Wie so viele Figuren Thomas Manns ist auch der Dichterfürst ein Rollenspieler und seine Geschichte eine Aufführung und Theaterinszenierung« (GKFA 9.2, 693).500 Als Goethe sich am Morgen »anständigst zurechtgemacht [weiß], würdig elegant ein wenig nach alter Zeit« (GKFA 9.1, 325), bemerkt er : Wenn Besuch kommt, werd ich mit gemessener Stimme zu beiderseitiger Beruhigung gleichgültige Dinge reden und nach nichts weniger aussehn, als nach Genie und Umbratilität (GKFA 9.1, 325 f.).

Sein äußeres Erscheinungsbild mit »zweireihig geknöpftem Frack« (GKFA 9.1, 386), »silberne[m] Stern« (ibid.) und »Amethystnadel« (ibid.) wird vor diesem Hintergrund zum Kostüm, die Szene zum Auftritt, und Goethe verkörpert sowohl den »Theaterdirektor, der eine Audienz inszeniert«,501 als auch den Schauspieler, der »den Mythos seiner selbst auf die Bühne stellt«.502 Nicht nur die Inszenierung des Genies als Schauspieler stellt dabei eine Modernisierung tra-

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Nihilismus […], jener allertiefsten naturelbischen Dichtergesinnungslosigkeit und jenes Mangels an Glauben« (ibid.), von dem sein Wesen bestimmt sei. Darauf, dass Goethe diese Rolle ›von der Welt auferlegt‹ sei, verweist auch Siefken: »Mann’s Goethe finds himself cast in the role of the great man and tends to disappear – as Nietzsche had taught Mann – behind the mask and the myth of the great man whose tyrannical power over those around him is not entirely of his own making. It is part of the role in which others cast him« [Hinrich Siefken: Thomas Mann’s Novel ›Lotte in Weimar‹ – a ›Lustspiel‹?, in: Oxford German Studies 11 (1980), S. 103 – 122, hier: S. 104]. Das lässt sich vor allem auf Thomas Buddenbrook beziehen, dessen Dasein schon mit kaum 40 Jahren kein anderes mehr ist »als das eines Schauspielers, eines solchen aber, dessen ganzes Leben bis auf die geringste und alltäglichste Kleinigkeit zu einer einzigen Produktion geworden ist, einer Produktion, die mit Ausnahme einiger weniger und kurzer Stunden des Alleinseins und der Abspannung beständig alle Kräfte in Anspruch nimmt und verzehrt« (GKFA 1.1, 677) – mit dem Unterschied allerdings, dass Goethes Kräfte, anders als diejenigen Thomas’, nicht ›verzehrt‹ werden, sondern er noch »was zuzusetzen« (GKFA 9.1, 443) hat. Frizen (2004b), S. 70. Ibid., S. 78, Anm. 31. Unter Bezugnahme auf die bereits zitierte Äußerung Lavaters über den jungen Goethe (vgl. oben Anm. 376) bemerkt Frizen: »Thomas Mann […] schickt einen Staatsminister in die Szene, dem der Ordensstern da prangt, wo dem jungen Genie das Herz saß. Sein Goethe-Bild könnte geradezu als eine Kontrafaktur, als Gegenbild zum enthusiastischen Genie-Porträt des Zürcher Theologen gesehen werden« (GKFA 9.2, 691). – Wenn Frizen in diesem Zusammenhang ausführt, die Mittagsgesellschaft beobachte »die Heraufkunft des Schauspielers, dessen Unterschied zum Genie darin besteh[e], zu imitieren und nicht mehr original zu sein« (ibid.), macht er Originalität zum Unterscheidungsmerkmal zwischen dem Schauspieler und dem Genie und spricht dem ›Schauspieler‹ Goethe die Genialität ab. Die Untersuchung hat jedoch gezeigt, dass Goethe Originalität als »empfängnislose[n] Dünkel« (GKFA 9.1, 334) betrachtet und diese Kategorie keineswegs geeignet ist, sein Genie zu beschreiben. Die konventionelle Gegenüberstellung von genialer Originalität und ›ungenialer‹ Imitation ist damit obsolet.

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ditioneller Geniekonzepte dar,503 auch in dem von Charlotte beobachteten »nervösen Zuviel von rasch einander verleugnenden Ausdrucksmöglichkeiten« (GKFA 9.1, 388) von Goethes Mundpartie zeigt sich ein unzweifelhaft ›moderner Zug‹ der Darstellung: Thomas Mann modernisiert Goethe. […] Goethes Zeit hätte nicht zu sagen gewußt, was mit dem Wort ›nervös‹ gemeint ist […]. Dagegen ist Thomas Mann mit der Nervenkunst aufgewachsen – es ist die Kunst der Jahrhundertwende, die sich den Sensitiven und Feinnervigen zuwendet, die den Seelenzuständen ihrer Figuren nachspürt und ihre fragilen Naturen an den Härten des Lebens scheitern läßt. Mit dem Stichwort der Nervosität wird der Goethe von 1816 kurzerhand in die Zeit des fin-desiºcle versetzt.504

Dass diese Selbstinszenierung dabei »ausgerechnet von den blauen Augen einer klarblickenden Bürgersfrau durchschaut«505 wird, ist nicht so zu verstehen, als sei Charlotte in der Lage, hinter die Maske zu blicken und den ›wahren‹ Goethe zu erkennen – das vermag keine der Figuren. Aber sie erkennt »in seiner Haltung etwas Schwankendes, Unbequemes, Befangenes« (GKFA 9.1, 393), und die Ahnung, dass dies die Folge »mangelnder Anteilnahme an Menschen und Dingen« (ibid.) sein könnte, gewährt ihr eine intuitive Einsicht in Goethes Wesen, die dem psychologischen Spürsinn Riemers gleichkommt. Diese Einsicht in die Amoralität der Größe formuliert Charlotte in den Worten: »Er ist groß, und ihr seid gut« (GKFA 9.1, 427), und auch in ihrem Urteil über »Theodor Körners geschichtliches Trauerspiel ›Rosamunde‹« (GKFA 9.1, 432) spricht sie sie aus: Die Grenze der Menschheit […] war vielleicht nur eine, jenseits welcher weder Himmel noch Hölle, oder sowohl Himmel wie Hölle lagen, und die Größe, welche diese Grenze überschritt, war möglicherweise auch nur eine (GKFA 9.1, 434).

Die wahre ›Grenze der Menschheit‹, so erkennt Charlotte, liegt zwischen der »Mehrzahl guter Menschen« (GKFA 9.1, 264), die in moralischen Kategorien denken und handeln, und den Vertretern der ›Größe‹, die in einer Sphäre ›jenseits von Gut und Böse‹ existieren.506 503 Obwohl Goethes Genie durch seine theatralische Selbstinszenierung nicht in Frage gestellt wird, ist das Konzept des ›Genies als Schauspieler‹ zweifellos von Nietzsches Kritik an Richard Wagner beeinflusst, der für ihn nicht nur »der moderne Künstler par excellence« ist [Nietzsche II, 913], sondern auch »das erstaunlichste Theater-Genie, das die Deutschen gehabt haben« [Nietzsche II, 919], und den er in Der Fall Wagner genau für diese »Lüge des großen Stils« [Nietzsche II, 905] attackiert: »Man ist Schauspieler damit, daß man eine Einsicht vor dem Rest der Menschen voraushat: was als wahr wirken soll, darf nicht wahr sein. Der Satz […] enthält die ganze Psychologie des Schauspielers« [Nietzsche II, 920]. – Als eine Verkörperung des ›großen Mannes‹, der nichts als ein Schauspieler ist, erscheint Mynheer Peeperkorn im Zauberberg. 504 Frizen (2004b), S. 76. 505 Ibid., S. 78, Anm. 31. 506 Vgl. Rakow (2005), S. 76.

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Nachdem das Verhältnis von ›Größe‹ und Gesellschaft bisher mit Blick auf Goethe betrachtet wurde, sollen jetzt die Folgen seiner überherrschenden Stellung für die Menschen seiner Umgebung untersucht werden. Nach Adeles Erfahrung beherrscht Goethe jeden Salon durch seine bloße Anwesenheit, einfach weil alles sich nach ihm richtet[], und er tyrannisiert[] die Gesellschaft, weniger weil er ein Tyrann gewesen wäre, als weil die anderen sich ihm unterw[e]rfen und ihn geradezu nötig[]en, den Tyrannen zu machen (GKFA 9.1, 139).507

Dabei sei Goethe »garnicht zum Tyrannen geboren, sondern viel eher zum Menschenfreund« (GKFA 9.1, 140), so dass Adele zu dem Schluss kommt, die Schuld an seiner ›Tyrannei‹ liege weitgehend bei der Gesellschaft, da die Sozietät, zum Wenigsten unsere deutsche, in ihrem Drang nach Unterwerfung sich ihre Herren und Lieblinge selbst ver[derbe] und ihnen einen peinlichen Mißbrauch ihrer Überlegenheit aufdräng[e] (ibid.).508

Die Illustration dieser Behauptung bildet das Mittagessen am Frauenplan. Der »Einschlag von Devotion und Liebedienerei im Beifallslachen der Runde« (GKFA 9.1, 407) verdeutlicht, in welchem Maße alle Anwesenden sich in ihrem Verhalten vom Hausherrn abhängig machen.509 Dass sie sich dessen nicht einmal bewusst sind, beweist ihre Reaktion auf den von Goethe zitierten Ausspruch Friedrichs II., er sei es »müde, über Sklaven zu herrschen« (GKFA 9.1, 413), denn »durch ihr beifälliges Nicken bestätigen die Anwesenden das Diktum, ohne dessen auch nur gewahr zu werden.510 Noch aufschlussreicher ist der vollkommen übertriebene »Sturm der Heiterkeit« (GKFA 9.1, 411), der im Anschluss an das angebliche ›chinesische Sprichwort‹ ausbricht, der »große Mann [sei] ein öffentliches Unglück«511 (ibid.): 507 Wie weit diese Unterwerfung geht, verrät eine Bemerkung Riemers im Zusammenhang mit Goethes »maussade[m] Schweigen« (GKFA 9.1, 95) in Gesellschaft: »Denken Sie sich diese Kalamität und Bedrückung! Alles schweigt, – denn wenn er stumm ist, wer soll da reden?« (GKFA 9.1, 96). 508 Dass Mann hier wieder einmal einer seiner Figuren eine Aussage in den Mund legt, die Gültigkeit über die fiktionale Welt hinaus beansprucht, zeigt ein Brief an Barker Fairley vom 1. 12. 1947: »[I]n Deutschland neigt immer die Größe zum Hypertrophieren und dazu, Sklaverei zu schaffen. Auch Goethe war schließlich etwas wie ein lastender Tyrann, ein übergroßes Ich, von seinem Volk viel weiter entfernt, als irgend ein Genie in den Ländern ausgleichender Civilisation« [zitiert nach Mann (1996), S. 89]. 509 Die einzige Ausnahme bildet Charlotte, die in diesem Kapitel als »Repräsentantin des Erzählers und den Leser lenkende Instanz sich selbst gegen Goethe behauptet« (GKFA 9.2, 753) und so ihre geistige Eigenständigkeit bewahrt. 510 Schöll (2003), S. 150. 511 Auch hier liegt eine Referenz auf Nietzsche vor, der in den Paralipomena zur Fröhlichen Wissenschaft schreibt: »Im Grunde haben alle Zivilisationen jene tiefe Angst vor dem ›großen Menschen‹, welche allein die Chinesen sich eingestanden haben, mit dem Sprüchwort: ›der grosse Mensch ist ein öffentliches Unglück‹« (GKFA 9.2, 737).

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Man warf sich in den Stühlen zurück und lehnte sich über den Tisch, schlug auch wohl mit der flachen Hand darauf, – chokiert bis zur Ausgelassenheit von diesem prinzipiellen Unsinn, erfüllt von dem Wunsche, dem Gastgeber zu zeigen […], für welche ungeheuerliche und lästerliche Absurdität man den Ausspruch erachte (GKFA 9.1, 411 f.).

Sklavisch unterwerfen sich die Anwesenden Goethes Größe, und das Attribut ›lästerlich‹ verrät, dass diese Unterwerfung »die Züge einer Religion«512 trägt: »Riemer und seinesgleichen machen aus ihrer schmählichen Selbstaufgabe eine neue Religion – die Religion des Lebensopfers«513 vor dem Genie. Alle Anwesenden sind Opfer der Größe Goethes – das ist es, was Charlotte intuitiv erkennt, als die Ahnung in ihr aufsteigt, es möchte […] das überlaute Gelächter der Tafelrunde bestimmt sein, ein Böses zuzudecken, das in irgend einem schrecklichen Augenblick verwahrlost ausbrechen könnte, also, daß Einer aufspringen, den Tisch umstoßen und rufen möchte: ›Die Chinesen haben recht!‹ (GKFA 9.1, 412)

Liegt also alle Schuld bei Riemer und seinesgleichen? Schon Adele ist sich da nicht ganz sicher. Zwar spricht sie von einem »Drang zur Unterwerfung« (GKFA 9.1, 140), der der deutschen Gesellschaft eigentümlich sei, geht aber zugleich von einer »natürlichen und von einer gewissen überherrschenden Größe wohl unabtrennbaren Tyrannei« (GKFA 9.1, 144) Goethes aus; und damit stimmt überein, dass »die Opferwilligkeit der Paladine Goethes zugleich als Folge Goethescher Lebensstrategie«514 anzusehen ist, die die Menschen seiner Umgebung »als Papier ansieht, darauf er schreibt« (GKFA 9.1, 332). Die Antwort auf die Frage, ob Goethe aufgrund seiner Größe als ›öffentliches Unglück‹ anzusehen ist,515 hängt davon ab, welcher Partei man den größeren Anteil an der Ver512 Darmaun (1998), S. 191. Darmaun führt aus: »Der Kult der Weimaraner um den Genius ist ein Petrefakt. Eiseskälte und Steifheit sind Ausdruck des erstarrten Rituals einer leblosen Religion« [ibid., S. 192]. 513 Gert Sautermeister : Thomas Manns Exilroman ›Lotte in Weimar‹, in: Kluth, Rolf (Hrsg): 50 Jahre Bremer Ortsvereinigung der Goethe-Gesellschaft in Weimar. 1941 – 1991, Bremen 1991, S. 36 – 47, hier : S. 39. Nimmt man hinzu, dass es sich laut Adele bei der Unterwerfung unter den ›großen Mann‹ um eine kennzeichnend deutsche Eigenschaft handelt, gewinnt die Selbstaufgabe von Goethes ›Trabanten‹ in Lotte in Weimar eine dezidiert politische Dimension: Sie bildet das »Fundament, auf dem der Geniekult blüht, welcher noch einem Hitler zugute kommen sollte. Er hat wohl gewußt, welche unterwürfige Verehrung Deutsche ihren Kulturgrößen entgegenzubringen pflegen und hat sich deshalb schon in ›Mein Kampf‹ als Künstler-Politiker aufgeführt« [ibid., S. 43]. – In Bruder Hitler (1938) stellt Mann »den deutschen Diktator als gescheiterten Künstler und heruntergekommenen Feigling, als eine Art Anti-Genie dar« [Schöll (2003), S. 153], als »die Verhunzung des großen Mannes« (GW XII, 852). 514 Sautermeister (1991), S. 40. 515 Eine eindeutig bejahende Antwort gibt Darmaun: »Nicht etwa der große Mann ist das Übel, sondern dessen knechtische Anbetung, wie sie in diesem Weimar getrieben wird« [Dar-

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antwortung zuweist: Goethe, der seine Mitmenschen in den Bannkreis seiner Persönlichkeit zieht und als ›Mittel zum Zweck‹ missbraucht, oder den Trabanten selbst, die freiwillig ihre Selbständigkeit aufgeben, um am Ruhm des großen Mannes teilzuhaben.

3.2.

Die Opfer der Faszination

3.2.1. Charlotte Kestner Charlotte lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich in Goethes Nähe nicht wohlfühlt: [S]o sehr wohl und behaglich war mir’s nicht eben in deiner Wirklichkeit […], denn allzu sehr riecht es nach Opfer in deiner Nähe […]. Diese Riemer, die immer mucken und maulen, und deren Mannesehr auf dem süßen Leime zappelt, und dein armer Sohn mit seinen siebzehn Gläsern Champagner und dies Persönchen, das ihn denn also zu Neujahr heiraten wird und wird in deine Oberstube fliegen wie die Mücke ins Licht […] – was sind sie denn, als Opfer deiner Größe (GKFA 9.1, 443 f.).

Damit fasst sie nicht nur eines der Hauptthemen in Lotte in Weimar auf engstem Raum zusammen, sondern nennt auch gleich die exemplarischen Opfer der Größe: Riemer, der mit der Parabel vom Fliegentod selbst das entlarvende Analogon seines Schicksals herbeizitiert (GKFA 9.1, 85 f.); August, der niemals mehr sein wird als »der Sohn seines Vaters« (GKFA 9.1, 161); und das ›Persönchen‹ Ottilie von Pogwisch, deren »Verehrung für den großen Dichter« (GKFA 9.1, 158) sie bestimmt, den ungeliebten Sohn zu heiraten – sie bilden eine repräsentative Auswahl, deren Analyse die verschiedenen Facetten des OpferThemas beleuchtet:516 »Sie alle […] haben wie Motten das Licht Goethe ummaun (1998), S. 196]; diesen Standpunkt vertreten unter anderem Schöll (2003), S. 150 f. und Huang (2007), S. 204. Demgegenüber konstatiert von der Lühe eine »von Riemer und Goethe entfaltete[] Strategie der Sakralisierung des Genies und Viktimisierung der Umwelt« [von der Lühe (2004), S. 101], und Herbert Kraft bezeichnet die »›Selbstgesetzlichkeit‹ und ›sittliche Autonomie‹ des Genies [als] Herrschaftsanspruch und Instrumente der Herrschaft in der Gesellschaft der Ungleichen« [Kraft (1993), S. 314]. Deutlich differenzierter fällt die Analyse Sautermeisters aus, der zwischen der politischen und der individuell-künstlerischen Dimension unterscheidet: »Die von Goethe erzählte Chinesen-Episode hat ihre Pointe darin, daß sie diesen Kniefall [der ›Trabanten‹, CB] auf den Mangel an demokratischen Verkehrsformen zurückführt. Der Geniekult, von dem Goethe als Privatmann und Privattyrann gerne zehrt, wird von ihm zugleich als kultursoziales und politisches Phänomen in Frage gestellt« [Sautermeister (1991), S. 43 f.]. 516 Alle drei sind ›Opfer des Lebens‹, im Gegensatz zu den ›Opfern der Kunst‹, die im Kapitel Schmarutzertum und künstlerisches Schaffen behandelt worden sind. Obwohl diese Unterscheidung angesichts der engen Verknüpfung von Leben und Werk künstlich anmuten mag, ist sie an dieser Stelle plausibel: Anders als etwa Lili Schönemann oder Friederike

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schwärmt, und es hat sie verbrannt«,517 während Charlotte für sich eine Sonderrolle beansprucht: »Ach, es ist wundervoll, ein Opfer bringen, jedoch ein bittres Los ein Opfer sein« (GKFA 9.1, 444). Sie zählt sich nicht unter die Opfer, sondern behauptet ihre Eigenständigkeit, und die Frage, ob sie diesen Anspruch zurecht erhebt, wird in der Forschung kontrovers diskutiert: von der Lühe erklärt Charlotte, die als »einzige im Roman […] Goethe gegenüber persönlich kritisch, zweifelnd und zugeneigt zugleich«518 auftrete, geradezu zu einem Gegenentwurf für die kalt-dämonische Götterwirklichkeit Goethes, für die kümmerlich-aggressionsbereite, verkrampft aufmüpfige Opfer-Identität Riemers, aber auch für die in Entsagung sich verzehrenden Frauen um Goethe.519

Demgegenüber schränkt Herbert Lehnert den Erfolg von Charlottes Selbstbehauptung insofern ein, als sie »zwar nicht zum Opfer dieses Spiels geworden [sei], aber ihre Absicht, Goethe auf bürgerlicher Ebene zu begegnen«,520 dennoch fehlschlage; und Volkmar Hansen betont, Charlottes Verzicht bleibe »ein Entsagen-müssen, das sich nur scheinbar […] durch ein erfülltes Leben«521 gegen Goethes Strategie der ›Lebenserneuerung‹ behaupte. Lilian Furst schließlich spricht ihr den Opferstatus vollständig ab, allerdings nicht im positiven Sinne von der Lühes: As for Lotte, there is little ground for including her among the ›victims.‹ […] After all, she has instigated this visit to Weimar, and she makes a fool out of herself by trying to re-create the nineteen year old girl through her dress […]. Insofar as Lotte is a victim, it is of a blend of her own immaturity, her nostalgic attachment to the past, her poor judgment, and her longing for the limelight.522

»Ruhm möcht’ sie naschen« (GKFA 9.1, 367), lautet denn auch Goethes missbilligendes Urteil über Charlottes Beweggründe, während sie selbst formuliert,

517 518 519

520 521 522

Brion werden weder Riemer, noch August oder Ottilie ins Werk umgesetzt; sie sind nicht Opfer der Goethischen Produktionsstrategie, sondern seiner Persönlichkeitswirkung. Frizen (2004b), S. 81. Dane (1999), S. 375. von der Lühe (2004), S. 103. Ihre Analyse der Frauengestalten in Lotte in Weimar führt von der Lühe zu dem Ergebnis, den männlichen Opfer Riemer und August ständen »auf der Seite der Frauen ungleich souveränere, wiewohl nur begrenzt geschichtsmächtige Lebenskonzepte gegenüber« [ibid., S. 90 f.]. Sie exemplifiziert diesen Unterschied vor allem an Charlotte und Adele Schopenhauer, während sie die eine Frauenfigur, die im Roman explizit als Goethes gleichrangiges Gegenüber bezeichnet wird, erstaunlicherweise nicht erwähnt: Marianne von Willemer. Lehnert (1987), S. 44. Hansen (1998), S. 258. Furst (1997), S. 85. Huang weitet ein entsprechendes Urteil auf alle Opfer inklusive Charlottes aus: »Sind die Lottes, die Riemers und die vielen Goethe-Verehrer unglücklich, dann sind sie es nicht durch Goethe, sondern durch ihre eigene Eitelkeit und Unwissenheit geworden. An ihrem Unglück sind sie selber schuld« [Huang (2007), S. 204]. Eine derart summarische Aussage stellt sicherlich eine Vereinfachung dar.

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die habe »dieser fragmentarischen Geschichte doch einen Abschluss zur Beruhigung für [ihren] Lebensabend« (GKFA 9.1, 438) geben wollen. Es geht ihr darum, Goethe »die alte, unbeglichene, quälende Rechnung« (GKFA 9.1, 106) zu präsentieren, über die sie »vierzig Jahre lang nachgegrübelt« (GKFA 9.1, 120) hat. Gleich Riemer, ihrem »Complicen in der Qual« (GKFA 9.1, 106), sucht sie nach »der Lösung eines verjährten Rätsels« (GKFA 9.1, 58), und eben diese »lebenslange[] Qual« (GKFA 9.1, 106) macht auch Charlotte, ihrer »Resolutheit« (GKFA 9.1, 248) und ihres Kinderreichtums zum Trotz, zu einem Opfer von Goethes Größe. Trotzdem besteht ein Unterschied zwischen ihr und Riemer, dem »Trabanten« (GKFA 9.1, 139): Charlotte hat, »unbeschadet ihrer Rolle als Romanfigur, ein normales Leben als Frau und Mutter geführt«,523 während der Famulus seine Eigenständigkeit im Dienst des ›großen Mannes‹ geopfert hat – wenn er ›leuchtet‹, dann ausschließlich dank geliehenen Lichts. 3.2.2. Friedrich Wilhelm Riemer Schon Charlottes Reaktion bei ihrer ersten Begegnung legt Riemer auf die Rolle des »Famulus« (GKFA 9.1, 131) fest: Zwar erwähnt der Gelehrte ausdrücklich, auch Erzieher und Dichter zu sein, doch missbilligt sie gerade diese Betonung seiner Eigenständigkeit, da ihr scheint, als werde damit »des Mannes eigentlichster und einzig bedenkenswerter Eigenschaft, dem hohen Dienst an jener Stelle zu nahe getreten« (GKFA 9.1, 51). Auch die Geflissentlichkeit dieser Betonung entgeht ihr nicht: »Sie spürte sofort, daß er Gewicht darauf legte, man möge Wert und Würde seiner Person sich nicht in dieser Eigenschaft erschöpfen sehen« (ibid.), sondern ihn als eigenständige Persönlichkeit wahrnehme, was ihr »grillenhaft« (ibid.) vorkommt, obgleich sie sich genauso verhält. Der Hinweis auf seine Tätigkeiten als ›Poet‹ und ›Jugendbildner‹ stellt jedoch nicht den einzigen Versuch Riemers dar, seine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit zu betonen; auch die Ausführungen über seine »Schwäche für den Morgenschlummer« (GKFA 9.1, S. 56) dienen diesem Zweck: Nicht nur werde »der griechisch-lateinische Stundenplan« (GKFA 9.1, 64) des örtlichen Gymnasiums seinem »Langschläfertum« (GKFA 9.1, 59) angepasst, auch Goethe habe ihn, wie er stolz betont, trotz eigener abweichender Gewohnheiten »darin wohl gewähren lassen« (GKFA 9.1, S. 56) müssen. Einen weiteren Versuch der Loslösung von Goethe bildet seine Verehelichung, die laut Riemers eigenen Worten »zu einer Sache der Mannesehre« (GKFA 9.1, 60) geworden sei, deren tatsächliche emanzipatorische Wirkung er aber selbst dann noch beschönigt, wenn er ihren »Kompromiß-Charakter« (GKFA 9.1, 64) eingesteht; denn selbst wenn seine zukünftige Frau ihm »wirklich sympathisch« (GKFA 9.1, 65) ist, steht 523 Lehnert (1987), S. 44.

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außer Zweifel, dass sein Entschluss, »für ihre eheliche Versorgung« (GKFA 9.1, 64) aufzukommen, maßgeblich von dem »in Blick und Miene zu lesenden Wunsch« (ibid.) Goethes bestimmt worden ist – von einem Wunsch also, den der Adlat nur vermutet und in vorauseilendem Gehorsam erfüllt. Als jeglicher Eigeninitiative bar erweist Riemer sich auch, als sich ihm eine Gelegenheit bietet, »die mit allen seinen von jungauf genährten Wünschen und Träumen so rein übereinstimmt« (GKFA 9.1, 62) wie die »Vokation an die Universität von Rostock« (GKFA 9.1, 61). Er schlägt sie aus, weil er in Weimar bleiben möchte, und folgt mit dieser Entscheidung erneut dem vermuteten Willen Goethes: Die Annahme des Rufes verbot sich mir – ich wähle absichtlich diese unpersönliche Sprachform, denn es gibt Dinge, die niemand einem erst zu verbieten braucht, weil sie sich aus sich selber verbieten, wobei immerhin dies Verbot in einem Blick und einer Miene, an denen man hängt, zum persönlichen Ausdruck kommen können (GKFA 9.1, 62 f.).

Riemers Abhängigkeit von Goethe macht ihn vollkommen unfähig, eigene Entscheidungen zu treffen: Sein »hülfloses Ringen nach Würde« (GKFA 9.1, 65) manifestiert sich in einer Schein-Unabhängigkeit, und seine Versuche der »Emanzipation« (GKFA 9.1, 64) binden ihn nur fester an Goethe. Er ist sich dieser Abhängigkeit bewusst, täuscht sich aber über die Motive seines Verhaltens, wie die rationalisierende Aussage belegt, sein persönliches Lebensglück bestehe »paradoxaler Weise in der Selbstentäußerung« (GKFA 9.1, 63), in dem »Kompromiß […] zwischen der bitteren Ehre und der süßen« (ibid.): [W]elche Ehre könnte süßer sein, als der Liebesdienst an diesem Phänomen, als die Begnadung, an seiner Seite zu leben und täglich seinen Anblick zu schlürfen, – unabgesetzt, vom ersten Zug verführt? (GKFA 9.1, 91)

Diese rhetorische Frage ist entlarvend, weil Riemer die Parabel vom Fliegentod zitiert:524 Er sitzt auf dem Leim der Faszination, paralysiert und – im übertragenen Sinn – todgeweiht: Zwar verliert er nicht sein Leben, wohl aber Selbständigkeit und Würde. Dafür gewinnt er, der »seine Weimarer Existenz als bewußte Selbsterniedrigung«525 im Dienste seines Herrn und Meisters begreift, einen Platz im Gefolge des Genies, in der Verehrergemeinde des ›Gottes‹ Goethe: »Was immer der Altphilologe an Beispielen persönlicher Opferbereitschaft und Selbstentäußerung aufzählt, läßt sein Leben als verhängnisvollen Gottesdienst erscheinen.«526 Allerdings aspiriert Riemer nicht nur auf die Stellung des Initi524 »Sie saugt mit Gier verrätrisches Getränke / Unabgesetzt, vom ersten Zug verführt; / Sie fühlt sich wohl, und längst sind die Gelenke / Der zarten Beinchen schon paralysiert …« (GKFA 9.1, 86). 525 Marx (2002), S. 216. 526 Ibid.

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ierten und Hohenpriesters im Kultus des Genies; innerhalb des christlichen Kontextes, den der Famulus durch seine Assoziation Goethes mit Christus evoziert, fällt Riemer die Rolle des Jüngers zu. Daß er seine eigenen Lebenspläne dem ›hohen Liebesdienst‹ […] am Frauenplan bereitwillig und auf Dauer opfert, erinnert – auch in der Wortwahl – an die christliche Lebensform radikaler Nachfolge.527

Allerdings vermag Riemer dem biblischen Vorbild des Jüngers, mit dessen Hilfe er sein Leben zu nobilitieren sucht, nicht zu genügen, wie sich an dem »etwas verdrießliche[n], gleichsam maulende[n] Zug« (GKFA 9.1, 50) zeigt, der sein stehendes Charakteristikum bildet. Eines Jüngers unwürdig sind auch seine unablässigen »Fehlrede[n]« (GKFA 9.1, 87), sein »lobpreisende[s] Aufmucken«528 sowie der kleinliche Genuss, den es ihm bereitet, an Goethe herumzumäkeln und ihm »kleine Mogelei[en]« (GKFA 9.1, 79) nachzuweisen. Zutreffend bezeichnet Marx ihn als einen Mann, »der die prekäre Rolle des Jüngers übernommen hat, ohne ganz in ihr aufzugehen.«529 Wie seine Ressentiments, so passen auch die Gründe seines Handelns schlecht zur Rolle des Jüngers und entlarven die angebliche Selbstentäußerung des Famulus als Fassade. Was ihn treibt, ist die »außerordentlich hohe Ehre, die vor Mit- und Nachwelt mit dem Dienst an dieser wunderbaren Sache verbunden« (GKFA 9.1, 63) sei; genau wie Charlotte will er an Goethes Ruhm teilhaben: Ob er der Überzeugung Ausdruck verleiht, sein Umzug nach Weimar werde »dereinst für die intimere Geschichte der deutschen Literatur« (GKFA 9.1, 68) von Bedeutung sein, oder sich selbst als einen Mann vorstellt, »dessen Namen die Nachwelt immer als den eines Freundes und Helfers [werde] anführen müssen, wenn von den Herkulesthaten des Großen die Rede« (GKFA 9.1, 55) sei – sein Anspruch, im Gefolge Goethes »Unsterblichkeit« (GKFA 9.1, 126) zu erlangen, zeigt sich allenthalben. Dabei ist sein Selbstbewusstsein in der Abhängigkeit derart verkümmert, dass er nicht mehr fähig ist, diesen Anspruch mit Überzeugung zu erheben, weshalb seine »peremptorische Forderung an die Nachwelt« (GKFA 9.1, 55) Charlotte als »Ausdruck des Mißtrauens [erscheint], das er in ihre gerechte Erfüllung« (ibid.) setze.

527 Ibid. »Das fiktive Porträt Riemers will nicht diesen selbst als Individuum treffen, sondern einen psychologischen ›Typus‹: den des Jüngers, der um seines ›Meister[s]‹ (Textband S. 57) willen auf sein Lebensglück verzichtet, der seine ›Liebesdienste‹ (Textband S. 76) wie eine Jünger-Agape erscheinen lassen will und die vom Meister selbst sanktionierte Hagiographie betreibt« (GKFA 9.2, 239). 528 Brief Thomas Manns an Paul Amann vom 7. 11. 1951, zitiert nach Mann (1996), S. 115; vgl. auch GKFA 9.2, 239. 529 Marx (2002), S. 217.

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Dieses Misstrauen erscheint unbegründet, gelingt es Riemer doch nach eigenen Worten zumindest zeitweise, eine vollständige Identität mit Goethe herzustellen: Es ist ja an dem, daß ich durch lange Jahre einen großen Teil seiner Korrespondenz nicht etwa nur diktatweise, sondern ganz selbständig für ihn, oder richtiger gesagt: als er selbst geführt habe, – an seiner statt und in seinem Namen und Geiste (GKFA 9.1, 81).

Der Adlat schmeichelt sich, »auf diese Weise zu Goethe« (GKFA 9.1, 82) geworden zu sein – zu einem ›besseren‹ Goethe sogar als dem wirklichen: »Denn ich bewege mich in so kurialisch geisterhaften und hochverschnurrten Wendungen, daß diejenigen seiner Briefe, die von mir sind, goethischer sein mögen als die von ihm diktierten« (GKFA 9.1, 81 f.). Und der Erfolg scheint ihm recht zu geben, da »in der Gesellschaft […] oft der quälendste Zweifel« (GKFA 9.1, 82) herrsche, ob ein angeblicher Brief Goethes nicht in Wahrheit von Riemer verfasst worden sei. Wenn ein solcher Brief »vor Mit- und Nachwelt« (GKFA 9.1, 63) als ein Brief Goethes akzeptiert wird – ist dann nicht die Identität hergestellt, die der Famulus anstrebt? Nicht einmal Riemer selbst scheint geneigt, diese Frage eindeutig zustimmend zu beantworten. Er argwöhnt, »in der Aufgabe des eigenen Mannes-Ich« (GKFA 9.1, 82) liege selbst dann »etwas Schändliches« (ibid.), wenn man »auf diese Weise zu Goethe« (ibid.) werde. Er zweifelt, dass es »nur überaus ehrenvoll und garnichts anderes sein sollte, sich in ihm zu verlieren und sein Lebens-Ich aufzuopfern« (ibid.) – und tut es dennoch. Denn wenn er ›zu Goethe‹ wird, hört er als Riemer auf zu existieren; die Identität mit dem ›Meister‹, die Partizipation an seinem Ruhm erkauft der Famulus durch die vollständige Aufgabe der eigenen Identität, die er somit weniger dem Kult des ›großen Mannes‹ als vielmehr seinem eigenen Ehrgeiz opfert. Zumindest im Falle Riemers lässt sich damit die Frage nach der Verantwortung für seinen Opferstatus relativ eindeutig beantworten: Er ist scharfsichtig genug, seine Abhängigkeit von Goethe zu durchschauen, und seine »Maulereien« (GKFA 9.1, 409), in denen sich »Eitelkeit und Ohnmacht« (GKFA 9.1, 65) ausdrücken, lassen erkennen, dass er sich auch der damit verbundenen Verkümmerung bewusst ist. Dennoch erweist er sich als unfähig zur Emanzipation, begnügt sich mit Fiktionen von Unabhängigkeit und richtet sich in allen Entscheidungen nach den Erwartungen, die er Goethe zuschreibt. Besonders dieser letzte Aspekt verdeutlicht, dass die Verantwortung für die Opferrolle des ›Trabanten‹ bei diesem selbst liegt. Riemer ist »keineswegs zu ›lebenslanger Hörigkeit‹ im Bannkreis de[s] Großen verdammt«,530 sondern verdammt sich selbst dazu. 530 Sautermeister (1991), S. 41.

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3.2.3. August von Goethe Im Falle Augusts liegen die Umstände anders, denn als Goethes Sohn ist er »von Natur und Stand zum Gehilfen und Repräsentanten berufen« (GKFA 9.1, 257). Für August von Goethe ist diese ›Berufung‹ ein Verhängnis, da er unablässig auf die eine Eigenschaft reduziert wird, »die seine unpersönlichste [ist], aber die fixe Idee aller bildet[]: seine Sohnschaft« (GKFA 9.1, 160). Riemer referiert Goethes diesbezügliche Einstellung mit den Worten: August ist sein Sohn – in dieser Eigenschaft vollendete sich für ihn von jeher so ziemlich die Existenz des Knaben, des jungen Menschen, dessen Bestimmung eben keine andere war, als sein Sohn zu sein (GKFA 9.1, 70 f.).

In diesem Fall ist die Einschätzung des Adlaten korrekt. Nachdem Goethe sich selbst zum »Hoch- und Letztergebnis« (GKFA 9.1, 322) seines Geschlechts erklärt hat, urteilt er über August: »[E]r ist ein Drüber hinaus, ein Nachspiel, weiß ich das nicht? Natur schaut kaum noch hin« (GKFA 9.1, 323). Adele schließlich resümiert lakonisch: »August war Sohn, – das war die Haupteigenschaft seines Lebens« (GKFA 9.1, 211).531 Es kann nicht verwundern, dass August sich unter diesen Umständen bemüht, den »immer drohend naheliegenden und entmutigenden Vergleich mit dem Vater« (GKFA 9.1, 160) nicht erst aufkommen zu lassen, indem er alles daran setzt, »für einen praktischen Alltagsmenschen, einen nüchternen Geschäfts- und Weltmann durchschnittlichen Verstandes« (ibid.) zu gelten: »Was kann ich meinem Vater sein? Ich bin ein aufs Praktische gestellter Durchschnittsmensch und bei Weitem nicht geistreich und gelehrt genug, ihn zu unterhalten« (GKFA 9.1, 265). Im Falle Augusts ist die Vergeblichkeit aller Emanzipationsversuche noch offensichtlicher als bei Riemer. Anders als dem Famulus, dem durchaus die Möglichkeit offen stünde, sich Goethes Einfluss-Sphäre durch einen Umzug nach Rostock zu entziehen, bleibt August keine Wahl – und das Bewusstsein dieser Ausweglosigkeit bestimmt ihn zu einem »kindlich genaue[n] Anschluß an die väterliche Gesinnung« (GKFA 9.1, 192), der nach Adeles Meinung zwar »sein Rührendes« (ibid.) hat, zugleich jedoch »etwas Unnatürliches« (ibid.) nach sich zieht, nämlich die Aufgabe des eigenen Selbst, zu der sich August, wie Riemer, 531 Diese Unselbständigkeit Augusts lässt sich, wie Werner Frizen gezeigt hat, in Lotte in Weimar auch strukturell nachweisen, denn »in den zwei Kapiteln, die der Roman ihm widmet […], gilt August von Goethe nicht als der eigentliche Erzählzweck; in dem einen führt er das Schattendasein des ausgeschlossenen Dritten in einer Romanze, im anderen Falle tritt er als der Berufssohn in Vertretung des Vaters auf. Der Sohn ist im Roman wie in der Wirklichkeit in extremer Weise Opfer des großen Vaters, ›Opfer seiner Sohnschaft‹ (Mp XI 14/18)« (GKFA 9.2, 361). Die Abkürzung ›Mp‹ verweist auf eine ›Mappe‹ mit Notizen Thomas Manns, die im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich aufbewahrt wird.

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durch die überherrschende Persönlichkeit seines Vaters gezwungen sieht: »August, more than anyone else, is the sacrificial victim of Goethe’s overbearing power.«532 In der Tat wird Augusts Denken und Handeln bestimmt von »Abhängigkeit und Übernahme« (GKFA 9.1, 158), so dass seine Charakterisierung als »des Vaters Echo« (GKFA 9.1, 192) zwar boshaft, aber zutreffend ist. Das Schlüsselwort, »das die Stagnation in der Imitation bezeichnet« (GKFA 9.2, 385), lautet ›Wiederholung‹ : August betreibt »den Sammeleifer des Vaters auf eigene Hand« (GKFA 9.1, 212), tut es »nach seiner politischen Gesinnung völlig dem Vater gleich« (GKFA 9.1, 169), und auch seine »trübe Leidenschaft für Ottilie« (GKFA 9.1, 211) ist unselbständig: In Ottilie liebt August »den Typ seines Vaters; seine Liebe [ist] Nachahmung, Überkommenheit, Hörigkeit« (ibid.). Alle Romanfiguren stimmen darin überein, dass August von Goethe nichts weiter als eine defizitäre Wiederholung seines Vaters darstellt: Diese Meinung wird formuliert von Charlotte, wenn sie den »gegenwärtige[n] Junge[n]« (GKFA 9.1, 226) mit dem »Jungen von einstmals« (ibid.) vergleicht und dabei angesichts der »schüchtern getragene[n], im Bewußtsein ihrer Herabgesetztheit etwas traurig gefärbte[n] und gleichsam um Entschuldigung bittende[n] Aehnlichkeit« (GKFA 9.1, 227) zu dem Urteil kommt, August sei nur »[d]er abgewandeltunzulängliche Versuch des Lebens […], sich zu wiederholen und wieder obenauf in der Zeit, wieder Gegenwart zu sein« (ibid.). Die selbe Einschätzung spricht aus der oben zitierten Äußerung Goethes über die Stellung seines Sohnes in der Generationenfolge der Familie, und sie findet sich in der Selbsteinschätzung Augusts, der sich als einen »beiläufige[n], mit wenig Nachdruck begabte[n] Abwurf [der] Natur« (GKFA 9.1, 233) seines Vaters bezeichnet. Am ausführlichsten wird sie von Adele Schopenhauer entwickelt, die in den Kategorien der Goetheschen Vererbungslehre argumentiert, wenn sie ihren Eindruck erläutert, dass »gewisse Eigenschaften, die sich beim Sohn höchst unglücklich und zerstörerisch hervor[täten], schon bei dem großen Vater sich vorgebildet f[ä]nden« (GKFA 9.1, 213): [I]n dem väterlichen Falle halten sie sich in einer noch glücklichen, fruchtbaren und liebenswürdigen Schwebe und gereichen der Welt zur Freude, da sie als Sohneserbe auf eine grobe, geistverlassene und unheilvolle Weise sich manifestieren und in ihrer sittlichen Anstößigkeit offen und unverschämt zu Tage treten (ibid.).

Diese Äußerung Adeles stellt nicht nur die Verbindung zwischen Augusts Verhalten und seinen ererbten Anlagen her, sondern verknüpft seine hilflosen Versuche der ›Wiederholung‹ auch mit dem »Hauptthema von Lotte in Weimar«,533 denn ›geistverlassen‹ ist der »Gegenbegriff zur ›geistverstärkte[n]‹ 532 Furst (1997), S. 82. 533 Brief Thomas Manns an Karl Ker¤nyi vom 16. 2. 1939, zitiert nach Mann (1996), S. 31.

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Wiederholung« (GKFA 9.2, 412), die Goethe senior auszeichnet: »August ist es nicht vergönnt, zur Persönlichkeit zu reifen; sein Wesen ist […] Imitation des väterlichen Musters ohne individuelle Variation« (GKFA 9.2, 363). Die Lebenssituation August von Goethes wird bestimmt von einem Dilemma: Die Nähe zu seinem Vater verhindert seine persönliche Entfaltung, und der einzig denkbare Ausweg aus dieser Zwangslage, die imitatio des Vaters, wird für ihn zur Sackgasse: »His imitation of the father is not conscious role-playing […]. He has never found the freedom of such gamesmanship. Nor can he genuinely follow the example of his father«.534 Der Grund für Augusts Scheitern liegt zunächst einmal darin, dass er nicht über das Format, nicht über die Größe verfügt, seine imitatio als geistverstärkte Lebenserneuerung zu inszenieren. Von noch verhängnisvollerer Wirkung aber ist das Verhalten Goethes, der seinen Sohn, wie Charlotte und andere, »als Instrument seines Lebensplans [benutzt]. Er [darf] nur ein Scheinleben im Schatten des Vaters führen […] – seine Identität als August hat der Vater parasitisch aufgesogen.«535 Dieses ›Schmarutzertum‹ Goethes ist der eigentliche Grund dafür, dass August über eine »flawed ›imitatio‹ of his father«536 nicht hinauskommt. Die Tragik seines Schicksals besteht darin, dass er der herausfordernden Aufforderung Goethes: »Machs Einer nach und breche nicht den Hals« (GKFA 9.1, 323), nicht aus freien Stücken folgt. Er tut es, weil die übermächtige Persönlichkeit seines Vaters ihm jeden anderen Weg versperrt – und bricht sich prompt ›den Hals‹. Exemplarisch lässt sich die Art, wie Goethe sich seines Sohnes als Mittel zum Zweck der eigenen Lebenssteigerung bedient, an dessen Beziehung zu Ottilie von Pogwisch darstellen. Für Adele Schopenhauer besteht kein Zweifel, »daß der Vater der Erste war, der sich für Ottilien interessierte, und daß erst die Gunst, die er ihr erwies, die Aufmerksamkeit des Sohnes auf sie lenkte« (GKFA 9.1, 158). In ihren Augen ist Goethe senior die treibende Kraft hinter der Annährung Augusts an die adlige Preußin, und dessen Liebe nichts weiter als »Nachahmung, Überkommenheit, Hörigkeit« (GKFA 9.1, 211). Wie vollständig diese Abhän534 Siefken (1980), S. 117. 535 Frizen (2004b), S. 82. 536 Heller (1995), S. 127. Darmaun erkennt in August von Goethes Scheitern eine erhabene Dimension: »Er weiß um den miserablen Trick des Lebens, das mit ihm stiefmütterlich umgegangen ist […]. Adel des Geistes ist es dennoch, daß August sein Los auf sich nimmt und sich bescheidet, dem Großen mit seinen beschränkten Gaben zu helfen« [Darmaun (1998), S. 190 f.]. Diese Lesart scheint wenig plausibel, wie sich an der »unselige[n] Freiwilligen-Geschichte« (GKFA 9.1, 211) zeigt: In einem Akt scheinbarer Selbständigkeit meldet August sich zum Kriegsdienst, »ohne die Zustimmung seines Vaters eingeholt zu haben« (GKFA 9.1, 196) – der ihn denn auch prompt zwingt, einen nur »nominellen Adjutantendienst« (GKFA 9.1, 197) zu versehen, und ihn damit in die gesellschaftliche Isolation treibt. Genau wie Riemer sucht August sein Joch abzuschütteln, und seine Bemühungen sind ebenso fruchtlos wie die des Famulus: Beide erschöpfen sich in ScheinEmanzipationen, ohne sich aus dem Bann Goethes befreien zu können.

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gigkeit ist, zeigt sich anlässlich des zeitweiligen Zerwürfnisses: Obgleich kein Zweifel bestehen kann, dass August Ottilie nicht liebt,537 unternimmt er Schritte zur Wiederannährung, angehalten »durch den höheren Willen, der hinter dem Seinen [steht] und gegen den er durch den Bruch mit ihr eine nutzlose Revolte versucht« (GKFA 9.1, 215) hat.538 Wenn Ottilie ihrer Freundin berichtet, »August habe ihr von der zukünftigen Verbindung mit ihm in aller Ruhe wie von einer abgemachten Sache gesprochen« (GKFA 9.1, 217), äußert sich darin eine Einstellung, die Goethes Sohn Charlotte gegenüber in die Worte fasst, seine Heirat mit Ottilie sei »einer der Fälle, in denen es der Worte am Ende nicht mehr« (GKFA 9.1, 278) bedürfe. Wunsch und Wille seines Vaters sind für August von so absoluter und allein ausschlaggebender Gültigkeit, dass er es nicht einmal für nötig hält, »das Wort [seiner] Erkorenen« (ibid.) zu erlangen. 3.2.4. Ottilie von Pogwisch Doch nicht nur August, auch Ottilie steht unter dem Bann von Goethes Willen – jedenfalls nach Aussage Adeles, die das Eingehen ihrer Freundin auf die Werbung Augusts dem Einfluss des Vaters zuschreibt: Ihre Verehrung für den großen Dichter war selbstverständlich die tiefste; die Gunst, die er ihr erwies, schmeichelte ihr unendlich, – was Wunder, daß die Werbung des Sohnes, die mit der offenkundigen Billigung des Vaters und sozusagen in seinem Namen geschah, sie unwiderstehlich dünkte? Es war ja, alsob, durch die Jugend des Sohnes, verjüngt in ihm, der Vater selbst um sie würbe. Der ›junge Goethe‹ liebte sie (GKFA 9.1, 158).

Gegen diese Argumentation ließe sich einwenden, dass alle Aussagen Adeles zwangsläufig in Frage zu stellen sind – zunächst einmal, weil sie als Figur nur über begrenzte Einsicht verfügt, vor allem aber, weil ihre Abneigung gegenüber August offensichtlich ist, und sie Ottilies Bindung an ihn als ein »falsches, ein ganz und gar unnotwendiges und dennoch scheinbar unabwendbares Schicksal« (GKFA 9.1, 149) ansieht, das es zu verhindern gilt. Doch wird die These, Ottilies Handlungen würden von der Faszination bestimmt, die Goethe senior auf sie ausübe, auch von einer referierten Bemerkung des »Fräulein von Pog537 Einen Hinweis darauf bildet etwa die Bemerkung Augusts über sein Glück in der Gesellschaft Achim von Arnims. Über die Stunden, in denen er ihm das Schlittschuhlaufen habe beibringen dürfen, sagt er : Es »waren die glücklichsten, die mir das Leben gebracht hat – ich erwarte, offen gestanden, keine glücklicheren von ihm« (GKFA 9.1, 270). Zur homoerotischen Komponente der Beziehung zwischen August und von Arnim vgl. Schöll (2002), S. 175 f. 538 Wie bei der »unselige[n] Freiwilligen-Geschichte« (GKFA 9.1, 211) handelt es sich bei dem Bruch mit Ottilie um einen fruchtlosen Versuch Augusts, sich von seinem Vater zu emanzipieren.

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wisch« (GKFA 9.1, 276) selbst gestützt. Auf Adeles Versuche, ihr die Beziehung auszureden, führt sie als erstes Argument Augusts Abstammung an: »Kann man zweifeln an dem edlen Seelengrund des Sohnes dieses Vaters?« (GKFA 9.1, 201). Die Liebe, die sie auf seiner Seite annimmt – »Auch liebt er mich ja« (ibid.) –, ist sekundär. Ottilie ist bereit, um des großen Mannes willen sich seinem dürftigen Spiegelbild hinzugeben. So droht ihr das Schicksal einer Friederike Brion und einer Lili Schönemann, die sich vom Mysterium der großen Persönlichkeit verzaubern und vernichten ließen: Sie fanden niemals zu ihrem eigenen Selbst und zu bürgerlicher Selbständigkeit zurück.539

Auch Ottilie wird in den ›Reigen‹ der Goetheschen Geliebten aufgenommen,540 und dass es sich dabei um ein strategisch-planvolles Vorgehen handelt, erfährt der Leser von Goethe selbst. Nachdem er sich zum ›Hoch- und Letztergebnis‹ seines Geschlechts, August aber zu einem ›Nachspiel‹ erklärt hat, bemerkt er distanziert-belustigt: [U]nd ich hab die Grille, zu thun, als dürft und könnt ichs in ihm noch einmal beginnen, verkuppel ihn mit dem Persönchen, weils vom Schlage derer, vor denen ich floh […], damit das Nachspiel noch einen Ausklang auch habe, bei dem Natur gähnend und achselzuckend nach Hause geht (GKFA 9.1, 323).

Gezielt hat Goethe seinen Sohn mit Ottilie ›verkuppelt‹, weil sie dem Typ Frau entspricht, »der von jeher das Glück hatte, [s]einem persönlichen Geschmacke zu schmeicheln« (GKFA 9.1, 157) – auch Ottilie ist eine ›Lotte rediviva‹. Ihre Fixiertheit auf August weist darauf hin, dass der Vater auch sie beeinflusst hat: Adele bezeichnet sie als »gebannt […] von ihm und von dem Gedanken, die Seine zu werden, wie das Vögelchen von der Schlange« (GKFA 9.1, 216), und das ist eine Wirkung, die man wohl kaum den »nicht eben anmutigen, nicht eben unterhaltsamen Huldigungen« (GKFA 9.1, 163) Augusts wird zuschreiben können – auch hier ist er nur ›Stellvertreter‹ des Vaters. Noch bedeutsamer ist jedoch der Umstand, dass bei einem Ereignis, dem Adele eine »fatale Wichtigkeit« (GKFA 9.1, 217) beimisst, der ›Bräutigam‹ nicht einmal anwesend ist: »Anfang August hatte Ottilie an der Ackerwand eine Begegnung mit dem Geheimen Rat, Deutschlands großem Dichter« (ibid.). Ottilie besteht darauf, dieses »Vorkommnis in eine Art von neckisch-feierlichem Geheimnis zu hüllen« (GKFA 9.1, 218), was die Vermutung nahe legt, hier könne etwas ›nicht mit rechten Dingen‹ zugegangen sein. Das Wenige, was Adele – und mit ihr der Leser 539 Sautermeister (1991), S. 41. 540 Vgl. Frizen (2004a), S. 191. Die von Frizen im Kommentar aufgestellte These, der Goethe des Romans mache die Beziehung zwischen sich und Ottilie »literarisch fruchtbar« (GKFA 9.2, 363), ist aus dem Text heraus nicht zu belegen: Die ›Muse‹ des Divan, an dem er zur Zeit des Romans arbeitet, ist nicht Ottilie von Pogwisch, sondern Marianne Willemer ; vgl. GKFA 9.1, 252 f.

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– von diesem Zusammentreffen erfährt, lässt jedoch darauf schließen, dass Ottilies endgültiger Entschluss zur Heirat mit August als unmittelbare Folge Goethescher Persönlichkeitswirkung anzusehen ist: »[L]aß dir mit der Nachricht genügen, dass er reizend zu mir war« (ibid.). Die Frage nach Goethes Motiv ist mit dem Hinweis auf den ›Reigen‹ schon halb beantwortet: Ottilie von Pogwisch ist für ihn eine weitere Verkörperung des ›Urbilds‹,541 eine weitere Gelegenheit zu ›geistverstärkter Lebenswiederholung‹ : Sein Ziel ist es »[to see] his own love-affair ›repeated‹ – for his own benefit – in the life of his son.«542 Er ist sich auch sehr wohl bewusst, dass diese Strategie persönlicher ›Verjüngung‹ zur Aufrechterhaltung der eigenen Fruchtbarkeit seinen Sohn Würde und Lebensglück kostet, doch da August in seinen Augen ohnehin nur ein ›Nachspiel‹ ohne Eigenwert darstellt, nimmt er dessen Verkümmerung in Kauf. August von Goethe und Ottilie von Pogwisch gehören zu den Opfern der Größe, ihr Schicksal vergrößert die ›metaphysische Schuld‹, die Goethe als Preis für seine schöpferische Existenz auf sich nimmt: »Was hier als andere Leben zerstörende Tyrannei und Egozentrizität erscheint, ist die Kehrseite des künstlerischen Berufes«,543 die Folge von Goethes Produktionsstrategie: Auch die Leben Augusts und Ottilies werden, obgleich sie nicht direkt in literarische Figuren transponiert werden, an die Kunst verraten. Vergleicht man die verschiedenen Figuren, die zu ›Opfern der Faszination‹ von Goethes Persönlichkeit werden, fallen selbst dann beträchtliche Unterschiede auf, wenn man von Charlotte absieht, der es durch die frühe Trennung gelingt, sich ein gewisses Maß an Eigenständigkeit zu bewahren. Anders als Riemer, der sich aus persönlicher Geltungssucht der Dominanz des ›großen Mannes‹ unterwirft, hat August keine Wahl; er ist »von Natur und Stand zum Gehilfen und Repräsentanten« (GKFA 9.1, 257) seines Vaters berufen. Goethes überherrschende Größe macht ihm eine ›normale‹ Persönlichkeitsentwicklung ebenso unmöglich wie den Versuch einer imitatio, so dass August in den Augen aller, auch seiner selbst, nur einen zweitklassigen »Abwurf« (GKFA 9.1, 233) des Vaters darstellt. Goethes Schuld in diesem Fall besteht darin, seinen Sohn (1) nie 541 »[I]m Haus wird eine Lilli walten, mit der galant der Alte scherzt, und will es Gott, so wird man Enkel haben, lockige Enkel, Schattenenkel, den Keim des Nichts im Herzen« (GKFA 9.1, 323). Frizen erkennt in den lebensuntauglichen ›Schattenenkeln‹ eine Anspielung auf die Josephs-Tetralogie: »Auch im Joseph geraten in die Deszendenz von Juda entnervte Infanten, die zum Segensträger nicht geboren sind. In diesem Horizont der Anspielung gewinnt auch das ›Scherzen‹ des Alten mit der Schwiegertochter Ottilie einen erotischen Nebensinn; denn in der biblischen Tetralogie dient das Wort der euphemistischen Umschreibung des Sexualaktes« (GKFA 9.2, 601 f.). Allerdings werden in Joseph und seine Brüder nicht Judas Söhne als »Infanten« (GW V, 1783) bezeichnet, sondern die Nachkommen Josephs, die »Stutzer« (GW V, 1779) Menasse und Ephraim. 542 Heller (1995), S. 127. 543 Siefken (1981), S. 129 f.

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als eigenständige Person wahrgenommen zu haben und ihn (2) als ein Mittel zur eigenen Steigerung zu missbrauchen: Er verkuppelt August mit Ottilie von Pogwisch, um die bekannte Dreiecks-Konstellation im Sinne seiner ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ zu wiederholen und seine produktive Potenz zu erhalten. Ottilie wiederum ist das willkürlichste Opfer der Goetheschen Lebensstrategie, ihr wird schlicht ihr Aussehen zum Verhängnis. Um wieder ›eine Lilli‹ im Haus zu haben, setzt Goethe sie in einem geheimen Treffen gezielt der intrigierenden Wirkung seiner Persönlichkeit aus, wodurch er sie zur Heirat mit seinem Sohn bewegt. Ihre Persönlichkeit wird noch vollständiger und planvoller zerstört als diejenige Augusts, weshalb Goethes ›metaphysische Schuld‹ in diesem Fall am größten ist. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Verkümmerung der Menschen um Goethe zweifellos eine Folge seiner Lebens- und Schaffensstrategie ist, dass aber Unterschiede bestehen: Riemer macht sich durch sein Verhalten selbst zum Opfer, August hat keine Wahl, und Ottilie wird gezielt ausgewählt und zum Opfer gemacht. Niemand aber kann sich der Wirkung von Goethes Persönlichkeit vollständig entziehen. Wenn daher erneut die Frage gestellt wird, ob der ›große Mann‹ Goethe ›ein öffentliches Unglück‹ ist, muss die Antwort differenziert ausfallen: Ohne Zweifel ist seine Nähe ein Unglück für August und Ottilie, deren Lebensglück er zerstört. Dabei handelt es sich jedoch um individuelle, gewissermaßen ›private‹ Schicksale. Zu einem öffentlichen Unglück kann Goethes Persönlichkeit nur werden, wenn viele Menschen sich wie Riemer verhalten, der sich von seiner Unterwerfung persönliche Vorteile verspricht.544 Und da dieser »Drang nach Unterwerfung« (GKFA 9.1, 140) in Lotte in Weimar als spezifisch deutsches Charakteristikum dargestellt wird, ist mit dem ›chinesischen Sprichwort‹ auch auf die politische Dimension der Größe verwiesen, deren verhängnisvolle Faszination selbst im Stadium der ›Verhunzung‹545 Thomas Mann in Bruder Hitler (1938) analysiert.546 Eine Antwort kann daher lauten: 544 Dass nicht nur Riemer versucht, aus Goethes Nähe persönliche Vorteile zu gewinnen, zeigt sich »in Charlotte Kestners Überlegung, ob sie nicht ihre ›Verbindungen‹ zur Beförderung eines Verwandten einsetzen solle« [Kraft (1993), S. 311]; vgl. GKFA 9.1, 370. 545 Frizen nennt es das ›einzige Begehren‹ des Romans, »den deutschen Mißbrauch des GenieMythos, den Spuk vom Dunkel-Naturhaften aufzuklären« [Frizen (2005), S. 509]. Zu der Position Molinelli-Steins, von der er sich abgrenzt, vgl. Barbara Molinelli-Stein: Thomas Mann. Das Werk als Selbstinszenierung eines problematischen Ichs. Versuch einer psychoexistenziellen Strukturanalyse zu den Romanen ›Lotte in Weimar‹ und ›Doktor Faustus‹, Tübingen 1999, S. 50, Anm. 110. 546 Die Bedeutung des Essays für den Roman ergibt sich aus der Tatsache, dass die Politik in Bruder Hitler »nur der Anlass [ist] für eine Reflexion über den Künstler, die Grundmechanismen modernen Künstlertums und das Phänomen des ›großen Mannes‹, des ›Genies‹« [Paolo Panizzo: Künstler, Genie und Demagoge. Thomas Manns Essay ›Bruder Hitler‹, in: Lörke, Tim; Müller, Christian (Hrsg): Thomas Manns kulturelle Zeitgenossenschaft, Würzburg 2009, S. 13 – 27, hier : S. 14]. Hitler verkörpert »die Verhunzung wichtiger

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Der ›große Mann‹ ist ein Unglück für die Menschen seiner Umgebung, und die Gefahr, dass er außerdem zu einem öffentlichen Unglück wird, besteht vor allem in Deutschland. »Dass die Deutschen mit dem großen Mann nicht umgehen und die wahre von der falschen Größe nicht unterscheiden können, ist ihr Unglück«547 – aber nicht seine Schuld.

3.3.

»Ich werde nicht ihresgleichen sehen …«

Goethe dominiert die Menschen seiner Umgebung, macht sie zu Opfern – manchmal systematisch und planvoll, als Folge seiner Lebens- und Produktionsstrategie, manchmal unbeabsichtigt, weil niemand sich der Wirkung seiner Persönlichkeit zu entziehen vermag. Dieser Befund beleuchtet eine neue Facette der Einsamkeit des ›großen Mannes‹ : Inmitten der Weimarer Gesellschaft steht Goethe auch deshalb »in tragischer Größe und Einsamkeit«,548 wie »ein Riese mitten unter Liliputanern, bewundert, gefürchtet, aber unverstanden«,549 weil es niemanden gibt, der ihm ebenbürtig ist. Er ist umgeben »von einem willigen Hofstaat an Verehrern, Mitläufern und verehrungswilligen Kleingeistern«,550 aber seit dem Tod Schillers und der Verbannung Napoleons hat er keinen gleichwertigen Gesprächspartner mehr, ist sein Leben »einsam, unverstanden, gespielenlos und kalt« (GKFA 9.1, 352). In diesem Abschnitt soll untersucht werden, welche Bedeutung Schiller und Napoleon für den fiktionalen Goethe hatten und haben, wie er sein Verhältnis zu ihnen beurteilt und welche Schlüsse sich daraus für seine Situation im Jahre 1816 ziehen lassen. Dabei wird sich zeigen, dass ihm schließlich nur noch die Möglichkeit des ›inneren Exils‹ bleibt.

547

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Vorstellungen wie der vom Genie und der vom großen Mann« [Dane (1999), S. 366], und so ist »[d]er hochbrisante Essay […] als satirischer Zwilling des Romans zu lesen. Er karikiert das deutsche Phantasma vom schöpferischen Individuum, indem er den böhmischen Gefreiten als illegitimen Bruder des Bohemien, als Parodie des großen Mannes im Viertelformat verhöhnt« (GKFA 9.2, 36) – ein ›Phantasma‹, das Mann in Lotte in Weimar zugleich entlarvt und restituiert! Wie in Bruder Hitler geht es im Roman darum, »die wahre Größe von der falschen zu trennen, die echte Größe Goethes von dem zu trennen, was eine devote Umgebung aus ihm macht« [Schöll (2003), S. 152]. Ibid., S. 150 f. Frizen sieht in der Frage nach dem Umgang der Deutschen mit der Größe das eigentliche Thema von Lotte in Weimar: »Es geht Thomas Mann gar nicht oder zuletzt nicht um Goethe, der Dichter ist ein Symbol für das Problem, das nach Hitlers Machtergreifung bei ihm immer wieder in den Vordergrund getreten ist: das Thema der deutschen Größe und ihrer Gefahren« [Frizen (2005), S. 525]. Cassirer (1975), S. 31. Darmaun (1998), S. 192. Koopmann (1998), S. 32.

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3.3.1. Der Aristokrat des Geistes: Schiller Goethes Verhältnis zu Schiller ist gekennzeichnet von Ambivalenz: Einerseits sieht er in ihm einen »[u]nangenehme[n], diplomatisierende[n] Streber« (GKFA 9.1, 287), und die Antwort auf die Frage »Mocht ich ihn jemals?« (ibid.) fällt scheinbar eindeutig aus: »Nie. Mochte den Storchengang nicht, das Rötliche, die Sommersprossen, die kranken Backen, nicht den krummen Rücken, den verschnupften Haken der Nase« (ibid.). Allerdings folgt auf diese wenig schmeichelhafte Beschreibung ein gewichtiges ›Aber‹: »Aber die Augen vergeß ich nicht, solang ich lebe, die blau-tiefen, sanften und kühnen, die Erlöser-Augen« (ibid.),551 und letztlich kann an Goethes Wertschätzung der Person und der Fähigkeiten Schillers kein Zweifel bestehen: »Ach, ach, der hat was gemerkt, der hat was verstanden. Weil er den Rang hatte, das Auge, den Flug« (GKFA 9.1, 296), die Größe. Der Goethe des Romans lässt keinen Zweifel daran, dass Schillers ›Insistieren‹ auf der prinzipiellen Gleichrangigkeit von ›sentimentalischem‹ und ›naivem‹ Geist ihm lästig gewesen ist: [I]mmer sich vergleichend, sich kritisch behauptend, lästig genug: der spekulative, der intuitive Geist, weiß schon, weiß schon, sind sie nur beide genialisch, so werden sie sich auf halbem Wege – Weiß schon, darauf kams an, daß auch der Naturlose, der Nichtsals-Mann, ein Genie sein könne, daß Er eines sei und an meine Seite gehöre, – auf den großen Platz kams an und die Ebenbürtigkeit (GKFA 9.1, 287).

Dennoch erkennt er den »sentimentalische[n] Antipode[n] aus Jena« (GKFA 9.2, 241), den »Aristokrat[en] des Geistes und der Bewußtheit« (GKFA 9.1, 286) letztendlich als ebenbürtig an: Schiller »hatte die Natürlichkeit des Genies, ob er der Natur gleich ärgerlich-sträflichen Hochmut erwies« (GKFA 9.1, 295); und seine Bedeutung als kongenialer Gesprächspartner zeigt sich bei der Entstehung des Faust: [M]it wem sprech ich über Faust, seitdem der Mann aus der Zeit ist? Er wußte alle Sorgen, die ganze Unmöglichkeit und die Mittel und Wege wohl auch, – unendlich geistreich und duldsam-frei, voll kühnen Einverständnisses den großen Spaß betreffend (GKFA 9.1, 288).

Der Austausch war in verschiedener Hinsicht fruchtbar. Nicht nur hat Schiller, »verstehend aufs halbe Wort und antwortend mit äußerster Klugheit« (GKFA 551 Auch Schiller wird im Roman als Christus-Figur gedeutet, ganz in der Tradition des 19. Jahrhunderts, das »[d]em leidenden Schiller […] schon früh messianische Züge zugelegt« (GKFA 9.2, 501) hat. Goethe stellt die Verbindung zwischen Schiller und Christus explizit her, wenn er bemerkt: »Ja, er hatte viel von ihm, auf den ich mich verstehen will in der Kantate« (GKFA 9.1, 286), und auch an anderer Stelle wechselt er unmarkiert zwischen beiden: »Aber die Hauptsache bleibt Er und die gesteigerte Lehre […]. Wär’ Er noch da, der vor so manchen Jahren […] von uns sich weggekehrt« (GKFA 9.1, 284 f.). Das erste ›Er‹ meint hier Christus, das zweite Schiller, vgl. Marx (2002), S. 220 – 224.

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9.1, 287), die steigernde Wirkung der Zeit unterstützt, die »das Ihre allenfalls schneller [täte], wär er noch da« (GKFA 9.1, 288); er hat Goethe auch die Zweifel genommen, die diesen hinsichtlich der Qualität seiner Dichtung gelegentlich befallen haben:552 Er hat Helena noch gesehen, hat ihre ersten Trimeter noch gehört und seinen großen und vornehmen Eindruck bekundet, das soll mich stärken. […] Das ist sanktioniert, darüber bin ich beruhigt, das soll unangetastet sein, er hats vortrefflich gefunden (ibid.).

Doch kann die Erinnerung an den Ebenbürtigen dessen anspornende Kritik nicht ersetzen: »Wer redet mir zu, versteht es und lobt’s, bevor es vorhanden? […] Wär Er noch da, zu spornen, zu fordern und geistreich aufzuregen« (GKFA 9.1, 285), das Leben wäre leichter für Goethe. Dass dies nicht nur in künstlerischproduktiver Hinsicht gilt, zeigt die wehmütige Erinnerung an die gemeinsame Lektüre der ersten Helena-Verse: »Er hat gelächelt beim Zuhören […], sodaß ich auch lächeln mußte und mein Lesen zum Lächeln wurde« (GKFA 9.1, 288). An der resignierten Aussage »Es lacht sich mit niemandem mehr« (GKFA 9.1, 289) lässt sich die Einsamkeit ermessen, in die Goethe der »Verlust dieses Gesprächspartners, de[s] eigentlichen Du«553 gestürzt hat. Wie schmerzlich er diesen Verlust empfindet, zeigt sich überdies daran, dass er Schiller in Gedanken gelegentlich direkt anspricht, so etwa, wenn er sich an dessen Hinweis erinnert, »daß der Faust ins thätige Leben geführt werden« (ibid.) müsse: »[L]eichter gesagt als getan, aber wenn Sie dachten, mein Bester, das sei mir neu –« (ibid.). Auf diese Weise wird Goethes »Selbstgespräch immer wieder zum Zwiegespräch«554 mit dem verstorbenen Freund – zu einer ›Geisterunterhaltung‹ ganz eigener Art, die aber den fruchtbaren Austausch mit einem lebendigen Gegenüber nicht ersetzen kann. Nach dem Tode Schillers, dessen ›Rang‹ ihn »weit über alles Gesinde und Gesindel hinaus [erhob], einzig ebenbürtig, einzig verwandt« (GKFA 9.1, 287), ist Goethe allein. Was ihm bleibt, ist die Erinnerung, das gedankliche Zwiegespräch mit einem Toten, und die Erkenntnis, dass seine Vereinsamung unaufhebbar ist: »[I]ch werde nicht seinesgleichen sehen« (ibid.).

552 Diese gelegentlichen Selbstzweifel erwähnt auch Riemer : »Nach Beendigung der ›Wahlverwandtschaften‹ war er tatsächlich kleinlaut und hat erst später über diese Arbeit so hoch denken gelernt wie es zweifellos geboten ist. Ist er doch empfänglich für Lob und läßt sich gern überzeugen, daß er ein Meisterwerk geschaffen habe, ob er gleich vorher ernstliche Zweifel darüber gehegt« (GKFA 9.1, 83). Dass Schillers ›vornehmer Eindruck‹ dabei schwerer wiegt und also mehr ›Stärkung‹ bedeutet als die Meinungen der Riemer oder Meyer, steht außer Frage. 553 Hansen (2005), S. 251. 554 Cassirer (1975), S. 15; vgl. außerdem GKFA 9.1, 350.

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3.3.2. Der Düster-Gewaltige: Napoleon Während in Lotte in Weimar nur Goethe selbst die Ebenbürtigkeit Schillers anerkennt und gedanklich ausspricht,555 wird der Vergleich mit Napoleon von verschiedenen Figuren vollzogen – manchmal nur implizit, wenn etwa von dem »Genius des Eroberers« (GKFA 9.1, 153) die Rede ist, und damit ein Attribut des Genies, das im Roman sonst ausschließlich Goethe vorbehalten bleibt,556 auf Napoleon angewandt wird. Wenn Adele berichtet, Herzog Carl August sei von seinem Ritt mit Napoleon in völliger Begeisterung nach Hause zurück[gekehrt], ganz hingerissen von ›diesem wahrhaft außergewöhnlichem [sic!] Wesen‹ […], das ihm wie ein von Gott Erfüllter, ein Mohammed vorgekommen sei (GKFA 9.1, 168),

dann wird der Kaiser in den Kategorien der Inspirations-Theorie beschrieben, die Charlotte und Carl auch auf den ›großen Mann‹ in Weimar anzuwenden suchen. Deutlicher wird die Parallelisierung, wenn Adele, Goethe zitierend, Napoleon den »Gewaltigen« (GKFA 9.1, 191) nennt, um das Epitheton dann auf diesen selbst zu übertragen: »So der Gewaltige« (GKFA 9.1, 195). Später ist es August, der darauf besteht, dass »auch [s]ein Vater ein Gewaltiger und ein Herrscher« (GKFA 9.1, 247) sei, was ihm Charlotte zugesteht: Das nimmt Ihnen niemand […,] und niemand nimmt’s ihm. Nur ist es wie in der römischen Geschichte, wo wir von guten und bösen Kaisern lernen, und Ihr Vater […] ist so ein guter und sanfter Kaiser, der andere dagegen ein blutrünstig-höllentstiegener (ibid.).

Mit dieser Äußerung Charlottes ist die Konstellation von Gleichrangigkeit und Gegensatz umrissen, die nach dem Urteil der Außenstehenden das Verhältnis zwischen Goethe und Napoleon ausmacht. Charlotte fasst diesen Gegensatz in moralische Kategorien,557 während August, der Napoleon-Verehrer, wertungsfrei zwischen den »Helden des Geistes« (GKFA 9.1, 246) und den »Helden der Tat« (ibid.) unterscheidet.558 555 Die Beziehung zwischen Goethe und Schiller wird, abgesehen von den soeben dargelegten Erwägungen Goethes, im Roman nur beiläufig erwähnt; etwa anlässlich von Schillers Tod Tod (vgl. GKFA 9.1, 233) oder seiner Neigung zu »pekuniarischen Spekulationen« (GKFA 9.1, 263). 556 Vgl. etwa GKFA 9.1, 114; GKFA 9.1, 164 und GKFA 9.1, 257. 557 Diese eindeutige Unterscheidung in ›gut‹ und ›böse‹ nimmt Charlotte in dem ›Geistergespräch‹ zumindest partiell wieder zurück, wenn sie Goethe vorhält, dass es in ›seiner Wirklichkeit‹ beinahe zugehe »wie in eines bösen Kaisers Reich« (GKFA 9.1, 444). 558 »In Goethe […] und Napoleon […] werden die Prinzipien von Kunst und Politik Gestalt […]. Der ›Dictator von Weimar‹ […] und der Empereur erhellen ihr Wesen wechselseitig […]: Thomas Mann typisiert sie zu Prinzipien der vita contemplativa und der vita activa« (GKFA 9.2, 366).

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Dass diese Einschätzung der Gleichrangigkeit zutrifft, beweist die Wirkung Goethes und Napoleons: Adele »sieht beide, Napol¤on und Goethe, als Tyrannen an, Goethe in geselliger und ästhetischer, Napol¤on in politischer Hinsicht«,559 und Goethe selbst spricht »[ü]ber den französischen Cäsaren […] das aus, was sein eigenes Verhältnis zu seiner Umwelt charakterisiert: ›Der Mann ist euch zu groß!‹«560 Auch die Reaktionen der Mitmenschen entsprechen einander : Ob sich die Ressentiments in den ebenso »holprigen wie schamlosen Schand- und Schimpfoden auf den ›Schneidergesellen Nicolas‹« (GKFA 9.1, 193) oder in den Maulereien Riemers äußern, ihr Ursprung ist identisch: der gelungene oder vergebliche Widerstand des Durchschnittsmenschen gegen die Größe. Auch Goethes Ablehnung der Befreiungskriege ist nach Adeles Einschätzung nicht zum wenigsten »auf seine Bewunderung für den Kaiser Napol¤on zurück[zu]führen, der ihn anno 8 zu Erfurt so sichtlich« (GKFA 9.1, 167) ausgezeichnet habe: Es war seit Erfurt zwischen ihm und dem Cäsar ein Verhältnis von Person zu Person. Dieser hatte ihn sozusagen auf gleichem Fuße behandelt, und der Meister mochte die Sicherheit gewonnen haben, daß […] Napol¤ons Genius der Feind des seinen nicht war (ibid.).561

Das Einverständnis zwischen Goethe und Napoleon zeigt sich nicht nur in der politischen Einstellung und dem Verhalten des Dichters, der auch nach der Niederlage des Kaisers fortfährt, »das Kreuz der Ehrenlegion auf dem Staatskleide« (GKFA 9.1, 190) zu tragen, sondern vor allem in Goethes Erinnerungen an das Erfurter Treffen. Napoleon beweist bei dieser Gelegenheit, dass er ihn versteht – anders als die ›Dusselköppe‹, die nicht begreifen, dass ein großer Dichter vor allem groß ist und dann erst ein Dichter, und daß es ganz gleich ist, ob er Gedichte macht oder die Schlachten schlägt dessen, der [ihn] in Erfurt ansah, mit lächelndem Mund und finsteren Augen und hinter [ihm] her sagte, absichtlich laut, daß [er’s] hören sollte: ›Das ist ein Mann‹ – und nicht ›Das ist ein Dichter‹ (GKFA 9.1, 290).

Größe als diejenige Qualität des Seins, die zur umfassenden »Kontaktnahme« (GKFA 9.1, 332), zur Einsicht in All und Natur befähigt: Das war eines der 559 Dane (1999), S. 368. 560 Darmaun (1998), S. 193. Zum Verhältnis Goethe-Napoleon vgl. außerdem ibid., S. 198 – 200. 561 Das Treffen zwischen Goethe und Napoleon am 2. Oktober 1808 in Erfurt »samt Vor- und Nachgeschichte« [Voil”, un homme! Von SZ-Autoren: Gustav Seibt über Goethe und Napoleon, in: Süddeutsche Zeitung 64/223 (24. September 2008), S. 18] beleuchtet Gustav Seibt: Goethe und Napoleon. Eine historische Begegnung, 3. Aufl., München 2009. Die fortdauernde Wirksamkeit der Genie-Ideologie im 21. Jahrhundert belegt dabei die auf Goethe und Napoleon gemünzte Bemerkung: »Die beiden Genies standen auf dem Gipfel ihrer Kraft« [Voil”, un homme! (2008), S. 18].

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Charakteristika des Goetheschen Geniebegriffs. Und wie »die Natur sich […] dem nur vertraut[], der selber eine Natur« (GKFA 9.1, 295) ist, so kann auch, wie sich ex negativo am Beispiel Riemers gezeigt hat, nur der die Größe begreifen, der selbst ein ›großer Mann‹.562 Vor diesem Hintergrund ist Goethes Interpretation der Äußerung ›Das ist ein Mann‹ als Beleg dafür anzusehen, dass er Napoleon als ebenbürtig ansieht. Einen weiteren Beleg sowohl für die Deutung des Korsen als ›Genie‹ als auch für seine Ebenbürtigkeit mit Goethe bildet die zuerst von August angedeutete Parallelisierung von Napoleons Verbannung nach St. Helena mit der Fesselung des Prometheus an den Kaukasus: »[D]er mit ihm zu Erfurt konversiert saß gefesselt an den Felsen im Meer« (GKFA 9.1, 246). Das Motiv wird wieder aufgenommen, wenn Goethe sich vorstellt, wies so einem Stück Element zu Mute sein muß […], so einem gefesselten, an aller That gehinderten Riesen und zugeschütteten Aetna, in dem es kocht und wühlt, ohne daß das feurige Innere mehr einen Ausweg findet (GKFA 9.1, 329 f.),563

um dann St. Helena explizit als »des Prometheus Marter-Felsen« (GKFA 9.1, 330) zu bezeichnen und Napoleon so mit dem »Prototyp der Genialität«564 gleichzusetzen. Die Identifikation seiner selbst mit ›Napoleon-Prometheus‹ vollzieht Goethe in einer Bemerkung, die sich auf die Namensgleichheit der Insel St. Helena mit der Helena-Figur des Faust II bezieht: [D]aß sie den Namen mit des Prometheus Marter-Felsen teilt, die Tochter und Geliebte, […] nach der allein das dichtende Verlangen mich schmiedet an dies lebensgraue, unbezwingbare Werk (ibid.).

Die Worte ›lebensgrau‹ und ›schmieden‹ setzen das ›unbezwingbare Werk‹, den Faust II, mit ›des Prometheus Marter-Felsen‹ gleich, so dass Goethe sich selbst mit dem gefesselten Prometheus identifiziert. Es handelt sich bei dieser komplexen Metapher also um eine vermittelte Identifikation: Indem Goethe, angeregt durch die Namensgleichheit zwischen Insel und Figur,565 sowohl Napoleon 562 Schon der alte Johann Buddenbrook bezeugt seine Hochachtung: »Na, ungescherzt, allen Respekt übrigens vor seiner persönlichen Großheit … Was für eine Natur!« (GKFA 1.1, 31). 563 »Wieder sind die beiden Größen des Wortes und der Tat verknüpft, dieses Mal im vulkanischen Vergleich, zum Vorteil Goethes: Ist der liebende Goethe der mit Schnee bedeckte, gleichwohl feurig-lebendige Ätna des Hatem-Gedichtes Locken, haltet mich gefangen, so der überwundene Usurpator das zum Schweigen gebrachte Naturereignis« (GKFA 9.2, 618 f.). Allerdings weist Goethe explizit darauf hin, dass »zwar die Lava vernichte[], aber auch düng[e]« (GKFA 9.1, 330), wodurch er auf die möglichen fruchtbaren Elemente in der von Napoleon verursachten Zerstörung verweist und eine eindeutig negative Beurteilung vermeidet. 564 Sauder, Richter (1992), S. 87. 565 Die Aussage Goethes über Helena, »die Tochter und Geliebte, die ganz [ihm] und nicht dem Leben, nicht der Zeit gehör[e]« (GKFA 9.1, 330), ist weitaus bedeutsamer, als sie auf den

Genie und Welt

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als auch sich selbst mit der wirkungsmächtigsten Symbolfigur der GenieIdeologie, Prometheus, parallelisiert, stellt er nicht nur unmissverständlich klar, dass er den Kaiser als Genie anerkennt,566 sondern vollzieht auch, was Rang und Größe betrifft, eine Identifikation seiner selbst mit Napoleon. Weit bereitwilliger als Schiller erkennt er ihn, seinen »düster-gewaltige[n] Freund« (GKFA 9.1, 313) als Gegenüber an; doch genau wie Schiller durch den Tod, hat er Napoleon durch die Verbannung verloren. 3.3.3. Das ›innere Exil‹ Damit, so lassen sich die Befunde dieses Abschnitts zusammenfassen, hat Goethes Einsamkeit einen Grad angenommen, den man sich »gar nicht eisig genug vorstellen«567 kann: Von einer Gemeinschaft mit den ›gewöhnlichen Menschen‹ schließt seine Größe ihn aus, so dass er »als Fremder in der Heimat […], als Unverstandener in seiner Gesellschaft, als Ausgeschlossener in seinem eigenen Hause«568 erscheint; und die beiden Männer, die ihm an Rang ebenbürtig waren, sind tot oder verbannt. Diese politische, gesellschaftliche, geistige und persönliche Isolation Goethes wird in Lotte in Weimar in der Vorstellung des ›inneren Exils‹ zusammengefasst.569 Sie geht zurück auf Goethes Ausspruch

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ersten Blick erscheint: Goethes Beziehungen zu seinen realen Geliebten sind bestimmt vom Verrat des Lebens an die Kunst und damit von Entsagung und Schuld – ein scheinbar unvermeidliches Schicksal, das seinen Grund in der prinzipiellen Unvereinbarkeit von ›Leben‹ und ›Kunst‹ hat. Helena, das Ideal, die Kunst-Figur, die als solche keinen Anteil am ›Leben‹ hat, kann somit als Versuch Goethes gelesen werden, mit Hilfe der Kunst und in der Kunst dieses Zwangsmuster zu durchbrechen. Die Frage bleibt allerdings, ob ein solcher Versuch als Aufhebung oder als Vollendung des Prinzips der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ anzusehen ist. Man könnt einwenden, dass ein Widerspruch bestehe zwischen der Bezugnahme auf die zentrale Symbolfigur der Genieperiode und dem Umstand, dass Goethes Geniebegriff sich von dem des Sturm und Drang signifikant unterscheidet. Allerdings verkörpert Prometheus insbesondere den Anspruch des Genies auf Autonomie – und dieser Anspruch ist durchaus Teil des Goetheschen Selbstbildes. Kleßmann (1991), S. 55. Koopmann (1998), S. 31 f. Auf die vorwiegend politisch-zeitgeschichtlichen Dimensionen des Konzepts vom ›inneren Exil‹ soll nicht genauer eingegangen werden, da eine ausführliche Darstellung zu weit vom eigentlichen Thema wegführen würde. Es gilt jedoch als Konsens der Forschung, dass der »zeitgeschichtliche[] Hintergrund von 1936« [Schöll (2002), S. 180, Anm. 13] für das Verständnis des »Geistesexil[s] Goethes« [Sautermeister (1991), S. 45] unerlässlich ist, da dieses Konzept eine Kritik am Missbrauch Goethes durch die Nationalsozialisten und den Versuch darstelle, den ›Mythos Goethe‹ »den Mißbrauchern aus den schmutzigen Händen« zu nehmen [Brief Thomas Manns an Kuno Fiedler vom 21. 12. 1937, zitiert nach Mann (1996), S. 22]. Und obgleich Goethes ›inneres Exil‹ auch rein textimmanent erklärt werden kann, steht die Bedeutung dieser politischen Botschaft außer Zweifel: »Mit Goethe, dem Inbegriff deutscher Klassik, wird die Klassik modern und wird der Moderne ein Führer gewiesen; mit ihm wandert das wahre Deutschland aus dem Dritten Reich aus: sein Ort ist

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über die Deutschen: »Was gilts, […] ihre Besten lebten immer bei ihnen im Exil« (GKFA 9.1, 335). Wenn also nun ein letztes Mal die Frage nach dem Verhältnis des ›großen Mannes‹ zur Gesellschaft und nach der Berechtigung des ›chinesischen Sprichworts‹ gestellt wird, so lautet die abschließende Antwort: Ein ›großer Mann‹ wie Goethe kann »ein öffentliches Unglück« (GKFA 9.1, 411) sein, wenn das Volk, in dem er lebt, mit seiner Größe nicht umzugehen versteht. Eine größere Bedrohung ist die von ihm ausgehende Faszination jedoch für die Individuen seines Umfeldes, ihnen droht Selbstaufgabe, Verkümmerung und ein früher Tod. Das größte Unglück ist Goethes überherrschende Größe jedoch für ihn selbst: Er muss »Größe und Genie […] mit entsetzlicher Einsamkeit und Vereinsamung«570 bezahlen, mit einer vollständigen Isolation, die ihn zum Exilanten im eigenen Land macht – und anders als der Exilant Thomas Mann hat sein fiktionaler Goethe keine Aussicht auf Rückkehr : Sein ›Exil‹ ist die Folge seiner Größe, es ist lebenslang und unaufhebbar.

4.

Strukturen des Genies: Johann Wolfgang von Goethe

Ehe in einem inhaltlichen Resümee die wichtigsten Gesichtspunkte und Ergebnisse der Untersuchung zusammengefasst werden, gilt es zu prüfen, ob es sich bei der Goethe-Figur in Lotte in Weimar um ein Genie handelt – und zwar nach Maßgabe der systematischen Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität, die im Methoden-Kapitel als konstitutive Merkmale des Genies bestimmt wurden. Das erste der drei Kriterien, die Authentizität des Genies, wird dabei verstanden als der Absolutheitsanspruch des genialen Subjekts bezogen auf sein Werk, mit anderen Worten als die Forderung, der authentische Ausdruck der Individualität des Künstlers im Werk müsse als alleiniger Maßstab künstlerischen Gelingens gelten. Für den Goethe des Romans ist das Werk zweifellos höchster Ausdruck seiner Persönlichkeit, äußert er doch: »[D]ein Geheimstes und Eigenstes nimmt dir keiner ; keiner kommt dir zuvor, und macht er dasselbe« (GKFA 9.1, 284). Es ist jedoch nicht diese einzelne Äußerung, die die Authentizität des Goetheschen Werkes verbürgt, sondern die von August postulierte und sowohl von Goethe selbst als auch vom Text bestätigte Identität von Leben und Werk, die sich vor allem darin zeigt, dass die gesteigerte Wiederholung einmal geprägter Urmuster mittels ›geistverstärkter Lebenserneuerung‹ sich nicht nur im Leben, sondern ebenso im Werk zeigt. Denn wenn Goethes »Werk und Leben […] so weitgehend eins [sind], daß man […] von dem Werke als seinem Leben, von dem Leben aber als seinem Werke sprechen« (GKFA 9.1, von nun an auf ungewisse Zeit das Exil« [Sautermeister (1991), S. 45] – und ein Ort dieses Exils ist nicht zuletzt der Roman Lotte in Weimar. 570 Kleßmann (1991), S. 55.

Strukturen des Genies: Johann Wolfgang von Goethe

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248 f.) kann, steht die Authentizität des betreffenden Werkes außer Zweifel. Die Bedeutung der Authentizität als künstlerisches Qualitätsmerkmal zeigt sich daran, dass im Roman als ausschlaggebend für Goethes einzigartigen Rang nicht in erster Linie seine Werke, sondern seine Persönlichkeit anzusehen ist: Die Werke sind sekundär, von maßgeblicher Bedeutung ist die individuelle Größe, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Dass sie aber in ihnen zum Ausdruck kommt, beweist ihre Authentizität – und damit die zentrale Bedeutung dieser Kategorie für das Goethe-Bild in Lotte in Weimar. Die Forderung nach der Eigengesetzlichkeit des Genies wird in Lotte in Weimar explizit von August von Goethe erhoben, der für seinen Vater das Recht einfordert, »nach eigenem Gesetz zu leben und nach dem klassischen Grundsatz der sittlichen Autonomie« (GKFA 9.1, 237). Er leitet diesen Anspruch aus dem Umstand ab, dass »das Gesetz der freien und autonomen Schönheit eine Lebenssache« (ibid.) sei: Wie im Methodenteil als charakteristisch für die GenieIdeologie dargestellt, bezieht sich das ursprünglich rein poetologische Postulat von der Eigengesetzlichkeit des Genies also nicht nur auf das Werk, sondern auch auf Leben und Person des genialen Menschen. Goethes Verhalten gegenüber Charlotte Kestner, die, stellvertretend für alle Mitglieder des ›Reigens‹ von Geliebten, die er an die Kunst verraten hat, ihren Anspruch auf Sühne bei ihm geltend zu machen sucht, kann vor diesem Hintergrund als Folge und Umsetzung dieses Autonomie-Postulats angesehen werden. Goethe erkennt die Rechtmäßigkeit von Charlottes Forderung an, ist jedoch nicht bereit, daraus Konsequenzen für sich selbst zu ziehen. Er nimmt einen Standpunkt ästhetischer und moralischer Autonomie ein und negiert damit die Gültigkeit der Konventionen, auf deren Grundlage Charlotte ihren Anspruch erhebt – ihre Vorwürfe können ihn nicht erreichen. In diesem Standpunkt jenseits der Sphäre menschlicher, gesellschaftlicher oder moralischer Ansprüche liegt die Alterität des ›großen Mannes‹ begründet. Er, der die Welt mit dem nihilistischen Blick der ›absoluten Kunst‹, aus einer Position vollkommener Indifferenz betrachtet, der das Leben an die Kunst verrät, steht damit notwendig außerhalb dieses Lebens. Er existiert in einer Welt, »in der das Böse und das Gute ihr gleiches ironisches Recht haben« (GKFA 9.1, 93), in der Welt der absoluten Kunst, in der »sonst niemand lebt« (GKFA 10.1, 596), das heißt: in vollständiger Isolation. Unter den ›gewöhnlichen Menschen‹ kann er nur als ›Schmarutzer‹ leben, als emotionaler Parasit, der sich ihrer bedient und sie zu Opfern macht und dabei die »Eiseswahrheit« (GKFA 9.1, 325) seiner radikalen Andersartigkeit hinter einer verharmlosenden Maske verbirgt. Da die Goethe-Figur in Lotte in Weimar folglich mit Hilfe der drei Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität zu beschreiben ist, kann sie im Sinne der systematischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit als Genie gelten.

174

5.

Weimar, September 1816: Das klassische Genie?

Resümee: Goethe – Größe und Genie

Die Grundlage von Goethes Genie besteht in seiner physischen und charakterlichen Disposition, die er mit Hilfe einer intuitiven Vererbungslehre analysiert: Dabei tritt das mütterliche Erbe androgyner Fruchtbarkeit gegenüber einem Vatererbe in den Hintergrund, das aus pathologischen Einflüssen besteht, aus Krankheit und Wahn als »Untergrund des Glanzes« (GKFA 9.1, 325), die von einem System der Ordnung und Selbstdisziplin unter Kontrolle gehalten werden. Das Ergebnis ist ein prekäres und immer gefährdetes Gleichgewicht, »ein Nurgerade-möglich, das gleich auch noch Genie« (GKFA 9.1, 323). Um unter diesen Bedingungen schöpferisch tätig sein zu können, bedient Goethe sich einer Produktionsstrategie, die Charlotte als ›Schmarutzertum‹ bezeichnet: Er bereichert sich als ›emotionaler Parasit‹ an den Gefühlen seiner Mitmenschen, indem er sie in seine Werke hineinschreibt und so Leben und Menschen an die Kunst verrät. Der Preis dieses Verhaltens ist die Verkümmerung der Personen seiner Umwelt, und die daraus resultierende ›metaphysische Schuld‹, die Goethe jedoch durch sein Selbstopfer auf dem ›Altar der Kunst‹ als abgegolten betrachtet: »[I]ch zuerst und zuletzt bin ein Opfer – und bin der, der es bringt« (GKFA 9.1, 444 f.). Goethe ist auch deshalb unempfindlich gegenüber Charlottes Forderung nach Sühne, weil sein Vorgehen, das Leben zur Kunst zu machen, ihn unweigerlich ›außerhalb‹ dieses Lebens verortet, so dass er von ihren Ansprüchen nicht berührt werden kann. Diese Kälte und Neutralität bildet das Grundmotiv der Versuche Riemers, das »Phänomen Goethe« (GKFA 9.2, 281) zu erklären. Zwar bedient er sich dazu traditioneller Beschreibungskategorien der Geniezeit – Jupiter, Proteus, Christus –, deutet diese jedoch in einer Weise um, die jeweils Aspekte der Kälte, der Indifferenz und der Einsamkeit betont. Sie alle werden zusammengefasst im Konzept der ›Nihilism‹ und der Vorstellung vom ›Blick der absoluten Kunst‹, den Goethe auf Welt und Menschen richte. In der Darstellung Riemers wird aus dem »Musterbild des deutschen Humanismus […] ein Monstrum an Kälte, Ichbezogenheit, Narzißmus, Immoralismus und Nihilismus«,571 das in der Gesellschaft nur bestehen kann, weil es die »Eiseskälte« (GKFA 9.325) seines Wesens unter einer verharmlosenden Maske verbirgt. Doch auch Riemer lässt sich täuschen: In dem Versuch, die scheinbar ›milden‹ Charakterzüge Goethes und das »außerordentliche Wohlgefühl« (GKFA 9.1, 57), das er in seiner Gegenwart verspürt, in seine Vorstellung des amoralischen Nihilisten zu integrieren, setzt er den »Blick der […] absoluten Kunst« (GKFA 9.1, 89) mit dem »Jakobssegen der Schrift« (ibid.) gleich – und beweist damit nur, dass er nicht in der Lage ist, das Wesen des ›großen Mannes‹ zu begreifen. Goethe ist umgeben von einem Hof571 Frizen (2004b), S. 82.

Resümee: Goethe – Größe und Genie

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staat serviler Bewunderer, die im Bann seiner überherrschenden Persönlichkeit stehen und zu Opfern seiner Größe werden – entweder, weil sie nach Kräften dazu beitragen (Riemer), oder aber schuldlos, als Teil der Goetheschen Lebensstrategie der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ (August, Ottilie). Seit Schillers Tod und der Verbannung Napoleons gibt es niemanden mehr, den er als ebenbürtig anerkannt hätte, und so bleibt »Deutschlands große[m] Dichter« (GKFA 9.1, 217) nur das ›innere Exil‹. Der fiktionale Goethes selbst lehnt die Vorstellung des Sturm-und-DrangGenies, die er einst selbst verkörperte, im Jahre 1816 als einen Zustand jugendlicher Unreife ab, über den er hinausgewachsen ist, und begegnet Vorstellungen von »Dichter-Begeisterung« (GKFA 9.1, 88) und »geniale[r] Eingebung« (GKFA 9.1, 328) mit Spott und Herablassung. Seine Arbeitsweise ist »so ›ungenial‹, wie nur denkbar« (GKFA 9.2, 693), da er, statt ›Originalwerke‹ zu schaffen, zur Arbeit am Divan mit zahlreichen »Reisebeschreibungen und Sittenbildern sich nähren und aufhelfen muß« (GKFA 9.1, 332). Auch geht sein Ehrgeiz nicht dahin, ›etwas Neues‹ zu schaffen, sondern mit seinem Stoff so vertraut zu werden, dass im vollendeten Werk »niemand das studierte D¤tail vom charakteristisch erfundenen soll unterscheiden können« (ibid.). Die Kategorie der ›Inspiration‹ durchläuft eine ähnlich tiefgreifende Umdeutung wie die Originalität: Aus der geheimnisvollen Intervention einer metaphysischen Instanz wird ein Phänomen überreizter Nerven; Goethes großes »Galatheagesicht« (GKFA 9.1, 308) ist eine Reaktion auf die Kälte des Badewassers. Da die Arbeitsweise des fiktionalen Goethe derjenigen Thomas Manns nachempfunden ist,572 und sein Verständnis von Inspiration – wie schon Riemers Konzept des ›Nihilism‹ – den Einfluss Friedrich Nietzsches erkennen lässt, handelt es sich zweifellos um eine ›Modernisierung‹ des Genies. Die Kategorie der ›Größe‹, die Goethe verwendet, um sich selbst zu beschreiben, ist eine substantielle Qualität, bei der es sich »weniger darum handelt, ob einer etwas kann, als darum, ob einer etwas ist« (GKFA 15.1, 825). Sie geht über das ›poetische Genie‹ hinaus, weil sie alle Lebensbereiche umfasst, zu denen die »Kontaktnahme« (GKFA 9.1, 332) gelingt, und führt, zusammen mit der nihilistischen Weigerung, sich auf einen Standpunkt festlegen zu lassen, schließlich zu Goethes »universelle[r] Ubiquität« (GKFA 9.1, 328), die eine der zentralen Kategorien seines Genies bildet. Die zweite besteht in der Lebens- und Schaffensstrategie der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹, die es Goethe erlaubt, die ›Urszenen‹ und mythischen Grundmuster seines Lebens nicht nur zu wiederholen, sondern auch zu steigern: Werther wird zum Faust, dieser zum 572 Gerade die Goethe-Figur in Lotte in Weimar, die »aus Lesefrüchten collagiert und […] aus Zitaten komponiert« (GKFA 9.2, 693) ist, illustriert Manns Montage-Technik und bildet damit auch formal den größtmöglichen Gegensatz zu den Vorstellungen der Genieästhetik.

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Divan, und den Platz von Charlotte Kestner nimmt Marianne Willemer ein: »Alles wird immer schöner, bewußter, bedeutender, mächtiger und feierlicher« (GKFA 9.1, 293). Durch die Strategie der ›geistverstärkten Lebenserneuerung‹ formt Goethe das eigene Leben zum »todverbannende[n] Kreisschluß« (GKFA 9.1, 313), der die »erhöhte Verjüngung« (ibid.) nach sich zieht: Trotz des unausweichlichen physischen Alterungsprozesses bewahrt und steigert Goethe seine schöpferische Fruchtbarkeit, und das ist es zuletzt, was seine Größe, sein Genie ausmacht.

V. Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II

Angesichts der zentralen Bedeutung der Kategorien Inspiration und Melancholie für die Geniekonzeption im Doktor Faustus geht der Untersuchung des literarischen Textes auch in diesem Fall ein historischer Exkurs voraus, der diese beiden Vorstellungskomplexe aus ihren antiken Kontexten heraus erläutert: Der Gedanke der Inspiration wird zurückgeführt auf die platonische Vorstellung des göttlichen Wahnsinns, die Melancholie hingegen auf das pseudo-aristotelische Problem XXX, 1, in dem, zum ersten Mal in der Geschichte überhaupt, die besondere Begabung eines Menschen auf eine rein organische Ursache zurückgeführt wird, nämlich auf das pathologische Übergewicht der ›schwarzen Galle‹ über die anderen drei humores. Nur vor diesem Hintergrund können die Abwandlungen, Adaptionen und Modernisierungen herausgearbeitet werden, die es ermöglichen, diese antiken Vorstellungen in überzeugender Weise auf eine moderne Künstlerfigur wie Adrian Leverkühn zu übertragen.

1.

Inspiration und manía

Eng verbunden mit dem Begriff der Inspiration573 ist die Vorstellung des Wahnsinns (man„a), und in den selben Kontext gehören Enthusiasmus, Ekstase und der lateinische furor, der allerdings mit keinem der griechischen Begriffe vollständig bedeutungsgleich ist. Dennoch sollen diese fünf Konzepte in der vorliegenden Darstellung der Verständlichkeit halber nur dann unterschieden 573 Dieser Exkurs befasst sich nur mit der platonischen Inspirationslehre in ihrer antiken Form, während die im strengeren Sinn ›religiöse‹, besonders die christlich-pietistische Tradition unberücksichtigt bleibt, obgleich Kemper sie als den »dominanteste[n] Einflußfaktor für das Inspirationsverständnis des Genies« ansieht [Hans-Georg Kemper: ›Göttergleich‹. Zur Genese der Genie-Religion aus pietistischem und hermetischem ›Geist‹, in: Kemper, Hans-Georg; Schneider, Hans (Hrsg): Goethe und der Pietismus, Tübingen 2001b, S. 171 – 208, hier : S. 175]; vgl. außerdem Kemper (2001a) und Kemper (2002), S. 36 – 60.

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II

werden, wenn die synonyme Verwendung sinnentstellend wirken würde.574 Dieses Vorgehen ist insofern gerechtfertigt, als sich die bezeichneten Phänomene in ihrer Wirkung kaum unterscheiden.575 Die antike Vorstellung von Inspiration findet ihre einflussreichste Formulierung bei Platon, der sie in mehreren Schritten entwickelt.576 Zunächst verwirft er die Ansicht, aller Wahnsinn sei von Übel, indem er das wohltätige Wirken der Orakel ursächlich auf die man„a der Verkündenden zurückführt: [N]un aber entstehen uns die größten Güter aus dem Wahnsinn, der jedoch durch göttliche Gunst verliehen wird. Denn die Prophetin zu Delphi und die Priesterinnen zu Dodone haben im Wahnsinn vieles Gute […] unserer Hellas zugewendet, bei Verstande aber Kümmerliches oder gar nichts (Phaidros 244a-c).

Er betont ausdrücklich, dass weder die Pythia zu Delphi noch die Priesterinnen des Zeus-Heiligtums in Dodona bei klarem Verstande weissagen könnten. Außerdem unterscheidet er, indem er auf den göttlichen Ursprung des segensreichen Wahnsinns verweist, zumindest implizit zwischen ›gottgesandtem‹ Wahnsinn und einer anderen, unbestimmten Form. Im Phaidros spezifiziert er diesen Unterschied und differenziert außerdem vier verschiedene Arten göttlichen Wahns: Und vom Wahnsinn gebe es zwei Arten, die eine aus menschlicher Krankheit, die andere aus göttlicher Aufhebung des gewöhnlichen ordentlichen Zustandes. […] Den göttlichen teilten wir wiederum in vier Teile nach vier Göttern, indem wir den weissagenden Wahnsinn dem Apollon zuschrieben, dem Dionysos den der Einweihungen, den Musen den dichterischen, den vierten aber der Aphrodite und dem Eros, den Wahnsinn der Liebe nämlich (Phaidros 265 a-b).577 574 Streng begrifflich gesprochen wird Ekstase aufgefasst »[a]ls Sonderfall der Inspiration« [H. Rath: Artikel ›Inspiration‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 1500 Fachgelehrten hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 4: I-K, Darmstadt 1971 – 2007, Sp. 401 – 408, hier: Sp. 401], sie bezeichnet ein »Heraustreten des Menschen aus sich selbst« [Franz-Joseph Meissner : Wortgeschichtliche Untersuchungen im Umkreis von französischem Enthousiasme und Genie, Genf 1979, S. 5], während Enthusiasmus eine semantische Opposition darstellt, da der Begriff »die Gottheit in sich haben« bedeutet [ibid., S. 5]. Die hier vorgenommene Gleichsetzung wird gestützt durch das entsprechende Vorgehen im Neuen Pauly, wo Ekstase erklärt wird als »griech. 1m¢ousiaslûr/enthusiasmûs, ›Gott in sich haben‹, lam¸a/man„a, ›Wahnsinn‹, später 5jstasir/¤kstasis, ›Außer-sich-sein‹« [Fritz Graf: Artikel ›Ekstase‹, in: Cancik, Hubert; Schneider, Helmuth (Hrsg): Der neue Pauly. Enzyklopädie der Antike, Stuttgart 1998, Bd. 3: Cl-Epi, Sp. 950 – 952, hier : Sp. 951]. 575 Vgl. Meissner (1979), S. 5. 576 Zu den unterschiedlichen Bewertungen der man„a in den einzelnen Dialogen vgl. Fuhrmann (2003), S. 78 – 80. 577 Die Musenanrufungen am Beginn der Ilias und der Odyssee beweisen, dass diese Vorstellung bereits vor Platon bestanden hat, und Reflexe finden sich noch bei Thomas Mann, der dem Doktor Faustus die Musen-Anrufung aus Dantes Divina Commedia als Motto voranstellt: »O Muse, o alto ingegno, or m’aiutate / o mente che scrivesti ciý ch’io vidi, / qui si parr” la tua nobilitate« (GKFA 10.1, 9; vgl. Inferno II, 7).

Inspiration und manía

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Nicht nur Priester und Propheten werden also von den Göttern inspiriert, sondern auch Dichter.578 Dass es sich dabei um dasselbe Phänomen handelt, bezeugt das Bild des Dichters, der »auf dem Dreifuß der Muse sitzt« (Nomoi 719c), wie die delphische Pythia, die berühmteste Orakelpriesterin der Antike, auf dem ihren: »[B]eiden ist nach Platon die mediale Bewußtlosigkeit eigen.«579 Aus den bisherigen Ausführungen ergibt sich, dass Dichtung wie Weissagung ohne Inspiration unmöglich sind: Der Dichter ist nicht eher vermögend zu dichten, bis er begeistert worden ist und bewußtlos und die Vernunft nicht mehr in ihm wohnt. Denn solange er diesen Besitz noch festhält, ist er unfähig zu dichten oder Orakel zu sprechen (Ion 534b).

Was aber nötig ist, damit jemand von der göttlichen Inspiration ergriffen werde, führt Platon aus, indem er sich auf die bereits etablierte Unterscheidung der vier Arten göttlichen Wahns bezieht: Die dritte Eingeistung und Wahnsinnigkeit von den Musen ergreift eine zarte und heilig geschonte Seele aufregend und befeuernd, und in festlichen Gesängen und anderen Werken der Dichtkunst tausend Taten der Vorväter ausschmückend bildet sie die Nachkommen. Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtung sich einfindet, meinend, er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst ungeweiht, und auch seine, des Verständigen Dichtung, wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt (Phaidros 245a).

Nicht jedem wohnt also das Potential inne, in göttlicher Inspiration oder poetischem furor dichterische Werke hervorzubringen. Nicht gelehrten Kenntnis und gekonnten Ausführung der Regeln der Kunst580 bilden die dazu notwendige Voraussetzung, sondern ›eine zarte und heilig geschonte Seele‹, die ergriffen und inspiriert werden kann; ausschlaggebend ist die individuelle geistige Disposition, also das ingenium des Einzelnen. Zugleich lässt Platon keinen Zweifel daran, »that the poet, when composing, is in a frenzy and out of his mind; he creates by divine dispensation, but with no knowledge of what he does.«581 Somit 578 Obgleich die verschiedenen Arten der man„a hier als gleichrangig dargestellt werden, ist kaum zu bezweifeln, dass das Konzept der Inspiration ursprünglich dem religiösen Kontext im engeren Sinne entstammt und nur in einem historischen Entwicklungsprozess auch auf andere Lebensbereiche übertragen wurde. Im Menon werden in ausdrücklicher Analogie mit den Orakelsprechern und Dichtern auch Staatslenker als inspiriert angesehen (vgl. Menon 99b-d). 579 Eike Barmeyer: Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, München 1968, S. 102. 580 Erneut wird auf den Gegensatz von ingenium und ars rekurriert, der durch das irrationale Moment der platonischen Man„a-Lehre noch verschärft wird. 581 Murray (1989b), S. 18. Deutlicher formuliert Barmeyer : »Der abhängige, inspirationsbedürftige Dichter ist grundsätzlich nicht eigenschöpferisch, weil sich seine Äußerung nur durch göttlichen Einfluß vollendet« [Barmeyer (1968), S. 98].

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II

erbringen Dichter keine eigenständige Leistung, sondern sind, wie Orakel, nichts als Sprachrohr oder Mundstück des Gottes, in ihrem Fall der Musen:582 Daher auch der Gott nur, nachdem er ihnen die Vernunft genommen, sie und die Orakelsänger und die göttlichen Wahrsager zu Dienern gebraucht, damit wir Hörer gewiß wissen mögen, daß nicht diese es sind, die das sagen, was soviel wert ist, denen ihre Vernunft ja nicht einwohnt, sondern daß der Gott selbst es ist, der es sagt, und daß er nur durch diese zu uns spricht (Ion 534c-d).583

Dieser Reduzierung des Dichters zum ausführenden Organ eines Gottes bedeutet eine eminente Betonung des irrationalen Elements im schöpferischen Prozess, da sich die Inspiration »als Ereignis abspielt, über dessen Eintreten oder Nichteintreten der Dichter keine Verfügungsgewalt besitzt«,584 dem er sich nicht entziehen, das er nicht beeinflussen kann, und das er nicht versteht: In der Inspiration ist der Inspirierte einem überpersönlichen Anspruch ausgesetzt. Dieser Anspruch gilt als grundlegend, unableitbar, autonom, d. h. er steht über oder vor den Entfaltungsmustern der Ratio.585

Hinzu kommt ein ungeheurer Gewinn an Autorität: Wenn das, was der Dichter sagt oder schreibt, nicht sein individuelles Werk ist, »nicht Menschliches und von Menschen, sondern Göttliches und von Göttern« (Ion 534e), dann ist es unbezweifelbar wahr, und der Dichter, der es äußert, kommt an Rang einem Priester gleich, der göttliche Wahrheiten verkündet. Vor diesem Hintergrund kann der Einfluss der platonischen Inspirations-Theorie nicht nur auf den Geniebegriff,586 sondern auch auf die Frage nach der Natur des schöpferischen Impulses überhaupt, kaum überschätzt werden: 582 »Der inspirierte Dichter dient seiner Gottheit als Äußerungsmedium, d. h. im Inspirationsakt wird durch den sprechenden Dichter etwas laut, das seinem Wesen nach göttlich ist. In diesem Sinne muß man die Äußerungen des inspirierten Dichters mit den Äußerungen der Gottheit identifizieren« [ibid., S. 124]. Schon an dieser Stelle deutet sich die Frage an, wie sich die vollkommene Ausschaltung der Individualität des Schaffenden aus dem schöpferischen Prozess mit dem Konzept eines modernen Künstlers wie Adrian Leverkühn vereinen lässt. 583 Zur Untermauerung dieser Behauptung verweist Platon auf den Dichter Tynichos, der unter zahllosen schlechten ein einziges wunderbares Werk hervorgebracht habe: »Denn an diesem scheint ganz vorzüglich der Gott uns dieses gezeigt zu haben, damit wir ja nicht zweifeln, daß diese schönen Gedichte nicht Menschliches sind und von Menschen, sondern Göttliches und von Göttern, die Dichter aber sind nichts als Sprecher der Götter« (Ion 534e). 584 Barmeyer (1968), S. 92. Murray weist explizit darauf hin, dass die platonische Lehre zu einer Aufwertung des irrationalen Aspekts poetischer Hervorbringung führt: »Since Homer it has been customary to speak of poets as inspired, but throughout the early period this idea was balanced by a belief in the importance of poetic craft. What is new in Plato is the emphasis on the passivity of the poet and the irrational nature of his inspiration, which is quite incompatible with any notion of craft and technique« [Murray (1989b), S. 17 f.]. 585 Barmeyer (1968), S. 13. 586 Exemplarisch sei erneut auf Kant verwiesen, der neben Originalität und Musterhaftigkeit

Inspiration und manía

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Plato’s doctrine of poetic inspiration as a kind of frenzy or enthusiasm formulated, for the first time in western culture, a belief in the irrationality of the poetic process, which remained standard for the centuries to come and which, in certain important ways, anticipated some of the notions which were later associated with the idea of genius.587

Die große Bedeutung dieses Konzepts lässt sich auch an den zahlreichen antiken Belegstellen ablesen,588 wobei jedoch eine wachsende Skepsis festzustellen ist: So verweist Cicero zwar auf die platonische Lehre, niemand könne ohne Inspiration ein guter Dichter sein, flicht jedoch ein unscheinbares ›quasi‹ mit ein, so dass nur noch von einer ›quasi-göttlichen‹ Inspiration die Rede ist.589 Horaz deutet die man„a Platons sogar ins rein Pathologische um, vergleicht sie mit Gelbsucht und Krätze und stempelt den inspirierten Dichter schlicht zum Verrückten.590 Wenn er sich, unter Bezugnahme auf das auch bei Cicero zitierte Demokrit-Fragment,591 außerdem darüber lustig macht, dass mancher, um für einen Dichter zu gelten, sich Haare und Bart wachsen lasse und die Körperpflege vernachlässige,592 wirkt er wie ein Vorläufer der mo-

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auch Unbewusstheit der Hervorbringung vom Genie fordert und mit diesem Kriterium die Naturwissenschaftler aus dem Bereich des Genies ausschließt, da dieses, »wie es sein Produkt zustande bringe, selbst nicht beschreiben oder wissenschaftlich anzeigen könne […]; und daher der Urheber eines Produkts, welches er seinem Genie verdank[e], selbst nicht [wisse], wie sich in ihm die Ideen dazu herbeif[ä]nden, auch es nicht in seiner Gewalt [habe], dergleichen nach Belieben oder planmäßig auszudenken« [Kant (2005), S. 405]. Ein Reflex dieser Ansicht findet sich in Schillers Vorstellung von der ›Naivetät‹ des wahren Genies. Murray (1989a), S. 4. Es leuchtet nicht ein, dass Murray hier die Schlussrichtung umkehrt und von ›Antizipation‹ spricht statt davon, die platonische Enthusiasmus-Lehre habe die Bildung des Geniebegriffs beeinflusst. Vgl. Cicero: De divinatione 1, 81; Cicero, Pro Archia 7 – 8; und vor allem Seneca, De tranquilitate 17, 10. Die letzte Stelle ist wichtig, weil Seneca sowohl Platons Phaidros als auch das pseudo-aristotelische Problem XXX, 1 als Beispiele für die Verknüpfung von außergewöhnlicher Begabung und Wahnsinn zitiert. Cicero, De oratore 2, 46, 194: »Saepe enim audivi poetam bonum neminem – id quod a Democrito et Platone in scriptis relictum esse dicunt – sine inflammatione animorum existere posse, et sine quodam afflatu quasi furoris« [zitiert nach Marcus T. Cicero: De oratore. Lateinisch – deutsch. hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007]. Horaz, Ars poetica 453 – 456: »ut mala quem scabies aut morbus regius urget / aut fanaticus error et iracunda Diana, / vesanum tetigisse timent fugiuntque poetam / qui sapiunt, agitant pueri incautique sequunur.« »Alles, was ein Dichter aus Gotterfülltheit und heiligem Anhauch schreibt, ist sicherlich schön« [Demokrit: Fragment 18, in: Diels, Hermann; Plamböck, Gert (Hrsg): Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1954, Bd. 2, S. 146]. Horaz, Ars poetica, 295 – 303: »ingenium misera quia fortuniatus arte / credit et excludit sanos Helicone poetas / Democritus, bona pars non unguis ponere curat, / non barbam, secreta penit loca, balnea vitat. / nanciscetur enim premium nomenque poetae, / si tribus Anticyris capus insanabile numquam / tonsori Licino conmiserit. o ego laevus, / qui purgor bilem sub verni temporis horam. / non alius faceret meliora poemata«. Mit der Erwähnung der Galle (›bilis‹) verweist Horaz auf die Lehre von der Humoralpathologie und damit auf die Melancholie.

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II

dernen Kritik am ›Genie-Gestus‹.593 Dieser wenig respektvolle Umgang mit dem Konzept der göttlichen Inspiration deutet darauf hin, dass diese ihren religiösen Gehalt zunehmend einbüßt594 – erst die Geniereligion des Sturm und Drang wird die Idee der göttlichen Inspiration des Poeten in ihre alten Rechte wieder einsetzen.595

2.

Melancholie

Der Begriff Melancholie entstammt der antiken Medizin und bezeichnet ursprünglich die ganz unmetaphorische Vorstellung eines konkreten, sicht- und greifbaren Körperbestandteils, der schwarzen Galle […], die neben dem Phlegma, der gelben (oder ›roten‹) Galle und dem Blut zu den ›quattuor humores‹ gezählt wurde.596

Die Lehre von den ›quattuor humores‹ besagt, dass die physische Gesundheit des Menschen von einem ausgeglichenen Verhältnis der vier ›Körpersäfte‹ abhängig sei, während das Übergewicht eines Saftes nicht nur Krankheiten verursachen, sondern auch den Charakter des Menschen beeinflussen und ihn zum Sanguiniker, Phlegmatiker, Choleriker oder Melancholiker machen könne.597 Ursprünglich wurde unter Melancholie also 593 Im 19. Buch von Dichtung und Wahrheit spottet Goethe über die Geniebegeisterung des Sturm und Drang: »Wenn einer zu Fuße, ohne recht zu wissen warum und wohin, in die Welt lief, so hieß dies eine Geniereise, und, wenn einer etwas Verkehrtes ohne Zweck und Nutzen unternahm, ein Geniestreich« [HA 10, S. 161]. 594 Vgl. Zilsel (1972), S. 17. 595 »Für den […] ganzheitlichen Geniebegriff des Sturms und Drangs erhielt der Gedanke der göttlichen Eingebung eine neue und vertiefte Bedeutung. Die Eingebung wurde zu einem wesentlichen Kennzeichen des Genies und war mehr als nur ein Symbol seiner irrationalen Größe. Viele Anstöße führten zu einer geradezu religiösen Auffassung des Genies und trugen dazu bei, wieder an eine echte Inspiration des Dichtes zu glauben« [Gerth (1960), S. 121]. 596 Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1990, S. 39. Obwohl seit dem Erscheinen der englische Ausgabe über 40, seit der Fertigstellung der ursprünglichen deutschen Fassung sogar über 60 Jahre vergangen sind, ist dieses Werk noch immer von grundlegender Bedeutung für die Beschäftigung mit dem Thema Melancholie, da es zwar in Einzelheiten überholt, hinsichtlich Kenntnis- und Materialfülle aber unerreicht ist. – In der neueren Forschung ist besonders auf die Arbeit von Michael Theunissen hinzuweisen, der auf knappstem Raum eine überzeugende Analyse und Erläuterung des Problems XXX, 1 liefert und die Entwicklung der Melancholiekonzeption über die mittelalterliche acedia-Vorstellung bis hin zu Nietzsche, Kirkegaard und Walter Benjamin verfolgt; vgl. Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin 1996. 597 »As far as the four humors were concerned, symmetry was defined as the mean between

Melancholie

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nichts anderes als eine Krankheit oder Verhaltensstörung verstanden. Die Idee eines melancholischen Temperaments hat sich erst allmählich aus der Krankheitsdiagnose herausgebildet.598

Der für den Zusammenhang zwischen Melancholie und Begabung zentrale Text, das pseudo-aristotelische599 Problem XXX, 1, beginnt mit der wirkungsmächtigen Frage: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker«? (953a).600 Bezeichnenderweise wird der Kausalzusammenhang zwischen außergewöhnlicher Begabung und Melancholie601 mit dieser Frage implizit als gegeben vorausgesetzt – eine bis zu diesem Zeitpunkt völlig unbekannte Vorstellung. Theophrast unterscheidet zwei Ausprägungen der Melancholie: Bei vielen Melancholikern zeigten sich »Krankheiten, die von einer solchen Mischung im Körper herrühr[t]en, bei anderen wieder neig[e] offenbar die Naturanlage zu derartigen Leiden« (953a). Diese scheinbar klare Trennung zwischen ›Krankheit‹ und ›Naturanlage‹ wird jedoch durch die unmittelbar im nächsten Satz getroffene Aussage wieder in Frage gestellt: »Alle aber, um es im großen ganzen

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extremes: the body must have neither too much nor too little of each humor for a person to have all the valued traits of a good temperament« [Winfried Schleiner : Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance, Wiesbaden 1991, S. 32]. Zwangsläufig wird das ebenso komplexe wie faszinierende Konzept der antiken Humoralpathologie an dieser Stelle stark vereinfacht dargestellt; eine angemessenere Darstellung bieten Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 39 – 124. Theunissen (1996), S. 7. Die Auffassung von der krankmachenden Wirkung der Melancholie resultiert aus der Vorstellung, dass »die drei vermeintlich neben dem Blut vorkommenden Säfte […] ursprünglich unnatürliche und schädliche Stoffe [bezeichneten], humores viciosos, die gleichsam als Zersetzungsprodukte des Organismus betrachtet wurden« [Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Dürers ›Melencolia I‹. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Berlin 1923, S. 15]. Zur Beurteilung der Melancholie aus antikmedizinischer Sicht vgl. Hellmut Flashar : Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966. »Die berühmte Abhandlung über Melancholie und Melancholiker, die sich in den unter dem Namen des Aristoteles überlieferten Problemata findet (XXX, 1), stammt, wie wir mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten dürfen, von dem Nachfolger des Aristoteles, von Theophrast« [ibid., S. 61]. Als Textgrundlage dient Aristoteles: Problem XXX, 1, in: Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumbach, hrsg. von Hellmut Flashar, Bd. 19: Problemata Physica, Berlin 1962a, S. 250 – 256. Sowohl eine Übersetzung als auch den griechischen Text mit Varianten bieten Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 59 – 76. »That melancholy is the precondition of genius, of all genius, is here implied as a fact; the question concerns only the mode of explanation« [Schleiner (1991), S. 20]. Die Bezeichnung ›genius‹ (verstanden als englisches Wort für ›Genie‹, nicht als lateinisch genius) erscheint an dieser Stelle als ahistorisch, verweist aber bereits auf die eminente Bedeutung des Problem XXX, 1 für den modernen Geniebegriff: »Dieser Leitfrage verdankt der Text seine Wirkungsgeschichte. Man hat ihn als Untersuchung über den Ursprung und das Wesen der Genialität gelesen« [Theunissen (1996), S. 8].

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II

zu sagen, sind also, wie schon gesagt, derartig ihrer Natur nach« (ibid.). Dieser scheinbare Widerspruch löst sich auf, wenn man bedenkt, dass schwarze Galle als einer der vier ›Säfte‹ einen natürlicher Bestandteil der menschlichen Physis bildet,602 der aber beim Melancholiker über die anderen drei humores dominiert. Damit werden an dieser Stelle implizit zwei Unterscheidungen getroffen: Es wird unterschieden (1) zwischen dem Melancholiker, der sich durch ein Übermaß an ›schwarzer Galle‹ auszeichnet, und dem ›gewöhnlichen Menschen‹,603 bei dem das Verhältnis der vier humores prinzipiell ausgeglichen ist. Außerdem aber wird für jeden dieser beiden Fälle zwischen einem ›normalen‹ und einem ›krankhaften‹ Zustand unterschieden – wobei zu beachten ist, dass für einen Menschen mit melancholischer Disposition eben dieses Ungleichgewicht den ›Normalzustand‹ darstellt.604 Obwohl sich das Problem vorwiegend mit den Melancholikern befasst, wird »[m]it den Überragenden […] zwangsläufig auch der Durchschnitt zum Thema. Lassen sie sich doch nur vor dem Hintergrund der Menge erfassen, aus der sie sich herausheben.«605 Doch ist die Beziehung zwischen ›Gewöhnlichen‹ und Melancholikern unzureichend beschrieben, wenn die einen nur als Folie der anderen angesehen werden; zwischen beiden Gruppen besteht ein innerer Zusammenhang, der sich aus der Natur der schwarzen Galle ergibt. Deshalb muss, ehe die Frage untersucht werden kann, unter welchen Bedingungen die natürliche melancholische Veranlagung zu außergewöhnlichen Taten befähigt, auf die physiologischen Eigenschaften der schwarzen Galle eingegangen werden. Laut Theophrast ist sie, obgleich »von Natur aus kalt« (954a) zugleich eine Mischung von Warm und Kalt, denn aus diesen beiden setzt sich die Natur (des Melancholischen) zusammen. Daher kann auch die schwarze Galle sowohl den höchsten Wärmegrad als auch den höchsten Kältegrad annehmen (ibid.).606 602 Theunissen formuliert griffig: »Es ist überhaupt niemand denkbar, der nicht ein bißchen von dem in sich hätte, was Menschen zu Melancholikern macht« [ibid., S. 20]. 603 »Von den konstitutionell melancholischen hebt Theophrast die ›normalen‹, als natürlich geltenden Menschen ab« [Theunissen (1996), S. 18]. Allerdings sind, wie bereits dargestellt, auch »[d]ie gewöhnlichen Menschen […] zumindest potentiell melancholisch« [ibid., S. 19]. 604 Klibansky et al. unterscheiden zwischen »einer vorübergehenden und quantitativen Veränderung des melancholischen Saftes […], oder einem konstitutionellen und qualitativen Überwiegen des melancholischen Saftes über die anderen. Ersteres erzeug[e] die ›melancholischen Krankheiten‹ […], letzteres mach[e] den Menschen zu einem Melancholiker von Natur aus« [Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 76]. Diese Unterscheidung ist zutreffend, aber nicht hinreichend, da der Melancholiker »von den melancholischen Krankheiten besonders oft und in besonders heftiger Form ergriffen« wird [ibid.]. Auch für den Melancholiker ›von Natur‹ ist also zwischen einem gewissermaßen ›normalen‹ und einem ›krankhaft gesteigerten‹ Zustand zu unterscheiden. 605 Theunissen (1996), S. 10. 606 Der scheinbare Widerspruch der unterschiedlichen Charakterisierungen lässt sich auflö-

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Diese Temperaturschwankungen der schwarzen Galle haben unterschiedliche Auswirkungen, je nachdem, ob sie bei einem ›gewöhnlichen‹ Menschen oder einem Melancholiker auftreten: »Bei den meisten Menschen freilich bewirkt die […] schwarze Galle keine Veränderung ihrer seelischen Haltung, sondern ruft lediglich eine melancholische Krankheit hervor« (ibid.): Zum Beispiel werden die, in denen kalte Galle vorhanden ist, schlaff und stumpfsinnig, die aber besonders viel warme besitzen, werden […] gutmütig, liebeshungrig, leicht erregbar zu Gemütsbewegungen und Begierden (ibid.).

Tritt die Temperaturschwankung der schwarzen Galle hingegen bei diejenigen auf, »bei denen in ihrer Natur eine derartige Mischung besteht« (ibid.) – also bei Melancholikern –, wirkt sie sich auf die Gemütsverfassung aus: Extreme Kälte führt dann zu »starken Depressionen oder Angstzuständen« (954b), bei übermäßiger Hitze aber werden die Betroffenen von Krankheiten der Raserei und der Begeisterung ergriffen, woher die Sibyllen und Wahrsager und die Begeisterten alle ihren Ursprung haben, sofern sie nicht durch Krankheit, sondern durch ihre natürliche Mischung so werden (954a).

Unter welchen Bedingungen sind nun die Melancholiker ›von Natur‹ zu außergewöhnlichen Leistungen fähig? Da extreme Zustände der schwarzen Galle zu Krankheitserscheinungen führen, liegt die Vermutung nah, in einer gemäßigten Temperatur den Idealzustand zu sehen, und die Formulierung im Problem scheint diese Vermutung zu bestätigen: Diejenigen aber, bei denen (die schwarze Galle) hinsichtlich ihrer Wärme auf das Mittelmaß gemildert ist, sind zwar noch Melancholiker, aber vernünftiger und weniger abnorm. In vielen Dingen aber überragen sie die anderen, die einen durch ihre Bildung, die anderen durch künstlerisches Können, andere durch politische Wirksamkeit (954ab).607

Demgegenüber bezeichnet Theunissen die Vorstellung, ein solches ›mittleres Maß‹ sei als Idealzustand anzusehen, als das Ergebnis eines Übersetzungsfehlers608 und argumentiert, es sei für den »von Natur melancholischen Menschen sen, wenn man annimmt, dass mit ›von Natur aus kalt‹ die prinzipielle Beschaffenheit, mit dem Ausdruck ›eine Mischung von Warm und Kalt‹ aber das Potential der schwarzen Galle angesprochen ist, sich sowohl außerordentlich zu erhitzen als auch abzukühlen. 607 Rütten führt aus: »Zu Perittoi im Sinne der Besten und außergewöhnlich Begabten werden die genannten Melancholiker dia physin aber erst, wenn es ihnen gelingt, zwischen den Polen ein wenn auch labiles Gleichgewicht zu halten. In diesem Sinne beschreibt Theophrast einen ›Mesontypen‹, der zwar auch zu Melancholien prädisponiert ist, bei dem die schwarze Galle jedoch auf einen Mittelwert hin temperiert ist. Diese Mäßigung im Sinne aristotelischer Mesonlehre läßt das Exzentrische zurücktreten und gibt genialische Fähigkeiten im Bereich der Wissenschaften, der Kunst oder der Politik frei« [Rütten (2002), S. 131]; vgl. außerdem Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 79 f. und Flashar (1966), S. 62 f. 608 »Die Illusion, als könnten Melancholiker ein mittleres Maß realisieren, das im Unterschied

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gänzlich unerreichbar«,609 weshalb Theophrast es »zum Mittelmaß im pejorativen Sinne des Wortes«610 herabsetze: »Nicht die Überragenden bezeichnet er als Mesontypen, sondern die Durchschnittlichen, die er als m¤soi […] ansieht, weil sie mittelmäßig sind.«611 Gerade angesichts des Melancholikers Adrian Leverkühn, dem »nur die Wahl [bleibt] zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte« (GKFA 10.1, S. 360), und der unablässig zwischen manischen und depressiven Zuständen wechselt, wird in der vorliegenden Arbeit Theunissens Standpunkt als zutreffend angenommen. Das Problem endet mit der Feststellung, »alle Melancholiker [seien] außergewöhnlich, nicht infolge von Krankheit, sondern infolge ihrer Naturanlage« (955a) – eine Aussage, die die Eingangsfrage logisch umkehrt: Aus ›Alle außergewöhnlichen Männer sind Melancholiker‹ wird ›Alle Melancholiker sind außergewöhnlich‹, und zusammen konstituieren diese beiden Aussagen eine Äquivalenz, die die Behauptung impliziert, außergewöhnliche Leistungen könnten ausschließlich von Melancholikern vollbracht werden. Dieser Anspruch auf Exklusivität macht deutlich, warum das Problem XXX, 1 als das »wichtigste[] Dokument der Geschichte des [Melancholie-]Begriffs und seiner späteren Verbindung mit dem Genie-Gedanken«612 angesehen wird, und verschärft überdies den ohnehin bestehenden Gegensatz zu den ›normalen‹ Menschen: Von den konstitutionell melancholischen hebt Theophrast die ›normalen‹, als natürlich geltenden Menschen ab. Da die melancholische Konstitution den Boden abgibt sowohl für die Krankheit der Manischen und Depressiven wie auch für die Produktivität der Kulturschaffenden, sind diese Menschen an sich dadurch definiert, daß sie weder in jener Weise krank noch auf diese Art produktiv werden können.613

Mit dieser Verbindung von Melancholie und Begabung wird ein ursprünglich pathologischer Zustand zur Grundlage und notwendigen Bedingung für au-

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zu diesem schlechten ein gutes wäre, unterstellt man unserem Autor, weil man in der Wendung prýs tý m¤son ›auf das mittlere Maß zu‹, das ›auf zu‹ überliest oder zumindest nicht hinreichend ernst nimmt. […] Der Autor visiert lediglich eine Temperierung der übermäßigen Wärme an, eine Herabstimmung, die das Übermaß nicht vollständig zu beseitigen, sondern nur einzuschränken vermag. Das Übermaß dem rechten Maß in dieser Weise anzunähern, ist die einzige Veränderung zum Guten, deren der Zustand eines Melancholikers fähig ist« [Theunissen (1996), S. 17]. Ibid., S. 16 f. Ibid., S. 17. Ibid. Gegen die Annahme, ein ausgeglichener ›Humoralhaushalt‹ sei als Idealzustand zu verstehen, spricht neben der Tatsache, dass die melancholische Konstitution selbst die Folge eines Ungleichgewichts darstellt, dessen Ausgleich die Melancholie selbst aufheben würde, die hochgradige Heterogenität der schwarzen Galle selbst, die sich gerade dadurch auszeichnet, dass sie extreme Zustände annimmt und herbeiführt. Zu dieser Heterogenität und ihren Folgen für den Melancholiker vgl. auch ibid., S. 12. Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 16. Theunissen (1996), S. 18.

Melancholie

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ßergewöhnliche Leistungen, zum »Ermöglichungsgrund des Positiven«614 umgedeutet. Fügt man hinzu, dass gerade der außergewöhnliche Mensch zu manischen und depressiven Zuständen neigt, deutet sich hier eine Verbindung von unübertroffener Suggestivkraft an: die Idee der Zusammengehörigkeit von ›Genie und Wahnsinn‹.615 In einem letzten Schritt soll nun gezeigt werden, dass die Voraussetzungen für die Entstehung des modernen Geniebegriffs erst mit der Verbindung von ›aristotelischer‹ Melancholie-Vorstellung und platonischer Man„a-Lehre geschaffen sind. Diese Zusammenführung konnte in der Antike nicht vollzogen werden, da »Aristoteles in der Dichtungstheorie der stärkste Opponent der Inspirationsdoktrin war.«616 Zu einer Verschmelzung kam es erst in der italienischen Renaissance, am wirkungsmächtigsten im Werk De Vita triplici des Florentiner Neuplatonikers Marsilio Ficino,617 der als erster »das, was ›Aristoteles‹ die Melancholie der geistig überragenden Menschen genannt hat, als identisch mit Platons ›göttlichem Wahn‹ erkannte«.618 Dennoch ist unverkennbar, dass das Problem bereits in seiner Entstehung durch die platonische Man„a-Lehre beeinflusst ist. Zwar würde man sicher »zu kurz greifen, wollte man behaupten, daß Theophrast die ›Manie‹ Platons umstandslose in ›Melancholie‹ umtaufe«,619 schließlich umfasst Melancholie neben manischen auch depressive Zustände, doch finden sich zahlreiche Parallelen zwischen beiden Konzepten.620 Ent614 Ibid., S. 9. 615 Die Behauptung Beckers, »that the association of genius with clinical insanity, while foreshadowed in earlier times, did not become firmly established until the end of the nineteenth century« [Becker (1978), S. 21], basiert auf einer ungenügenden Berücksichtigung des Zusammenhangs von Melancholie und Krankheit. 616 Ortland (2000 – 2005), S. 668. Zum Verhältnis von platonischer und aristotelischer ›Poetologie‹ vgl. Fuhrmann (2003), S. 70 – 76. Rütten argumentiert demgegenüber, die Zusammenführung von platonischer und aristotelischer Konzeption werde bereits durch Theophrast vollzogen: »Mit dem Problema 30,1 wird also die Wahnvorstellung der großen Tragödie und die Manie-Vorstellung der platonischen Philosophie in ein Melancholiekonzept eingeschmolzen, und zwar so, daß die platonische Idee einer divinatorischen Imaginationsgabe oder Inspirationsfähigkeit in den Bannkreis der Melancholie gerät, gewissermaßen säkularisiert wird. Damit sind sämtliche Hochbegabungen Fluch und Segen der Melancholie bzw. der schwarzen Galle unterstellt« [Rütten (2002), S. 132]. So treffend diese Formulierung an sich auch ist, stellt das Problem XXX, 1 doch nur eine der Voraussetzungen dieser Zusammenführung dar, nicht bereits ihr Ergebnis. 617 Vgl. Marsilio Ficino: Three Books on Life. A Critical Edition and Translation with Introduction and Notes by Carol V. Kaske and John R. Clark, 2. Aufl., Binghamton 1998. 618 Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 373 f.; vgl. Ficino (1998), S. 116 – 121. Klibansky führt aus: »Er war es, der das Bild des genialen Melancholikers recht eigentlich geformt und dem übrigen Europa […] vor Augen gestellt hat« [Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 368]. 619 Theunissen (1996), S. 14 620 Wie die Vorstellung göttlicher Inspiration bietet auch die der Melancholie ein Erklärungsmodell für außergewöhnliche menschliche Leistungen an, und »auch die Bereiche, in denen Höchstleistungen durch die melancholischen Naturen vollbracht werden, […] ent-

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Exkurs: Antike Wurzeln des Genies II

scheidend für die Entstehung des Geniebegriffs ist jedoch der Umstand, dass Theophrast sich »von Platons Vision einer gotterfüllten Mania vollständig«621 löst: The author of Problems 30 […] replaces Plato’s mystical explanation of the poetic process with a quasi-scientific notion of the melancholic character of genius. Poetry is produced not by divine inspiration, but by men who are melancholic in temperament, and so-called inspiration is merely the result of the black bile in their bodies becoming heated.622

Die schlichte Identifikation von Melancholie und Inspiration, die Murray hier vornimmt, geht auf Marsilio Ficino zurück, für den »das, was Aristoteles die Melancholie der geistig überragenden Menschen nennt, […] in Wahrheit nichts anderes [ist] als die ¢e‚a lam„a des Plato«.623 Diese vereinfachende Gleichsetzung führt dazu, dass die im Problem verfolgte »Strategie der Enttheologisierung und Naturalisierung, die eine Absage an Platon bedeutet«,624 sich auch auf die Vorstellung der Inspiration auswirkt und sie ihrer göttlich-metaphysischen Dimension weitgehend entkleidet. Inspiration wird, analog zur Melancholie, zu einem rein physischen Phänomen erklärt, ihr Ursprung ins Innere des Menschen verlegt: Damit ist es nun auch in säkularen Zeiten möglich, sich auf das Konzept der Inspiration zu berufen, da es als vollständig immanent verstanden und ›medizinisch‹ erklärt werden kann – eine wichtige Voraussetzung für seine Wiederaufnahme im zunächst einmal rationalistisch geprägten 18. Jahrhundert.625 Zugleich aber wird diese ›aufklärerische‹ Tendenz dadurch unterlaufen, dass das Element des Fremden, Irrationalen, Bedrohlichen, das der Vorstellung

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sprechen den Formen des göttlichen Wahnsinns oder des Enthusiasmus, die Platon annimmt« [Flashar (1966), S. 62]. Klibansky postuliert überdies einen strukturellen Einfluss: »Die im Phaidros vollzogene Trennung zwischen dem göttlichen Wahn und dem Wahn als menschlicher Krankheit ermöglicht den im Problem XXX, 1 gesetzten Unterschied zwischen der natürlichen und der krankhaften Melancholie« [Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 91]; vgl. überdies Flashar (1966), S. 62. Theunissen (1996), S. 21. Murray (1989b), S. 21. Obgleich Murray sich hier nur auf den Dichter und sein Schaffen bezieht, betrifft die Umwertung des Erklärungskontextes alle im Problem XXX, 1 genannten Bereiche. Panofsky, Saxl (1923), S. 35. ¢e‚a lam„a (= the„a man„a) bedeutet ›göttlicher Wahnsinn‹. Vgl. Ficino: De Vita triplici I, 5: »Etsi divinum furorem hic forte intelligi vult [i. e. Platon], tamen neque furor eiusmodi apud physicos aliis unquam ullis praeterquam melancholicos incitatur« [zitiert nach Ficino (1998), S. 116]. »Even if he perhaps intends divine madness to be understood here, nevertheless, according to the physicians, madness of this kind never incited in anyone else but melancholics« [ibid., S. 117]. Theunissen (1996), S. 4. Es entbehrt nicht einer historischen Ironie, dass die ›medizinische‹ Deutung der Inspiration als Folge ihrer Ablösung von metaphysischen Instanzen zwar die ›Renaissance‹ dieser Vorstellung erst ermöglicht, dass aber vor allem im Sturm und Drang gerade die mit diesem Konzept assoziierten irrationalen Aspekte betont und hervorgehoben wurden.

Melancholie

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von göttlicher Inspiration innewohnt, plötzlich als Teil des Menschen selbst verstanden wird. Als Folge dieses Internalisierungsprozesses sieht sich der Mensch mit der prinzipiellen und unhintergehbaren »Fremdheit des eigenen Geistes«626 konfrontiert: Zum ersten Mal wird der – in dem Wort ›Melancholie‹ schon enthaltene – dunkle Untergrund des genialen Wesens aufgedeckt. Der göttliche Wahn des Platon ist die Erinnerung an ein verlorenes, nur in Augenblicken der Ekstase wieder erschaubares Reich ›überhimmlischen‹ Lichts: die Melancholie des Peripatos ist eine Erlebnisform, innerhalb deren die Helle nur ein Korrelat der Finsternis ist, innerhalb deren der Weg zum Licht, dem Verständnis späterer Zeiten zufolge, durch einen von Dämonen bewohnten Abgrund führt.627

626 Ortland (2000 – 2005), S. 665. Lobsien, die zumindest in der Melancholie Miltonscher Prägung »proto-subjektive Konturen« erkennt [Verena Lobsien: Das manische Selbst. Frühneuzeitliche Versionen des Melancholieparadigmas in der Genese literarischer Subjektivität, in: Fetz, Reto Luzius; Hagenbüchle, Roland; Schulz, Peter (Hrsg): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, Berlin 1998, S. 713 – 739, hier: S. 733], formuliert noch radikaler : »Insofern Melancholie Reflexivität mit Alterierung, Selbstentfremdung und Unverfügbarkeitserfahrung koppelt, […] verankert sie […] im Selbst eine Relation zum Anderen, die als Affinität ungleich intimer, als Antagonismus ungleich schärfer ausfällt, als das, was der postidealistische Subjektsbegriff vorsieht« [ibid., S. 716]. Ihr knappes Fazit lautet: »Von Anfang an erweist sich die ›Autonomie des Subjekts‹ als fragwürdig und kontingent« [ibid.]. Der Bezug zum Konzept der Alterität ist unübersehbar. 627 Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 92.

VI. Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

Wie schon die Überschrift des Kapitels zu Lotte in Weimar ist auch diese in der Absicht gewählt, den Leser, der mit dem Roman Doktor Faustus628 auch nur flüchtig bekannt ist, »stutzen zu lassen« (GW V, 1330). Dabei kann kein Zweifel daran bestehen, dass der ›deutsche Tonsetzer‹ Adrian Leverkühn ein moderner Künstler ist:629 Er ist es nicht nur, weil seine Lebenszeit in der Hauptsache ins 20. Jahrhundert fällt, sondern mehr noch wegen seiner avantgardistischen und innovativen Musik, der Entwicklung der duodekaphonischen Kompositionsmethode. Zugleich aber ist unübersehbar, dass seine Person und sein Genie630 628 In seinem polemischen Überblick über ›Stand und Aufgaben der Faustus-Forschung‹ weist Petersen zurecht darauf hin, dass in vielen Untersuchungen zum Doktor Faustus – und zu anderen Werken Manns – der Text gegenüber den Selbstdeutungen des Autors in den Hintergrund getreten sei, und plädiert dafür, »die Selbsteinschätzung des Dichters auf ihre Stichhaltigkeit zu überprüfen« [Jürgen H. Petersen: Faustus lesen. Eine Streitschrift über Thomas Manns späten Roman, Würzburg 2007, S. 16], statt sie unkritisch zu übernehmen oder sich gar von der Frage nach der Autorintention leiten zu lassen. Zwar werden auch in der vorliegenden Arbeit Äußerungen aus Briefen, Essays und den Tagebüchern Thomas Manns zur Argumentation herangezogen, allerdings nur nach eingehender Prüfung und in dem Wissen, dass Urteile eines Autors über das eigene Werk keine höhere Autorität besitzen als die jedes anderen kompetenten Lesers. 629 Bezogen auf Adrian Leverkühn soll das Attribut ›modern‹ im Sinne der ›Mikroepoche Moderne‹ verstanden werden, die den »Zeitraum zwischen 1885, dem Beginn der Wirkungszeit des Naturalismus, und dem Ende der Weimarer Republik im Jahr 1933« umfasst [Sabine Becker : Artikel ›Moderne‹, in: Burdorf, Dieter; Fasbender, Christoph; Moennighoff, Burkhard (Hrsg): Metzler Lexikon Literatur. Begriffe und Definitionen, 3., völlig neu bearb. Aufl., Stuttgart 2007, S. 508 f., hier : S. 508] – eine Bestimmung, die den Gegebenheiten des Textes Rechnung trägt: Nicht nur grenzt sich der ›deutsche Tonsetzer‹ dezidiert von allem »romantischen Brimborium« (GKFA 10.1, 42) ab, die Schwierigkeiten künstlerischen Schaffens, die er konstatiert, bilden außerdem geradezu idealtypische Charakteristika der ästhetischen Moderne auf dem »Höhepunkt ihrer Entwicklung, der […] gleich den Eintritt in das Stadium ihrer Krise markiert« [Klinger (2000 – 2005), S. 150]: die Fragwürdigkeit des künstlerischen Subjekts, das Brüchig-Werden des traditionellen Werkbegriffs, die Flucht in Parodie und Ironisierung, das Spiel mit »Formen […], aus denen […] das Leben geschwunden ist« (GKFA10.1, 353). 630 Analog zum Vorgehen bei der Darstellung des Geniekonzepts in Lotte in Weimar geht die

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mit Hilfe von Konzepten geschildert werden, deren Ursprung nicht der Moderne zuzurechnen ist: Das Muster der Faust-Figur verweist auf die Zeit der Epochenschwelle zwischen Spätmittelalter und früher Neuzeit, und der Roman ist durchdrungen von der »gut altdeutsche[n] Luft von anno fünfzehnhundert oder so« (GKFA 10.1, 338), die sich nicht nur in der Atmosphäre Kaisersascherns, in den Vorlesungen des Eberhard Schleppfuß und im Teufelsgespräch niederschlägt, sondern auch in dem Motivkomplex um das ›magische Quadrat‹ und Dürers Kupferstich Melencolia I. Die beiden wichtigsten Kategorien zur Beschreibung des Geniekonzepts im Doktor Faustus sind sogar noch älter : Die »Illumination, Erhöhung und Begeisterung« (GKFA 10.1, 340), die der Teufel Adrian Leverkühn verheißt, bilden eine Adaption der antiken Inspirations-Theorie, und die »Aufschwünge […] und Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 336), denen sich der Komponist während der vierundzwanzig Jahre »genialer Teufelszeit« (GKFA 10.1, 342) im Wechsel mit Rückschlägen »in Leere und Öde und unvermögende Traurigkeit« (GKFA 10.1, 337) ausgesetzt sieht, bilden typische Merkmale des homo melancholicus. So ergibt sich das scheinbar paradoxe Bild, dass das Genie des modernen Künstlers Adrian Leverkühn unter Bezugnahme auf Vorstellungen beschrieben wird, die am Beginn der historischen Entwicklung des Geniebegriffs stehen und bis zu ihrer Anwendung auf den fiktionalen Erfinder der Reihentechnik eine mehr als zweitausendjährige Geschichte durchlaufen haben: die platonische Inspirations-Theorie und die pseudo-aristotelische Vorstellung der Melancholie. Schon der Hinweis auf diesen historischen Abstand legt nah, dass die beiden Kategorien bei ihrer Übertragung in den Romankontext nicht in ihrer ursprünglichen Form verbleiben können, sondern verändert und angepasst werden müssen, ehe sie sich in plausibler Weise zur Beschreibung eines Genies in der Moderne eignen. Und obgleich die Faust-Figur spätestens seit Goethe ihren Platz im Genie-Diskurs hat,631 wird im Doktor Faustus erstmals das Genie einer literarischen Figur kausal auf einen Pakt mit dem Teufel und die dadurch gewonnene ›diabolische Inspiration‹ zurückgeführt – was die Frage nach den Folgen einer solchen ›Dämonisierung des Genies‹ aufwirft. Überdies wird Leverkühns Verschreibung durch seine syphilitische Infektion repräsentiert, so dass auch die Vorstellung des »von Krankheit [g]enialisierten« (GKFA 19.1, 54) Künstlers zu berücksichtigen ist. Als fester Bestandteil des D¤cadence-Diskurses des Fin de siºcle beinahe von Anfang an in Thomas Manns Werken präsent, rückt Untersuchung auch in diesem Kapitel zunächst von einem unspezifischen Geniebegriff im Sinne eines Menschen »von singulärer intellektueller bzw. künstlerischer Begabung« aus [Weimar (2007), S. 701], der im Laufe der Untersuchung präzisiert wird. Auch die Annahme, Adrian Leverkühn sei ein Genie, ist zunächst nicht mehr als eine Arbeitshypothese, die erst nach Abschluss der Untersuchung anhand der drei Kriterien Authentizität, Autonomie und Alterität bestätigt oder verworfen werden kann. 631 Vgl. Schmidt (2004b), S. 309 – 319.

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sie im Doktor Faustus auf eine Weise in den Fokus der Aufmerksamkeit, die selbst im Zauberberg nicht erreicht wurde. Ehe die Analyse des Geniekonzepts in Angriff genommen wird, gilt es außerdem, die Figur des Erzählers zu untersuchen, da er es ist, der die Welt des Romans generiert – und dabei mehr sagt und zu wissen behauptet, als seine begrenzte Figuren-Perspektive erlaubt. Serenus Zeitblom ist ein unzuverlässiger Erzähler,632 der die Lebensgeschichte Adrian Leverkühns literarisch überformt, was es erforderlich macht, den Grad seiner Einflussnahme auf die Darstellung der fiktionalen Welt zu bestimmen. Nach diesen vorbereitenden Ausführungen wendet sich die Untersuchung ihrem eigentlichen Gegenstand zu, der Frage nach dem Geniekonzept, das im Doktor Faustus entwickelt wird.

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Die zentrale Stellung der homodiegetischen Erzählerfigur633 des »Dr. phil. Serenus Zeitblom« (GKFA 10.1, 16) macht es notwendig, im Vorfeld der Untersuchung einige der narrativen Prämissen zu formulieren, die die Grundlage der fiktionalen Welt des Romans Doktor Faustus bilden und folglich bei der Analyse zu berücksichtigen sind: Alles, was der Leser des Doktor Faustus erfährt, erfährt er durch einen Erzähler, den Biographen Serenus Zeitblom. Jede Interpretation muß zuallererst bei diesem Medium ansetzen, sich über seine perspektivisch ›brechenden‹ Eigenschaften orientieren und dabei den ungefähren Grad seiner Zuverlässigkeit bestimmen.634 632 Wayne Booth führt aus: »For lack of better terms, I have called a narrator reliable, if he acts in accordance with the norms of the work […], unreliable when he does not« [Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction, 2. Aufl., Chicago 2001, S. 158 f.]. Während Martinez/ Scheffel Serenus Zeitblom als Beispiel für »[t]heoretisch unzuverlässiges Erzählen« anführen [Matias Martinez, Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie, 3. Aufl., München 2002, S. 101], hat Kaiser gezeigt, dass selbst die mimetischen Sätze dieses Erzählers keineswegs notwendig wahr sind [vgl. Gerhard Kaiser : »… und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine.«. Erzählstrategien in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, Stuttgart 2001, S. 97]. Gos´licka geht noch einen Schritt weiter, wenn sie postuliert: »Zeitblom ist nicht nur ein unzuverlässiger Erzähler, der uns über so genannt [sic!] ›wahre Umstände‹ im Unklaren lässt, er unterläuft die Idee ›wahrer Umstände‹ an sich und gibt sich so als einer zu erkennen, der auf dem Feld der Literatur durchaus heimisch ist« [Xenia Gos´licka: »The Duty of a Faithful Servant«. Nelly Dean, Serenus Zeitblom und das Teuflische in ›Wuthering Heights‹ und ›Doktor Faustus‹, in: Berthold, Jürg; Previsˇic´, Boris (Hrsg): Texttreue. Komparatistische Studien zu einem masslosen Massstab [sic!], Bern 2008, S. 89 – 100, hier: S. 91 f.]. 633 Die narratologische Begrifflichkeit dieser Arbeit orientiert sich an G¤rard Genette: Die Erzählung, 2. Aufl., München 1998. 634 Thomas Klugkist: Sehnsuchtskosmogonie. Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ im Umkreis seiner Schopenhauer-, Nietzsche- und Wagner-Rezeption, Würzburg 2000, S. 31.

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Dass es »mit der Glaubwürdigkeit [des] Biographen Zeitblom so seine Tücken hat«,635 ist inzwischen allgemein anerkannt, doch neigen noch immer Teile der »Forschung zum Doktor Faustus […] dazu, bei Problemen mit der Gestalt des Erzählers den Raum der Fiktion vorschnell zu verlassen«636 und die unübersehbaren »Unstimmigkeiten und Lücken in Zeitbloms Darstellung […], die den Rahmen der angekündigten Biographie«637 zweifelsohne sprengen, dem Autor Thomas Mann anzulasten.638 Es erscheint methodisch sinnvoller, den Erzähler als Erzähler ernst zu nehmen,639 635 Dietrich Assmann: »Herzpochendes Mitteilungsbedürfnis und tiefe Scheu vor dem Unzukömmlichen«. Thomas Manns Erzähler im ›Doktor Faustus‹, in: Hefte der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft 6/7 (1987), S. 87 – 97, hier : S. 91. Angesichts der umfangreichen Forschungsliteratur zu diesem Thema ist es nicht notwendig, auf Einzelheiten einzugehen; vgl. etwa Kaiser (2001), S. 97 – 103; Petersen (2007), S. 65 – 81 und Gos´licka (2008), S. 90 – 92; außerdem Volker Hage: Vom Einsatz und Rückzug des fiktiven IchErzählers. ›Doktor Faustus‹. Ein moderner Roman?, in: Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg): Thomas Mann, München 1976, S. 88 – 98; Jürgen H. Petersen: Gegen-Lesen. Widerstände gegen die Rezeptionslenkung durch Erzähler, Hauptfigur und Autor bei der Lektüre von Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Brand, Wolfgang (Hrsg): Erzähler, Erzählen, Erzähltes, Stuttgart 1996, S. 1 – 12; Rudolf Freudenberg: Erzähltechnische Irritationen in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Mauelshagen, Claudia; Seifert, Jan (Hrsg): Sprache und Text in Theorie und Empirie. Beiträge zur germanistischen Sprachwissenschaft. Festschrift für Wolfgang Brandt, Stuttgart 2001, S. 117 – 126; und Christian Baier: »… ich weiß es, und möge man zehnmal den Einwand erheben, ich könne es nicht wissen …«. Analyse einer Szene in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, in: Wirkendes Wort 58/1 (2008), S. 113 – 126. – Ansichten wie diejenige Weigands, Zeitblom sei »ein Ehrenmann und verdien[e] unser uneingeschränktes Vertrauen« [Hermann Weigand: Zu Thomas Manns Anteil an Serenus Zeitbloms Biographie von Adrian Leverkühn, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 51 (1977), S. 476 – 501, hier : S. 476], haben sich als unhaltbar erwiesen. 636 Klugkist (2000), S. 32. 637 Liisa Saariluoma: Nietzsche als Roman. Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, Tübingen 1996, S. 92. 638 Weigand spricht von einer »gewisse[n] Flüchtigkeit in der Redigierung des Doktor Faustus« [Weigand (1977), S. 481], und Freudenberg fragt suggestiv : »Ist hier dem Autor ein Narrator-Konzept völlig aus dem Ruder gelaufen, weil letztlich der Romancier in ihm gesiegt hat?« [Freudenberg (2001), S. 119]. Im Grunde unterscheiden sich diese Positionen kaum von der Überzeugung Ilse Metzlers, Zeitblom sei »nicht letztlich verantwortlich für das, was er sag[e] und für die Art, wie er es sag[e]« [Ilse Metzler : Dämonie und Humanismus. Funktion und Bedeutung der Zeitblomgestalt in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, Essen 1960, S. 14]. – Eine Gegenposition vertritt etwa Volker Hage, wenn er feststellt: »Hinter alldem steckt natürlich eine schalkhafte Absicht und keineswegs eine Schlamperei Thomas Manns, der mit den Errungenschaften des Ich-Erzählers nicht umzugehen wüßte« [Hage (1976), S. 90]. 639 Das aber bedeutet zugleich, ihn als Figur »mit charakteristischen und höchst spezifischen Eigenschaften« [Petersen (2007), S. 18] ernst zu nehmen. Positionen wie diejenige Saariluomas, die annimmt, Zeitblom sei »eher eine Erzählinstanz und eine Perspektive auf das Geschehen […] als eine Person, eine Figur der fiktiven Welt« [Saariluoma (1996), S. 96], tragen dieser strukturellen Doppeltheit eines homodiegetischen Erzählers nicht hinreichend Rechnung.

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zunächst von der Geschlossenheit des fiktionalen Raumes namens Doktor Faustus auszugehen […] und erst dort, wo sich mit den Kategorien der Absichtlichkeit und Unabsichtlichkeit, der bewußten Irreführung und des unbewußten ›Sichverratens‹ […] nicht mehr arbeiten läßt, Brüche oder Durchlässigkeiten zu konstatieren.640

Festzuhalten ist dabei, dass selbst offensichtliche ›Brüche‹ und erzählerische Kompetenzüberschreitungen Zeitbloms sich »innerhalb des fiktionalen Rahmens durchaus erklären lassen«,641 wenn man annimmt, dass der Erzähler sich nicht um die Beschränkungen kümmert, die mit seiner Rolle als Biograph oder Chronist eigentlich verbunden sein müssten:642 Obwohl er den Anschein zu erwecken sucht, eine Künstler-Biographie zu verfassen, schreibt Zeitblom schon auf der Ebene der erzählten Welt eigentlich einen Roman.643 Er ist »der heimliche Herrscher des Textes«,644 der die Geschichte Adrian Leverkühns »nicht wie ein authentischer Biograph[,] sondern genau wie ein Romanautor«645 erzählt und sich befugt fühlt, »die Welt seiner Biographie einer Neuordnung zu unterwerfen«:646 Die komplexe Durchführung [der] Themen und Motive sowie ihre Verknüpfungen werden vom Erzähler verantwortet […]: Zeitblom ist der Verfasser der Biographie, er organisiert sein Material.647

Zeitbloms Art, dem »erzählten Geschehen seinen Sinn, seine ordnende Deutung«648 aufzuzwingen, erlaubt dabei Rückschlüsse auf seine Motivation. So betont er selbst, er habe sein »eigenes Leben, ohne es gerade zu vernachlässigen, immer nur nebenbei, mit halber Aufmerksamkeit, gleichsam mit der linken 640 Klugkist (2000), S. 31. 641 Ibid., S. 84. 642 Ein homodiegetischer Erzähler spricht als Augenzeuge der erzählten Ereignisse normalerweise nur von dem, »was er weiß, was er gesehen haben kann. Und was er nur aus zweiter Hand weiß, das formuliert er entsprechend« [Hage (1976), S. 89] – diese Einschränkung bildet die Grundlage seiner Glaubwürdigkeit. 643 Vgl. Baier (2008). Am Beispiel des ›Vier-Augen-Gesprächs‹ zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger (vgl. GKFA 10.1, 629 – 638) wird auf sprachlich-stilistischer Ebene nachgewiesen, dass die Dialog-Szene von Zeitblom imaginiert und literarisch ausgestaltet worden ist. 644 Gos´licka (2008), S. 91. 645 Saariluoma (1996), S. 101. 646 Hubert Orłowski: Prädestination des Dämonischen. Zur Frage des bürgerlichen Humanismus in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, Poznan´ 1969, S. 84. 647 Michael Schäfermeyer : Thomas Mann. Die Biographie des Adrian Leverkühn und der Roman ›Doktor Faustus‹, Frankfurt am Main 1984, S. 42. Wenn Petersen behauptet, in der ganzen deutschen Literatur gebe es »kein derart inkompetentes, sich selbst deklassierendes Erzählmedium wie Serenus Zeitblom« [Petersen (2007), S. 18], lässt er sich von der Maske des Erzählers täuschen: Zeitblom ist ein ausgesprochen kompetenter Erzähler, der seine scheinbaren Fehler als gezieltes Mittel einsetzt, die eigene subtile Rezeptionslenkung zu verschleiern. 648 Orłowski (1969), S. 84.

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Hand« (GKFA 10.1, 454) geführt, während seine »eigentliche Angelegentlichkeit, Spannung, Sorge dem Dasein des Kindheitsfreundes gewidmet« (ibid.) gewesen sei, das seinem Leben »seinen wesentlichen Inhalt gegeben« (GKFA 10.1, 738) habe. Was ihm nach dessen Tod noch bleibt, ist ein »mäßige[s] Heim, dessen Wände und übervertraute Gegenstände […] den Rahmen [s]einer zurückgezogenen und entleerten Existenz« (GKFA 10.1, 453 f.) bilden, und eine Ehefrau, die seine »sich neigenden Jahre betreut« (GKFA 10.1, 21) und »no more than a domestic servant«649 zu sein scheint. Außerdem bleibt ihm die Aufgabe, zu der er sich »durch Liebe, Treue und Zeugenschaft berufen« (GKFA 10.1, 729) glaubt: »Er schreibt die Biographie Adrians, und diese Biographie wird nun – nachdem der Freund selbst nicht mehr da ist – der Inhalt seines Lebens.«650 Als seine Arbeit beinahe beendet ist, bemerkt Zeitblom: Was ich ferner voraussehe, ist das Gefühl einer gewissen Leere, das mein Teil sein wird, wenn ich nun mit wenigen Worten von dem Lebensausgang des großen Komponisten werde Rechenschaft abgelegt und den Schlußstrich unter mein Manuskript gezogen haben werde (GKFA 10.1, 730).

»Zeitblom wäre nichts ohne die Aufgabe, die Biographie seines berühmten Freundes zu verfassen«,651 und nur, indem er der Welt von dessen Leben Zeugnis ablegt, vermag er sich über die Trivialität seiner eigenen Existenz zu erheben und sich einen Platz in der Erinnerung der »Nachwelt« (GKFA 10.1, 593) zu sichern. Darin liegt das zentrale Motiv für seine Autorschaft: Er schreibt um sein Leben, immer in der Hoffnung, »daß etwas von dem Glanz seines Freundes schließlich auch auf ihn selbst fallen«652 werde. Das zeigt sich schon im ersten Satz seines Werkes: Mit aller Bestimmtheit will ich versichern, daß es keineswegs aus dem Wunsche geschieht, meine Person in den Vordergrund zu schieben, wenn ich diesen Mitteilungen […] einige Worte über mich selbst und meine Bewandtnisse vorausschicke (GKFA 10.1, 11).

Zeitblom tut genau das, was er bestreitet: Er beginnt die Biographie des Freundes mit der eigenen Person und stellt auf diese Weise von Anfang an sicher, dass »die Bedeutung seiner eigenen Existenz allen […] Gegenerklärungen zum 649 Osman Durrani: The Tearfull Teacher. The Role of Serenus Zeitblom in Thomas Mann’s ›Doktor Faustus‹, in: The Modern Language Review 80 (1985), S. 652 – 658, hier: S. 656. 650 Metzler (1960), S. 55. 651 Schäfermeyer (1984), S. 62. 652 Edgar Kirsch: Serenus Zeitblom. Beitrag zur Analyse des ›Doktor Faustus‹, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Gesellschafts- und sprachwissenschaftliche Reihe 7 (1958), S. 1103 – 1107, hier : S. 1104. Die Beziehung Zeitbloms zu Adrian entspricht – mutatis mutandis – derjenigen Riemers zu Goethe in Lotte in Weimar : In beiden Konstellationen fungiert ein Altphilologe als »Famulus« (GKFA 9.1, 131) des genialen Künstlers.

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Trotz in besonderer Weise zur Geltung«653 kommt. Noch stärker in den Vordergrund tritt der ›Chronist‹ überall dort, wo er, der »am Kreuzungspunkt der Zeitebenen«654 steht, von den Jahren 1943 bis 1945 berichtet, der Zeit, in der er schreibt. »Durch diese rein autobiographischen Partien des fiktiven Ich-Erzählers ist der Doktor Faustus ein Zeitroman im Sinne eines Gegenwartsromans«,655 so dass Hermann Kurzke feststellen kann: »[N]icht Leverkühn, sondern Zeitblom [ist] der eigentliche Träger des Deutschlandromans geworden«.656 Angesichts der ausführlichen Schilderungen gesellschaftlicher Ereignisse, denen Leverkühn oft nicht einmal beiwohnt,657 erscheint die Feststellung legitim, das Werk Zeitbloms sei »nicht nur Leverkühn als dem ›Freund‹, sondern zugleich und im selben Grade auch dem Verfasser gewidmet«:658 Serenus Zeitblom ist, »auch wenn er immer wieder das Gegenteil behauptet, […] Biograph und Autobiograph.«659 Doch beschränkt sich seine Rezeptionslenkung keineswegs darauf, die eigene Person in den Vordergrund zu rücken: Sie ist, wie an einem zentralen Aspekt von Leverkühns Faust-imitatio gezeigt werden soll, weit umfassender. Es herrscht in der Forschung weitgehend Einigkeit darüber, dass Doktor Faustus nicht nur aufgrund seines Titels, sondern auch strukturell als ›Faustroman‹ anzusehen sei660 – nicht etwa, weil Adrian Leverkühn Faust ›ist‹, son653 Konrad Gaier: Figur und Rolle des Erzählers im Spätwerk Thomas Manns, Bruchsal 1966, S. 105; vgl. auch Gos´licka (2008), S. 91. 654 Harald Vogel: Die Zeit in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹. Eine Untersuchung zur polyphonen Zeitstruktur des Romans, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 92 (1972), S. 510 – 536, hier : S. 524. 655 Paul Gerhard Klußmann: Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ als Zeitroman, in: Klußmann, Paul Gerhard; Fechner, Jörg-Ulrich (Hrsg): Thomas-Mann-Symposion, Kastellaun Henn 1978, S. 82 – 100, hier : S. 87. 656 Kurzke (1997), S. 280. 657 Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang verwiesen auf die Affäre um Helmut Institoris, Ines Rodde und Rudolf Schwerdtfeger, oder auf die Zusammenkünfte im Hause Kridwiß. In beiden Fällen behauptet Zeitblom die Relevanz seiner Ausführungen: Die »Schicksalsentwicklungen« (GKFA 10.1, 414) um Ines’ Ehebruch hätten sich »mit dem Leben und Schicksal [s]eines Helden« (ibid.), nahe berührt, und die Kridwiß’schen Diskussionen seien als »kaltschnäuzig-intellektuelle[r] Kommentar« (GKFA 10.1, 539) zu Leverkühns Apokalipsis cum figuris zu verstehen. Der ›Biograph‹ stellt also jeweils eine assoziative Verknüpfung zu Leben und Werk seines Freundes her, um seine Abschweifungen, trotz fehlender persönlicher Teilnahme seines Helden, als ›zur Sache gehörig‹ auszuweisen. 658 Gaier (1966), S. 23. 659 Ibid., S. 104. 660 Einzig Käte Hamburger hat ernsthaft eine abweichende Position formuliert. Der Kern ihres Einwands lautet, dass »im Unterschied zu allen anderen Faustdichtungen dieser Faust nur als Teufelsbündner Faust [sei], Leverkühn ohne seinen ›Pakt‹ zwar Leverkühn, ein dämonisch inspirierter Künstler, aber kein Faust wäre« [Käte Hamburger: Anachronistische Symbolik. Fragen an Thomas Manns Faustus-Roman, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Thomas Mann, Darmstadt 1975, S. 384 – 413, hier : S. 406]. Diesem Standpunkt wider-

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dern weil »er sich in steigendem Masse [sic!] mit jenem Faustus des Volksbuchs identifiziert«:661 [N]ichts von dem, was er erlebt, erscheint ihm zufällig, alles legt er solcher Art aus, dass es einen Teil seiner Faust-imitatio bildet. Ausgehend von seiner subjektiven Deutung des Erlebten und der Personen, denen er begegnet, entscheidet er über sein weiteres Verhalten, so dass es mit dem Faust-Schema in Übereinstimmung kommt.662

Doch nicht nur Leverkühn, der sein Leben daran ausrichtet, auch Zeitblom weiß um dieses ›mythische Muster‹, und er zieht aus diesem Wissen ähnlich weitreichende Konsequenzen wie der ›deutsche Tonsetzer‹, indem er – auch seinerseits bewusst – eine wichtige Rolle in Leverkühns Faust-Mythe [spielt]. Zu Fausts Leben gehört der Famulus Wagner, dem der alte Faust ausdrücklich aufträgt, nach seinem Tode seine Lebensgeschichte aufzuzeichnen […]. Leverkühn braucht Zeitblom nicht darum zu bitten, er fühlt, dass dieser in seinem mythischen Leben ›mitspielt‹ und sich der Rolle als ›Famulus‹ und Biograph bewusst ist.663 spricht etwa Vaget: »Entscheidend ist, daß die Biographie Leverkühns als mythische Wiederholung des Faustbuchs angelegt ist und Leverkühn […] die Eingebundenheit in den Mythos zum Gegenstand seiner letzten Komposition macht« [Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann und James Joyce. Zur Frage des Modernismus im ›Doktor Faustus‹, in: ThomasMann-Jahrbuch 2 (1989), S. 121 – 150, hier: S. 125]. – Ganz abgesehen von der Frage, ob es nicht vor allem der Teufelspakt ist, der Faust kennzeichnet, lässt sich auch für ein weiteres konstitutives Merkmal des ›Faustischen‹ eine Entsprechung in Manns Roman ausmachen: Der radikale Erkenntnishunger des Volksbuch-Faust, das rastlose Streben, für das er in Goethes Drama erlöst wird, finden ihre Entsprechung in Leverkühns Drang nach dem »Durchbruch […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls« (GKFA 10.1, 468); vgl. auch Michael Palencia-Roth: Albrecht Dürer’s ›Melencholia I‹ and Thomas Mann’s ›Doktor Faustus‹, in: German Studies Review 3 (1980), S. 361 – 375, hier : S. 373. 661 Dietrich Assmann: Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹ und seine Beziehungen zur Faust-Tradition, Helsinki 1975, S. 197. 662 Birgit S. Nielsen: Adrian Leverkühns Leben als bewusste mythische imitatio des Dr. Faustus, in: Orbis litterarum 20 (1965), S. 128 – 158, hier: S. 143. Assmann weist darauf hin, dass die ›mythische Identifikation‹ eine enge Verbindung zu den Joseph-Romanen herstellt: »Kurz vor seinem Zusammenbruch könnte Adrian sagen ›Ich bin es‹, so wie Thomas Mann 1936 in seiner Freud-Rede die mythische Identifikation beschrieben« [Assmann (1975), S. 94] und im Joseph als ›heiliges Spiel‹ inszeniert hat. – Dieses ›Ich bin’s‹ kann auch als Erklärung für den sonst seltsam beliebig erscheinenden Umstand herangezogen werden, dass viele der Gäste des Schlussmonologs den Gastgeber nicht erkennen: Er ist nicht mehr ›Adrian Leverkühn‹, sondern ›Doktor Faustus‹. Vgl. Joyce Carol Oates: Art at the Edge of Impossibility. Mann’s ›Doktor Faustus‹, in: Oates, Joyce Carol (Hrsg): The Edge of Impossibility. Tragic Forms in Literature, London 1976, S. 189 – 221, hier: S. 219 f. 663 Nielsen (1965), S. 158, Anm. 4. Die entsprechende Passage der Historia lautet: »Darneben bitte ich / daß du meine Kunst / Thaten / vnd was ich getrieben habe / nicht offenbarest / biß ich Todt bin / alsdenn woellest es auffzeichnen / zusammen schreiben / vnnd in eine Historiam transferiren / darzu dir dein Geist vnd Auwerhan helffen wirt / was dir vergessen ist / das wirdt er dich wider erjnnern / denn man wird solche meine Geschichte von dir haben woellen« [Stephan Füssel, Hans Joachim Kreutzer : Historia von D. Johann Fausten. Text des Druckes von 1587, mit den Zusatztexten der Wolfenbütteler Handschrift und der zeitgenössischen Drucke, kritische u. bibliogr. erg. Ausg., Stuttgart 1999, S. 112 f.]

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Dieses Bewusstsein erklärt nicht nur Zeitbloms Drang, »dem Freunde nicht von der Seite zu gehen« (GKFA 10.1, 165), sondern auch seinen Entschluss, an der Versammlung in Pfeiffering teilzunehmen, obgleich er nach eigenen Worten »versucht war, [s]ich persönlich davon fernzuhalten« (GKFA 10.1, 713): Das Gefühl, er »müsse, gern oder nicht, unbedingt dabeisein und alles überwachen« (ibid.), entspringt dem Wissen um die Bedeutung dieser Versammlung im Kontext des Faust-Musters, und seine Scheu, die befremdliche »Oratio« (GKFA 10.1, 706) seines Freundes zu unterbrechen, weist in die selbe Richtung: Es verlangt Zeitblom »aus ganzer Seele, zu hören« (GKFA 10.1, 720), weil Leverkühn in dieser Rede seine Identifikation mit Faust vollendet und ihn in seiner Rolle als »herzlich getreue[r] famulus und special Freund« (GKFA 10.1, 718) bestätigt. Da zu dieser Rolle auch die Aufgabe des Chronisten gehört, bildet allein die Existenz der »ersten und gewiß sehr vorläufigen Biographie des teuren, vom Schicksal so furchtbar heimgesuchten, erhobenen und gestürzten« (GKFA 10.1, 11) Adrian Leverkühn den vielleicht wichtigsten Beleg dafür, dass Serenus Zeitblom sich der Faust-imitatio seines Freundes bewusst ist.664 Welcher erzählerischen Mitteln er sich bedient, um Leverkühn als dämonischen Künstler und Teufelsbündner darzustellen, soll im Folgenden anhand der Verknüpfung von Genialität und Dämonie665 exemplarisch dargestellt werden. Sie wird von Serenus Zeitblom hergestellt und trägt maßgeblich dazu bei, das entstehen zu lassen, was der Erzähler fälschlicherweise die »Eigenfärbung der Geschichte« (GKFA 10.1, 223) nennt.666 Von der engen Verknüpfung dieser beiden Bereiche und ihrer eminenten Bedeutung für die Komposition des Romans zeugt schon der sogenannte ›NeunZeilen-Plan‹ Thomas Manns aus dem Jahr 1904:667 Novelle oder zu ›Maja‹ Figur des syphilitischen Künstlers: als Dr. Faust und dem Teufel Verschriebener. Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf [geniale] in

664 »Wagner is to write Faust’s life story, as this will be expected from him by the general populace […]. The biography Zeitblom writes to a not-as-yet-existing audience testifies to the fact that he not only accepts but anticipates his role as a faithful and reverent servant recapturing the life of his beloved master« [Marguerite DeHuszar Allen: The Faust Legend. Popular Formula and Modern Novel, New York 1985, S. 85]. 665 Es erscheint nicht sinnvoll, begrifflich zwischen dem ›Dämonischen‹ und dem ›Diabolischen‹ zu trennen, da weder Zeitblom noch eine andere Figur des Romans diese Unterscheidung vornimmt. Zu einer möglichen Unterscheidung vgl. Paul Tillich: Das Dämonische. Ein Beitrag zur Sinndeutung der Geschichte, in: Baumotte, Manfred (Hrsg): TillichAuswahl. Mit einer Einführung von Carl Heinz Ratschow, Bd. 3: Der Sinn der Geschichte, Gütersloh 1980, S. 96 – 125, hier : S. 98 – 107. 666 Vgl. Gos´licka (2008), S. 95. Auch Petersen weist darauf hin, es sei »der metaphysische Tick Zeitbloms, der alles Geschehen dämonisch« einfärbe [Petersen (2007), S. 53]. 667 Wysling datiert den Eintrag »[w]ohl auf Ende 1904« [Mann (1992), S. 122]; vgl. auch GKFA 10.2, 12.

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entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufel: Paralyse.668

Während einige der in dieser frühen Notiz genannten Aspekte im Roman erst relativ spät in Erscheinung treten, ist er vom ersten Satz an »in seiner expliziten Begrifflichkeit von der Genie-Problematik bestimmt«:669 Zeitblom führt Adrian als »genialen Musiker[]« (GKFA 10.1, 11) ein, spricht von dem »musikalischen Genius [s]eines verewigten Freundes« (GKFA 10.1, 13) und beginnt, über Natur und Wesen des Genies zu sinnieren: Nun ist dieses Wort ›Genie‹, wenn auch über-mäßigen, so doch gewiß edlen, harmonischen und human-gesunden Klanges und Charakters, und meinesgleichen, so weit er von dem Anspruch entfernt ist, […] je mit divinis influxibus ex alto begnadet gewesen zu sein, sollte keinen vernünftigen Grund sehen, davor zurückzubangen (ibid.).670

Schon die Formulierung verrät, dass es bei dieser Charakterisierung nicht sein Bewenden haben wird: Und doch ist nicht zu leugnen und ist nie geleugnet worden, daß an dieser strahlenden Sphäre das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil hat […], 668 Mann (1992), S. 121 f. Petersen stellt diesen Zusammenhang grundlegend in Frage: »[V]on den hier genannten Vorgängen kommt im Roman keiner vor, nirgends ist davon die Rede, dass der Teufel Leverkühn die Hand führt […], und an keiner Stelle wird das angebliche illuminierende Wirken des Satans bei Abfassung der genialen Werke Leverkühns auch nur andeutungsweise geschildert« [Petersen (2007), S. 27]. Er verkennt dabei nicht nur den Einfluss Zeitbloms, den er fälschlicherweise für ein »inkompetentes […] Erzählmedium« [ibid., S. 18] hält, sondern auch den Umstand, dass der Sinn eines Textes nicht auf das explizit Ausgesprochene beschränkt ist, sondern durch den Leser generiert wird, der Verknüpfungen erstellt und Anspielungen expliziert. 669 Schmidt (2004c), S. 272. 670 »divinis influxibus ex alto] Göttliche Eingießungen von oben. – Das Zitat wurde Thomas Mann durch Waetzoldt, Dürer bekannt […]: ›Mit einem Anklang an einen Ausdruck, den Marsilius Ficinus in seinem Buche ›de vita triplici‹ gebraucht, er redet von ›divinis influxibus ex alto‹, bekennt Dürer, die Kunst komme von den ›oberen Eingießungen‹.« (GKFA 10.2, 177 f.). – Indem er den für die Entwicklung des modernen Geniebegriffs so bedeutsamen Neuplatoniker Ficino zitiert, deutet Zeitblom an, dass er über ein weit umfassenderes Wissen zum Thema ›Genie‹ verfügt, als er sich den Anschein gibt. Erst durch Ficino, der die Vereinigung der platonischen (›man„a‹) und der aristotelischen (›Melancholie‹) Traditionslinie ermöglichte, wurde das Fremde, Irrationale, Unterbewusste zu einem zentralen Element des Geniebegriffs. Gerade vor diesem Hintergrund ist darauf hinzuweisen, dass ›altum‹ nicht nur »[a] high place or position« beschreibt, sondern auch »[a] region or point considerably below the surface« oder »remote from knowledge«, und im übertragenen Sinne sogar »the depths of a person’s mind or nature« [Artikel ›altum‹, in: Glare, P. G. W; Souter, Alexander; Wyllie, J. M. (Hrsg): Oxford Latin Dictionary, Oxford 1990b, S. 110]. Auf diese Bedeutungsdimensionen, die ihm als Altphilologen sicher bekannt sind, geht Zeitblom nicht ein. – Zur Bedeutung des Ficino-Zitats vgl. Borchmeyer (1994a), S. 139 f.; Rütten (2002), S. 132 – 134 und Rosemarie Puschmann: Magisches Quadrat und Melancholie in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹. Von der musikalischen Struktur zum semantischen Beziehungsnetz, Bielefeld 1983, S. 82 f.

Der Erzähler Zeitblom

201

und daß eben darum die versichernden Epitheta […] ›edel‹, ›human-gesund‹ und ›harmonisch‹, nicht recht darauf passen wollen (ibid.).

Diese Behauptung Zeitbloms ist von den Faustus-Exegeten bisher weitgehend unbesehen akzeptiert worden, einzig Petersen fragt: »[W]ie kommt er denn dazu, zu behaupten, alles Genie habe mit dem Dämonischen zu tun, und dergleichen sei auch gar nicht abzustreiten und nie bestritten worden?«671 Der Standpunkt des Erzählers büßt weiter an Plausibilität ein, wenn man bedenkt, dass er sich im vorliegenden Kontext zwar implizit auf die Tradition der griechischen Antike bezieht,672 sein Konzept des ›Dämonischen‹ jedoch weit stärker von den Überzeugungen des christlichen Mittelalters, der »klassischen Epoche religiöser Daseinsdurchwaltung« (GKFA 10.1, 148), bestimmt ist, als von den griechischen »Gottheiten der Tiefe« (GKFA 10.1, 20).673 Und eine derartige Verknüpfung des Genies mit dem Dämonischen im Sinne des Diabolischen ist der Genie-Tradition vollkommen fremd.674 Nimmt man die Frage ernst, wie Zeitblom eigentlich zu der Behauptung komme, alles Genie habe mit dem Dämonischen zu tun, eröffnet sich ein interessanter Einblick in sein kompositorisches Vorgehen. Zunächst fällt auf, dass 671 Petersen (1996), S. 7. Zeitblom erklärt den dämonischen Einfluss gleich zu einer Voraussetzung für jede Art von Kreativität: »Welcher Bereich des Menschlichen, und sei es der lauterste, würdig wohlwollendste, wäre wohl ganz unzugänglich dem Einfluß der unteren Gewalten, ja, man muß hinzusetzen, ganz unbedürftig der befruchtenden Berührung mit ihnen?« (GKFA 10.1, 19 f.). Tillich bestimmt das Dämonische unter ästhetischen Gesichtspunkten als »die übergreifende Form, die ein gestaltendes und gestaltzerstörendes Element in sich vereinig[e], und damit ein Gegen-Positives, eine positive, d. h. formschaffende Formwidrigkeit« darstelle [Tillich (1980), S. 98]. 672 Es ist unverkennbar, dass Zeitbloms Vorstellung von der »initiatorischen Andacht des olympischen Griechentums vor den Gottheiten der Tiefe« (GKFA 10.1, 20) von dem Gegensatz des Apollinischen und Dionysischen bestimmt ist, wie Nietzsche ihn in der Geburt der Tragödie entwickelt. 673 Hier zeigt sich eine Inkonsistenz in Zeitbloms Darstellung: Scheint seine Vorstellung des Dämonischen zunächst von seiner Erfahrung »am Rand der vom Felsen überhangenen plutonischen Spalte« (GKFA 10.1, 20) geprägt, enthüllt sich im Verlauf des Romans zunehmend ihr ›mittelalterlicher‹ Charakter. Spätestens die unmittelbare Verknüpfung des Dämonischen mit der vom Teufel »mit Zulassung Gottes vergiftete[n]« (GKFA 10.1, 363) Sexualität, die Zeitblom als »den Vorzugstummelplatz der Dämonen, den gegebenen Ansatzpunkt für Gottes Gegenspieler« (GKFA 10.1, 154) apostrophiert, macht deutlich, dass er ›das Dämonische‹ primär mittelalterlich versteht und auf den Teufel als den »oberste[n] [sic!] der Dämonen« zurückführt [Tillich (1980), S. 99]. 674 Zwar wird im Sturm und Drang, als »die Lehre vom Genie ausgebildet wird, […] ›dämonisch‹ zu einem äquivalenten Ausdruck für ›genial‹« [C. Axelos: Artikel ›Dämonisch, das Dämonische‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, unter Mitwirkung von mehr als 1500 Fachgelehrten hrsg. von Joachim Ritter, Bd. 2: D-F, Darmstadt 1971 – 2007, S. 4 f., hier : S. 4], doch geht dieser Begriff des Dämonischen auf das daimonion des Sokrates zurück, nicht auf christlich-mittelalterliche Vorstellungen. Vgl. auch Brigitte Schmitz: Erscheinungsformen des ›Dämonischen‹ im Werk von Thomas Mann. Vornehmlich dargestellt am Beispiel des ›Doktor Faustus‹, in: Doitsu Bungaku 138/2 (2008), S. 40 – 61.

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Zeitbloms Standpunkt auffallend mit einer Bemerkung des Teufels korrespondiert, der Adrian fragt: »Glaubst du […] an ein Ingenium, das gar nichts mit der Höllen zu tun hat? Non datur!« (GKFA 10.1, 345). Die weitreichenden Implikationen dieser Beobachtung werden deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass gemäß der Chronologie der fiktionalen Welt das Teufelsgespräch 1911 oder 1912 stattgefunden hat,675 »die Niederschrift des ›Zwiegesprächs‹ im steinernen Saal« (GKFA 10.1, 387) dem Chronisten zu Beginn seiner Arbeit an Leverkühns Biographie im Jahre 1943 folglich schon vorliegt.676 Als er mit dem Schreiben beginnt, stehen ihm also nicht nur »Kompositionsskizzen und Tagebuchblätter« (GKFA 10.1, 15) zur Verfügung, sondern auch Adrians Brief aus Leipzig und die Niederschrift des Teufelsgesprächs. Außerdem weiß er um den Ausgang seiner Geschichte, um Leverkühns ›Schlussmonolog‹ und die darin von dem Komponisten entwickelte Deutung des eigenen Lebens im Sinne des Faust-Musters, so dass aus dieser Perspektive die Aussage, im Teufelsgespräch würden die »durch Zeitblom […] gelegten Spuren wieder aufgenommen und zu ihrem Ziel geführt«,677 geradewegs umzukehren ist: Die in der Niederschrift des Teufelsgesprächs angelegten Bezüge und Verweisstrukturen erscheinen dann als die Grundlage, auf der Serenus Zeitblom die gesamte ›Biographie‹ seines Freundes aufbaut. In seinem Bestreben, »aus Adrian Leverkühns Leben eine sinnvolle Ganzheit«678 zu machen, die sich als imitatio des Faust-Musters begreifen lässt, verhält er sich wie ein Romancier, der Spuren legt, Assoziationen und Verknüpfungen herstellt, um die Rezeption des Lesers zu beeinflussen. Das zeigt sich exemplarisch, wenn er es nicht bei einer allgemeinen Verknüpfung von Genialität und Dämonie belässt, sondern noch hinzusetzt, »die versichernden Epitheta« (GKFA 10.1, 13) ›edel‹, ›human-gesund‹ und ›harmonisch‹ passten selbst dann nicht recht auf das Genie,

675 Zeitbloms Aufenthalt in Palestrina fällt »in [die] großen Ferien 1912« (GKFA 10.1, 307), und seiner Überzeugung gemäß stammt Adrians Niederschrift des Teufelsgesprächs entweder aus »einer früheren Periode des Sommers« (GKFA 10.1, 324), oder aber »aus dem Sommer vorher« (ibid.). 676 Dass die Niederschrift des Teufelsgesprächs zu den »unschätzbaren Aufzeichnungen [gehört], die der Heimgegangene [ihm] und keinem anderen in gesunden Tagen […] vermacht hat« (GKFA 10.1, 14 f.), verdeutlicht Zeitblom unmittelbar vor seiner Einschaltung: »Das Dokument, auf das in diesen Blättern wiederholte Hinweise geschahen, Adrians geheime Aufzeichnungen, seit seinem Abscheiden in meinem Besitz […] – hier ist es, ich teile es mit« (GKFA 10.1, 323). 677 Christoph Schwöbel: »… alles ist und geschieht in Gott, besonders auch der Abfall von ihm …«. Theologisches in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Wißkirchen, Hans (Hrsg): »Und was werden die Deutschen sagen??«. Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, Lübeck 1997, S. 153 – 178, hier : S. 173. 678 Assmann (1987), S. 90.

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wenn es sich um lauteres und genuines, von Gott geschenktes oder auch verhängtes Genie handel[e] und nicht um ein akquiriertes oder verderbliches, um den sünd- und krankhaften Brand natürlicher Gaben, die Ausübung eines gräßlichen Kaufvertrages (ibid.).

Zeitblom verweist explizit auf den Teufelspakt, und das »beschämende[] Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit« (ibid.), zu dem er sich bekennt, enthüllt sich vor diesem Hintergrund als Verschleierungstaktik oder als topische Bescheidenheitsfloskel, bestimmt, den Schein des ›Chronisten‹ zu wahren und damit das Vertrauen des Lesers zu gewinnen.679 Tatsächlich handelt es sich bei der angeblichen »Indiskretion« (ibid.) um eine subtile Strategie der Rezeptionslenkung, mit deren Hilfe es dem Erzähler gelingt, seine Behauptung von der »jedenfalls dämonisch beeinflußte[n] Natur« (GKFA 10.1, 14) des Genies dem Leser plausibel zu machen und auf diese Weise eine der Assoziationen zu etablieren, die das eng gewobene Motivgeflecht des Doktor Faustus bilden. Der Interpret befindet sich damit in einer einigermaßen paradoxen Situation: Selbst, wenn er das Vorgehen des Erzählers durchschaut, behalten die hergestellten Assoziationen ihre Gültigkeit, denn die Erkenntnis, dass die Verbindung von Genialität und Dämonie ein Produkt Zeitblomscher Rezeptionslenkung ist, ändert nichts daran, dass die beiden Komplexe innerhalb des Romankontexts aufeinander bezogen bleiben. Diese Tatsache gilt es bei der Analyse zu berücksichtigen und zu versuchen, die verschiedenen Ebenen der textinternen Sinnkonstitution möglichst präzise voneinander zu unterscheiden und bei ihrer Deutung die – möglicherweise zweifelhafte – Glaubwürdigkeit der jeweils verantwortlichen Instanz zu berücksichtigen.680

2.

Die Entstehung des Genies

Alle drei im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Romane befassen sich mit der Frage, »wie ein Genie sich bildet« (GKFA 9.1, 321). Während der fiktionale Goethe eine Introspektion und Selbstanalyse vornimmt, ist es im Falle des ›deutschen Tonsetzers‹ der Freund und Chronist Zeitblom, der, aus der Nähe, 679 Da er eigentlich auf die Wiedergabe des selbst Erlebten, allenfalls noch auf die Berichte vertrauenswürdiger Zeugen beschränkt ist, bildet der Chronist »in der Literatur die letzte Bastion, um die Skrupel vor Fiktionen noch einmal abzuschütteln, ja die Glaubwürdigkeit des Dargestellten sogar noch einmal zu erhöhen« [Hage (1976), S. 89] – eine literarische Konvention, der Zeitblom sich zur Steigerung der eigenen Glaubwürdigkeit gezielt bedient, während er sie unablässig verletzt. 680 Die Verbindung zwischen Genialität und Dämonie ist nur ein Beispiel für diese von Zeitblom vorgenommene Sinnkonstitution; andere, wie etwa die Dämonisierung Jonathan Leverkühns und des Motivs der ›Migräne‹, werden an späterer Stelle analysiert.

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aber doch als Außenstehender, den Lebensgang seines Helden verfolgt. Die Gattung der Künstlerbiographie bringt es überdies mit sich, dass Leverkühn nicht erst als Erwachsener auftritt, wie der »elegante[] und glanzäugige[] Greis« (GKFA 9.1, 408) in Lotte in Weimar, sondern der Erzähler sein gesamtes Leben schildert: Es war mir beschieden, viele Jahre meines Lebens in der vertrauten Nähe eines genialen Menschen, des Helden dieser Blätter, zu verbringen, ihn seit Kinderzeiten zu kennen, Zeuge seines Werdens, seines Schicksals zu sein (GKFA 10.1, 14).

Da Zeitblom überdies nach dem Grundsatz verfährt, den Leser »auf den Stand des Schülers, des lauschenden, lernenden […] Neubeginners des Lebens und der Kunst zurückzuführen« (GKFA 10.1, 107), während er ihm die Entwicklung seines Freundes, »den Aufbau [s]einer geistigen Existenz« (ibid.) schildert, spielt die Vermittlung und Aneignung von Wissen im Falle Adrians und der Entstehung seines Genies eine weit größere Rolle als bei Goethe.681 Daraus folgt, dass die Untersuchung der Ermöglichungsbedingungen von Leverkühns Genie zwar mit seinen von Vater und Mutter ererbten Fähigkeiten und Eigenschaften beginnt, ihr Hauptaugenmerk jedoch auf die »Prinzenerziehung« (GKFA 10.1, 110) richtet, die Wendell Kretzschmar dem jungen Adrian angedeihen lässt.682 681 Die größere Bedeutung, die dem Prozess der (Aus-)Bildung des Genies im Doktor Faustus zukommt, ist auch auf die weit ehrgeizigere und umfassendere Grundkonzeption des Alterswerks zurückzuführen: Von Anfang an geplant als der »Roman [einer] Epoche, verkleidet in die Geschichte eines hoch-prekären und sündigen Künstlerlebens« (GKFA 19.1, 435), muss der Faust-Roman nicht nur ein historisch-geistesgeschichtliches Panorama dieser Epoche entfalten, sondern auch ihr musikalisches Wissen umfassen. 682 Adrians Ausbildung ist in der Forschung bisher weitgehend vernachlässigt worden, was auf Zeitbloms Rezeptionslenkung zurückzuführen ist: Da die Wahrnehmung des Erzählers »vom Glauben an Adrians Auserwähltheit« [Assmann (1987), S. 90 f.] und dem Wissen um seine Faust-Imitatio bestimmt ist, und die Künstler-Existenz ihm generell »als das Paradigma aller Schicksals-Gestaltung [gilt], als der klassische Anlaß zur Ergriffenheit von dem, was wir Werden, Entwicklung, Bestimmung nennen« (GKFA 10.1, 42), kann es nicht verwundern, dass er Adrians »Aufstieg aus dem Tale der Unschuld in unwirtliche, ja schauerliche Höhen« (GKFA 10.1, 41) als ein Schicksal im Sinne einer vorbestimmten, determinierten Abfolge von Ereignissen darstellt: »From the earliest stage of Zeitblom’s account, it is plain he believes his friend lived out a particular ›destiny‹ whose seeds lay in his distinctive personality« [Michael Beddow: Thomas Mann. ›Doctor Faustus‹, Cambridge 1994, S. 17]. Diese Lesart ist in der Forschung weitgehend übernommen worden, woraus die Vernachlässigung von Leverkühns Ausbildung sich folgerichtig ergibt: Wenn man davon ausgeht, dass »Leverkühns Leben von vornherein determiniert« ist [Lieselotte Voss: Die Entstehung von Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹. Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten, Tübingen 1975, S. 37], weil seine Veranlagung »ihn bereits von Anfang an zum Untergang verdammt« [Hans-Peter M. Gerhard: Kälte und Isolation in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, in: Faust-Blätter 29 (1975), S. 995 – 1003, hier : S. 999], dann wäre es widersinnig, ihr viel Aufmerksamkeit zu schenken. Ähnliche Positionen vertreten etwa Assmann (1975), S. 198; Klugkist (2000), S. 165; Gisela E. Hoffmann: Das Motiv des Auserwählten bei Thomas Mann, Bonn 1974, S. 148; William E. Grim: Diabolus in

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Letztendlich ist es – Zeitbloms Darstellung gemäß – die einzigartige Verbindung von ererbter Veranlagung und erworbenen Kenntnissen und Fertigkeiten, die Leverkühns Genie ermöglicht.

2.1.

Vererbung und Anlagen

Die ohne Zweifel auffälligste Eigenschaft, die Adrian Leverkühn von seinem Vater erbt, ist die »Neigung zur Migräne« (GKFA 10.1, 24), die sich im Falle des Sohnes allerdings in weit intensiveren Anfällen äußert: [B]oth Adrian and Jonathan suffer from migraines (physical suffering being a necessary condition in Mann’s etiology of genius) which tends to support the link between father and son and is, no doubt, a foreshadowing of the greater physical suffering and acts of genius that will take place later in the life of Adrian.683

Dass das »Hauptwee« (GKFA 10.1, 343) mehr ist als nur eines der Leitmotive zur Figurenkennzeichnung, wie sie im Werk Thomas Manns so oft vorkommen, zeigt sich bereits an der Art, wie der Erzähler die Migräneanfälle seines Freundes mit dessen ersten musikalischen Experimente in Verbindung bringt: [T]atsächlich war es um sein vierzehntes Jahr, zur Zeit beginnender Pubeszenz also […], daß er auf eigene Hand begann, mit der Musik pianistisch zu experimentieren. Übrigens war dies auch die Zeit, in der die ererbte Migräne anfing, ihm böse Tage zu machen (GKFA 10.1, 52 f.).

Zeitblom spricht in Hinsicht auf die Musik von einer »keimende[n] Leidenschaft« (GKFA 10.1, 74) Adrians, und dessen Reaktion, als er den Zuhörer bemerkt, ist vielsagend, denn »[t]he narrator’s description of finding Adrian playing on the harmonium sounds as though he has discovered him in some forbidden sexual activity«:684 »Er ließ die Bälge ruhen, nahm die Hände vom Manuale und errötete lachend« (GKFA 10.1, 72). Leverkühns Migräne wird also mit zwei zentralen Motivkomplexen des Romans verknüpft, und sowohl Sexualität als auch Musik sind im Text eindeutig als ›dämonisch‹ gekennzeichnet:685 Musica. Thomas Mann’s ›Doktor Faustus‹, in: Grim, William E. (Hrsg): The Faust Legend in Music and Literature, Lewiston 1988, S. 73 – 98, hier: S. 98 und Ulrike Prechtl-Fröhlich: Die Dinge sehen, wie sie sind. Melancholie im Werk Thomas Manns, Frankfurt am Main 2001, S. 194. 683 Grim (1988), S. 74. 684 Ford B. Parkes-Perret: Thomas Mann’s Silvery Voice of Self-Parody in ›Doktor Faustus‹, in: The Germanic Review 64 (1989), S. 20 – 30, hier : S. 22. 685 Die Verknüpfung von Sexualität und Dämonie ist am prominentesten in den Vorlesungen von Schleppfuß (GKFA 10.1, 154 – 157), während die Musik unter Verweis auf Kierkegaard als »dämonisches Bereich« (GKFA 10.1, 353) gekennzeichnet wird. In Deutschland und die

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After Adrian, still a teenage adolescent, had gone to live with his uncle Nikolaus in Kaisersaschern, the ›phenomenon of music‹ was correlated by Serenus with the advent of Leverkühn’s incipient sexuality as well as with the headache which he […] inherited from his father.686

Erwägt man außerdem, dass Adrian diese Anfälle zwar »schon von Natur aus hat […], [s]ie aber dann in engen Zusammenhang mit der syphilitischen Infektion geraten« (GKFA 10.2, 193), die im Verweisungsgeflecht des Romans seine Verschreibung an den Teufel repräsentiert, ist nicht zu verkennen, dass auch die Migräne selbst eine dezidiert ›dämonische‹ Konnotation gewinnt – ganz so, als bestehe das väterliche Erbe nicht nur aus der physiologischen Neigung zu periodisch auftretendem Kopfschmerz, sondern auch aus einer »vom Vater übernommene[n] Vorliebe für teuflisch interpretierte Erscheinungen«,687 einer besonderen Empfänglichkeit für den Einfluss der ›unteren Mächte‹. Dieser Eindruck wird noch verstärkt, wenn der Erzähler Jonathan Leverkühn einen »Spekulierer und Sinnierer« (GKFA 10.1, 31) nennt, dessen naturwissenschaftliches Interesse »von gewissen Zeiten dahin charakterisiert worden wäre, er habe wollen ›die Elementa spekulieren‹« (GKFA 10.1, 25).688 Erst diese »verschollene und nicht vorwurfsfreie Bezeichnung« (ibid.) Serenus Zeitbloms ist es, die Vater Leverkühns Versuche in ein »mystische[s] oder […] ahnungsvoll halb-mystische[s]« (GKFA 10.1, 31 f.) Zwielicht, in die Nähe der Alchemie rückt.689 Wenn er schließlich darüber hinaus die Ansicht »früherer Epochen«690 (GKFA 10.1, 32) vertritt, dass

686 687 688

689

Deutschen (1945) führt Mann diesen Punkt weiter aus: »Die Musik ist dämonisches Gebiet […]. Sie ist christliche Kunst mit negativem Vorzeichen. Sie ist berechnetste Ordnung und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich, an beschwörenden, inkantativen Gesten reich, Zahlenzauber, die der Wirklichkeit fernste und zugleich passionierteste der Künste, abstrakt und mystisch« (GW XI, 1131). John Fetzner: Melos, Eros, Thanatos and ›Doctor Faustus‹, in: Lehnert, Herbert; Pfeiffer, Peter C. (Hrsg): Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹. A Novel at the Margin of Modernism, Columbia 1991, S. 61 – 80, hier : S. 70. Georg Bollenbeck: ›Doktor Faustus‹. Das Deutungsmuster des Autors und die Probleme des Erzählers, in: Röcke, Werner (Hrsg): Thomas Mann. Doktor Faustus 1947 – 1997, Bern 2001, S. 35 – 57, hier : S. 48. Es ist anzunehmen, dass Zeitblom die Formulierung ›die elementa spekulieren‹ aus Leverkühns Aufzeichnung des Teufelsgesprächs übernimmt (vgl. GKFA 10.1, 343), die ihm zu Beginn der Niederschrift bereits vorliegt. Abhängig vom Wirklichkeitsstatus der Teufelserscheinung geht der Ausdruck damit entweder auf Adrian Leverkühn oder auf den Teufel selbst zurück. Dieses verdeckte Zitat untermauert die These, Zeitblom lasse die Experimente Jonathan Leverkühns bewusst in einem dämonisch-zweifelhaften Licht erscheinen. Es ist in der Forschung darauf hingewiesen worden, dass die ›alchemistischen‹ Konnotationen, mit denen Zeitblom Jonathan Leverkühn umgibt, ihn in die Nähe des Vaters der Goetheschen Faust-Gestalt rücken [vgl. Gunilla Bergsten: Thomas Manns ›Doktor Faustus‹. Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans, 2., erg. Aufl., Tübingen 1974, S. 61, Anm. 1]: »Mein Vater war ein dunkler Ehrenmann, / Der über die Natur und ihre heil’gen Kreise / In Redlichkeit und doch auf seine Weise, / Mit grillenhafter Mühe sann«

Die Entstehung des Genies

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»das Unterfangen, mit der Natur zu laborieren, sie zu Phänomenen zu reizen, sie zu ›versuchen‹, […] ganz nahe mit Hexerei zu tun habe, ja schon in ihr Bereich falle und selbst ein Werk des ›Versuchers‹ sei« (ibid.),

und sie sogar als eine »respektable Überzeugung« (ibid.) bezeichnet, ist die Verknüpfung explizit hergestellt: Die harmlosen Experimente gewinnen den Anschein von Hexerei und Teufelswerk, und Jonathan Leverkühn wird zu einer dämonisch umwitterten Figur,691 was wiederum den Eindruck verstärkt, er habe »seine ›Bereitschaft‹ zum Teufelspakt […] in der Migräne an seinen Sohn vererbt«.692 Etwas unpräzise, aber einprägsam formuliert Assmann: »Für Adrian haben diese Studien des Vaters zweifellos die Funktion, die Vorstellung der eigenen Determiniertheit zum Bösen sozusagen schon im Erbgut zu begründen.«693 Unterstützt wird diese Lesart durch eine Äußerung des Teufels, der für Adrians zorniges Verbot, von seinem Vater zu sprechen, nur Spott übrig hat: O, dein Vater ist in meinem Maule gar nicht so fehl am Ort. Er hatt es hinter den Ohren, mochte immer gern die elementa spekulieren. Das Hauptwee, den Ansatzpunkt für die Messerschmerzen der kleinen Seejungfrau, hast du doch auch von ihm … (GKFA 10.1, 343).

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[Faust I, Vers 1034 – 1037]. Dass auch die Goethe-Figur in Lotte in Weimar den eigenen Vater einen »dunkle[n] Ehrenmann« (GKFA 9.1, 325) nennt, stellt eine weitere Parallele zwischen Manns Goethe und Leverkühn her. Diese vage Zeitangabe verweist bereits auf die Vorlesung des Dozenten Schleppfuß, da Zeitblom sich zweifellos auf dessen Ausführungen zum »Seelenleben der klassischen Epoche religiöser Daseinsdurchwaltung, des christlichen Mittelalters und namentlich der Jahrhunderte seines Ausgangs« (GKFA 10.1, 148) bezieht. Nicht zufällig ist die »Verfassung des Menschengemütes in den letzen Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts« (GKFA 10.1, 57 f.) auch charakteristisch für die Atmosphäre Kaisersascherns. Hier kann stellvertretend für die communis opinio der Forschung Helmut Koopmann angeführt werden: »Erstmals tauchen hier dämonisch-irrationale Züge auf, […] wenn etwa von Vater Leverkühn wie in der Renaissancezeit die elementa spekuliert werden […], wenn ein Hauch von Dämonologie und Teufelsbündnismentalität in den Roman eindringt« [Helmut Koopmann: ›Doktor Faustus‹, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Thomas-MannHandbuch, 3., aktualisierte Aufl., Frankfurt am Main 2005, S. 475 – 497, hier : S. 488]. Klugkist (2000), S. 129. Klugkist liest bereits Jonathan Leverkühn als Teufelsbündner: Seine Migräne offenbare nicht nur die Anlage zum Dämonischen, »sondern darüber hinaus auch den vollzogenen Vertragsabschluß selbst« [ibid.], und Grim versteht Jonathan als »one of the many manifestations of the devil […], the catalyst whose function it is to see that the protagonist’s fate is fulfilled« [Grim (1988), S. 74]. Beide Positionen erscheinen wenig überzeugend, da sie das Ausmaß an Rezeptionslenkung von Seiten des Erzählers unberücksichtigt lassen, dem der Leser gerade in diesem Zusammenhang ausgesetzt ist. Assmann (1975), S. 185. Grim gewichtet diesen Einfluss so stark, dass er selbst die Entwicklung des ›strengen Satzes‹ auf Jonathan Leverkühns Experimente zurückführt: »[T]he nature of Jonathan’s experimentation produces a profound effect on Adrian […] and reinforces the idea that Adrian’s artistic productivities are a result of heredity instead of the will. […] There is a parallel between Jonathan’s fascination with the predetermined structure of nature and Adrian’s espousal of the 12-tone system« [Grim (1988), S. 74].

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Da man »der Seinsweise des Teufels noch am nächsten [kommt], wenn man sie in der Schwebe zwischen Wirklichkeit und Fiktion beläßt«,694 ist die Verlässlichkeit dieser Bestätigung jedoch fragwürdig: Ist der ›Besucher‹ eine Illusion, lässt sich daraus allenfalls folgern, dass Leverkühn davon überzeugt ist, die Prädisposition zum Teufelspakt und zur inspirativen Entfesselung von seinem Vater geerbt zu haben. Handelt es sich hingegen tatsächlich um eine Teufelserscheinung, so ist dieser Aussage erst recht mit Skepsis zu begegnen: »Si Diabolus non esset mendax et homicida« (GKFA 10.1, 345). Während sich der Erbteil Jonathan Leverkühns, folgt man Zeitbloms Ausführungen, vorwiegend in einer Neigung zur Spekulation und einer besonderen Empfänglichkeit für den Einfluss der ›unteren Mächte‹ manifestiert, zeigt sich die Wirkung seines mütterlichen Erbes stärker auf der physischen Ebene. Der Famulus jedenfalls ist davon überzeugt, »daß das Genie des Sohnes der vitalen Wohlschaffenheit [seiner] Mutter viel zu danken« (GKFA 10.1, 36) habe, womit er auch seine Ehrerbietung gegenüber ihrer »schlichten, intellektuell durchaus anspruchslosen Person« (ibid.) begründet. Im Gegensatz zum Vatererbe, das als Erklärung für Adrians Prädisposition zum Teufelspakt verstanden wird, tritt im Zusammenhang mit dem Einfluss Elsbeth Leverkühns seine Genialität in den Vordergrund, denn neben der ›vitalen Wohlschaffenheit‹ schreibt Zeitblom vor allem ihrer »inneren Musikalität« (GKFA 10.1, 38) und ihrem »warme[n] MezzoSopran« (ibid.) eine eminente Bedeutung zu: [M]einer Meinung nach will es etwas heißen, daß dieser natürliche und von instinktivem Geschmack bestimmte Wohllaut von der ersten Stunde an mütterlich Adrians Ohr berührte. Für mich trägt es zur Erklärung des unglaublichen Klangsinnes bei, der sich in seinem Werk manifestiert (ibid.).

Eine weitere mütterliche Prägung, die Zeitblom nicht explizit nennt, auf die in der Forschung aber wiederholt hingewiesen wurde, besteht in Adrians anfänglicher Zurückhaltung gegenüber der Musik, die allgemein auf den Umstand zurückgeführt wird, dass Elsbeth Leverkühn sich trotz ihrer entsprechenden Begabung »um Musik nicht [gekümmert], sich sozusagen nicht zu ihr be694 Peter Pütz: Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Zum Problem des ästhetischen Perspektivismus in der Moderne, 4. Auflage, Bonn 1997, S. 114. An anderer Stelle weist Pütz darauf hin, dass es ein starkes Argument für die Realexistenz des Teufels gibt, nämlich seine Bemerkung, auch Spengler sei »ein Esmeraldus« (GKFA 10.1, 339): »Spenglers Infektion ist Adrian offenbar nicht bekannt, kann also nicht ›aus ihm kommen‹.« (GKFA 10.2, 533); vgl. Peter Pütz: Die teuflische Kunst des ›Doktor Faustus‹ bei Thomas Mann, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 82 (1963), S. 500 – 515, hier : S. 508, Anm. 23. – Dass Serenus Zeitblom, trotz seiner gegenteiligen Versicherungen, an die Wirklichkeit des Teufels glaubt, belegt seine Bezugnahme auf diese Feststellung: Spenglers »Bildung (wir wissen es ja), sein Sinn für Verfeinerung, Esprit, Kritik gründete in seinem akzidentellen und malheurehaften Verhältnis zur geschlechtlichen Sphäre, der körperlichen Festlegung darauf« (GKFA 10.1, 377).

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kannt[]« (ibid.) habe:695 »Lange, mit ahnungsvoller Beharrlichkeit, hat dieser Mensch [i. e. Adrian] sich vor seinem Schicksal verborgen« (GKFA 10.1, 69).696 Einige der Anlagen Adrian Leverkühns lassen sich nicht unmittelbar auf seine Eltern zurückführen, sind aber dennoch als Voraussetzungen für die Entstehung seines Genies ansehen. Von früh an fällt er durch seine geistigen Fähigkeiten auf, durch seinen »gelernige[n] geschwinde[n] Kopf« (GKFA 10.1, 54) und »versatilen Verstand« (GKFA 10.1, 191), einen »kühlen und ubiquitären,697 alles leicht auffassenden, durch Superiorität verwöhnten Intellekt« (GKFA 10.1, 122),698 der ihn befähigt, den »Anforderungen der Schule mit Leichtigkeit« (GKFA 10.1, 69) zu entsprechen. Wenn Lehrer Michelsen sogar von »ingenium« (GKFA 10.1, 54) spricht, so stellt dieser Ausdruck nicht nur den Bezug zur Genietradition her, sondern bildet zugleich einen Hinweis auf das Faust-Muster699 und damit auf den Teufelspakt. Die enge Verbindung, die im Text zwischen Genialität und Dämonie hergestellt wird, ist unverkennbar : Von Anfang an erscheinen Leverkühns geistige Fähigkeiten in einem zweideutigen Licht, und dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass auch er selbst die ohnehin schon dämonisch konnotierte Migräne, die ihn »in den höheren Klassen, etwa von Ober-Secunda an, als er 695 Böschenstein sieht in diesem Verhalten Elsbeth Leverkühns sogar die Ursache für Adrians Bedürfnis nach dämonischen Inspiration: »Für Adrian hat […] diese Doppelheit von Musikalität der Mutter und gleichzeitiger Negation dieser Musikalität eine double-bindBeziehung zu seiner musikalischen Kreativität zur Folge: sie ist ihm zugleich aufgegeben und verboten – Grund genug für seine Sterilitätskrise« [Böschenstein (2000), S. 144]. Diese Interpretation büßt an Plausibilität ein, wenn man bedenkt, in welchem Ausmaß das Problem der geistigen Sterilität und der Schwierigkeit des kreativen Schaffens im Roman auf die allgemeinen Bedingungen der Kunst in der Moderne zurückgeführt wird, und Zeitblom den ›deutschen Tonsetzer‹ als »Repräsentanten und Märtyrer der Zeit« inszeniert [Brief Thomas Manns an Arnold Schönberg vom 17. 2. 1948, zitiert nach Mann (1998), S. 170], der die »die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals« (GKFA 10.1, 723) nimmt. Vor diesem Hintergrund erscheint es nicht ausreichend, seine ›Sterilitätskrise‹ ausschließlich mit einer kindlichen Prägung zu begründen. 696 Zeitblom verleiht hier seiner Überzeugung Ausdruck, dass »es die Musik sei, für die das Schicksal« (GKFA 10.1, 198) Adrian bestimmt habe. Wie weitgehend die Forschung dieser Ansicht gefolgt ist, illustriert die Aussage Sandbergs: »Von jung auf ist Adrian Leverkühn disponiert für die Musik. Sein Verhältnis zu dieser Kunst wurzelt in seinem Wesen, das zutiefst gezeichnet ist durch Hochmut und Stolz und die dadurch bedingte Einsamkeit und Weltscheu« [Hans-Joachim Sandberg: Kierkegaard und Leverkühn. Zum Problem der Verzweiflung in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, in: Nerthus 4 (1979), S. 93 – 107, hier : S. 102]. 697 Das Attribut ›ubiquitär‹ stellt eine assoziative Verbindung her zur Goethe-Figur in Lotte in Weimar, deren Genie durch ›universelle Ubiquität‹ gekennzeichnet ist. 698 Die strukturelle Ursache dafür, dass Adrians intellektuelle Fähigkeiten sich nicht auf seine Eltern zurückführen lassen, besteht darin, dass sein »trefflich ingenium vnnd memoriam« [Füssel, Kreutzer (1999), S. 13] dem Einfluss des Faust-Stoffes geschuldet ist und auch von Fausts »frommen Eltern« [ibid.] keinerlei besonderen Begabungen überliefert sind. 699 Vgl. GKFA 10.2, 219 und GKFA 10.2, 581.

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fünfzehn war« (GKFA 10.1, 69) zu plagen beginnt, mit seiner Intelligenz in Verbindung bringt. Von den Schulstunden berichtet er : Nach fünfzehn [Minuten, CB], spätestens, hatte ich los, woran der gute Mann mit den Buben noch dreißig kaute […]. [D]as Hauptweh kam nie von Ermüdung durch Mühe, es kam von Überdruß, von Langeweile (GKFA 10.1, 191 f.).

Leverkühns Überdruss, seine Langeweile und »geringschätzige Mühelosigkeit« (GKFA 10.1, 125), seine »Gleichgültigkeit und ironische[] Distanzierung gegen alles und jedes«700 veranlassen Zeitblom zu der Bemerkung, ein Intellekt wie der seines Freundes könne »eine Gefahr für die Bescheidenheit des Herzens bedeute[n] und es gar leicht zur Hoffart verführ[en]« (GKFA 10.1, 54).701 Durch den Begriff der Hoffahrt unterstreicht der Erzähler den Zusammenhang zwischen Leverkühns geistigen Fähigkeiten und dem Teufelspakt, schließlich ist der Teufel selbst »durch Hochmut zu Falle gekommen« (GKFA 10.1, 125), und superbia gilt nicht nur als Wurzel aller anderen Todsünden,702 sondern im Werk Thomas Manns zudem als »die eigentliche Sünde des Künstlers«.703 Eine anerkennende Äußerung des Teufels führt die Aspekte der Begabung, der Hoffahrt und der sich daraus ergebende Disposition zum Teufelspakt zusammen: »Von früh an hatten wir ein Auge auf dich, auf deinen geschwinden, hoffärtigen Kopf, dein trefflich ingenium und memoriam« (GKFA 10.1, 362). Schon Kahler hat diese Attribute im Sinne der Faust-Tradition gedeutet: Adrian hat sein Faustisches schon konstitutionell mitbekommen. Der Dämon sitzt in ihm von Geburt als ›Hauptwee‹, als enorme, allen Lernstoff spielend überholende

700 Hoffmann (1974), S. 142. 701 Um diesen Standpunkt zu untermauern, ›zitiert‹ Zeitblom ausführlich die »Handschlagrede« (GKFA 10.1, 126) des Dr. Stoientin, die genau diese Mahnung zur Demut beinhaltet. – Klugkist führt auch den Charakterzug der Hoffart auf direkte Vererbung zurück und macht damit bereits Jonathan Leverkühn zur Faustgestalt: »Jonathan Leverkühn ist geprägt […] von der Superbia Fausts und gibt diese Prägung zu ihrer vollständigen Ausbildung auch weiter an seinen Sohn« [Klugkist (2000), S. 134]; vgl. Gabriele von Bassermann-Jordan: Fausts ›Attritio‹, Luthers ›Contritio‹ und Leverkühns ›stolze Zerknirschung‹. Zur Gnadenthematik in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 413 – 437, hier : S. 422. 702 Vgl. Tob. 4, 14: »Hoffart lass weder in deinem Herzen noch in deinen Worten herrschen, denn damit hat alles Verderben seinen Anfang genommen.« Die mittelalterliche Lehrmeinung zu diesem Thema formuliert Petrus Lombardus unter Verweis auf Gregor den Großen: »Superbia radix cuncti mali, et initium omnis peccati« [Sententiae II, 42, 7; vgl. Petrus Lombardus: Sententiae in IV Libris Distinctae, Spicilegium Bonaventurianum, Gottaferrata (Romae) 1971, S. 571]; vgl. außerdem Hans Rudolf Vaget: Amazing Grace. Thomas Mann, Adorno, and the Faust Myth, in: Grimm, Reinhold; Hermand, Jost (Hrsg): Our Faust? Roots and Ramifications of a Modern German Myth, Madison 1987, S. 168 – 189, hier : S. 171. 703 Eckhard Heftrich: Vom Verfall zur Apokalypse, Frankfurt am Main 1982, S. 205.

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Intelligenz, darausfolgend [sic!] als Stachel der Langeweile und Herausforderung des immer Höheren, ironische Transzendenz, Lachlust, traurig-blasierte Kälte.704

Kahlers Interpretation erweist sich in einem zentralen Punkt als ungenau: Er verkennt, dass es, wie im Falle der Umdeutung des ›Hauptwees‹ zum dämonischen Attribut, erneut Zeitblom ist, der das Schlagwort der ›Hoffart‹ ins Spiel bringt und Leverkühns geistige Fähigkeiten so zu Vorbedingungen des Teufelspakts macht. Obwohl der Komponist zweifellos intelligent, hochmütig, kalt und ironisch ist sowie einen Hang zur Melancholie hat,705 werden die ›dämonischen‹ Implikationen dieser Eigenschaften vom Erzähler gezielt verstärkt, um Adrian als eine Person darzustellen, die auf Grund ihrer physischen und charakterlichen Veranlagung für die »dämonische[] Empfängnis« (GKFA 10.1, 226) und den Teufelspakt prädisponiert und prädestiniert ist. Auch Adrian Leverkühn selbst glaubt an seine charakterliche Prägung, und es ist dieser Glaube, der ihn dazu veranlasst, sein Leben dem Faust-Muster anzugleichen: Denn lange schon bevor ich mit dem giftigen Falter koste, war meine Seel in Hochmut und Stolz zu dem Satan unterwegs gewesen, und stund mein Datum dahin, daß ich nach ihm trachtete von Jugend auf, wie ihr ja wissen müßt, daß der Mensch zur Seligkeit oder zur Höllen geschaffen und vorbestimmt ist, und ich war zur Höllen geboren (GKFA 10.1, 722).

Es ist dabei von großer Bedeutung für den weiteren Verlauf dieser Untersuchung, dass die Frage nach Leverkühns Genie, trotz der engen assoziativen Verbindung mit dem Aspekt des Dämonischen, von diesen Befunden nicht beeinflusst wird. Zwar hat sich gezeigt, dass genau die Eigenschaften, mit deren Hilfe Zeitblom Leverkühns Neigung zum Dämonischen zu begründen sucht, auch den Ermöglichungsgrund seiner Genialität bilden, so dass sein Genie nicht nur auf inhaltlicher, sondern auch auf struktureller und motivischer Ebene mit seiner ›dämonischen Disposition‹ verbunden ist. Doch können diese Charakterzüge – Intelligenz, Hochmut, Kälte, ironische Distanz und Melancholie – im Gegensatz zu ihren ›dämonischen Implikationen‹ als Fakten der erzählten Welt angesehen

704 Erich Kahler: Säkularisierung des Teufels. Thomas Manns ›Faust‹, in: Die Neue Rundschau (1948), S. 185 – 202, hier : S. 199. 705 Kahlers Formulierung von der ›traurig-blasierten Kälte‹ ist eine treffende Beschreibung der Melancholie, zu der Adrian – wie zur Migräne – von Natur aus veranlagt ist. Die Neigung zur Melancholie ist damit nicht die Folge, sondern eine Voraussetzung des Teufelspakts: »Melancholy […] is the spiritual condition of the Faustian figure prior to signing a pact with the devil and is, in fact, necessary to the devil’s purposes. As all writers of the Faustian sense, a happy Faust would not be so receptive to temptation« [Palencia-Roth (1980), S. 366 f.].

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werden, und so besteht zumindest in dieser Hinsicht kein Grund, die Genialität des ›deutschen Tonsetzers‹ grundsätzlich in Frage zu stellen.706

2.2.

Prinzenerziehung

In diesem Teilkapitel wird der ›Bildungsgang‹ Adrian Leverkühns in seinen wichtigsten Stationen nachvollzogen, wobei der Begriff in einem umfassenden Sinn verstanden wird, der nicht nur Schulzeit, Studium und anschließende musikalisch-kompositorische Ausbildung einschließt, sondern auch das »Kanon-Singen mit der Stall-Hanne unter der Linde« (GKFA 10.1, 202), Adrians ›Klavierunterricht‹ mit Wendell Kretzschmar sowie dessen Vorträge »im Saal der ›Gesellschaft für gemeinnützige Thätigkeit‹« (GKFA 10.1, 76). Dabei wird die Frage gestellt, in welchem Maße die Erfahrungen seiner Jugend Adrians Entwicklung beeinflussen, und welche Bedeutung diese Ausbildung für die Entstehung seines Genies hat, um von diesen Befunden auf das Geniekonzept im Doktor Faustus schließen zu können.

2.2.1. Kindheit Das, was Zeitblom später Adrians »Prinzenerziehung« (GKFA 10.1, 110) nennen wird, deutet sich bereits darin an, dass die Brüder Leverkühn nicht »die örtliche Trivialschule« (GKFA 10.1, 53) besuchen, sondern ihre Eltern sie zu Hause unterrichten lassen, um ihnen »eine sorgfältigere Erziehung zuzuwenden, als sie beim Gemeinschaftsunterricht mit den Kätnerkindern von Oberweiler hätten empfangen können« (ibid.). Dabei versetzt die »überlegene Leichtigkeit […], mit der Adrian den Elementar-Schulunterricht« (ibid.) absolviert, sein Umfeld in staunende Begeisterung: Lehrer Michelsen erklärt, »der Junge müsse, ›um Gottes willen‹, auf das Gymnasium und auf die Universität« (GKFA 10.1, 54), und Familie und Freunde sind überzeugt, »daß dieser Sproß am Stamme der Leverkühns zu ›etwas Höherem‹ bestimmt sei und der erste Studierte seines Geschlechtes sein werde« (GKFA 10.1, 53). 706 Obgleich die Deutungen und Schlussfolgerungen des ›unzuverlässigen Erzählers‹ Zeitblom als fragwürdig und potentiell tendenziös angesehen werden, wird in der vorliegenden Arbeit doch die weitgehende Verlässlichkeit seiner mimetischen Sätze angenommen. Die Gefahren eines Ansatzes, der die Grundlagen der erzählten Welt selbst in Frage stellt, demonstriert Weigand, wenn er Zeitblom eine »unerhörte historische Fälschung« [Weigand (1977), S. 479] vorwirft, weil Kaisersaschern eine fiktive Stadt und Otto III. ›in Wirklichkeit‹ im Aachener Dom begraben sei. Ein derart fundamentaler Zweifel macht sinnvolle Aussagen über die fiktionale Welt praktisch unmöglich.

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Leverkühn behandelt die Schule »wegwerfend« (GKFA 10.1, 108) und mit einem Hochmut, der das Ergebnis seiner »überbegabte[n] Lässigkeit« (GKFA 10.1, 70) ist. Es gibt allerdings eine Ausnahme […] an [sic!] der Regel ironischer Geringschätzung, die er den Gaben und Ansprüchen der Schule entgegen[bringt]. Es [ist] sein augenscheinliches Interesse an […] der Mathematik (GKFA 10.1, 71),

die er als »das Wahre« (ibid.) empfindet. Dass es ihm dabei um Grundlegenderes zu tun ist als um die »gute Unterhaltung« (GKFA 10.1, 190), die ihm diese Beschäftigung bereitet, wird deutlich, wenn er das Erkennen mathematischer Gesetzmäßigkeiten als den eigentlichen Kern seines Interesses benennt: »Ordnungsbeziehungen anzuschauen ist doch schließlich das beste. Die Ordnung ist alles« (GKFA 10.1, 72). Die Bedeutung dieser »intellektuellen Leidenschaft für herbe Ordnung« (GKFA 10.1, 260) für Leverkühns Entwicklung als Komponist ergibt sich aus dem engen Zusammenhang von Mathematik und Musik, der durch die Gesetzmäßigkeit »der Windrose der Tonarten, des Quintenzirkels« (GKFA 10.1, 72), hergestellt wird,707 und sie lässt sich ablesen an seiner Reaktion auf den »kindischen Rationalismus« (GKFA 10.1, 104) eines Johann Conrad Beißel.708 Adrians »carving for order«709 trägt zu seiner ironischen Distanz zur Welt bei – denn jede Ordnung »wirkt erkältend« (GKFA 10.1, 104) – und verstärkt damit die ihm eigene Produktionshemmung. Andererseits erkennt der Komponist gerade in der Unterwerfung unter den »selbstbereiteten Ordnungszwang« (GKFA 10.1, 282) des ›strengen Satzes‹ die Möglichkeit, den künstlerischen Ausdruck wiederzugewinnen und produktiv zu werden, so dass seine Vorliebe für ›Ordnung‹ als eine der Eigenschaften seines spezifischen Genies angesehen werden kann. Einen Versuch Zeitbloms, seinem Freund schon im Kindesalter die Eigenschaften nachzuweisen, die den Erwachsenen kennzeichnen, bildet die Dar707 »Mathematics is especially important in Leverkühn’s development as a composer because it is through his experimentation with numerical properties of harmony (e. g. the circle of fifth) that the first inkling of the dodecaphonic system becomes evident« [Grim (1988), S. 75]. 708 Das Motiv der ›Ordnung‹ wird wieder aufgenommen und in seiner Bedeutung umfassend erweitert in der Vorlesung Prof. Nonnenmachers über die »pythagoräische Welterklärung« (GKFA 10.1, 139), dieser Darstellung der »kosmologischen Frühkonzeption eines strengen und frommen Geistes, der seine Grundleidenschaft, die Mathematik, die abstrakte Proportion, die Zahl zum Prinzip der Weltentstehung und des Weltbestehens« (ibid.) erhoben habe. Als Chiffre, in der kosmologische und individuelle Bedeutung der Ordnung zusammenlaufen, fungiert das ›magische Quadrat‹, das unter anderem auch »ein Symbol für Adrians Wesen [ist], das von mathematischer Ordnung und Zahlenmystik beherrscht wird« [Eva Bauer Lucca: Versteckte Spuren. Eine intertextuelle Annäherung an Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, Wiesbaden 2001, S. 137]. 709 Terence James Reed: Thomas Mann. The Uses of Tradition, 2. Aufl., Oxford 1996, S. 572.

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stellung des »Kanon-Singen[s] mit der Stall-Hanne unter der Linde« (GKFA 10.1, 202): [D]ie Dämmerstunden, in denen wir uns daran vergnügten, sind mir darum in bedeutender Erinnerung geblieben – oder vielmehr, die Erinnerung daran hat später eine erhöhte Bedeutung angenommen, weil sie es waren, die, soweit meine Zeugenschaft reicht, meinen Freund zuerst mit einer ›Musik‹ von etwas künstlicherer BewegungsOrganisation in Berührung brachten, als das bloße einhellige Absingen von Liedern sie aufweist (GKFA 10.1, 47).

Bemerkenswert an dieser Aussage ist vor allem der Hinweis auf Zeitbloms erzählerisches Vorgehen: In der Retrospektive haben seine Kindheitserinnerungen ›eine erhöhte Bedeutung angenommen‹, als er ihnen ursprünglich beigemessen hatte.710 Die Absicht, die der Erzähler mit diesem Vorgehen verfolgt, wird deutlich, wenn er von dem Verhalten des jungen Adrian berichtet: Die Mehrstimmigkeit der Kanons, so führt er aus, bilde ein Gefüge, dessen Stimmigkeit wir uns gefallen ließen, ohne ihrer Natur und Ursache weiter nachzufragen. Auch der acht- oder neunjährige Adrian tat das wohl nicht. Oder wollte das kurze, mehr spöttische als erstaunte Auflachen, das er vernehmen ließ […], und das ich auch später so gut an ihm kannte, – wollte es besagen, daß er die Machart dieser Liedchen durchschaute […]?(GKFA 10.1, 48).

Mit seiner rhetorischen Frage impliziert Zeitblom, der ›acht- oder neunjährige Adrian‹ habe die sequenzielle Struktur der Melodie durchschaut, und der Hinweis auf das ›kurze, mehr spöttische als erstaunte Auflachen‹ stellt eine deutliche Verbindung zum erwachsenen Adrian Leverkühn her : Wenn ich aber an jenes Auflachen Adrians zurückdenke, so finde ich nachträglich, daß es etwas von Wissen und moquanter Eingeweihtheit hatte. Es ist ihm immer geblieben, oft habe ich es später von ihm vernommen […]. Damals paßte es noch gar nicht zu seinen Jahren, war aber schon ganz dasselbe wie bei dem Erwachsenen (GKFA 10.1, 49).

Durch den Bericht vom kindlichen Kanon-Singen wird nicht nur eine Kontinuität zwischen dem Kind und dem Erwachsenen postuliert, indem der »Blick des Initiierten« (GKFA 10.1, 188), den Kretzschmar später seinem Schüler attestiert,711 schon dem neunjährigen Adrian zugeschrieben wird; diese Konti-

710 Schon Orłowski weist darauf hin, dass es sich um »eine durch die gegenwärtige Erfahrung und Auffassung von Leverkühn und seinem Leben gelenkte Erinnerung« [Orłowski (1969), S. 80] handele. Zeitblom setzt diesen narrativen Kunstgriff – die Ausnutzung des Wissensvorsprungs des erzählenden gegenüber dem erzählten Ich – verschiedentlich ein, meist jedoch, ohne darauf hinzuweisen. 711 Nach Kretzschmars Worten hat Adrian »auf die Musik den kompositorischen Blick des Initiierten, nicht den der Außenstehenden, vag Genießenden. Seine Art, Motiv-Zusammenhänge aufzudecken […], die Gliederung eines kurzen Abschnitts gleichsam in Frage

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nuität wird verstärkt durch das Motiv des charakteristischen Auflachens, das wie ein verfrüht ausgebildetes Attribut des Erwachsenen wirkt. Zeitblom erweckt damit den Anschein, als seien signifikante Charakterzüge des Erwachsenen in dem Kind bereits vorgeprägt;712 er inszeniert Adrian Leverkühn als ›Wunderkind‹ und seine Reaktion auf die Kanons als »Frühsymptome der Genialität.«713

2.2.2. Die Vorträge Wendell Kretzschmars Die nächste maßgebliche Etappe auf dem Bildungsweg Adrian Leverkühns markieren die Vorträge Wendell Kretzschmars. Zeitblom begründet die Ausführlichkeit ihrer Wiedergabe damit, dass Adrian diese Dinge damals hörte, daß sie seine Intelligenz herausforderten, sich in seinem Gemüte niederschlugen und seiner Phantasie einen Stoff boten, den man Nahrung nennen mag (GKFA 10.1, 106 f.).

Kretzschmars Vorträge erscheinen dem Erzähler als ein »unentbehrliches Mittel« (GKFA 10.1, 107), dem Leser Leverkühns Entwicklung und den »Aufbau [s]einer geistigen Existenz« (ibid.) verständlich zu machen, woraus die Bedeutung des Stotterers erkennbar wird: Kretzschmar’s significance […] extends not only to Leverkühn’s choice of career as a composer – it is Kretzschmar who ultimately supplies Adrian with the justification to und Antwort wahrzunehmen, überhaupt zu sehen, von innen zu sehen, wie es gemacht ist« (GKFA 10.1, 188), prädestiniere ihn für die Musik. 712 Diese Darstellung Leverkühns entspricht dem Topos des puer senex, der ein charakteristisches Kennzeichen der Heiligenlegende bildet. Dietrich Assmann verweist auf die Untersuchung Hubert Orłowskis, der zahlreiche Entsprechungen zwischen dem Roman Doktor Faustus und der Struktur der Heiligenvita nachgewiesen hat, unter anderem die Demutsfloskeln, den ›inneren Zwang‹ zum Schreiben, die topische invocatio, das Prinzip des ex pluribus pauca, die schicksalhafte Vorherbestimmung, die Stilisierung der Eltern, das leichte Lernen, die asketischen Neigungen und die Versuchung durch die Welt [vgl. Assmann (1987), S. 89 f.]. Orłowski sieht auch in der erzählerischen Haltung Zeitbloms, der dem »erzählten Geschehen seinen Sinn, seine ordnende Deutung« [Orłowski (1969), S. 84] aufzwinge, ein Merkmal hagiographischen Schreibens und kommt zu dem Schluss, dass »der Faustusroman in weit eigentlicherem Sinne auf der Struktur der Heiligenlegende basier[e], als der substantiell der Legende näherstehende Gregorius-Roman […]. Zeitblom kreier[e] eine Legende, doch es [sei] die eines modernen Heiligen, eines Genius« [ibid., S. 162 f.]. – Die Stellung des Genies als des ›modernen Heiligen‹ verweist auf die GenieReligion, und Allen weist darauf hin, dass »the life of Faustus […] the inversion of the life of Christ« [Allen (1985), S. 90] darstelle. Zum Konzept der Faust-Figur als eines ›Anti-Heiligen‹ vgl. Andr¤ Jolles: Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Studienausgabe der 5., unveränd. Aufl., Tübingen 1974, S. 51 – 55. 713 Manfred Dierks: Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ unter dem Aspekt der neuen Narzißmustheorien, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 2 (1989), S. 20 – 40, hier : S. 22.

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abandon theological studies and return to music – but also to the course that Adrian’s musical career will follow.714

Im Folgenden soll anhand ausgewählter Aspekte die Bedeutung der Vorträge für den weiteren Lebensweg Leverkühns dargestellt und damit die These gestützt werden, seine späteren Handlungen und Entscheidungen seien in hohem Maße von den behandelten Gegenständen und den Überlegungen beeinflusst, die Kretzschmars Ausführungen in ihm auslösen. So regt ihn der Vortrag über »Beethoven und die Fuge« (GKFA 10.1, 90) zu der kulturgeschichtlichen Diagnose an, die Trennung der Kunst vom liturgischen Ganzen, ihre Befreiung und Erhöhung ins Einsam-Persönliche und Kulturell-Selbstzweckhafte [habe] sie mit einer bezuglosen Feierlichkeit, einem absoluten Ernst, einem Leidenspathos belastet […], das […] nicht ihr bleibendes Schicksal, ihre immerwährende Seelenverfassung zu sein brauche (GKFA 10.1, 91).

Adrians phantastische Spekulation von der »wahrscheinlich bevorstehenden Wiederzurückführung« (ibid.) der Kunst auf eine Rolle »im Dienste eines höheren Verbandes« (ibid.) enthüllt sich später als die Keimzelle für eines der zentralen Konzepte Leverkühn’schen Kunstverständnisses: Seine Vision von einer Kunst im Dienste des ›Volkes‹, einer »Kunst ohne Leiden, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig-zutraulich, eine[r] Kunst mit der Menschheit auf Du und Du« (GKFA 10.1, 469). Leverkühns großes Ziel, »die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals« (GKFA 10.1, 723) zu nehmen und zum »Erlöser der Kunst« (GKFA 10.1, 468) zu werden, ist in dieser ersten vagen Idee bereits angelegt: Die erneute Einbindung der Kunst in ein gesellschaftliches Ganzes, die Zurücknahme ihrer Autonomie steht als Aufgabe und Problem von vornherein über den Kompositionsversuchen Leverkühns.715

Von noch größerer Bedeutung ist Kretzschmars Vortrag über das »Elementare in der Musik« (GKFA 10.1, 95), in dem er Johann Conrad Beißels Kompositionsmethode der Herren- und Dienertöne erläutert:

714 Grim (1988), S. 77. – Wegen seiner Bedeutung für Leverkühns Entwicklung und wegen der Rolle, die er bei dessen Entscheidung spielt, sich von der Theologie ab- und der Musik zuzuwenden (vgl. GKFA 10.1, 198 – 201), wird Kretzschmar in der Sekundärliteratur nicht selten als Teufelsfigur angesehen, als ein »›Mentor und Cicerone‹ […], der den Reigen der Führer in die Unterwelt […] eröffne[]« [Klugkist (2000), S. 152]; vgl. Hans J. Elma: Thomas Mann, Dürer und ›Doktor Faustus‹, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Thomas Mann, Darmstadt 1975, S. 320 – 350, hier : S. 335. 715 Angelika Corbineau-Hoffmann: Umkehrungen. Beethoven, Leverkühn und Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Arcadia 30 (1995), S. 225 – 247, hier : S. 239.

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Er dekretierte, das ›Herren‹ und ›Diener‹ sein sollten in jeder Tonleiter. Indem er den Dreiklang als das melodische Zentrum jeder gegebenen Tonart anzusehen beschloß, ernannte er die zu diesem Akkord gehörigen Töne zu Meistern, die übrigen Töne der Leiter aber zu Dienern. Die Silben eines Textes nun, auf denen ein Akzent lag, hatten jeweils durch einen Meister, die unbetonten durch einen Diener dargestellt zu werden (GKFA 10.1, 100).

Leverkühns hochgradige Empfänglichkeit für diese »naiv-gewalttätige Musiktheorie«716 hat ihren Grund in seiner Neigung zur Ordnung; was ihn darin anspricht, ist »das System überhaupt, der Ordnungssinn an sich«.717 Zu Zeitblom sagt er : [L]aß mir den Kauz in Frieden, ich habe was für ihn übrig. Wenigstens hatte er Ordnungssinn, und sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser als gar keine (GKFA 10.1, 104).

Leverkühn selbst weist darauf hin, dass Beißels Kompositionslehre »das Urmodell für das […] Musiksystem«718 des ›strengen Satzes‹ bilde, und er bezieht sich bei dessen Erläuterung ausdrücklich auf den »wunderlichen Neubeginner und Gesetzgeber der Musik« (GKFA 10.1, 276): An dessen »tyrannische[r] Kinderei« (ibid.) gefalle ihm der Wille, »irgend etwas wie einen strengen Satz zu konstituieren« (ibid.), und als er Zeitblom die Notwendigkeit eines solchen ›strengen Satzes‹ erläutert, fasst er sich selbst als modernen Nachfolger Beißels auf: Auf anderer, weniger kindlicher Ebene hätten wir seinesgleichen heute so nötig, wie seine Schäfchen damals ihn nötig hatten, – einen Systemherrn brauchten wir, einen Schulmeister des Objektiven (ibid.).

Auch Zeitblom betont die Bedeutung von Kretzschmars Beißel-Vortrag für das Schaffen seines Freundes, das »von frühen Einprägungen« (GKFA 10.1, 663) bestimmt sei, die »in der Seele fortwirk[t]en und ihren unterschwellig bestimmenden Einfluß« (GKFA 10.1, 546) ausübten. In seinen Erläuterungen zu den rund 20 Jahre nach Kretzschmars Vortrag719 komponierten Apokalipsis cum figuris bezieht er sich ausdrücklich auf »die Geschichte jenes Johann Conrad Beißel« (ibid.): 716 Jn Albrecht: Leverkühn oder die Musik als Schicksal, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 375 – 388, hier : S. 380. 717 Ibid., vgl. Pütz (1997), S. 99. 718 Albrecht (1971), S. 380. 719 Als Zeitblom Adrian beim Experimentieren am Harmonium ertappt, ist dieser »im Fünfzehnten« (GKFA 10.1, 72), also vierzehn Jahre alt, was auf das Jahr 1899 schließen lässt; wenig später beginnt der Klavierunterricht. Die Vorträge lassen sich zeitlich nicht präzise verorten, dürften aber eher vor als nach diesem Zeitpunkt liegen. Die Schaffensperiode, während derer die Apokalipsis entstehen, beginnt »im Frühjahr 1919« (GKFA 10.1, 511).

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Eine Welt liegt zwischen seiner naiv beherzten Pädagogik und dem bis an die Grenzen musikalischer Gelehrsamkeit, Technik, Geistigkeit vorgetriebenen Werke Leverkühns. Und doch geht […] der Geist des Erfinders der ›Herren- und Dienertöne‹ […] gespenstisch darin um (ibid.).720

2.2.3. Musikalische Ausbildung Im Vergleich zu dem Ausmaß, in dem Kretzschmars Vorträge »den Weg des jungen Genies […] mitbestimmen« (GKFA 10.2, 71), tritt Leverkühns regelrechte Ausbildung durch den Organisten beinahe in den Hintergrund. Dennoch verdeutlicht bereits ein summarischer Überblick, dass der Stotterer seinem Schüler auf eine zwar eigenwillige, aber wirksame Weise umfassende Kenntnisse und Fertigkeiten vermittelt. Leverkühns musikalische Ausbildung beginnt mit dem ›Klavierunterricht‹ in Kaisersaschern und vollendet sich während seines Aufenthalts in Leipzig, unterbrochen von der »zweijährige[n] theologische[n] Episode« (GKFA 10.1, 219) in Halle. Während der Kaisersascherner Jahre liegt Kretzschmars Hauptaugenmerk auf der Wissensvermittlung; sein Ziel ist Leverkühns ›Bildung‹ in einem so umfassenden Verständnis, dass diese Episode beinahe wie eine Referenz an den emphatischen Erziehungsanspruch des Bildungsromans wirkt: Die »Sturzwelle musikalischen Erlebens« (GKFA 10.1, 114), die unter Kretzschmars Anleitung über Adrian hereinbricht, hat zur Folge, dass »seine Kenntnis der musikalischen Welt-Literatur sich rapide erweitert[]« (GKFA 10.1, 113), und er mit großer Schnelle, ja fast überstürzter und überlasteter Weise, einen zwar inkohärenten, im einzelnen aber intensiven Überblick über die vorklassische, klassische, romantische und spätromantisch-moderne Produktion (ibid.)

gewinnt. Sein Lehrer erläutert ihm »an Werken von Clementi, Mozart und Haydn den Bau der Sonate« (GKFA 10.1, 114) und spielt ihm am Klavier Stücke von Brahms und Bruckner, Schubert, Robert Schumann […], dazwischen solche von Tschaikowsky, Borodin und Rimskij-Korssakow [sic!], von Anton Dvorˇk, Berlioz, C¤sar Franck und Chabrier (GKFA 10.1, 114 f.).

Da Wendell Kretzschmar aber der Überzeugung ist, auch die Musik sei, »wenn sie einseitig und ohne Zusammenhang mit anderen Gebieten der Form, des Gedankens und der Bildung betrieben« (GKFA 10.1, 109) werde, nichts als »ein 720 Angesichts der ausgesprochen kritischen Einstellung Zeitbloms Äußerungen gegenüber, die eine der Arbeitsmaximen dieser Untersuchung bildet, mag es verwundern, dass seine Aussagen an dieser Stelle scheinbar ohne weiteres zur Argumentation herangezogen werden. Dies ist der Fall, weil sie mit den übrigen Textbefunden übereinstimmen und in den zitierten Passagen keine Hinweise auf bewusste Rezeptionslenkung von Seiten des Erzählers auszumachen sind.

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menschlich verkümmernder Spezialismus« (ibid.), führt er Leverkühn außerdem in »die Reiche der Weltliteratur« (GKFA 10.1, 108) ein.721 Angesichts dieser Vielfalt ist Zeitbloms Charakterisierung durchaus treffend, Leverkühns Unterricht habe »etwas von Prinzenerziehung« (GKFA 10.1, 110). Seine musikalische Ausbildung umfasst »die Musik der Welt insgesamt […], und zugleich die Musik in allen ihren neuzeitlichen Epochen, von der Renaissance bis eben zu den Spätausläufern der Romantik.«722 Durch Wendell Kretzschmar gewinnt »dieser von Gescheitheit vibrierende Jüngling« (ibid.) einen Überblick über die Geschichte der europäischen Musik, und in seinem späteren Leben wird er versuchen, diese Geschichte in seinen Werken zusammenzufassen, an ihr Ende zu führen und über dieses Ende hinaus zu transzendieren. Obgleich Kretzschmar sich während dieser ersten Etappe der Ausbildung vorwiegend auf die Vermittlung musikhistorischen Faktenwissens konzentriert, legt er bereits die Grundlagen zur Ausbildung von Leverkühns kompositorischen Fähigkeiten. Er führt Adrian in die Grundlagen der Harmonik ein, lässt ihn »Choral-Themen so harmonisier[en], daß das Thema in die Mitte der Akkorde zu liegen« (GKFA 10.1, 113) kommt, und beauftragt ihn »mit der Orchestrierung kurzer klassischer Musikstücke, einzelner Klaviersätze von Schubert und Beethoven […], auch mit der Instrumentierung der Klavierbegleitung von Liedern« (GKFA 10.1, 116) – mit erstaunlichen Resultaten: Eines Tages brachte der Anfänger in bloßer Harmonielehre Kretzschmarn […] die auf eigene Hand gemachte Entdeckung des doppelten Kontrapunkts. Will sagen: er gab ihm zwei simultane Stimmen zu lesen, von denen jede sowohl Ober- wie Unterstimme sein konnte und die also vertauschbar waren (GKFA 10.1, 111).

In dieser Entdeckung deutet sich nicht nur das Potential des musikalischen Novizen an, sondern auch seine Vorliebe für den Kontrapunkt, also für das Element der Ordnung in der Musik. Auch als er es in Leipzig »vornehmlich theoretisch treib[t] […], mit Büchern und Schreibzeug, die Harmoniam und den punctum contra punctum«, ist seine Vorliebe für die »produktive, Phantasie und Erfindung aufrufende Arbeit« auf dem »Zauberfelde« der Polyphonie unverkennbar, während »das Dominospiel mit den Akkorden ohne Thema« ihm »viel Gähnens« bereitet (alle GKFA 10.1, 206). Die zweite Etappe der Ausbildung widmet sich dem musikalischen Hand721 Adrians literarisches Curriculum umfasst »die ungeheuren Gebreite des russischen, englischen, französischen Romans«, die »Lyrik von Shelley und Keats, Hölderlin und Novalis« sowie Werke von »Manzoni und Goethe, Schopenhauer und Meister Ekkehart« (alle GKFA 10.1, 108). 722 Ruprecht Wimmer : Form contra Tod. Thomas Manns und Adrian Leverkühns Credo, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt am Main 2004, S. 133 – 148, hier : S. 142.

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werk, »dem Felde des Überlieferbaren, […] der Satztechnik, der Formenlehre, der Orchestrierung« (GKFA 10.1, 219), und obgleich Leverkühn von seinem Lehrer nach seinen »musikalischen Instinkten und Willensmeinungen im Grunde schon recht weit« (ibid.) entfernt ist, stimmt er mit ihm darin überein, »daß man Errungenes beherrschen müsse, auch wenn man es nicht mehr für wesentlich erachte« (GKFA 10.1, 220). Er erkennt damit an, dass handwerkliche Überlieferung und künstlerische Konvention »das tragende Gerüst, die ermöglichende Festigkeitssubstanz auch des genialen Kunstwerks« (GKFA 10.1, 195) bilden – eine Position, die in fundamentalem Gegensatz steht zu den Überzeugungen der Genieästhetik des Sturm und Drang mit ihrer prinzipiellen Geringschätzung aller vorgegebenen ›Regeln‹. Vor diesem Hintergrund gewinnt Leverkühns »musikalische Erziehung« (GKFA 10.1, 597) durch Kretzschmar eine eminente Bedeutung für die Frage nach dem Geniekonzept im Doktor Faustus: Weit entfernt davon, als hinderlich für die freie Entfaltung der Kreativität oder als ›Krücke‹723 für die weniger Begabten angesehen zu werden, stellt die Kenntnis des historisch Überlieferten sowie die Beherrschung der traditionellen handwerklichen Fertigkeiten eine unabdingbare Voraussetzung für die Schaffung ›genialer‹ Kunstwerke dar. Als Zeitblom gegen die Idee des ›strengen Satzes‹ einwendet, »das unveränderte Abspielen eine Intervallreihe« (GKFA 10.1, 280) müsse recht monoton klingen, bezieht sich Leverkühn mit seiner Erwiderung explizit auf seine erworbenen Kenntnisse: Man müßte alle Techniken der Variation, auch die als künstlich verschrieenen, ins System aufnehmen […]. Ich frage mich, wozu ich so lange unter Kretzschmar die alten kontrapunktischen Praktiken geübt […] habe. Nun also, alldas wäre zur sinnreichen Modifizierung des Zwölftönewortes nutzbar zu machen (GKFA 10.1, 280 f.).724

Ohne seine umfassende musikalisch-kompositorische Ausbildung wäre Leverkühn weder zur Entwicklung des ›strengen Satzes‹ noch zur Kreation der einzelnen Werke fähig. Sie gehört zu den Bedingungen, die die Entfaltung seines Genies überhaupt erst ermöglichen. Und obgleich diese Position im Gegensatz zur Genieästhetik des Sturm und Drang steht, ist sie in der Geschichte des Geniebegriffs nicht ohne Vorbild. In der Nachfolge Scaligers, Shaftesburys und Addisons unterscheidet Edward Young in seinen Conjectures on Original Composition zwei verschiedenen Typen des Genies: 723 »For rules, like crutches, are a needful aid to the lame, tho’ an impediment to the strong« [Morley (1979), S. 13 f.]. 724 Streng genommen handelt es sich bei allen scheinbar unmittelbaren Äußerungen Leverkühns um Erinnerungen Zeitbloms, die er, im zeitlichen Abstand von Jahrzehnten, als quasi-realistische Zitate formuliert. Allerdings hat der Interpret kaum eine andere Wahl, als dieser Äußerungen als glaubwürdig anzusehen, so lange der Text nichts anderes nahe legt.

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Of genius, there are two species, an earlier, and a later; or call them infantine, and adult. An adult genius comes out of nature’s hand […] at full growth, and mature […]. On the contrary, […] an infantine genius […], like other infants, must be nursed, and educated, or it will come to nought.725

In Youngs Kategorien ausgedrückt, repräsentiert Leverkühn den Typus des ›infantine genius‹, »which stands in need of learning to make it shine«.726 Der entscheidende Unterschied besteht in der Bewertung: Während für Young die Inferiorität dieses Genie-Typus außer Frage steht, ist Zeitblom ebenso vollständig von der Größe seines Freundes überzeugt, und die Tatsache, dass er seine Fähigkeiten ›nur‹ auf der Grundlage einer Ausbildung entfalten kann, mindert seine Bewunderung nicht. 2.2.4. Theologisches Intermezzo In seinen »Hallenser Studienjahre[n]« (GKFA 10.1, 164) wird Leverkühn maßgeblich von den beiden Theologie-Dozenten Kumpf und Schleppfuß geprägt, wobei der Einfluss Ehrenfried Kumpfs vor allem persönlicher Art ist. Der »Luther scholar«727 teilt mit seinem Vorbild nicht nur physische Attribute (vgl. GKFA 10.1, 141 f.) und die sprichwörtliche sprachliche Grobheit (vgl. GKFA 10.1, 142 f.), Zeitblom erklärt ihn überdies zu einem »massive[n] Nationalist[en] lutherischer Prägung« (GKFA 10.1, 143) und weist darauf hin, dass er mit seinen »vielseitigen Expektorationen, die Gott und Welt, Kirche, Politik, Universität und sogar Kunst und Theater betr[ä]fen, […] unverkennbar Luthers Tischreden nachahm[e]« (GKFA 10.1, 145). Ihren Höhepunkt findet die Luther-imitatio Kumpfs, als er in einem spontanen »Teufelsgefecht« (GKFA 10.1, 146) in Ermangelung eines Tintenfasses mit einer Semmel nach dem Teufel wirft. Leverkühns Lachanfall im Anschluss an diese Episode deutet darauf hin, dass sie einen nachhaltigen Eindruck auf ihn gemacht hat: In Kumpf hat Adrian […] zum ersten Mal einen Menschen getroffen, der […] ganz und gar in der Nachfolge eines Vorbildes lebt. Zwar ist Kumpf eine parodische Figur, doch ist Adrian unheimlich von dessen dämonischer Idee berührt.728 725 Morley (1979), S. 15. Zu Youngs Conjectures und ihrer Bedeutung für die Entwicklung des Geniebegriffs vgl. das Kapitel zur Eigengesetzlichkeit genialer Existenz, oben S. 37 – 49. 726 Ibid. Den Standpunkt des Goethischen Faust, der noch wünschte, sich »von allem Wissensqualm entladen« [Faust I, V. 396] zu können, kann sein modernes Pendant nicht mehr einnehmen. Das war auch schon dem aus der modernen, an Nietzsche geschulten Perspektive gezeichneten Goethe in Lotte in Weimar nicht mehr möglich gewesen. 727 Allen (1985), S. 100. 728 Nielsen (1965), S. 141. Auf die Verbindung zwischen dem Lachen Adrians und dem Element des Dämonischen weist Thomas Mann bereits in der Entstehung hin (vgl. GKFA 19.1, 459 f.), und auch die Forschung ist auf diesen Zusammenhang wiederholt eingegangen. Werner Röcke stellt fest: »Adrian Leverkühns Lachen ist teuflischer Herkunft. Es ist ein

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Die Annahme erscheint plausibel, dass Adrian erst durch das Beispiel Kumpfs auf »the parallel between himself and Faustus«729 aufmerksam werde, und »the idea of imitation suggests itself«.730 Angesichts der Bedeutung, die Leverkühns Faust-imitatio im Roman zukommt, ist die Bedeutung dieses Zusammentreffens evident. Im Gegensatz dazu ist der Einfluss Eberhard Schleppfuß’ intellektueller Art. Seine Ausführungen zur »Religionspsychologie« (GKFA 10.1, 147) sowie zu den religiös-dämonischen Implikationen des »Seelenleben[s] der klassischen Epoche religiöser Daseinsdurchwaltung«(GKFA 10.1, 148) sind von »intrigrierende[r] Zweideutigkeit« (GKFA 10.1, 146).731 Die Figur des diabolischen Dozenten hat im Roman offenbar die Funktion, die »Realität der Magie, des dämonischen Einflusses und der Verhexung […] dem Bereich des sogenannten Aberglaubens« (GKFA 10.1, 163) zu entreißen und den Gedanken, dass die Welt »zum Teil dämonischen Einflüssen« (GKFA 10.1, 154) unterworfen sei, in die fiktionale Realität einzuführen.732 Nach dem Tode Echos zeigt sich, dass diese »dämonische Welt- und Gottesauffassung« (GKFA 10.1, 147) eine lang andauernde und nachhaltige Wirkung auf Adrian Leverkühn hat. Er ergeht sich in heftigen Selbstanklagen, deren direkter Bezug auf das ›exklusive‹ Kolleg des Dozenten Schleppfuß sich in seiner Wortwahl ausdrückt:

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Lachen der Überlegenheit und des Hochmuts, aber auch ein Lachen der sozialen Kälte und Isolation, der Abkehr von jeder Form menschlicher Gemeinschaft und der Exklusion« [Werner Röcke: Teufelsgelächter. Inszenierung des Bösen und des Lachens in der ›Historia von D. Johann Fausten‹ (1587) und in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Brittnacher, Hans Richard; Janz, Rolf-Peter (Hrsg): Der schöne Schein der Kunst und seine Schatten. Festschrift für Rolf Peter Janz zum 60. Geburtstag, Bielefeld 2000, S. 345 – 365, hier : S. 363]. Einen Interessanten Ansatz verfolgt Mark Roche, der Adrians Lachen als Zeichen der intellektuellen Ungebundenheit im Sinne Nietzsches versteht, die die Perspektivität jedes Standpunktes durchschaue und sich deshalb an keinen gebunden fühle. Obwohl Roche diese Verbindung nicht herstellt, rückt seine Deutung Leverkühn in die Nähe des fiktionalen Goethe und seines nihilistischen Blicks »der absoluten Kunst« (GKFA 9.1, 89): »Leverkühn’s laughter, along with his haughtiness and coldness – which together convey his aesthetic-ironic attitude toward individual moments of affirmation – are also associated with the Satanic« [Mark W. Roche: Laughter and Truth in ›Doktor Faustus‹. Nitzschean Structures in Mann’s Novel of Self-cancellations, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 60 (1986), S. 309 – 322, hier: S. 318]. Wimmer charakterisiert Leverkühns Lachen als ein »verzerrtes Erbe Nietzsches« (GKFA 10.2, 199). Allen (1985), S. 100 f. Ibid., S. 101. Die Bedeutung dieses geheimnisvoll auftauchenden und wieder verschwindenden Dozenten wird noch dadurch unterstrichen, dass er als »erste[] wirkliche[] Teufelsfigur des Romans« (GKFA 10.2, 30) erscheint: Nicht nur beschreibt Leverkühn den verhängnisvollen Leipziger Fremdenführer als »Gose-Schleppfuß« (GKFA 10.1, 209), auch der Teufel nimmt bei einer »Metamorphose ins Altvertraute« (GKFA 10.1, 356) seine Gestalt an. Die Ansicht Schwöbels, es sei »die vorrangige Funktion der ›Religionspsychologie‹ von Schleppfuß […,] die Verbindung zwischen dem Dämonischen und dem Sexuellen« [Schwöbel (1997), S. 170] zu etablieren, scheint vor diesem Hintergrund zu kurz gegriffen.

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Welche Schuld, welche Sünde, welch ein Verbrechen […], daß ich meine Augen an ihm weidete! Du mußt wissen, Kinder sind aus zartem Stoff, sie sind gar leicht für giftige Einflüsse empfänglich … (GKFA 10.1, 691 f.)733

Dass es dem Religionspsychologen Schleppfuß gelingt, den Gedanken dämonischer Beeinflussung als Möglichkeit plausibel erscheinen zu lassen, indem er ihn auf eine pseudo-wissenschaftliche Grundlage stellt, demonstriert auch Serenus Zeitblom, der nicht ansteht, die Theologie in toto zum ›dämonischen Bereich‹ zu erklären: »[D]ie Theologie, in Verbindung gebracht mit dem Geist der Lebensphilosophie, dem Irrationalismus, läuft ihrer Natur nach Gefahr, zur Dämonologie zu werden« (GKFA 10.1, 135). Nur unter dieser gedanklichen Voraussetzung ist es ihm möglich, Leverkühns sexuelle Vereinigung mit Hetaera Esmeralda als ›Verschreibung‹ zum Teufelspakt und den ›deutschen Tonsetzer‹ als Faust-Figur aufzufassen.

3.

Die drohende Sterilität der Kunst

Zur Beantwortung der Frage, wie unter den Bedingungen der Moderne kreatives Schaffen möglich ist, gilt es die Lage der Kunst734 zu analysieren, wie Adrian Leverkühn sie diagnostiziert, da sein Genie – und damit die Geniekonzeption im Doktor Faustus – nur vor diesem Hintergrund sinnvoll analysiert werden kann. Von zentraler Bedeutung ist dabei das Problem der drohenden künstlerischen Sterilität, das zwei Aspekte in sich vereint: (1) die »Ausdehnung des Gebiets des Banalen«,735 im Text dargestellt als das Ergebnis eines irreversiblen geschichtlichen Prozesses, und (2) Adrians von Intellektualität und Kälte charakterisierte 733 Die korrespondierenden Ausführungen des Religionspsychologen lauten: »Sträfliche Inhumanität wäre es gewesen, zu leugnen, daß eine unreine Seele durch den bloßen Blick, sei es willentlich oder auch unwillkürlich, körperlich schädigende Wirkungen an anderen hervorbringen könne, an kleinen Kindern zumal, deren zarte Substanz für das Gift eines solchen Auges besonders anfällig war« (GKFA 10.1, 163). Krankheit und Tod Nepomuk Schneideweins sind als Folge einer Infektion mit »Cerebrospinal-Menengitis« (GKFA 10.1, 687) auf natürlichem Wege erklärbar ; die schädigende Wirkung Adrian Leverkühns erscheint nur dank Zeitblom’scher Rezeptionslenkung plausibel. Teile der Forschung sind ihr reichlich unkritisch gefolgt, so spricht etwa Lubkoll von dem »infizierten Todesblick Leverkühns« [Christine Lubkoll: »… und wär’s ein Augenblick«. Der Sündenfall des Wissens und der Liebeslust in Faustdichtungen. Von der ›Historia‹ bis zu Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, Rheinfelden 1986, S. 281]. 734 Wenn im vorliegenden Kapitel von ›Kunst‹ statt von ›Musik‹ die Rede ist, Leverkühn außerdem allgemein als ›Künstler‹ bezeichnet wird, so ist diese Verallgemeinerung dadurch gerechtfertigt, dass die Musik »nur Vordergrund und Repräsentation, nur Paradigma [ist] für Allgemeineres, nur Mittel, die Situation der Kunst überhaupt […] in unserer durch und durch kritischen Epoche auszudrücken« (GKFA 19.1, 437 f.); vgl. GKFA 10.1, 467. 735 Brief Thomas Manns an Hermann Broch vom 7. 6. 1944, zitiert nach Mann (1998), S. 25 f.

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Disposition, die als Ursache für die Lähmung seiner produktiven Kräfte aufgefasst wird. Die Übereinstimmung zwischen der individuellen Verfassung des Komponisten und der Situation der Kunst allgemein macht es möglich, Adrian Leverkühn als »Repräsentanten und Märtyrer der Zeit«736 zu inszenieren, in dem »die intellektuelle Hemmung über-persönliche Bedeutung [gewinnt], das Individuelle […] zur Charakteristik der Epoche«737 wird. Im Folgenden wird in mehreren Schritten der Zusammenhang zwischen der »historischen Lage der Kunst« (GKFA 10.1, 266) »am Rande der Unmöglichkeit«738 (GKFA 10.1, 318) und Leverkühns Vision hergestellt, mit Hilfe des »Durchbruch[s] […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls« (GKFA 10.1, 468) zum »Erlöser der Kunst« (ibid.) zu werden.

3.1.

Originalität als Problem

Der Komponist sieht das auslösende Moment für die historische Entwicklung, die zu der weitgehenden Unmöglichkeit musikalischer Produktion in der Moderne führt, in dem Bedeutungszuwachs des technischen Prinzips der Durchführung:739 Ursprünglich nicht mehr als »ein kleiner Teil der Sonate […], eine bescheidene Freistatt subjektiver Beleuchtung und Dynamik« (GKFA 10.1, 278) innerhalb einer nach strengen Regeln organisierten Form, entwickelt sie sich bei Beethoven740 »zum wesentlichsten Teil des Satzes«,741 »zum Zentrum der ge736 Brief Thomas Manns an Arnold Schönberg vom 17. 2. 1948, zitiert ibid., S. 167. 737 Brief Thomas Manns an Enzo Paci vom 12. 8. 1950, zitiert ibid., S. 306. 738 Die Situation Leverkühns korrespondiert in dieser Hinsicht mit derjenigen Goethes in Lotte in Weimar, der seine Existenz als »ein Balance-Kunststück genauer Not […], ein[en] Messertanz von Schwierigkeit und Liebe zur Fazilität, ein Nur-gerade-möglich« (GKFA 9.1, 323) empfindet – mit dem bedeutsamen Unterschied, dass Goethe sein ›Messertanz‹ noch gelingt, während Leverkühn, unter den ungleich schwierigeren Bedingungen der Moderne, an dem Versuch scheitert. 739 Der Begriff ›Durchführung‹ »bedeutet im Allgemeinen die kompositorische Verarbeitung eines musikalischen Grundgedankens, indem dieser im Kern zwar beibehalten wird, seine Substanz aber zu Variationen, Modifikationen und Abspaltungen genutzt wird. Unter diesem Gesichtspunkt bezeichnet man als Durchführung vor allem den Verarbeitungsteil in der Sonatenhauptsatzform« [Thomas Krämer, Manfred Dings (Hrsg): Lexikon Musiktheorie, Wiesbaden 2005, S. 64]. 740 Es ist festzuhalten, dass sämtliche musikgeschichtlichen und kunsttheoretischen Ausführungen sich ausschließlich auf die fiktionale Welt des Romans beziehen und keinen Anspruch erheben, Aussagen etwa über die historische Person Ludwig van Beethovens oder den realen Verlauf der Musikgeschichte zu treffen. Die Argumentation verfährt, was diesen Aspekt betrifft, rein textimmanent, ein Vorgehen, das durch den Gegenstand dieser Untersuchung gerechtfertigt wird. 741 Bergsten (1974), S. 181. Der Kommentar weist darauf hin, dass Zeitblom mit seiner Bemerkung »Du denkst an Beethoven« (GKFA 10.1, 278) »auf Wendell Kretzschmars Beet-

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samten Form, die […] vom Subjektiven absorbiert und in Freiheit neu erzeugt« (ibid.) wird, und »breitet sich über die ganze Sonate aus« (GKFA 10.1, 278 f.).742 Es kommt also bei Beethoven »zu einer Absorption der Form durch die Subjektivität«743 des Künstlers, die damit zum maßgeblichen Kriterium kreativen Schaffens wird. Diese Neuausrichtung entspricht nicht nur einem der grundlegenden Postulate der Genievorstellung des Sturm und Drang, sondern lässt sich auch mit einer der Kategorien beschreiben, die in dieser Arbeit zur Bestimmung des Geniebegriffs verwendet werden: dem Konzept der Authentizität. Um Zeitblom zu verdeutlichen, wie aus subjektivistischer Freiheit und der Ablehnung aller Konventionen »the most difficult convention of all«744 entstehen konnte, führt Leverkühn das Beispiel Brahms an: Bei ihm entäußert sich die Musik aller konventionellen Floskeln, Formeln und Rückstände und erzeugt sozusagen die Einheit des Werks jeden Augenblick neu, aus Freiheit. Aber gerade damit wird die Freiheit zum Prinzip allseitiger Ökonomie, das der Musik nichts Zufälliges läßt und noch die äußerste Mannigfaltigkeit aus identisch festgehaltenen Materialen entwickelt (GKFA 10.1, 279).

Mit der Absolutsetzung der Subjektivität des Künstlers ist aus der Möglichkeit freier künstlerischer Entfaltung eine faktisch unerfüllbare Forderung nach Authentizität geworden, »an intolerable strain, affecting talent like a mildew and leading to artistic sterility.«745 In Leverkühns Deutung der Musikgeschichte treibt Brahms die Tendenz zur Verabsolutierung der Künstlersubjektivität, die sich in Beethovens Werken der »Mittelzeit« (GKFA 10.1, 81) ausspricht, bis zu einem Punkt, an dem »die Freiheit musikalischer Subjektivität sich selber zur Konvention und dem Komponisten zur Last«746 wird. Mit den Konsequenzen dieses Prozesses sehen sich Adrian und die übrigen »Mit-Inauguratoren der neuen Musik« (GKFA 10.1, 348) konfrontiert, und der ›deutsche Tonsetzer‹ macht es sich zur Aufgabe, diesen Zustand der Sterilität zu durchbrechen. Auf diese Weise entsteht der Eindruck einer »common musical evolution extending from Beethoven to Brahms to Leverkühn«,747 die Beethoven zu einem »direkten Vorgänger Adrian Leverkühns«748 macht.

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hoven-Vorträge an[spiele] und Leverkühn […] im Folgenden Kretzschmar’sche Gedanken« (GKFA 10.2, 486) weiterführe. In der Tat wirkt Kretzschmars Beschreibung des »Variationen-Satz[es]« (GKFA 10.1, 83) der Sonate Opus 111 wie eine Illustration zu Leverkühns theoretischen Ausführungen. Vgl. auch Reed (1996), S. 373. Corbineau-Hoffmann (1995), S. 240. Reed (1996), S. 372. Ibid., S. 373. Terence James Reed: Die letzte Zweiheit. Menschen-, Kunst- und Geschichtsverständnis im ›Doktor Faustus‹, in: Hansen, Volkmar (Hrsg): Interpretationen. Thomas Mann. Romane und Erzählungen, Stuttgart 2005, S. 294 – 324, hier: S. 309. Grim (1988), S. 91. Bahr erklärt Leverkühn zum »Zeuge[n] für die Evolution der modernen

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Der Teufel setzt Leverkühn die Folgen der dargestellten Entwicklung für das musikalische Schaffen in der Moderne überzeugend genug auseinander :749 Die Sache fängt damit an, daß euch beileibe nicht das Verfügungsrecht zukommt über alle jemals verwendeten Tonkombinationen […]. Jeder Bessere trägt in sich einen Kanon des Verbotenen, der nachgerade die Mittel der Tonalität, also aller traditionellen Musik umfaßt. Was falsch, was verbrauchtes Clich¤ geworden, der Kanon bestimmt es (GKFA 10.1, 349).

Dieser ›Kanon des Verbotenen‹ ist eine unmittelbare Konsequenz des Anspruchs an den Künstler, »that the substance of his art has to come from within him, must be subjective«,750 authentisch oder, mit einem zentralen Schlagwort der Genieästhetik: originell. Dieses Originalitätspostulat wiederum führt dazu, dass »jedes Werk […] sich seine Mittel, seinen Stil schaffen [muss], und sobald es einmal niedergeschrieben ist, sind die verwendeten Mittel als unikates geschütztes Geistesgut verpönt«:751 Sie stehen nachfolgenden Komponisten nicht mehr zur Verfügung, sondern sind dem ›Kanon des Verbotenen‹ zuzurechnen, der dadurch immer größere Teile des musikalischen Materials umfasst.752 Jedes geschaffene Werk verschärft auf diese Weise die »tödliche Ausdehnung des Bereichs des Banalen« (GKFA 10.1, 222), was für den Künstler nicht ohne Folgen bleibt:

748

749 750 751 752

Kunst im 20. Jahrhundert« [Erhard Bahr : »Identität des Nichtidentischen«. Zur Dialektik der Kunst in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ im Lichte von Theodor W. Adornos ›Ästhetischer Theorie‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 2 (1989), S. 102 – 120, hier : S. 111]. Bergsten (1974), S. 181. Der gegenteilige Standpunkt Corbineau-Hoffmanns, die postuliert, »[d]ie neben Leverkühn wichtigste Komponistenfigur des Doktor Faustus, Ludwig van Beethoven, steh[e] in flagrantem Gegensatz zum Protagonisten des Romans – nicht nur als historisch verbürgte Person, sondern auch als Repräsentanz einer vergangenen Epoche der Musikgeschichte« [Corbineau-Hoffmann (1995), S. 227], vermag demgegenüber nicht zu überzeugen. Selbst wenn Beethoven nicht als musikalischen Vorläufer Leverkühns gelesen würde, wären zahlreiche Parallelen zu konstatieren: Wie Leverkühn kommt Beethoven, »der einsame Fürst eines Geisterreichs« (GKFA 10.1, 81), »aus einem Lande, wo sonst niemand lebt« (GKFA 10.1, 596); beide sind von Krankheit gezeichnet [vgl. Grim (1988), S. 78 – 81]; und beide werden als Postfigurationen Christi inszeniert: Marx bezeichnet Beethoven als einen »Wahlverwandten Adrian Leverkühns« [Marx (2002), S. 269]. Der schwankende Realitätsstatus des Teufels spielt in diesem Argumentationszusammenhang keine Rolle, da Leverkühn die Validität seiner Ausführungen anerkennt: »Ich habe nie gezweifelt, daß ihr mir zu sagen wißt, was ich weiß« (GKFA 10.1, 350). Reed (1996), S. 373. Albrecht (1971), S. 381. »Geschichtlich gesehen ist […] das Streben nach Originalität zum Scheitern verurteilt. Denn unter diesem Aspekt muß jedes neue Werk den Kanon des Abgetanen erweitern und damit den Spielraum der verbleibenden Gestaltungsmöglichkeiten einengen. Die Originalitätsforderung ist ein gegengeschichtliches Postulat, das um so tiefer in verzweifelte Melancholie führt, je weiter der Zivilisationsprozeß fortschreitet« [Schmidt (2004c), S. 277].

Die drohende Sterilität der Kunst

227

Jeden Augenblick verlangt die Technik als ganze von ihm, daß er ihr gerecht werde und die allein richtige Antwort, die sie in jedem Augenblick zuläßt. Es kommt dahin, daß seine Kompositionen nichts mehr als solche Antworten sind, nur noch die Auflösung technischer Vexierbilder (GKFA 10.1, 350).

Die Schaffung eines harmonisch in sich geschlossenen Kunstwerks, die laut Leverkühn schon in vormodernen Zeiten nur scheinbar möglich gewesen ist (vgl. GKFA 10.1, 264), verliert unter diesen Bedingungen jede Legitimität; nicht zuletzt deshalb, weil »die Idee des opus selbst, des in sich ruhenden, objektiven und harmonischen Gebildes überhaupt« (GKFA 10.1, 263) nicht mehr in einer »legitimen Relation steht zu der völligen Unsicherheit, Problematik und Harmonielosigkeit [der] gesellschaftlichen Zustände« (GKFA 10.1, 264):753 »Wegen der historischen Lage der Kunst selbst hegt Leverkühn Skrupel hinsichtlich ihrer Autonomie und bezweifelt die Form als ›Schein und Spiel‹.«754 Der Anschein harmonischer Geschlossenheit ist nicht mehr zulässig, weil »aller Schein, auch der schönste, und gerade der schönste, […] zur Lüge geworden ist« (ibid.) – mit weitreichenden Folgen für die Möglichkeit künstlerischen Schaffens: Das Komponieren selbst ist zu schwer geworden, verzweifelt schwer. Wo Werk sich nicht mehr mit Echtheit verträgt, wie will einer arbeiten? Aber so steht es […], das Meisterwerk, das in sich ruhende Gebilde, gehört der traditionellen Kunst an, die emanzipierte verneint es (GKFA 10.1, 349).

»In the late Romantic era of Leverkühn’s youth, music is expected to express individual feelings in a well-formed work. Leverkühn simply cannot be this sort of composer«.755 Angesichts dieser historischen Entwicklung erscheinen die »prohibitiven Schwierigkeiten des Werks« (GKFA 10.1, 351) und der Komposition als charakteristische Kennzeichen der Moderne und als Konsequenzen »einer Freiheit, die anfängt, sich als Mehltau auf das Talent zu legen und Züge der Sterilität zu zeigen« (GKFA 10.1, 277).

753 Auf die gesellschaftshistorische Dimension verweist auch Pütz: »Zu Zeiten bürgerlichprivaten Wohlergehens mag es dem Schönen genügen, sich selbst zu besingen. Vor einer grauenhaft zerrissenen Wirklichkeit jedoch enthüllt sich die Kunst als Schein, und ihr artistisches Spiel wird zur Lüge« [Pütz (1963), S. 513]. 754 Bahr (1989), S. 111; vgl. GKFA 10.1, 265. 755 Michael Beddow: Analogies of Salvation in Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹, in: London German Studies 3 (1986), S. 117 – 131, hier : S. 118.

228 3.2.

Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

Die Fragwürdigkeit genialen Schaffens

Angesichts dieser Ergebnisse wird deutlich, dass die Kategorien ›Authentizität‹ und ›Originalität‹, die zu den konstituierenden Elementen einer traditionellen Genievorstellung gehören, im Doktor Faustus nicht mehr als Fundament für dieses Konzept dienen können, zumal die Forderung nach Authentizität des künstlerischen Ausdrucks den Prozess, an dessen Ende die »historische Verbrauchtheit und Ausgeschöpftheit der Kunstmittel« (GKFA 10.1, 199) steht, überhaupt erst ausgelöst hat. Analog dazu hat das Originalitätspostulat zu einer solchen »Ausdehnung des Reiches des Banalen« (GKFA 10.1, 265) geführt, dass es »die Kunst überhaupt zu verschlingen« (ibid.) droht: Die »Unmöglichkeit von Originalität als ästhetischer Norm«756 kann geradezu als der zentrale Aspekt des poetologischen Diskurses in Manns Faust-Roman angesehen werden. Ähnlich weitreichende Konsequenzen für den Geniebegriff hat die Verabschiedung der Werk-Idee. Denn obgleich in der Genieästhetik nicht länger die Übereinstimmung mit überlieferten Regeln oder mit der göttlichen Ordnung, sondern der möglichst authentische Ausdruck der Subjektivität des Künstlers zum Maßstab künstlerischen Gelingens erklärt wird,757 bleibt das Werk selbst die unausgesprochene conditio sine qua non künstlerischen Schaffens. Sie wird erst in der Moderne in Frage gestellt,758 in der keine innere oder äußere Ordnung mehr besteht, die in der Lage wäre, die Geschlossenheit eines traditionellen opus zu verbürgen.759 Schon daran, dass mit der Existenz des in sich geschlossenen 756 Vaget (1989), S. 126. 757 Die erste Position wird vertreten von Shaftesbury und Young, die zweite etwa von Goethe in seinem Baukunst-Aufsatz. Wenn der äußere und der innere Kosmos als aufeinander bezogen gedacht werden, lassen sich die beiden scheinbar gegensätzlichen Positionen miteinander verbinden. So führt Heller aus, die Komponisten bis zu Richard Wagner hätten darauf vertraut, dass »sich in ihrer Subjektivität, und sei sie auch noch so radikal, die Gesetzmäßigkeit des Weltganzen spiegel[e], weil sich das Individuum im Stande der prästabilierten Harmonie mit dem Weltganzen« befinde [Erich Heller : ›Doktor Faustus‹ und die Zurücknahme der Neunten Symphonie, in: Bludau, Beatrix (Hrsg): Thomas Mann, 1875 – 1975. Vorträge in München, Zürich, Lübeck, Frankfurt am Main 1977, S. 173 – 188, hier : S. 179]. Die Parallelen zu den Positionen Youngs sind unverkennbar. 758 Zum Konzept des verkannten Genies oder des ›Genies ohne Werk‹ vgl. Zilsel (1972), S. 60 f. sowie Ortland (2000 – 2005), S. 700. 759 McFarland führt auch die in der Forschung wiederholt konstatierte Überfrachtung der Romankonzeption des Doktor Faustus durch die Kombination von Künstler-, Faust-, Epochen- und Deutschlandthematik auf seine historischen Entstehungsbedingungen zurück: »Die Schwäche des Doktor Faustus liegt nicht in erster Linie in dessen Durchführung […]. Vielmehr liegt sein Ungenügen in der Konzeption […]. Die Annahme, daß die Epoche immer noch genug Zusammenhalt besitze, um mit einer literarischen Form kongruent zu gehen, ist die proton pseudos hinter dem Projekt des Faustus« [James McFarland: Theorie eines Romans, Roman einer Theorie. Die Zusammenarbeit von Thomas Mann und Theodor W. Adorno am ›Doktor Faustus‹, in: Hahn, Barbara (Hrsg): Im Nachvollzug des

Die drohende Sterilität der Kunst

229

Werkes eines der Axiome der traditionellen Genieästhetik negiert wird, und die zentralen Kategorien Authentizität und Originalität sich als hochgradig zweifelhaft erweisen, lässt sich ablesen, dass das Geniekonzept in seiner historischen Form nicht ohne weiteres auf Adrian Leverkühn übertragbar ist. Analog zu Goethe in Lotte in Weimar ist es erforderlich, die Vorstellung des Genies den Eigenschaften des ›deutschen Tonsetzers‹ und den Gegebenheiten seiner Welt anzupassen. Auf den ersten Blick mag die Behauptung erstaunen, die Kategorie des Genies sei nicht mehr geeignet, Leverkühns Künstlertum zu beschreiben, schließlich wird der Komponist unablässig mit diesem Attribut belegt. Allerdings ist unverkennbar, dass Serenus Zeitbloms Definitionen dessen, was er als ›Genie‹ ansieht – ein »selten geglückte[s] und gewiß immer prekäre[s] Gleichgewicht von Vitalität und Infirmität« (GKFA 10.1, 421)760 oder aber »eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form der Lebenskraft« (GKFA 10.1, 516) –, schlicht von Adrian Leverkühn abgeleitet sind, der für ihn etwas wie ein paradigmatisches Genie darstellt. Damit aber ist Zeitbloms Bestimmung des Genies zirkulär : Er bezeichnet Adrian als ›Genie‹, während sein Verständnis dieses Konzepts maßgeblich von der Person des Komponisten beeinflusst ist. Vor diesem Hintergrund ist es erforderlich, Zeitbloms Zuschreibung des Genie-Attributs anhand unabhängiger Merkmale zu überprüfen. Adrian Leverkühn selbst vermeidet nicht nur die Wörter »Kunst«, »Künstler« und »Inspiration« (alle GKFA 10.1, 42), sondern auch ›Genie‹ – und wenn er das Wort doch einmal verwendet, hat seine Bedeutung weniger mit traditionellen Genie-Vorstellungen zu tun als mit Nietzsches Kritik an Richard Wagner : Nachdem er in seinem Brief an Kretzschmar voll überlegener Ironie die Mechanismen entlarvt hat, die ein Musikstück kennzeichnen, »wenn es schön ist« (GKFA 10.1, 195 f.), fragt der angehende Komponist: »Kann man mit mehr Genie das Hergebrachte benutzen, die Kniffe weihen? Kann man mit gewiegterem Gefühl das Schöne erzielen?« (GKFA 10.1, 197) Das Wort ›Genie‹ gewinnt hier einen zweideutig-anrüchigen Klang, in dem etwas von Gauklertum und Scharlatanerie mitschwingt, von der bewusst-berechnenden Spekulation auf die Publikumswirkung der Musik.761 Geschriebenseins. Theorie der Literatur nach 1945, Würzburg 2007, S. 61 – 85, hier : S. 64]. proton pseudos bedeutet ›erste Lüge‹ im Sinne der falschen Prämisse eines Syllogismus. 760 Diese Definition erinnert ausgesprochen an diejenige Goethes, der gemutmaßt hatte: »[M]ag sein, Genie ist immer ein Nur-eben-möglich« (GKFA 9.1, 323). 761 Leverkühn bezieht sich in diesem Brief auf »das Vorspiel zum dritten Akt von Richard Wagners Meistersingern« (GKFA 10.2, 395), wodurch dieser fragwürdige Geniebegriff direkt mit Wagner und mit Nietzsches Kritik an dem »Verführer großen Stils« (Nietzsche II, 930) assoziiert wird. Damit aber wird dieser »philosophierende[] Künstler jüngstvergangener Tage« (GKFA 10.1, 96) als musikalischer Antipode Leverkühns etabliert: Im Ge-

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Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

Auch Leverkühn ist den Beschränkungen des Künstlers in der Moderne unterworfen. Er ist kein ›Prometheus‹, der sich durch seine Schöpfung »selbst gewissermaßen zu einem zweiten Gott macht«,762 sondern flüchtet sich statt dessen in die Parodie. Zeitblom charakterisiert das Parodische am Beispiel des Meerleuchtens als die stolze Auskunft vor der Sterilität, mit welcher Skepsis und geistige Schamhaftigkeit, der Sinn für die tödliche Ausdehnung des Bereichs des Banalen eine große Begabung bedroh[]en (GKFA 10.1, 222).

Seine »Kühle, die ›rasch gesättigte Intelligenz‹, der Sinn für das Abgeschmackte, die Ermüdbarkeit, die Neigung zum Überdruß, die Fähigkeit zum Ekel« (GKFA 10.1, 198) erscheinen im Text nicht nur als individuelle Charakterzüge, sondern zugleich als Epochenmerkmale, kennzeichnend für die Situation des Künstlers in der Moderne. Laut Kretzschmars Urteil gehören sie »nur zum Teil der privaten Persönlichkeit« (ibid.) an und sind andererseits als »über-individueller […] Ausdruck […] eines kollektiven Gefühls für die historische Verbrauchtheit und Ausgeschöpftheit der Kunstmittel« (GKFA 10.1, 199) anzusehen. In dieser Sichtweise, die Zeitblom erzählerisch unterstützt, wird Leverkühn als repräsentativ »für einen bestimmten, von Unfruchtbarkeit bedrohten Künstlertyp zur Zeit einer allgemeinen, die Möglichkeit der Kunst überhaupt in Frage stellenden Kulturkrise«763 aufgefasst: So schlägt sich Adrian Leverkühn mit dem persönlichen Problem des Gehemmtseins durch kritischen Intellekt und erschöpfendes Fachwissen herum, das gleichzeitig das allgemeine Problem des modernen Reflexionsstandes ›unserer durch und durch kritischen Epoche‹ (XI, 171) ist.764

Damit sieht sich Leverkühn einem Dilemma gegenüber : Zwar ist sein Künstlertum geprägt von »höchster geistiger Souveränität, bleibt aber auf Reflexion und auf den Ausdruck von Reflexion«765 beschränkt, da es ihm an schöpferischer

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gensatz zu Wagner – und zu Serenus Zeitblom! – liegt Adrian Leverkühn jegliche Bezugnahme auf ein mögliches Publikum vollständig fern. Scaliger (1994), S. 71. – Diese Ausführungen beziehen sich auf die Zeit bevor die syphilitische Infektion ihre Wirkung zeigt. Die Frage, wie Krankheit und/oder Teufelspakt Leverkühns künstlerisches Schaffen beeinflussen, wird Im Kapitel Das Genie in der Moderne ausführlich untersucht. Brief Thomas Manns an J. C. de Buisonj¤ vom 26. 2. 1948, zitiert nach Mann (1998), S. 172. – Nach Wendell Kretzschmars Meinung ist diese Übereinstimmung zwischen Individuum und Allgemeinheit dazu angetan, Adrians »Begabung zur Berufung zu erheben« (GKFA 10.1, 198), und gerade die Eigenschaften, die seinem Schüler zu der Einsicht verhülfen, dass »alle Mittel und Konvenienzen der Kunst heute nur noch zur Parodie taugten« (GKFA 10.1, 197), prädestinierten ihn auch dazu, die drohende Sterilität der Kunst zu überwinden. Reed (2005), S. 308. Das eingebettete Zitat entstammt der Entstehung des Doktor Faustus; vgl. GKFA 19.1, 238. Schmidt (2004c), S. 267.

Die drohende Sterilität der Kunst

231

Unmittelbarkeit fehlt.766 Den einzigen Ausweg aus dieser Zwangslage bildet seine Flucht in die Parodie, von deren »aristokratische[m] Nihilismus« (GKFA 10.1, 353) er aber nach eigenen Worten nicht »viel Glück und Größe« (ibid.) erwartet, da sie das Eingeständnis beinhaltet, dass ihm »kein grundlegend neuer Zugriff mehr gelingt. Parodieren […] ist eine Form bloß intellektuellen Reagierens, kein substantiell neues Agieren – insofern steril.«767 Adrian Leverkühn befindet sich also in der paradoxen Lage, dass gerade das Mittel, mit dem er die Sterilität der Kunst zu durchbrechen hofft – das Spiel »mit Formen […], aus denen […] das Leben geschwunden ist« (ibid.) –, sich ebenfalls durch Sterilität auszeichnet. Einen Ausweg aus dieser künstlerischen Sackgasse, die ihm scheinbar keine Möglichkeit zu unmittelbarer schöpferischer Tätigkeit bietet,768 sieht er in der duodekaphonischen Methode und im Kompositionssystem des ›strengen Satzes‹.769

766 »Die moderne Erkenntnisschärfe durchkreuzt jede dichterische Unmittelbarkeit und läßt die Verbrauchtheit künstlerischer Formen durchblicken« [Pütz (1963), S. 513]. Zu Pütz’ Aussage ist nur anzumerken, dass es angemessener wäre, allgemein von ›künstlerischer Unmittelbarkeit‹ zu sprechen. 767 Schmidt (2004c), S. 267. 768 Es ist kein Zufall, dass die Überwindung dieses ›toten Punktes‹, die Erlangung künstlerischer Eigenständigkeit mit der zweiten Begegnung mit Hetaera Esmeralda, also mit dem Moment der eigentlichen Verschreibung im »Mai 1906« (GKFA 10.1, 224) zusammenfällt. Zeitblom führt aus, Adrian habe das letzte vor der Verschreibung geschaffene Werk, das Meerleuchten, »sein Leben lang […] fast so wenig zu seiner eigentlichen Produktion gerechnet wie die Handgelenklockerungen und Schönschreib-Übungen […] unter Kretzschmars Aufsicht« (GKFA 10.1, 221) – und das, obgleich das Stück bereits »heimlich die Züge der Parodie und der intellektuellen Ironisierung der Kunst überhaupt [aufweise], die sich in Leverkühns späterem Werk so oft auf eine unheimlich-geniale Weise« (GKFA 10.1, 222) hervorgetan hätten. Offensichtlich reicht das Merkmal der ›Parodie‹ allein nicht aus, die Zugehörigkeit eines Stücks zum Œuvre im engeren Sinne zu gewährleisten. Anders bewertet Zeitblom die nach Adrians Rückkehr aus Pressburg komponierten Lieder nach »provenÅalischer und catalonischer Lyrik des 12. und 13. Jahrhunderts« (GKFA 10.1, 235). In ihnen fände sich bereits »ein Laut, eine Haltung, ein Blick […,] an denen man heute den Meister der grotesken Gesichte der Apokalipsis wiedererkenn[e]« (GKFA 10.1, 236). – Zu einer abweichenden Datierung der künstlerischen Eigenständigkeit Leverkühns vgl. Beddow (1994), S. 43. 769 Genau genommen sind in bezug auf Leverkühns ›Ausweg‹ aus dieser Sackgasse drei unterschiedliche Dimensionen zu unterscheiden: eine musikalisch-kompositorische (der ›strenge Satz‹), eine physiologisch-realistische (die syphilitische Infektion) und eine metaphysisch-transzendente (der Teufelspakt). Im vorliegenden Argumentationszusammenhang, der musikhistorisch und poetologisch angelegt ist, soll nur auf den ersten dieser drei Aspekte eingegangen werden; die Frage, ob und inwiefern die Entwicklung der duodekaphonischen Kompositionsmethode mit Syphilis und Teufelspakt zusammenhängt, wird erst im folgenden Kapitel untersucht.

232 3.3.

Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

Der ›strenge Satz‹

Bei dem ›strengen Satz‹ handelt es sich um einen »geistreiche[n] Versuch, der in subjektivistische Willkür sich auflösenden Musik Ordnung und Gesetz«770 zurückzugeben und zugleich den musikalischen Ausdruck zu restituieren. Ausgehend von der Annahme, die aus der verabsolutierten Subjektivität entstandene Freiheit verzweifle irgendwann »an der Möglichkeit, von sich aus schöpferisch zu sein« (GKFA 10.1, 277) und neige daher »immer zum dialektischen Umschlag« (ibid.) in ihr Gegenteil, kommt Leverkühn zu dem Schluss: Sie erkennt sich selbst sehr bald in der Gebundenheit, erfüllt sich in der Unterordnung unter Gesetz, Regel, Zwang, System – erfüllt sich darin, das will sagen: hört darum nicht auf, Freiheit zu sein (GKFA 10.1, 277 f.).

Die »Dialektik der Freiheit« (GKFA 10.1, 282) spielt im poetologisch-musikhistorischen Diskurs des Romans also eine doppelte Rolle: Die Bedrohung der Kunst durch Sterilität wird als Folge einer absolut gesetzten Freiheit aufgefasst, die zur restriktiven Beschränkung des musikalischen Ausdrucks geworden ist. Indem er versucht, durch die Unterwerfung des musikalischen Materials unter das Ordnungssystem des ›strengen Satzes‹ die Freiheit des künstlerischen Ausdrucks wieder herzustellen, spekuliert der Komponist darauf, dieser dialektische Prozess werde auch ›in umgekehrter Richtung‹ funktionieren: In der Kunst […] verschränken das Subjektive und Objektive sich bis zur Ununterscheidbarkeit, eines geht aus dem andern hervor und nimmt den Charakter des anderen an, das Subjektive schlägt sich als Objektives nieder und wird durch das Genie wieder zur Spontaneität erweckt […]; es redet auf einmal die Sprache des Subjektiven (GKFA 10.1, 278; Hervorhebung CB).771

Die Beantwortung der Frage, ob der ›strenge Satz‹ tatsächlich »vermöge der Restlosigkeit der Form […] die Musik als Sprache« (GKFA 10.1, 706) befreien, das »Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut« (GKFA 10.1, 703) herbeiführen und damit die Voraussetzung für den ›Durchbruch‹ schaffen kann, bringt eine methodische Schwierigkeit mit sich, die an dieser Stelle erörtert werden muss, ehe der Versuch einer Antwort unternommen wird. 770 Brief Thomas Manns an Alberto Mondadori vom 19. 6. 1950, zitiert nach Mann (1998), S. 303. 771 Indem er die ›Wiedererweckung‹ der Subjektivität des musikalischen Ausdrucks aus dem Objektiven dem Genie zuschreibt, wird Leverkühn überraschender Weise zu einem »defender of subjectivity and genius« [Justice Kraus: Expression and Adorno’s Avant-Garde. The Composer in ›Doktor Faustus‹, in: The German Quarterly 81/2 (2008), S. 170 – 184, hier : S. 179] gegen die Einwände Zeitbloms. Seine Aussage, das Subjektive schlage sich im Objektiven nieder, erinnert dabei an Kants Bestimmung, Genie sei »das Talent (Naturgabe), welches der Kunst die Regeln« gebe (Kant V, 405).

Die drohende Sterilität der Kunst

233

Das Problem besteht darin, dass der Interpret nur über Zeitbloms Beschreibungen der Leverkühn’schen Werke, nicht aber über die Werke selbst verfügt, und somit keinerlei Möglichkeit hat, die Adäquatheit seiner Darstellung zu beurteilen:772 Er muss sich auf das Wort des Erzählers verlassen, wenn dieser behauptet, dem Komponisten gelinge die »Rekonstruktion des Ausdrucks« (ibid.) – und dass es »mit der Glaubwürdigkeit unseres Biographen Zeitblom so seine Tücken hat«,773 wurde bereits dargestellt. Im vorliegenden Kontext ist ein besonderes Maß an Skepsis abgebracht. Der ›Durchbruch‹, der neben seiner Persönlichkeitswirkung und den von ihm geschaffenen »Meisterwerke[n]« (GKFA 10.1, 375) zu den Merkmalen und Leistungen gehört, die Adrian Leverkühn in den Augen Serenus Zeitbloms als Genie ausweisen,774 ist nur auf der Grundlage des ›strengen Satzes‹ denkbar. Sollte »die Geburt der Freiheit aus der Gebundenheit« (GKFA 10.1, 704) ausbleiben, stände mit dem ›Durchbruch‹ auch Leverkühns Genie in Frage. Es kann daher nicht verwundern, dass Zeitblom gerade diesen Aspekt in seinen Schilderungen immer wieder betont, etwa wenn er am Beispiel von D. Fausti Weheklag ausführt, Leverkühn könne sich, in dem vororganisierten Material, hemmungslos, unbekümmert um die schon vorgegebene Konstruktion, der Subjektivität überlassen, und so [sei] dieses sein strengstes Werk, ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv (GKFA 10.1, 707).

Bereits zu einem früheren Zeitpunkt weist der Erzähler darauf hin, dass die Gleichzeitigkeit »eines zum Äußersten gehenden Ausdruckswillens« (GKFA 10.1, 260) und der für Adrian charakteristischen »intellektuellen Leidenschaft für herbe Ordnung« (ibid.) nicht nur das Merkmal eines einzelnen Werkes darstelle, sondern für Leverkühns Kompositionen überhaupt kennzeichnend sei: Hitze und Kälte walteten neben einander in seinem Werk, und zuweilen, in den genialsten Augenblicken, schlugen sie ineinander, das Espressivo ergriff den strikten 772 Ein Urteil wie das Ilse Metzlers, Zeitblom charakterisiere die Musik von Love’s Labour Lost »sehr treffend« [Metzler (1960), S. 25], ist vor diesem Hintergrund weder ›richtig‹ noch ›falsch‹, sondern schlicht sinnlos: Der Leser hat keine Möglichkeit, der Grad der Übereinstimmung zwischen Zeitbloms Beschreibung und Leverkühns Werk zu beurteilen, weil Love’s Labour Lost für ihn keine Wirklichkeit jenseits dieser Beschreibung besitzt. 773 Assmann (1987), S. 91. 774 Für Serenus Zeitblom, ohne dass er diese Prämisse explizit ausspräche, beruht das Genie seines Freundes vor allem auf dessen »kühle[r] und rätselhaft verschlossene[r]« (GKFA 10.1, 455) Persönlichkeit und der von ihr ausgehenden Faszination, sowie auf den von Leverkühn geschaffenen ›genialen Meisterwerken‹, seiner »unerbittlich radikale[n] und zugeständnislose[n]« (GKFA 10.1, 593) Musik. Im Gegensatz dazu wird das Konzept des Genies in der vorliegenden Arbeit mittels der systematischen Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität bestimmt, so dass Adrian Leverkühn prinzipiell auch nach einem Scheitern des ›Durchbruchs‹ noch als Genie angesehen werden kann.

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Kontrapunkt, das Objektive rötete sich von Gefühl, so daß man den Eindruck einer glühenden Konstruktion hatte (ibid.).775

Bewertet man diese Aussagen vor dem Hintergrund der eben dargestellten Problematik, dann ist die Möglichkeit nicht von der Hand zu weisen, Serenus Zeitblom stelle die Werke Adrian Leverkühns bewusst auf eine Weise dar, die den Erfolg des ›dialektischen Umschlags‹ plausibel machen soll, um keine Zweifel an dem Genie des Komponisten aufkommen zu lassen. Dieser Befund bringt allerdings neue Probleme mit sich, denn es wäre wenig ratsam, die Annahme einer bewusst verfälschenden Darstellung Zeitbloms zur Grundlage einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung zu machen: Unter dieser Prämisse ließe sich keinerlei sinnvolle Aussage über die im Roman dargestellten Werke mehr treffen; jeder Versuch einer Interpretation wäre ad absurdum geführt. Es soll daher als Arbeitshypothese davon ausgegangen werden, dass Zeitblom sich bemüht, die Werke Leverkühns so akkurat und unvoreingenommen wie möglich zu beschreiben,776 so dass zumindest die deskriptiven Passagen als hinreichend adäquate Wiedergaben der künstlerischen ›Wirklichkeit‹ gewertet werden können. Die Forschung hat diese narratologisch-erkenntnistheoretische Problematik bisher nicht berücksichtigt, sondern ist zu großen Teilen der Deutung des Erzählers gefolgt und sieht Leverkühns Umsetzung der Prinzipien des ›strengen Satzes‹ in seinen Werken als erfolgreich an. Schneider formuliert, die immer zunehmende Sterilität der Kunst werde durchbrochen »by willfully submitting to the alienated system of the material organization in which the subject paradoxically finds his last refuge of free expression.«777 775 Zeitblom fügt hinzu, die ›glühende Konstruktion‹ habe ihm »die Idee des Dämonischen [nahegebracht] und [ihn] stets an den feurigen Riß erinnert[], welchen der Sage nach ein Jemand dem zagenden Baumeister des Kölner Doms in den Sand« (GKFA 10.1, 260) gezeichnet habe. Damit ist nicht nur ein weiteres Mal die Verbindung von Genialität und Dämonie hervorgehoben, sondern zugleich der Bezug zu den Anfängen der Romankonzeption hergestellt: »In NK, Bl. 8 f. skizziert Thomas Mann den Plan des Romans. Er wiederholt die ›Alte Notiz‹ […] und fährt dann fort: ›Habe diese Idee lange mit mir herumgetragen, 42 Jahre. Erinnerung einschlägig, außer an Faust, an andere mittelalterliche Sagen, an den Baumeister des Kölner Doms (Teufelsriß, Eintreten des Bösen für mangelnde Inspiration).‹« (GKFA 10.2, 463). – Zur Sage vom Bau des Kölner Doms und dem Teufelspakt des Dombaumeisters Gerhard von Ryle vgl. Arnold Wolff: Chronologie der ersten Bauzeit des Kölner Domes, in: Kölner Domblatt 28/29 (1968), S. 7 – 229, hier: S. 227 und Arnold Mayenburg: Die Volkssage vom Cölner Dom, Berlin 1842. 776 Auch unter der Voraussetzung größtmöglicher Aufrichtigkeit wäre Zeitbloms sprachliche Rekreation von seiner Perspektive, einem Wissen und Verständnis für Leverkühns Komposition beeinflusst – zumal er nach eigener Aussage »Gedanken in Worte zu kleiden such[t], die nicht primär [s]eine eigenen sind, sondern die [ihm] nur durch [s]eine Freundschaft für Adrian eingeflößt wurden« (GKFA 10.1, 222). 777 Erhard Bahr : Art Desires Non-Art. The Dialectics of Art in Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹ in the Light of Theodor W. Adorno’s ›Aesthetic Theory‹, in: Lehnert, Herbert; Pfeiffer, Peter C. (Hrsg): Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹. A Novel at the Margin of Mo-

Die drohende Sterilität der Kunst

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Leverkühns Entwicklung des ›strengen Satzes‹ hat weitreichende Folgen für den Geniebegriff im Doktor Faustus. Das Ziel der neuen Kompositionsmethode besteht in der »Rekonstruktion des Ausdrucks« (GKFA 10.1, 703), und Zeitblom lässt keinen Zweifel daran, dass sich in dieser vorgegebenen Form die »grenzenlose Freiheit der Leverkühn’schen Subjektivität«778 verwirkliche. Durch die Konstituierung einer neuen Ordnung wird »das subjektive Moment, welches die Musik seit Beethoven gekennzeichnet und Clich¤charakter angenommen«779 hatte, eben dieses ›Clich¤charakters‹ entkleidet, was die Authentizität des künstlerischen Ausdrucks restituiert und damit eine der konstitutiven Kategorien des Geniebegriffs, die unter den Bedingungen der Moderne ihre Gültigkeit eingebüßt hatten, auf einer höheren Entwicklungsstufe wieder in Kraft setzt. Und auch Originalität wird man einem Werk wohl zusprechen können, das mittels einer vollständig neu entwickelten Methode komponiert worden ist. Das Konzept des in sich geschlossenen Werkes wird in ähnlicher Weise wieder hergestellt. Indem Leverkühn das musikalische Material den Regeln der »autonome[n] Kunst-Sprache«780 des ›strengen Satzes‹ unterwirft, und dadurch »die Kategorie eines subjektiven Ursprungs ganz hinter sich läßt«,781 stellt er die Geschlossenheit des Kunstwerks, die durch den Bezug auf die Subjektivität des Künstlers nicht mehr gewährleisten werden kann, auf strukturellem Wege wieder her. Ein Werk aber, zu dessen Komposition ein vollkommen neuartiges Regelsystem entwickelt worden ist, zeichnet sich zweifelsohne durch Auto-nomie aus, nämlich durch vollständige künstlerische Eigengesetzlichkeit. Und da Autonomie im Rahmen der vorliegenden Arbeit als eine der konstitutiven Kategorien des Genies angesehen wird, bildet der ›strenge Satz‹ nicht nur eine der Voraussetzungen für den ›Durchbruch‹,

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dernism, Columbia 1991, S. 145 – 166, hier: S. 162. Vgl. in diesem Sinne außerdem Borchmeyer (1994a), S. 146. Einen abweichenden Standpunkt vertritt Albrecht, der den Umschlag von Gebundenheit in Expressivität mit dem wenig überzeugenden Argument negiert, das Zwölfton-System sei »keine dem Material entsprechende, entwicklungsmäßige, sondern eine widermaterielle, mechanische Bezugsordnung« [Albrecht (1971), S. 386]. Er verkennt dabei, dass der ›strenge Satz‹ im Roman als eine schlüssige Fortführung der musikalischen Entwicklung erscheint, was in der Forschung zu der Frage geführt hat, ob Teufelspakt und diabolische Inspiration überhaupt noch eine Funktion im Roman haben. Steinfeld (1985), S. 84. Kraus vergleicht das Bild des Komponisten im Doktor Faustus mit dem in Adornos Philosophie der neuen Musik und kommt zu dem Schluss: »Mann’s novel […] emphasizes the subjective aspect of expression, even where Adorno denies its possibility most vehemently : with regard to Arnold Schönberg’s method of twelve-tone composition« [Kraus (2008), S. 170 f.]. Insofern werde im Roman, aller Modernität von Leverkühns Musik ungeachtet, »a rather traditional view of artistic expression« vertreten [ibid., S. 171]. Steinfeld (1985), S. 82. Corbineau-Hoffmann (1995), S. 246. Ibid.

236

Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

sondern setzt auch eine der traditionellen Kategorien des Geniebegriffs unter den Bedingungen der ästhetischen Moderne wieder in Kraft.

3.4.

Die Utopie des Durchbruchs

Als Serenus Zeitblom den Gedanken des ›Durchbruchs‹ im Gespräch mit Leverkühn und Schildknapp zum ersten Mal formuliert, spricht er von der »Psychologie des Durchbruchs« (GKFA 10.1, 447) im Sinne eines nationalpsychologischen Phänomens und fügt mit Blick auf das deutsche Volk hinzu: »Was mit dem Durchbruch zur Weltmacht […] im Tiefsten gemeint ist, das ist der Durchbruch zur Welt« (ibid.). Leverkühn überträgt den Begriff auf Heinrich von Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater,782 in dem auch »vom Durchbruch gehandelt« (GKFA 10.1, 449) werde, und transponiert ihn damit vom Politischen ins Ästhetische im »allerweitesten Sinn« (ibid.).783 Es ist jedoch eine dritte Bedeutungsebene, die den Begriff des ›Durchbruchs‹ im Doktor Faustus prägt. Leverkühn postuliert ein immer wachsendes Verlangen der Musik, »aus ihrer Respektsvereinsamung zu treten, Gemeinschaft zu finden, ohne gemein zu werden, und eine Sprache zu reden, die auch der musikalisch Unbelehrte« (GKFA 10.1, 467) verstehe. Den Weg dazu sieht er in der »Vereinigung des Avancierten mit dem Volkstümlichen, […] der Aufhebung der Kluft zwischen Kunst und Zugänglichkeit, Hoch und Niedrig« (ibid.), und auch über die notwendigen Mittel ist er sich im klaren: Auf der Höhe des Geistes zu bleiben; die gesiebtesten Ergebnisse europäischer Musikentwicklung ins Selbstverständliche aufzulösen […]; das Handwerk, hochgetrieben wie es [ist] durchaus unauffällig zu machen und alle Künste des Kontrapunkts und der Instrumentation verschwinden und verschmelzen zu lassen zu einer […] intellektuell

782 Die Frage nach der Bedeutung des Kleist-Texts für den Roman Doktor Faustus ist bisher in der Forschung kaum untersucht worden, eine Ausnahme bildet Gunter Reiß: SündenfallModell und Romanform. Zur Integration von Kleists Marionettentheater-Thematik im Werk Thomas Manns, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 13 (1969), S. 426 – 453. Zur Bedeutung der Forderung, »Adam müsse ein zweites Mal vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen« (GKFA 10.1, 449), vgl. H. S. Gilliam: Mann’s other Holy Sinner. Adrian Leverkühn as Faust and Christ, in: The Germanic Review 52 (1977), S. 122 – 147, hier : S. 136 und Oates (1976), S. 208 f. 783 Leverkühn und Zeitblom stimmen darin überein, dass das Ästhetische in diesem Fall mehr umfasse als »einen engen und gesonderten Teilbereich des Humanen« (GKFA 10.1, 449). Der Humanist führt aus, »[ä]sthetische Erlöstheit oder Unerlöstheit […] entscheide[] über Glück oder Unglück« (ibid.), und der Komponist setzt die Bedeutung des ›Durchbruchs‹ sogar absolut: »Es gibt im Grunde nur ein Problem in der Welt, und es hat diesen Namen: Wie bricht man durch? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling? Die Gesamtsituation ist beherrscht von der Frage« (ibid.).

Die drohende Sterilität der Kunst

237

federnden Schlichtheit, – das [scheint] die Aufgabe und das Begehren der Kunst (GKFA 10.1, 467 f.).

Leverkühn ist entschlossen, dieses Begehren zu erfüllen und die Kunst aus ihrer »feierlichen Isolierung, […] aus dem Alleinsein mit einer Bildungselite« (GKFA 10.1, 469) zu ›erlösen‹, da sie sonst »bald völlig allein, zum Absterben allein sein« (ibid.) werde. Er entwickelt die Vision einer »Kunst ohne Leiden, […] mit der Menschheit auf Du und Du« (ibid.),784 und in dem »Durchbruch […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls« (GKFA 10.1, 468) sieht er das Mittel, diese Utopie zu verwirklichen. Das Konzept des ›Durchbruchs‹, wie Leverkühn es entwickelt, beinhaltet einen ästhetischen, einen gesellschaftlichen und einen persönlichen Aspekt: (1) die Restituierung des musikalischen Ausdrucks, (2) die Aufhebung des Gegensatzes zwischen ›Kunst‹ und ›Welt‹785 sowie (3) die Überwindung von Adrians individueller Einsamkeit (vgl. GKFA 10.1, 469). Allerdings müssen diese drei Dimensionen unterschiedlich gewichtet werden: Für die Erfüllung von Leverkühns Utopie, die Kunst »zu den Menschen« (GKFA 10.1, 468) zurückzuführen, ist die Überwindung seiner eigenen Einsamkeit nicht unbedingt erforderlich,786 während die anderen beiden Aspekte als notwendige Bedingungen angesehen werden müssen: Nur wenn es dem ›deutschen Tonsetzer‹ gelingt, (1) die Sterilität der Kunst und (2) ihre gesellschaftliche Isolation zu überwinden, kann er wirklich als »Erlöser der Kunst« (GKFA 10.1, 468) angesehen werden.787

784 Es besteht ein unausgesprochener Rückbezug zu Kretzschmars Vortrag über ›Beethoven und die Fuge‹: Leverkühns Vision ist die Konkretisierung seiner damals noch vagen Spekulationen über die »wahrscheinlich bevorstehenden Wiederzurückführung« (GKFA 10.1, 91) der Musik »auf eine bescheidenere, glücklichere [Rolle] im Dienst eines höheren Verbandes« (ibid.). 785 »Die erneute Einbindung der Kunst in ein gesellschaftliches Ganzes, die Zurücknahme ihrer Autonomie steht als Aufgabe und Problem von vornherein über den Kompositionsversuchen Leverkühns« [Corbineau-Hoffmann (1995), S. 239]; vgl. auch Jens Rieckmann: Zum problem [sic!] des ›Durchbruchs‹ in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Wirkendes Wort 29 (1979), S. 114 – 128, hier: S. 114. 786 Während Leverkühn prinzipiell auch aus seiner Einsamkeit heraus die ›Erlösung‹ der Kunst vollbringen könnte, sind die Überwindung ihrer immanenten Sterilität sowie ihrer gesellschaftlichen Isolation unabdingbar für die Entstehung einer »Kunst mit der Menschheit auf Du und Du« (GKFA 10.1, 469). 787 »Der Gedanke von der Erlösung der Kunst durch den ›durchbrechenden‹ Künstler bezeichnet Leverkühns geheime Hoffnung, selbst dieser Erlöser zu sein. Damit erhält der ›Verdammte‹ zugleich Christus-Züge: Er will ja sein Leben geben für die Erlösung der Kunst. Dazu passt, dass der Autor seinem [sic!] Protagonisten gegen Ende des Romans physiognomisch an den leidenden Christus annähert« (GKFA 10.2, 662); der Kommentar verweist zudem auf Marx (2002), S. 272 f.

238

4.

Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

Das Genie in der Moderne

Das im Doktor Faustus entwickelte Geniekonzept besteht im Wesentlichen aus vier motivischen Komplexen:788 Die Grundlage bildet der Teufelspakt,789 der gemäß der inneren Logik des Romans die Voraussetzung für Leverkühns Illumination darstellt und auf einer realistischen Ebene durch die syphilitische Infektion repräsentiert wird, wodurch das Konzept der »Genie spendende[n] Krankheit« (GKFA 10.1, 354) in den Roman eingeht.790 Der unmittelbare Bezug zur Genietradition wird hergestellt durch zwei Kategorien, die zu den geschichtlichen Wurzeln der Genievorstellung gehören und deren antike Form deshalb in einem historischen Exkurs dargestellt wurde: Inspiration und Melancholie. In diesem Kapitel soll zunächst jedes dieser Konzepte – Teufelspakt, genialisierende Krankheit, Inspiration und Melancholie – einzeln analysiert und danach herausgearbeitet werden, wie sie aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig modifizieren und beeinflussen. Anschließend wird untersucht, ob Teufelspakt und syphilitische Infektion, deren Leverkühn bedarf, um »[s]ein von Erkenntnis gehemmtes Künstlertum produktiv zu machen«,791 Auswirkungen auf die Legitimität seines Genies haben: Ist es im Vergleich zu einer hypothetischen »heile[n] Größe« (GKFA 10.1, 345) von Gottes Gnaden qualitativ minderwertig? Oder kann der ›deutsche Tonsetzer‹ auch mit »Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel« (GKFA 10.1, 723) echtes musikalisches ›Gold‹ hervorbringen?

788 Weiter Motive nennt Klugkist: »Enge Beziehungen unterhält das Leitmotiv der Inspiration – abgesehen von seinen direkten Nachbarn der Intoxikation und Heimsuchung, der Kreativität resp. Produktivität, der befeuernden Hitze und Genialität – natürlich zu fast allen Motiven des Romans« [Klugkist (2000), S. 75, Anm. 39]. Die Fußnote, der diese Feststellung entnommen ist, erstreckt sich über drei Druckseiten und bildet eine reichlich willkürliche Stoffsammlung zum Thema Inspiration im weiteren Umkreis von Nietzsche und Thomas Mann. 789 Obgleich Goethes Faust einen Bestandteil des Genie-Diskurses bildet [vgl. Schmidt (2004b), S. 309 – 319], ist Adrian Leverkühn die erste literarische Figur, deren Genie unmittelbar auf einen Pakt mit dem Teufel zurückgeführt wird. 790 Laut Käte Hamburger besteht das tertium comparationis zwischen der Infizierung mit Syphilis und dem ›klassischen‹ Paktschluss »in der Freiwilligkeit der Verschreibung: die bewußt eingegangene Gefahr der venerischen Erkrankung ist die Entsprechung zur Beschwörung des Teufels und der Besieglung mit einem Tropfen Bluts« [Hamburger (1975), S. 396]. 791 Brief Thomas Manns an Alberto Mondadori vom 19. 6. 1950, zitiert nach Mann (1998), S. 303.

Das Genie in der Moderne

4.1.

239

Exkurs: Die Relevanz des Paktes

Ehe auf die inhaltlichen Aspekte von Adrian Leverkühns Verschreibung, auf die Versprechungen des Teufels und die geforderte Retribution eingegangen wird, gilt es zunächst, die strukturelle Relevanz des Paktes für den Roman Doktor Faustus nachzuweisen. Sie ist in der Forschung mit dem Argument bestritten worden, dass es »einer teuflischen Paktleistung zur Schilderung der Krise der modernen Kunst und ihrer Überwindung gar nicht«792 bedürfe, so dass der Teufelspakt keine Funktion mehr habe. Diese Hypothese stellt die Grundlage der hier entwickelten Argumentation in Frage, denn wenn Leverkühns ›diabolische Inspiration‹ für die Schaffung seiner Werke gar nicht notwendig ist, kann sie nur schwer als Grundlage seines Genies postuliert werden. Es ist daher notwendig, die Validität dieser Hypothese zu prüfen, ehe die Untersuchung des skizzierten Motivkomplexes begonnen wird. Angesichts der Übereinstimmung der »historische[n] Verbrauchtheit und Ausgeschöpftheit der Kunstmittel« (GKFA 10.1, 199) mit Leverkühns Neigung zu Kälte, Distanz und Parodie erscheint die Wendung des Komponisten zum Teufelspakt plausibel: Überzeugt, dass »die Kunst unmöglich geworden [sei] ohne Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel« (GKFA 10.1, 723), sucht der Komponist Hilfe beim »wahren Herrn des Enthusiasmus« (GKFA 10.1, 347) und der Inspiration – und der lässt sich nicht lange bitten: Wußten wir denn aber nicht, daß du zu gescheit und kalt und keusch seist fürs Element […] und dich erbärmlich ennuyiertest mit deiner schamhaften Gescheitheit? So richteten wir’s dir mit Fleiß, daß […] du dir’s holtest, die Illumination, das Aphrodisiacum des Gehirns, nach dem es dich mit Leib und Seel und Geist so gar verzweifelt verlangte (GKFA 10.1, 362).

In der älteren Forschung ist der Teufelspakt allgemein als Ausweg aus der geistigen Sterilität und folglich als Voraussetzung für Leverkühns Kreativität und die Schöpfung seiner Werke verstanden worden;793 so schreibt etwa Sandberg: Hochmut und Stolz versperren dem auf sich selbst verwiesenen Intellekt den Ausweg aus seiner […] in ästhetischer Indifferenz erlahmenden Existenz und prädestinieren ihn für den Bund mit dem Teufel, der Abhilfe in Aussicht stellt.794 792 Kaiser (2001), S. 63 f. 793 Auch Thomas Mann hat diese Ansicht vertreten: »Der Held des Romans, Leverkühn, ist ein außerordentlich stolzer, kühler und kluger Geist, zu klug eigentlich für die Kunst, der aber dennoch vom Drang nach dem Kreativen erfüllt ist und dazu Enthemmungen braucht, die ihm in dem ideellen Rahmen des Buches nur der Böse verschaffen kann« [Brief Thomas Manns an Albert Oppenheimer vom 12. 2. 1949, zitiert nach Mann (1998), S. 268]. 794 Sandberg (1979), S. 102; vgl. Pütz (1997), S. 78 und Heller (1977), S. 185.

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Seit Karol Sauerland eine grundlegende methodische Schwäche dieser Erklärung aufgezeigt hat, wird der Kausalzusammenhang zwischen Leverkühns Wendung zum Teufelspakt und der Entstehung seiner Werke vielfach bezweifelt. Sauerland weist darauf hin, dass sich unter dem Einfluss der Musikphilosophie Adornos »ein Wandel in der Konzeption des Romans«795 vollzogen, der Fokus der Aufmerksamkeit sich vom inspirativen Rausch auf die ›verzweifelte Lage der Kunst‹ verschoben habe.796 Dadurch erschienen Leverkühns Kompositionen »nicht mehr als teufelsinspirierter ›Durchbruch‹ zur Irrationalität, sondern als legitimer musikalischer Ausdruck der Epoche«.797 Wenn aber die duodekaphonische Kompositionsmethode für den ›deutschen Tonsetzer‹ »zu einem wirklichen Ausweg [werde], der des Rausches nicht«798 bedürfe, weil er sich aus den historischen Bedingungen sowie »den dem musikalischen Material innewohnenden Bewegungsgesetzen«799 strukturell ergebe und somit die logische Fortführung einer ohnehin existierenden musikalischen Entwicklung darstelle,800 dann sei »die im Roman Leverkühn zugeschriebene Entwicklung der Zwölfton-Musik […] auch ohne die Paktleistung des Teufels, also ohne dämonische Inspiration denkbar«,801 und der Teufelspakt hätte seine Funktion im Roman eingebüßt.802 795 Karol Sauerland: ›Er wußte noch mehr …‹. Zum Konzeptionsbruch in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ unter dem Einfluß Adornos, in: Orbis litterarum 34 (1979), S. 130 – 145, hier S. 234. 796 In der Entstehung des Doktor Faustus macht Thomas Mann deutlich, dass beide Aspekte nicht nur zusammengehören, sondern er denjenigen der ›erkauften Inspiration‹ nach wie vor als die Hauptsache ansieht: »Beendete die Lektüre der Schrift von Adorno [gemeint ist das Typoskript der Philosophie der neuen Musik, CB]. Augenblicke der Erhellung über Adrians Position. Die Schwierigkeiten müssen sich erst ganz auswachsen, bevor sie überwunden werden können. Die verzweifelte Lage der Kunst: stimmigstes Moment. Hauptgedanke der erkauften Inspiration, die im Rausch darüber hinwegträgt, nicht aus dem Gesicht zu verlieren« (GKFA 19.1, 438). 797 Kurzke (1997), S. 277. 798 Ibid. 799 Sauerland (1979), S. 138. 800 Im Kapitel Originalität als Problem wurden die Hintergründe der »common musical evolution extending from Beethoven to Brahms to Leverkühn« [Grim (1988), S. 91] bereits erläutert. 801 Kaiser (2001), S. 63. Vgl. Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns ›Zauberberg‹ und ›Doktor Faustus‹, Bern 1986, S. 177 – 184 und Vaget, der deutlich Position gegen den Standpunkt Sauerlands bezieht, Adorno sei als »a kind of co-author of Doctor Faustus« anzusehen [Hans Rudolf Vaget: Mann, Joyce, Wagner. The Question of Modernism in ›Doctor Faustus‹, in: Lehnert, Herbert; Pfeiffer, Peter C. (Hrsg): Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹. A Novel at the Margin of Modernism, Columbia 1991, S. 167 – 191, hier : S. 176], von dem Thomas Mann »sich das Wesentliche förmlich in die Feder [habe] diktieren« lassen [Sauerland (1979), S. 135]: »Adorno’s contributions to Doctor Faustus, weighty though they undoubtedly were, represent only some and not necessarily the most important elements that went into the making of Doctor Faustus« [Hans Rudolf Vaget: Thomas Mann. Pro and Contra Adorno, in: Hermand, Jost; Richter, Gerhard (Hrsg): Sound Figures of Modernity. German Music and Philosophy, Madison 2006, S. 201 – 231, hier : S. 209]. Im

Das Genie in der Moderne

241

So überzeugend diese Argumentation auch ist, lassen sich doch Einwände formulieren, angesichts derer es ratsam scheint, die »Gaben und Gifte[]« (GKFA 10.1, 355) des Teufels nicht vorschnell aus dem Roman zu verbannen. So komponiert Leverkühn das »hübsche[] Lied mit dem Buchstabensymbol« (GKFA 10.1, 333) h e a e es, das die erste Vorstufe zur Entwicklung der Reihentechnik bildet, erst nach der im »Mai 1906« (GKFA 10.1, 224) vollzogenen Infektion und Verschreibung; und erst »im September 1910« (GKFA 10.1, 270) hat er das System so weit entwickelt, dass er es Zeitblom erläutern kann. Sowohl die erste Idee zum ›strengen Satz‹ als auch die weitere Ausarbeitung der duodekaphonischen Kompositionsmethode finden also statt, nachdem Leverkühn sich bei Hetaera Esmeralda mit Syphilis infiziert und damit den Pakt geschlossen hat,803 der ihm Enthemmung und Inspiration garantiert:804 Adrian Leverkühn gelangt erst durch die syphilitische Ansteckung über seine Hemmungen und die Zwischenlösungen von Parodie und ›Scheinnaivitäten‹ […] hinaus zur neuen Ordnung des ›strengen Satzes‹.805

Der Einfluss der Illumination zeigt sich exemplarisch in dem Gegensatz zwischen den »unter Inspiration« (GKFA 10.1, 333) entstandenen Brentano-Gesängen und dem letzten vor der Infektion komponierten Stück, dem Meerleuchten. Dieses charakterisiert Zeitblom als ein »glaubenslose[s] Meisterstück« (GKFA 10.1, 222), in dem Leverkühn in Kunstmitteln exzelliere, »die für sein Bewußtsein schon auf dem Punkte der Verbrauchtheit« (GKFA 10.1, 221) schwebten. Seine Komposition ist noch bestimmt von Parodie und Ironisierung der Kunst und damit im Grunde selbst steril – Leverkühn und Zeitblom bezeichnen derartige Erzeugnisse als »tote[n] Zahn« (ibid.). Von einer Überwin-

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Gegensatz dazu vertritt McFarland die Ansicht, Adorno werde in der Endphase der Zusammenarbeit »in den Status eines Koautors des Buches gehoben« [McFarland (2007), S. 66]. Vgl. auch Reed (1996), S. 395. Für Assmann besteht die Funktion der Syphilis-Erkrankung vorwiegend darin, »Adrians krankhafte Vorstellung vom Teufelspakt medizinisch zu erklären« [Assmann (1975), S. 145], während Petersen annimmt, »der Pakt [sei] lediglich metaphorisch zu verstehen« [Petersen (2007), S. 24], und eine tatsächliche Verschreibung finde nicht statt. Im Gegensatz dazu wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, die organische Ansteckung repräsentiere die metaphysische Verschreibung, die damit zumindest als Möglichkeit zugelassen wird; vgl. Böschenstein (2000), S. 141. In scheinbarem Widerspruch dazu steht die Äußerung des Teufels, das Lied O lieb Mädel sei »wirklich sinnreich gemacht und beinahe schon wie unter Inspiration« (GKFA 10.1, 333). Diese zurückhaltende Formulierung mag damit zusammenhängen, dass es sich bei der Entfaltung der inspirativen Wirkung um einen graduellen Entwicklungsprozess handelt (vgl. GKFA 10.1, 343), der so kurz nach der Infektion noch nicht weit fortgeschritten sein kann. Reed (2005), S. 310. Allen stellt die Verbindung zur syphilitischen Infektion noch unmittelbarer her : »Out of his union with Esmeralda, Adrian contracts syphilis and the solution to his artistic problem, the note sequence h-e-a-e-es« [Allen (1985), S. 122].

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dung der Sterilität, der Möglichkeit des ›Durchbruchs‹ kann hier noch keine Rede sein, und es ist zumindest denkbar, dass es ohne die Inspiration nicht zur Entwicklung des ›strengen Satzes‹ gekommen wäre. Hinzu kommt, dass die rigide Unterordnung des musikalischen Materials »unter Gesetzt, Regel, Zwang, System« (GKFA 10.1, 277 f.) den Vorgang der Komposition auf eine rein technische Handlung zu reduzieren droht, auf die mechanische Umsetzung formaler Bestimmungen, was zu einer »arge[n] Verdürftigung und Stagnation der Musik« (GKFA 10.1, 280) führen würde. Die angestrebte Überwindung der Sterilität der Kunst ist vollständig abhängig von dem »Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut« (GKFA 10.1, 703) – doch was genau in diesen »genialsten Augenblicken« (GKFA 10.1, 260) Leverkühn’scher Musik geschieht, was diesen Umschlag verursacht und was er beinhaltet, bleibt ungeklärt. Es kann nicht geklärt werden, denn das entscheidende Moment, von dem das Gelingen der gesamten Konstruktion abhängt, entzieht sich allen Versuchen der Analyse oder Erklärung, erweist sich als irrational und ›inkalkulabel‹ – ein typisches Merkmal des Genies. Es gibt also in diesem Prozess der Wiedergewinnung des musikalischen Ausdrucks ein Moment, das sich nicht mit den rationalen Kategorien der Ordnung, der Regel oder des Systems erfassen lässt, und in diese Leerstelle des Irrationalen tritt die diabolische Inspiration ein. Der Teufel verschafft »dem hervorbringenden Impuls das notwendige knappe Übergewicht […] über die Hemmungen des Spottes, des Hochmutes, der intellektuellen Scham« (GKFA 10.1, 222), und macht damit »die Geburt der Freiheit aus der Gebundenheit« (GKFA 10.1, 704) überhaupt erst möglich: Adrian braucht die Inspiration, »um genau das hervorzubringen, was mit den klassisch-romantischen Mitteln nicht mehr erreichbar ist: Unmittelbarkeit, Ausdruck, ›Seele‹, ›Leben‹.«806 Damit aber ist der diabolischen Illumination wieder eine entscheidende Rolle im Bedeutungsgefüge des Romans zugewiesen, da das System des ›strengen Satzes‹ erst »durch die unlauter gesteigerte Inspiration aus seiner konstruktivistischen Kälte befreit«807 wird. Teufelspakt und diabolische Steigerung bilden die Vorausset-

806 Wimmer (2004), S. 144. Voss zitiert eine Arbeitsnotiz Thomas Manns, die besagt, dass Leverkühns »Komponieren in dem Lösen von Kompositionsaufgaben besteh[e], ohne eigentliches Komponieren zu sein. Die Enthemmung steiger[e] die Fähigkeit dazu, setz[e] sie frei, [lasse] sie ins Dämonisch-Produktive wachsen« [Voss (1975), S. 189; Hervorhebung im Original, CB]. Obgleich der Standpunkt, Leverkühns Komponieren lasse sich auf das ›Lösen von Kompositionsaufgaben‹ reduzieren, in dieser Radikalität bezogen auf den Roman nicht haltbar ist, wird doch deutlich, dass seine Kompositionen erst mit Hilfe der diabolischen Inspiration die Gefahr mechanistischer Sterilität überwinden. 807 Wimmer (2004), S. 145. Ob Leverkühns Inspiration tatsächlich als ›unlauter‹ einzuschätzen ist, soll erst im Kapitel zur Legitimität des diabolischen Genies untersucht werden, vgl. unten S. 268 – 276.

Das Genie in der Moderne

243

zungen für die Entstehung von Leverkühns Werken und damit für seinen Status als Genie.

4.2.

Strukturelle Mehrdeutigkeit: Medizin und Metaphysik

Da der Teufelspakt auf der ›realistischen‹ Ebene des Romans von der syphilitischen Infektion repräsentiert wird, kann die Überwindung der Sterilität der Reihentechnik ebenso als Folge der organischen Illumination durch die Erkrankung wie des Eingreifens einer metaphysischen Instanz angesehen werden – eine Konstellation, die mit dem schwankenden Wirklichkeitsstatus des Teufels korrespondiert. Daraus ergeben sich zwei Möglichkeiten, Leverkühns ›unlautere Steigerung‹ zu deuten, und jede von ihnen lässt sich auf eine der antiken Wurzeln des Geniebegriffs zurückführen, die für die Geniekonzeption im Doktor Faustus von zentraler Bedeutung sind: Wird die Realität des Teufels angenommen, fungiert er als inspirierende Instanz und metaphysischer Spender der ›Eingießungen‹ und übernimmt damit im Roman strukturell die Rolle der Musen in der antiken Inspirations-Theorie. Geht die Untersuchung hingegen davon aus, dass der ›Teufel‹ nur in Leverkühns Vorstellung existiert, werden die »Aufschwünge […] und Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 336) des Komponisten auf die syphilitische Infektion und damit auf eine organische Ursache zurückgeführt, so dass sich zur Analyse der Rückgriff auf die antike Vorstellung der Melancholie in der Tradition des pseudo-aristotelischen Problem XXX, 1 anbietet. Diese Vorstellung kommt nicht nur ohne metaphysische Instanz aus, da sie das kreative Potential des Melancholikers auf dessen körperliche Disposition zurückführt, die Veranlagung zur Melancholie wird überdies als pathologischer Zustand angesehen, so dass sich eine Verbindung zur ›genialisierenden‹ Wirkung der Syphilis herstellen lässt. Beide Möglichkeiten werden im Folgenden dargestellt. Adrians Verschreibung, darin stimmen der Komponist,808 der Teufel809 und 808 Im Schlussmonolog bekennt Leverkühn: »Denn es war nur ein Schmetterling und eine bunte Butterfliege, Hetaera Esmeralda, die hatt es mir angetan durch Berührung, […] [und ich] haschte sie und koste mit ihr, ihrer Warnung zum Trotz […] – da war ich eingeweiht und die Versprechung geschlossen« (GKFA 10.1, 721). 809 »Wir sind im Vertrage und im Geschäft, – mit deinem Blut hast du’s bezeugt und dich gegen uns versprochen und bist auf uns getauft« (GKFA 10.1, 362). Es ergibt sich dabei bereits aus dem Kontext, dass Leverkühn bei diesem Zusammentreffen der Verführte ist, und der Teufel bestätigt es noch einmal explizit: »So richteten wir’s dir mit Fleiß, daß du uns in die Arme liefst, will sagen: meiner Kleinen, der Esmeralda« (GKFA 10.1, 362). Die Lesart Runges, die von einer ›bannenden Wirkung‹ Adrians ausgeht, ganz ähnlich der, die Goethe in Lotte in Weimar ausübt, vermag demgegenüber nicht zu überzeugen; vgl. Doris Runge: Hetaera Esmeralda und die kleine Seejungfrau, in: Gockel, Heinz; Neumann, Michael; Wimmer, Ruprecht (Hrsg): Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, Frankfurt am Main 1993, S. 391 – 403, hier: S. 391.

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Serenus Zeitblom überein,810 vollzieht sich durch die sexuelle Vereinigung mit Hetaera Esmeralda. Das Bekenntnis des Erzählers, er habe nie »ohne ein religiöses Erschauern dieser Umarmung gedenken können, in welcher der Eine sein Heil darangab, der Andere es fand« (GKFA 10.1, 226), ergibt nur dann einen Sinn, wenn er an die metaphysische Dimension dieser Vereinigung und damit an den Teufelspakt glaubt, da eine Syphilis-Infektion gewöhnlich keinen Einfluss auf das Heil der Seele hat. Und wenn Zeitblom seinem Freund ein »tief geheimste[s] Verlangen nach dämonischer Empfängnis, nach einer tödlich entfesselnden chymischen Veränderung seiner Natur« (ibid.) unterstellt, lässt er keinen Zweifel an seiner Überzeugung, dass dieser sich bewusst infiziert, um dadurch »eine ›unlautere‹ Steigerung [s]einer natürlichen Gaben« (GKFA 10.1, 14) hervorzurufen. Die Forschung hat diesen Standpunkt weitgehend übernommen,811 exemplarisch sei hier die Aussage Beddows zitiert: Leverkühn would […] seek release from the stranglehold of his critical intelligence in a disease that would eventually destroy his mind, in the (more or less vindicated) believe that in the intervening period between infection and breakdown he will enjoy a period of increasingly exuberant creative energy.812

Der Zusammenhang zwischen der syphilitischen Infektion813 und der diabolischen Inspiration erklärt sich daraus, dass auch Leverkühns Krankheit »eine genial steigernde, ›illuminierende‹«814 Wirkung hat und somit als physische Ausprägung des metaphysischen Vorgangs angesehen werden kann: 810 Auch in der Forschung ist diese Lesart allgemein akzeptiert, einzig Assmann vertritt die wenig überzeugende These, die syphilitische Infektion erfülle »in erster Linie die Aufgabe, Adrians krankhafte Vorstellung vom Teufelspakt medizinisch zu erklären. Erst in zweiter Linie […] steh[e] sie für den Pakt selbst« [Assmann (1975), S. 145]. 811 Zu entsprechenden Forschungsmeinungen, wenn auch mit deutlichen Unterschieden hinsichtlich ihrer Differenziertheit und Reflektiertheit, vgl. Elma (1975), S. 339; Heftrich (1982), S. 177; Prechtl-Fröhlich (2001), S. 189 f.; Wimmer (2004), S. 144 und Jeffrey Meyers: Disease and the Novel. 1880 – 1960, London 1985, S. 74. 812 Beddow (1994), S. 34. Beddow erweitert das Verhältnis von Inspiration und ›strengem Satz‹ um einen weiteren Aspekt, indem er postuliert, die Syphilis-Infektion sei »the means by which Leverkühn hopes to liberate the creative energy which his critical intelligence is holding in check; the adoption of serial technique is his solution to the problem of imposing intelligible form on the energies thus released« [Beddow (1986), S. 120]. Er fasst den ›strengen Satz‹ zugleich als eine Folge der syphilitischen Steigerung und als das Mittel auf, die daraus resultierenden inspirativen Eingebungen zu strukturieren. 813 Es ist ein Gemeinplatz des Faustus-Forschung, dass Leverkühn auch in dieser Hinsicht nach dem Beispiel Nietzsches gestaltet und des Teufels Beschreibung der Inspirationserfahrung an eine Passage aus Ecce homo angelehnt ist; vgl. GKFA 10.2, 561 sowie Nietzsche II, 1131 f. 814 Schmidt (2004c), S. 265. Die Vorstellung, dass »die Krankheit des Organismus eine rauschhafte Steigerung« (GKFA 5.1, 433) bedeute, gehört nicht nur zu den grundlegenden Motiven des Zauberberg, sondern findet sich implizit auch im Tod in Venedig, wo Krankheit bereits in Produktivität umgesetzt wird: Gustav von Aschenbach ist umgeben von der schwülen Süße der Cholera, als er, »der Enthusiasmierte« (GKFA 2.1, 554), »jene anderthalb

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Der Paralyse ist es eigen, daß sie […] Wellen rauschhaften Glücks- und Kraftgefühls, einer subjektiven Erhöhung der Lebenskräfte und einer tatsächlichen, wenn auch […] pathologischen Steigerung der produktiven Leistungsfähigkeit mit sich bringt (GKFA 19.1, 51).

Es ist eine Folge dieser Konstellation, dass Doktor Faustus »gleichermaßen ein Roman über das ›luziferische‹ Genie wie die Pathographie eines Syphiliskranken«815 ist, und die Entfaltung des inspirativen Potentials von einem ungestörten Krankheitsverlauf abhängt816 – diese beiden Aspekte stellen unterschiedliche Ausprägungen des selben Sachverhalts dar.817 Die Vorstellung von der »Genie spendende[n] Krankheit« (GKFA 10.1, 354) ist im Gesamtwerk Thomas Manns nicht neu, wird aber erst im Faustus ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt und mit voller Emphase vertreten.818 Bedenkt man die prinzipiell positive

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Seiten erlesener Prosa formt[], deren Lauterkeit, Adel und schwingende Gefühlsspannung binnen kurzem die Bewunderung vieler erregen sollte« (GKFA 2.1, 556) – Die steigernde Wirkung der Krankheit wird sogar in Joseph und seine Brüder angedeutet, wenn Mont-kaws erhöhte Sensibilität im Umgang mit Joseph auf seine »wurmige[] Niere« (GW V, 985) zurückgeführt wird: »[U]ns will scheinen, als ob seine empfindlichen Ahnungen beim Anblicke Josephs […] Merkmale einer krankhaft erhöhten Empfänglichkeit gewesen seien« (GW V, 987). Rütten (2002), S. 131. Sternberg weist darauf hin, dass »die syphilitische Infektion als Kreativitätsstimulans […] in der Genie-Mythologie bis auf einen heute weniger bekannten Versuch von Bruno Springer neu [sei] und über die damaligen Theorien« [Steinberg (2004), S. 126] zur Entstehung von Genialität hinausgehe. Der Verweis bezieht sich auf Bruno Springer : Die genialen Syphilitiker, Berlin 1926. Um diesen ungestörten Krankheitsverlauf zu gewährleisten, beseitigt der Teufel nach eigener Aussage Leverkühns Ärzte: »Der Rückgang der Allgemeindurchdringung war sich selbst zu überlassen, damit die Progredienz dort oben hübsch langsam vonstatten ging, damit dir Jahre, Jahrzehnte schöner nigromantischer Zeit salviert wären, ein ganzes Stundglas voll genialer Teufelszeit« (GKFA 10.1, 342). In Dostojewski – mit Massen [sic!] (1946) postuliert Mann, dass die »Erfahrungen der Macht und souveränen Leichtigkeit der Erleuchtung und beseligenden Inspiriertheit« (GKFA 19.1, 51) des Syphilitikers durchaus ›wahr‹ seien, obwohl es sich um Auswirkungen eines »verderblichen Reizungszustand[s]« (GKFA 19.1, 52) handele. – Am Beispiel des Essays analysiert Hamann die Bedeutung Dostojewskis für die Kreativitätsvorstellung im Doktor Faustus. Er illustriert, dass in der Vorstellung Manns eine enge Verbindung zwischen Epilepsie und Syphilis bestehe, da beide Krankheiten eine »Schnittmenge von Genialität, Verbrechen und Sexualität« teilten [Hamacher (2008), S. 38], und kommt zu dem Schluss: »Dostojewski – mit Maßen läuft auf den Versuch hinaus, die in Doktor Faustus in Auseinandersetzung mit Dostojewski entfaltete Kreativitätsproblematik dietätisch stillzustellen« [ibid., S. 39]. Die Bedeutung der pathologischen Elemente für Goethes Genie wurde im Kapitel zur Goetheschen Vererbungslehre erörtert, vgl. oben S. 78 – 83. Beinahe wie eine vorweggenommene Faustus-Passage wirkt – vor allem wegen des Hinweises auf die bewusste Selbstansteckung und den unübersehbar christologischen Anspielungen – eine Bemerkung Naphtas aus dem Zauberberg: »Als ob aber nicht der Fortschritt […] einzig der Krankheit verdankt werde, und das heiße: dem Genie, – als welches eben nichts anderes als Krankheit sei! […] Es habe Menschen gegeben, die bewußt und willentlich in Krankheit und Wahnsinn gegangen seien, um der Menschheit Erkenntnisse zu gewinnen, die zur Ge-

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Konnotation des Geniebegriffs, so führt diese Auffassung des »Genie[s] als Krankheit und der Krankheit als Genie« (GKFA 19.1, 43) zu einer Umwertung des üblichen Verständnisses der Kategorien ›Gesundheit‹ und ›Krankheit‹: Während die Entstehung des Genies im vorliegenden Kontext durch die Krankheit überhaupt erst ermöglicht wird, erfährt diese durch den Nimbus des Geniebegriffs ihrerseits eine Nobilitierung, und so kann der Teufel behaupten: [I]ch will’s meinen, daß schöpferische, Genie spendende Krankheit, Krankheit, die hoch zu Roß die Hindernisse nimmt, in kühnem Rausch von Fels zu Felsen sprengt, tausendmal dem Leben lieber ist, als die zu Fuß latschende Gesundheit (GKFA 10.1, 354).

Allerdings ist die Vorstellung eines Kausalzusammenhangs von Krankheit und Genie kein Phänomen der Moderne, sondern steht in der antiken Tradition des Geniebegriffs: Schon im berühmten Problem XXX, 1 werden außergewöhnliche Begabungen auf eine ursprünglich rein organische Ursache, ein pathologisches Übergewicht der ›schwarzen Galle‹ im Mischungsverhältnis der ›quattuor humores‹ zurückgeführt; und »eine der suggestivsten Pendantbildungen der abendländischen Geistesgeschichte«,819 das topische Begriffspaar ›Genie und Wahnsinn‹,820 verdankt seine Entstehung dem platonischen man„a-Begriff, der sowohl gottgesandte, inspirative ›Tollheit‹ als auch menschlich-unkreative Geisteskrankheit bezeichnen kann – denn »wo die Tollheit anfängt, krank zu sein, macht niemand so leicht nicht aus« (GKFA 10.1, 344). Wenn der Teufel also feststellt: Der Künstler ist der Bruder des Verbrechers und des Verrückten. Meinst du, daß je ein irgend belustigendes Werk zustandegekommen, ohne daß sein Macher sich dabei auf das Wesen des Verbrechers und des Tollen verstehen lernte? (GKFA 10.1, 345),

so liegt diese Bemerkung durchaus innerhalb traditioneller Genievorstellungen; allenfalls die Implikation, die Vorstellung »heile[r] Größe« (ibid.) sei prinzipiell eine Illusion, stellt eine Neuerung dar. Ebenso neuartig ist die Dämonisierung der Krankheit und des Genies821 im Sinne eines »sünd- und krankhaften Bransundheit würden, nachdem sie durch Wahnsinn errungen worden, und deren Besitz und Nutznießung nach jener heroischen Opfertat nicht länger durch Krankheit und Wahnsinn bedingt sei. Das sei der wahre Kreuzestod …« (GKFA 5.1, 701). 819 Rütten (2002), S. 131. 820 Einen Überblick über die Geschichte des Begriffspaares ›Genie und Wahnsinn‹ liefert Steinberg (2004), S. 107 – 118. 821 Der Theologe Paul Tillich, bei dem sich Thomas Mann unter anderem über den Verlauf des Theologie-Studiums informiert hat, beschreibt das Verhältnis von organischen Ursachen und dämonischer Natur von ›Besessenheit‹ in seinem 1926 erschienenen Aufsatz über Das Dämonische wie folgt: Dass es sich bei der ›Besessenheit‹ »um organisch begründete Krankheit handle, änder[e] an der metaphysischen Bewertung der Tatsache nichts. Auch [könne] nicht jede geistige Krankheit als Besessenheit gedeutet werden. […] Nur da [sei] das Dämonische anschaubar, wo die Ichzerspaltung ekstatischen, in aller Zerstörung

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d[es] natürlicher Gaben« (GKFA 10.1, 13); eine theologisch-metaphysische Deutung dieser Art findet sich bisher weder innerhalb der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Geniekonzepts,822 noch im Werk Thomas Manns.

4.3.

Die Verschreibung: Leistung und Zahlung

Die luetische Infektion ist auch deshalb so gut geeignet, den Pakt auf physiologischer Ebene zu repräsentieren, weil sie »beide Seiten des Tausches, nämlich Ware und Preis«,823 darzustellen vermag. Die Quelle von Leverkühns inspirativer Steigerung ist zugleich Ursache für sein Ende in geistiger Umnachtung, und gerade diese Ambivalenz von Zerstörung und Schöpferkraft, Schöpfung durch Zerstörung, ist laut Tillich kennzeichnend für das Dämonische, das er als ein »gestaltwidriges Hervorbrechen des schöpferischen Grundes in den Dingen«824 bestimmt, als »die übergreifende Form, die ein gestaltendes und gestaltzerstörendes Element in sich vereinigt, und damit [als] ein Gegen-Positives, eine positive, d. h. formschaffende Formwidrigkeit.«825 Allerdings ist zu betonen, dass die rein organische Krankheit nicht hinreicht, die inspirative Steigerung der Geisteskräfte zu gewährleisten. Was hinzukommen muss, ist die entsprechende Disposition, denn »[w]o nichts ist, hat auch der Teufel sein Recht verloren« (GKFA 10.1, 345). Das zeigt sich am Beispiel Baptist Spenglers, der zwar wie Leverkühn »ein Esmeraldus« (GKFA 10.1, 339), also ein Syphilitiker ist, aber dennoch nie »eine Illumination, Erhöhung und Begeisterung« (GKFA 10.1, 340) erfährt, sondern »ein langweiliger, banaler Fall [bleibt],

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schöpferischen Charakter« habe [Tillich (1980), S. 103]. Den Einfluss Tillichs auf den Doktor Faustus skizziert Schwöbel (1997), S. 155 – 169. Der Unterschied zwischen dem daimonion des Sokrates und dem platonischen daimon auf der einen sowie den im Doktor Faustus entwickelten christlichen Dämonie-Vorstellungen auf der anderen Seite ist so tiefgreifend, dass nicht von einer geistesgeschichtlichen Kontinuität gesprochen werden kann. Der Einfluss der antiken Konzepte ist schon etymologisch unbestreitbar, aber es überwiegen zweifellos die Unterschiede: Das zeigt sich schon daran, dass die gerade für den vorliegenden Kontext so grundlegende Annahme des Teufels als des personifizierten Bösen und »oberste[n] [sic!] der Dämonen« [Tillich (1980), S. 99], sich mit dem antiken Begriff des daimon nicht einmal sinnvoll ausdrücken lässt. Steinfeld (1985), S. 82. Tillich (1980), S. 101. Die Parallele zu der von Nietzsche beeinflussten Vorstellung des Einbruchs dionysischer Mächte in eine apollinische Welt, die Thomas Mann seit dem Kleinen Herrn Friedemann (1898) wieder und wieder gestaltet hat, ist unverkennbar. Ibid., S. 98. Gerade dieses schöpferische Element unterscheidet nach Tillichs Bestimmung das Dämonische vom Diabolischen: »Die Spannung zwischen Formschöpfung und Formzerstörung, auf der das Dämonische beruht, grenzt es ab gegen das Satanische, in dem die Zerstörung ohne Schöpfung gedacht ist […]. Das Satanische ist das im Dämonischen wirksame negative, zerstörerische, sinnfeindliche Prinzip, in Isolierung und Vergegenständlichung gedacht« [ibid., S. 99]. Diese Unterscheidung wird im Roman nicht getroffen.

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bei dem nicht das geringste herauskommt« (GKFA 10.1, 339), weil er die notwendigen Voraussetzungen für die inspirative Steigerung nicht erfüllt: »[A]uf die Disponiertheit, die Bereitschaft, die Einladung kommt alles an« (GKFA 10.1, 341),826 eben darauf, »wer krank, wer wahnsinnig, wer epileptisch oder paralytisch ist: ein Durchschnittsdummkopf […] – oder ein Nietzsche, ein Dostojewski« (GKFA 19.1, 53), ein Leverkühn.827 Damit ist die Verbindung hergestellt zu Adrians angeborenen Charakterzügen: dem »väterliche[n] Hauptwee, aus dem die Schmerzen der kleinen Seejungfrau werden sollen« (GKFA 10.1, 364), seiner Neigung zu Kälte und Hochmut und seinem »trefflich ingenium und memoriam« (GKFA 10.1, 362). Diese Voraussetzungen machen den Komponisten, anders als Spengler, zu einem Fall von günstigster Lagerung, aus dem sich, nur ein bißchen von unserem Feuer darunter gebracht, nur ein bißchen Anheizung, Beschwingung und Beschwipsung vorausgesetzt, etwas Glänzendes (GKFA 10.1, 334)

machen lässt.828 Wenn die ›richtige‹ Disposition als Voraussetzung für Leverkühns syphilitische Illumination anzusehen ist, dann sind die Ergebnisse dieser Inspiration »nichts Neues« (GKFA 10.1, 345), sondern als Folge einer Steigerung bereits vorhandener Anlagen aufzufassen, die, »bloß durch ein bißchen ReizHyperaemie« (ibid.), alle Hemmungen überwindet: [D]a mag Einer je länger je mehr aller Lahmheit vergessen und hoch illuminiert über sich selbst hinaussteigen, ohne sich selber doch fremd zu werden, sondern er ist und bleibt es selbst, nur auf seine natürliche Höhe gebracht durch die halbe Flasche Champagner (GKFA 10.1, 335 f.).829 826 Hier wird erneut erkennbar, dass die physische und die metaphysische Verständnisebene schon innerhalb der fiktionalen Welt des Romans ineinander verwoben sind: Nur, wenn das Gehirn des Infizierten nach dem Besuch der Syphiliserreger »lüstern ist und ihm erwartungsvoll entgegensieht, […] sie zu sich einlädt, sie an sich zieht, als ob es sie gar nicht erwarten« (GKFA 10.1, 341) könne, kommt es »zur Metastasierung ins Metaphysische, Metavenerische, Metainfektiose« (GKFA 10.1, 340) und damit zur Inspiration. »Die Begriffe bezeichnen generell (durch die griech. Präposition let: jenseits von, darüber hinaus) Zustände, die jenseits des Körperlich-Natürlichen, des nur physisch Kranken liegen« (GKFA 10.2, 554). 827 Vgl. Rütten (2002), S. 139 f. 828 Auch die Bedeutung der charakterlichen Disposition – also des ingenium im traditionellen Verständnis – als Voraussetzung für die Inspiration lässt sich auf die antike Tradition zurückführen: Schon Platon hatte darauf hingewiesen, dass nicht jeder für Inspiration empfänglich sei, sondern nur »eine zarte und heilig geschonte Seele« (Phaidros 245a). Ähnliches galt für Sokrates und sein daimonion: »[P]rophetic messages were transmitted from the gods to many men, but only an individual like Socrates, with a mind free of distracting and tumultuous passion, could fully comprehend the daemonic instruction« [Nitzsche (1975), S. 35 f.]. 829 Schmidt weist darauf hin, dass Thomas Mann im Motiv der rauschhafte Enthemmung hervorrufenden Syphilis »zwei Grundelemente genialisierender D¤cadence« [Schmidt

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Es stellt sich die Frage, wie jemand ›er selbst‹ bleiben kann,830 wenn er unter Inspiration »alle Wonnen beinahe unerträglicher Eingießung« (GKFA 10.1, 336)831 kostet und »sich schlecht und recht für einen Gott halten mag in gewissen ausgelassenen Augenblicken« (ibid.). Sollte diese Formulierung darauf hinweisen, dass der Inspirierte auch unter Inspiration seine Individualität behält, würde das eine charakteristische Abwandlung der antiken Inspirations-Vorstellung bedeuten, da der Inspirierte nicht zum bewusstlosen Medium reduziert würde, sondern seine Persönlichkeit erhalten bliebe.832 Zugleich unterstützt diese Beschreibung der Illumination die Annahme, dass es sich bei einer derartigen inspirativen Steigerung in der Tat um eine Transzendierung des Organischen ins Metaphysische handelt, denn eine von »tötender Verstandskontrolle ganz unangekränkelte Begeisterung« (GKFA 10.1, 346), wie sie Adrian Leverkühn in Aussicht gestellt wird, liegt zweifelsohne jenseits der ›natürlichen Höhe‹ menschlichen Vermögens. Sein Vertragspartner lässt auch keinen Zweifel daran, dass er der einzige ist, der dieses Angebot machen kann: Eine wahrhaft beglückende, entrückende, zweifellose und gläubige Inspiration, eine Inspiration, bei der es keine Wahl, kein Bessern und Basteln gibt, bei der alles als seliges Diktat empfangen wird, der Schritt stockt und stürzt, sublime Schauer den Heimgesuchten vom Scheitel bis zu den Fußspitzen überrieseln, ein Tränenstrom des Glücks ihm aus den Augen bricht, – die ist nicht mit Gott, der dem Verstande zuviel zu tun übrig läßt, die ist nur mit dem Teufel, dem wahren Herrn des Enthusiasmus möglich (GKFA 10.1, 347).833

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(2004c), S. 265] miteinander kombiniert: Krankheit und Rausch. Vor diesem Hintergrund erscheint die Ansicht Böschensteins wenig überzeugend, Thomas Mann habe die Vorstellung, »in den durch Alkohol und Drogen erzeugten Rauschzuständen Mittel zur Stimulation der Kreativität zu suchen […,] für Leverkühn nicht einmal erwogen« [Böschenstein (2000), S. 138]. Die syphilitische Infektion wirkt selbst wie eine Droge: Nicht zufällig wird sie mit einer »halbe[n] Flasche Champagner« (GKFA 10.1, 336) verglichen, und seit seiner Leipziger Zeit bedient sich Leverkühn außerdem der »unterhaltende[n] Stimulans« (GKFA 10.1, 458) des Rauchens, um bei der Arbeit länger aushalten zu können. Dieser Teil der Verheißung korrespondiert mit der Erfahrung Zeitbloms, der nach seiner Rückkehr vom Militärdienst über Leverkühn sagt: »War er während des Jahrs unserer Trennung kein andrer geworden, so war er doch ausgesprochener noch er selbst geworden« (GKFA 10.1, 231). Das Wort ›Eingießung‹ ist »[i]n Hs. korrigiert aus: ›Eingebung‹« (GKFA 10.2, 548), was eine Anspielung auf das Ficino-Zitat aus De Vita triplici darstellt (›influxibus‹) und damit den Bezug zum Geniediskurs des Romans verstärkt. Insofern die Authentizität des künstlerischen Ausdrucks verstanden wird als der »glaubwürdige Ausdruck der Autor-Subjektivität« im Werk [Deupmann (2007)], ist dieses Konzept im vorliegenden Kontext überhaupt nur anwendbar, wenn die Persönlichkeit des Inspirierten »unter Inspiration« (GKFA 10.1, 333) erhalten bleibt, denn »[d]ie Authentizität der genialen Schöpfung wird […] verbürgt in der Individualität des Schaffenden« [Fleck (2006), S. 170]. Die Inspirations-Thematik ist im Text schon in vielfacher Weise präsent, ehe sie im Teufelsgespräch in den Fokus der Aufmerksamkeit rückt. So variieren die Dante-Verse, die dem Roman als Motto voranstehen, »den antiken Musenanruf, mit dem Homer und Vergil ihre

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Diese ›diabolische Inspiration‹ bildet jedoch nur einen Teil der Leistungen, die zu erbringen der Teufel sich verpflichtet. Eine weitere Verheißung betrifft nicht Leverkühns individuelle Verfassung, sondern stellt ihm die umfassende Wirkung seiner Kunst in Aussicht: Nicht genug, daß du die lähmenden Schwierigkeiten der Zeit durchbrechen wirst, – die Zeit selber, die Kulturepoche, will sagen, die Epoche der Kultur und ihres Kultus wirst du durchbrechen (GKFA 10.1, 355).

Es ist eine Verheißung des ›Durchbruchs‹:834 Wenn die gesellschaftliche Isolation der Kunst »die Frucht der Kultur-Emanzipation, der Erhebung der Kultur zum Religionsersatz« (GKFA 10.1, 469) darstellt, dann bedeutet der ›Durchbruch‹ durch die ›Epoche der Kultur und ihres Kultus‹ zugleich die Aufhebung dieser Isolation. Leverkühn, so die Ankündigung, werde sich als prägend erweisen für die Zeit nach dem Ende der »Epoche des bürgerlichen Humanismus« (GKFA 10.1, 512); prägend nicht nur auf künstlerisch-musikalischer, sondern vor allem auf gesellschaftlicher Ebene: Wir stehen dir für die Lebenswirksamkeit dessen, was du mit unserer Hilfe vollbringen wirst. Du wirst führen, du wirst der Zukunft den Marsch schlagen, auf deinen Namen werden die Buben schwören, die dank deiner Tollheit es nicht mehr nötig haben, toll zu sein (GKFA 10.1, 355).

Damit umfasst die Verheißung des Teufels an Leverkühn zwei Aspekte: Er verspricht ihm (1) die Illumination und diabolische Inspiration, die ihn befähigen werde, trotz der »Scham und de[m] Spott des Geistes, und was in der Zeit dem Werke zuwider« (GKFA 10.1, 726) sei, schöpferisch tätig zu werden; und (2) die kulturhistorische und gesellschaftliche Lebenswirksamkeit seiner Musik, die sie zum prägenden Element der nach-bürgerlichen Epoche machen werde. Erinnert man sich an die Bedingungen des ›Durchbruchs‹, die im Zusammenhang mit der Analyse der Lage der Kunst in der Moderne formuliert wurden – die Überwindung der Sterilität der Kunst und die Aufhebung ihrer gesellschaftlichen Epen eingeleitet hatten« (GKFA 10.2, 171) [vgl. Böschenstein (2000), S. 130 und Oates (1976), S. 197]; Zeitblom versteht sich zu einer invocatio Musarum (vgl. GKFA 10.1, 223), und Wendell Kretzschmar behandelt in seinem Vortrag Das Elementare in der Musik wie beiläufig einen der Marksteine der geistesgeschichtlichen Entwicklung der InspirationsVorstellung, wenn er den Übergang von der religiösen zur künstlerisch-kreativen Inspiration am Beispiel Johann Conrad Beißels in nuce nachvollzieht: Ursprünglich von »religiöser Ergriffenheit« (GKFA 10.1, 98) motiviert, wandelt sich Beißel erst zum Schriftsteller und dann, beinahe wider Willen, zum ›Tonsetzer‹: »Da kam eine neue Eingebung und Heimsuchung über Johann Conrad Beißel. Der Geist nötigte ihn, zu der Rolle des Dichters und Propheten auch diejenige des Komponisten an sich zu reißen« (GKFA 10.1, 99). 834 Entsprechend weist der Kommentar aus, der Teufel knüpfe mit diesen Worten »an Überlegungen des jungen Leverkühn an, die dieser nach Kretzschmars Vortrag über ›Beethoven und die Fuge‹ geäußert hatte« (GKFA 10.2, 574), und die den Keim seiner Utopie des ›Durchbruchs‹ darstellen.

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Isolation –, so ist zu konstatieren, dass der Teufel Adrian Leverkühn nichts anderes verspricht als die Erfüllung seiner Utopie von der ›Erlösung der Kunst‹. Nach den versprochenen Leistungen des Paktes gilt es nun, Leverkühns Teil der Abmachung genauer zu betrachten. Die erste, grundsätzlichste Bestimmung ergibt sich bereits aus der eigentlichen »Teufelsware« (GKFA 10.1, 336): »Zeit ist das Beste und Eigentliche, das wir geben« (GKFA 10.1, 332) verkündet der Teufel, »[g]roße Zeit, tolle Zeit, ganz verteufelte Zeit« (GKFA 10.1, 336), »vierundzwanzig Jahr ab dato recessi« (GKFA 10.1, 363).835 Wo »das Stundglas gestellt ist, der rote Sand zu rinnen begonnen hat durch die fein-feine Enge« (GKFA 10.1, 335), da ist »ein gesetztes Ende« (ibid.) unvermeidlich – und was das bedeutet, daran lässt der Teufel keinen Zweifel: Lief das Stundglas aus, so will ich gut Macht haben, mit der feinen geschaffenen Creatur nach meiner Art und Weise und nach meinem Gefallen zu schalten und zu walten, zu führen und zu regieren, – mit allem, sei es Leib, Seel, Fleisch, Blut und Gut in alle Ewigkeit (GKFA 10.1, 364).

Im vorliegenden Zusammenhang sind die Einzelheiten dieser »ewigen Tilgung« (GKFA 10.1, 357) ohne Relevanz, da sie keinen Einfluss auf die Genievorstellung im Doktor Faustus haben. Die Untersuchung beschränkt sich daher auf diejenigen Konsequenzen des Paktes, mit denen Leverkühn schon zu Lebzeiten zu rechnen hat. Diese bestehen zunächst darin, dass es infolge der dämonischen Illuminierung nicht nur »hoch und überhoch hergeht« (GKFA 10.1, 336), sondern im Gegenzug auch »ein bißchen miserabel […], sogar tief miserabel« (ibid.), wie es aber ohnehin »Künstlerart und -Natur« (ibid.) sei: Die, bekanntlich, neigt allezeit zur Ausgelassenheit nach beiden Seiten, ist ganz normalerweise ein bißchen ausschreitend. Da schlägt immer der Pendel weit hin und her zwischen Aufgeräumtheit und Melencholia (ibid.).

Mit dem Begriff der ›Melencholia‹ ist eines der Grundmotive des Doktor Faustus genannt, das gerade im Geniekontext von zentraler Bedeutung ist und im Roman durch das ›magische Quadrat‹ aus Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I836 835 Die festgesetzte Frist stellt einen markanten Unterschied zu Goethes Faust dar, wo der Zeitpunkt der Vertragseinlösung bekanntlich Gegenstand einer Wette ist und somit unspezifisch bleibt: »Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrunde gehn!« [Faust I, Verse 1699 – 1703]. Im Gegensatz dazu geht die Frist von 24 Jahren auf die Historia von D. Johann Fausten zurück: »Dagegen aber ich mich hinwider gegen jhme verspriche vnd verlobe / daß so 24. Jahr / von Dato diß Brieffs an / herumb und fuervber gelauffen / er mit mir nach seiner Art und weiß / seines Gefallens / zuschalten / walten / regieren / fuehren / gut macht haben solle / mit allem / es sey Leib / Seel / Fleisch / Blut und gut / und das in sein Ewigkeit« [Füssel, Kreutzer (1999), S. 23]. 836 »Albrecht Dürers Kupferstich Melencolia I ist eines der Werke, auf die der Doktor Faustus direkt und indirekt immer wieder Bezug nimmt […]. Dürer stellt in der Gestalt der dumpf

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(vgl. GKFA 10.1, 138) repräsentiert wird. Zugleich weist der Teufel darauf hin, die Melancholie Dürer’scher Provenienz sei gewöhnlich, »sozusagen noch bürgerlich-mäßiger, nürrembergischer Art im Vergleich mit dem« (GKFA 10.1, 336), was er Adrian anbiete: [W]ir liefern das Äußerste in dieser Richtung: Aufschwünge liefern wir und Erleuchtungen, Erfahrungen von Enthobenheit und Entfesselung, von Freiheit, Sicherheit, Leichtigkeit, Macht- und Triumphgefühl, daß unser Mann seinen Sinnen nicht traut, – eingerechnet noch obendrein […] die Schauer der Selbstverehrung, ja, des köstlichen Grauens vor sich selbst, unter denen er sich wie ein begnadetes Mundstück, wie ein göttliches Untier erscheint. Und entsprechend tief, ehrenvoll tief, geht’s zwischendurch denn auch hinab, – nicht nur in Leere und Öde und unvermögende Traurigkeit, sondern auch in Schmerzen und Übelkeiten (GKFA 10.1, 336 f.).837

Das Konzept der »schöpferische[n], Genie spendende[n] Krankheit« (GKFA 10.1, 354), die bereits vorhandene Anlagen intensiviert, wird hier auf die künstlerspezifische Neigung zur Melancholie angewandt,838 wodurch der schon an sich extreme Zustand der Melancholie noch einmal radikalisiert wird. »Zu den wichtigsten Stigmata des Melancholikers gehört seine Kälte«,839 die als ein »durch den ganzen Roman sich ziehender teufelsmotivischer Begriff«840 auch im Faustus eine zentrale Rolle spielt, da Leverkühns entsprechende Veranlagung durch die Illumination bis ins Extrem gesteigert wird. Der Teufel führt aus: »Eine

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brütenden Melancholia und der Ausstattung des umgebenden Raumes das Ineinander von exakter zahlenorientierter Wissenschaft und magisch-intuitiver Genialität dar, welch Letztere die Epoche dem Melancholiker zuschrieb« (GKFA 10.2, 343). Zur Bedeutung des Kupferstichs im Doktor Faustus vgl. Puschmann (1983); Volker C. Dörr : ›Apocalipsis cum figuris‹. Dürer, Nietzsche, ›Doktor Faustus‹ und Thomas Manns »Welt des ›Magischen Quadrats‹«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 112 (1993), S. 251 – 270; Hans Wysling, Yvonne Schmidlin: Bild und Text bei Thomas Mann. Eine Dokumentation, 2. Aufl., Bern 1989, S. 379 und vor allem den Aufsatz von Borchmeyer (1994a). Der Ausdruck ›begnadetes Mundstück‹ ist ein deutlicher Hinweis auf die antike Vorstellung, wonach der Schaffende unter Inspiration nur ein passives Werkzeug des Gottes war, der ihn inspirierte und durch ihn sprach; vgl. Ion 534c-d. Ferdinand v. Ingen weist nach, dass es sich bei der Melancholie traditionell um einen Charakterzug der Faust-Gestalt handelt: »Auch im Volksbuch wird Faust ›ganz melancholisch‹ genannt, ›gar verwirrt und zweifelhaftig‹. Goethes Faust tritt uns ebenfalls als homo melancholicus entgegen« [Ferdinand van Ingen: Faust – homo melancholicus, in: Bormann, Alexander von (Hrsg): Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1976, S. 256 – 281]. Eine weitere Verbindung besteht laut Borchmeyer in der »Namensverwandtschaft von Saturn und Satan […], die beide ja auch als gestürzte Dämonen in der Unterwelt haus[t]en« [Borchmeyer (1994a), S. 127]. Damit mag auch zusammenhängen, dass »Magie und Zauberei, zumindest in der deutschen Tradition, dem negativen Einfluß des Saturn zugeschrieben werden« [van Ingen (1976), S. 264], was eine »gefährliche Nähe der Melancholie zur Teufelskunst und Zauberei« [ibid.] nach sich zieht. Borchmeyer (1994a), S. 145. Brief Thomas Manns an Kuno Fiedler vom 5. 2. 1948, zitiert nach Mann (1998), S. 162.

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Gesamterkältung deines Lebens und deines Verhältnisses zu den Menschen liegt […] bereits in deiner Natur« (GKFA 10.1, 364), um die rhetorische Frage anzuschließen: »Ist etwa die Kälte bei dir nicht vorgebildet, so gut wie das väterliche Hauptwee, aus dem die Schmerzen der kleinen Seejungfrau werden sollen?« (ibid.). Ebenso wie die von »Schmerzen und Übelkeiten« (GKFA 10.1, 337) begleiteten Migräneanfälle bildet der Verlust an emotionaler Wärme damit einen Preis, den Leverkühn für die inspirative Steigerung zu zahlen hat: Die Illumination läßt deine Geisteskräfte bis zum Letzten intakt, ja steigert sie zeitweise sogar bis zur hellichten Verzückung, – woran soll es am Ende denn ausgehen, als an der lieben Seele und am werten Gefühlsleben? (GKFA 10.1, 364).841

Damit wird Kälte zum bestimmenden Merkmal von Leverkühns Wesen,842 und »[a]us der Kälte der Melancholie resultiert das Versagtsein der Liebe«,843 so dass die letzte Klausel des Teufelspakts im Grunde nichts anderes darstellt als die konsequente Fortführung des Kältemotivs: »Du darfst nicht lieben« (GKFA 10.1, 363) – oder, genauer : »Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt« (GKFA 10.1, 364). Damit ist »[d]ie Kälte als Ausgeschlossenheit vom Gefühl, von der Liebe und damit vom Glück [, die] das Passionsmerkmal schon der frühen Künstlerfiguren Thomas Manns«844 bildet und auch in Lotte in Weimar zum Signum des Genies wird, im Doktor Faustus zum unhintergehbaren Extrem gesteigert. Das Liebesverbot des Teufelspakts macht Adrian Leverkühn nicht nur zum gesellschaftlichen Außenseiter wie etwa Tonio Kröger oder zwingt ihn ins ›innere Exil‹ wie den fiktionalen Goethe: Der Preis der Inspiration besteht in der Ab841 Die Frage, ob der Begriff der ›Seele‹ im Doktor Faustus eine theologisch-metaphysische Dimension hat, oder ob Zeitblom zuzustimmen ist, der ›Seele‹ im Sinne »einer mittleren, vermittelnden und stark poetisch angehauchten Instanz [versteht], in der Geist und Trieb einander durchdringen und sich auf eine gewisse illusionäre Weise versöhnen« (GKFA 10.1, 217), kann an dieser Stelle nicht untersucht werden. Exemplarische Vertreter der gegensätzlichen Forschungspositionen sind Beddow (1986), der – in der Nachfolge von Kahler (1948) – ›Seele‹ rein immanent auffasst, und andererseits Vaget, der die transzendente Dimension dieses Konzepts betont; vgl. Vaget (1987). 842 »Kalt wollen wir dich, daß kaum die Flammen der Produktion heiß genug sein sollen, dich darin zu wärmen. In sie sollst du flüchten aus deiner Lebenskälte« (GKFA 10.1, 364). Leverkühn selbst weist darauf hin, dass es sich bei diesem »extravagante[n] Dasein« (ibid.) um »die Hölle im voraus« (ibid.) handelt, deren ›Pointe‹ ja darin besteht, dass »sie ihren Insassen nur die Wahl lässt zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte« (GKFA 10.1, 360). Zugleich lassen sich assoziative Verbindungen herstellen sowohl zum Potential der ›schwarzen Galle‹, sehr heiß oder sehr kalt zu werden, als auch zum Nebeneinander von Hitze und Kälte in Leverkühns Werk; vgl. GKFA 10.1, 260. 843 Borchmeyer (1994a), S. 147. 844 Ibid., S. 146. Zum Motiv der Künstler-Kälte bei Thomas Mann vgl. außerdem Dieter Borchmeyer : Repräsentation als ästhetische Existenz. ›Königliche Hoheit‹ und ›Wilhelm Meister‹, in: Recherches germaniques 13 (1983), S. 105 – 136, hier : S. 114 f.

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wendung von »allen, die da leben, allem himmlischen Heer und allen Menschen« (GKFA 10.1, 363), und folglich in einer Isolation, wie sie vollkommener nicht gedacht werden kann. Zugleich wird damit auch die Alterität des Genies ins Extrem gesteigert: Der ›deutsche Tonsetzer‹ nimmt eine Position nicht nur außerhalb von Welt und Gesellschaft ein, sondern steht selbst der transzendenten Sphäre der ›himmlischen Heerscharen‹ als ein Anderer gegenüber.

4.4.

Die Eingießungen des Adrian Leverkühn: Inspiration

Adrian Leverkühn hat keinen Einfluss auf das Eintreten oder Nichteintreten der »Aufschwünge […] und Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 336), mit denen er »gesegnet oder von [denen] er heimgesucht« (GKFA 10.1, 524) ist,845 er kann sie weder herbeiführen noch verhindern, sondern ist ihnen ausgesetzt. Zeitblom schildert einen solchen Augenblick der Inspiration des ›deutschen Tonsetzers‹ aus eigener Anschauung: Ich sehe ihn plötzlich aus lässiger Lage sich aufrichten, seinen Blick starr und lauschend werden, seine Lippen sich trennen und eine mir unwillkommene, anwandlungshafte Röte in seine Wangen steigen. Was war das? War es eine jener melodischen Erleuchtungen, denen er damals […] ausgesetzt war, und mit denen Mächte, von denen ich nichts wissen will, ihr Wort hielten […]? (GKFA 10.1, 522).

Mit den ›Mächten‹, von denen er nichts wissen will, meint Zeitblom offensichtlich den Teufel, und dieser Hinweis belegt nicht nur, dass der Erzähler, aller gegenteiligen Versicherungen zum Trotz (vgl. GKFA 10.1, 323), sehr wohl an die »persönliche Existenz des Widersachers« (GKFA 10.1, 144) glaubt, sondern auch, dass er ihn als Quelle jener Anwandlungen betrachtet, die seinen Freund »im Gespräch so ungerufen überkommen« (GKFA 10.1, 524). Das zeigt sich erneut, wenn Zeitblom im Zusammenhang mit der »ungeheuren und hocherregten […] schöpferischen Aktivität« (GKFA 10.1, 699) der Jahre 1929 und 1930 feststellt, er habe sich nicht »des Eindrucks erwehren [können], als bedeute sie Sold und Ausgleich für den Entzug an Lebensglück und Liebeserlaubnis« (ibid.).846 Leverkühn selbst teilt diese Sichtweise: Alles, so bekennt er im Schlussmonolog, was er in seinem Leben geschaffen habe, sei »Teufelswerk, eingegossen vom Engel des Giftes« (GKFA 10.1, 720).847 Damit weist er dem 845 Vgl. Barmeyer (1968), S. 92. 846 Es ist unverkennbar, dass Serenus Zeitblom diese Hinweise auf den Teufelspakt bewusst in seine Schilderung einflicht, um die Faust-imitatio seines Freundes plausibel erscheinen zu lassen. 847 »Der Begriff der ›Eingießung‹ ist […] schon im Teufelsgespräch als Kennzeichnung teuflischer Inspiration verwendet« (GKFA 10.2, 878) und betont den Ursprung der Inspiration

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Teufel die selbe Stellung zu, die in der antiken Inspirations-Theorie die Götter oder die Musen innehatten:848 Für Adrian ist er die Quelle seiner Inspiration, und so lebt der Komponist unablässig »in der Furcht, der Erleuchtungszustand, mit dem er gesegnet oder von dem er heimgesucht war, möchte ihm vorzeitig entzogen werden« (GKFA 10.1, 524). Ganz im Sinne des antiken man„a-Verständnisses ist er außerdem vollständig von der Gunst der inspirierenden Instanz abhängig: So wie laut Platon ein Dichter »nicht eher vermögend [ist] zu dichten, bis er begeistert worden ist« (Ion 534b), lässt der Entzug der Inspiration auch Leverkühn in einer Verfassung zurück, in der ihm »sogar die Erinnerung daran, was das sei: ›Komponieren‹, und wie man das mache, entschwunden« (GKFA 10.1, 525) ist.849 Die Abhängigkeit des Inspirierten von seiner ›Gottheit‹ beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Gewährung oder Verweigerung des Erleuchtungszustands, gemäß der Lehre Platons ist er auch unter Inspiration nur ausführendes Organ eines fremden Willens: »The poet, when composing, is in a frenzy and out of his mind; he creates by divine dispensation, but with no knowledge of what he does.«850 Genau diese Rolle weist Thomas Mann im sogenannten ›Neun-ZeilenPlan‹ Adrian Leverkühn zu: »Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf […] in entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand.«851 Mann formuliert damit, »ins Moderne der Schreibsituation übertragen, die totale Passivität des Künstlers gegenüber der Inspirationsinstanz«.852 Im Roman wird das Motiv des nur ausführenden Schreibens wieder aufgenommen, wenn Zeitblom Leverkühns Verfassung in einer Phase inspirativen Andrangs beschreibt: Offensichtlich und eingestandenermaßen lebte dieser Mensch damals in einer Hochspannung durchaus nicht rein beglückender, sondern hetzender und knechtender Eingebung, in der das Aufblitzen und Sich-stellen eines Problems, der Komposi-

848

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850 851 852

von Seiten einer äußeren Instanz. Der Bezug zur Genietradition wird überdies hergestellt durch das schon mehrfach angeführte Ficino-Zitat (vgl. GKFA 10.1, 13). Vgl. Phaidros, 265 a-b: »Den göttlichen [Wahnsinn, CB] teilten wir wiederum in vier Teile nach vier Göttern, indem wir den weissagenden Wahnsinn dem Apollon zuschrieben, dem Dionysos den der Einweihungen, den Musen den dichterischen, den vierten aber der Aphrodite und dem Eros, den Wahnsinn der Liebe nämlich«. Als ein Reflex dieser Abhängigkeit lässt sich die Bemerkung Zeitbloms interpretieren, Leverkühn sei der Arbeit an den Gesta Romanorum sehr dringend ergeben gewesen; »nicht so sehr um ihres aktuellen Gegenstandes willen […], sondern weil er trachtete, ihn hinter sich zu bringen und für neu sich ankündigende Forderungen seines Genius bereit zu sein« (GKFA 10.1, 458). Zugleich wird hier auf die Vorstellung des genius als inspirierender Instanz verwiesen. Murray (1989b), S. 18. Mann (1992), S. 120. Nietzsche schreibt in Ecce Homo: »Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohne Zögern – ich habe nie eine Wahl gehabt« (Nietzsche II, 1131). Böschenstein (2000), S. 32.

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tionsaufgabe […] eins war mit ihrer erleuchtungsartigen Lösung, und die ihm kaum Zeit ließ, den sich jagenden Ideen, die ihm keine Ruhe gönnten, ihn zu ihrem Sklaven machten, mit der Feder, dem Stifte zu folgen (GKFA 10.1, 522).853

Zeitbloms Formulierung, Leverkühn habe als ›Sklave der Eingebung‹ kaum Zeit gehabt, ihren Anforderungen ›mit der Feder zu folgen‹, betont die Aspekte »des Diktates und des Gehorsams«854 und erweckt den Anschein, der Anteil des Komponisten an der Entstehung des Werkes beschränke sich auf die Niederschrift. Dieser Eindruck wird verstärkt durch die Bemerkung des Erzählers, das Werk Apokalipsis cum figuris sei »der Hauptsache nach in viereinhalb Monaten [entstanden], in einer Zeitspanne, die man ihm allenfalls als mechanischer Schreiberei, als bloßer Abschrift zugemessen hätte« (ibid.).855 Diese Leistung liegt nach Zeitbloms Einschätzung so weit jenseits des gewöhnlichen menschlichen Vermögens, dass »einen an bürgerlich mäßigen und gesetzten Arbeitsfortschritt Gewöhnten der bleiche Schrecken davor ankommen« (GKFA 10.1, 521) könne, und sie erscheint dadurch noch frappierender, dass Leverkühn alles, was er schreibt, »in reinlich-exaktester, ja zierlicher Notation« (GKFA 10.1, 664) zu Papier bringt, die »keine Spur von Fahrigkeit« (ibid.) aufweist. Ein so hoher Grad an Fehlerlosigkeit kann im vorliegenden Kontext als Merkmal des Arbeitens unter Inspiration verstanden werden, das nach des Teufels Worten dadurch gekennzeichnet ist, dass es »keine Wahl, kein Bessern und Basteln gibt« (GKFA 10.1, 347), sondern »alles als seliges Diktat empfangen wird« (ibid.). Die Entstehung der Apokalipsis in einer Zeitspanne, die unter gewöhnlichen Umständen allenfalls ihrer Abschrift angemessen wäre, impliziert also die Spaltung des künstlerischen Aktes in einen kreativ-schöpferischen und einen rein mechanischen Teil, in Hervorbringung und Niederschrift. Analog zur antiken Konstellation wird nur der ausführende Part Leverkühn zugeschrieben, während die Quelle der eigentlichen schöpferischen Leistung außerhalb seiner Person liegt: Für sie wird die inspirierende Instanz, also der Teufel, verantwortlich gemacht. Und auch Leverkühns Äußerung, er habe nur zu Papier gebracht, was »›sein Geist und Auerhahn‹ […] ihm eingesagt und abgefordert« (GKFA 10.1, 664)

853 In Ermanglung einer praktikablen Alternative wird weiterhin von der Annahme ausgegangen, dass Zeitbloms Äußerungen über die Inspiration und ihre Auswirkungen eine verlässliche Grundlage für die Interpretation darstellen. 854 Klugkist (2000), S. 74. 855 Den Zusammenhang zwischen der »ganz und gar unheimliche[n] Rapidität« (GKFA 10.1, 522) der Entstehung und der diabolischen Inspiration stellt Thomas Mann explizit her, wenn er ausführt, dass »Leverkühn, 35jährig, unter einer ersten Welle euphorischer Inspiration, sein Hauptwerk, oder erstes Hauptwerk, die ›Apokalipsis cum figuris‹ […] in unheimlich kurzer Zeit komponier[e]« [Brief Thomas Manns an Theodor W. Adorno vom 30. 12. 1945, zitiert nach Mann (1998), S. 74]; vgl. außerdem GKFA 10.2, 708.

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habe, scheint darauf hinzudeuten, dass er diese Trennung anerkennt und sich als ausführendes Organ ›oberer Eingießungen‹ betrachtet.856 Diese Ergebnisse erwecken den Anschein, die im Doktor Faustus entwickelte Form von Inspiration stimme weitgehend mit der platonischen man„a-Theorie überein. Führt man sich allerdings die Implikationen dieses Befundes vor Augen, wird schnell klar, dass eine einfache Übertragung der antiken Vorstellungen von Inspiration in den Kontext der Moderne zu kaum lösbaren Problemen führen würde, da der Dichter nach antiker Vorstellung »grundsätzlich nicht eigenschöpferisch«857 ist: [F]ür Platon hatte das Phänomen der Inspiration nichts mit Subjektivität und Individualität zu tun. […] Der inspirierte Dichter war kein ›Subjekt‹, sondern ein Medium des göttlichen Wortes. Er sprach nicht von ›sich‹, sondern gab der göttlichen Botschaft seine Stimme.858

Die neuzeitliche Vorstellung des Künstlers und erst recht des Genies basiert hingegen auf der Annahme, dass sich in einem künstlerischen Werk die Subjektivität seines Schöpfers ausdrücke, und die Negation des Künstlers als Subjekt, wie sie mit der Vorstellung von Inspiration in ihrer traditionellen Form verbunden ist, würde mithin zu einer unaufhebbaren Aporie führen. Sollte es sich bei Adrian Leverkühns ›Illuminierung‹ um Inspiration im traditionellen Sinne Platons handeln, hätte seine Subjektivität keinen Anteil mehr am kreativen Prozess, so dass er nicht mehr als ›Künstler‹ im modernen Verständnis des Wortes angesehen werden könnte. Aber ist Leverkühn unter Inspiration wirklich der rein passive Rezipient ›fertiger‹ Kompositionen, die er nun noch aufzuschreiben hat? Oder nimmt er aktiven Einfluss auf die Entstehung seiner Werke? Den ersten Hinweis auf eine Antwort bietet Zeitbloms Erstaunen darüber, dass Leverkühn »im Kampf mit Aufgaben, so hoch kompliziert, daß man sich ihre Bewältigung nur bei höchster, ausschließendster Konzentration vorstellen« (GKFA 10.1, 665) könne, bereits in der Lage sei, sich innerlich dem nächsten Werk zuzuwenden. Diese Formulierung lässt die Überzeugung des Erzählers erkennen, der Komponist habe sehr wohl einen Teil der Arbeit zu leisten, da nur in diesem Fall von der ›Bewältigung‹ einer Kompositionsaufgabe die Rede sein kann. Im Schlussmonolog bestätigt 856 Dieser Verweis auf den ›Geist und Auerhahn‹ ist ein Bestandteil von Leverkühns Faustimitatio (vgl. GKFA 10.2, 828). Dabei bildet der ›höllische Geist‹ zwar nicht die Inspirationsinstanz im strengen Sinn, fungiert aber doch als Gedächtnisstütze für Wagner : »Darneben bitte ich / daß du meine Kunst / Thaten / vnd was ich getrieben habe / nicht offenbarest / biß ich Todt bin / alsdenn woellest es auffzeichnen / zusammen schreiben / vnnd in eine Historiam transferiren / darzu dir dein Geist vnd Auwerhan helffen wirt / was dir vergessen ist / das wirdt er dich wider erjnnern« [Füssel, Kreutzer (1999), S. 112 f.]. 857 Barmeyer (1968), S. 98. 858 Plumpe (1993), S. 33.

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Leverkühn diese Einschätzung, wenn er feststellt, er habe sich »immerfort emsig befleißigt als ein Werker und nie geruget […] noch geschlafen, sondern [sichs] sauer werden lassen und Schweres vor [s]ich gebracht« (GKFA 10.1, 726), da auch ›Teufelswerk‹ nicht ohne Anstrengung zu vollbringen sei: »Denn wie Gott nicht Großes tut durch uns ohn’ unser Salben, so auch der Andre nicht« (ibid.). Die Annahme einer vollständigen Passivität Adrian Leverkühns ist damit nicht länger haltbar. An diese Feststellung schließt sich die Frage an, worin die »seltsamen Eingießungen« (ibid.) bestehen und was andererseits Leverkühn selbst zu den Kompositionen beisteuert. Zeitblom spricht von »melodischen Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 522), denen Leverkühn ausgesetzt sei; und unmittelbar im Anschluss von dem Aufgehen eines der in ihrer Plastik gewaltigen Themen in seinem Geist, […] die […] immer sofort eine kältende Bemeisterung erf[ü]hren, sozusagen an die Kandare genommen, zu Reihen umgedacht, als Bausteine der Komposition behandelt (GKFA 10.1, 522 f.)

würden. Diese Formulierung lässt den Schluss zu, Leverkühns Schaffensprozess unter Inspiration verlaufe in zwei Schritten: Die Eingebung selbst besteht in einem »Einfall ungeheuer plastischer Themen, melodische[r] Erleuchtungen«,859 die dem Komponisten »aus einem Jenseits der Ordnung und des ordnenden Verstandes«860 zukommen und sein »Werk vor dem Maschinellen retten«.861 Die formale Organisation des musikalischen Materials nach Maßgabe des ›strengen Satzes‹ bleibt jedoch Adrian Leverkühn und seinem »geschwinde[n], hoffärtige[n] Kopf« (GKFA 10.1, 362) überlassen, von dem die Themen »sofort bemeistert, gezügelt, beherrscht, in Zucht, an die Kandarre [sic!] genommen, zu Reihen umgedacht, als Bausteine der Komposition behandelt«862 werden: The abundance of expansive melodic ideas is visited upon him, but he does not remain a passive recipient. Before they are built into the composition, these themes are ›rethought‹ as note-rows, submitted to a ruthless intellectual discipline, their ›fire‹ tempered and ›cooled‹ by the relentless rigour of his serial technique.863 859 Voss (1975), S. 191. 860 Steinfeld (1985), S. 83. 861 Voss (1975), S. 191. Dass die diabolische Inspiration ›das Werk vor dem Maschinellen rette‹, korrespondiert mit der im Kontext des angeblichen Konzeptionsbruchs im Doktor Faustus vertretenen These, ohne die Einwirkung des Teufels, der die ›Leerstelle des Irrationalen‹ ausfülle, müssten die mit Hilfe der Reihentechnik komponierten Stücke steril und ›mechanisch‹ bleiben; vgl. oben S. 242 f. 862 Voss (1975), S. 191; vgl. auch Mann (1992), S. 213. 863 Beddow (1994), S. 52; vgl. auch Karen D. Vogt: Vision and Revision. The Concept of Inspiration in Thomas Mann’s Fiction, New York 1987, S. 13. Die Frage Eckhard Heftrichs, ob

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Anders als im Falle der traditionell-antiken Inspirationstheorie ist Leverkühn mehr als nur ein ausführendes Medium des Teufels: Zwar hat auch er keinen Einfluss darauf, ob und wann er eine inspirative Steigerung erfährt, und auch er ist unter Inspiration zum Komponieren gezwungen, so dass »die Freiheit des Schaffens nur noch die äußere Freiheit [bedeutet], der Inspiration ungestört nachzukommen«,864 doch spielt er bei der Hervorbringung der Werke eine aktive Rolle: Komponieren bedeutet für ihn, das ihm eingegebene musikalische Material den Ordnungsprinzipien der Reihentechnik und damit seiner intellektuellen Kontrolle zu unterwerfen. Und wie das System des ›strengen Satzes‹ ohne die diabolische Inspiration steril und mechanisch bleiben würde, so bildet die formale Strenge der Komposition andererseits die Voraussetzung für den ›Durchbruch‹ durch die Sterilität der Kunst: Nur Inspiration und Intellekt, Hitze und Kälte, der Teufel und Leverkühn gemeinsam vermögen Werke wie D. Fausti Weheklag hervorzubringen.865 Damit wird deutlich, dass es sich bei der im Doktor Faustus entwickelten Konzeption nicht um eine schlichte Rekreation der antiken Inspirationsvorstellung handelt, sondern um ihre Übertragung in und damit verbundene Anpassung an den Kontext der Moderne:866 Diese Art von Inspiration eröffnet Leverkühn die Möglichkeit, von den ›Eingießungen‹ seiner Illuminierung zu profitieren und trotzdem seine Individualität zu wahren und

»die von Leverkühn verkörperte Verbindung des dämonischen Enthusiasmus mit dem bürgerlich-künstlerischen Leistungsethos nicht […] in sich selbst so widersprüchlich [sei], daß davon die Glaubwürdigkeit der Figur bedroht« werde [Heftrich (1982), S. 268], kann vor diesem Hintergrund verneint werden: Unter der Voraussetzung eines in zwei Schritten verlaufenden schöpferischen Prozesses können diese beiden sich scheinbar gegenseitig ausschließenden Konzepte in plausibler Weise zusammengeführt werden. 864 Klugkist (2000), S. 74. 865 Wenn Böschenstein postuliert »die Konzeption der Inspiration in Thomas Manns Roman« [Böschenstein (2000), S. 132] sei von der »Totalität des poetischen Prozesses« [ibid.] gekennzeichnet, greift diese Interpretation zu kurz. Der Inspirationsprozess im Doktor Faustus ist vielmehr gerade durch das Merkmal gekennzeichnet, das sie als charakteristisch für die Inspirationsvorstellung der Moderne anführt: »Bei den Zeugnissen aus moderner Zeit wird sehr oft unterschieden zwischen einem ersten Stadium spontaner Einfälle und dem Stadium der Ausarbeitung, wobei das erstere als Einbruch und Eingebung einer ›anderen‹ Instanz verstanden wird« [ibid.]. 866 Theodor Fontane schreibt über seine Arbeit an Effi Briest: »Ich habe das Buch mit dem Psychographen geschrieben. Nachträglich, beim Corrigieren, hat es mir viel Arbeit gemacht, beim ersten Entwurf gar keine. Der alte Witz, dass man Mundstück sei, in das von irgendwoher hineingetutet wird, hat doch etwas für sich« [Brief Theodor Fontanes an Paul Schlenther vom 11. 11. 1895, zitiert nach Theodor Fontane: Briefe. 1890 – 1898, in: Keitel, Walter; Nürnberger, Helmuth (Hrsg): Theodor Fontane. Werke, Schriften, Briefe, IV. Abteilung, 4. Band, München 1980 – 1982, hier: S. 502]. Es ist kennzeichnend für den Bedeutungsverlust der Inspirationsvorstellung in der Moderne, dass sie für Fontane nur noch einen ›alten Witz‹ darstellt.

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am Kompositionsprozess teilzunehmen, was für den modernen Künstler unerlässlich ist.867

4.5.

Der dunkle Untergrund des Genies: Melancholie

Die bisherige Argumentation ist von der Realexistenz des Teufels ausgegangen, wodurch die Parallele zwischen der im Doktor Faustus entwickelten Vorstellung von Inspiration und ihrem antiken Vorbild deutlich sichtbar wurde. Allerdings bietet die strukturelle Mehrdeutigkeit des Textes ebenso die Möglichkeit, den Besucher im ›steinernen Saal‹ von Palestrina für eine Projektion von Leverkühns Innerem anzusehen,868 so dass letztlich unentscheidbar bleibt, ob die Inspiration des Komponisten die »spontane Entladung gestauter Kräfte ist, oder ob sie auf dem Einfluß unnennbarer, äußerer Mächte beruht.«869 Im Folgenden soll untersucht werden, wie sich seine Steigerung erklären lässt, wenn die Realität des ›Teufels‹ verneint und er stattdessen als Ausgeburt von Leverkühns »inzipiente[m] Schwips« (GKFA 10.1, 342) verstanden wird; als Ursache der Illumination wäre dann seine syphilitische Infektion aufzufassen. Und obwohl die Verknüpfung von ›Krankheit und Genie‹ im Werk Thomas Manns als Folge der D¤cadence-Vorstellungen des Fin de Siºcle anzusehen ist, kann die Verinnerlichung des inspirativen Impulses auf einen Vorstellungskomplex zurückgeführt werden, der einen maßgeblichen Anteil an der Entwicklung des modernen Ge-

867 Zeitblom verzeichnet, dass Leverkühns Gesicht sich unter Inspiration zu einer Grimasse verziehe, »deren Ausdrucksmischung […] die kluge und stolze Schönheit seines Gesichts entstell[e]« (GKFA 10.1, 523), und Beddow zieht daraus die plausible Schlussfolgerung, dieser Ausdruck deute an, »that Leverkühn’s nature is being as much violated as fulfilled in […] his hour of creative triumph« [Beddow (1994), S. 52]. Diese ›Entstellung‹ kann als ein Hinweis darauf gelesen werden, dass der Einbruch äußerer Mächte in den Kern der Persönlichkeit für den modernen Menschen einer mentalen Vergewaltigung gleichkommt. 868 In der Forschung wird gelegentlich die Entscheidung für eine der beiden Möglichkeiten vertreten, obwohl dadurch die Ambiguität und Komplexität des Textes in unzulässiger Weise beschränkt wird. So versteht Allen den Teufel als »a psychological fact« [Allen (1985), S. 131], während Klugkist davon überzeugt ist, die »phantastische[] Voraussetzung, daß die Inspiration tatsächlich aus anderen Bereichen als der eigenen Seelentiefe« stamme [Klugkist (2000), S. 74], gelte »im letzten Sinne nicht« [ibid.]. 869 Pütz (1997), S. 127. Vgl. dazu ein Zitat Nietzsches aus Menschliches, Allzumenschliches, in dem die Inspiration, anders als in der berühmten Passage aus Ecce Homo, auf natürliche Ursachen zurückgeführt wird: »Wenn sich die Productionskraft eine Zeitlang angestaut hat und am Ausfließen durch ein Hemmnis gehindert worden ist, dann gibt es endlich einen so plötzlichen Erguß, als ob eine unmittelbare Inspiration, ohne vorhergegangenes innres Arbeiten, also ein Wunder sich vollziehe« (Nietzsche I, 550). Nietzsche bezeichnet die Auffassung einer ›unmittelbaren Inspiration‹ hier als »die bekannte Täuschung […], an deren Fortbestehen […] das Interesse aller Künstler ein wenig zu sehr« hänge (ibid.).

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niebegriffs hat: auf das antike Konzept der Melancholie und seine Wiederaufnahme in der Renaissance.870 In dem Exkurs Antike Wurzeln des Genies II wurde bereits dargestellt, dass es an einem bestimmten Punkt der historischen Entwicklung zu einer Verinnerlichung der ursprünglich als außerhalb des Menschen gedachten inspirativen Instanz gekommen ist.871 Dieser Prozess der Introduktion wurde begünstigt durch die wechselseitige Beeinflussung von platonischer man„a und pseudoaristotelischer Melancholie, die zu einer vollständigen Verschmelzung beider Konzepte im Florentiner Neoplatonismus eines Marsilio Ficino führte.872 Der Einfluss der ›Schwarzgalligkeit‹, die ursprünglich als rein organisches Phänomen, als »Krankheit oder Verhaltensstörung«873 verstanden worden war, hatte zur Folge, dass die Vorstellung der Inspiration von jeglichem Bezug auf eine extern-metaphysische Instanz gelöst und auf eine physische Disposition des Menschen zurückgeführt wurde.874 Damit eröffnet sich die Möglichkeit, die Illumination im Doktor Faustus ohne Bezugnahme auf die metaphysische Instanz des Teufels zu verstehen. Da gemäß der antiken Humoralpathologie der für den Zustand der Melancholie verantwortliche Stoff – die ›schwarze Galle‹ – »von Natur aus kalt« (Problem 954a) ist, gehört Leverkühns Kälte zu den »wichtigsten Stigmata des Melancholikers«.875 Wegen der Eigenschaft der ›schwarzen Galle‹, »sowohl den höchsten Wärmegrad als auch den höchsten Kältegrad annehmen« (Problem 870 Prechtl-Fröhlich weist darauf hin, dass die Beschäftigung mit der Faust-Thematik einen Wandel im Melancholie-Verständnis Thomas Manns ausgelöst habe, das bis zu diesem Zeitpunkt eher alltagssprachlich gewesen sei: »[E]ine direkte Kenntnisnahme der Melancholie-Tradition und ein bewußtes Arbeiten damit [ist] erst für die Zeit der Entstehung des ›Doktor Faustus‹ nachweisbar, als sich Thomas Mann mit dem Dürerschen MelancholieStich, mit der ›Welt des ›Magischen Quadrats‹‹ (XI, 174) auseinandersetzte und sich damit auf eine Zeit konzentrierte, die entscheidend war für den modernen Begriff von Melancholie, der sich wiederum eng mit dem neuzeitlichen Genie-Verständnis verbindet« [Prechtl-Fröhlich (2001), S. 12]. 871 »Sobald zwischen ingenium und genius nicht mehr unterschieden wird, drängt es sich geradezu auf, die ›Inspiration‹ […] als Einfluß des guten Genius zu deuten – und in einer zweiten Wendung diesen Einfluß und die Instanz, von der er ausgeht, gar nicht mehr als eine äußere Macht anzusehen, sondern mit dem (psychologisch verstandenen) ingenium zu identifizieren. Der Genius wird introjiziert« [Ortland (2000 – 2005), S. 664 f.]. 872 Die Bedeutung von Ficinos Philosophie für den Geniebegriff im Doktor Faustus zeigt sich daran, dass Zeitblom ihn »zwar ohne Namensnennung, aber original zitiert, wenn er mit Schaudern ansetzt, das Porträt des verewigten Freundes Adrian Leverkühn zu zeichnen, für den sich ihm gleich der Begriff ›Genie‹ aufdrängt« [Borchmeyer (1994a), S. 139 f.]; vgl. auch Rütten (2002), S. 132. 873 Theunissen (1996), S. 7. 874 Vgl. in diesem Sinne auch Rütten (2002), S. 132, der allerdings von einer Zusammenführung der platonischen mit der aristotelischen Traditionslinie schon im Problem XXX, 1 und nicht erst bei Ficino ausgeht. 875 Borchmeyer (1994a), S. 145.

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954a) zu können, neigt ein Melancholiker qua Veranlagung zu extremen Stimmungsschwankungen. Dabei führt extreme Kälte zu »starken Depressionen oder Angstzuständen« (Problem 954b), bei übermäßiger Hitze aber werden die Betroffenen »von Krankheiten der Raserei und der Begeisterung ergriffen, woher die Sibyllen und Wahrsager und die Begeisterten alle ihren Ursprung haben« (Problem 954a).876 Dieses Gegensatzpaar von Depression und Begeisterung bestimmt die Inspirationserfahrung Adrian Leverkühns und bildet damit eine der Grundkonstellationen des Romans. Es handelt sich um die literarische Umsetzung der Denkfigur der Polarität, die dem theophrastischen Melancholieverständnis zugrunde liegt, der Skalierung der Lebens- und Schaffensmöglichkeiten zwischen Polen, die Absturzgefahr in sich bergen: vom extrem Kalten ins extrem Heiße, vom Antriebs-, Reg- und Ideenlosen zum ›konstruktiven Furor‹ […], vom Abgrundtiefen zum entfesselten Höhenflug.877

Der Teufel selbst liefert eindrückliche Beschreibungen der beiden Zustände: Schreibt Einer im Raptus an den Rand: ›Bin selig! Bin außer mir! Das nenn ich neu und groß! Siedende Wonne des Einfalls! Meine Wangen glühen wie geschmolzen Eisen! Bin rasend, und ihr alle werdet rasend werden, wenn dies zu euch kommt! Gott helfe dann euren armen Seelen!‹ […] Ruft Einer nächsten Tags im Rückschlag: ›O blöde Öde! O Hundedasein, wenn man nichts machen kann! […] Könnt’ ich abkratzen auf gute Manier! Möge die Hölle sich meiner erbarmen, denn ich bin ein Höllensohn!‹ (GKFA 10.1, 344).

Diese polare Konstellation verwirklicht sich geradezu exemplarisch an dem ›deutschen Tonsetzer‹. In seinem Leben wechseln »Gesundheits- und Schaffensepoche[n]« (GKFA 10.1, 512), während derer er »seine Gesundheit für vollkommen, für triumphal« (GKFA 10.1, 700) erklärt, mit Phasen ab, in denen er nicht nur von »Reglosigkeit des Geistes« (GKFA 10.1, 657), sondern auch von körperlichen Leiden gequält wird, die er als »eine akute Steigerung seiner ererbten Migräne« (GKFA 10.1, 497) ansieht und dadurch mit dem Teufelspakt assoziiert: Es war ein […] Magenübel, das ihn ergriffen hatte, mit heftigsten Kopfschmerzen auftretend, mehrtägig und in wenigen Tagen wiederkehrend, mit stunden- ja tage876 Bereits der Verweis auf die ›Sibyllen und Wahrsager‹ stellt einen Bezug zur platonischen Man„a-Vorstellung her. 877 Rütten (2002), S. 136. Wenn Palencia-Roth ausführt, Leverkühn sei »not always and unchangeably melancholic, for he is also at times euphoric« [Palencia-Roth (1980), S. 369], dann verrät dieser unangemessene Gegensatz, dass seiner Analyse ein umgangssprachlicher Melancholie-Begriff zugrunde liegt, der ›Melancholie‹ mit ›Depression‹ gleichsetzt, während der Melancholiker nach antikem Verständnis gerade durch den abrupten Wechsel zwischen manischem Hochgefühl und Depression gekennzeichnet ist.

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langen Erbrechungen dazu bei leerem Magen […], in tiefe Ermattung bei andauernd großer Lichtempfindlichkeit ausgehend, wenn ein Anfall vorüber war (GKFA 10.1, 496).

Derartige Rückschläge »in Leere und Öde und unvermögende Traurigkeit« (GKFA 10.1, 337) gehören zwar zu dem im Teufelsgespräch festgesetzten Preis der Illumination,878 sind der platonischen Inspirationstheorie jedoch vollständig fremd. Erst aus dem Kontext der pseudo-aristotelischen Melancholie-Vorstellung heraus wird deutlich, warum Leverkühn seine kreativen Höhenflüge mit Rückschlägen in Depression und physische Erkrankung bezahlen muss: Das, was Platon als man„a bezeichnet, bildet nur das eine Extrem einer melancholischen Disposition, die Folge einer starken Erhitzung der ›schwarzen Galle‹. Untrennbar damit verbunden ist der Gegenpol, gekennzeichnet von Kälte und Depression. Borchmeyer weist darauf hin, dass das Motiv der Migräne »zwar nicht zu den traditionellen Melancholietopoi gehör[e], sich aber verblüffend organisch mit ihnen verbind[e]«,879 und bezeichnet das ›Hauptweh‹ des Komponisten vor diesem Hintergrund kurzerhand als eine »Melancholikerkrankheit Adrians«.880 Auch Serenus Zeitblom ist davon überzeugt, dass »diese beiden Zustände, der depressive und der gehobene, innerlich nicht scharf gegen einander abgesetzt [seien], nicht zusammenhanglos auseinander fielen« (GKFA 10.1, 512), sondern in enger Verbindung miteinander stünden. Er nimmt eine wechselseitige Beeinflussung von Depression und Produktion an und geht davon aus, dass »in der Krankheit […] Elemente der Gesundheit am Werke [seien] und solche der Krankheit geniewirkend in die Gesundheit hinübergetragen« (GKFA 10.1, 515 f.) würden. Um seine Annahme zu untermauern, führt er die Entstehung der Apokalipsis cum figuris als Beispiel an: Die Konzeption des apokalyptischen Oratoriums […] reicht […] weit zurück in eine Zeit scheinbar völliger Erschöpfung von Adrians Lebenskräften, und die Vehemenz und Schnelligkeit, mit der es danach, in wenigen Monaten, zu Papier gebracht wurde, gab mir immer die Vorstellung ein, als sei jener Elendszustand eine Art von Refugium und Versteck gewesen, in das seine Natur sich zurückzog, um unbelauscht, unbeargwöhnt […] Entwürfe zu hegen und zu entwickeln, zu denen gemeines Wohlsein gar nicht den abenteuerlichen Mut verleiht (GKFA 10.1, 516). 878 Böschenstein weist darauf hin, dass das Teufelsgespräch als eine Art Blaupause für den Verlauf der erkauften vierundzwanzig Jahre angesehen werden könne: »Fast etwas programmässig [sic!] lässt der Autor den Künstler Punkt für Punkt die rauschhafte Produktion absolvieren, die der Teufel versprochen hat« [Böschenstein (2000), S. 150]. Zugleich ist »[d]as Leiden Adrians […] bis in die einzelnen Symptome hinein nach den Notizen Martin Gumperts […] und nach den einschlägigen Quellen über Nietzsches Syphilis […] geschildert« (GKFA 10.2, 682). 879 Borchmeyer (1994a), S. 149. 880 Ibid., S. 155.

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An dieser Stelle zeigt sich, wie bruchlos sich die Melancholie in das Motivgeflecht des Romans einfügt: Das Attribut der ›geniewirkenden‹ Krankheit verweist im Doktor Faustus primär auf die syphilitische Infektion und ihre illuminierenden Folgen – und ist zugleich perfekt geeignet, die Wirkung der Melancholie zu beschreiben,881 die nichts weniger als das Urbild der ›genialisierenden Krankheit‹ ist. Nicht umsonst beginnt das »wichtigste[] Dokument der Geschichte des [Melancholie-]Begriffs und seiner späteren Verbindung mit dem Genie-Gedanken«,882 das pseudo-aristotelische Problem XXX, 1 mit den Worten: »Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker«? (Problem 953a).883 Ohne Zweifel sind die Vorstellungskomplexe Inspiration und Melancholie sowie ihre »Engführung im florentinischen Neoplatonismus«884 für den Geniebegriff im Doktor Faustus von eminenter Bedeutung: Nicht nur weist der ›deutsche Tonsetzer‹ Adrian Leverkühn alle »denkbaren Zügen aus dem Symptomkomplex der Melancholie«885 auf, dieser Komplex wird überdies um neue Symptome wie das ›Hauptwee‹ erweitert und auf diese Weise eng mit den übrigen Motiven des Romans verwoben: Sowohl seine Rolle als Faust als auch seine Neigung zur Kälte prädestinieren Leverkühn zum homo melancholicus, und der 881 Zeitblom selbst gibt nicht zu erkennen, ob er die am Beispiel Leverkühns beobachtete Symptomatik mit der Melancholie-Tradition in Verbindung bringt. Seine Verwendung des das Ficino-Zitats spricht allerdings dafür, verweist es doch »auf den Florentiner Neoplatonismus des ausgehenden 15. Jahrhunderts, der eine Wiederbelebung der aristotelischen nobilitierten Melancholievorstellung mit sich brachte« [Rütten (2002), S. 132]. 882 Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 16. 883 Im Problem XXX, 1 werden die Symptome der Melancholie am Beispiel des Weinrausches erläutert, was Verbindungen sowohl zu Vorstellungen des Fin de Siºcle und der D¤cadence als auch zu der vom Teufel erwähnten »halbe[n] Flasche Champagner« (GKFA 10.1, 336) herstellt. Auch in dieser Hinsicht also passt die Melancholie in den Kontext des Doktor Faustus und in den größeren des Mann’schen Gesamtwerks. 884 Rütten (2002), S. 134. 885 Borchmeyer (1994a), S. 144. Borchmeyer verweist unter anderem auf Adrians ländliche Herkunft – der Bauer ist ›das Saturnkind par excellence‹ –, auf Jonathan Leverkühns Hang zu naturmystischer Spekulation, auf den Hund »Kaschperl-Suso« (GKFA 10.1, 401), der sich auch auf Dürers Kupferstich Melencolia I finde, auf Leverkühns Kälte sowie auf die Mutterfiguren Elsbeth Leverkühn und Else Schweigestill [vgl. ibid., S. 144 f.]. Rütten merkt überdies an, dass die »Typisierung als Melancholiker auch noch gestisch untermauert« werde [Rütten (2002), S. 138], da Adrian »seine Lebensbeichte im gestus melancholicus, d. h. in der ikonographisch tausendfach belegten melancholietypischen Kopfstützgebärde« ablege [ibid.]. – In einem zentralen Punkt allerdings weicht Mann von den Vorstellungen der Melancholietradition ab: Er kehrt das »traditionelle Verhältnis von Musik und Melancholie im Doktor Faustus genau um. Der in Melancholie versunkene Alchemist in seinem Laboratorium – das ist nun der Musiker selber« [Borchmeyer (1994a), S. 129]. Dieser Aspekt, den Borchmeyer so detail- wie kenntnisreich behandelt, spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle.

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»Extremismus seines Daseins, de[r] Wechsel von schöpferischer Entfesselung und abbüßender Lähmung« (GKFA 10.1, 659) kann ebenfalls als Merkmal des Melancholikers verstanden werden, der »auf einem schmalen Grat zwischen zwei Abgründen«886 wandelt, weil sein Bewusstsein unablässig »[z]wischen den Extremen der höchsten Befriedigung und der tiefsten Verzweiflung […] hin und her gerissen«887 wird: »Adrian Leverkühn ist ein Genie und, was über zwei Jahrtausende nahezu dasselbe war, ein Melancholiker theophrastischer Provenienz.«888 Es konnte somit gezeigt werden, dass das antike Konzept der Melancholie es erlaubt, Leverkühns inspirative Steigerung auch dann zu erklären, wenn man die Realexistenz des Teufels bestreitet: Sie kann als Folge eines organischen Missverhältnisses aufgefasst werden, ohne dass die Bezugnahme auf eine äußere, im weitesten Sinne metaphysische Inspirationsinstanz notwendig wäre – der Ursprung der Inspiration liegt bei dieser Lesart im Inneren des Menschen. Allerdings hat diese ›Introduktion‹ des kreativen Impulses weitreichende Konsequenzen. Unter historischen Gesichtspunkten kann die Übertragung des kreativen Impulses auf eine externe Entität wie eine Gottheit und damit die Entstehung der Inspirations-Vorstellung als eine Strategie verstanden werden, mit dem geheimnisvollen Phänomen schöpferischer Kreativität umzugehen: Dass überhaupt Gottheiten entworfen werden, als deren Gabe [die] Kreativität erscheint, lässt zwei anthropologische Konstanten erkennen: der Teil der Person, der kreativ ist, wird als ein ›anderes‹ gegenüber der vertrauten Alltagspersönlichkeit empfunden, – und dieses ›andere‹ ist nicht beliebig verfügbar.889

Wird dieses ›Andere‹, die Quelle der Kreativität, nicht mehr als Gottheit verstanden, sondern im Inneren des Menschen verortet, dann wird damit das Irrationale, Fremde, Bedrohliche zu einem integralen Bestandteil der kreativen Persönlichkeit. Sie sieht sich unversehens mit der prinzipiellen und unhintergehbaren »Fremdheit des eigenen Geistes«890 konfrontiert, mit einem ›Anderen‹, das gleichwohl Bestandteil ihrer selbst ist – ein Zustand, der auf eine Spaltung der Persönlichkeit hinausläuft und die Vorstellung von ›In-dividualität‹ im Sinne 886 Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 80. 887 van Ingen (1976), S. 263. Zumindest im Doktor Faustus kann von einer »Mäßigung im Sinne aristotelischer Mesonlehre« [Rütten (2002), S. 133] keine Rede sein, die es Adrian Leverkühn ermöglichen würde, »zwischen den Polen ein wenn auch labiles Gleichgewicht zu halten« [ibid.]. Der Komponist führt ein »extravagante[s] Dasein« (GKFA 10.1, 364), dessen ›Pointe‹, wie die der Hölle, darin besteht, dass ihm nur die Wahl bleibt »zwischen extremer Kälte und einer Glut, die den Granit zum Schmelzen bringen könnte« (GKFA 10.1, 360). Ein ›mittleres Maß‹ ist ihm »gänzlich unerreichbar« [Theunissen (1996), S. 16 f.]. 888 Rütten (2002), S. 137. 889 Böschenstein (2000), S. 131. 890 Ortland (2000 – 2005), S. 665.

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eines unteilbaren Wesenskerns radikal in Frage stellt. Zwar wird die Erfahrung von der Dissoziation der Persönlichkeit gemeinhin als ein dezidiert modernes Phänomen aufgefasst,891 doch sieht bereits Theophrast den Melancholiker durch »das Zerfallensein mit sich selber«892 gekennzeichnet: Das Problem XXX, 1 lässt keinen Zweifel daran, dass Melancholiker sich nicht nur von anderen Menschen, sondern auch »von sich selbst unterscheiden […]. Hierin kündigt sich die moderne Erfahrung der Selbstentzweiung an.«893 Eine solche Selbstentzweiung erfährt auch Adrian Leverkühn. Zu Beginn »des ›Zwiegesprächs‹ im steinernen Saal« (GKFA 10.1, 387) bemüht er sich, in seinem Gegenüber »nur ein Geplerr« (GKFA 10.1, 342) und Gaukelwerk, eine Fieberphantasie zu sehen, und hält ihm vor: »Ihr sagt lauter Dinge, die in mir sind und aus mir kommen, aber nicht aus euch« (GKFA 10.1, 328). Um Leverkühn »von seinem objektiven Vorhandensein zu überzeugen« (GKFA 10.1, 323), kehrt der Besucher das Argument kurzerhand um: Ich bin nicht das Erzeugnis deines pialen Herdes dort oben, sondern der Herd befähigt dich, verstehst du? mich wahrzunehmen, und ohne ihn, freilich, sähst du mich nicht. Ist darum meine Existenz an deinen inzipienten Schwips gebunden? Gehör ich darum in dein Subjekt? Da möchte ich bitten! (GKFA 10.1, 342 f.).

Wenn man allerdings die Realexistenz des Teufels bestreitet, ist genau das der Fall: »Ein anderer, ganz anderer, ein entsetzlich anderer« (GKFA 10.1, 323) sitzt dem Komponisten im steinernen Saal in Palestrina gegenüber, und dieser ›Andere‹ ist zugleich Teil seines Subjekts, seiner Persönlichkeit. Der historische Prozess der Übertragung des kreativen Impulses auf eine außerhalb des Menschen gelegene metaphysische Instanz wird am Beispiel Adrian Leverkühns gewissermaßen noch einmal vollzogen: Das ›Andere‹, Fremde und Irrationale894 seines Wesens wird außerhalb seiner selbst personifiziert und so zu seinem Gegenüber und Dialogpartner gemacht. Es hat sich also gezeigt, dass hinsichtlich des Realitäts-Status des Teufels beide im Text enthaltenen Möglichkeiten zu plausiblen und aussagekräftigen Ergebnissen führen: Wird seine Realität angenommen, so lässt sich Leverkühns inspirative Steigerung nach dem Muster der platonischen Inspiration erklären, wobei der Teufel die Rolle der inspirierenden Instanz einnimmt. Versteht man den Teufel hingegen als Produkt der Imagination des ›deutschen Tonsetzers‹, kann die Quelle des kreativen Impulses unter Rückgriff auf die antike Melan891 892 893 894

Einen Überblick über die Subjekttheorie in der Moderne liefert Zima (2007). Borchmeyer (1994a), S. 147. Theunissen (1996), S. 12 f. Es ist augenscheinlich, dass es sich hierbei um einen Aspekt des Alteritäts-Diskurses handelt, dessen verschiedene Facetten im nächsten Kapitel untersucht werden. Der Teufel, egal ob real oder imaginiert, ist der personifizierte alterus.

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cholie-Theorie in seinem Inneren verortet werden, was zugleich zu einer Introduktion der irrationalen Elemente und damit letztlich zur Spaltung von Leverkühns Persönlichkeit in ein ›Ich‹ und ein ›Anderes‹ führt, das, von Adrian außerhalb seiner selbst imaginiert, die Gestalt des Teufels annimmt.895 Für das Genie-Konzept im Doktor Faustus sind die antiken Vorstellungen von Inspiration und Melancholie, die zu den Wurzeln des modernen Geniebegriffs gehören, von zentraler Bedeutung. Adrian Leverkühn »ist ein – wenn auch vom Teufel […] – Inspirierter, ein Erleuchteter«,896 und zugleich ein »Melancholiker theophrastischer Provenienz.«897 Dabei sind die traditionellen Vorstellungen auf eine Weise in das Motivgeflecht des Romans eingebunden, die ihre Übertragung in einen modernen Kontext überhaupt erst ermöglicht. Das Genie Adrian Leverkühns, dieses Prototypen des modernen Künstlers, wird auf diese Weise an Vorstellungskomplexe zurückgebunden, die in ihrer maßgeblichen Form vor über 2000 Jahren schriftlich formuliert worden sind, ohne dass der ›deutsche Tonsetzer‹ dabei als Figur unglaubwürdig wird. Das Ergebnis ist ein Geniebegriff, der tief in den antiken Traditionen wurzelt und trotzdem im Kontext der Moderne plausibel und überzeugend ist.

895 Greift man auf das von Paul Tillich entwickelte Konzept des Dämonischen zurück, lassen sich selbst diese beiden Alternativen noch zusammenführen. Seiner Ansicht nach äußert sich das Dämonische »als Einbruch in das Zentrum der Persönlichkeit, als Angriff auf die synthetische Einheit des Geistes« [Tillich (1980), S. 104], und somit in gleicher Weise wie die platonische Inspiration. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass die Folge dämonischer Besessenheit nicht in einer zeitweiligen Substituierung der Individualität des Ergriffenen durch diejenige des Gottes besteht, sondern in einer Spaltung seiner Persönlichkeit: »Die Persönlichkeit, das seiner selbst mächtige Sein, wird von einer Macht ergriffen, durch die es in sich selbst zwiespältig wird. […] Es ist der Zustand der ›Besessenheit‹, durch den sich die Dämonie im Persönlichen verwirklicht. Besessenheit aber ist Zerspaltung des Persönlichen« [ibid., S. 102 f.]. Das entspricht genau dem Effekt der melancholischen Veranlagung. Es ist also denkbar, dass Adrians Melancholie durch das in ihm wirksame Dämonische herbeigeführt wird, und dass dieses somit die Spaltung seiner Persönlichkeit hervorruft. Das wiederum würde bedeuten, dass der Teufel, selbst wenn er ›nur‹ als Projektion von Leverkühns Innerem anzusehen ist, als Ausdruck dieses Dämonischen gedeutet werden kann. Damit aber wäre der Gegensatz zwischen der ›metaphysischen‹ und der ›realistischen‹ Lesart von Leverkühns inspirativer Steigerung weitgehend aufgehoben, da in beiden Fällen von dem Einfluss einer ›anderen‹ Macht auf den Komponisten ausgegangen werden müsste. Die Frage, ob der Teufel ›wirklich‹ ist oder nicht, wäre vor diesem Hintergrund tatsächlich ohne Bedeutung. 896 Rütten (2002), S. 137. 897 Ibid.

268 4.6.

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Die Legitimität des diabolischen Genies

Es kann, trotz anders lautender Beteuerungen, kein Zweifel bestehen, dass Serenus Zeitblom das Genie seines Freundes als das Ergebnis »eines gräßlichen Kaufvertrages« (GKFA 10.1, 13) ansieht, mit dem »Mächte, von denen [er] nichts wissen will, ihr Wort« (GKFA 10.1, 522) halten: Die »›unlautere‹ Steigerung [s]einer natürlichen Gaben« (GKFA 10.1, 14),898 die Leverkühn befähigt, trotz seiner geistigen Disposition und der »lähmenden Schwierigkeiten der Zeit« (GKFA 10.1, 355) schöpferisch tätig zu sein, bildet in den Augen seines Famulus eine Gegenleistung für Adrians Verzicht auf Liebe und Wärme im Leben und die Aufgabe seiner Seele im Tod. Schon die Formulierung ›unlautere Steigerung‹ zeigt an, dass der Erzähler diese Art von ›Genialisierung‹ für illegitim hält, und auch in der Forschung herrscht Einigkeit darüber, dass »Adrian Leverkühns Künstlerlaufbahn […] eindeutig die sünd- und krankhafte ›Genialität‹ demonstrier[e]«.899 Dabei wirft Zeitbloms Urteil eine Reihe von Fragen auf: Wie kommt er zu dem Urteil, bei Leverkühns Inspiration handele es sich um eine unlautere Steigerung? Ist diese Behauptung gerechtfertigt? Und selbst vorausgesetzt, das Genie des Komponisten wäre tatsächlich ›illegitimer‹ Natur : Welche Schlussfolgerungen ergeben sich daraus für seine Werke? Sind sie zwangsläufig defizitär, oder kann auch ›unlautere‹ Inspiration genuine Meisterwerke hervorbringen? Zeitblom unterscheidet »lauteres und genuines, von Gott geschenktes oder auch verhängtes Genie« (GKFA 10.1, 13) von »akquirierte[m] oder verderbliche[m], […] de[m] sünd- und krankhaften Brand natürlicher Gaben« (ibid.). Damit postuliert er einen Gegensatz zwischen einem legitimen, weil gottgegebenen Genie, und einem illegitimen, bei dessen Beschreibung er offensichtlich Leverkühns diabolische Inspiration vor Augen hat. Zugleich stellt er diesen Gegensatz mit der Behauptung in Frage, es sei »nicht zu leugnen und […] nie geleugnet worden, daß an dieser strahlenden Sphäre [des Genies, CB] das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil« (ibid.) habe, und spricht von dem »Genie und seine[r] jedenfalls dämonisch beeinflußte[n] Natur« (GKFA 10.1, 14): »Das ›Dämonische‹, so gibt er zu verstehen, berührt auch das legitime Genie – […] eine versteckte Andeutung, daß es das schlicht ›gesunde‹ und ›lautere‹ Genie nicht gibt.«900 898 Zwar bezieht sich diese Formulierung im Text auf Zeitblom, der ausführt, er habe das Gefühl, er »erführe selbst eine ›unlautere‹ Steigerung [s]einer natürlichen Gaben« (GKFA 10.1, 14), doch weist das ›selbst‹ deutlich darauf hin, dass der Erzähler die eigene potentielle Steigerung als Parallelentwicklung zu derjenigen seines Freundes begreift, so dass das Attribut der ›unlauteren Steigerung‹ im Umkehrschluss auch auf Leverkühn anwendbar ist. 899 Schmidt (2004c), S. 273. 900 Ibid. Wenig später entschuldigt sich Zeitblom für sein »voreiliges Eingehen auf den Un-

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Die Frage nach der Möglichkeit von ›lauterem‹ Genie wird auch in Palestrina diskutiert, wenn der Teufel die Natur seiner Gaben mit Hilfe eines Gedichtes von Goethe beschreibt: In summa, wir liefern euch bloß, wofür der klassische Dichter, der höchst Würdige, sich so schön bei seinen Göttern bedankt: ›Alles geben die Götter, die unendlichen, / Ihren Lieblingen ganz: / Alle Freuden, die unendlichen, / Alle Schmerzen, die unendlichen, ganz.‹ (GKFA 10.1, 345).901

Adrian Leverkühn ist jedoch nicht bereit, die Identität dessen, wovon Goethe spricht, mit dem, was der Teufel liefert, zu akzeptieren, sondern besteht darauf, dass »das mit Feuer statt durch die Sonne gemachte Gold nicht echt« (ibid.)902 sei, und sieht seine Steigerung durch syphilitische Illuminierung als einen Gegensatz zu Goethes »heiler Größe« (ibid.) an. Das Gedicht, das in Lotte in Weimar als Signum der Geniekonzeption des Sturm und Drang fungiert hatte (vgl. GKFA 9.1, 308), wird damit in der Interpretation Leverkühns zum Ausdruck einer genuin göttlichen Erleuchtung, der gegenüber er seine eigene diabolische Inspiration als minderwertig einschätzt.903 Der Teufel jedoch bestreitet die Validität dieser qualitativen Unterscheidung: Wer sagt das? Hat die Sonne bessres Feuer, als die Küche? Und heile Größe? Wenn ich davon nur höre! Glaubst du an sowas, an ein Ingenium, das gar nichts mit der Höllen zu tun hat? Non datur! (ibid.).

Der Teufel führt verschiedene Argumente gegen den Standpunkt Adrians ins Feld. Zunächst leugnet er die Möglichkeit ›heiler Größe‹ überhaupt, woraus terschied von lauterem und unlauterem Genie, einen Unterschied, dessen Bestehen [er] anerkenne, nur um [s]ich gleich darauf zu fragen, ob er zu Recht besteh[e]« (GKFA 10.1, 14). Diese Anmerkung ist reichlich opak: Er kann sich fragen, ob der Unterschied besteht oder nicht – wie kann er ›zu Recht‹ oder ›zu Unrecht‹ bestehen? Welche Instanz kann dieses Urteil fällen, und auf welcher Grundlage? 901 »Die Strophe steht in Goethes Brief vom 17. 7. 1777 an Gräfin Auguste von Stolberg und wird von Thomas Mann in der bis 1967 geläufigen Form zitiert; neueren Erkenntnissen zufolge lautet das Original: ›Alles gaben die Götter […].‹« (GKFA 10.2, 559 f.) 902 Leverkühn vergleicht seine künstlerische Produktion mit dem »Laborieren und insistenten Betreiben der Alchemisten und Schwarzkünstler von ehemals« (GKFA 10.1, 193), eine Metaphorik, die den ganzen Roman durchzieht, ihre stärkste Ausprägung aber in seinem Brief an Kretzschmar erfährt, in dem er über das Komponieren sagt: »Ich werde die prima materia veredeln, indem ich ihr das magisterium beisetze und mit Geist und Feuer den Stoff durch viele Engen und Retorten zur Läuterung treibe. Herrliches Geschäft!« (GKFA 10.1, 194). 903 Allen verdeutlicht den von Leverkühn postulierten Unterschied unter Bezugnahme auf den Faust-Stoff: »Faustus has been promised knowledge that lies beyond the powers of his mind to discover. […] The equivalent of unattainable knowledge for Adrian is divine inspiration and spontaneous creation. As the Devil gives Faustus at least the semblance of knowledge that lies beyond human powers, so the Devil gives Adrian the semblance of divine inspiration and spontaneous creation in the form of ›der strenge Satz‹ and demonic frenzy« [Allen (1985), S. 133].

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folgt, dass er auch Goethes Genie – wenn auch nur im uneigentlichen Sinne – auf den Einfluss der ›Höllen‹ zurückführt.904 Doch selbst wenn ›heile Größe‹ im Falle Goethes möglich gewesen sei, so habe es sich um ein geschichtliches Phänomen gehandelt, gebunden an spezifische historische Umstände: [D]u denkst nicht an die Läufte, du denkst nicht historisch, wenn du dich beklagst, daß der und der es ganz haben konnte […]. Was der in seinen klassischen Läuften allenfalls ohne uns haben konnte, das haben heutzutage nur wir zu bieten (GKFA 10.1, 345 f.).

Damit werden Genie und Inspiration als historische Größen postuliert,905 und selbst der Beweis, dass ein natürliches oder göttliches Genie906 einst existiert habe, erlaubt keine Schlussfolgerungen für Leverkühns Gegenwart. Doch nicht genug damit, das »von Gott geschenkte[] oder auch verhängte[] Genie« (GKFA 10.1, 13) zu einem historisch überholten Phänomen zu erklären, behauptet der Teufel darüber hinaus einen qualitativen Unterschied zwischen dieser Form der Genialität und seinen Gaben – zum Nachteil der ›heilen Größe‹: [W]ir bieten Bessres, wir bieten erst das Rechte und Wahre, – das ist schon nicht mehr das Klassische, mein Lieber, was wir erfahren lassen, das ist das Archaische, das Urfrühe, das längst nicht mehr Erprobte (GKFA 10.1, 346).907

Damit geraten die großen Künstler und Werke der Klassik »in den Verdacht des Mediokren gegenüber den modern-archaischen Möglichkeiten der Begeisterung und Inspiration«,908 über die der Teufel und, dank »Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel« (GKFA 10.1, 723), auch Adrian Leverkühn verfügt. Die Aussage des Teufels impliziert darüber hinaus, dass sich »die Hölle der Gaben 904 Das von Thomas Mann in Lotte in Weimar entwickelte Goethe-Bild unterstützt die unausgesprochene Behauptung des Teufels, auch Goethe habe sich »auf das Wesen des Verbrechers und des Tollen« (GKFA 10.1, 345) verstanden: Goethe selbst spricht von den pathologischen Elementen seines Wesens, dem »Wahnsinn […] als Untergrund des Glanzes« (GKFA 9.1, 325), und bekennt: »Ich habe nie von einem Verbrechen gehört, daß ich nicht hätte begehen können« (GKFA 9.1, 535). 905 Die Herauslösung dieser Konzepte aus einem ebenso zeitlosen wie absoluten Verständnis und ihre Rückbindung an einen konkreten historischen Kontext erinnert an Herders »geschichtliche Konzeption des Genies«, die die Geschichte als »generatives Prinzip« auffasst und annimmt, dass das Genie »erst durch die Geschichte möglich« werde [Schmidt (2004b), S. 170]. Wie weit diese Parallele trägt, wäre gesondert zu untersuchen. 906 Da im Kontext des Doktor Faustus durch die Verknüpfung von Teufelspakt und Syphilis das diabolische und das ›krankhafte‹ Genie in engem Zusammenhang stehen, wird entsprechend von einer Gleichsetzung des ›göttlichen‹ mit dem ›gesunden‹ Genie ausgegangen. 907 In Dostojewski – mit Massen [sic!] schreibt Mann, Nietzsche empfinde sein eigenes Inspirations-Erlebnis »als etwas Atavistisches, Dämonisch-Rückschlägiges, anderen, ›stärkeren‹ und gottnäheren Zuständen der Menschheit Angehöriges und aus den psychischen Möglichkeiten unserer schwächlich-vernünftigen Epoche Herausfallendes« (GKFA 19.1, 51 f.). 908 Schmidt (2004c), S. 274.

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bemächtigt [habe], die bei Goethe noch die Götter für ihre Lieblinge«909 bereit gehalten hätten: Nach seinen Worten ist wahre Inspiration in der Moderne »nicht mit Gott, der dem Verstande zuviel zu tun übrig« (GKFA 10.1, 347) lasse, sondern nur noch »mit dem Teufel, dem wahren Herrn des Enthusiasmus möglich« (ibid.). Natürlich sind Zweifel angebracht, wenn ausgerechnet der Teufel »recht absichtsvoll« (GKFA 10.1, 350) den Standpunkt vertritt, das Genie sei in der Moderne einzig als Folge diabolischer Inspiration noch denkbar, und bei der »Vorstellung eines gesunden Genies«910 handle es sich um einen »utopische[n] Mythos, in dem sich eine nie erfüllte und nie erfüllbare Sehnsucht ihr Ziel vor Augen«911 stelle. Es ist jedoch nicht die prinzipielle Möglichkeit oder Unmöglichkeit gottgegebenen Genies, die hier untersucht wird, sondern die Frage, ob sich Hinweise finden lassen, die Zeitbloms Behauptung unterstützen, Leverkühns Genie sei im Vergleich zu diesem Konzept als minderwertig anzusehen. Im Schlussmonolog liefert der ›deutsche Tonsetzer‹ selbst eine Beschreibung der »seltsamen Eingießungen« (GKFA 10.1, 726), mit deren Hilfe er seine Werke geschaffen habe: Oft auch waren gewisse Kinder bei mir im Zimmer, Buben und Mädchen, die mir von Notenblättern eine Motette sangen, lächelten sonderlich verschmitzt dabei und tauschten Blicke. Es waren gar hübsche Kinder. Zuweilen hob sich ihr Haar wie von heißer Luft, und sie glätteten es wieder mit ihren hübschen Händen, die hatten Grübchen und waren Rubinsteinchen daran. Aus ihren Nasenlöchern kringelten sich manchmal gelbe Würmchen, liefen zur Brust hinab und verschwanden – (GKFA 10.1, 726 f.).

Die Erscheinung dieser »Teufelskinder« (GKFA 10.2, 887), die offenbar eine Erfindung Thomas Manns darstellen,912 kann als dämonische Kontrafaktur zu klassischen Inspirations-Szenen verstanden werden, denn »die Engel, die ›hübschen Kinder‹, die da musizieren […] und Leverkühn genial inspirieren, sind in seinen Augen die als Himmelsboten verkleideten Abgesandten der 909 Heller (1977), S. 186. Natterer erklärt, die Verwendung des Goethe-Gedichts durch den Teufel zeuge von der »Übernahme der Kunst aus den Händen der Götter zur Zeit des ›klassischen Dichters‹ in die Hände des Teufels im 20. Jahrhundert« [Claudia Natterer: Faust als Künstler. Michail Bulgakovs ›Master i Margarita‹ und Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, Heidelberg 2002, S. 27]. 910 Schmidt (2004c), S. 273. 911 Ibid. Ob die Joseph-Romane als Erfüllung dieses ›utopischen Mythos‹ harmonischen Genies in einer nach mythologischen Regeln funktionierenden Welt verstanden werden können, wird im entsprechenden Kapitel zu untersuchen sein. 912 Vgl. GKFA 10.2, 887 f. Wimmer versteht die Schilderung der ›Teufelskinder‹ als Gegenbild zu »Thomas Manns Beschreibung einer Szene aus Hans Pfisters Palestrina« (GKFA 10.2, 888) in den Betrachtungen eines Unpolitischen; vgl. GKFA 13. 1, 445 f.

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Hölle«.913 Es ist allerdings höchst aufschlussreich, dass, mögen auch die übermittelnden Boten etwas unheimlich sein, die Musik selbst nach Leverkühns eigenem Urteil offenbar geradezu ›himmlisch‹ ist: [O]ft erhob sich bei mir ein lieblich Instrument von einer Orgel oder Positiv, dann die Harfe, Lauten, Geigen, Posaunen, Schwegel, Krummhörner und Zwergpfeifen, ein jegliches mit vier Stimmen, daß ich hätte glauben mögen, im Himmel zu sein, wenn ichs nicht anders gewußt hätte. Davon schrieb ich viel auf (GKFA 10.1, 726).

Allein der Kontext weist hier darauf hin, dass es sich um eine diabolische Eingießung handelt,914 denn hinsichtlich ihres Gehaltes besteht anscheinend kein wahrnehmbarer Unterschied zu einer göttlichen Inspiration,915 so dass die Inspiration selbst und ihre Wirkung offenbar nicht als Grund dafür herangezogen werden können, Leverkühns Genie als ›illegitim‹ einzuschätzen. Allerdings setzt Zeitbloms implizite Argumentation auch nicht bei der Inspiration selbst an, sondern, wie die Formulierung vom »krankhaften Brand natürlicher Gaben« (GKFA 10.1, 13) verrät, bei ihren organischen Ursachen: bei Leverkühns melancholischer Disposition und seiner syphilitischen Illumination, die sich unter dem Schlagwort der »schöpferische[n], Genie spendende[n] Krankheit« (GKFA 10.1, 354) zusammenfassen lassen. Der Erzähler erweckt den Anschein, als sei jede Inspiration zu verurteilen, die »auf dem […] Krankheitswege entstanden« (GKFA 10.1, 344) sei. Zugleich aber definiert er Genie als »eine in der Krankheit tief erfahrene, aus ihr schöpfende und durch sie schöpferische Form der Lebenskraft« (GKFA 10.1, 516) und erklärt damit die Krankheit zur Vorbedingung von Genialität – ganz im Sinne der antiken Melancholie-Tradition, in der die ursprünglich rein pathologische Dominanz der ›schwarzen Galle‹ über die anderen humores zur Grundlage und notwendigen 913 Borchmeyer (1994a), S. 137. Man könnte diese ›Kinder‹ als moderne Teufels-Version des antiken genius/daimon betrachten, da sie wie jener als Überbringer der Inspiration fungieren. 914 Ein Hinweis besteht darin, dass der Teufel ihm ›musikalische Visionen‹ angekündigt hat: »Wir haben auch viel löblicher Instrument, und du sollst sie schon hören. Werden dir schon aufspielen, wenn du erst reif bist, es zu vernehmen« (GKFA 10.1, 332). Auf der intertextuellen Ebene deutet die Übereinstimmung mit der Historia auf den diabolischen Ursprung dieser Wahrnehmung hin: »Letztlich / da erhub sich ein lieblich Jnstrument von einer Orgel / dann die Positiff / dann die Harpffen / Lauten / Geygen / Posaunen / Schwegel / Krumbhoerner / Zwerchpfeiffen vnd degleichen (ein jeglichs mit vier Stimmen) also daß D. Faustus nicht anders gedachte / dann er wer im Himmel / da er doch bey dem Teuffel war« [Füssel, Kreutzer (1999), S. 25]; vgl. auch GKFA 10.1, 887. 915 Natürlich hat Leverkühn streng genommen keine Möglichkeit, sein Erlebnis mit einer ›göttlichen Inspiration‹ zu vergleichen. Die Beschreibung, er ›hätte glauben mögen, im Himmel zu sein‹, macht aber immerhin deutlich, dass seine Erfahrung sich so anfühlt, wie er sich eine göttliche Inspiration vorstellt. Der Behauptung Borchmeyers, »[d]ie musica mundana (angelica) enthüll[e] sich als musica diabolica« [Borchmeyer (1994a), S. 137] würde Leverkühn vermutlich widersprechen.

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Bedingung für außergewöhnliche Leistungen umgedeutet wurde, aber bemerkenswert inkonsequent im Hinblick auf seine eigene Verurteilung des Leverkühn’schen Genies als ›unlauter‹. In der Forschung wird die Frage nach der Legitimität von Adrian Leverkühns Genie selten explizit behandelt. In den meisten Fällen wird die Implikation, ein Genie, das die Folge einer diabolischen Steigerung sei, müsse notwendig als illegitim eingeschätzt werden und zu minderwertigen Ergebnissen führen, ebenso unhinterfragt akzeptiert wie die von Zeitblom etabliert Verbindung von Genialität und Dämonie.916 Allerdings gibt es, gerade im Kontext der Melancholie-Thematik, einzelne Versuche, diese angebliche Illegitimität zu begründen. So geht etwa Thomas Rütten von der Feststellung aus, Leverkühn wolle den ›Durchbruch‹ »sogar um den Preis des sacrificium intellectus, der Zerstörung der Vernunft zugunsten eines produktiv enthemmten Daseins«917 erzwingen. Als Folge dieser Entscheidung habe er »den Boden einer nobilitierten Melancholie […] verlassen«;918 seine Melancholie sei »von pathologischer Art […], d. h. melancholia adusta«.919 Rütten schließt mit der These: Thomas Mann wollte […] nicht das Genie ” la Theophrast darstellen, sondern das illegitime Genie, das sich dekadenter Mittel bedient und eben darin fehlgeht und seine Genialität höchst fragwürdig macht.920

Die Schwächen dieser Argumentation921 haben ihren Grund in Rüttens Melancholie-Verständnis: Unter ›Melancholie‹ wurde ursprünglich »nichts anderes als eine Krankheit oder Verhaltensstörung verstanden«,922 und die Vorstellung einer 916 Käte Hamburger spricht einerseits von dem »Anteil des Dämonischen an seinem Genie, manifestiert in der durch Krankheit bewirkten Enthemmung seiner schöpferischen Kraft« [Hamburger (1975), S. 400]; andererseits attestiert sie dem Komponisten ein »zwar geniales, aber legitimes Schaffen« [ibid., S. 388]. 917 Rütten (2002), S. 138. 918 Ibid. Schon diese argumentative Verknüpfung ist eher moralischer denn sachlicher Natur: Das sacrificium intellectu¯s wird als moralisch zweifelhaft eingeschätzt und ohne weitere Begründung als Ursache für eine ›qualitative Minderung‹ von Leverkühns Melancholie zur melancholia adusta herangezogen. 919 Ibid. 920 Ibid., S. 139. Es scheint unglücklich, sich auf die Autorintention zu beziehen und zu fragen, was ›Thomas Mann wollte‹ – ganz besonders, da es von Mann Aussagen gibt, die den GenieStatus Leverkühns überhaupt negieren: »Adrian ist kein Genie, sondern ein hochmütiger Geist, der den Teufel nötig hat, um überhaupt etwas hervorzubringen« [Brief Thomas Manns an Jonas Lesser vom 1. 5. 1948, zitiert nach Mann (1998), S. 195]. 921 Diese Schwächen zeigen sich schon darin, dass Rütten sich auf engstem Raum selbst widerspricht: Hatte er zunächst in überzeugender Weise die These vertreten, Leverkühn sei »ein Melancholiker theophrastischer Provenienz« [Rütten (2002), S. 137], behauptet er unmittelbar im Anschluss, Thomas Mann habe in Adrian Leverkühn »nicht das Genie ” la Theophrast darstellen« [ibid., S. 139] wollen und deshalb »darauf verzichtet, seinen Helden als melancholisches Genie […] zu porträtieren« [ibid., S. 138]. 922 Theunissen (1996), S. 7.

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›gesunden‹ Melancholie, die eine »natürliche[] und durch diätetische und sonstige Maßnahmen konservierbare[] Genialität«923 hervorbringe, verkennt den Umstand, dass jede Art von Melancholie im Kern pathologisch ist. Vor diesem Hintergrund vermag auch der Standpunkt Borchmeyers nicht zu überzeugen, [d]as Wort vom ›krankhaften Brand natürlicher Gaben‹ rekurrier[e] auf die Unterscheidung von natürlicher und krankhafter Melancholie – ›melancholia naturalis‹ und ›melancholia adusta‹ oder ›incensa‹ –, welch letztere aus der Verbrennung der Körpersäfte entsteh[e].924

Die Unterscheidung zwischen einer ›krankhaften‹ Melancholie auf der einen und einer ›natürlichen‹ im Sinne einer ›gesunden‹ Melancholie auf der anderen Seite ist nicht haltbar, denn auch ›natürliche‹ Melancholie im Sinne einer melancholischen Veranlagung dia physin ist unweigerlich ›krankhaft‹: Die Fügung ›gesunde Melancholie‹ bildet eine contradictio in adjecto. Ist dies aber der Fall, dann kann die Tatsache, dass es sich bei Leverkühns Inspiration – und damit bei seinem Genie – um das Ergebnis eines pathologischen Zustandes handelt, nicht als Argument dafür herangezogen werden, dieses Genie als ›illegitim‹ zu beurteilen: Für einen Menschen von melancholischer Disposition wie Adrian Leverkühn gibt es keine Alternative. Die einzige Möglichkeit, die Annahme der Illegitimität von Leverkühns Genie auf der Grundlage seiner Veranlagung aufrecht zu erhalten, bestände darin, die Melancholie als den potentiellen »dunkle[n] Untergrund des genialen Wesens«925 prinzipiell in Frage zu stellen – eine Vorgehensweise, die angesichts der eminenten Bedeutung dieses Konzepts für die Entstehung des Geniebegriffs aber kaum praktikabel ist. Nicht der pathologische Ursprung von Leverkühns Genie selbst bringt »jene für den Roman zentrale Frage mit sich, ob Künstlerschaft, deren Genie sich erst in der willentlich gesuchten Krankheit ermöglicht […], überhaupt legitim ist«926 und bildet damit die unausgesprochene Grundlage für seine Verurteilung als ›illegitim‹ oder ›unlauter‹. Dieses Urteil beruht vielmehr auf der – in Zeitbloms Darstellung – bewussten Infektion mit Syphilis, auf dem Opfer, das der Kom923 Rütten (2002), S. 138. Diese Vorstellung geht zurück auf das Konzept, der Melancholiker sei fähig, eine ›mittlere Lage‹ zwischen den Extremen Hitze und Kälte bzw. Manie und Depression einzunehmen. Diese Annahme wurde in der vorliegenden Arbeit schon im Rahmen der Darstellung des Melancholie-Konzepts in Frage gestellt (vgl. oben S. 185 f.), trifft aber im Kontext des Doktor Faustus mit Sicherheit nicht zu, denn gerade dieser ›Mittelgrund‹ ist Adrian Leverkühn unerreichbar: »Kalt wollen wir dich, daß kaum die Flammen der Produktion heiß genug sein sollen, dich darin zu wärmen. In sie wirst du flüchten aus deiner Lebenskälte […,] [u]nd aus dem Brande zurück ins Eis« (GKFA 10.1, 364). 924 Borchmeyer (1994a), S. 142. 925 Klibansky, Panofsky, Saxl (1990), S. 92. 926 Prechtl-Fröhlich (2001), S. 186.

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ponist für den ›Durchbruch‹ durch seine persönliche Kälte und Sterilität, für die kreative Enthemmung seines Geistes zu bringen bereit ist: die wissentliche und willentlichen »Auslieferung an das ›fruchtbare falsum‹«,927 das in vollem Bewusstsein vollzogene sacrificium intellectu¯s928 – oder, metaphysisch-theologisch gesprochen: die Verschreibung der eigenen Seele an den Teufel.929 Somit basiert das abwertende Urteil über Leverkühns Genie ausschließlich auf der unausgesprochenen Überzeugung des Erzählers wie der meisten Interpreten, der Komponist handle ›sündhaft‹, indem er Leben und Gesundheit für die Möglichkeit produktiver Illumination opfere. Ob diese Einschätzung zutrifft oder nicht, spielt keine Rolle: Zeitbloms Vorbehalte gegen die Handlungsweise seines Freundes sind moralischer oder theologischer Natur, woraus folgt, dass sie keinen sachlich begründeten Einwand gegen die Legitimität von Leverkühns Genie oder den künstlerischen Wert seiner Kompositionen darstellen.930 927 Schmidt (2004c), S. 267. 928 Zeitblom postuliert, dass »die anschauende Kenntnis der anderen Welt notwendig« (GKFA 10.1, 123) mit einem sacrificium intellectu¯s verbunden sei, und verknüpft dieses Konzept daher mit Leverkühns Entscheidung für die Theologie. Das wahre Opfer, nicht nur des Verstandes, sondern der gesamten Persönlichkeit, ist aber eine Folge der syphilitischen Infektion, wie der Zustand belegt, in dem Leverkühn nach dem »paralytische[n] Choc am Klavier« (GKFA 10.1, 731) wieder zu sich kommt: »Nicht zu sich kam er, sondern fand sich wieder als ein fremdes Selbst, das nur noch die ausgebrannte Hülle seiner Persönlichkeit war und mit dem, der Adrian Leverkühn geheißen, im Grunde nichts mehr zu tun hatte« (ibid.). – Schmidt weist auf die Bedeutung dieses Konzepts für Leverkühns Status als Nietzsche-Figur hin: »Immer wieder hat man nachgewiesen, wie sehr der ›Doktor Faustus‹ ein Nietzsche-Roman ist und man hat bis ins Detail die biographischen Adaptionen aufgearbeitet. Wichtiger aber ist die Übernahme des zentralen Vorgangs in Nietzsches Denken: des sacrificium intellectus« [Schmidt (2004c), S. 266 f.]; vgl. auch Peter-Andr¤ Alt: Thomas Mann. ›Doktor Faustus‹. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in: Schneider, Sabine (Hrsg): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Klassiker und Bestseller der deutschen Literatur von 1900 bis heute, Würzburg 2005, S. 59 – 82, hier : S. 64 f. 929 Es hat eine gewisse Ironie, dass ausgerechnet »by means of a pact with the Devil, the forfeiture of his soul, the contraction of syphilis […], Adrian seeks to achieve the redemption of music« [Allen (1985), S. 120], wodurch er zur Christus-Postfiguration wird: »Leverkühn-Faust, who makes a pact with the Devil, and Leverkühn-Christ, who scarifies himself […], become one« [Gilliam (1977), S. 134], denn »both have to offer their lives to fulfil their roles« [ibid.]. – Zu weiteren christologischen Aspekten im Doktor Faustus vgl. ausführlich Marx (2002), S. 264 – 301. 930 Als Argument gegen den »musikalischen Wert« (GKFA 1.1, 559) von Leverkühns Kompositionen wird in der Forschung die Tatsache angeführt, dass der Teufel »die Osmose des Experiments von Vater Leverkühn mit dem osmotischen Eindringen der Syphiliserreger ins Gehirn« (GKFA 10.2, 205) seines Sohnes parallelisiere (vgl. GKFA 10.1, 343 f.): »[T]he devil’s promise that ›osmotic growths‹ will sprout up out of what Leverkühn has ›planted‹ is anything but reassuring […]. Sure enough, it holds out the prospect of creativity liberated by the effects of disease, but raises the suspicion that the products of that creativity will stand to expressions of ›pure and genuine‹ genius as the crystal growths stand to real plants« [Beddow (1994), S. 44; vgl. außerdem Albrecht (1971), S. 384 – 386; Dierks (1989), S. 35 und

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Die Annahme der Minderwertigkeit von Adrian Leverkühns Genie ist damit nicht länger haltbar : Weder aus der syphilitischen Illumination noch aus der diabolischen Inspiration lässt sich ein entsprechendes Urteil ableiten, so dass davon auszugehen ist, Leverkühns Genie, obgleich unter organischem Gesichtspunkt die Folge einer zerstörerischen Erkrankung und unter metaphysischem die Paktleistung des Teufels, unterscheide sich rein qualitativ in nichts von dem ›gottgegebenen Genie‹, das der Komponist Goethe zuschreibt. Daraus aber folgt, dass auch die unter ›diabolischer Inspiration‹ entstandenen Werke nicht per se von geringerer künstlerischer Qualität sind als solche, die das Ergebnis von »heile[r] Größe« (GKFA 10.1, 345) bilden: Mit ein wenig »Teufelshilf und höllisch Feuer unter dem Kessel« (GKFA 10.1, 723) vermag auch der musikalische Alchemist Adrian Leverkühn ›echtes Gold‹ hervorzubringen.

5.

Der Eremit und die Welt

Nachdem Adrian Leverkühns Genie nach Ursprüngen und Wesen charakterisiert worden ist, wird in diesem Kapitel das Verhältnis des genialen Komponisten zur ›Welt‹ analysiert. Das meint zunächst seine gesellschaftlichen Interaktionen, sowohl mit bloßen Bekannten, die er in Abendgesellschaften oder auf Faschingsbällen trifft, als auch mit seiner Verehrergemeinde, den Menschen seines unmittelbaren Umfeldes. Schließlich wird nach der künstlerischen Wirkung des ›deutschen Tonsetzers‹ zu fragen sein, nach der »Lebenswirksamkeit« (GKFA 10.1, 335), die der Teufel ihm versprochen hat. Die Antwort auf diese Frage ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Sie zeigt an, ob der Teufel seinen Teil des Paktes einhält, und ob es Leverkühn gelingt, die gesellschaftliche Isolation der Kunst zu überwinden und damit eine der Bedingungen des ›Durchbruchs‹ zu erfüllen.

5.1.

Adrian Leverkühn und die Gesellschaft

Serenus Zeitblom führt das Motiv der Kälte, das bisher vorwiegend als Melancholie-Attribut behandelt worden ist, im Kontext von Leverkühns zwischenmenschlichen Beziehungen ein: »Ich möchte seine Einsamkeit einem Abgrund George Pattison: Music, Madness, and Mephistopheles. Art and Nihilism in Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹, in: Jasper, David; Crowder, Colin (Hrsg): European Literature and Theology in the Twentieth Century. Ends of Time, New York 1990, S. 1 – 14, hier : S. 5]. Es ist jedoch zu bedenken, dass Zeitblom die Experimente Jonathan Leverkühns generell als ›dämonisch‹ einschätzt, so dass sein Urteil kaum eine verlässliche Grundlage darstellt, die Werke Leverkühns rundheraus als »a ›dubious bunch‹ [zu verwerfen], unable to conceal their ›inorganic‹ origins« [Beddow (1994), S. 44].

Der Eremit und die Welt

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vergleichen, in welchem Gefühle, die man ihm entgegenbrachte, lautlos und spurlos untergingen. Um ihn war Kälte« (GKFA 10.1, 15).931 Dass es sich bei Kälte und Distanz nicht allein um individuelle Eigenschaften, sondern zugleich um typische Kennzeichen des Künstlers handelt, belegt unter anderem Kretzschmars Charakterisierung Beethovens: Er ist für den Organisten der »einsame Fürst eines Geisterreichs, von dem nur noch fremde Schauer selbst auf die willigsten Zeitgenossen ausgegangen seien« (GKFA 10.1, 81).932 Auch Leverkühn ist von einer »Atmosphäre unbeschreiblicher Fremdheit und Einsamkeit« (GKFA 10.1, 596) umgeben, die seinen Mitmenschen das Gefühl gibt, »er käme aus einem Lande, wo sonst niemand« (ibid.) lebe. Wie Goethe in Lotte in Weimar933 existiert auch Leverkühn »in the aesthetic realm of ironic distance and non-involvement«,934 und sein Verhältnis zu Welt und Leben935 ist bestimmt durch das »eigentümlich und sehr geheimnisvoll Verschleierte, Unzulassende, sich Entziehende, Abenteuerlose seines Daseins« (GKFA 10.1, 210).936 Gerade in der gesellschaftlichen Interaktion wird Leverkühns »radikale Vereinsamung sichtbar ; denn nur scheinbar steht er in lebendigem Kontakt zu einem größeren Bekanntenkreis«,937 in Wahrheit gibt er seine innere Distanz niemals auf und verbleibt »ein einsilbiger Fremdling« (GKFA 10.1, 293), der selbst die elementarsten Regeln gesellschaftlichen Umgangs vernachlässigt: Seine Gleichgültigkeit war so groß, daß er kaum jemals gewahr wurde, was um ihn her vorging, in welcher Gesellschaft er sich befand, und die Tatsache, daß er sehr selten einen Gesprächspartner mit Namen anredete, läßt mich vermuten, daß er den Namen

931 Zur Bedeutung des Kälte-Motivs und einschlägiger Literatur vgl. auch GKFA 10.2, 180. 932 In einem Tagebucheintrag vom 15. 3. 1920 kommentiert Thomas Mann den Besuch eines Beethoven-Konzerts: »Neunte Symphonie. Unheimlichkeit des musikalischen Genies, inkommensurabel, außermenschlich, wild« (Tb I, 399); vgl. auch Corbineau-Hoffmann (1995), S. 228. – Die Tagebücher Thomas Manns werden unter der Sigle Tb mit Angabe von Band- und Seitenzahl zitiert nach Thomas Mann: Tagebücher, hrsg. von Peter de Mendelssohn und Inge Jens, 10 Bd., Frankfurt am Main 1977 – 1995. 933 Auch Manns fiktionaler Goethe richtet »aus einer Welt des allgemeinen Geltenlassens und der vernichtenden Toleranz« (GKFA 9.1, 93) den »Blick der […] absoluten Kunst« (GKFA 9.1, 89) auf seine Mitmenschen. 934 Roche (1986), S. 312. 935 Natterer weist darauf hin, dass in dieser Hinsicht ein diametraler Gegensatz zwischen Manns Roman und Goethes Drama bestehe: »Der Pakt mit dem Teufel bedeutet bei Thomas Mann […] eine völlige Umkehrung im Vergleich zur Situation in Goethes Faust. Während Mephisto Faust […] dem Leben näherbringt und also Fausts Isolation aufhebt, forciert Adrians Teufel durch […] das Verbot zu lieben Adrians Abstand vom Leben« [Natterer (2002), S. 68]. 936 Zwar handelt es sich bei diesen Worten um Leverkühns Beschreibung von Chopin, doch weist Zeitblom explizit darauf hin, dass sie ebenso auf seinen Freund zuträfe, der ebenfalls »nichts wissen, nichts sehen, eigentlich nichts erleben« (GKFA 10.1, 258) wolle. 937 Pütz (1997), S. 86.

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nicht wußte, während doch der andere ein gutes Recht zur Annahme des Gegenteils hatte (GKFA 10.1, 15).938

Nicht nur sein Künstlertum939 und seine melancholische Disposition940 begründen Adrian Leverkühns Status als gesellschaftlicher Außenseiter ; hinzu kommt noch das Verhalten seiner Mitmenschen, die der ihn umgebenden Aura von »Einsamkeit und Fremdheit« (GKFA 10.1, 612) mit einer »unwillkürlichen, rational bei den Wenigsten recht begründeten Zuvorkommenheit und mehr oder weniger scheuen Ehrerbietung« (GKFA 10.1, 596) begegnen. Diese Behandlung weist dem »großen Komponisten« (GKFA 10.1, 597) eine ebenso abgesonderte wie herausgehobene Stellung zu; sie macht ihn zum auserwählten Gegenüber der Gesellschaft, zu ihrem Antipoden und Repräsentanten zugleich.941

5.1.1. Das Refugium des Genies Ein äußerlich sichtbares Zeichen dieser inneren Isolation ist Leverkühns Übersiedlung nach Pfeiffering. Ihr geht eine Italien-Reise voraus, die der Komponist nach Zeitbloms Worten nicht zuletzt deshalb unternimmt, weil er des Aufenthalts in seinem Zimmer bei den Roddes müde ist, »in das plötzlich jemand eintreten mochte, um ihn zur Gesellschaft zu rufen« (GKFA 10.1, 307). Im Gegensatz dazu sucht Leverkühn nach einem Ort, wo er sich »recht vor der 938 Hier zeigt sich ein weiterer signifikanter Unterschied zur Goethe-Figur : Während diese sich in Lotte in Weimar – wenn auch widerstrebend – nach den gesellschaftlichen Konventionen richtet, verweigert Leverkühn diese Konzession an den sozialen Verhaltenskodex. Anders als Goethe unternimmt er keine Anstrengungen, seine Fremdheit unter einer gesellschaftlichen Maske zu verbergen. 939 »By definition, the artist is asocial – not necessary antisocial, but asocial. He has no clear relationship with society« [Oates (1976), S. 213]. 940 »Schon immer war der Melancholiker Gegenpol zur Gesellschaft, ungeliebter Außenseiter, der sich nicht den Erwartungen gemäß, vielmehr außergewöhnlich, vielleicht auch beängstigend verhielt« [Prechtl-Fröhlich (2001), S. 19]. 941 »Leverkühn’s coldness and radical solitude actually make him a representative of the underlying temper of the society from which he seems so isolated« [Beddow (1986), S. 119]; zur Gegenposition vgl. Kurzke (1997), S. 279. – Dieser eigentümlich ambivalente Status Leverkühns wird im Roman reflektiert in der Figur des ›unglücklichen Königs‹ Ludwigs II., der ebenfalls einen Repräsentanten der Gesellschaft und zugleich, wegen seiner »phantastischen Neigungen« (GKFA 10.1, 625), ihren Antipoden darstellt. Vgl. außerdem die Ausführungen Peter Pütz’, der den Künstler als »eine Art Monade [charakterisiert], die völlig isoliert von allen anderen existier[e], in der aber alles in totaler Komplexität angelegt« sei [Pütz (1997), S. 132]. Pütz erkennt sogar die existentielle Notwendigkeit der Alterität für das Genie, wenn er auch nicht diese Begrifflichkeit verwendet: Er begreift »die monadenhafte Existenz des Genius als eine schicksalhafte Notwendigkeit […], deren Einebnung das Fortbestehen der Kunst in ihrer fruchtbaren Polarität gefährden würde« [ibid., S. 134].

Der Eremit und die Welt

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Welt vergraben« (ibid.) kann. Der Umstand, dass er nach seiner Rückkehr »überhaupt keinen Versuch macht[], in der Stadt eine passende Dauer-Wohnung aufzutreiben« (GKFA 10.1, 369), sondern gleich nach Pfeiffering zieht, lässt erkennen, dass nach dem Aufenthalt in der »Abgeschiedenheit des Gebirgsstädtchens« (GKFA 10.1, 320) Palestrina auch die Wahl »dieses bescheidenstilvollen Winkels« (GKFA 10.1, 473) zum Lebensrahmen in der Absicht geschieht, nicht nur innerlich, sondern auch räumlich eine Distanz zur Gesellschaft zu gewinnen: »Like Nietzsche, Adrian lives apart from society in a kind of ascetic exile.«942 Doch der Prozess der Absonderung von der Gesellschaft ist keineswegs abgeschlossen, nachdem Leverkühn sein Refugium gefunden hat. Zwar legt Zeitblom Wert auf die Feststellung, sein Freund habe sich zu Beginn der »neunzehn Jahre« (GKFA 10.1, 375), die er auf Hof Schweigestill verlebt, »nicht ganz in seiner […] klösterlichen Einsamkeit [vergraben], sondern, wenn auch sporadisch und mit Zurückhaltung, einer gewissen städtischen Geselligkeit« (GKFA 10.1, 401) gepflogen, doch stellt er auch fest, dass diese mit der Zeit immer stärker nachgelassen habe, bis schließlich, nach dem Tode Echos, »jeder gesellschaftliche Besuch in der Stadt« (GKFA 10.1, 701) unterblieben sei: Einladungen wurden durch seine getreue Wirtin telephonisch abgelehnt, oder sie blieben auch unbeantwortet. Selbst flüchtige Zweckfahrten nach München, zu Einkäufen, fielen dahin (ibid.).

Leverkühns gesellschaftliche Isolation ist zu diesem Zeitpunkt nahezu vollkommen; er sieht nur »Jeanette Scheurl, […] von Zeit zu Zeit Rüdiger Schildknapp« (GKFA 10.1, 702), und Serenus Zeitblom selbst. Die unangemessen legere Kleidung des Komponisten, die einer Vernachlässigung seines Äußeren gleichkommt, macht dabei deutlich, dass die Konventionen der Gesellschaft ihm vollständig gleichgültig geworden sind: [E]ine lose, flausartige Joppe, hoch geschlossen, so daß es keiner Krawatte dazu bedurfte, getragen zu irgend welcher ebenfalls weiten, klein gewürfelten Hose, war um diese Zeit sein ständiger Anzug (GKFA 10.1, 701).943

942 Oates (1976), S. 192. 943 Die Kleidung ist im Werk Thomas Manns durchgängig von besonderer Signifikanz: Man denke nur an Thomas Buddenbrook und den »Luxus, den er mit seiner Toilette« (GKFA 1.1, 460) treibt, an die Weigerung Tonio Krögers, »in einer zerrissenen Sammetjacke oder einer rotseidenen Weste« (GKFA 2.1, 269) herumzulaufen, um sich als Künstler auszuweisen; an Hans Castorp, dessen Anpassung an die Regeln der Zauberberg-Welt sich darin ankündigt, dass er sich »sich in Gottes Namen der herrschenden Sitte anbequemt, ohne Hut zu gehen« (GKFA 5.1, 356), an Josephs Schleiergewand und nicht zuletzt an Goethes theatralischen Auftritt »in zweireihig geknöpftem Frack und seidenen Strümpfen« (GKFA 9.1, 386).

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Unmittelbar nach Leverkühns Rückzug findet aus Neugier noch »dieser und jener Besuch aus der Stadt sich in seinem Refugium« (GKFA 10.1, 376) ein, wobei diese Besuche nicht auf eine allgemeine gesellschaftliche Akzeptanz von Leverkühns ›Weltflucht‹ schließen lassen. Mit Ausnahme Zinks und Spenglers handelt es sich nur um die Mitglieder des engeren Kreises, die den Komponisten in Pfeiffering aufsuchen; wie die Gesellschaft in toto seine einsiedlerische Lebensform beurteilt, lässt sich anhand einer Szene darstellen, die scheinbar nichts mit Adrian Leverkühn und Pfeiffering zu tun hat, tatsächlich aber als eine Art verdeckter Kommentar gelesen werden kann: Es handelt sich um das Streitgespräch zwischen Schwerdtfeger und Zeitblom über den »sogenannten Wahnsinn« (GKFA 10.1, 624) Ludwigs II., in dem der Geiger der nach Zeitbloms Urteil »nicht sowohl volkstümlichen als bourgeoisen und offiziell gegebenen Auffassung [anhängt], daß der König ›knallverrückt‹« (ibid.) gewesen sei. Der Humanist selbst verteidigt hingegen das Recht des Königs auf Exzentrizität, indem er argumentiert, ›Wahnsinn‹ sei ein recht schwankender Begriff, den der Spießbürger allzu beliebig, nach zweifelhaften Kriterien, handhabe. Sehr früh, ganz dicht bei sich selbst und seiner Gemeinheit setzte ein solcher die Grenze vernünftigen Benehmens an, und was darüber gehe, sei Narrheit (ibid.).

Als Vertreter der »königlichen Daseinsform« (ibid.) sei Ludwig II. »souverän, von Devotion umgeben, der Kritik und Verantwortung sehr weitgehend enthoben« (ibid.) – alles Attribute, die ebenso gut auf Adrian Leverkühn zutreffen. Wenn der Erzähler überdies statuiert, dass es »bei den durchschnittlichen Eigenschaften unserer Spezies kaum erlaubt sei, Menschenflucht allgemein für ein Symptom der Verrücktheit zu nehmen« (GKFA 10.1, 625) und Ludwig darüber hinaus als einen »zweifellos aus der Norm Fallenden, darum aber durchaus nicht Verrückten« (ibid.) bezeichnet, liegt die Vermutung nah, dass er zugleich von Adrian Leverkühn spricht und seiner Überzeugung Ausdruck verleiht, auch das einsiedlerisch lebende Genie dürfe das Vorrecht der Exzentrizität für sich beanspruchen. Die implizite Bezugnahme auf Leverkühn erklärt zugleich, wieso Zeitblom sich »unterderhand eine dezidierte Meinung« (GKFA 10.1, 624) über das Schicksal Ludwigs II. gebildet hat und auf Schwerdtfegers Invektiven so heftig reagiert: Er verteidigt nicht in erster Linie die »[k]önigliche Menschenscheu« (GKFA 10.1, 623) gegen den Vorwurf des Wahnsinns oder der Absonderlichkeit, sondern »die außergewöhnliche, mit normalem Maß unfaßbare […] Künstler-Souveränität«944 seines Freundes. An der Reaktion Rudi Schwerdtfegers, der Zeitbloms Einwänden mit »größtem Erstaunen« (GKFA 10.1, 624) begegnet, spiegelt sich das Unverständnis der Gesellschaft gegenüber der un944 Klugkist (2000), S. 109.

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konventionellen Lebensform des Künstlers, und so kann diese Szene als Beleg dafür aufgefasst werden, dass Leverkühns Rückzug in die Einsamkeit in den Augen der Gesellschaft als Abnormität erscheint, als Ausdruck quasi-pathologischen Verhaltens.945 Diese soziale Ausgrenzung macht aus Adrians selbstgewähltem, allenfalls von seiner melancholischen Disposition determinierten Refugium einen Ort des Exils.946 Die Diskussion über Ludwig II. zeigt, dass das Motiv des Wahnsinns im Doktor Faustus lange vor Leverkühns Zusammenbruch präsent ist, unter anderem in der »Baronin von Handschuchsheim« (GKFA 10.1, 304), die vorübergehend in Pfeiffering gewohnt hat, weil ihre »Gedanken […] nicht recht mit denen der übrigen Welt […] übereinstimmen« (ibid.) wollten, und in Amelia Manardi, einem leicht zum Närrischen geneigte[n] Kind, das die Gewohnheit hatte, bei Tische den Löffel oder die Gabel vor ihren Augen hin und her zu bewegen und dabei irgend ein Wort […] mit fragender Betonung wiederholt vor sich hin zu sprechen (GKFA 10.1, 309).947

Sowohl die Nachsicht der Bewohner des Hauses Manardi (vgl. GKFA 10.1, 310) als auch das leitmotivische »Verständnis« (GKFA 10.1, 305) Else Schweigestills bilden im Roman jedoch die Ausnahme. Die ablehnende Haltung der Gesellschaft gegenüber allem, was jenseits ihrer Norm liegt, zeigt sich nicht nur am Schicksal Ludwigs II., sondern in noch reinerer Form an der Reaktion der Gäste auf Leverkühns confessio: Nachdem schon in ihrem Verlauf immer wieder Zuhörer die Abtsstube verlassen haben, bringt Dr. Kranich die allgemeine Ansicht auf den Punkt: »[D]ieser Mann ist wahnsinnig. Daran kann längst kein Zweifel bestehen« (GKFA 10.1, 728). Auf das Bekenntnis »letzter Seelennot« (GKFA 10.1, 722) reagieren die versammelten Vertreter der ›Gesellschaft‹ wahlweise mit äs945 Es stellt keinen Einwand gegen dieses Argument dar, dass Leverkühn in Gesellschaft nie anders als mit größtem Respekt behandelt wird. Im Gegenteil illustriert gerade die Parallele der Künstlerexistenz Leverkühns zur »königlichen Daseinsform« (GKFA 10.1, 624) Ludwigs II., dass beide »Sonderform[en] menschlichen Daseins« (GKFA 10.1, 42) sich durch die Ambivalenz von individueller Ehrerbietung bei genereller Ablehnung auszeichnen. 946 Die Parallele nicht nur zu Goethe, sondern auch zu Joseph ist offensichtlich: Goethe lebt im ›inneren Exil‹, wenn es auch weniger sichtbar ist als das des ›deutschen Tonsetzers‹, und auch für Joseph ist die innere Distanz ausschlaggebend: Selbst nach der Wiedervereinigung mit dem Familienstamm bleibt er »der Gesonderte« (GW V, 1741). 947 Eine knappe Zusammenfassung dieses Komplexes liefert Meyers: »Adrian’s insanity is foreshadowed by the mad baroness who lived in Pfeiffering before him and had to be placed in professional care; by the wee-spirited Amelia Manardi whose repetition of spiriti, spiriti anticipates his encounter with the devil; and by the conversation about mad King Ludwig on a visit to Linderhof. (Ludwig’s attempt to escape his captors by swimming across the lake parallels Adrian’s attempt to escape from life by drowning in the pond.)« [Meyers (1985), S. 70].

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thetischer Faszination (Daniel Zur Höhe, Sixtus Kridwiß), ablehnender Verweigerung (Helmut Institoris, die Gelehrten Unruhe, Vogler und Holzschuher) oder mit der distanzierten Feststellung, man fühle sich »hier gänzlich unzuständig« (GKFA 10.1, 728). Sie versagen dem Ausgestoßenen nicht nur ihre Hilfe, sondern selbst Mitgefühl und Verständnis.948 Nachdem gezeigt werden konnte, dass die Gesellschaft in ihrer Gänze die nonkonformistische Lebensform des Künstlers als Ausdruck eines abnormen Zustandes stigmatisiert und damit die Isolation des Genies verschärft, soll nun gefragt werden, welche Konsequenzen für sein Verhältnis zur ›Welt‹ sich aus Leverkühns Pakt mit dem Teufel ergeben.949 Der Komponist selbst weiß sehr genau, dass die Verschreibung theologisch gesprochen eine Sünde ist, und ist bereit, den Preis dafür zu bezahlen: [D]aß die Kunst stockt und zu schwer worden ist und sich selbsten verhöhnt […], das ist wohl Schuld der Zeit. Lädt aber einer den Teufel zu Gast, um drüber hinweg und zum Durchbruch zu kommen, der zeiht sein Seel und nimmt die Schuld der Zeit auf den eigenen Hals, daß er verdammt ist (GKFA 10.1, 723).

Nimmt man die Realität des Teufels und die Wirklichkeit des Paktschlusses an und folgt damit der von Leverkühn im Schlussmonolog ausgesprochenen und von Zeitblom erzählerisch vorbereiteten Deutung der Ereignisse,950 dann hat der Komponist nicht nur die Verschreibung selbst, sondern auch den angeblich »vom Teufel verlangte[n]«951 Mord an Rudi Schwerdtfeger vor seinem Gewissen zu verantworten. Unabhängig davon, ob diese Lesart als plausibel angesehen wird oder nicht,952 stellt schon der Paktschluss allein die größtmögliche Radi948 Mit Ausnahme Else Schweigestills reagieren selbst die vertrautesten Freunde Leverkühns mit einem beinahe instinktiv anmutenden Widerwillen: »Frau Schweigestill, die doch entfernter gestanden, war schneller bei ihm, als wir Näheren, die wir, ich weiß nicht, warum, eine Sekunde zögerten, uns seiner anzunehmen« (GKFA 10.1, 729). Sie spricht mit ihrem anklagenden Ausruf zugleich das Urteil über die Gesellschaft: »Macht’s daß’ weiter kommt’s alle miteinand! Ihr habt’s ja ka Verständnis net, ihr Stadtleut, und da k’hert a Verständnis her!« (ibid.) 949 Erneut werden hier beide ›Wirklichkeitsoptionen‹ des Teufels berücksichtigt: Die Äußerung Dr. Kranichs, der Leverkühn Wahnsinn attestiert, korrespondiert mit der Lesart des Teufels als Illusion oder Projektion, während im Folgenden seine Realexistenz angenommen wird. 950 Der Erzähler schließt seine Schilderung des ›Trambahn-Mordes‹ mit der vielsagenden Andeutung, dass es »nicht nötig sei, Adrian [s]eine Erlebnisse zu erzählen« (GKFA 10.1, 654), und verleiht an anderer Stelle seiner Überzeugung Ausdruck, der Komponist sei in die ›Schicksalsentwicklungen‹ um Rudi Schwerdtfeger, Ines Rodde und Helmut Institoris »auf eine geheimnisvoll-tödliche Weise handelnd verwickelt« (GKFA 10.1, 414). Erst diese gezielte Rezeptionslenkung verleiht Adrians ›Täterschaft‹ den Anschein von Plausibilität. 951 Brief Thomas Manns an Friedrich Sell vom 14. 7. 1948, zitiert nach Mann (1998), S. 213. 952 Selbst unter der Voraussetzung, dass der Teufelspakt als real angesehen wird, scheint es zweifelhaft, ob Adrian Leverkühn tatsächlich die Schuld am Tode Rudi Schwerdtfegers

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kalisierung der Isolation und des Immoralismus des Genies dar : Leverkühns Pakt mit dem Teufel negiert nicht nur jede Bindung an gesellschaftliche Normen, sein Abfall von »allen, die da leben, allem himmlischen Heer und allen Menschen« (GKFA 10.1, 363) verleiht seiner Isolation eine metaphysische Qualität,953 die sie vollkommen und nahezu unaufhebbar macht. Ein solches Verhältnis zur ›Welt‹ aber beschreibt genau den Zustand, der im Methoden-Kapitel als Alterität bezeichnet und als notwendige Bedingung des Genies postuliert wurde. Die Bezeichnung der Alterität als ›notwendiger Bedingung‹ für das Genie impliziert dabei, dass die Aufhebung von Leverkühns Alteritäts-Verhältnis zur Gesellschaft auch seinen Status als Genie in Frage stellen würde. Genau dieser Zusammenhang soll nun anhand von Leverkühns Verhältnis zu Rudi Schwerdtfeger und des für den Geiger geschriebenen Violinkonzerts dargestellt werden.954 Dafür ist es zunächst notwendig, den Charakter Schwerdtfegers genauer zu kennzeichnen und mit dem Adrian Leverkühns zu vergleichen, wobei auch die Frage erörtert wird, inwiefern der ›deutsche Tonsetzer‹ unter den Künstlerfiguren des Romans eine Sonderstellung einnimmt.

5.1.2. Genialität versus Künstlertum Neben zahlreichen anderen Bezeichnungen ist dem Doktor Faustus auch das Attribut des ›Künstlerromans‹ beigelegt worden. Er ist es auch insofern, als die auftretenden Personen fast ausnahmslos ›Künstler‹ sind, wenngleich, im Vergleich zu Leverkühn, überwiegend eher »unbedeutende, meist im Künstlerischen nur diträgt. Weitaus zu radikal und zu unkritisch gegenüber der Rezeptionslenkung durch den Erzähler urteilt Klugkist, wenn er feststellt: »[B]ereit, seiner monströsen Selbstverwirklichung wirklich und wahrhaftig jede Menschlichkeit zu opfern […], in einsamer Selbstbejahung entschlossen, selbst den ›vom Teufel verlangte[n] Mord‹ […] und die Beseitigung zweier Ärzte […] für seinen Ruhm in Kauf zu nehmen, befindet sich Adrian Leverkühn nicht nur außerhalb der menschlichen Gemeinschaft […], sondern steht am Ende da wie Nietzsche und Dostojewski: als der inkorporierte ›Typus des Heimgesuchten und Besessenen, in welchem der Heilige und der Verbrecher eines werden‹, – als ein ›luziferisches Genie‹ (IX, 657 f.)« [Thomas Klugkist: Die indirekte Autobiographie. Ein Nachtrag Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Text und Kontext 23 (2001), S. 203 – 258, hier : S. 234]. Vgl. zudem Roche (1986), S. 324 f. und Pütz (1997), S. 137 f. 953 Vgl. Natterer (2002), S. 35. 954 In den Zusammenhang von Leverkühns Verhältnis zur ›Welt‹ gehören neben Schwerdtfeger auch der »Weltmann« (GKFA 10.1, 576) Saul Fitelberg, der sich »in die Reihe der Verführerfiguren ein[fügt] und […] als Teufelsgestalt« (GKFA 10.2, 763) erscheint, sowie Marie Godeau, die ebenfalls als Vertreterin der ›Welt‹ eingeführt wird (vgl. GKFA 10.1, 613), und Madame de Tolna. Von diesen drei Figuren wird nur Leverkühns Verhältnis zu Frau von Tolna eingehend untersucht, da die Analyse der beiden anderen unter dem Gesichtspunkt seiner Alterität keine substantiell neuen Erkenntnisse erwarten lässt.

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lettierende, halb-komische Figuren«:955 Das gilt für Leo Zink und Baptist Spengler (vgl. GKFA 10.1, 289), für Rüdiger Schildknapp, der »eines genuinen und durchschlagenden Schaffensimpulses« (GKFA 10.1, 246) ermangelt, und für Figuren »von unbestimmt künstlerischer Beschäftigung« (GKFA 10.1, 289) wie Konrad Knöterich. Künstlerisch schon ernster zu nehmen ist Jeanette Scheurl, deren »damenhafte und originelle Gesellschaftsstudien« (GKFA 10.1, 294) nach Zeitbloms Urteil »unbedingt zur höheren Literatur« (ibid.) zu rechnen sind, außerdem Wendell Kretzschmar und Rudolf Schwerdtfeger. Dennoch besteht ein fundamentaler Unterschied zwischen all diesen gesellschaftlich akzeptierten und integrierten Künstlern und dem »einsamen Adrian Leverkühn« (GKFA 10.1, 415), der, so formuliert es Zeitblom, »den Weg des Geistes und der Problematik« (GKFA 10.1, 186) nie verlässt. Da Schwerdtfeger »als Kontrastfigur zu Adrian«956 verstanden werden kann und geradezu exemplarisch »den problemlosen Künstler [verkörpert], der sich einträchtig in seine Umwelt einfügt und harmonisch mit sich und seinem Künstlertum lebt«,957 soll anhand seiner der Gegensatz zwischen Leverkühn und den inferioren Künstler-Typen des Romans exemplarisch herausgearbeitet werden.958 Rudi Schwerdtfeger wird von Zeitblom als »ein begabter junger Geiger« (GKFA 10.1, 290) eingeführt, der »ebenso gutmütig wie gefallsüchtig« (ibid.) und »dem Flirt mit dem schönen Geschlecht […] selig hingegeben« (ibid.) sei. Der Erzähler betont überdies die »völlige Naivität« (GKFA 10.1, 422) des Musikers und lässt erkennen, dass er ihn als »an intellectual inferior figure«959 betrachtet, als die Personifikation des »liebe[n] Leben[s]« (GKFA 10.1, 433) im Gegensatz zu Leverkühns geistiger Strenge.960 Sein Spiel sei »sauber und kultiviert, nicht großen Tons, aber von süßem Wohllaut und technisch nicht wenig brillant« (GKFA 10.1, 291), wobei sein Pfeifen bezeichnenderweise »fast mehr imponiert[] als sein Geigenspiel« (GKFA 10.1, 380). Schwerdtfeger verkörpert den »sorglosen Geist des Virtuosentums« (GKFA 10.1, 605) und ist zudem »kein Schaffender (Leidender) sondern nur ein glücklich Reproduzierender«,961 was seine künstlerische Inferiorität nur unterstreicht. Pütz (1997), S. 109. Gerhard (1975), S. 997. Ibid. Zugleich lässt sich anhand der Gegenüberstellung von Leverkühn und Schwerdtfeger der Gegensatz zwischen Künstler und Genie im Kontext des Doktor Faustus aufzeigen, der im Alteritäts-Teil des Methoden-Kapitels an Werther und Ren¤ Cardillac exemplarisch dargestellt wurde. 959 Roche (1986), S. 324. Im Zusammenhang mit der Entwicklung der Durchbruchs-Utopie äußert Zeitblom mit Blick auf Schwerdtfeger: »Der mochte dann einige Mühe haben, der Unterhaltung zu folgen« (GKFA 10.1, 467). 960 Vgl. Parkes-Perret (1989), S. 27. 961 Mann (1992), S. 80 f. Zwar legt Schwerdtfeger Wert darauf, er »sei auch fatal und leidend, ein 955 956 957 958

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Obwohl ein Künstler, ist Schwerdtfeger, wie Pütz unter Bezugnahme auf das entsprechende Motiv in Tonio Kröger feststellt, der »Repräsentant der liebenswürdigen Blonden und Blauäugigen«962 – ein Hinweis darauf, dass der in der frühen Novelle etablierte Gegensatz zwischen dem naiven, starken und lebenstüchtigen Bürger und dem problematischen, ebenso ausgezeichneten wie abgesonderten und von »Erkenntnisekel« (GKFA 2.1, 276) geplagten Künstler im Roman aufgehoben ist : Im Faustus »sind die Bürger selbst zu Künstlern und Kranken geworden«,963 während die Künstler sich wie Bürger verhalten: Schwerdtfeger steht im Staatsdienst, und Kretzschmar übt seine Tätigkeit »als bestallter Mann, im Dienste der Kirche« (GKFA 10.1, 187) aus. Beiden ist es somit gelungen, mittels ihrer Kunst gesellschaftliche Inklusion zu erreichen, während Adrian Leverkühn sich gerade durch die Verweigerung dieser Integration auszeichnet und eine anti-soziale Existenz führt. Im Faustus kommt es damit zu einer »charakteristische[n] Modifikation des Gegensatzes von Künstler- und Bürgertum; […] die ›romantische‹ Differenz von Artist und Philister«964 wird abgelöst von dem Gegensatz zwischen gesellschaftlich integrierten Künstlern oder künstlerisch dilettierenden Bürgern auf der einen und dem gegengesellschaftlichen, ›reinen‹ Künstler und Genie Adrian Leverkühn auf der anderen Seite. Tatsächlich ist Leverkühn die einzige Künstlerfigur dieses radikalen Typs, die im Roman tatsächlich auftritt;965 auch in dieser Hinsicht ist er vollständig isoliert. Einen Versuch, diese Isolation zu durchbrechen, bildet seine »elbische[] Bindung«966 (GKFA 10.1, 611) an Schwertfeger, der sich »beständig in der na-

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angestrengter und oft kummervoller Künstler« (GKFA 10.1, 508), doch ist in diesem Fall, bei aller gebotenen Vorsicht, wohl Zeitbloms Urteil zuzustimmen, der bemerkt, »der gute Rudi [sei] gar kein Held und Überwinder und [habe] seiner Lebtage noch nie etwas getan, was ihm nicht leichtgefallen wäre, wie zum Beispiel, und hauptsächlich, sein ausgezeichnetes Violinspiel« (GKFA 10.1, 422). Pütz (1997), S. 135; vgl. Beddow (1994), S. 56 f. Diese Assoziation wird gestützt von Zeitbloms Charakterisierung Rudolfs als »blauäugige[] Belanglosigkeit« (GKFA 10.1, 604). Pütz (1997), S. 109. Alt (2005), S. 67. Ein zweiter Vertreter ist Beethoven, der auch deshalb als ›Präfiguration‹ Leverkühns anzusehen ist. Laut Kommentar, der ›elbisch‹ anhand der Formulierung »elbische[r] Platoniker« (GKFA 10.1, 617) erläutert, spielt der Begriff »auf den dämonischen Charakter« (GKFA 10.2, 797) von Schwerdtfegers Verhältnis zu Leverkühn an. – Als deutlich ertragreicher erweist sich der Kommentar zu Lotte in Weimar, der als Zentrum des Begriffs ›elbisch‹ »die Beziehung zu dem unberechenbaren, nicht-festlegbaren, amoralischen Wesen der Natur« (GKFA 9.2, 298) ausweist. Er stellt außerdem die Beziehung zu Wagners Ring des Nibelungen her : Alberich verkörpere dort »die Nachtseite der Natur und entsage um der Macht willen der Liebe« (ibid.), was ihn zu einem Vorläufer Adrian Leverkühns mache. Bedeutsam ist im vorliegenden Zusammenhang vor allem der Verweis auf das Moment des UnzuverlässigNaturdämonischen im Begriff ›elbisch‹ sowie der Hinweis auf die Konnotation des Ho-

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ivsten und zutraulich-unabschreckbarsten Weise um Adrian« (GKFA 10.1, 424) bemüht, bis seine »unermüdliche, durch nichts abzuschreckende Zutraulichkeit über sprödeste Einsamkeit schließlich den Sieg« (GKFA 10.1, 602) davonträgt. Sein vorübergehender Erfolg sorgt dafür, dass der ›deutsche Tonsetzer‹ sich »der Kälte seines Künstlertums eine Zeit lang entfremdet«.967 Die Frucht dieser Beziehung, das »platonische[] Kind« (GKFA 10.1, 510) der beiden Partner, bildet das Violinkonzert, das Leverkühn für Schwerdtfeger schreibt und das Zeitblom als »Apotheose der Salonmusik« (GKFA 10.1, 594) verspottet, weil es durch eine gewisse verbindliche virtuos-konzertante Willfährtigkeit [sic!] der musikalischen Haltung ein wenig aus dem Rahmen von Leverkühns unerbittlich radikalem und zugeständnislosem Gesamtwerk (GKFA 10.1, 592 f.)

herausfalle. Als Ursache dafür, dass das Werk »nicht zu Leverkühns höchsten und stolzesten gehör[e], sondern, wenigstens partienweise, etwas Verbindliches, Kondeszendierendes, […] Herablassendes« (GKFA 10.1, 573) habe, führt er eine »gewisse Konzentration des Interesses auf die Kunst des Interpreten« (ibid.) an, was den Anschein erweckt, die künstlerische Inferiorität des Werks sei letztlich auf den Einfluss Rudi Schwerdtfegers zurückzuführen. Dieser Eindruck wird verstärkt durch eine Bemerkung Clarissa Roddes, Leverkühn würden »nichts als Artigkeiten einfallen« (GKFA 10.1, 298), wenn er sich bei der Komposition des Konzerts auf Schwerdtfeger bezöge.968 Da der ›deutsche Tonsetzer‹ das Konzert aber ausdrücklich für Schwerdtfeger und nur auf dessen Drängen hin komponiert, erscheint es legitim, es als Leverkühns einziges »humanly inspired work«969 den unter diabolischer Inspiration entstandenen Kompositionen gegenüberzustellen.970 Die Hinwendung zu Schwerdtfeger und seiner »menschliche[n] Wärme« (GKFA 10.1, 633) kommt nicht nur dem Bruch des Liebesverbots gleich, sondern auch Leverkühns Abwendung von der diabolischen Inspiration und damit »von

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mosexuellen, die im Doktor Faustus in der Fügung des ›elbischen Platonikers‹ mitschwingt (vgl. GKFA 10.2, 797 mit Verweis auf GKFA 10.2, 689 f.). Borchmeyer (1994a), S. 148. Bei seiner Beurteilung des Violinkonzerts bezieht sich Zeitblom auf diese »frühe Voraussage aus unterdessen verstummtem Munde« (GKFA 10.1, 573), um sein Urteil zu untermauern. Roche (1986), S. 321. Dieser Gegensatz von ›menschlicher‹ und ›teuflischer‹ Inspiration wird in dem ›Vier-Augen Gespräch‹ über Leverkühns Heiratspläne ebenfalls thematisiert, als der Komponist auf Schwertfegers Aussage, er wolle »kein menschlich inspiriertes Werk« (GKFA 10.1, 632) von ihm hören, mit deutlichem Spott reagiert: »Nein? Möchtest du das ganz und gar nicht? Und hast doch schon dreimal eines vor den Leuten gespielt? Hast es dir widmen lassen?« (ibid.). Allerdings hat Serenus Zeitblom diese ganze Szene, bei der er nach eigener Aussage »nicht dabei« (GKFA 10.1, 629) gewesen ist, imaginiert und literarisch ausgestaltet, so dass sie allenfalls als Beleg für seine Meinung dienen kann; vgl. Baier (2008), S. 119 – 125.

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seiner teuflisch-tiefen, kalt-modernen und einzig adäquaten Kunst«.971 Selbst die vorübergehende Verwirklichung des Wunsches, »die eigene monadenhafte Existenz zu durchbrechen und teilzuhaben an der menschlichen Glückserfüllung, bedeutet daher für Adrian zugleich ein Sich-verlieren an die Mittelmäßigkeit.«972 Die Schöpfung ›genialer‹ Werke vom Range der Apokalipsis cum figuris und der Weheklag D. Fausti ist Leverkühn nur aus einer Position der Einsamkeit und Isolation heraus möglich, und der Komponist bezahlt seinen Versuch, diesen Zustand zu überwinden, menschliche Wärme und Gemeinschaft zu gewinnen, mit dem Verlust schöpferischer Größe: Die Aufhebung seines Alteritäts-Verhältnisses zu Welt und Gesellschaft ist dem ›deutschen Tonsetzer‹ nur möglich um den Preis seines Genies973 – und das bedeutet: um den Preis der Selbstaufgabe.974

5.2.

Die Verehrergemeinde des Genies975

5.2.1. Serenus Zeitblom Von Anfang an ist Zeitblom bemüht, sein besonderes Vertrauensverhältnis zu Adrian Leverkühn herauszustreichen: Er hebt hervor, dass »[s]ein persönlicher Lebensgang sich mit dem des Meisters vielfach verschränkt« (GKFA 10.1, 16) habe, dass es ihm beschieden gewesen sei, »an seinem Schaffen in bescheidener 971 Elma (1975), S. 338. 972 Pütz (1997), S. 141. Die Annahme erscheint plausibel, dass sowohl die Ehe mit Marie Godeau, von der Leverkühn sich Vorteile für den »menschlichen Gehalt seines zukünftigen Werkes« (GKFA 10.1, 632) verspricht, als auch die Annahme des Angebots von Saul Fitelberg, ihm »die Reiche dieser Welt und ihre Herrlichkeiten zu zeigen« (GKFA 10.1, 579), ganz ähnliche Folgen hätten: die Aufhebung des Alteritäts-Status, der eine conditio sine qua non von Leverkühns Genie darstellt, und damit die Regression ins künstlerische Mittelmaß; vgl. Pütz (1997), S. 134 f. 973 Borchmeyer kommt im Kontext des Melancholie-Diskurses zu dem selben Ergebnis: Die Worte des »typische[n] Joviskind[es] Rudi Schwerdtfeger« [Borchmeyer (1994a), S. 149], er wolle »kein menschlich inspiriertes Werk« (GKFA 10.1, 632) von Leverkühn hören, veranlassen diesen zu der Frage: »[F]indest du es nicht grausam, mir zu sagen, daß ich nur aus Unmenschlichkeit bin, was ich bin, und daß Menschlichkeit mir nicht zusteht?« (ibid.). Sie verdeutlichen dem Komponisten, »daß er zur ›Unmenschlichkeit‹ verurteilt ist […] – daß seine Kunst ihren melancholisch belasteten Weg mit äußerster Konsequenz zu Ende zu gehen hat« [Borchmeyer (1994a), S. 149]. 974 Es ist von einer grotesken Stimmigkeit, dass Leverkühn zu einer harmlosen und unkomplizierten Interaktion mit seinen Mitmenschen erst wieder fähig ist, als er sich im Wortsinne ›selbst aufgegeben‹ hat und im Zustand geistiger Umnachtung mit seiner Mutter spazieren geht: »Begegnenden pflegte er, ungehindert von ihr, die Hand zu reichen, wobei der so Begrüßte und Frau Leverkühn einander nachsichtig zunickten« (GKFA 10.1, 736). 975 Der Titel des Teilkapitels verdankt sich der Studie von Axel Gehring: Genie und Verehrergemeinde. Eine soziologische Analyse des Genieproblems, Hamburg 1968.

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Helfersrolle teilzuhaben« (GKFA 10.1, 14);976 er verweist auf die Auszeichnung des »Kindheits-Du« (GKFA 10.1, 251)977 und auf die »unschätzbaren Aufzeichnungen, die der Heimgegangene [ihm] und keinem anderen« (GKFA 10.1, 14 f.) vermacht habe.978 Seine besonderen Einsichten in das Werk des ›deutschen Tonsetzers‹ demonstriert er am Beispiel seiner Entdeckung der »Klang-Chiffre h e a e es« (GKFA 10.1, 227), die sich, »von niemandem wahrgenommen, als von« (GKFA 10.1, 226) ihm, nicht nur in dem O lieb Mädel der Brentano-Gesänge, sondern auch in D. Fausti Weheklag finden lasse. All dieser angeblichen Nähe ungeachtet muss jedoch auch der »herzlich getreue[] Famulus und special Freund« (GKFA 10.1, 718) des Komponisten erfahren, »wie wenig [dieser] einen an sich heranließ und wie unüberschreitbare Grenzen bei ihm der Vertraulichkeit gesetzt« (GKFA 10.1, 137) sind. Davon zeugt nicht nur die »Sprödigkeit, Kühle, ironische Abweisung« (GKFA 10.1, 505), die das Verhalten des Komponisten zu seinem ›famulus‹ bestimmt, sondern auch der Umstand, dass zwar der Erzähler seinen Freund beim Vornamen nennt, dieser ihn jedoch ›Zeitblom‹, »wenn er nicht überhaupt einer Namensverwendung« (GKFA 10.1, 40) ausweicht.979 Der Humanist ist erkennbar darum bemüht, Vorfälle, die Leverkühns kühl-distanzierte Einstellung belegen, in seinem Sinne umzudeuten. So erklärt er die offensichtliche Gleichgültigkeit des Komponisten bei seinem Eintreffen in Leipzig kurzerhand zum »Beweis alt-gesicherter Intimität« (GKFA 10.1, 232), obgleich er gesteht, »ein wenig enttäuscht und be-

976 Die ›bescheidene Helfersrolle‹ ist nicht so bescheiden, wie Zeitblom vorgibt: Neben Anregungen wie dem Geschenk der »hübsche[n] Original-Ausgabe von Clemens Brentanos Gedichten, auf die Adrian sich bei seiner Arbeit« (GKFA 10.1, 269) an den BrentanoGesängen gestützt habe, und finanzieller Unterstützung bei ihrer »Drucklegung« (ibid.) hat Zeitblom – wenn man seinen Worten trauen kann – auch direkten Anteil an einzelnen Werken: »Die librettistische Bearbeitung von Shakespeares Komödie ›Verlorene Liebesmüh‹ […] stammt von [ihm], und auch auf die textliche Zubereitung der grotesken Opernsuite ›Gesta Romanorum‹ sowie des Oratoriums ›Offenbarung S. Johannis des Theologen‹ durfte [er] Einfluss nehmen« (GKFA 10.1, 14). – Offenbarung S. Johannis des Theologen ist ein später von Mann verworfener Titel der Apokalipsis cum figuris; vgl. GKFA 10.2, 179. 977 Zeitblom benutzt das ›Du‹, um sich gezielt von den anderen Mitgliedern der Verehrergemeinde abzugrenzen, so etwa von Schildknapp, auf den er wegen seiner Gabe, Leverkühn zum Lachen zu bringen, »immer ein wenig eifersüchtig« (GKFA 10.1, 128) gewesen ist: »Wußte ich Adrian auch nicht so zu amüsieren, wie Schildknapp, – das Kindheits-Du zwischen ihm und mir hatte ich doch vor dem Schlesier voraus« (GKFA 10.1, 251). Im Falle Schwerdtfegers, der ihm das »Prärogativ[]« (GKFA 10.1, 604) der vertraulichen Anrede vorübergehend streitig macht, stellt der Erzähler sogleich die Legitimität dieser Anredeform in Frage; vgl. GKFA 10.1, 604. 978 Gemeint ist augenscheinlich Leverkühns Gedächtnisprotokoll des Teufelsgesprächs. 979 Das zeigt sich etwa bei dem Wortwechsel in der Abtsstube während Echos Sterben: »Ich wollte gehen, aber er hielt mich auf, indem er mich bei meinem Nachnamen rief: ›Zeitblom!‹, was […] sehr hart klang« (GKFA 10.1, 692).

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schnieen« (ibid.) zu sein.980 Diese beschönigende Deutung ist wenig überzeugend, plausibler erscheint die Annahme, Leverkühn behandle sein selbsterklärtes »anderes Ich« (GKFA 10.1, 650) mit der gleichen Distanz und Gleichgültigkeit wie jeden anderen, und Zeitblom sei schlicht darum bemüht, sich selbst und seine Leser über diese »Eiseswahrheit« (GKFA 9.1, 325) zu täuschen. 5.2.2. Rüdiger Schildknapp Neben Serenus Zeitblom und – bis zu seinem ›Verrat‹ und Tod – Rudi Schwerdtfeger gehört auch der Übersetzer Rüdiger Schildknapp zum engen Kreis um Leverkühn. Nach Zeitbloms Urteil beruht »Adrians lachlustige Freundschaft für Schildknapp« (GKFA 10.1, 250) »auf einer ebenso tiefen wie heiteren Indifferenz« (GKFA 10.1, 251), die er reichlich willkürlich aus der »Gleichheit der Augenfarbe« (GKFA 10.1, 250) ableitet. Der Hinweis auf die ›Lachlust‹ bezieht sich auf Schildknapps »ausgesprochen angelsächsischen Sinn für Humor« (GKFA 10.1, 246) und auf seine Fähigkeit, Leverkühns »Sinn für das Komische […] und seine Neigung zum Lachen« (GKFA 10.1, 127) zu befriedigen. Zeitblom erklärt: »Nie habe ich ihn so viel lachen, und zwar Tränen lachen, sehen, wie im Zusammensein mit Rüdiger Schildknapp« (GKFA 10.1, 249). Es hat sogar den Anschein, als begreife Schildknapp es als seine Aufgabe, Leverkühn diese Befriedigung zu verschaffen: Dem Schlesier […] war eine entschiedene Genugtuung, so, als hätte er eine Sendung, einen Auftrag erfüllt, deutlich anzumerken, wenn es ihm gelungen war, Adrian in den Zustand des Tränenlachens zu versetzen (GKFA 10.1, 459).981

Der zweite Aspekt dieses Verhältnisses, der der Klarstellung bedarf, ist die angebliche Indifferenz zwischen dem Komponisten und dem Übersetzer. Auf Schildknapps Seite kann davon keine Rede sein, denn dieser liebt »Adrian sehr, 980 Ein anderes Beispiel bildet Leverkühns Verhalten, als Zeitblom einmal mit Schildknapp zusammen in Pfeiffering zu Besuch ist: »Unser Zusammensein war so unbekümmert, daß er, als wäre er allein, sogar einen Stift nahm, um irgendwo eine Klarinetten- oder Hornfigur nach Gutdünken einzutragen« (GKFA 10.1, 445). Wieder deutet der Erzähler positiv, was eher die Folge von Gleichgültigkeit zu sein scheint: Leverkühn kümmert es schlichtweg nicht, ob er allein im Raum ist oder nicht. 981 In Anbetracht der Tatsache, dass Leverkühns Lachen zweifellos eine diabolische Konnotation aufweist, stellt sich die Frage, ob Schildknapp, ähnlich wie Schleppfuß und der Leipziger Fremdenführer, als Teufelsfigur anzusehen ist. Zwar trifft zu, dass er Adrian ›zum Lachen verführt‹, doch ergeben sich daraus, anders als in den genannten Fällen, keinerlei nachteilige Konsequenzen für den Komponisten, sondern sein Lachen ist im Gegenteil »als Entlastung vom rigiden Selbst-Zwang im Sinne kleiner (›orgiastischer‹) Ekstasen zu verstehen« [Dierks (1989), S. 24, Anm. 4]. Insofern ist Roche zuzustimmen, wenn er feststellt, dass Schildknapps »laughter, unlike Leverkühn’s, is not diabolic, it does echo one important element of the composer’s laughter, his non-involvement« [Roche (1986), S. 313].

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[ist] ihm aufrichtig anhänglich« (GKFA 10.1, 249) und beweist dies, indem er ihn nicht nur an die Nordsee (vgl. GKFA 10.1, 221) und nach Italien begleitet, sondern ihm sogar von Leipzig nach München folgt (vgl. GKFA 10.1, 292). Schildknapps Teilnahme an der Italienreise ist um so bemerkenswerter, als er über einen stark ausgeprägten »Unabhängigkeitssinn« (GKFA 10.1, 248) verfügt, der sich vor allem darin ausdrückt, »dass er, wenn man ihn braucht[], bestimmt nicht zu haben« (GKFA 10.1, 249) ist. Von Leverkühns Standpunkt aus betrachtet, scheint bereits der Umstand, dass er »den Gleichäugigen« (GKFA 10.1, 502) zum Reisebegleiter wählt und »zum Mitkommen beredet« (GKFA 10.1, 307), auf eine gewisse Zuneigung hinzudeuten. Doch wiewohl kein Zweifel bestehen kann, dass er den Übersetzer gern um sich hat,982 ist seine Wahl nur vor dem Hintergrund der besonderen Natur ihrer Beziehung zu verstehen, die sich gerade anhand des Aufenthalts im Hause Manardi exemplarisch aufzeigen lässt. Mehrfach weist Zeitblom darauf hin, dass sich das Zusammenleben der beiden Männer gerade durch das Fehlen von Interaktion auszeichne, da sie auch untereinander jeden überflüssigen Kontakt vermieden: Der ›steinerne Saal‹, in dem Leverkühn mit dem Teufel konversiert, ist »so ausgedehnt, dass zwei Personen dort, ungestört der eine vom anderen, durch beträchtliche Räume getrennt, ihren Beschäftigungen nachgehen« (GKFA 10.1, 309) können, und auch im Klostergarten arbeiten beide »an getrennten Plätzen« (GKFA 10.1, 313). Augenscheinlich führen sie ein »einsiedlerische[s], oder denn also zweisiedlerische[s]« (GKFA 10.1, 320) Leben auch in dem Sinne, dass sie sich voneinander fernhalten, und gerade das macht Schildknapps Gegenwart für den Komponisten erträglich: Der Übersetzer stellt keine Ansprüche, bedeutet »keine wirkliche Begegnung mit einer personal anderen Sphäre«,983 und bietet Leverkühn auf diese Weise die paradoxe Möglichkeit, in Gesellschaft zu sein, ohne seine Einsamkeit aufgeben zu müssen. Die Beziehung der beiden Männer funktioniert, weil Schildknapp keinen Versuch unternimmt, die Isolation des Komponisten zu durchbrechen und seinen Alteritäts-Status in Frage zu stellen.984

982 Über die Zeit der Uraufführung der Apokalipsis cum figuris, als Leverkühns Kontakte zur Gesellschaft bereits auf ein Minimum beschränkt sind, verzeichnet Zeitblom: »Mehr als je liebte er es zu jener Zeit auch, Rüdiger Schildknapp, den Gleichäugigen, um sich zu haben« (GKFA 10.1, 657). 983 Schmidt (2004c), S. 268. 984 Dazu passt Zeitbloms Hinweis, dass »die Gemeinschaft der Keuschheit das Fundament […] ihres Zusammenlebens« (GKFA 10.1, 321) bilde: Die Grundlage ihrer Beziehung besteht nicht in einem Positivum, sondern in einer übereinstimmenden Negation.

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5.2.3. Die dienenden Frauen Anders als die bisher behandelten Figuren lernen die ›dienenden Frauen‹ Nackedey und Rosenstiel den Eremiten von Pfeiffering erst kennen, nachdem bereits ein »esoterischer Früh-Ruhm […] angefangen hat[], sich mit Leverkühns Namen zu verbinden« (GKFA 10.1, 455). Es ist jedoch nicht die Musik, die ihm ihre Fürsorge einträgt, sondern »die Faszination, die von seiner Einsamkeit, der Nonkonformität seiner Lebensführung« (ibid.) ausgeht. Das »unmittelbar Persönliche« (ibid.) zieht sie an, seine Werke hingegen sind für die von ihm ausgehende Faszination nur von geringer Bedeutung: Während Meta Nackedey ihre Bekanntschaft immerhin mit dem Geständnis beginnt, »daß sie seine Musik heilig halte« (GKFA 10.1, 456), spielen seine Kompositionen für Kunigunde Rosenstiel keine erkennbare Rolle. Ihr einziger Bezug zur Sphäre von Musik und Komposition besteht darin, dass sie »sehr musikalisch« (ibid.) ist.985 Entsprechend liegt die Bedeutung der ›dienenden Frauen‹ auch nicht in ihrer musikalischen Kompetenz, sondern in ihrer »instinktbestimmte[n], sich durch viele Jahre in Treuen bewährende[n] Verehrung und Ergebenheit« (GKFA 10.1, 457). Ganz gleich, ob es sich um Meta Nackedeys »Huldigungsbesuch mit Blumen« (GKFA 10.1, 456) oder um das »stilistisch nach den besten Mustern eines älteren humanistischen Deutschland geformte[] Ergebenheitsschreiben« (GKFA 10.1, 457) der Rosenstiel handelt: Indem sie dem »Einsiedler von Pfeiffering« (GKFA 10.1, 567) ihre Reverenz erweisen, legitimieren sie »von außen Adrians Prätention, eine ›Sonderform menschlichen Daseins‹ […] nicht im verächtlichen, sondern im höchst beachtlichen Sinne des Wortes vorzustellen«.986 Sie bilden auf diese Weise den Gegenpol zur Gesellschaft, die geneigt ist, den Rückzug in die Einsamkeit als Zeichen der Absonderlichkeit, wenn nicht des Wahnsinns anzusehen. Allerdings ist Leverkühn weit davon entfernt, ein solches Verhalten zu ermutigen; im Gegenteil lässt er sich »die Huldigungen und Darbringungen dieser Anhängerinnen mit der ganzen Unachtsamkeit seines Wesens immer nur eben gefallen« (GKFA 10.1, 457): »Nicht immer, ja selten nur wurden sie vorgelassen« (GKFA 10.1, 502). Mag es auch das Ziel der beiden Frauen sein, »an den ›Huldigungen und Darbringungen‹ im Tempel zu Pfeiffering in möglichst hervorragender Stellung teilzunehmen«987 – Leverkühns Distanz und Isolation ermöglicht das nur in sehr beschränktem Maß. 985 Selbst Serenus Zeitblom bekennt sich trotz der eminenten Bedeutung, die er Leverkühns Werken beimisst, zu einer »von frühan wirkenden Verfallenheit seines Kopfes und Herzens an Adrians kühle und rätselhaft in sich verschlossene Existenz« (GKFA 10.1, 455). Auch für ihn tritt also das streng Künstlerische zurück hinter die Faszination der Persönlichkeit Adrian Leverkühns. 986 Klugkist (2000), S. 106. 987 Ibid., S. 108.

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Der Respekt und die Wahrung dieser Distanz sind kennzeichnend für eine weitere Verehrerin Leverkühns, die Zeitblom einerseits zu den »bedürftigen Frauenseelen« (GKFA 10.1, 567) zählt, »die sich durch uneigennützige Hingebung einen bescheidenen Platz im sicherlich unsterblichen Leben dieses Mannes« (ibid.) zu erobern verstünden, andererseits aber als »ganz anders geartete« (ibid.) von Nackedey und Rosenstiel abgrenzt: Madame de Tolna.988 Schon bei erster Erwähnung informiert Zeitblom den Leser, dass es in Leverkühns »Beziehungen zu der ungarischen Aristokratin an jeder persönlichen Begegnung fehl[e] und […] nach beiderseitiger stiller Übereinkunft immer fehlen sollte« (GKFA 10.1, 566 f.), weist aber darauf hin, dass sie nicht nur »unter dem Fenster der Abtsstube« (GKFA 10.1, 568) in Pfeiffering gestanden habe und »nach Kaisersaschern gefahren« (GKFA 10.1, 569) sei, sondern sich auch »in Dorf Oberweiler und auf Hof Buchel« (ibid.) auskenne und sogar »einige Wochen im Hause Manardi verweilt« (ibid.) habe.989 Dieses Verhalten ruft in Zeitblom »die Vorstellung einer Wall- und Pilgerfahrt« (GKFA 10.1, 568) wach und stellt die Verbindung zu den »Huldigungsbesuch[en]« (GKFA 10.1, 456) und »Ergebenheitsschreiben« (GKFA 10.1, 457) der anderen ›dienenden Frauen‹ her, zumal Frau von Tolna »überall zur Stelle gewesen [ist] und sich unauffällig ins Publikum gemischt [hat], wo immer man gewagt [hat], von Adrians Musik etwas erklingen zu lassen« (GKFA 10.1, 568). Dieses Verhalten macht deutlich, dass sich ihr Interesse, im Gegensatz zu dem der Damen Nackedey und Rosenstiel, nicht vorwiegend auf Leverkühns Persönlichkeit, sondern auf seine Kunst konzentriert. Zeitblom bezeichnet sie als »die klügste und genaueste Kennerin und Bekennerin« (GKFA 10.1, 567) des 988 Die Frage, ob es sich bei Madame de Tolna um Hetaera Esmeralda handelt, ist in der Forschung umstritten. Der Großteil der Interpreten – unter anderem Vaget (1991), S. 185 f.; Beddow (1994), S. 38 f.; Klugkist (2000), S. 289 und Holger Rudolff: Hetaera Esmeralda: Hure, Hexe, Helferin. Anklänge ans ›Märchenhafte‹ und ›Sagenmäßige‹ in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, in: Wirkendes Wort 47 (1995), S. 61 – 74 – stimmt mit Oswald überein, der schon 1948 feststellt, die Beweise für eine solche Identität könnten »hardly be considered less than overwhelmingly conclusive« [Viktor A. Oswald: Thomas Mann’s ›Doktor Faustus‹. The Enigma of Frau von Tolna, in: The Germanic Review 23 (1948), S. 249 – 253, hier : S. 252]. Andere Forscher ziehen es vor, die Möglichkeit einer »geheime[n] Verbindung« [Hoffmann (1974), S. 152] zwischen beiden Figuren den übrigen »Geheimnissen dieses Buches« [Runge (1993), S. 396] hinzuzufügen, während die vollständige Ablehnung dieser These die Ausnahme bildet. Koopmann stellt ohne weitere Argumentation kurzerhand fest »von einer Identität beider Figuren, wie das gelegentlich behauptet worden [sei], [könne] nicht die Rede sein« [Helmut Koopmann: ›Doktor Faustus‹. Schwierigkeiten mit dem Bösen und das Ende des ›strengen Satzes‹, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Der schwierige Deutsche. Studien zum Werk Thomas Manns, Tübingen 1988, S. 125 – 144, hier : S. 134]; vgl. außerdem Böschenstein (2000), S. 152, Anm. 41. 989 Es bleibt vollkommen unklar, woher Zeitblom diese und andere Informationen hat, da er Frau von Tolna nach eigenen Angaben »nie gesehen« (GKFA 10.1, 566) hat. Es liegt nah, erneut von einer literarischen Ausgestaltung des Textes auszugehen.

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Leverkühn’schen Werkes und verweist auf die vielfältige Unterstützung, die sie dem Komponisten zuteil werden lasse. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang die Lancierung eines »dem Schaffen Adrians gewidmeten Artikel[s]« (GKFA 10.1, 565) in einer musikalischen Fachzeitschrift, dessen Verfasser bekennt, er habe »von außen, oder […] von oben, aus einer Sphäre, höher als alle Gelehrsamkeit, der Sphäre der Liebe und des Glaubens, des Ewig-Weiblichen«990 (ibid.), auf den ›deutschen Tonsetzer‹ hingewiesen werden müssen, was Zeitblom zu der Bemerkung veranlasst: »Kurzum, der Aufsatz […] ließ […] die Gestalt einer sensitiven, wissenden und für ihr Wissen tätig werbenden Frau durchscheinen, die seine eigentliche Inspiratorin war« (GKFA 10.1, 565). Die Bezeichnung ›Inspiratorin‹ weist darauf hin, dass es sich bei dieser »tiefverschleierte[n] Schutzgöttin und Senderin kostbarer Symbole« (GKFA 10.1, 575) um eine Musen-Figur991 handelt. Dafür spricht nicht nur ihre gewissermaßen ätherische Unsichtbarkeit und Ungreifbarkeit, sondern vor allem der Umstand, dass sie »die schöpferische Kraft des Genies anregt und fördert und [es] bis zu seinem Ende begleitet«:992 Sie veranlasst nicht nur »den geistreichen Artikel im ›Anbruch‹« (GKFA 10.1, 571), sondern lässt Leverkühn auch eine »altfranzösische Versübertragung der Paulus-Vision« (ibid.) zukommen993 und stellt überdies für eine »kostbare und musikalisch vollkommene Inszenierung der ›Gesta‹ in Donaueschingen bedeutende Mittel zur Verfügung« (ibid.). Frau von Tolna spielt in Leverkühns Leben die Rolle »einer Schutzgöttin, einer Egeria«994 (GKFA 10.1, 569), sie verfügt über »alle Eigenschaften der modernen lebendigen Muse«995 – und gerade dieser Umstand bildet das entscheidende Argument für 990 991 992 993

Vgl. Faust II, V. 12110. Vgl. dazu allgemein Böschenstein (2000), S. 151 f. Hoffmann (1974), S. 153. Interessanterweise antwortet Leverkühn an anderer Stelle auf Zeitbloms Frage nach der Herkunft des Buches mit der »aus dem 13. Jahrhundert stammende[n] französische[n] Vers-Übertragung der Paulus-Vision« (GKFA 10.1, 517) mit den Worten: »Die Rosenstiel hat es mir besorgt« (ibid.). Ob es sich hierbei um eine Unachtsamkeit Thomas Manns oder Serenus Zeitbloms, oder aber um ein bewusst gesetztes Signal handelt, kann nicht entschieden werden. 994 Es ist aufschlussreich, dass Serenus Zeitblom Frau von Tolna den Namen einer ›Egeria‹ beilegt, da »the clearwinged moths, the tribe of our friend hetaira esmeralda are called Aegeridae, the Daughters of Egeria« [Oswald (1948), S. 252], was die These der Identität der Mäzenatin mit der Prostituierten unterstützt. Zugleich wird auch Frau von Tolnas Funktion als Muse untermauert, denn Egeria war »[i]n der römischen Sage eine Muse oder Nymphe, die den sagenhaften (zweiten) römischen König Numa Pompilius bei seiner Gesetzgebungstätigkeit als heimliche Geliebte beraten haben soll« (GKFA 10.2, 753). 995 Böschenstein (2000), S. 151. Da »der Muse – etwa von Pindar – die Funktion einer Mutter zugeschrieben« wird [ibid., S. 134], können die Mutter-Figuren des Romans (Elsbeth Leverkühn, Else Schweigestill und Nella Manardi) als scheiternde Musen angesehen werden, die bei dem Versuch versagen, Leverkühn vor seinem ›Schicksal‹ zu bewahren. Madame de Tolna zu dieser Gruppe hinzuzuzählen erscheint wenig plausibel, da sie als ›Muse‹ ja gerade

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ihre Identität mit Hetaera Esmeralda: Genau wie der Teufel in bezug auf Adrian Leverkühn die Rolle der inspirierenden Gottheit übernimmt, so fungiert Esmeralda, bei der sich der Komponist mit Syphilis infiziert, als Überbringerin der Inspiration, also als Muse.996 Doch hat Frau von Tolna noch eine andere Funktion: Sie repräsentiert für den »Einsiedler von Pfeiffering« (GKFA 10.1, 567) die Welt, und das Symbol dieser »Verbindung seiner Einsamkeit mit der Welt« (GKFA 10.1, 570) ist der Ring,997 den sie ihm mit ihrem ersten Brief als »Huldigungsgeschenk« (GKFA 10.1 569) übersendet.998 Obgleich diese Verbindung von einzelnen Interpreten mit weitreichenden Implikationen versehen worden ist,999 zeichnet sie sich doch gerade dadurch aus, dass sie Leverkühns Einsamkeit nicht beeinflusst: Madame de Tolna repräsentiert »die Welt im Abstand, die aus intelligenter Schonung sich

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seine Kunst fördert und in diesem Sinne als »instrumentum diaboli« [Hoffmann (1974), S. 153] fungiert. Hoffmann nimmt an, dass es sich um zwei verschiedene Personen handele; abgesehen davon aber ist ihre Beschreibung zutreffend: Gab Hetaera Esmeralda »dem Künstler mit ihrer Liebe und ihrem Gift die genialische Inspiration in Form der Syphilis, so setzt die andere diese Inspiration durch die unermüdliche Förderung seiner Kunst und durch ihre anregenden Geschenke fort« [ibid., S. 152]. Rudolff weist auf die Konnotation des ›Rings‹ als Märchenmotiv hin: »Steht der Märchenheld durch die Gabe ›in unsichtbarem Kontakt mit dem ganzen Weltgewebe‹, so stiftet der Ring dem isolierten Tonsetzer ›die Verbindung seiner Einsamkeit zur Welt‹« [Rudolff (1995), S. 71. Das eingebundene Zitat findet sich bei Max Lüthi: Das europäische Volksmärchen. Form und Wesen, 11., unveränd. Aufl., Tübingen 2005, S. 18 f.]. Dass Zeitblom den Ring, den Leverkühn »während der ganzen Ausführung der ›Apokalypse‹ […] an der Linken« (GKFA 10.1, 570) trägt, als das erste »Glied einer unsichtbaren Kette« (ibid.), als »Symbol der Bindung, der Fessel, ja der Hörigkeit« (ibid.) begreift, verweist auf den Mythos des Prometheus und stellt damit eine Verbindung zur Zentralgestalt der Genie-Ideologie her : Nachdem dieser von Herakles von seinem Felsen im Kaukasus befreit worden war, stellte Zeus, der ihn »einst zu ewiger Strafe verdammt hatte, […] die Bedingung, daß Prometheus, um noch immer als Gefangener angesehen zu werden, einen Ring tragen müßte, der aus seinen Ketten gemacht und mit einem kaukasischen Stein besetzt sei. Dies wurde der erste Ring, in den ein Stein gefaßt war« [Robert von RankeGraves: Griechische Mythologie. Quellen und Deutung, 16. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2005, S. 472]. Vaget spricht (unter Bezugnahme auf den Faust) von Madame de Tolna als von »an apparent analogue to das Ewig-Weibliche in Goethe’s work« [Vaget (1987), S. 185; vgl. Faust II, V. 12110] und nimmt eine spirituelle Liebesbeziehung zwischen ihr und Leverkühn an, die die Bestimmung des Paktes, »Liebe ist dir verboten, insofern sie wärmt« (GKFA 10.1, 364), umgehe, da ihr weder Nähe noch Erfüllung gewährt sei. Indem er diese Liebe als »a reflection of grace« auffasst [ibid., S. 186], interpretiert er Madame de Tolna als Erlöser-Figur. Allerdings sind seine Bemühungen, mittels der Analogie zu Gretchen Leverkühns Liebe für seine »mondäne Verehrerin« (GKFA 10.1, 572) zu belegen, nicht durchweg überzeugend. – Böschenstein hebt hervor, dass Frau von Tolna »zwar unsichtbar [sei], aber durchaus nicht stumm« [Böschenstein (2000), S. 152], sondern dass durch ihre jahrelange Korrespondenz auch »der alle zu nahe Berührung fliehende Komponist ein gewisses Mass [sic!] an Kommunikationsfähigkeit« gewänne [ibid.], was einer Überwindung seiner Isolation gleichkomme.

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fern haltende Welt« (GKFA 10.1, 567), und die Grundlage ihrer Beziehung zu Adrian Leverkühn besteht darin, dass sie nicht versucht, eine »Überwindung [seiner] sozialen Isolation und Beziehungslosigkeit«1000 herbeizuführen: Seine Alterität ist von ihrer Seite her nicht in Gefahr ; das allein macht es ihm möglich, ihre Gaben anzunehmen.1001 5.2.4. Kongenialität Wie lässt sich das Verhältnis zwischen Adrian Leverkühn und seiner Verehrergemeinde charakterisieren? Die Isolation des Genies, seine Alterität, hält auch die Mitglieder des ›inneren Kreises‹ in einer unüberbrückbaren Distanz, unabhängig davon, ob sie seine Nähe suchen oder die von ihm statuierten Regeln respektieren. Was geschieht, wenn die Isolation des Genies doch einmal durchbrochen, sein Alteritäts-Status aufgehoben wird, zeigt das Beispiel des für Rudi Schwerdtfeger komponierten Violinkonzerts. Welche Funktion aber hat die Verehrergemeinde, wenn zwischen ihr und dem Genie ein unüberbrückbarer Abgrund besteht? Als Serenus Zeitblom den Versuch unternimmt zu erklären, was die ›dienenden Frauen‹ dazu bewegt habe, sich dem Kreis der Verehrer Adrian Leverkühns anzuschließen, bezieht er sich auf einen »der breiten Masse gänzlich verborgene[n] esoterische[n] Früh-Ruhm« (GKFA 10.1, 455) des ›deutschen Tonsetzers‹. Dieser Ruhm habe seinen Bewußtseinssitz in eingeweihter Sphäre, an kennerischen Spitzen […]; aber gleichzeitig wohl auch […] in bescheiden-tieferen Gegenden, im bedürftigen Gemüt armer Seelen, die sich durch irgend eine als ›höheres Streben‹ verkleidete Einsamkeitsoder Leidenssensibilität von der Masse (ibid.)

abzusondern hofften. Im vorliegenden Zusammenhang ist dabei nicht der Gegensatz zwischen den ›kennerischen Spitzen‹ und den ›armen Seelen‹ von Bedeutung, sondern der Umstand, dass beide Gruppen sich zusammenfassen und der unwissenden ›Masse‹ des Publikums gegenüberstellen lassen: Sie sind die 1000 Rudolff (1995), S. 71. 1001 Dass auch Adrians Liebe zu Echo seine Isolation nicht aufzuheben vermag, zeigt sich am deutlichsten daran, dass der Komponist trotz seiner Liebe zu dem »seltsam-holde[n] Wesen« (GKFA 10.1, 684) nicht »der Kälte seines Künstlertums […] entfremdet« wird [Borchmeyer (1994a), S. 148]: Statt dessen bedient er sich seines Neffen zur Komposition »von Ariels Liedern aus dem ›Tempest‹« (GKFA 10.1, 681). Michael Maar formuliert die These, Leverkühns Schuld bestehe darin, dass er sich seines Neffen als Vorbild für Ariel bedient und so das »geliebte Leben […] in die Kunst« überführe [Michael Maar : Der Teufel in Palestrina. Neues zum ›Doktor Faustus‹ und zur Position Gustav Mahlers im Werk Thomas Manns, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 30 (1989), S. 211 – 247, hier : S. 241]. Er stellt damit eine Verbindung zu Lotte in Weimar her, wo Goethe ebenfalls dadurch schuldig wird, dass er seine ehemaligen Geliebten zu literarischen Figuren macht und so das Leben der Kunst opfert; vgl. auch Runge (1993), S. 393.

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wenigen Auserwählten, die sich durch eine »prophetische[] Intuition« (ibid.) für Leverkühns Genie auszeichnen. Dieses Gespür, ob es sich auf die musikalische Qualität und Innovation seiner Kompositionen oder die ›Größe‹ und Faszination seiner Persönlichkeit bezieht, bildet das distinktive Merkmal, das die Mitglieder der Verehrergemeinde von ihren weniger sensitiven Mitmenschen unterscheidet. Die spezifische Beziehung der Verehrer zum Genie lässt sich mit einem Begriff der Genietradition beschreiben, der zwar den im Roman geschilderten Verhältnissen angepasst werden muss, die dargestellte Konstellation aber dennoch treffend bezeichnet: dem Begriff der Kongenialität. Eine Vorform dieses Konzepts findet sich bereits bei Platon, der erklärt, dass »der Enthusiasmus vom Schaffenden auf den Rezipienten übergehe«1002 und diesen ebenfalls in einen Zustand der Begeisterung versetze. Scaliger entwickelt aus diesem Gedanken eine Vorstellung, die Zilsel als »Vorahnung des modernen Begriffes der Kongenialität«1003 bezeichnet, indem er den Zustand der Beigeisterung zur notwendigen Voraussetzung nicht nur der Produktion, sondern auch der Rezeption und Beurteilung von Kunst erklärt: »Wir schicken uns nicht an, etwas zu schreiben oder zu erläutern, wenn uns unser Genius nicht selbst dazu einlädt.«1004 Und in Goethes Aufsatz Von deutscher Baukunst wird die Kongenialität schließlich zur entscheidenden Voraussetzung für eine adäquate Wahrnehmung und Würdigung genialer Werke, und damit zu dem Kriterium, das die Gruppe der Eingeweihten von der ignoranten Masse unterscheidet: »Dem schwachen Geschmäckler wird’s ewig schwindeln an deinem Koloß, und ganze Seelen werden dich erkennen ohne Deuter« (HA 12, S. 7). Die von Goethe formulierte Bestimmung der Kongenialität ist paradigmatisch: Indem er das ›richtige‹ Verhältnis zum Genie und zur genialen Schöpfung an dem gewählten Beispiel demonstriert, schafft er den der Genie-Konzeption adäquaten Typus des modernen Kunstbetrachters. […] Nicht zuletzt dadurch trägt er zur Schaffung der spezifischen Aura bei, die das Genie umgibt. Zu ihr gehört die Gemeinde der Eingeweihten.1005 1002 Meissner (1979), S. 48. Platon parallelisiert die Wirkung der Muse mit der des Magneten, der nicht nur selbst eiserne Ringe anziehe, sondern seine Anziehungskraft auch auf diese Ringe selbst übertragen könne: »Ebenso auch macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen hängt eine ganze Reihe anderer, durch sie sich Begeisternder« (Ion 533e). 1003 Zilsel (1972), S. 287. 1004 »[U]t ad scriptionem aut commentationem numquam accingamur nisi ab ipso genio invitavit« [Scaliger (1994), S. 332 f.]. 1005 Schmidt (2004b), S. 195. Das ›gewählte Beispiel‹ ist Goethes eigene Wahrnehmung des Straßburger Münsters. – Schmidt stellt eine Verbindung her zwischen dem Prinzip der Kongenialität und der Figur des Ganymed aus Goethes gleichnamiger Ode: »Goethe schwebt in der Ganymed-Gestalt nicht ein handelndes und werkschaffendes Genie vor. Ganymed ist ein Genie der empfindenden Teilnahme am Schöpferischen. Er repräsentiert ideale Kongenialität« [ibid., S. 281].

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Zwar bestehen grundlegende Unterschiede zwischen dem ›kongenialen‹ Kunstbetrachter Goethes, der als ein ebenbürtiges Gegenüber des schöpferischen Genies erscheint, und den inferioren Figuren im Doktor Faustus, von denen keine auch nur annähernd als ›Gegenüber‹ Leverkühns angesehen werden kann, doch bleiben die Parallelen unverkennbar : Auch die Personen um Adrian bilden eine weitgehend abgeschlossene Gruppe, die sich unter Bezugnahme auf ihren »Meister« (GKFA 10.1, 39) und in bewusstem Gegensatz zu einem Publikum konstituiert, das Leverkühns Musik weitgehend ablehnt. Schon am Beispiel der ›dienenden Frauen‹ konnte gezeigt werden, dass sie durch ihr Verhalten, ihre ›Huldigungsbesuche‹ und ›Ergebenheitsschreiben‹ die geniespezifische »Sonderform menschlichen Daseins« (GKFA 10.1, 42) legitimieren. Dieser Befund lässt sich auf die gesamte Verehrergemeinde übertragen: Sie bildet den Gegenpol zum absprechenden Urteil der Gesellschaft über Adrians einsiedlerische Lebensform und generiert auf diese Weise eine Art soziales Refugium. Zugleich trägt sie damit »zur Schaffung der spezifischen Aura bei, die das Genie umgibt«:1006 Das Genie […] braucht die Masse der anderen […] nicht allein als Kontrastfolie, um sich von ihnen abzuheben, sondern stärker noch als Verehrergemeinde, die es in seinem Wert bestätigen muß. Scheitert dieser Anspruch auf Anerkennung […], so bleibt nur noch die undankbare Rolle des ›verkannten Genies‹.1007

Diese Aura des Besonderen und Auserwählten, die man gewöhnlich mit dem Genie verbindet, ist somit nicht allein Ausdruck seiner individuellen Größe, sondern wird auch von der Verehrergemeinde ›generiert‹, indem sie durch ihren Geniekult auf die Besonderheit und herausgehobene Stellung des Genies verweist.1008 Angesichts der Gleichgültigkeit, Kühle und Distanz, mit der Adrian Leverkühn seinen Verehrern begegnet, trifft die Bezeichnung ›Geniekult‹ allerdings nur in sehr beschränktem Maße zu, so dass es kaum angemessen ist, seine Stellung im Roman als ein »ins Göttliche changierendes Priester- und Fürstentum«1009 zu bezeichnen. Zwar zeigen die Mitglieder seiner Verehrergemeinde durchaus ein Verhalten, das auch einem Vertreter der weltlichen oder geistlichen1010 Macht gegenüber angemessen wäre,1011 doch impliziert Klugkists For1006 Ibid., S. 195. 1007 Ortland (2000 – 2005), S. 700. Zum ›verkannten Genie‹ vgl. außerdem Brög (1973), S. 43; Zilsel (1972), S. 60 f. und S. 78 f. sowie Ortland (2000 – 2005), S. 699 – 701. 1008 Diese Wirkung lässt sich exemplarisch am Beispiel des fiktionalen Goethe in Lotte in Weimar studieren, der – im Gegensatz zu Leverkühn – Aussehen und Verhalten an den Erwartungen seiner ›Trabanten‹ orientiert und dessen Genie somit eine »weltlich-repräsentative[]« (GKFA 9.1, 408) Gestalt annimmt. 1009 Klugkist (2000), S. 106. 1010 Der Ring, den Leverkühn von Madame de Tolna erhält, weckt bei Zeitblom entsprechende Assoziationen: »Man könnte sich denken, dass der Ring einst die Hand eines Kirchen-

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mulierung ein Verhältnis der bewussten Repräsentation zwischen Leverkühn und der Gesellschaft, von dem nicht die Rede sein kann.

5.3.

Publikum und künstlerische Wirkung

Leverkühns Verhältnis zur musikalischen Öffentlichkeit ist geprägt von Distanz und Gleichgültigkeit: Er lehnt es ab, »sich ein zeitgenössisches Publikum für seine exklusiven, abseitig-skurrilen Träume vorzustellen« (GKFA 10.1, 240) und hält noch nicht einmal Aufführungen seiner Werke für erforderlich: »Nach meiner Meinung genügt es völlig, wenn etwas einmal gehört worden ist, nämlich, als der Komponist es erdachte«1012 (GKFA 10.1, 382). Die Folge dieser Einstellung ist eine Rigorosität im Umgang mit seinen Kompositionen, die jede Rücksichtnahme auf den Publikumsgeschmack verweigert. So will er die dreizehn Lieder des Brentano-Zyklus immer als ein Ganzes, also als ein Werk betrachtet und behandelt wissen […], und […] niemals den Vortrag einzelner Stücke daraus, sondern stets nur die geschlossene zyklische Darbietung zulassen (GKFA 10.1, 266).

Diese Bestimmung, die er eigens in einem »vorgedruckten Vermerk« (GKFA 10.1, 269) festschreiben lässt, wird ihm »als prätentiös verargt« (ibid.) und steht »der öffentlichen Aufführung [des Zyklus, CB] Zeit seines Lebens außerorfürsten geschmückt hatte« (GKFA 10.1, 569). Auf der motivischen Ebene des Romans werden diese Gedanken bereits von Zeitbloms Überlegungen im Zusammenhang mit der Berufswahl seines Freundes vorbereitet, wenn er sich dessen »leicht einzubildende[n] Aufstieg […] zum Kirchenfürsten« (GKFA 10.1, 121) ausmalt. 1011 Das Verhalten der ›dienenden Frauen‹ wurde schon eingehend besprochen, ebenso die Hingabe Frau von Tolnas: »Adrian durfte nicht zweifeln, daß ihm zur Verfügung stand, was die mondäne Verehrerin seiner Einsamkeit vermochte, – ihr Reichtum […]. Soviel wie möglich davon, so viel wie anzubieten sie nur wagen konnte, auf dem Altar des Genius darzubringen, war ihr unverleugnetes Verlangen« (GKFA 10.1, 572). Auch Zeitblom legt ein entsprechendes Verhalten an den Tag, wenn er »[s]ein eigenes Leben, ohne es gerade zu vernachlässigen, immer nur nebenbei, mit halber Aufmerksamkeit, gleichsam mit der linken Hand führt[], und […] [s]eine eigentliche Angelegentlichkeit, Spannung, Sorge dem Dasein des Kindheitsfreundes gewidmet« ist (GKFA 10.1, 454). 1012 Diese Äußerung impliziert in gewissem Sinne sogar die Negation des Werkes an sich: Wenn es genügt, dass ein Werk in der Imagination des Komponisten ›erklingt‹, ist seine Niederschrift in Noten im Grunde überflüssig. Diese Überzeugung lässt sich auf die Äußerung Kretzschmars in seinem Vortrag Die Musik und das Auge zurückführen, es sei vielleicht »der tiefste Wunsch der Musik, überhaupt nicht gehört, noch selbst gesehen, noch auch gefühlt, sondern […] in einem Jenseits der Sinne und sogar des Gemütes, im Geistig-Reinen vernommen und angeschaut zu werden« (GKFA 10.1, 94). – Es ist nicht ohne Ironie, dass im Roman Doktor Faustus oft nur dieses Minimum an tatsächlicher Realisierung vorliegt: D. Fausti Weheklag ist niemals aufgeführt worden; Zeitbloms berühmtes ›letztes Wort‹, das »hohe g eines Cello« (GKFA 10.1, 711) ist ein Ton, der auch in der fiktionalen Welt nie erklungen ist.

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dentlich im Wege« (GKFA 10.1, 267). Gleiches gilt für seine Vertonung von Love’s Labour Lost, für die er auf dem englischen Text besteht, »weil er das als das einzig Richtige, Würdige, Authentische« (GKFA 10.1, 240) empfindet. Der Einwand Zeitbloms, dass er sich »durch einen fremdsprachigen Text jede Aussicht auf Verwirklichung des Werkes durch die deutsche Opernbühne verbaue« (ibid.), spielt in seinen Erwägungen keine Rolle. Zu diesen äußeren Hindernissen, die sich aus Adrian Leverkühns radikaler Verweigerung ergeben, dem Publikum Konzessionen zu machen, kommen die »Kühnheiten der Musik« (GKFA 10.1, 269) selbst.1013 Schon sein frühes Werk Love’s Labour Lost1014 bildet mit seiner »selbstzentrierten und vollkommen kühlen Esoterik« (GKFA 10.1, 318) nach Zeitbloms Urteil das Beispiel einer »Kunst um der Kunst willen, einer ehrgeizlosen oder doch nur im exklusivsten Sinne ehrgeizigen Kunst für Künstler und Kenner« (ibid.), kaum verständlich für das breite Publikum. Und während die etwa ein Jahr später1015 entstandenen Gesta Romanorum weniger kryptisch und unzugänglich zu sein scheinen (vgl. GKFA 10.1, 564), handelt es sich bei den Apokalipsis cum figuris1016 wieder um ein »bis an die Grenzen musikalischer Gelehrsamkeit, Technik, Geistigkeit vorgetriebene[s]« (GKFA 10.1, 546) Werk,1017 das zweifelsohne ebenfalls ›Kunst für Künstler und Kenner‹ darstellt. Das Publikum, das sich mit einer avantgardistischen Musik konfrontiert sieht, zu der es keinen Zugang findet, reagiert überwiegend mit Unverständnis und Ablehnung, wenngleich einzelne Aufführungen zumindest von Teilen der Hörerschaft positiv aufgenommen werden. So gelangt etwa die Frühlingsfeyer

1013 Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen, Zeitbloms ausführliche ›Beschreibungen‹ oder Rekreationen von Leverkühns Werken in extenso nachzuzeichnen, sondern nur darum, einen kursorischen Überblick über den Charakter seiner Musik zu bieten. 1014 Leverkühn vollendet das Werk kurz nach seiner Rückkehr aus Palestrina im »Herbst 1912« (GKFA 10.1, 366; vgl. auch GKFA 10.1, 371), die Uraufführung findet in der zweiten Jahreshälfte 1914 in Lübeck statt. Dieser Zeitpunkt kann annäherungsweise aus anderen Daten geschlossen werden: In den Wochen nach »Ostern 1913« (GKFA 10.1, 380) zieht Zeitblom nach Freising, und »ein Jahr später« (GKFA 10.1, 382) kommt die Oper in Lübeck zur Aufführung, allerdings »schon nach Kriegsausbruch« (ibid.), also nach dem 1. August 1914. 1015 Zeitblom kehrt nach eigenen Angaben etwa im September 1915 aus dem Krieg zurück (vgl. GKFA 10.1, 453) und findet seinen Freund der Arbeit an den Gesta »sehr dringlich ergeben« (GKFA 10.1, 458). 1016 Zu den Einzelheiten dieses Werks vgl. Zeitbloms ausführliche Charakterisierung GKFA 10.1, 539 – 550. 1017 D. Fausti Weheklag kommt in diesem Zusammenhang nicht in Betracht, da das Oratorium nie öffentlich aufgeführt worden ist und also auch keine ›Publikumswirkung‹ entfalten kann. Der eine »stark dissonante[] Akkord[]« (GKFA 10.1, 728), den Leverkühn bei der halb-öffentlichen Versammlung in Pfeiffering noch anzuschlagen imstande ist, fällt dabei schwerlich ins Gewicht.

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unter der enthusiastischen Zustimmung eine Minorität, und freilich natürlich auch hämisch-banausischem Widerspruch, durch mutige und der neuen Musik aufgeschlossene Dirigenten zur Aufführung (GKFA 10.1, 386),

und im Jahre 1926 werden »vor einem keineswegs unempfänglichen […] Publikum […] alle fünf Stücke der ›Gesta Romanorum‹« (GKFA 10.1, 564) aufgeführt.1018 Solch positive Reaktionen bleiben jedoch sporadisch: Die Aufführung von Love’s Labour Lost hat zur Folge, »daß während der Vorstellung zwei Drittel des Publikums das Theater« (GKFA 10.1, 382 f.) verlassen, und als »im Jahre 1926 […] in Frankfurt am Main die ›Apocalipsis cum figuris‹ ihre erste und vorläufig letzte Aufführung« (GKFA 10.1, 547) erleben, geschieht dies nicht ohne zornigen Widerspruch, nicht ohne daß der Vorwurf der Kunstverhöhnung, des Nihilismus, des musikalischen Verbrechertums oder […] des ›Kultur-Bolschewismus‹ mit Erbitterung laut geworden wäre (GKFA 10.1, 563).

Sein nicht existentes Verhältnis zum Publikum macht Adrian Leverkühn zu einem weithin ›verkannten Genie‹, dessen Genialität nur von einer kleinen Anzahl von Menschen gewürdigt und anerkannt wird, während die breite Masse seine Werke ablehnt. Geradezu exemplarisch lässt sich diese Konstellation an der öffentlichen Reaktion auf Love’s Labour Lost ablesen: Nach der Ablehnung durch die Mehrheit des Publikums schließt sich auch »die lokale Kritik fast einstimmig dem Urteil der Laien-Hörerschaft an und spöttelt[] über die ›dezimierende Musik‹« (GKFA 10.1, 383) des Leverkühn’schen Werkes; einzig »ein alter, seither zweifellos längst verstorbener Musik-Professor namens Jimmerthal [spricht] von einem Justizirrtum, den die Zeit richtigstellen werde« (ibid.). Zeitblom ist denn auch zuversichtlich, dieses Urteil werde ihm »zu Ehren angerechnet sein von der Nachwelt« (ibid.): Er nimmt Jimmerthal gewissermaßen in die Verehrergemeinde des Genies auf, weil er durch sein ›richtiges‹ und der allgemeinen Geringschätzung entgegenstehendes Urteil über Leverkühns Musik seine Kongenialität bewiesen hat. Von einzelnen Ausnahmen abgesehen reagieren Laien wie Berufs-Kritiker auf Leverkühns Werke mit Ablehnung oder Unverständnis. Wenn die Aufführung der Frühlingsfeyer, »[d]ie Lübecker Darbietungen von ›Verlorene Liebesmüh‹ […] nebst dem bloßen In-der-Welt-Sein der Brentano-Lieder« (GKFA 10.1, 446) dem Namen Adrians trotzdem »einen gewissen esoterischen Klang, wenn auch tentativen Charakters« (ibid.) verschaffen, so handelt es sich dabei um einen »der breiten Masse gänzlich verborgene[n] esoterische[n] Früh-Ruhm« (GKFA 10.1, 455), der auf die »inneren Zirkel[] der Kunst« (GKFA 10.1, 446) beschränkt 1018 Es handelt sich dabei um die »kostbare und musikalisch vollkommene Aufführung der ›Gesta‹ in Donaueschingen« (GKFA 10.1, 571), die dank der Unterstützung Frau von Tolnas zustande kommt.

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bleibt.1019 Einer breiten Öffentlichkeitswirkung steht bereits die Tatsache entgegen, dass es meist nur zu einer oder einigen wenigen Aufführungen eines jeden Werkes kommt – keines von ihnen hat die Gelegenheit, eine nachhaltige öffentliche Wirkung zu entfalten und der »gesellschaftliche[n] Marginalisierung«1020 Adrian Leverkühns entgegenzuwirken: [D]ie Künstler, die sich auf der Höhe der Modernität befinden und deren radikalen Konsequenzen entsprechen, bilden notwendigerweise eine elitäre Avantgarde, während das breite Publikum noch in den klischeehaften, aber verträglichen Traditionen seine kulturellen Identifikationsmuster sucht,1021

und deshalb mit Leverkühns ›avantgardistischen‹ Werken nichts anzufangen weiß. Dass die geringe Akzeptanz der Leverkühn’schen Werke tatsächlich auf ihre »unerbittlich radikale[] und zugeständnislose[]« (GKFA 10.1, 593) Modernität zurückzuführen ist, beweist die positive Reaktion des Publikums auf das Violinkonzert für Schwerdtfeger, das gerade diese Merkmale nicht aufweist: Zeitblom berichtet nicht nur von mehreren »Wiederholungen des erfolgreichen Violin-Konzerts« (GKFA 10.1, 604), sondern auch von »lebhafte[n] Ovationen« (ibid.). Die Implikationen dieses Gegensatzes sind eindeutig: Wo Adrian Leverkühn sich auf der Höhe seines eigenen, ›modernen‹ Standards bewegt, erreicht er höchstens einen exklusiven Zirkel von Kennern. Nur wenn er Kompromisse schließt und sich unter sein Niveau herabbegibt, wie in dem für Rudi Schwerdtfeger geschaffenen Violinkonzert, nur unter der Bedingung des Selbstverrats also, findet er Anklang in der größeren Öffentlichkeit.1022

Zu seinen Lebzeiten erfährt Leverkühn nur wenig Anerkennung für sein eigentliches Werk,1023 doch wie bewertet die »Nachwelt« (GKFA 10.1, 383), auf die Zeitblom sich ja immer wieder beruft, den ›deutschen Tonsetzer‹ und seine Kompositionen? Die Antwort auf diese Frage ist ernüchternd. Die Aussage Zeitbloms, dass er seine Lebensbeschreibung »nicht für den Augenblick und nicht für Leser schreibe, die von Leverkühn noch gar nichts« (GKFA 10.1, 49 f.) wüssten, setzt für den Zeitpunkt der Niederschrift genau diese Unkenntnis voraus: Augen1019 Auf den Sonderfall der »arme[n] Seelen, die sich durch irgend eine als ›höheres Streben‹ verkleidete Einsamkeits- oder Leidenssensibilität von der Masse sondern« (GKFA 10.1, 455), wurde bereits eingegangen. 1020 Bollenbeck (2001), S. 44. 1021 Schmidt (2004c), S. 269. 1022 Ibid., S. 270. 1023 Der Behauptung Rudolffs, Frau von Tolna verhelfe Leverkühns »Musikschaffen zur ökonomischen und gesellschaftlichen Anerkennung« [Rudolff (1995), S. 69], kann vor diesem Hintergrund nicht zugestimmt werden.

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scheinlich ist der ›deutsche Tonsetzer‹ im Jahr 1943 weitgehend vergessen, und wenn der Erzähler hinzusetzt, dass im Falle eines deutschen Sieges »das Werk [s]eines Freundes begraben werden, der Bann des Verbotes und der Vergessenheit vielleicht für hundert Jahre es bedecken würde« (GKFA 10.1, 50 f.), dann deutet sich zumindest ein Grund dafür an: Offenbar gelten Leverkühns Werke unter den Nationalsozialisten als ›entartete Kunst‹, was auch die Bemerkung des Erzählers aus dem Jahre 1945 erklärt, D. Fausti Weheklag habe während der vergangenen »anderthalb Jahrzehnte als ein toter, verpönter und verheimlichter Hochwert dagelegen« (GKFA 10.1, 702). Im Jahre 1943 zumindest besteht die Gemeinde derer, die Leverkühns Musik schätzen, aus »einer zerstreuten Anzahl von Menschen, die bequem an den Fingern beider Hände herzuzählen sind« (GKFA 10.1, 51). Soweit Zeitbloms Ausführungen reichen, hat die ›Nachwelt‹ die in sie gesetzten Erwartungen enttäuscht:1024 Als der Chronist seine Niederschrift beendet, fünfzehn Jahre nach Leverkühns paralytischem Schock, nur fünf Jahre nach seinem Tod,1025 sind Person und Werk des ›deutschen Tonsetzers‹ nahezu vollständig vergessen.

6.

Adrian Leverkühn – Der Erlöser der Kunst?

Die vorangegangenen Befunde machen es möglich, die Frage nach Erfolg oder Misslingen von Adrian Leverkühns ›Durchbruch‹ wieder aufzugreifen, die zu einem früheren Zeitpunkt noch hatte zurückgestellt werden müssen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass dieses utopische Konzept nicht nur mit der Erlösung der Kunst, sondern auch mit der Möglichkeit von Leverkühns eigener Erlösung in Zusammenhang steht. Diese auf den ersten Blick frappierende Analogie zwischen dem Werk und dem Seelenheil des ›deutschen Tonsetzers‹ wird von Serenus Zeitblom bereits zu einem erstaunlich frühen Zeitpunkt hergestellt, wenn er Leverkühns Vertonung der Klopstock-Ode Die Frühlingsfeyer als ein »werbende[s] Sühneopfer an Gott« (GKFA 10.1, 387) versteht, als eine musikalische Bitte um Gnade. Seine Interpretation des letzten Tons von D. Fausti We1024 Zwar eröffnet der Erzähler selbst eine neue Perspektive, indem er den Plan formuliert, seine Aufzeichnungen »nach Amerika gelangen zu lassen, damit sie vorerst einmal der dortigen Menschheit in englischer Übersetzung vorgelegt« (GKFA 10.1, 730) werden könnten, doch lässt sich über die mögliche Wirkung dieses Schrittes nur spekulieren. 1025 Leverkühns Sturz in geistige Umnachtung ereignet sich im Mai 1930 (vgl. GKFA 10.1, 712), sein Tod am »25. August 1940« (GKFA 10.1, 738). Am »25. April [des] Schicksalsjahres 1945« (GKFA 10.1, 695) schreibt Zeitblom am XLVI. Kapitel, und er schließt seine Niederschrift vermutlich nicht lange nach der Kapitulation des Dritten Reichs am 8. Mai 1945 ab (vgl. GKFA 10.1, 720 f.).

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heklag, des berühmten »hohe[n] g eines Cello« (GKFA 10.1, 711) betont diesen Zusammenhang: Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck […] gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? (ibid.).

Da der Erzähler sich hier auf ein Oratorium bezieht, in dem das Schicksal eines Teufelsbündners und die Möglichkeit göttlicher Gnade zum Thema werden, ist die Annahme plausibel, dass er mit seiner rhetorischen Frage nicht nur Leverkühns Werk, sondern auch sein Leben im Blick hat. Hans Rudolf Vaget, der sich in verschiedenen Arbeiten mit dem Thema der Gnade im Doktor Faustus beschäftigt hat,1026 versteht den hohen Stellenwert, der diesem Thema in Leverkühns Werken zukommt, als einen Hinweis auf die Hoffnung des Komponisten, »in seinem Werk und durch sein Werk Erlösung zu finden.«1027 Bedenkt man überdies die eminente Bedeutung, die dem Konzept des ›Durchbruchs‹ in der Vorstellungswelt des Komponisten zukommt,1028 so ist Vaget zuzustimmen, wenn er einen direkten Zusammenhang zur Möglichkeit der Gnade herstellt: »Leverkühn has transferred the central issue of Christian faith – how to obtain grace – into the aesthetic realm: how to achieve a breakthrough.«1029 Wenn es sich aber um eine Analogie handelt, dann erlaubt eine Aussage über Gelingen oder Misslingen des ›Durchbruchs‹ zugleich begründete Rückschlüsse auf Adrian Leverkühns Seelenheil: Gelingt ihm der ›Durchbruch‹, dann ist seine Erlösung trotz Teufelspakt und »höllisch Feuer unter dem Kessel« (GKFA 10.1, 723) zumindest denkbar, während ein Scheitern als Hinweis auf seine Verdammung anzusehen wäre.1030

1026 Vgl. Vaget (1987) und Vaget (1989). Sowohl die theologischen Hintergründe der Gnadenthematik im Doktor Faustus als auch ihre Umsetzung in den Werken Adrian Leverkühns untersucht Bassermann-Jordan, die ihre Darstellung mit dem Befund schließt, der Teufelsbündner erreiche am Ende seines Lebens »den Zustand der ›contritio‹ und schaff[e] die Bedingung der Möglichkeit für seine gnadenhafte Errettung« [von BassermannJordan (2008), S. 436 f.]. 1027 Vaget (1989), S. 137. Auf Vaget bezieht sich Natterer, wenn sie feststellt: »Die Hoffnung auf Gnade, die der modernen Faust-Gestalt, dem Künstler Adrian Leverkühn möglicherweise doch zuteil wird, geht […] aus dem Werk hervor« [Natterer (2002), S. 82]. 1028 Durch den Bezug auf Kleists Aufsatz Über das Marionettentheater ist die Frage nach der Erlösung dem Durchbruchs-Konzept von Anfang an inhärent. 1029 Vaget (1987), S. 181. 1030 Da das Interesse dieser Untersuchung primär dem Gelingen oder Misslingen des ›Durchbruchs‹ und erst in zweiter Linie der Erlösung oder Verdammung Leverkühns gilt, wird die Frage nach seinem Seelenheil nur insoweit erörtert, als sich eine Antwort aus dem Gelingen oder Scheitern des ›Durchbruchs‹ ableiten lässt, während andere Hinweise auf Adrians Erlösung nicht berücksichtigt werden. Vgl. dazu vor allem Beddow (1986) und Vaget (1987); Einwände gegen Zeitbloms Interpretation des ›hohen g‹ und die damit

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Die Frage, die es zu beantworten gilt, lautet also: Gelingt der ›Durchbruch‹, wie Leverkühn ihn als theoretisches Konzept formuliert und mittels seiner Musik anstrebt? Die Bedingungen, die in diesem Fall erfüllt sein müssten, wurden bereits im Zusammenhang mit der Analyse der Situation des Genies in der Moderne und den Implikationen der duodekaphonischen Kompositionsmethode herausgearbeitet: Nur wenn der Komponist es fertig bringt, nicht nur die Sterilität der Kunst, sondern auch ihre gesellschaftliche Isolation zu überwinden, kann der ›Durchbruch‹ als gelungen und Adrian Leverkühn als »Erlöser der Kunst« (GKFA 10.1, 468) angesehen werden. Zeitblom lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass er mit dem Oratorium D. Fausti Weheklag, dieser »schaudervollen Gabe des Entgelts und der Schadloshaltung« (GKFA 10.1, 703), alle notwendigen Voraussetzungen dafür erfüllt sieht: Bedeutet es nicht den ›Durchbruch‹, von dem zwischen uns […] so oft als von einem Problem, einer paradoxen Möglichkeit die Rede gewesen war, – […] die Rekonstruktion des Ausdrucks, der höchsten und tiefsten Ansprechung des Gefühls auf einer Stufe der Geistigkeit und der Formenstrenge, die erreicht werden mußte, damit dieses Umschlagen kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut und kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit Ereignis werden könne? (ibid.).

In der einschlägigen Forschung ist dieser Standpunkt weitgehend übernommen worden, exemplarisch sei die Ansicht Vagets zitiert: It is in the apocalyptic oratorio that Leverkühn achieves the promised breakthrough. Here he succeeds in transcending the chilling constructivism of his new compositional method and speaks with deeply affecting expressiveness.1031

Wie Serenus Zeitblom berücksichtigt auch Vaget nur den persönlich-künstlerischen Aspekt des ›Durchbruchs‹, den »Umschlag von höchster Formenstrenge zum freien Gefühlsausdruck«.1032 Einzig Rieckmann hat bisher auf die Einseitigkeit eines solchen Standpunktes hingewiesen: Zeitblom [bleibt] seinen Überzeugungen treu, wenn er, ohne das problem der isolierung auch nur zu erwähnen, behauptet, dass der durchbruch in der ›Weheklag‹ verwirklicht sei. In den Augen des Lesers jedoch, der sich an das gespräch zwischen Zeitblom und Leverkühn erinnert, kann das ›Umschlagen kalkulatorische Kälte in den expressiven Seelenlaut und kreatürlich sich anvertrauende Herzlichkeit‹ […] allein nicht den durchbruch repräsentieren, es sei denn, dieses umschlagen überwände zugleich auch die isolierung der kunst.1033 verbundenen Implikationen formulieren Koopmann (1988), S. 133 und Fetzner (1991), S. 78. 1031 Vaget (1991), S. 181; vgl. außerdem Gilliam (1977); Heftrich (1982), S. 252; Bahr (1989), S. 114; Bahr (1991), S. 159 und Erik Fischer : Adrian Leverkühns Philosophie der Neuen Musik, in: Literatur für Leser 3 (1984), S. 162 – 170. 1032 Bahr (1989), S. 114. 1033 Rieckmann (1979), S. 126 f. Die Groß- und Kleinschreibung wird in diesem Aufsatz aus

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Der künstlerische Aspekt des ›Durchbruchs‹ manifestiert sich vor allem in D. Fausti Weheklag: Nach Zeitbloms Urteil handelt es sich bei diesem Werk um »etwas geschichtlich Letztes und Äußerstes« (GKFA 10.1, 699), in dem im Sinne des Resumees […] die erdenklichsten ausdruckstragenden Momente der Musik […] in einer Art von alchimistischem Destillationsprozeß […] geläutert und auskristallisiert (GKFA 10.1, 707)

würden. Leverkühn reduziert die europäische Musik auf ihre Grundelemente, um diese dann in seinem Oratorium zusammenzufassen und so den historischen Entwicklungsprozess, der sie hervorgebracht hat, zum Abschluss zu bringen: »After this, there really is nothing for anyone else to say within the tradition he is bringing to a close«.1034 Das Problem, das sich aus dieser Lesart von D. Fausti Weheklag als einem ›musikhistorischen Schlusspunkt‹ ergibt, hat treffend George Pattison formuliert: »Granted, Leverkühn breaks through the sentimental lushness of late Romanticism; but he breaks through to – what?«1035 Unter rein künstlerischem Gesichtspunkt betrachtet, führt Leverkühns Werk, seine Entwicklung der Reihentechnik und der duodekaphonischen Kompositionsmethode, in eine Sackgasse: The final ›breakthrough‹ into intense expression, devoid of all parody, does not effect any redemption of art in general, since it opens up no new possibilities for other composers to explore.1036

Damit kann schon im Hinblick auf die erste Bedingung des ›Durchbruchs‹, die Überwindung der Sterilität der Kunst in der Moderne, allenfalls von einem vorübergehenden Erfolg gesprochen werden: Selbst unter der Voraussetzung, dass Zeitbloms Darstellung des »Umschlagen[s] kalkulatorischer Kälte in den expressiven Seelenlaut« (GKFA 10.1, 703) als zutreffend anzusehen ist, und die Restituierung des musikalischen Ausdrucks gelingt, handelt es sich nur um eine Episode, die mit Leverkühns Zusammenbruch endet und musikgeschichtlich keine Konsequenzen hat.1037

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1037

unerfindlichen Gründen mit vollständiger Beliebigkeit gehandhabt. Das eingebettete Zitat findet sich in GKFA 10.1, 703. Beddow (1994), S. 66. Pattison (1990), S. 5. Beddow (1986), S. 129. Dass Leverkühns Kompositions-Methode in der fiktionalen Welt des Romans keine eigene Tradition oder ›Schule‹ begründet, unterstreicht eine Bemerkung Saul Fitelbergs, der unter Bezugnahme auf Massenets Umgang mit seinen Schülern fragt: »Haben Sie Schüler, Ma‚tre? Die hätten es gewiß nicht so gut. Aber Sie haben gleich gar keine« (GKFA 10.1, 590). Natürlich lässt sich eine solche Behauptung nicht mit letzter Sicherheit treffen, da Zeitbloms ›Bericht‹ bereits 1945 abbricht und eine mögliche Rezeptionsgeschichte der Leverkühn’schen Kompositionsmethode nicht mehr berücksichtigt, doch erscheint die dargestellte Entwicklung als plausible Hypothese.

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Die zweite Bedingung des ›Durchbruchs‹, die Überwindung der gesellschaftlichen Isolation der Kunst und ihre Zurückführung »zu den Menschen« (GKFA 10.1, 469), steht in engem Zusammenhang mit der Verheißung des Teufels, der Adrians Musik »Lebenswirksamkeit« (GKFA 10.1, 354) und gesellschaftliche Wirkung für die Zeit nach dem Ende der »Epoche des bürgerlichen Humanismus« (GKFA 10.1, 512) verspricht: Wir stehen dir für die Lebenswirksamkeit dessen, was du mit unserer Hilfe vollbringen wirst. Du wirst führen, du wirst der Zukunft den Marsch schlagen, auf deinen Namen werden die Buben schwören, die dank deiner Tollheit es nicht mehr nötig haben, toll zu sein (GKFA 10.1, 355).

Diese Zusage des Teufels ist der Grund dafür, dass die Frage nach dem Gelingen des ›Durchbruchs‹ erst beantwortet werden kann, nachdem gezeigt wurde, dass die gesellschaftliche Wirkung des ›deutschen Tonsetzers‹ praktisch nicht existiert, weil das ›Publikum‹ – im Wortsinne verstanden als: die Öffentlichkeit – seine Musik ignoriert oder ablehnt. Statt die Kunst, wie es für den ›Durchbruch‹ erforderlich wäre, »aus dem Alleinsein mit einer Bildungselite« (GKFA 10.1, 469) zu befreien und »zu den Menschen« (ibid.) zurück zu führen, erreicht der Komponist das genaue Gegenteil: Die »exklusiven, abseitig-skurrilen Träume« (GKFA 10.1, 240) seiner Kompositionen sind eine »Kunst für Künstler und Kenner« (GKFA 10.1, 318), die zwar »in eingeweihter Sphäre, an kennerischen Spitzen« (GKFA 10.1, 455) der Fachwelt genossen und gewürdigt werden kann, für das ›breite Publikum‹ aber vollkommen unzugänglich bleibt. Daraus folgt, dass Adrian Leverkühns Musik die Isolation der Kunst nur noch verschärft; statt sie zu ›erlösen‹, hat er den gegenteiligen Effekt: »[D]espite Leverkühn’s individual artistic achievements, his hopes of being the ›saviour of art‹, of standing at the beginning of a new cultural epoch, prove to be […] fruitless«.1038 Leverkühn scheitert bei dem Versuch, den musikalischen »Durchbruch […] aus geistiger Kälte in eine Wagniswelt neuen Gefühls« (GKFA 10.1, 468) zu vollbringen, und die ›Erlösung der Kunst‹ bleibt aus. Allem Anschein nach ist der ›deutsche Tonsetzer‹ am Ende also doch der Betrogene, denn angesichts der konstatierten engen Verbindung zwischen dem künstlerischen ›Durchbruch‹ und der Möglichkeit der Gnade erlaubt dieses Ergebnis wenig Hoffnung für Adrian Leverkühns Seelenheil: Sollte seine Erlösung tatsächlich nur »in seinem Werk und durch sein Werk«1039 möglich sein, erwartet den Teufelsbündner nach seinem Tode eine Ewigkeit der Qualen »in Klepperlins Haus« (GKFA 10.1, 357).

1038 Ibid., S. 130. 1039 Vaget (1989), S. 137.

Strukturen des Genies: Adrian Leverkühn

7.

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Strukturen des Genies: Adrian Leverkühn

Wie schon im Falle der Goethe-Figur in Lotte in Weimar soll an dieser Stelle zunächst untersucht werden, ob es sich bei dem ›deutschen Tonsetzer‹ um ein Genie handelt – und zwar nach Maßgabe der drei Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität, die im Methoden-Kapitel dieser Arbeit als Kriterien für die Konstituierung eines Genies herausgearbeitet wurden. Erst nachdem diese Voraussetzung als gegeben nachgewiesen wurde, werden noch einmal die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung zusammengefasst, um das Geniekonzept im Doktor Faustus in konzentrierter Form darzustellen. Schon die Untersuchung der problematischen Lage der Kunst in der Moderne hat gezeigt, dass Authentizität im Sinne des »glaubwürdige[n] Ausdruck[s] der Autor-Subjektivität«1040 im Werk für das Schaffen Adrian Leverkühns keine tragfähige ästhetische Kategorie mehr darstellt, da die Forderung nach Authentizität des künstlerischen Ausdrucks den Prozess, an dessen Ende die »historische Verbrauchtheit und Ausgeschöpftheit der Kunstmittel« (GKFA 10.1, 199) steht, überhaupt erst ausgelöst hat. Zugleich konnte aber dargestellt werden, wie die von Leverkühn entwickelte Kompositionsmethode der Reihentechnik dem Komponisten die Möglichkeit eröffnet, sich »in dem vororganisierten Material […] hemmungslos, unbekümmert um die schon vorgegebene Konstruktion, der Subjektivität [zu] überlassen« (GKFA 10.1, 707), wodurch das Konzept der Authentizität als ästhetische Kategorie auf einer höheren Reflexionsebene restituiert wird. Daneben lässt sich an zahlreichen inhaltlichen wie strukturellen Merkmalen nachweisen, dass in Leverkühns Werken tatsächlich die Subjektivität des Komponisten zum Ausdruck kommt: Wie bei Goethe in Lotte in Weimar ist eine enge Verknüpfung von Leben und Werk festzustellen, die sich unter anderem darin zeigt, dass der Teufelsbündner Leverkühn das Schicksal des Doktor Faust zum Gegenstand eines Werkes macht.1041 Berücksichtigt man außerdem, dass für das System des ›strengen Satzes‹ Leverkühns »intellektuelle[] Leidenschaft für herbe Ordnung« (GKFA 10.1, 260) ebenso prägend ist wie die Neigung zu Parodie und Spott für seine früheren Werke, so kann an der Authentizität seiner Musik kein Zweifel bestehen. Die Autonomie dieses Werkes ergibt sich aus dem vollkommen eigenständigen Regelsystem der duodekaphonischen Methode, nach deren Ordnungs1040 Deupmann (2007), S. 57. 1041 Eine ähnliche Verquickung von Leben und Werk zeigt sich darin, dass Leverkühn sich selbst mit »Johann[es] Martyr im Ölkessel« (GKFA 10.1, 514) identifiziert und die Szene des eigenen Opfertodes unter Bezugnahme auf »das erste Blatt der Dürer’schen Holzschnitt-Serie zur Apokalypse« (GKFA 10.1, 515) beschreibt, die wiederum die Grundlage der Apokalipsis cum figuris bildet.

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grundsätzen Adrian Leverkühn seine Musik komponiert. Die Folge dieser strukturellen und formalen Geschlossenheit zeigt sich unter anderem darin, dass »die Idee einer Fuge […] der Sinnlosigkeit verfällt, eben weil es keine freie Note mehr gibt« (GKFA 10.1, 706): Die Regeln des ›strengen Satzes‹ setzen die historisch tradierten musikalischen Formen außer Kraft; Leverkühns Kunst ist auto-nom im Wortsinne, nämlich vollkommen eigengesetzlich. Dass der Komponist eine entsprechende Eigengesetzlichkeit auch für sein Leben beansprucht, verrät sein Rückzug nach Pfeiffering, der im Roman mit der der »königlichen Daseinsform« (GKFA 10.1, 624) Ludwigs II. parallelisiert wird, sowie seine Missachtung aller gesellschaftlichen Regeln. Die daraus resultierende Außenseiterposition bildet den Anknüpfungspunkt für das dritte konstitutiven Kriterium des Genies, seine Alterität, die sich auf verschiedenen Ebenen zeigt. Ausgehend von der inneren wie äußeren Distanz zu seinem Mitmenschen konnte am Beispiel der Diskussion über Ludwig II. gezeigt werden, dass das Refugium des Komponisten zum sozialen Exil, er selbst zum gesellschaftlichen Außenseiter wird. Das Liebesverbot des Teufelspakts und die damit verbundene Abwendung des Teufelsbündners von »allen, die da leben, allem himmlischen Heer und allen Menschen« (GKFA 10.1, 363), verleiht seiner Isolation eine metaphysische Qualität, die zu vollständiger und – mutmaßlich – unaufhebbarer Alterität führt. Den Beleg dafür, dass diese Alterität tatsächlich, wie im Methoden-Teil postuliert, eine der notwendigen Bedingungen des Genies darstellt, bildet das für Schwerdtfeger komponierte Violin-Konzert: Da Leverkühns Isolation durch Rudis Einfluss durchbrochen, der Zustand der Alterität damit vorübergehend aufgehoben wird, handelt es sich um ein »menschlich inspiriertes Werk« (GKFA 10.1, 632), woraus seine mangelnde künstlerische Qualität resultiert. Die Überbrückung der Distanz zwischen sich und der ›Welt‹ ist für Leverkühn nur um den Preis der Regression in künstlerische Mittelmäßigkeit möglich. Damit hat sich gezeigt, dass die Figur des Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman Doktor Faustus mit den Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität beschrieben werden kann, und dass es sich also bei dem ›deutschen Tonsetzer‹ gemäß den Kriterien dieser Arbeit tatsächlich um ein Genie handelt. Nachdem diese methodische Grundlage verifiziert worden ist, wird nun abschließend das Geniekonzept im Doktor Faustus resümiert.

Resümee: Adrian Leverkühn – Genie zwischen Tradition und Moderne

8.

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Resümee: Adrian Leverkühn – Genie zwischen Tradition und Moderne

Wie lässt sich, vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Untersuchung, das Genie Adrian Leverkühns charakterisieren? Zunächst konnte gezeigt werden, dass es als das Ergebnis einer Kombination von ererbten Eigenschaften und einer umfassenden musikalischen und literarischen Ausbildung anzusehen ist. Wendell Kretzschmars »Prinzenerziehung« (GKFA 10.1, 110) ist für die Frage nach dem Geniekonzept vor allem deshalb relevant, weil die Tatsache, dass erlerntes Wissen und erworbene Fertigkeiten als notwendige Voraussetzung für die Entstehung von Leverkühns Genie angesehen werden, zwar im Widerspruch zu den Vorstellungen des Sturm und Drang steht, aber in Übereinstimmung mit Edward Youngs Konzept des »infantine genius«,1042 womit eine Verbindung zur Genie-Tradition hergestellt ist. Zugleich bildet die physische wie psychische Disposition Adrians die Voraussetzung dafür, dass die syphilitische Infektion die erhoffte illuminierende Wirkung haben kann und der Teufelspakt möglich wird. Der Pakt Leverkühns mit dem Teufel stellt insofern das Zentrum auch des Genie-Diskurses im Doktor Faustus dar, als er den Punkt bildet, an dem die verschiedenen Motivkomplexe, die dieses spezifische Geniekonzept konstituieren, miteinander verwoben sind: die beiden grundlegenden Kategorien Inspiration und Melancholie, außerdem der Einfluss des Dämonischen sowie das Konzept der »Genie spendende[n] Krankheit« (GKFA 10.1, 354). Darüber hinaus aber ist der ›Realitätsstatus‹ des Teufels von entscheidender Bedeutung für die Frage, welche von zwei möglichen Lesarten zur Erklärung von Adrian Leverkühns ›Illumination‹ als plausibel anzusehen ist. Geht man von der Realexistenz des Teufels aus, so bildet er die Quelle der Inspiration und übernimmt damit die Funktion, die in der Antike der inspirierenden Gottheit zugeschrieben wurde. Trotz dieser strukturellen Analogie zwischen der platonischen Inspirations-Vorstellung und ihrer modernen Umsetzung im Doktor Faustus lässt sich auch ein bedeutsamer Unterschied feststellen: Zwar hat Adrian Leverkühn, wie es der antiken Konzeption entspricht, keinen Einfluss darauf, wann ihn ein Zustand der Inspiration überkommt oder wieder verlässt, gleichwohl ist er unter Inspiration mehr als nur ein willenloses Medium oder ›Mundstück‹ des Teufels. Im Gegensatz zu der für die Antike maßgeblichen »Vorstellung von Totalinspiration«1043 verläuft die moderne Variante in zwei Schritten: Der Teufel stellt Leverkühn in »melodischen Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 522) das musikalische Material für sein Werk zur Verfü1042 Morley (1979), S. 15. 1043 Böschenstein (2000), S. 132.

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gung, doch die Aufgabe, dieses der rigiden Systematik des ›strengen Satzes‹ zu unterwerfen, verbleibt dem ›deutschen Tonsetzer‹, der auf diese Weise maßgeblichen Einfluss auf den Kompositionsprozess nimmt. Dieser Eigenanteil ist von grundlegender Bedeutung, weil er gewährleistet, dass die entstehenden Werke als authentischer Ausdruck von Leverkühns Persönlichkeit verstanden werden können – eine conditio sine qua non nicht nur für die Vorstellung des modernen Künstlers, sondern auch für die Konzeption des Genies, die der Argumentation dieser Arbeit zugrunde liegt. Wird der Teufel hingegen als bloße Ausgeburt von Leverkühns überreizter Phantasie aufgefasst, bietet das Melancholie-Konzept der pseudo-aristotelischen Tradition die Möglichkeit, seine inspirative Steigerung auch ohne Bezugnahme auf eine metaphysische Instanz zu erklären. Ähnlich wie das antike Modell der Inspiration ist auch die Vorstellung der Melancholie den konzeptionellen Erfordernissen des modernen Romans Doktor Faustus angepasst. So fällt die klassische Ursache der melancholischen Veranlagung, die pathologische Dominanz der ›schwarzen Galle‹ über die anderen drei ›Säfte‹, in Leverkühns Fall zusammen mit der syphilitischen Infektion, wodurch ein Grundmotiv im Gesamtwerk Thomas Manns, der Zusammenhang von Krankheit und Genie, in seinem Altersroman ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Zugleich werden typische Merkmale des homo melancholicus entweder als Folgen der »geheime[n] Krankheit« (GKFA 10.1, 339) oder der charakterlichen Disposition des Komponisten dargestellt: Der abrupte Wechsel zwischen manischen Aufschwüngen und depressiven Rückschlägen, zwischen triumphaler Gesundheit und kaum erträglichen Krankheitsqualen, kann zugleich als Charakteristikum des Künstlers, als Symptom der luetischen Infektion und als konstitutives Merkmal des Melancholikers aufgefasst werden. Hinzu kommt als weiteres typisches Merkmal Adrians Kälte, und nicht zuletzt die Fremdheit des eigenen Geistes. Die Introduktion des kreativen Impulses hat dazu geführt, dass auch das Element des Irrationalen, Bedrohlichen und unverständlichen ›Anderen‹, das zuvor mit der Vorstellung einer göttlichen Intervention verbunden war, zu einem Bestandteil des menschlichen Wesens geworden ist. Adrian Leverkühn projiziert diesen verinnerlichten Komplex wieder nach außen: Sein ›Anderes‹ sitzt ihm in Gestalt des Teufels auf dem Sofa gegenüber. Im Zentrum des Geniekonzepts im Doktor Faustus stehen mit den antiken Vorstellungen von Inspiration und Melancholie die vielleicht einflussreichsten Kategorien einer mehr als 2000-jährigen Tradition. Zugleich sind diese traditionellen Konzepte auf eine Weise in das Motivgeflecht des Romans eingebunden, die ihre Übertragung in einen modernen Kontext ermöglicht: Der moderne Künstler Adrian Leverkühn wird mit Hilfe antiker Kategorien konstruiert, ohne dabei als Figur unglaubwürdig zu werden. Das Ergebnis ist ein Geniebegriff, der

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tief in den antiken Traditionen wurzelt und trotzdem im Kontext der Moderne plausibel und überzeugend ist. Allerdings wirft die Dämonisierung, die sich aus der Verknüpfung mit dem Teufelspakt ergibt, die Frage der Legitimität des Genies auf. Obgleich er es nicht offen ausspricht, lässt Serenus Zeitblom keinen Zweifel daran, dass er die ›diabolische Inspiration‹ als eine »›unlautere‹ Steigerung« (GKFA 10.1, 14) betrachtet, weshalb Leverkühns Genie im Vergleich mit der hypothetischen »heile[n] Größe« (GKFA 10.1, 345) gottgegebenen Genies als minderwertig einzuschätzen sei. Es konnte jedoch gezeigt werden, dass für dieses Urteil keine sachliche Grundlage besteht, und der ›diabolische‹ Ursprung von Leverkühns Genie keinen negativen Einfluss auf den künstlerischen Rang seiner Werke hat. Von zentraler Bedeutung sowohl für Leverkühns Selbstverständnis als Künstler als auch für die Frage nach seiner möglichen Erlösung ist die Utopie des ›Durchbruchs‹, deren erfolgreiche Umsetzung von zwei Voraussetzungen abhängt: Um der erhoffte »Erlöser der Kunst« (GKFA 10.1, 468) zu werden, muss der ›deutsche Tonsetzer‹ sowohl die Sterilität der Kunst als auch ihre gesellschaftliche Isolation überwinden, und die Analyse des Teufelsgesprächs hat gezeigt, dass genau darin eine der versprochenen Paktleistungen des Teufels besteht: Er garantiert Leverkühn nicht nur, »die lähmenden Schwierigkeiten der Zeit [zu] durchbrechen« (GKFA 10.1, 355), sondern darüber hinaus auch die »Lebenswirksamkeit« (ibid.) seiner Musik, ihren prägenden gesellschaftlichen Einfluss auf die ›neue Zeit‹. Die Untersuchung hat jedoch ergeben, dass der »Herr Dicis-et-non-facis« (GKFA 10.1, 145) seinem Namen Ehre macht: Schon die Erfüllung der ersten Verheißung ist zumindest zweifelhaft, denn selbst wenn man davon ausgeht, dass Leverkühn die Wiederherstellung des künstlerischen Ausdrucks in seinen eigenen Werken gelingt, bilden diese doch »etwas geschichtlich Letztes und Äußerstes« (GKFA 10.1, 699), das keinen Anknüpfungspunkt für eine Fortführung bietet. Zudem ist Leverkühns avantgardistische Musik denkbar ungeeignet, die Kunst »zu den Menschen« (GKFA 10.1, 468) zurückzuführen und damit die zweite Bedingung des ›Durchbruchs‹ zu erfüllen: Zu seinen Lebzeiten ist die öffentliche Wirkung des ›deutschen Tonsetzers‹ praktisch nicht existent, und schon fünf Jahre nach seinem Tod ist er so gut wie vergessen Der Roman Doktor Faustus entfaltet ein Geniekonzept, das von den Vorstellungskomplexen Inspiration und Melancholie bestimmt ist und somit als ›Fortschreibung‹ dieser wichtigen Traditionslinie aufgefasst werden kann. Eine Weiterentwicklung liegt auch insofern vor, als die antiken Konzepte zwar im Kern bestehen bleiben, in einzelnen zentralen Aspekten aber modifiziert und den veränderten Bedingungen des Künstlers in der Moderne angepasst werden. Das Ergebnis ist ein Geniebegriff, der Tradition und Modernität verbindet und damit in überzeugender Weise auf Adrian Leverkühn anwendbar ist. Der Um-

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Pfeiffering, 1885 – 1940: Das moderne Genie?

stand, dass es sich bei dem ›deutschen Tonsetzer‹ zudem um eine Faust-Figur handelt, und sein Genie als Folge einer ›diabolischen Steigerung‹ erscheint, fügt diesem Geniekonzept eine weitere Dimension hinzu, die sich jedoch bruchlos in die bestehenden Zusammenhänge einfügt und damit zu seiner Komplexität beiträgt. Adrian Leverkühn ist zweifellos ein Genie, zugleich aber, anders als Goethe oder Joseph, eine tragische Figur : In dem Bestreben, zum ›Erlöser der Kunst‹ zu werden, geht er einen Pakt mit dem Teufel ein, riskiert »Leib, Seel, Fleisch, Blut und Gut« (GKFA 10.1, 364) – und scheitert.

VII. Kanaan und Ägypten, um 1400 v. Chr.: Das mythische Genie?

Der Ausdruck ›mythisches Genie‹ in der Überschrift dieses Kapitels wirft Fragen auf, schließlich bildet mythisch keines der gängigen Epitheta des Wortes Genie. Andererseits haben auch die beiden traditionellen Attribute ›klassisch‹ und ›modern‹ sich letztendlich als irreführend erwiesen: Goethe, das sogenannte klassische Genie, weist dezidiert moderne Züge auf, während das angeblich moderne Genie Adrian Leverkühn, Pionier der ›Neuen Musik‹ im frühen 20. Jahrhundert, mit Hilfe der ältesten Kategorien der Genietradition zu beschreiben ist. Im Gegensatz zu ›klassisch‹ oder ›modern‹ nimmt ›mythisch‹ jedoch gar keine zeitlich-geschichtliche Einordnung vor, sondern verweist auf eine Sphäre jenseits der Historie, die von ganz eigenen Regeln, den Regeln des Mythos, bestimmt wird. Diese Regeln gelten für die fiktionale Welt des Romans Joseph und seine Brüder, sie bestimmen das Leben seines Protagonisten und damit auch die Natur seines Genies:1044 Kaum eine der Eigenschaften, die in Lotte in Weimar oder Doktor Faustus als Genie-Attribute aufgefasst wurden, ließe sich auf Joseph übertragen – schon deshalb nicht, weil er kein Werk im traditionellen Sinne schafft. Damit sind einige der Problemstellungen angedeutet, die diskutiert werden müssen, eher überhaupt von einem mythischen Genie gesprochen werden kann: Nach welchen Regeln ist die mythische Welt organisiert? Wie lässt sich das historische Konzept des Genies auf eine mythische Figur übertragen, und wie kann Joseph ein Genie sein, obwohl er kein Werk schafft? Nachdem durch die Beantwortung dieser Fragen die Voraussetzungen der Untersuchung geschaffen sind, wird im folgenden Kapitel analysiert, wie das Genie entsteht, unter welchen Voraussetzungen es sich entwickelt, und von welchen Faktoren dieser Prozess 1044 Wie die Untersuchungen zu Lotte in Weimar und Doktor Faustus geht auch die zu Joseph und seine Brüder von der Hypothese aus, Joseph sei ein Genie, wobei die Übertragung des Geniebegriffs auf eine ›mythische‹ Figur zumindest begründet werden muss. Abgesehen davon entspricht das methodische Vorgehen dem der beiden vorherigen Kapitel: Die Annahme, Joseph sei ein Genie, bildet eine Arbeitshypothese, die nach Abschluss der Untersuchung zu bestätigen oder zu verwerfen sein wird.

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Kanaan und Ägypten, um 1400 v. Chr.: Das mythische Genie?

beeinflusst wird. Danach wird dargestellt, wie Joseph seine angeborenen und erworbenen Fähigkeiten nutzt, um in die Rollen verschiedener Göttergestalten zu schlüpfen und im spielerischen Umgang mit den mythischen Mustern und den Ordnungsprinzipien seiner Lebenswelt vom »Sklave[n] und Niemandssohn« (GW IV, 607) zum »Herrn über Ägyptenland« (GW V, 1500) aufzusteigen und damit sein ›mythisches Genie‹ zu beweisen. Anschließend wird sein Verhältnis zur ›Welt‹ untersucht, wobei in weitgehend chronologischem Vorgehen die Entwicklung nachvollzogen wird, die es dem narzisstischen »Träumer von Träumen« (GW IV, 413) erlaubt, seine Talente, statt sie nur zum eigenen Nutzen einzusetzen, als ›Ernährer‹ in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Wie es dem methodischen Ansatz dieser Arbeit entspricht, wird danach überprüft, ob Jaakobs Sohn auch nach Maßgabe der systematischen Kriterien Authentizität, Autonomie und Alterität als Genie aufzufassen ist, und in einem abschließenden Resümee wird schließlich die Frage beantwortet, die im Zentrum dieses Kapitels steht: Ist Joseph ein ›mythisches Genie‹ – oder am Ende etwas anderes?

1.

Die Inszenierung des Mythos

1.1.

Mythos und Genie

Auf den ersten Blick erscheint der Versuch problematisch, den Protagonisten des Romans Joseph und seine Brüder als Genie aufzufassen. Ganz abgesehen davon, dass Joseph, Jaakobs Sohn, weder ein Dichter noch ein Musiker ist, dass er überhaupt kein Werk im traditionellen Sinne schafft und insofern nicht als Künstler von der Art Goethes oder Adrian Leverkühns angesehen werden kann: Ist es überhaupt legitim, die Vorstellung des Genies mit ihren historischen Implikationen auf eine zur literarischen Figur gewordene biblische Gestalt zu übertragen, die in der fiktionalen Welt von Thomas Manns Roman ein Zeitgenosse Amenhoteps IV. ist?1045 Ist die Vorstellung von Joseph als Genie nicht ein vollkommener Anachronismus? 1045 Die Identifikation des Pharaos der Josephsgeschichte mit Amenhotep IV., also Echnaton, hat Thomas Mann von Alfred Jeremias übernommen [vgl. Herbert Lehnert: Thomas Manns Vorstudien zur Josephstetralogie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), S. 458 – 520, hier : S. 470 f.]: »Ich setzte die Lebensgeschichte Josephs […] um 1400 vor Christo an, als in Ägypten die beiden berühmtesten Amenhoteps, der III. und IV., regieren« (GW XI, 627). Die Forschung hat diese Datierung unter Rückgriff auf historiographische Erkenntnisse präzisiert; laut Wißkirchen fällt »die Zeit Josephs in Ägypten […] in die Herrschaftszeit Amenhoteps III. (1411 – 1375 v. Chr.) und Amenhoteps IV. (1375 – 1352 v. Chr.)« [Hans Wißkirchen: Hauptsache Unterhaltung! Thomas Manns Joseph-Roman als ›Fest der Erzählung‹, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt am

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Ganz zweifellos – wie so vieles in Thomas Manns biblischer Tetralogie, angefangen von der Vorstellung, Abraham habe Gott »entdeckt und hervorgedacht« (GW IV, 643), die den Eindruck erweckt, der Gott des Volkes Israel könne als Konstrukt des menschlichen Geistes verstanden werden, über die Auffassung, Träume seien zwar Botschaften Gottes, zugleich aber Emanationen der menschlichen Seele, bis hin zu der psychologische Analyse der Leidenschaften Mut-em-enets. In Joseph und seine Brüder wimmelt es von Anachronismen, die jedoch nur dann anachronistisch erscheinen, wenn die mythische Vorzeit um das Jahr »1400 v. Chr.«1046 als Referenzpunkt angenommen wird, in der Thomas Mann selbst seine Geschichte verortet hat. Doch obwohl er eine mythische Welt evoziert, handelt es sich bei dem Roman selbst natürlich nicht um einen Mythos, sondern um ein literarisches Werk, das zwischen Dezember 1926 und Januar 1943 entstanden und vor diesem zeitlichen Hintergrund zu verstehen ist. Zu den Spuren der Moderne gehören der entlarvende Scharfblick Nietzsches, die psychologischen Einsichten Sigmund Freuds1047 oder die anthropomorphe Gottesvorstellung Feuerbachs,1048 und auch das Konzept des Genies war, zumal in der Gedankenwelt Thomas Manns, in diesen Jahren durchaus virulent. Dieter Borchmeyer weist zudem darauf hin, dass auch die Beschäftigung mit dem Mythos selbst als eine dieser ›Spuren der Moderne‹ angesehen werden kann, da seine Wiederentdeckung »durch die Religions- und Altertumswissenschaft, Ethnologie, Philosophie und Psychologie […] mit dem Aufbruch der literarischen

Main 2004, S. 35 – 50, hier : S. 42]. Ausgehend von diesen Daten hat Fischer die Geburtsjahre der wichtigsten Figuren bestimmt; nach seiner Berechnung ist Joseph im Jahr 1403 v. Chr. geboren [vgl. Bernd-Jürgen Fischer : Handbuch zu Thomas Manns Josephsromanen, Tübingen 2002, S. 367]; damit wäre der Beginn von Joseph und seine Brüder auf das Jahr 1386 v. Chr. anzusetzen. 1046 Brief Thomas Manns an Joseph Ponten vom 15. 9. 1927, zitiert nach Mann (1999), S. 29. 1047 In Freud und die Zukunft (1936) führt Thomas Mann aus: »Die analytische Einsicht ist weltverändernd; ein heiterer Argwohn ist mit ihr in die Welt gesetzt, ein entlarvender Verdacht, die Verstecktheiten und Machenschaften der Seele betreffend, welcher, einmal geweckt, nie wieder daraus verschwinden kann« (GW IX, 500 f.). 1048 Vgl. dazu den frühen Aufsatz von Paul Böckmann: Feuerbachianismus und mythisches Schema in Thomas Manns Joseph-Roman, in: Böckmann, Paul: Dichterische Wege der Subjektivierung. Studien zur deutschen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert, herausgegeben von der Deutschen Schillergesellschaft, Tübingen 1999, S. 142 – 177, der Thomas Manns Übernahmen der Gedanken Feuerbachs im Kontext seiner Freud- und WagnerRezeption analysiert, darüber hinaus Henry Hatfield: Myth versus Secularism. Religion in Thomas Mann’s Joseph, in: Schwarz, Egon (Hrsg): Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, Göttingen 1967, S. 271 – 279, hier: S. 277 f. – wieder abgedruckt in Inta Ezergailis (Hrsg): Critical Essays on Thomas Mann, Boston 1988, S. 115 – 123 – sowie die umfassende Darstellung von Christoph Schwöbel: Feuerbach steht kopf. Götterbilder und Menschenbilder in den Josephs-Romanen, in: Schwöbel, Christoph: Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns, Tübingen 2008, S. 122 – 210.

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Moderne auffallend«1049 korrespondiere, was auch in einer »Renaissance des Mythischen in der Literatur der Zwanziger Jahre«1050 zum Ausdruck komme. Nachdem also gegen die Übertragung der Genievorstellung auf eine ›mythische‹ Figur keine generellen Einwände bestehen, stellt sich die Frage, ob Joseph ein Genie sein kann, obwohl er nicht künstlerisch tätig ist. Auch dieses Problem erweist sich als scheinhaft, denn der Text lässt keinen Zweifel daran, dass Jaakobs Sohn als Künstlerfigur aufzufassen ist, obgleich er kein Werk im traditionellen Sinne schafft. Wie Goethe und Leverkühn ist er eine Person »von singulärer intellektueller bzw. künstlerischer Begabung«:1051 Durch Schönheit, Geist, Bildung, Redegabe und die hochstaplerische Fähigkeit zur Selbstinszenierung hebt er sich von seinen Mitmenschen ab, und als Chiffre dieser herausgehobenen Stellung fungiert die »leitmotivische Formel der Josephsromane«,1052 die Mann als den »produktive[n] Punkt«1053 des Werkes bezeichnet hat: der doppelte Segen »oben vom Himmel herab und aus der Tiefe, die unten liegt« (GW IV, 880). Der Doppelsegen ermöglicht es Joseph, in seiner Person die Ge1049 Dieter Borchmeyer : Mythos und Romanstruktur. Thomas Manns Joseph und seine ästhetischen Brüder, in: Grimminger, Rolf; Hermann, Iris (Hrsg): Mythos im Text. Zur Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 1998a, S. 195 – 215, hier: S. 198. Becker zählt Thomas Mann zu den Vertretern der klassischen Moderne, da er im Gegensatz zu Vertretern der »avantgardistischen Form der M[oderne] […] einen konsequenten Bruch mit lit[erarischen] Konventionen und der ästhetischen Tradition« vermeide [Becker (2007), S. 509]; zur Modernität von Manns Werk vgl. Rolf Günter Renner : Die Modernität des Werks von Thomas Mann, in: Piechotta, Hans Joachim; Wuthenow, Ralph-Rainer ; Rothemann, Sabine (Hrsg): Die literarische Moderne in Europa, Bd. 1: Erscheinungsformen literarischer Prosa um die Jahrhundertwende, Opladen 1994, S. 398 – 415 sowie Gerald Gillespie: Proust, Mann, Joyce in the Modernist Context, Washington, D.C. 2003. – Eine grundlegende Bestimmung des Begriffs ›Mythos‹ liefert Dieter Borchmeyer : Artikel ›Mythos‹, in: Borchmeyer, Dieter; Zˇmegacˇ, Viktor (Hrsg): Moderne Literatur in Grundbegriffen, 2., neu bearb. Aufl., Tübingen 1994b, S. 292 – 308; vgl. außerdem Gerhard Schmidt-Henkel: Mythos und Dichtung. Zur Begriffs- und Stilgeschichte der deutschen Literatur im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert, Bad Homburg et al. 1967; Karl Heinz Bohrer (Hrsg): Mythos und Moderne, Frankfurt am Main 1983 und Kurt Hübner: Die Wahrheit des Mythos, München 1985. 1050 Borchmeyer (1998a), S. 195. Borchmeyer nennt als Vertreter dieser Entwicklung Hofmannsthal, Broch, Döblin und Thomas Mann, in dessen biblischer Tetralogie gerade die Verwendung »durchgängig mythisch konnotiert[er]« Leitmotive zu einer Aufhebung der »Zeit als Sukzession in der Simultaneität archetypisierter Strukturen« führe [ibid., S. 206], und damit zu einer »für die Struktur des modernen Romans charakteristische[n] Überlagerung der linearen Ereigniszeit des traditionellen Romans durch eine zirkuläre. Das Prinzip der erzählerischen Sukzession [werde] durchbrochen von einem Simultanismus, der sich im Rückgriff auf ständig präsente mythische Ereignismuster besonders sinnfällig manifestier[e]« [ibid., S. 207]. 1051 Weimar (2007), S. 701. 1052 Dieter Borchmeyer : »Zurück zum Anfang aller Dinge«. Mythos und Religion in Thomas Manns Josephsromanen, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 11 (1998b), S. 9 – 29, hier : S. 11. 1053 Brief Thomas Manns an Ernst Bertram vom 28. 12. 1926, zitiert nach Mann (1999), S. 23.

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gensätze von Schönheit und Geist, Vater- und Mutterwelt zu vereinen und damit jene grundlegende Dichotomie aufzuheben, die gemeinhin die fiktionalen Welten Thomas Manns bestimmt. Viele seiner Figuren scheitern bei diesem Versuch, und selbst das paradigmatische Genie Goethe bringt es nur zu einem »Balance-Kunststück genauer Not« (GKFA 9.1, 323). Joseph hingegen vollzieht, wenn auch mit Einschränkungen und vorübergehend, die harmonische Vereinigung der Gegensätze und wird damit zur »Gestalt der Erfüllung«.1054 Angesichts dieser vollständig singulären Stellung, die er noch dazu seinen »Künstlertalente[n]«1055 verdankt, erscheint die Übertragung des Geniekonzepts auf Jaakobs Sohn legitim, obgleich der Geniediskurs in der biblischen Tetralogie weitaus weniger prominent ist als in Lotte in Weimar oder Doktor Faustus. Anders als der ›deutsche Tonsetzer‹ aus Kaisersaschern oder der große alte Mann in Weimar wird Joseph nicht explizit als ›Genie‹ bezeichnet; nur von seinem »Ingenium« (GW V, 934) ist einmal die Rede. Das Problem des fehlenden Werkes bleibt allerdings bestehen: Joseph schreibt weder Dramen oder Romane, noch komponiert er Oratorien, wie also äußert sich sein Genie? Der Ausweg aus dem Dilemma des ›Genies ohne Werk‹ eröffnet sich, wenn man sich entschließt, Josephs gesamtes Leben als ›Kunstwerk‹ zu betrachten.1056 Diese Sichtweise wird gerechtfertigt durch die Erkenntnis des Protagonisten, sich »in einer Geschichte« (GW V, 1172) zu befinden, sowie seinen Entschluss, das Wiedersehen mit den Brüdern auf eine Weise zu inszenieren, die ihn zum »Regisseur, ja [zum] Dichter« (GW XI, 666) dieser Geschichte macht, womit sein Verhältnis zum eigenen Leben dem eines Künstlers zu seinem Werk entspricht. Bedeutsamer als diese bewusste Ausgestaltung einer einzelnen Episode ist jedoch seine grundlegend ›künstlerische‹ Einstellung zur Welt: Während er seine Talente »im ersten Leben« (GW V, 960) dazu nutzt, die eigene Besonderheit hervorzuheben und seinen Willen durchzusetzen, bedient Joseph sich ihrer nach seiner »Einsicht in die tödliche Fehlerhaftigkeit seines bisherigen Lebens« (GW IV, 668) zu dem alleinigen Zweck, »sich auf die Höhe zu bringen von Gottes Absichten« (GW V, 935): Er gestaltet sein Leben mit dem Bewusstsein und der Sorgfalt eines Künstlers, der an einem Werk arbeitet, und aus dieser Argumentation ergibt sich bereits das Kriterium, nach dem das Gelingen dieses Lebens zu beurteilen ist: Es besteht in der Erfüllung der Pläne Gottes. 1054 Kurzke (2003), S. 127. 1055 Klaus Hermsdorf: Thomas Manns Schelme. Figuren und Strukturen des Komischen, Berlin 1968, S. 209. 1056 Bei der Vorstellung, ein Künstler bedürfe zum Beweis seiner Kreativität nicht mehr konkreter, greifbarer Werke, sondern könne sich selbst, die eigene Person und das eigene Leben, als ›Gesamtkunstwerk‹ inszenieren, handelt es sich um ein ausgesprochen modernes Konzept.

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Wenn sich Josephs Leben gemeinsam mit Gottes Plänen erfüllt, und diesem Leben innerhalb der biblischen Tetralogie die selbe Funktion zukommt wie im Doktor Faustus der Musik, dann erweist sich das Genie des Protagonisten gerade darin, dass es ihm gelingt, zum »Ernährer der Länder« (GW V, 1600) zu werden und in dieser Position seinen Familienstamm vor dem Hungertod zu bewahren. Das bedeutet allerdings nicht, dass jede Eigenschaft, die Joseph bei seinem Aufstieg zustatten kommt, als konstitutiv für sein Genie angesehen werden kann – das wäre etwa so, als wollte man Adrians Genie auf seine Musikalität oder Goethes auf seine literarischen Fähigkeiten zurückführen: Zwar tragen diese Eigenschaften zum Genie der Figuren bei, das ohne sie nicht möglich wäre, aber sie sind nur Voraussetzungen. Auch Jaakobs Sohn könnte niemals den Plan Gottes erfüllen, wenn er hässlich, dumm oder maulfaul wäre, doch reichen Schönheit, Geist und Redegabe nicht hin, sein Genie zu konstituieren. Dazu bedarf es seiner Fähigkeit, die Funktionsweise der mythischen Welt zu durchschauen und ihre Ordnungsprinzipien – die ›offene Identität‹, das ›In-SpurenGehen‹ und die ›rollende Sphäre‹ – im Zuge seiner Selbstinszenierung zum eigenen Vorteil zu nutzen. Nur so gelingt es ihm, vom »Heda und Hundejungen« (ibid.) zu »Pharao’s großem Geschäftsmann« (GW V, 1757) zu werden. Bevor die Bestimmung von Josephs Genie in Angriff genommen werden kann, müssen also verschiedene Aspekte des Textes erörtert werden. Auf der einen Seite gilt es, die genannten Ordnungsprinzipien zu erläutern und darzustellen, wie die mythische Welt von Joseph und seine Brüder organisiert ist, da nur vor diesem Hintergrund das Verhalten des Protagonisten angemessen beurteilt werden kann. Andererseits wurde die scheinbar anachronistische Übertragung der Genievorstellung auf eine ›mythische‹ Figur mit dem Argument legitimiert, die fiktionale Welt werde mittels moderner Kategorien und Begrifflichkeiten beschrieben, während sie zugleich als »Fest der Erzählung« (GW IV, 54) inszeniert wird, so dass ein ›mythisches‹ Konzept die Grundlage der narrativen Struktur des Romans bildet. Diese drei Dimensionen des Textes – die inhaltlicher Auseinandersetzung mit dem Mythos, die Modernität der Darstellung und die Inszenierung der Geschichte als ›Fest der Erzählung‹ – lassen sich allesamt auf den eigenwilligen Erzähler und seine Doppelperspektive von Mythos und Modernität zurückführen, so dass es geboten ist, die Interpretation der biblischen Tetralogie mit einer Analyse dieser Erzählinstanz zu beginnen.1057

1057 Eine überzeugende und differenzierte Analyse der Erzählsituation in Joseph und seine Brüder liefert Dorothea Kirschbaum: Erzählen nach Wagner. Erzählstrategien in Richard Wagners ›Ring des Nibelungen‹ und Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹, Hildesheim et al. 2010, S. 115 – 196.

Die Inszenierung des Mythos

1.2.

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Das ›Fest der Erzählung‹

Der Erzähler in Joseph und seine Brüder kann als »anthropomorphe Aussageinstanz«1058 aufgefasst werden, die zwar nicht als Person der erzählten Welt, wohl aber als »[a] separate being with a clear-defined position«1059 in Erscheinung tritt und »an increasingly distinct shape«1060 gewinnt, je weiter die Geschichte fortschreitet: Er verspürt »Verstimmung« (GW V, 1532) und Unlust, sorgt sich um seine »Würde« (GW V, 1566) und erklärt sich bereit, für Mut-em-enet sein »ganzes Erzähleransehen aufs Spiel zu setzen« (GW V, 1012). Der Umstand, dass er nach eigenen Worten im Verlauf seiner Geschichte »um kein Geringes älter […] geworden« (GW V, 1770) ist, befähigt ihn zudem, der »würdevolle[n] Schwäche« (GW V, 1561) des alten Jaakob für Thamar mit Verständnis zu begegnen: »[U]m uns Alten einmal noch das Gefühl zu wecken […], muß schon was Besonderes kommen« (GW V, 1550 f.).1061 Diese Ansätze einer Persönlichkeit machen den Erzähler, der sich überdies in der traditionellen Rolle des Geschichtenerzählers im Kreise seiner Zuhörer präsentiert (vgl. GW V, 1537)1062

1058 Matthias Löwe: Narrativer Angstschweiß. Zur ästhetischen Funktion erzählerischer Emotionalität im Joseph-Roman. Internetdokument, Adresse siehe Literaturverzeichnis, zuletzt geprüft am: 12. Juni 2010. Bei anderen Gelegenheiten wird deutlich, dass der Erzähler »clearly perceives his own role as ›godlike‹. The analogy he makes is that human life is like a story and while the former is created and controlled by God, the latter is created and controlled by the narrator« [Charlotte Nolte: Being and Meaning in Thomas Mann’s Joseph Novels, Leeds 1996, S. 143]: Wie Gott, der zwar »im Feuer [sei], aber […] nicht das Feuer« (GW IV, 821) und damit »zugleich in ihm und außer ihm« (ibid.), so sei auch der Erzähler »zwar in der Geschichte, aber […] nicht die Geschichte; er [sei] ihr Raum, aber sie nicht der seine, sondern er [sei] auch außer ihr« (ibid.). – Der Versuch Swensens, die Inkonsistenz des zwischen ›personaler‹ und ›auktorialer‹ Perspektive oszillierenden Erzählers dadurch aufzuheben, dass er ihn als Engel auffasst, hinter dem sich als ›tatsächliche Autorität‹ Gott oder der Autor verberge [vgl. Alan J. Swensen: Gods, Angels, and Narrators. A Metaphysics of Narrative in Thomas Mann’s ›Joseph und seine Brüder‹, New York 1994, S. 95 f.], vermag nicht zu überzeugen. Ausgehend von der plausiblen Annahme, der Erzähler im ›Vorspiel in Oberen Rängen‹ (vgl. GW V, 1279 – 1291) sei ein Engel, führt Swensens Versuch, dieses Postulat auf die gesamte Tetralogie auszuweiten, zu einer gewaltsamen Umdeutung der übrigen 1800 Seiten des Romans. 1059 Nolte (1996), S. 141. 1060 Ibid., S. 128; vgl. auch Maria Giebel: Erzählen im Exil. Eine Studie zu Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹, Frankfurt am Main 2001, S. 149 und allgemein Nolte (1996), S. 139 – 146, die eine gute Charakterisierung der Erzählinstanz liefert. 1061 Vgl. Christoph Jäger : Humanisierung des Mythos – Vergegenwärtigung der Tradition. Theologisch-hermeneutische Aspekte in den Josephsromanen von Thomas Mann, Stuttgart 1992, S. 141. 1062 Giebel spricht von einem »Rekurs Thomas Manns […] auf die oral poetry und die Tradition des orientalischen Geschichtenerzählers« [Giebel (2001), S. 104], weist aber zugleich darauf hin, dass der Erzähler bei anderen Gelegenheiten »dem Leser die Probleme seines Schreibens« nahe bringe [ibid., S. 91], indem er seinen »Griffel« (GW IV, 412)

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und vor der »Höllenfahrt« (GW IV, 9) durch den »Brunnen der Vergangenheit« (ibid.) erst »die Scheu [seines] Fleisches« (GW V, 1482) überwinden muss, zu »one of the stories great characters.«1063 Als der Erzähler sich anschickt, dem Leser die Zeitverhältnisse seiner Geschichte zu veranschaulichen, erläutert er, ein Dokument aus der Zeit des Mondwanderers sei für die Schreiber König Assurbanipals ungefähr so schwer zu verstehen gewesen »wie für uns Heutige ein Manuskript aus Caroli Magni Zeiten« (GW IV, 20), und zwischen Joseph und Abraham lägen »rund sechshundert babylonische Umlaufsjahre, eine Spanne, so weit wie von uns zurück ins gotische Mittelalter« (GW IV, 15). Durch die Bezugnahme auf die historische Person Karls des Großen und die Epochenbezeichnung ›gotisches Mittelalter‹ in Zusammenhang mit der Zeitspanne von 600 Jahren und dem deiktischen Ausdruck ›uns Heutige‹ gibt er zu erkennen, dass er, wie auch seinen Publikum, dem 20. Jahrhundert entstammt.1064 Die Gruppe, die unter seiner Führung auf die »Brunnenwiese von Josephs Gegenwart« (GW V, 1482) hinabfährt »wie Ischtar zum Sohne« (GW IV, 730),1065 umfasst jedoch nicht nur eine unbestimmte Anzahl fiktionaler Zuhörer, sondern schließt auch den Leser des Romans Joseph und seine Brüder mit ein. »From the beginning the narrator establishes himself as our contemporary and a learned guide on our journey into the past«,1066 als ein Führer in die mythische Unterwelt, »who is able to explain everything to the time-traveler, that is, the reader.«1067

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erwähne oder versichere, er werde »nur ein kleines Stück weiter unten« (GW V, 982) von D•dus Tücke berichten. Greg Bond: ›Die Brunnen der Vergangenheit‹. Historical Narration in Uwe Johnson’s ›Heute neunzig Jahr‹ and Thomas Mann’s ›Joseph und seine Brüder‹, in: German Life and Letters 52 (1999), S. 68 – 84, hier : S. 75. Vgl. Swensen (1994), S. 52. Es lässt sich sogar argumentieren, der Erzähler müsse als Zeitgenosse Thomas Manns angesehen werden: Wiederholt verleiht er seiner Überzeugung Ausdruck, »[j]edes Schulkind [wisse] heute noch, daß Jaakob zwölf Söhne besaß, und [habe] ihre Namen am Schnürchen« (GW IV, 153) – eine Annahme, die für die Schulkinder zu Beginn des 21. Jahrhunderts im Allgemeinen sicher nicht mehr zutrifft. Zumeist legt der Text nah, die Erzählerfiktion der ›Höllenfahrt‹ umfasse auch die Zuhörer, die nicht nur mit dem Erzähler auf der Brunnenwiese von Josephs Gegenwart ankämen [vgl. Giebel (2001), S. 84 f.], sondern auch leibhaftig »an des Vaters Sterbebett zugegen [seien] und seine Worte mit eigenen Ohren hör[t]en« (GW V, 1797). Bezogen auf das Gespräch zwischen Joseph und Pharao führt der Erzähler hingegen aus, es sei von Anfang an seine Absicht gewesen, »dies Gespräch zu belauschen und es heraufzubringen in allen seinen Gliedern« (GW V, 1483), was den Anschein erweckt, er fungiere als Vermittler für die Zuhörer/Leser, die in ihrer eigenen Gegenwart verblieben seien. Nolte (1996), S. 128. Ibid., S. 139. Der Erzähler wird nicht nur mit dem Gotte Abrahams, sondern auch mit genuin mythologischen Gestalten parallelisiert und auf diese Weise in das Verweisungsgeflecht der mythischen Welt eingebunden: Die Niederfahrt durch den ›Brunnen der Vergangenheit‹ macht ihn zu einer Ischtar- und »Hermes-figure, who leads his followers into the ›underworld‹ of the past« [Elaine Murdaugh: Salvation in the Secular. The Moral

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Aus dieser Ambivalenz von modernem Bewusstsein und prätendierter Anwesenheit in der mythischen Welt ergibt sich die erzählerische Doppelperspektive der biblischen Tetralogie, »die im selben Atemzug das uralt Bekannte als bekannt voraussetzt und diskutiert, wie es aber auch zu fiktiver Gegenwart, zur ›Lebensgestalt‹ erweckt«.1068 Wenn der Erzähler das Gesicht Pharaos mit dem »eines jungen, vornehmen Engländers von etwas ausgeblühtem Geschlecht« (GW V, 1414) vergleicht oder es beim Anblick der wieder vereinten zwölf Söhne Jaakobs bedauert, dass zu ihrer Zeit die Photographie noch nicht erfunden war (vgl. GW V, 1692), dann durchbrechen diese Anachronismen die mimetische Illusion der Geschichte und lassen sie als Fiktion und als narratives Konstrukt erkennbar werden.1069 Zugleich stellt der Umstand, dass auch sein Publikum die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern kennt, den Erzähler vor ein grundlegendes Problem: Er muss »Lebensneugier […] schaffen, wo von Rechts wegen gar keine sein« (GW V, 1638) und »von Spannung höchstens in Hinsicht auf nähere Einzelheiten die Rede sein kann« (GW V, 1249): Diese Spannung gilt folglich »nicht dem Was der Wiederkehr, sondern dem Wie der Abwandlungen, Verschiebungen und Verrätselungen«,1070 und der Erzähler strebt nicht nach Originalität, sondern nach einer möglichst »genauen und zuverlässigen Wiederherstellung seiner Geschichte« (GW V, 1134). Er versteht es sogar, das Wissen des Publikums zu seinem Vorteil zu nutzen, indem er beispielsweise möglichen Einwänden gegen die berechnende Art, in der Joseph Potiphars Vertrauen gewinnt, mit dem Hinweis auf den späteren Beweis seiner Treue begegnet:

Law in Thomas Mann’s ›Joseph und seine Brüder‹, Bern 1976, S. 71], und die Verknüpfung mit Hermes wird noch unterstrichen, wenn der Erzähler sich selbst mit dem Mond assoziiert: »Des Erzählers Gestirn – ist es nicht der Mond, der Herr des Weges, der Wanderer, der in seinen Stationen zieht, aus jeder sich wieder lösend?« (GW IV, 52). 1068 Käte Hamburger : Der Humor bei Thomas Mann. Zum Joseph-Roman, München 1965, S. 55; vgl. Clayton Koelb: The Garment of Mystery. Thomas Mann’s Joseph Tetralogy, in: Koelb, Clayton (Hrsg): Legendary Figures. Ancient History in Modern Novels, Lincoln 1998, S. 47 – 66, hier : S. 59. 1069 Auch die Reflexion über die Notwendigkeit der Aussparung (vgl. GW V, 1483) ist ein Beispiel dafür, dass der Erzähler ungeachtet seines Authentizitätsanspruchs unablässig den Kunst-Charakter seines Werkes enthüllt: Er stellt fest, dass er seine Erzählung an einem »ziemlich beliebige[n] Zeitpunkt« (GW IV, 23) beginne; entschließt sich, die Worte der Brüder nach Josephs Verprüglung »nicht unmittelbar wieder[zu]geben, weil sie eine neuzeitliche Empfindlichkeit erschrecken« (GW IV, 562) könnten; wirft »den Schleier des Zartgefühls und menschlicher Rücksichtnahme« (GW V, 1258) über die VerführungsSzene und spielt mit der Ankündigung »künftiger Gesänge« (GW V, 1275) sogar auf die homerische Tradition an. 1070 Peter Pütz: Verwirklichung durch ›lebendige Ungenauigkeit‹. Joseph von den Quellen zum Roman, in: Heftrich, Eckhard; Koopmann, Helmut; Wysling, Hans (Hrsg): Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling, Frankfurt am Main 1991, S. 173 – 188, hier: S. 184.

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Wer aber meint, er müsse Anstoß nehmen daran, möge von dem Vorteil Gebrauch machen, daß er die Geschichte, die wir erzählen, schon kennt, und sich vorausschauend erinnern, daß Joseph das so erzeugte Vertrauen nicht etwa enttäuschte, sondern ihm im Sturm der Versuchung wahrhaftige Treue hielt (GW V, 926).

Und um seine Zuhörer zu überzeugen, nach dem Bericht von der Wiedererkennens-Szene »hübsch beisammen« (GW V, 1691) zu bleiben und das Ende der Geschichte abzuwarten, weist der Erzähler darauf hin, dass bloße Kenntnis im Vergleich mit dem tatsächlichen Erleben wenig bedeute: Wer vorzeitig aufbräche, so warnt er, werde sich all seiner Lebtage […] im Nachteil fühlen, weil er nicht dabei war, als Jaakob […] seine Sterbestunde beging. ›Wir wissen’s eh schon!‹ Das ist ganz töricht gesprochen. Die Geschichte kennen kann jeder. Dabei gewesen zu sein, das ist’s (ibid.).

Schon an der Art, wie der Erzähler seine leibhaftige Anwesenheit in der mythischen Welt betont (vgl. GW IV, 364 f.),1071 lässt sich erkennen, dass sein Ziel nicht nur darin besteht, die Lakonie der biblischen Überlieferung zu korrigieren, deren Angaben »eine nach der anderen der Erläuterung [bedürfen], damit die Sachlage deutlich werde« (GW IV, 393). Der wahre ›Urtext‹ seiner Geschichte, geschrieben von Gott, »der alles Geschehen verfaßt« (GW V, 1691), ist »das sich selbst erzählende Leben« (GW V, 1005): Es ist daran zu erinnern […], daß, bevor die Geschichte erstmals erzählt wurde, sie sich selber erzählt hat – und zwar mit einer Genauigkeit, deren allein das Leben Meister ist und die zu erreichen für den Erzähler gar keine Hoffnung und Aussicht besteht. Nur ihr sich anzunähern vermag er (ibid.).

Abgesehen von notwendigen Aussparungen, die beim »schönen Fest der Erzählung und Wiedererweckung […] eine wichtige und unentbehrliche Rolle« (GW V, 1483) spielen, erhebt der Erzähler also den Anspruch, die Geschichte von Joseph und seinen Brüdern genau so zu re-konstruieren, »wie sie sich in Wirklichkeit zugetragen« (GW V, 1323) hat: Hundertmal ist sie erzählt worden und durch hundert Mittel der Erzählung gegangen. Hier nun und heute geht sie durch eines, worin sie gleichsam Selbstbesinnung gewinnt und sich erinnert, wie es denn eigentlich im Genauen und Wirklichen einst mit ihr gewesen (GW IV, 821).1072 1071 Wenn Petersen behauptet, dass des Erzählers »Anspruch auf Zuverlässigkeit […] sich schon angesichts mangelhafter Quellenlage selbst aufheb[e]« [Petersen (1991), S. 143], verkennt er, dass dieser Wahrheitsanspruch in erster Linie auf der behaupteten Augenzeugenschaft des Erzählers beruht, die ihn gerade befähigt, die Unzulänglichkeiten der Quellen zu korrigieren. 1072 Der Erzähler bringt diesen Wahrheitsanspruch seiner Geschichte allenthalben zum Ausdruck. Nachdem er das Gespräch zwischen Joseph und Echnaton im Wortlaut referiert hat, stellt er mit merklicher Zufriedenheit fest: »Nur gut, daß […] dieses berühmte und dabei

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Die ›Mittel der Erzählung‹, mit denen dieses Höchstmaß an Authentizität erreicht werden soll, entspringen dem »moderne[n] Bewußtsein«1073 eines Erzählers aus dem 20. Jahrhundert, der seine Geschichte »›wissenschaftlich‹ kommentiert, sie mit tausend Details erzählerisch plausibel macht und sie ironisch zurechtrückt, wo sie gar zu wunderbar und unglaubwürdig scheint«:1074 Not only is the past explored by the ancient historian, but every ›miracle‹ is explained by the scientist, every motivation clarified by the psychoanalyst, all cultural similarities and differences examined by the orientalist, and every ritual explained by the mythologist. The narrator is an amalgam of all these specialists; he is, in a sense, [a] modern analytical man.1075

Diese fingierte Wissenschaftlichkeit dient »natürlich nicht dazu, die Echtheit des Erzählten im Sinne objektiver Historie zu erhärten«,1076 sondern bildet, obgleich der Erzähler »alles essayistisch Erörternde […,] Kommentatorische, Kritische,

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fast unbekannte Gespräch […] nun von Anfang bis zu Ende, nach allen seinen Windungen, Wendungen und konversationellen Zwischenfällen wiederhergestellt und für immer in aller Genauigkeit festgehalten ist, so daß jeder den Gang verfolgen kann, den es seinerzeit in Wirklichkeit nahm« (GW V, 1482). Bezogen auf die Erscheinung des »Vaterantliz[es]« (GW V, 1259), dessen Anblick Joseph befähigt, sich Muts Verführungsversuchen zu entziehen, stellt er summarisch fest: »[A]lle genaueren Fassungen der Geschichte berichten es, und hier sei es als die Wahrheit bestätigt« (ibid.). Kurzke (1997), S. 253. Ibid., S. 254. Murdaugh (1976), S. 70; vgl. Pütz (1991), S. 183 und Giebel (2001), S. 87; außerdem Eckhard Heftrich: Höhere Stimmigkeit. Über Thomas Mann: Die Geschichten Jaakobs (1933), in: Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg): Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933 – 1945, Frankfurt am Main 1990, S. 11 – 17, hier : S. 15 und Eberhard Scheiffele: Die Joseph-Romane im Licht heutiger Mythos-Diskussion, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 4 (1991), S. 161 – 183, hier : S. 177. Von den zahllosen Gelegenheiten, bei denen der Erzähler die Überlieferung korrigiert oder ergänzt, seien hier nur einige genannt: Er führt Josephs »angeblich unsinnige Schönheit auf das Menschenmaß seiner Gegenwart zurück« (GW IV, 770), korrigiert das »halbunterrichtete[] Gerede« (GW V, 1757) über seine ägyptische Verwaltungsreform, bestätigt die Authentizität von Mut-em-enets ›Damengesellschaft‹ (vgl. GW V, 1217) und berichtet von der »ausschlaggebenden ersten Begegnung und Unterhaltung Josephs mit Potiphar […], deren in keiner der mannigfachen Darstellungen dieser Geschichte […] auch nur gedacht wird und von der weder die prosaischen noch die in Versen abgefaßten etwas zu melden wissen – sowenig wie von zahlreichen anderen Einzelheiten, Genauigkeiten und sichernden Begründungen, die zutage zu fördern und den schönen Wissenschaften einzuverleiben [seine] Version und Fassung sich rühmen« (GW IV, 878) dürfe. Gerade das letzte Beispiel zeigt, dass der Erzähler seine Wahrheit nicht primär »aus der Destillation aller Quellen« gewinnt [Giebel (2001), S. 95], sondern seiner unmittelbaren Anschauung verdankt. – Wright erläutert an zahlreichen Beispielen, wie im Joseph die biblische Überlieferung korrigiert und präzisiert wird [vgl. Terence R. Wright: The Genesis of Fiction. Modern Novelists as Biblical Interpreters, Aldershot 2007, S. 163 – 167], allerdings schreibt er diese Korrekturen nicht dem Erzähler, sondern dem Autor Thomas Mann zu. Eckhard Heftrich: Geträumte Taten. ›Joseph und seine Brüder‹, Frankfurt am Main 1993, S. 42 f.

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Wissenschaftliche« (GW XI, 655) mit vollständigem Ernst vorbringt, »ein humoristisches Mittel«1077 der Darstellung, das einen »Beitrag zur Schein-Genauigkeit« (GW XI, 656) der erzählten Welt leistet. Allerdings ist dieser spielerische Umgang mit der Geschichte und die daraus resultierende Ironisierung nicht das Werk des anthropomorphen Erzählers, sondern schließt ihn mit ein:1078 Innerhalb des fiktionalen Raumes1079 von Joseph und seine Brüder sind Bibelkritik und angeblich endgültige Richtigstellung der Überlieferung ebenso ernst zu nehmen wie die Höllenfahrt und die leibhaftige Anwesenheit von Erzähler und Publikum in der mythischen Welt.1080 Neben der persönlichen Zeugenschaft und der Kritik der überlieferten Quellen gehört auch die Psychologisierung der Figuren zu den Mitteln des ›modernen‹ Erzählers, die »abkürzende[] Kargheit« (GW V, 1004) der Überlieferung zu entfalten und sich so der ›Lebenswirklichkeit‹ des Geschehens anzunähern. Anlässlich des ›Göttergesprächs‹ zwischen Joseph und Pharao erläutert er : Der Lakonismus des bisher davon Überlieferten geht bis zu ehrwürdiger Unwahrscheinlichkeit. Daß nach Josephs Traumdeutung und seinem Ratschlag an den König […] Pharao […] ihn in wahrhaft enthusiastischer – man kann schon sagen: zügelloser Weise mit Ehren und Würden überschüttet habe, – das schien uns immer der Abkürzung, Aussparung und Eintrocknung zuviel […]; zu viele Begründungsglieder für Pharao’s Begeisterung und ausgelassene Gnade schienen uns darin zu fehlen (GW V, 1482).

1077 Brief Thomas Manns an Albert Einstein vom 15. 4. 1934, zitiert nach Mann (1999), S. 94. 1078 Ob diese umfassende »Durchheiterung« (GW XI, 164) der Geschichte durch ihre pseudowissenschaftliche Darstellung dem realen Autor Thomas Mann oder dem textimmanente Konstrukt eines ›impliziten Autors‹ zugeschrieben, oder ob sie als Strukturphänomen des Textes selbst aufgefasst wird, hängt weitgehend von den persönlichen Vorlieben des Interpreten ab. 1079 Der Ausdruck ›fiktionaler Raum‹ meint sowohl die mythische Lebenswelt Josephs als auch die im Vorspiel ›Höllenfahrt‹ generierte Fiktion eines Erzählers, der mit seinem Publikum durch den ›Brunnen der Vergangenheit‹ in diese Wirklichkeit hinabfährt. Er umfasst somit beide in Joseph und seine Brüder auftauchenden ›Gegenwarten‹, und prinzipiell auch die ›Oberen Ränge‹, von denen aus die Engel das Geschehen verfolgen. 1080 Genau diese Unterscheidung lässt Petersen außer Acht, wenn er behauptet, dass der Erzähler der Josephsromane »seine eigene Darstellung als bloße Variante, als eine mögliche Fassung unter anderen möglichen Fassungen« betrachte [Petersen (1991), S. 142], was den »selbstverständliche[n] Wahrheitsanspruch« [ibid., S. 139] des Mythos bestreite und dazu führe, dass »[d]ie Frage, wie es wohl ›wirklich‹ gewesen [sei], […] gar nicht gestellt werden« dürfe [ibid., S. 143]. Der Erzähler berichtet aus eigener Anschauung und umfassender Kenntnis aller einschlägigen Quellen, wie es ›wirklich‹ gewesen ist, während eine übergeordnete Instanz – Autor, impliziter Autor oder Text – dem Leser von Joseph und seine Brüder zu verstehen gibt, dass er ihn dabei nicht ganz ernst nehmen dürfe.

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Nicht nur im Falle von Josephs Erhöhung bedient sich der Erzähler einer »mythischen Psychologie« (GW XI, 137),1081 um mit ihrer Hilfe die verborgenen Motivationen der Figuren zu erhellen: Er geht ausführlich auf die ›sieben Gründe‹ für Josephs Keuschheit ein (vgl. GW V, 1133 – 1146), führt dessen Verhalten im ›ersten Leben‹ auf jugendlichen Narzissmus zurück und schildert Mut-em-enets Entwicklung von einer »eleganten Heiligen und weltkühlen Mondnonne« (GW V, 1113) zu einer »Heimgesuchte[n] und Überwältigte[n]« (GW V, 1086) ihrer Leidenschaften in der Absicht, das Bild zu korrigieren, das »weite Kreise der Welt sich von ihr machen« (GW V, 1005). Zugleich trägt er damit den Ansprüchen seines ›modernen‹ Publikums Rechnung, das sich auch im Hinblick auf menschliche Verhaltensweisen nicht mehr mit der lakonischen »Überlieferung des ›Daß‹« (ibid.) zufrieden gibt, sondern nach Hintergründen und psychologischen Motivationen verlangt.1082 1081 Nicht nur wird das Verhalten der Figuren psychologisch erklärt, die Welt des Mythos verfügt außerdem über ihre eigene Form von Psychologie: »Die mythische Denkweise übersetzt die menschlichen Antriebskräfte und Verhaltensschemata metaphorisch in Geschichten und rechnet sie kausal Ich-externen göttlichen und dämonischen Gewalten zu. So kann sie der Grenze zwischen ›bewußt‹ und ›unbewußt‹ entbehren, an welcher die Ich-zentrierte moderne Psychologie sich abarbeitet« [Neumann (2001), S. 124]. 1082 Thomas Mann nutzt diese »psychologische Rechtfertigung des Mythos« [Elrud KunneIbsch: Erzählformen des Relativierens im Modernismus, dargestellt an Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹ und Robert Musils ›Der Mann ohne Eigenschaften‹, in: Bormann, Alexander von (Hrsg): Wissen aus Erfahrungen. Werkbegriff und Interpretation heute. Festschrift für Herman Meyer zum 65. Geburtstag, Tübingen 1976, S. 760 – 779, hier: S. 769] außerdem als Mittel, ihn »den fascistischen Dunkelmännern aus der Hand zu nehmen und ihn ins Humane ›umzufunktionieren‹« [Brief Thomas Manns an Karl Ker¤nyi vom 18. 2. 1941, zitiert nach Mann (1999), S. 192]. Diese auf Ernst Bloch zurückgehende Formulierung [vgl. Ernst Bloch: Briefe. 1903 – 1975, hrsg. von Karola Bloch, 2 Bde., Bd. 2, Frankfurt am Main 1985, S. 703] bringt zum Ausdruck, »was von Anfang an die ideelle Richtung des Joseph bestimmte: eine erneuerte Humanität zu setzen gegen eine falsche, anachronistisch-reaktionäre Romantik mit ihrer Verbindung zur völkischen Deutschtümelei« [Eckhard Heftrich: Joseph und seine Brüder, in: Koopmann, Helmut (Hrsg): Thomas-Mann-Handbuch, 3., aktualisierten Aufl., Frankfurt am Main 2005b, S. 447 – 474, hier: S. 467 f.]. Joseph und seine Brüder kann somit als ein »Roman des Widerstands« [Kurzke (1997), S. 254] aufgefasst werden, als ein »künstlerischer Protest und humaner Gegenentwurf zum kultur- und geistesgeschichtlichen Rückschlag in Gestalt des deutschen Faschismus« [Peter Mennicken: ›Gottesklugheit‹ als universalethische Forderung des Tages. Thomas Manns Auseinendersetzung mit dem Weltverbrechen des Nationalsozialismus in ›Joseph und seine Brüder‹, in: Tschuggnall, Peter (Hrsg): Religion – Literatur – Künste, Band 3: Perspektiven einer Begegnung am Beginn eines neuen Millenniums, Salzburg 2001, S. 326 – 343, hier : S. 328] und seiner Versuche, »eine mythisierte, verfälschte Vergangenheit in den Dienst der sinistren völkischen Politik« [Heftrich (1989a), S. 727] zu stellen. Zu diesem Aspekt, der in der vorliegenden Arbeit nur am Rande berücksichtigt wird, vgl. neben den soeben zitieren Titeln etwa Dieter Borchmeyer : Heiterkeit contra Faschismus. Eine Betrachtung über Thomas Manns Josephsromane, in: Kiedaisch, Petra; Bär, Jochen A. (Hrsg): Heiterkeit. Konzepte in Literatur und Geistesgeschichte, München 1997, S. 203 – 218, hier : S. 209; Herbert Lehnert: Ägypten im

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Überblickt man die bisherigen Befunde, kann die charakteristische Doppelperspektive, die sich aus der ›Höllenfahrt‹ des Erzählers und seines Publikums ergibt, als Ursache für verschiedene ›moderne‹ Aspekte der erzählerischen Inszenierung von Joseph und seine Brüder angesehen werden, namentlich für die humoristisch-pseudowissenschaftliche Kritik an der biblischen Überlieferung, die Enthüllung des Fiktionalitätscharakters der Erzählung sowie die Psychologisierung der Figuren. Außerdem eröffnet die Tatsache, dass auch sein Publikum Verlauf und Ausgang der Geschichte kennt, dem Erzähler die Möglichkeit, eine der Grundstrukturen der mythischen Welt auch auf narrativer Ebene umzusetzen und seine Geschichte als Fest der Erzählung zu inszenieren. Innerhalb der fiktionalen Welt besteht die Funktion des Festes in der »Aufhebung des Unterschiedes von ›war‹ und ›ist‹« (GW V, 1252): Durch die »Vergegenwärtigung einer so und so laufenden Göttergeschichte« (GW V, 1133) gewährleistet es die »Vertrautheit mit dem Mythos, und damit mit den geprägten Urformen und Urnormen, die dem Leben Sinn und Orientierung geben«.1083 Wie in der Erzählung wird im Fest »Wiederkehr als Vergegenwärtigung« (GW IX, 497) realisiert: In beiden Fällen sind (1) Verlauf und Ausgang der »Festgeschichte« (GW V, 1648) von Anfang an bekannt, und trotzdem kann (2) jede Feststunde für die Dauer ihrer ›Vergegenwärtigung‹ volle Realität und Gültigkeit beanspruchen: Obgleich die Zuhörer Josephs Geschichte »in allen ihren Stunden« (GW IV, 826) kennen, ermahnt der Erzähler sie, sich »an die regierende Feststunde« (ibid.) zu halten.1084 Anlässlich von Josephs Rückkehr in Potiphars nicht ganz leeres Haus erläutert er : [S]o wenig man, als die Geschichte sich selber erzählte, zu dieser Geschehensstunde darüber beruhigt sein konnte, daß ihr Held mit einem blauen Auge davonkommen und nicht vielmehr alles verderben werde […], so wenig ist jetzt und hier vorwitzige Bedeutungssystem des Josephsromans, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 93 – 112, hier: S. 109; Dierk Wolters: Zwischen Metaphysik und Politik. Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder in seiner Zeit, Tübingen 1998 und Burghard Dedner : Mitleidsethik und Lachritual. Über die Ambivalenz des Komischen in den Josephs-Romanen, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 1 (1988), S. 27 – 45, hier : S. 40 – 44. Die Bedeutung der Exil-Erfahrung Thomas Manns für Joseph und seine Brüder in seiner Zeit untersucht ausführlich Julia Schöll: Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und -Briefen sowie im Roman ›Joseph und seine Brüder‹, Würzburg 2004. 1083 Jan Assmann: Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 133 – 158, hier : S. 142; erneut abgedruckt in Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, S. 185 – 209. Im Roman ist es die Teilnahme am »Fest der weinenden Frauen« (GW IV, 32), die Joseph einen Einblick in die Funktionsweise des Festes gewährt, und im Segensbetrug an Esau kommt diese Struktur im Leben der Figuren zur Anwendung. 1084 Auf die Ähnlichkeit dieses Verhaltens mit dem Konzept des make-believe, wie es der amerikanische Philosoph Kendall L. Walton entwickelt hat, verweist Löwe (2010); vgl. Kendall L Walton: Mimesis as Make-Believe. On the Foundations of the Representational Arts, Cambridge 1990.

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Sorglosigkeit am Platze. […] [E]iner jeden Feststunde des Geschehens gebührt die volle Ehre und Würde ihrer Gegenwart in Jammer und Jubel, in Jubel und Jammer (GW V, 1252).1085

Da jedoch weder der Erzähler noch sein Publikum so vollkommen »in der gegenwärtigen Feststunde der Geschichte« (GW V, 1154) befangen sind wie die in ihr lebenden Figuren, bleibt das Wissen um ihren Ausgang immer gegenwärtig und kann gegebenenfalls zur Beruhigung herangezogen werden: Kennte man nicht den Ausgang der Geschichte, weil sie sich ihrer Zeit schon geschehend zu Ende erzählt hat und dieses hier nur ihre festliche Wiederholung und Nacherzählung, sozusagen Tempeltheater, ist, so könnten einem vor Besorgnis […] die Schweißtropfen auf der Stirne stehen! (GW V, 1251 f.).

Eine weitere Parallele zwischen Erzählung und Fest besteht darin, dass beide Formen der Wiederherstellung von Vergangenem an ein vorgegebenes Muster gebunden sind; entweder an die Ereignisse, die sich abspielten, als das Leben »sich selber erzählt hat« (GW V, 1005), oder an den Mythos, der sich im Fest vergegenwärtigt: In der Wiedererzählung durch den Erzähler trägt sich die Geschichte in festlicher Wiederholung zu, so daß der zeremonielle Rahmen des Erzählfestes eingehalten werden muß, da sich alles wie zum ersten Mal begibt. Der Erzähler ist in dieser mythischen Rolle gleichsam der Regisseur des Festes, ist für den Ablauf, die einzelnen Szenen und den Fluß der Handlung zuständig, jedoch ohne Einfluß auf die Handlung selbst, die sich im mythischen Muster wiederholt.1086

Das Konzept, die Erzählung als ein ›Fest‹ aufzufassen, bildet den »Schlüssel zur Erzählerkonstruktion im Joseph-Roman«,1087 der damit von einem ›mythischen‹ 1085 »Der Erzähler befindet sich mitten im Fest der Erzählung, wo durch das Erleben der Feststunde das kulturelle Wissen um die Abläufe teilweise verdrängt wird […]. Die Zuhörer dürfen durchaus nicht beruhigt sein, da gerade jede Erzählstunde für sich ernst genommen werden muß, ohne schon aufs Zukünftige zu schielen, wohin die Erzählung noch nicht vorgerückt ist« [Giebel (2001), S. 102]. – Die Formulierung ›in Jammer und Jubel, in Jubel und Jammer‹ verweist auf den Segensbetrug an Esau, an den der Erzähler anlässlich von »PeteprÞ’s peinlichste[r] Feststunde« (GW V, 1265) erinnert: »Die Stunden sind groß, eine jegliche nach ihrem Gepräge, ob stolz oder elend. Als Esau prahlen durfte und durfte die Beine werfen, da ging es freilich hoch her mit ihm, es war seine Ehrenstunde. Aber als er aus dem Zelt stürzte […] und hinhockte, um Tränen rollen zu lassen, so groß wie Haselnüsse – war die Stunde weniger groß und feierlich für den Behaarten?« (ibid.). 1086 Giebel (2001), S. 93. Sobald Joseph beginnt, sein eigenes Leben als ›Geschichte‹ aufzufassen und selbst zu ihrem »Regisseur« (GW XI, 666) zu werden, nähert er sich dieser Position an und ist der selben Beschränkung unterworfen: Obwohl er ›in der Geschichte‹ lebt, ist sie dennoch »schon geschrieben […] in Gottes Buch« (GW V, 1596), und ihm ist es aufgegeben, sie »mit allerlei Zierrat und heiligem Schabernack« (GW V, 1594) auszuschmücken. 1087 Giebel (2001), S. 95.

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Prinzip bestimmt wird: »Fest der Erzählung, du […] stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart!« (GW IV, 54). Die Voraussetzung dieses narrativen Konstrukts besteht in dem Wissen von Erzähler und Publikum um Verlauf und Ausgang der Geschichte und damit in der Doppelperspektive, die auch die ›moderne‹ Darstellung der mythischen Welt ermöglicht. Damit zeigt sich, dass Mythos und Modernität zwar bei oberflächlicher Betrachtung ein Gegensatzpaar darstellen, strukturell hingegen untrennbar miteinander verbunden sind. Sie bilden die Pole, zwischen denen sich die fiktionale Welt von Joseph und seine Brüder konstituiert.

1.3.

Die Ordnung der mythischen Welt

In diesem Teilkapitel werden die drei Prinzipien dargestellt, von denen die mythische Welt der Tetralogie strukturiert wird: die ›offene Identität‹, das ›InSpuren-Gehen‹ und die ›rollende Sphäre‹.1088 Die Figur, in der sich »die Erscheinung offener Identität« (GW IV, 128) exemplarisch verkörpert, ist Eliezer, »Jaakobs Hausvogt und Ältester Knecht« (GW IV, 400), der sich selbst mit »Eliezer, de[m] Knecht Abrahams« (GW IV, 122) ›verwechselt‹ und seinem Schüler die »Abenteuer des Ur-Eliezer in der ersten Person« (GW IV, 128) als ›seine‹ Abenteuer erzählt: Der »Halbbruder Jaakobs« (GW IV, 121) geht vollständig in der Rolle des ›Eliezer‹ auf, den es »immer gegeben [hat] an den Höfen von Abrahams geistlichem Familienstamm« (ibid.), und führt ein gänzlich »vorindividuelles, ganz mythisch gebundenes Leben«,1089 in dem »[v]on Identität im heutigen Begriffsverständnis […] nicht die Rede sein«1090 kann: Das überzeitliche Muster ist stärker als das Bewußtsein der zeitlichen Individualität. Es saugt jedes junge Bewußtsein, das neu in seinen Bann tritt, ganz in sich auf, so daß die Unterscheidung schwindet zwischen den verschiedenen, einzelnen Menschen, die im Laufe der Jahrhunderte ›Eliezer‹ gewesen sind.1091

Obwohl sich das Phänomen der ›offenen Identität‹ in seiner Person am deutlichsten ausprägt, ist es keineswegs auf Eliezer beschränkt. Auch andere Figuren wissen »nicht recht […], wer sie sind« (GW IV, 128), weil für sie »das Leben des 1088 Vgl. zu diesen Prinzipien auch Thomas Dürr : Mythische Identität und Gelassenheit in Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 19 (2006), S. 125 – 157, hier: S. 131 – 136. 1089 Neumann (2001), S. 108. 1090 Kerstin Schulz: Identitätsfindung und Rollenspiel in Thomas Manns Romanen ›Joseph und seine Brüder‹ und ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹, Frankfurt am Main 2000, S. 76. 1091 Neumann (2001), S. 108; vgl. Dürr (2006), S. 131 f.

Die Inszenierung des Mythos

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Einzelwesens sich oberflächlicher von dem des Geschlechtes« (ibid.) unterscheidet als für moderne Menschen (vgl. GW XI, 659 f.). So gibt Isaak die Geschichte von Abrahams Abenteuern in Ägypten und im Philisterland für ›seine‹ Geschichte aus (vgl. GW IV, 123 – 127), wofür der Erzähler zwei unterschiedliche Erklärungen anbietet: Entweder handle es sich um die »Erscheinung offener Identität« (GW IV, 128), wie Eliezer sie repräsentiere, oder aber um das Phänomen des In-Spuren-Gehens,1092 also den Ausdruck einer Lebensauffassung, die die Aufgabe des individuellen Daseins darin erblick[e], gegebene Formen, ein mythisches Schema, das von den Vätern gegründet wurde, mit Gegenwart auszufüllen und wieder Fleisch werden zu lassen (GW IV, 127).

In seinen essayistischen Äußerungen über Joseph und seine Brüder bezeichnet Thomas Mann den Mythos als »die Legitimation des Lebens; erst durch ihn und in ihm finde[] es sein Selbstbewußtsein, seine Rechtfertigung und Weihe« (GW IX, 496) und weise sich damit »als echtes und bedeutendes Leben aus« (GW X, 755). Im Roman formuliert der Erzähler : [J]e tiefer die Wurzeln unseres Seins hinabreichen ins unergründliche Geschichte dessen, was außer- und unterhalb liegt der fleischlichen Grenzen unseres Ich, es aber dennoch bestimmt und ernährt, so daß wir in minder genauen Stunden in der ersten Person davon sprechen mögen und als gehöre es unserem Fleische zu –, desto sinnigschwerer ist unser Leben und desto würdiger unseres Fleisches Seele (GW IV, 185).

Für Jaakob ist »[d]ie schon mythisch zu nennende Rolle des Mondwanderers Abraham […] der primäre mythische Bezugspunkt«,1093 und als der »Wanderscheich von Osten« (GW IV, 246) nach seiner Rückkehr aus Mesopotamien den Vertrag mit den Sichemiten schließt, nutzt er die Berufung auf den Urwanderer, um seine persönliche Würde zu erhöhen: Jaakob feilschte nicht. Seine Seele war bewegt und erhoben von Nachahmung, Wiederkehr, Vergegenwärtigung. Er war Abraham, der von Osten kam und von Ephron den Acker, die doppelte Grabstätte kaufte. […] Es gab die Jahrhunderte nicht. Was gewesen, war wieder. Der reiche Abraham und Jaakob, der Reiche aus Osten, sie schlugen würdevoll und ohne weiteres ein (GW IV, 163).

Hier handelt es sich nicht um Identifikation oder Vergleich, sondern um Identität: Jaakob ist nicht wie Abraham, er ist Abraham,1094 die Grenzen der Per-

1092 Der Vergleich mit Isaaks »Imitation oder Nachfolge« (GW IV, 128) Abrahams macht deutlich, dass auch Eliezer ›in Spuren geht‹, allerdings gewissermaßen in seinen eigenen, wie der fiktionale Goethe in Lotte in Weimar – nur dass bei diesem das Element der »Lebenserneuerung aus dem Geist« (GKFA 9.1, 313) hinzukommt. 1093 Schulz (2000), S. 86. 1094 Ein ähnliches Phänomen lässt sich bei Esau beobachten, denn wenn es »von ihm heißt: ›Er ist der Edom‹ […], so ist die Gegenwartsform dieser Aussage nicht zufällig gewählt,

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sönlichkeit und der zeitliche Abstand zu seinem Vorfahren sind aufgehoben im Mythos. Doch der Patriarch setzt das Vatervorbild auch ein, um seine »persönliche[n] Krisen durch den Rückbezug auf das Vorgeprägte zu bewältigen.«1095 Dieser Strategie bedient er sich etwa, als er sich auf der Flucht vor Esau an Urvaters Wanderungen erinnert (vgl. GW IV, 221), oder angesichts der bevorstehenden Übersiedlung »ins äffische Ägypterland« (GW IV, 97): »Der Gedanke an Abram und daran, dass dieser auch während einer Hungersnot nach Ägypten gezogen war, um dort als Fremdling zu wohnen, tröstete ihn sehr« (GW V, 1722). Allerdings handelt es sich bei dieser Anknüpfung an das überlieferte Muster um eine bewusste und absichtsvolle Imitation, bei der, anders als beim Vertragsabschluss vor Schekem, die Unterscheidung zwischen Jaakob und dem Urwanderer gewahrt bleibt.1096 Obgleich Jaakob »in der imitatio Abrahams […] Verhaltenssicherheit und Welterklärung«1097 findet, ist er nicht auf dieses eine Muster festgelegt, sondern in der Lage, seine mythische Bezugsgröße zu wechseln: »[He] adopts a certain role according to the situation he faces. Thus he imitates Noah when Ruben has desecrated the sanctity of the marriage bed by seducing his fathers wife.«1098 Dabei bewirkt die Ausdrucksmacht des Patriarchen ein furchtbares Aufgehen der Gegenwart im Vergangenen, das völlige Wiederinkrafttreten des einst Geschehenen, seine […] persönliche Einerleiheit mit Noah, dem belauschten, verhöhnten, von Sohneshand entehrten Vater (GW IV, 94),

so dass Ruben »ganz wirklich und eigentlich als Cham vor Noah« (ibid.) liegt.1099

1095 1096

1097 1098 1099

sondern sie erklärt sich […] als zeitlose und über-individuelle Zusammenfassung des Typus« (GW IV, 189). Schulz (2000), S. 89. Der Unterschied zwischen Identifikation und Identität zeigt sich exemplarisch, als Jaakob sich selbst prüft, indem er sich in Gedanken das Isaaksopfer auferlegt, und dabei nicht genau zwischen beiden Formen der Nachfolge unterscheidet. Als er bemerkt: »[I]ch war wie Abraham, und die Geschichte war noch nicht geschehen« (GW IV, 106), beschreibt er die Identifikation mit dem Mondwanderer (›wie Abraham‹), meint aber seine Identität (,die Geschichte war noch nicht geschehen‹), und Josephs spitzfindige Kritik zielt genau auf diese Ungereimtheit: »Ei, sagtest du nicht, du hättest gerufen: ›Ich bin nicht Abraham?‹ […] Warst du aber nicht er, so warst du Jaakob […], und die Geschichte war alt, und du kanntest den Ausgang« (ibid.). Schulz (2000), S. 94. Nolte (1996), S. 86. Die im Anschluss zitierte Textstelle macht deutlich, dass es sich, anders als Nolte annimmt, nicht um eine Imitation, sondern um die Identität Jaakobs mit Noah und Re’ubens mit Cham handelt. Beim Segen für Ephraim und Menasse imitiert Jaakob seinen Vater Isaak, indem er den ›Falschen‹ segnet: »Jaakob, des Pelzigen Bruder, wiederholte natürlich und ahmte nach. Den Blinden im Zelte ahmte er nach, seinen Vater, der ihm vor dem Roten den Segen dahingegeben. Ohne Segensbetrug ging es in seinen Augen nicht ab« (GW V, 1785).

Die Inszenierung des Mythos

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Das letzte der drei zu untersuchenden Funktionsprinzipien der mythischen Existenz ist die »zentrale Denkfigur der Joseph-Tetralogie«,1100 die rollende Sphäre. Sie unterscheidet sich von dem In-Spuren-Gehen vor allem dadurch, dass sie ausdrücklich das Himmlische mit einbezieht: Die Sphäre rollt: das liegt in der Natur der Sphäre. […] Nicht allein daß Himmlisches und Irdisches sich ineinander wiedererkennen, sondern es wandelt sich auch, kraft der sphärischen Drehung, das Himmlische ins Irdische, das Irdische ins Himmlische, und […] daraus ergibt sich die Wahrheit, daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können (GW IV, 190).1101

Nicht nur an ›Vätergeschichten‹, auch an überirdischen Mustern und Göttergestalten richten also die Figuren in Joseph und seine Brüder ihr Verhalten aus: »[W]as oben ist, kommt herunter ; aber das Untere wüßte gar nicht zu geschehen und fiele sozusagen sich selber nicht ein ohne sein himmlisches Vorbild und Gegenstück« (GW IV, 423). Jaakobs Neigung, »sein Leben nicht nur an das von den Vätern gegründete Schema, sondern ausdrücklich an die Sphäre des Göttlichen«1102 zu knüpfen, bildet somit keine Eigenheit des Patriarchen, sondern drückt die grundlegende mythische Gewissheit aus, dass ein Leben und Geschehen ohne den Echtheitsausweis höherer Wirklichkeit, welches nicht auf Heilig-Bekanntem fuß[e] und sich darauf stütz[e], sich in nichts Himmlischem zu spiegeln und sich darin wiederzuerkennen ver[möge], überhaupt kein Leben und Geschehen (GW IV, 581) sei.1103

Die Konsequenzen dieser Überzeugung für die Lebenswirklichkeit der Figuren lassen sich exemplarisch am Verhältnis von Esau und Jaakob darstellen, die gemeinsam »das Brüderpaar« (GW IV, 194) bilden und in dieser Konstellation »nicht als unverwechselbare Personen, sondern als mythische Rollenträger«1104 agieren: Ihre Rollen, »der Rote und der Glatte« (GW IV, 200), sind vorgeprägte Muster, die bereits in der Vergangenheit verkörpert wurden – von Ismael und 1100 Marx (2002), S. 157. Lehnert weist nach, dass Thomas Mann das Motiv der ›rollenden Sphäre‹ sowie das Muster von Tod und Auferstehung des Tammuz maßgeblich von Alfred Jeremias übernommen hat, vgl. Lehnert (1963), S. 469. Zur ›rollenden Sphäre‹ vgl. zudem Giebel (2001), S. 94; Fischer (2002), S. 352 – 354; Schöll (2004), S. 248; Lehnert (2005), S. 215 – 217 und Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman ›Joseph und seine Brüder‹, Köln 1971, S. 47. 1101 Den mythologisch-kulturgeschichtlichen Hintergrund dieses Konzepts beschreibt Assmann wie folgt: »Das Bild der ›rollenden Sphäre‹ […] verzeitlicht und dynamisiert auf geniale Weise die vertikale Achse der babylonischen Astralmythologie, die Entsprechung von Oben und Unten. Es ist ein Versuch, mythisches Zeitempfinden in seiner spezifischen Abwesenheit von Geschichtsbewußtsein zu gestalten« [Assmann (1993), S. 139]. 1102 Marx (2002), S. 156. 1103 Vgl. Assmann (1993), S. 147 und Borchmeyer (1998b), S. 26. 1104 Dedner (1988), S. 32. Dürr bezeichnet »die Brüder Set und Usiris als mythologische Archetypen von Jaakob und Esau« [Dürr (2006), S. 130].

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Isaak, Sem und Cham, Kain und Habel – und auch in der nächstfolgenden Generation in Gestalt von Joseph und seinen Brüdern in Variation wiederkehren.1105 Das Muster der ›feindlichen Brüder‹ hat seinen Ursprung ›am Himmel‹,1106 nämlich in der Göttergeschichte, wie »Typhon-Seth, der rote Jäger« (GW IV, 191) seinen Bruder Usir »erstens in eine Sarglade gelockt und in den Fluß geworfen, dann ihn aber auch noch wie ein wildes Tier in Stücke gerissen und völlig gemordet« (GW IV, 21) hat.1107 Da Jaakobs primärer mythischer Bezugspunkt nicht Habel, sondern Abraham ist, der außerhalb der Brüder-Konstellation steht, hat die Rolle des ›Glatten‹, obwohl sie ihm zu Erstgeburt und Segen verhilft, für ihn eine deutlich geringere Bedeutung als die des ›Roten‹ für Esau. Folglich werden das Wesen der ›mythischen Rolle‹ und die Konsequenzen der Determiniertheit »von kosmischen Kreislaufbildern« (GW IV, 134) im Roman vorwiegend am Schicksal Esaus demonstriert, der anders als sein bevorzugter Bruder zeitlebens an dieses eine Muster gebunden bleibt: »Esau remains throughout in one role, that of TyphonSeth, the red hunter, of Cain the jealous brother, of Edom.«1108 Er nimmt diese Rolle als die seine an, indem er ebenfalls »ein Jäger und Mann der Steppe« (GW IV, 82) wird und schon »in jungen Jahren […] Beziehungen zum Lande Edom, zu den Leuten der Ziegenberge« (GW IV, 188) anknüpft. Dieses Verhalten beweist, »daß sein Charakter, das heißt seine Rolle auf Erden, von langer Hand her festgelegt und er sich ebendieser Charakterrolle von jeher vollkommen bewußt gewesen« (GW IV, 135) ist. Selbst »Esau, der Tölpel« (GW IV, 194) weiß also, in 1105 Nicht nur treten die zehn ältesten Söhne Jaakobs oft kollektiv als ›die Brüder‹ auf – bei ihrer Rückkehr aus Ägypten sieht Benjamin »weder neun noch zehn, sondern einfach die Brüder« (GW V, 1631) –, Jaakob bezeichnet sie in Gedanken auch ausdrücklich als »der zehnköpfige Kain« (GW V, 1544); und in dem Augenblick, da sie sich ihrer Rolle gemäß auf Joseph-Habel stürzen, ist die Farbe rot prominent gegenwärtig: »Wie sie aber so saßen, wurden […] [ihre] Gesichter so rot wie die gewundenen Stämme der Bäume in ihrem Rücken, rot wie die Wüste, dunkelrot wie der Stern am Himmel, und ihre Augen schienen Blut verspritzen zu wollen« (GW IV, 555). 1106 Vgl. Berger (1971), S. 50. Zugleich wird deutlich, wie eng die ›rollende Sphäre‹ mit dem ›InSpuren-Gehen‹ zusammenhängt: Die Göttergeschichte ist ›herabgekommen‹ und wurde von Kain und Habel vergegenwärtigt, so dass Jaakob und Esau zugleich in göttlichen und irdischen Spuren wandeln. 1107 Sowohl das ›Zerreißen‹ als auch das ›wilde Tier‹ bilden weitere Hinweise darauf, dass die Brüder die Rolle des ›Roten‹ spielen: Jaakobs stehender Ruf nach dem scheinbaren Tod seines Lieblings lautet »zerrissen, zerrissen« (GW IV, 638), und Josephs Verprügelung beschreibt der Erzähler mit den Worten: »Sie fielen auf ihn, wie das Rudel verhungerter Wölfe auf das Beutetier fällt […], als wollten sie ihn in mindestens vierzehn Stücke zerreißen« (GW IV, 555). Die Zahl vierzehn ist signifikant, weil auch Seth seinen Bruder »in vierzehn Stücke« (GW IV, 292) zerrissen hat. Anders als Joseph ist den Brüdern jedoch nicht bewusst, »welche mythische Wirklichkeit sich durch diese Handlung vergegenwärtigt« [Marx (2002), S. 170]. 1108 Nolte (1996), S. 80.

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wessen Spuren er geht und »welche Bewandtnis es mit ihm« (ibid.) hat, denn auch er begreift sein Verhältnis zu Jaakob als »die Wiederkehr und das Gegenwärtigwerden – die zeitlose Gegenwärtigkeit – des Verhältnisses von Kain zu Habel« (GW IV, 135), und in dieser Konstellation ist er »nun einmal Kain« (ibid.): Seine Art, die Dinge und sich selbst zu sehen, war durch eingeborene Denkvorschriften bedingt und bestimmt, die ihn banden, wie alle Welt, und ihre Prägung von kosmischen Kreislaufbildern empfangen hatten (GW IV, 134).

Die Charakterrolle des ›Roten‹ bestimmt Esaus Schicksal. Als der Erstgeborene, dem »das neuere Weltrecht ehrend zur Seite« (GW IV, 135) steht, ist eigentlich er der vorbestimmte Nachfolger des Vaters als Oberhaupt des Familienstammes und Träger des Abrahamssegens. Doch wird dieses Privileg außer Kraft gesetzt durch das mythische Muster des ›Roten‹, dessen Einfluss Esau sich nicht entziehen kann:1109 Er lässt sich betrügen und ›untertreten‹, »weil es zu geschehen […] [hat] nach geprägtem Urbild« (GW IV, 201). Was sich zwischen Isaak, Rebekka und ihren Söhnen abspielt, ist daher kein Betrug, sondern »ein Charakterspiel, in dem jeder, auch Esau, seine Rolle kennt und bewußt verkörpert, besser gesagt: wiederverkörpert«.1110 Der Erzähler konstatiert bündig: »[N]iemand wurde betrogen, auch Esau nicht« (ibid.) Der enge innere Zusammenhang zwischen dem »Fest des Segensbetrugs« (GW V, 993) und dem ›Fest‹ als Vergegenwärtigung einer Göttergeschichte ist unverkennbar : Der Mythos »wiederholt ›sich‹ im Geschehen, das ›nach geprägtem Urbild‹ abläuft, und er ›wird‹ wiederholt in der festlichen Aufführung und zeremoniellen Rezitation.«1111 Wie das Schicksal des Tammuz im ›Fest der weinenden Frauen‹ gegenwärtig wird, gewinnt auch die Konstellation der feindlichen Brüder »Gegenwart […] gleichwie im Fest« (GW IV, 201) und kehrt wieder, »wie Feste wiederkehren« (ibid.). Während des ›Segensbetrugs‹ verhält sich Esau genau wie die »Weiber der Stadt« (GW IV, 451), die den Ausgang der Handlung kennen, sich aber trotzdem den Beschränkungen ihrer Rolle und der jeweiligen Feststunde unterwerfen, »indem sie die nächste kennen, aber die gegenwärtige heiligen« (GW IV, 453): Esau befand sich, da er zurückkehrte, noch in seinem Ehrenstande; von dem, was unterdessen sich zugetragen, wußte er schlechterdings nichts, denn so weit war die Geschichte für ihn nicht vorgerückt (GW IV, 211).1112 1109 Vgl. Neumann (2001), S. 109. 1110 Anmerkung Thomas Manns zu einem Manuskript Robert Faesis, zitiert nach Mann (1999), S. 100. 1111 Assmann (1993), S. 139. 1112 Vgl. Dürr (2006), S. 139 f.

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Was hier am Beispiel Esaus dargestellt wurde, gilt prinzipiell für alle Personen in Joseph und seine Brüder : »Das zitathafte Leben, das Leben im Mythus, ist eine Art von Zelebration« (GW IX, 497), ein festliches Ausfüllen überlieferter Muster, wobei die Möglichkeit der Variation von dem Grad an Bewusstsein und Reflektiertheit einer Figur abhängt.1113 Nachdem die zentrale Bedeutung aufgezeigt wurde, die den Prinzipien der ›offenen Identität‹, des ›In-Spuren-Gehens‹ und der ›rollenden Sphäre‹ zukommt, stellt sich nun allerdings die Frage nach ihrem Status in der fiktionalen Welt: Handelt es sich um kulturelle Prägungen im Sinne ›mythische Konventionen‹, denen alle Figuren unterworfen sind, und die auf der »träumerische[n] Ungenauigkeit ihres Denkens« (GW IV, 54) beruhen? Dieser Anschein entsteht, wenn Jaakob angesichts von Josephs scheinbarem Tod auf Eliezers Ermahnung zur Mäßigung »mit verwahrlostem Spott« (GW IV, 645) reagiert und »the possibility of eternal recurrence«1114 offen verleugnet: Es ist wahrhaft erbaulich, wie du mich schiltst und lässt einfließen, dass du mit Abram die Könige vertrieben habest, was glattweg unmöglich ist; denn nach der Vernunft bist du mein Halbbruder von einer Magd, geboren zu Dimaschki, und hast den Abraham sowenig mit Augen gesehen wie ich selber. […]. Auch dass dir die Erde entgegengesprungen sei, bezweifle ich hiermit (ibid.).

Bereits Jaakobs Unfähigkeit, diese Negation aufrecht zu erhalten, macht deutlich, wie tief der »durch eingeborene Denkvorschriften« (GW IV, 134) bedingte Modus der mythischen Weltwahrnehmung in seinem Bewusstsein verwurzelt ist: Schon der Versuch, sich ihm zu entziehen, wird als ebenso unnatürlich aufgefasst wie seine vollständigen Entblößung (vgl. GW IV, 632 f.), sein Plan, in die Rolle der Ischtar zu schlüpfen, »zu den Toten hinabzusteigen und Joseph wiederzuholen« (GW IV, 649),1115 oder das Gedankenexperiment, seinen Sohn als »Golem« (GW IV, 654) neu zu erschaffen. Eliezer kennzeichnet alle diese Überlegungen und Pläne als lästerlich und widernatürlich, und der Kontext lässt 1113 Die Brüder sind zwar kollektiv wie individuell auf ihre Rollen festgelegt [vgl. Nolte (1996), S. 82], was sie mit einer »Sphäre der Eindimensionalität und unfreien Gebundenheit« umgibt [Kurzke (2003), S. 72], in einzelnen Situationen aber in der Lage, Distanz zu ihnen aufzubauen: Wie Esau verweigert sich Ruben der Kainsrolle (vgl. GW IV, 496 f.); und obgleich Schimeon, Levi und Gad sich nach Josephs Verprügelung in Übereinstimmung mit ihren mythischen Rollen willens zeigen, »dem Gefesselten kurzerhand den Garaus zu machen« (GW IV, 562), sind sie trotz sprichwörtlicher Wildheit und Strammheit am Ende erleichtert, »nicht nach dem Muster Habels oder der Böcklein tun zu müssen« (GW IV, 565). – Im Gegensatz dazu spielt D•du, der »Zeugezwerg« (GW V, 1154) und »Ritter vom Spieß« (GW V, 1177), seine Rolle »des arglistigen Meldegängers und auf Verderben spekulierenden Zubläsers […], ohne Vorgänger und Nachfahren in ihr zu kennen« (GW V, 1108). 1114 Murdaugh (1976), S. 48. 1115 Vgl. Schulz (2000), S. 91 – 94.

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erkennen, dass er Jaakobs Versuch, sich von der mythischen Lebensauffassung abzuwenden, als ebenso widersinnig1116 empfindet wie seine Zuflucht zu »Bildmacherei und Zauber« (ibid.). Nachdem der Schmerz einmal abgeklungen ist, teilt sein Herr diese Ansicht und gedenkt seiner vorherigen Ausschweifungen nur noch mit »stiller Beschämung« (GW IV, 662). Ein zweiter Blick lässt jedoch erkennen, dass diese Erklärung zu kurz greift. Obgleich fast alle Figuren sich mit mehr oder weniger Erfolg auf vorgegebene Muster berufen,1117 sind diese auch unabhängig von bewusster Einflussnahme wirksam. So stellt der Erzähler fest, dass die sieben Jahre, die Josephs Aufstieg zu Potiphars Haushalter umfasse, »eine Nachahmung und eine Wiederkehr väterlicher Jahre im Leben des Sohnes [darstellten] und der Zeitspanne entspr[ä]chen, in welcher Jaakob aus einem flüchtigen Bettler« (GW IV, 827) in Labans Diensten zum reichen Mann geworden sei.1118 Diese Stimmigkeit stellt sich her, obwohl Joseph keine Möglichkeit hat, den Zeitpunkt seiner Bestallung zu beeinflussen, da dieser vom Tode des Hausmeiers abhängt. Dass es sich bei dieser und weiteren Übereinstimmungen1119 innerhalb der fiktionalen Welt um mehr als bloße Zufälle handelt, erläutert der Erzähler am Bild eines Kaleidoskops: Wie die bunten Glasstückchen einer solchen »Guckunterhaltung« (GW IV, 828) bei jeder Drehung neue Muster ergäben, vermöge »das spielende Leben aus dem Selben und Gleichen das immer Neue« (ibid.) hervorzubringen, so dass die »Sohnes-Sternfigur aus den selben Teilchen« (ibid.) gebildet sei wie der »Lebensstern des Vaters« (ibid.) – nur sehr viel komplexer :

1116 Jaakob selbst klagt darüber, dass er genötigt sei, »wider den Verstand zu denken und […] aufs Unmögliche [zu] sinnen« (GW IV, 652). 1117 Das gilt beispielsweise für die Brüder, die sich bei der »lästerlichen List« (GW IV, 180), die ihnen die Erstürmung Schekems ermöglicht, in ihrer Art ebenfalls auf eine Geschichte Abrahams berufen. Später, bei ihrer zweiten Abreise aus Ägypten, als Mai-Sachme den silbernen Becher bei ihnen vermutet, rührt ihre übermütige Zuversicht daher, dass sie ein vertrautes Muster wiederzuerkennen glauben: »›Laban!‹ riefen sie lachend. ›Laban, der da sucht auf dem Berge Gilead! Ha, ha! Er schwitze nur und suche sich halb zuschanden! […]‹« (GW V, 1672). Und unter dem Einfluss von Josephs Geschichten wird selbst Montkaw zu »Jizchak im Zelt, der die Söhne befühlt[]« (GW V, 994). 1118 Vgl. Peter Pütz: Joseph and His Brothers, in: Lehnert, Herbert (Hrsg): A Companion to the Works of Thomas Mann, Rochester 2004, S. 159 – 179, hier : S. 171. 1119 Ein besonders deutliches Beispiel bilden die Worte, mit denen Joseph seine vorzeitige Rückkehr in Potiphars Haus rechtfertigt: »Er gebrauchte bei sich [die] Redensart: ›Nach dem Rechten sehen‹, obschon sie ihm etwas ominös vorkam und eine innere Stimme ihm riet, sie als gefährlich zu meiden« (GW V, 1251). Der Leser erkennt die Formel, die einst den Gewaltausbruch der Brüder ausgelöst hatte (vgl. GW IV, 555), doch ist Joseph sich dieser Parallele augenscheinlich nicht voll bewusst. – Eine Entsprechung zwischen Potiphars Weib und Rahel bildet etwa die Ausrede, mit der Mut ihre Teilnahme am Neujahrsfest verweigert (vgl. GW V, 1248), während ihre Art, mit Josephs Oberkleid umzuspringen, den Erzähler an das Verhalten der Brüder vor Dotan erinnert (vgl. GW V, 1260).

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Er ist ein späterer, heiklerer ›Fall‹, dieser Joseph, ein Sohnesfall, leichter und witziger wohl als der des Vaters, aber auch schwieriger, schmerzlicher, interessanter, und kaum noch sind die einfachen Gründungen und Muster des väterlichen Vor-Lebens wiederzuerkennen in der Gestalt, worin sie wiederkehren in seinem (ibid.).

Da die genannten Parallelen der Einflussnahme Josephs entzogen sind, können sie als Hinweise darauf verstanden werden, dass das Prinzip des ›In-SpurenGehens‹ mehr ist als eine unausgesprochene kulturelle Übereinkunft oder ein kollektives psychologisches Verhaltensmuster.1120 Offenbar kommt es auch dann zu Übereinstimmungen des individuellen Lebens mit dem vorgegebenen Muster, wenn eine bewusste imitatio durch die Figuren nicht möglich ist, und der Erzähler sinniert: [G]eheimnisvoll ist es, zuzusehen, wie im Phänomen der Nachfolge Willentliches sich mit Führung vermischt, so daß ununterscheidbar wird, wer eigentlich nachahmt und es auf Wiederholung des Vorgelebten anlegt: die Person oder das Schicksal. Inneres spiegelt sich ins Äußere hinaus und versachlicht sich scheinbar ungewollt zum Geschehnis, das in der Person gebunden und mit ihr eins war schon immer. Denn wir wandeln in Spuren, und alles Leben ist Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart (GW IV, 818 f.).

Der Einfluss des ›Schicksals‹, der dafür sorgt, dass sich Ereignisse scheinbar ›von selbst‹ zu mythischen Mustern fügen, wird im Rahmen der vorliegenden Argumentation als strukturelles Phänomen aufgefasst, dessen Ursprung in der Ordnung der mythischen Welt selbst liegt,1121 so dass den Strukturprinzipien, die diese Ordnung konstituieren, innerhalb des fiktionalen Raumes der Tetralogie der Status ontologischer Wirklichkeit zuzusprechen ist. Damit wird im Roman Joseph und seine Brüder von einem Erzähler, der seinerseits von einer übergeordneten Erzählinstanz ironisiert wird, mit ›modernen‹ Mitteln wie Quellenkritik und Psychologie eine mythischen Welt evoziert, die im selben Sinne ›wirklich‹ ist wie die erzählten Realitäten in Lotte in Weimar oder Doktor 1120 Pütz bemerkt dazu: »When Joseph follows the pattern of Jaakob’s life, his succession seems almost compulsive, yet it is willed as well« [Pütz (2004), S. 171], während Cunningham eine rein psychologische Lesart vertritt, wenn er postuliert, die Figuren in Joseph und seine Brüder gestalteten die Ereignisse ihres Lebens »in such a way that they will fit into the schemata of known myths. Their lives are indeed therefore determined by known myth, but not, as they themselves believe, in an external, transcendental sense; it is their very knowledge of myth, and their believe in it as an expression of transcendental law, which imbues it with determinant force, for it shapes human life only within and through the psyche« [Raymond Cunningham: Myth and Politics in Thomas Mann’s ›Joseph und seine Brüder‹, Stuttgart 1985, S. 62]. Dieser Standpunkt vermag Übereinstimmungen wie die der ›sieben Jahre‹, auf die keine der Figuren einen Einfluss hat, jedoch nicht zu erklären. 1121 Aussagen wie diejenigen Cunninghams, es gebe »no supra-human law of mythical recurrence« [ibid., S. 61], sind damit in dieser Eindeutigkeit nicht mehr haltbar.

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Faustus. Allerdings bilden die Pole Mythos und Modernität in diesem Fall ein Spannungsfeld, dessen Auswirkung auf die Darstellung bei der folgenden Untersuchung in besonderer Weise zu berücksichtigen ist.

2.

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2.1.

Das Erbe: Vatergeist und Mutterdunkel

Schon bei erster Erwähnung, die ›Höllenfahrt‹ in den »Brunnen der Vergangenheit« (GW IV, 9) hat eben erst begonnen, wird Josephs Schönheit unmittelbar auf die Schönheit Rahels zurückgeführt (vgl. GW IV, 10), und diese Verbindung wird noch unterstrichen durch das leitmotivisch stehende Epitheton »hübsch und schön« (ibid.), das im Roman diesen beiden Figuren vorbehalten ist:1122 »Rahel war hübsch und schön« (GW IV, 228), heißt es bei ihrem ersten Zusammentreffen mit Jaakob, und in Josephs Fall scheint diese Zuschreibung geradezu gassenläufig zu sein (vgl. GW IV, 80). Er hat »Augen und Lippen […] von der Vergangenen« (GW IV, 532) geerbt, und auch »die zu dicken Flügel des Näschens« (GW IV, 378) sowie die »besonders ansprechende Gestaltung der Mundwinkel« (GW IV, 65) sind von Rahel »auf den vergötterten Knaben« (GW IV, 378) übergegangen.1123 Diese Ähnlichkeit bestimmt Jaakobs Verhältnis zu seinem »fehlhaften Liebling« (GW IV, 121), begründet dessen Vorzugsstellung (vgl. GW IV, 377), und ihre Wirkung wird von »Rahels Ketúnet pass‚m« (GW IV, 478) noch verstärkt: Das Schlimmste war, daß seine Ähnlichkeit mit der Mutter, in Stirn, Brauen, Mundbildung, Blick, nie so sehr in die Augen gesprungen war als dank dieser Gewandung, – dem Jaakob in die Augen, so daß sie ihm übergingen und er nicht anders meinte, als sähe er Rahel in Labans Saal, am Tag der Erfüllung. Lächelnd stand im Knaben die Muttergöttin vor ihm (GW IV, 483). 1122 Im Zusammenhang mit Thamar wird die Negation dieser Formel verwendet, um ihre herbe Schönheit von Rahels Lieblichkeit abzugrenzen: Thamar »war schön auf ihre Art, nämlich nicht hübsch und schön, sondern schön auf eine strenge und verbietende Art« (GW V, 1550). – Josephs Androgynie wird, obgleich sie eng mit seiner Schönheit zusammenhängt, erst im Kontext der Tammuz-imitatio behandelt, zumal ihre Wirkung in hohem Maße auf Josephs Selbstinszenierung zurückzuführen ist, so dass von einem ›Erbe‹ nur sehr eingeschränkt die Rede sein kann. 1123 Noch Mut-em-enet macht sich in ihrer Verliebtheit diese Ähnlichkeit zunutze, indem sie beim Lobe von Josephs Schönheit »von seiner Mutter, der Lieblichen, [ausgeht] und sich über den verwandelnden Erbgang wundert[], durch welchen Vorzüge, die dort weibliches Form- und Baugepräge getragen hätten, in männlicher Gestalt und Klangfarbe auf den Sohn gekommen seien« (GW V, 1129 f.). Die Ähnlichkeit wird zur Identifikation, wenn der Erzähler feststellt, Mut habe in »die freundliche Nacht von Rahels Augen« (GW V, 1097) geblickt (Hervorhebung CB).

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Joseph weiß um diese »magische Gefühlswirksamkeit« (GW IV, 394) und setzt sie gezielt ein, um dem Vater gegenüber seinen Willen durchzusetzen. Dank der »Macht Rahels« (GW IV, 497), über die er verfügt, kann er nach Belieben mit ihm ›umspringen‹ und ihn mit Leichtigkeit dazu bewegen, ihm das Schleiergewand zu überlassen, obwohl Jaakob gute Gründe hat, es nicht zu tun (GW IV, 480 – 483). Damit aber sind die eigentlichen Machtverhältnisse im Volke Israel auf den Kopf gestellt: Als Stammesoberhaupt und Träger des Abrahamssegens verfügt Jaakob über »Vater- und Königsmacht« (GW IV, 510), sein Wort hat Gesetzescharakter : Der Stammvater besitzt ebenso uneingeschränkte Macht über seine Familie wie Gott über sein Volk. Er ist nicht nur der Besitzer des Vieh- und Güterbestandes, sondern auch der Menschen […], außerdem Gesetzgeber, Richter und Staatsanwalt in einer Person.1124

Joseph bildet die Ausnahme von dieser umfassenden Herrschgewalt, da er »den Vater verzaubert« (GW IV, 488) und jede seiner Entscheidungen nach Belieben ändern kann.1125 Er unterliegt damit nur den Beschränkungen, die er sich selbst auferlegt – ein Zustand weitgehender Eigengesetzlichkeit, der einen ersten Hinweis auf die Autonomie des ›mythischen Genies‹ bildet. Jaakob sieht in seinem Sohn die ›Muttergöttin‹ Ischtar, und dieser Bezug verleiht Josephs zwischen männlich und weiblich schwebender Schönheit die Dimension des Göttlichen. Der Erzähler weist ausdrücklich darauf hin, Joseph sei den Menschen seiner Sphäre »dermaßen hübsch und schön erschien[en], daß er auf den ersten Blick mehrmals halb und halb für einen Gott gehalten« (GW IV, 65) worden sei. Das kunstreiche »Spiel und Anspiel« (GW V, 1804) ans Göttliche, die »hochstaplerische Identifikation«1126 mit der Jünglingsgottheit Tammuz-Adonis, wäre ohne die körperliche Schönheit des Jaakobssohnes nicht möglich.

1124 Julia Schöll: Zwischen den Welten. Zur Geschichte einer exilierten Familie in Thomas Manns Roman ›Joseph und seine Brüder‹, in: Sareika, Rüdiger (Hrsg): Buddenbrooks, Houwelandt & Co. Zur Psychopathologie der Familie am Beispiel des Werks von Thomas Mann und John von Düffel. Tagung der Evangelischen Akademie Iserlohn im Institut für Kirche und Gesellschaft der EKvW vom 24. bis zum 26. November 2006, Iserlohn 2007, S. 94 – 113, hier: S. 105 f. – Jaakobs Machtbefugnis zeigt sich nicht nur daran, dass er tatsächlich Gesetze veröffentlicht (vgl. GW V, 1566), sondern auch im scheinbar privaten Raum: So unterwirft sich Benjamin dem väterlichen Gebot, »immer zu Hause« (GW V, 1609) zu bleiben, und auch die Brüder warten Jaakobs Erlaubnis ab, ehe sie nach Ägypten reisen (vgl. GW 1639 – 1645). 1125 Rubens Warnung verrät, dass auch er die Implikationen dieser Szene erkennt: »Weißt du, daß es gegen Gott ist, die Macht, die einem gegeben ist über einen andern, zu mißbrauchen, daß er willigt ins Unrecht und tut, was ihn reut?« (GW IV, 497). 1126 Brief Thomas Manns an Jakob Horovitz vom 11. 6. 1927, zitiert nach Mann (1999), S. 25.

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Joseph erbt jedoch nicht nur körperliche Merkmale von seiner Mutter, sondern auch die prinzipiell heitere Grundstimmung seiner Persönlichkeit. Er ist »hell und lustig« (GW V, 967) von Natur, »freundlich aus sich selbst« (GW IV, 540), und wenn er sich einen Weh-Froh-Menschen [nennt] […], so in dem Sinne, daß er die frohe Bestimmung seines Wesens zwar anfällig [weiß] für vieles Weh, andererseits aber wieder an kein Weh glaubt[] – schwarz und opak genug, daß es sich für sein eigenstes Licht […] ganz undurchlässig (GW V, 1307)

erweisen sollte.1127 Sein Wesen ist nicht wie das seines Vaters gekennzeichnet von »Würde, Gehaltenheit, Feierlichkeit« (GW IV, 50) und geprägt mit dem »Siegel des Geistes« (ibid.), sondern »stärker von seiner reizenden Mutter her bestimmt, heiterer und unbesorgter« (ibid.), so dass »seine umgängliche Natur sich leichter in Gespräch und Mitteilsamkeit« (ibid.) löst: Schon als Kind ist er ein »mundfertige[s] Balg« (GW IV, 165), und dieses mütterliche Erbe bildet die Grundlage seiner sprachlichen Kunstfertigkeit. Dass Joseph von seiner Mutter nicht ausschließlich positive Eigenschaften erbt, verdeutlicht eine Episode, die sich lange vor seiner Geburt ereignet: Der achtjährige Ruben findet eine Alraune, deren Früchte, die Dudaim,1128 Lea ihrer magischen Eigenschaften wegen für sich behalten möchte. Rahel aber, ihre Schwester, hatte spioniert und alles gesehen. Wer spionierte wohl später auch so und plapperte sich fast um den Hals? Es lag in ihr, nebst vieler Anmut, und an ihr Fleisch und Blut gab sie’s weiter (GW IV, 330).

Rahel vererbt nicht nur Anmut, sondern auch Neugier und leichtfertige Schwatzhaftigkeit: Joseph belauscht, »wenn auch nicht gerade in der Absicht, zu spionieren« (GW IV, 85), den Fehltritt seines ältesten Bruders mit der Nebenfrau seines Vaters und berichtet diesem »mit einfältigem Eifer, als eine mitteilenswerte Seltsamkeit […], Ruben habe mit Bilha ›gescherzt‹ und ›gelacht‹« (ibid.). Allerdings ist dieser Mitteilungsdrang nicht dem Muttererbe allein zuzurechnen, denn vom Vater erbt er »[d]es Gefühlsmenschen weiche Unbeherrschtheit« (GW IV, 84),1129 und auch Jaakobs »Ausdrucksmacht« (GW IV, 92), dieses »Erzeugnis 1127 Dass Josephs freundliches Wesen tatsächlich auf sein mütterliches Erbe zurückzuführen ist, ergibt sich aus dem Hinweis auf die »Freundlichkeit Rahels« (GW IV, 441) im Wesen seines »Vollbruder[s]« (GW IV, 72) Benjamin. 1128 Die entsprechende Passage lautet in der Luther-Übersetzung: »Ruben ging aus zur Zeit der Weizenernte und fand Liebesäpfel auf dem Felde und brachte sie heim zu seiner Mutter Lea« (Gen. 30, 14). Im Register der Sach- und Worterklärungen lautet der Eintrag zu ›Liebesäpfel‹: »Die Frucht der Alraune, klein, scharf riechend, ähnelt einem Apfel. Sie galt als Mittel zur Förderung der Fruchtbarkeit« [Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers, mit Apokryphen, 8., durchges. Aufl., Stuttgart 2008, S. 324]. 1129 Vgl. Schulz (2000), S. 173, Anm. 393. Dieses Unvermögen Josephs zeigt sich exemplarisch, als der Vater ihn ermahnt, den Brüdern nichts von dem vertraulichen Gespräch am

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[s]einer weichen Seelengröße« (ibid.), tritt in abgewandelter Form im Sohne wieder auf: Doch während es dem Vater darum zu tun ist, seine persönliche Würde hervorzuheben, hat Joseph es darauf abgesehen, »die Leute ›stutzen‹ zu machen« (GW V, 1239), um ihre Aufmerksamkeit zu wecken und ihre Aufnahmebereitschaft für seine Selbstinszenierung zu erhöhen: »Was bei Jaakob als Feierlichkeit beschrieben wird, nimmt bei Joseph eine stärker bewußte und spielerische Form an«.1130 Beide wissen sich effektvoll in Szene zu setzen und sind sich ihrer Wirkung auf ihre Mitmenschen bewusst. Das geistige Erbe des Vaters ist von zentraler Bedeutung für Charakter und Entwicklung des Sohnes. An exponierter Stelle, direkt im Anschluss an die erste Erwähnung von Josephs Schönheit, stellt der Erzähler fest, der Knabe sei, »vom Vater her, ausgestattet mit Geistesgaben, durch welche er diesen wohl gar in gewissem Sinne noch« (GW IV, 10) übertreffe. Damit ist neben Josephs Sprachgewandtheit vor allem seine Fähigkeit gemeint, ›hinter‹ die Ereignisse von Leben und Welt zu blicken und die mythologischen Muster zu erkennen, von denen sie bestimmt werden. Auf Jaakobs »gebildete und blumige, in Satz und Gegensatz, Gedankenreim und mythischer Anspielung sich bewegende Rede« (GW IV, 162) wird wiederholt hingewiesen. Besonders aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang der Bericht von seiner Flucht nach Charran, auf der er sich seinen Lebensunterhalt mit Geschichtenerzählen verdient: »Knaben, Männer und Weiber mit Krügen umstanden ihn und lauschten seinem […] gewandten und anschaulichen Wort« (GW IV, 218). Diese Reise findet ihre Entsprechung in Josephs Fahrt nach Schekem, auf der auch er die Leute in den Städten durch »Anmut des Mundes und erfreuliche Form« (GW IV, 533) der Rede beeindruckt. Doch verdeutlicht gerade diese Gegenüberstellung den Unterschied zwischen Vater und Sohn, denn während Jaakob fabuliert um zu überleben, erzählt sein »mit Mundvorrat übermäßig ausgerüstet[er]« (GW IV, 528) Liebling »um des Erzählens willen: Er brilliert mit seinem Wissen, glänzt mit seinen Sprachkenntnissen, unterhält die Leute mit Anekdoten«.1131 Es geht ihm nicht um »Fladen, Klöße, Gurken, Knoblauch und Datteln« (GW IV, 220), sondern darum, »sich die Menschen gewogen zu machen, sie ›zum Erstaunen‹ zu bringen, sie ›stutzen‹ zu lassen, um

Brunnen zu erzählen: »Joseph versprach es auch. Aber am nächsten Tage schon sagte er ihnen nicht nur dies, sondern auch von dem Wettertraum plapperte er ohne Besinnen vor ihnen« (GW IV, 120). – Der analoge Zug in Jaakobs Charakter ist seine Unfähigkeit, sein Gefühl, die »nie verhohlene Vorliebe« (GW IV, 322) für Rahel und Joseph, zu kontrollieren; vgl. GW IV, 83 f. 1130 Assmann (1993), S. 148. 1131 Schöll (2004), S. 236.

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geliebt und bewundert zu werden.«1132 Was für Jaakob eine Frage des Überlebens bildet, ist für Joseph eine Möglichkeit der spielerischen Selbstdarstellung. Der wichtigste Charakterzug, den Joseph von seinem Vater erbt – wenn auch wiederum in kennzeichnender Abwandlung –, ist dessen »Hang zur Gedankenverbindung« (GW IV, 93) und die daraus resultierende Fähigkeit, das konkrete Einzelgeschehen zu durchschauen und auf das dahinterliegende mythische Muster zurückzuführen.1133 In welchem Ausmaß der Sohn über diese Eigenschaft verfügt, wird deutlich, als er sich im Brunnen, also in einer verzweifelten und potentiell lebensbedrohlichen Lage befindet: Verfehlt wäre die Annahme, daß Joseph unter so tödlichen Umständen aufgehört hätte zu spielen und zu träumen […]. Er war Jaakobs wahrhafter Sohn, des Würdig-Sinnenden, des Mannes mythischer Bildung, der immer wußte, was ihm geschah, der in allem irdischen Wandel zu den Sternen blickte und immer sein Leben ans Göttliche knüpfte (GW IV, 581).

Erneut folgt unmittelbar auf die Feststellung der Gemeinsamkeit der Hinweis auf den charakteristische Unterschied zwischen Vater und Sohn, denn Josephs Art, seinem Leben durch Anknüpfung ans Obere Richtigkeit und Wirklichkeit zu verleihen, [trägt] ein anderes, weniger gemüthaftes, sondern witzig berechnenderes Gepräge […] als in Jaakobs Fall (ibid.).

Josephs Umgang mit den »bindenden Muster[n]« (GW V, 1422) des Mythos unterscheidet sich von dem seines Vaters durch einen »gewisse[n] Einschlag von spielender Phantasterei, der […] die Form sein [mag], in welcher das Erbe des Geistes« (GW IV, 50 f.) sich bei ihm äußert. Diese Formulierung lässt erkennen, dass Vater- und Muttererbe sich in seiner Person zu etwas Eigenständigem verbinden: Während »Rahels anmutiges Wesen sich in der Frohnatur und Fabulierlust ihres Sohnes fortgeerbt hat«,1134 stammt von Jaakob »jener ›mythische 1132 Ibid.; vgl. auch Antje Syfuß: Zauberer mit Märchen. Eine Studie zu Thomas Mann, Frankfurt am Main et al. 1993, S. 100. 1133 Diese Form der Wahrnehmung zeigt sich etwa in seiner Reaktion auf Josephs ›Zerstückelung‹ durch »ein grobes Schwein« (GW IV, 641), denn das Wort ›Schwein‹ stellt »Gedankenverbindungen her, die das Gräßlich-Einmalige, das sein Gefühl zerriß, ins Obere, Vor- und Urbildhafte, Umschwingend-Immerseiende« (ibid.) erheben. Die Abfolge mythischer Assoziationen geht von diesem Wort aus und führt Jaakob zu »Ninib, de[m] Eber« (GW IV, 434), der Tammuz tötet und also identisch ist mit »Seth, de[m] Gottesmörder« (GW IV, 641), dem Roten, dem feindlichen Bruder, dessen Rollenvorbild Esau folgt, und der auch »zehnfach aufgeteilt hier unten vorkommen« (GW IV, 642) kann. So kommt Jaakob zu der »finstere[n] Vermutung« (ibid.), die Brüder könnten Joseph ›zerrissen‹ haben, und der Grund dafür, dass Jaakob mit diesem »legendäre[n] Verdacht« (ibid.) das Richtige trifft – und notwendig treffen muss – besteht in der stimmigen Geschlossenheit der mythischen Welt; vgl. Schulz (2000), S. 85 und Wißkirchen (2004), S. 45. 1134 Georg Eisenhauer : ›Ein Taschendieb der Herzen‹. Zur Kunstform der witzigen Rede in Thomas Manns Josephsroman, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 32 (1991),

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Instinkt‹, der beide so selbstsicher in den Spuren der Väter wandeln läßt, wenn auch in verschiedener Gangart«.1135 Wenn der Erzähler ausführt, es sei Joseph, trotz seines spielerischen Umgangs mit den mythologischen Mustern, vollkommen ernst »mit der Überzeugung, daß ein Leben und Geschehen ohne den Echtheitsausweis höherer Wirklichkeit […] überhaupt kein Leben und Geschehen« (GW IV, 581) sei, so macht dies deutlich, dass die Grundlage seiner Persönlichkeit vom ›Erbe des Geistes‹ gebildet und dieses vom mütterlichen Einfluss in spezifischer Weise überformt wird.

2.2.

Metaphysische Einflüsse: Von Sternen und Göttern

Bei der Beantwortung der Frage, wie die Kombination von Vater- und Muttererbe die Entstehung von Josephs Wesen und Persönlichkeit beeinflusst, bietet es sich an, von einer Äußerung auszugehen, mit der Eliezer auf Jaakobs verzweifelte Pläne reagiert, seinen Sohn »neu erwecken und zeugend wiederherstellen« (GW IV, 651) zu wollen: Rahel ist nicht mehr da, die dir entgegenkam beim Werke, und euer Beiderseitiges mußte sich einen, daß dieser Knabe entsprang. Wenn sie dir aber auch lebte, und ihr zeugtet wieder, so wär’ es die Stunde doch nicht und der Sternenstand, die Joseph erweckten (ibid.).

Nach Eliezers Lehrmeinung haben bei Josephs Entstehung drei Faktoren zusammengewirkt: Vatererbe, Muttererbe und Sternenstand. Die Bedeutung des astronomischen Einflusses wird deutlich, wenn Joseph, in der »Wissenschaft der Sterne […] und ihrer Macht über die Stunde« (GW IV, 108) ebenfalls bewandert, dem Vater das eigene Horoskop erläutert und dabei die erblichen Einflüsse seiner Eltern mit bestimmten kosmischen Konstellationen in Verbindung bringt: »[M]eines Vaters Segen, das war die Geburtssonne im Zenit mit ihrem Scheine zu Mardug in der Waage und zu Ninurtu im elften Zeichen […]. Das ist ein starker Segen!« (GW IV, 109 f.).1136 Diesem väterlichen ›Sonnensegen‹ wird der »Mondessegen« (GW IV, 110) Rahels gegenübergestellt, der »aus der Nacht« (GW IV, 111) kommt,1137 und vermittelt werden Sonne und Mond durch ein Sternbild, das Nabu repräsentiert, den »Führer, de[n] Gott der Diebe« (GW IV, S. 217 – 250, hier : S. 221. Eisenhauers Formulierung stellt eine Anspielung auf Goethes berühmte Verse aus den Sprüchen dar (vgl. HA 1, S. 320), in denen er seine ›Frohnatur‹ sowie die ›Lust zu fabulieren‹ dem mütterlichen Erbe zuschreibt, und die auch in Lotte in Weimar eine Rolle spielen; vgl. oben S. 81. 1135 Eisenhauer (1991), S. 221; vgl. außerdem Hermsdorf (1968), S. 186. 1136 Mardug ist der »Königsplanet[]« (GW IV, 191) Jupiter, und Ninurtu repräsentiert Saturn; vgl. Fischer (2002), S. 302. 1137 Vgl. Schulz (2000), S. 203.

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362), zugleich aber auch »ein Zeichen Thots, des Tafelschreibers [ist], das ist ein leichter, beweglicher Gott, als welcher zwischen den Dingen zum Guten redet und fördert den Austausch« (GW IV, 108).1138 Hier liegt ein Grund dafür, dass Joseph »geradezu eine Vorliebe und Schwäche [hegt] für den Gott oder Abgott« (GW IV, 26 f.), der so »zarte und feierliche Beziehungen zum Mondgestirn« (GW IV, 27) unterhält, dem »kosmische[n] Gleichnis allen Mittlertums« (GW IX, 534).1139 Allerdings erscheint es wenig überzeugend, Jaakob mit der Sonne zu assoziieren,1140 und hinzu kommt, dass dem Mond im Text zwei verschiedene Funktionen zugewiesen werden: Im Zusammenhang mit Rahels Schönheit bildet er den weiblichen Pol des Gegensatzpaares Rahel/Mond – Jaakob/Sonne, und in seiner Funktion als Josephs »schicksalsbestimmende[s] Gestirn«1141 nimmt er eine »Mittel- und Mittlerstellung zwischen der solaren und der irdischen,1142 der geistigen und der stofflichen Welt« (ibid.) ein und repräsentiert damit Josephs ›Lieblingsgedanken‹, »das Zusammenwohnen von Körper und Geist, Schönheit und Weisheit und das wechselseitig einander verstärkende Bewußtsein beider« 1138 Zum mythologischen Hintergrund Thots vgl. ibid., S. 163 – 166. 1139 Der »Geist anmutigen Mittlertums« (GW V, 1804) wiederum findet seine göttliche Verkörperung in Hermes, der damit in engem Zusammenhang mit dem Mond steht, als ein »Bruder […] Djehuti’s, des mondbefreundeten Schreibers« (GW V, 1429) angesehen werden kann und »im Osten Nabu, de[r] Geschichtsschreiber« (GW IV, 27) genannt wird. 1140 Ganz im Gegenteil wird auch Jaakob ganz vorwiegend mit dem Mond in Verbindung gebracht: Nicht nur steht das Volk Israel als ganzes in der Nachfolge Abrahams, des »Mondwanderer[s]« (GW IV, 15), in dem Gespräch am Brunnen vollzieht Joseph überdies eine persönliche Identifikation seines Vaters mit einem anderen seiner Urväter : »[D]u bist Habel, der Mond und der Hirt« (GW IV, 102). Hingegen repräsentiert alles, was mit dem Motiv der ›Sonne‹ in Verbindung steht, gerade die entgegengesetzte, von Jaakobs Standpunkt ›feindliche‹ Sphäre: Die »Leute der ackerbauenden Sonne« (ibid.) bilden die Antipoden der »Hirten und Schäfersleute« (ibid.), und Ägypten ist für Jaakob nicht nur »Unterweltsland« (GW IV, 685), sondern auch ausgewiesenes »Sonnengebiet« (GW IV, 733), wo in On »der Sonne liebster Sohn […] seine Stätte hat« (GW IV, 111), und Pharao einen »fortschrittlichen Licht- und Sonnenkult« [Heftrich (2005b), S. 470] zu etablieren sucht. »Die Rolle des ›Mondmannes‹ ist die, in die Jaakob hineingeboren wurde und die er in gewissem Umfang – vor allem in seiner Beziehung zu Esau – auch erfüllt, der als der ›Sonnenmann‹ sein Widerpart ist« [Schulz (2000), S. 94]. 1141 Alfred Grimm: Osarsiph. Joseph-Metamorphosen con variationi, in: Thomas-MannJahrbuch 6 (1993), S. 235 – 244, hier: S. 240. Die Verbindung Thots zum Mond zeigt sich unter anderem darin, dass er »als seine ›Attribute‹ Mondscheibe und Mondsichel auf dem Kopf trägt« [ibid., S. 239]. 1142 Um ein reines Aufgehen der Konstellation zu gewährleisten, müsste nicht nur Jaakob eindeutig mit der Sonne, sondern auch Rahel mit der Erde identifiziert werden. Die Andeutung einer solchen Zuordnung findet sich in dem Verweis, Rahels Mondessegen sei ein »Segen der Tiefe « (GW IV, 110); eine Formulierung, in der die Formel des Doppelsegens vorweggenommen wird, Joseph sei gesegnet »von der Tiefe, die unten liegt« (GW V, 1745). Allerdings wird Rahel als Figur nicht ausdrücklich mit der Erde in Verbindung gebracht.

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(GW IV, 411).1143 Damit wird der Mond zu dem »zentrale[n] Symbol, das Thomas Mann in den ersten beiden Bänden des Romans […] der Figur Josephs zuordnet«,1144 und soweit es dem Protagonisten der Tetralogie gelingt, die Gegensätze der »Welt der Zweiheit« (GW IV, 542) in seiner Person zu vereinen, geschieht dies im Zeichen des Mondes. Dieser astrologische und mythologische Exkurs gehört in den Kontext von Josephs Erbe und der Frage nach den Grundlagen seines mythischen Genies, weil in der Welt der Tetralogie das Untere und Obere einander entsprechen, so dass die Untersuchung der Sternenbilder und der ihnen zugeordneten Göttergestalten die Möglichkeit eröffnet, ein zentrales Wesensmerkmal des Jaakobssohnes zu erfassen. Denn auch sein Witz erscheint als das Resultat einer günstigen kosmischen Konstellation, in der »Nabu, der Mittler« (GW IV, 108) eine Schlüsselposition einnimmt, weshalb nicht verwundern kann, dass Joseph diesen Charakterzug vor allem über die Eigenschaft des Mittlertums bestimmt: [D]er Witz [hat] die Natur […] des Sendboten hin und her und des gewandten Geschäftsträgers zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen: zum Beispiel zwischen Sonnengewalt und Mondesgewalt, Vatererbe und Muttererbe, zwischen Tagessegen und dem Segen der Nacht, ja, um es direkt und umfassend zu sagen: zwischen Leben und Tod (GW V, 1758).1145

In der ›mythischen Logik‹ des Romans gedacht, zeigt sich hier die Validität von Josephs Annahme, der Stand der Sterne zum Zeitpunkt seiner Geburt habe seinen Charakter beeinflusst: Sonne und Mond bilden die Pole dieser Konstellation, ihnen entsprechen Geistesgaben und körperliche Schönheit. Der Einfluss des Sternbildes Nabu und der gleichnamigen Gottheit sind aus seiner Sicht als Grund dafür anzusehen, dass diese beiden Pole nicht unvermittelt neben- oder gegeneinander stehen, sondern ihr Gegensatz überbrückt wird: Joseph versteht seinen Witz als die psychische Manifestation ihres metaphysischen Einflusses.1146 1143 »Mit dem Wesen des Mondes aber verband sich dem Jungen mehr als nur der Gedanke des Schönheitszaubers: auch und ebenso enge verband sich ihm damit die Idee der Weisheit und des Schrifttums, denn der Mond war das Himmelsbild Thots, des weißen Pavians und Erfinders der Zeichen, des Sprechers und Schreibers der Götter, Aufzeichners ihrer Worte und Schutzherrn derer, die schrieben« (GW IV, 411). 1144 Schöll (2004), S. 238 f. 1145 Vgl. Eisenhauer (1991), S. 236. 1146 Borchmeyer bemerkt, das Konzept des ›Witzes‹ in den Josephsromanen weise »hinter die moderne auf die alteuropäische Bedeutung des Begriffs als ars combinatoria, als Übersetzung von ›ingenium‹ und ›esprit‹ zurück« [Borchmeyer (1997), S. 213], und zitiert eine Definition Jean Pauls: »Der Witz im engeren Sinne findet mehr die ähnlichen Verhältnisse inkommensurabler (unanmeßbarer) Größen, d. h. die Ähnlichkeit zwischen Körper- und Geisterwelt (z. B. Sonne und Wahrheit), mit anderen Worten, die Gleichung zwischen sich und außen, mithin zwischen zwei Anschauungen« [Jean Paul: Vorschule der Ästhetik,

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Obgleich Josephs Witz nicht als unmittelbares Produkt elterlicher Erbeinflüsse angesehen werden kann, ist er im familiären Kontext keineswegs wurzellos. Er findet sich vorgeprägt in Rahels »Durchtriebenheit« (GW IV, 362), in »Jaakobs Witz und Erfindungsgeist« (GW IV, 356) und bildet die Grundlage für Josephs Schelmentum.1147 Das Ausführen von ›Stückchen‹, wie Pharao in Anlehnung an Hermes, »den Herrn der Stückchen« (GW V, 1445), alle Arten von Streichen, Kniffen und listigen Übervorteilungen nennt, stellt geradezu eine der »Grundeigenschaften des Stammes Israel«1148 dar. Prägender als das kollektive Erbe des Schelmentums ist für Joseph nur sein Status als Liebling und »Gunstkind« (GW IV, 88) des Vaters: »Die Gewohnheit, geliebt und vorgezogen zu sein, entschied über sein Wesen und gab ihm die Farbe« (GW IV, 50). Verschärfend kommt hinzu, dass Jaakob seine Vorliebe in mythologischen Kategorien formuliert und damit ein Muster prägt, das Josephs Leben maßgeblich beeinflussen wird: die Idee der Nachahmung von Göttergestalten, besonders des TammuzAdonis.1149 Ehe jedoch ausführlich auf Josephs Tammuz-imitatio eingegangen wird, soll gezeigt werden, dass eine solche Identifikation nicht auf seine Person beschränkt ist: Auch sein Vater wird im Text mit Tammuz in Verbindung gebracht, und in: Miller, Norbert (Hrsg): Sämtliche Werke, Bd. I, 5: Vorschule der Ästhetik – Levana oder Erziehlehre – Politische Schriften, Darmstadt 2000, S. 7 – 456, hier : S. 172]. Die Tatsache, dass dieses Verständnis des Witzes im Sinne einer »ausgeprägte Fähigkeit zu geistreichen Kombinationen« [Schmidt (2004b), S. 12] historisch gesehen als Gegenbegriff zum Genie fungierte [vgl. ibid., S. 31 – 34], hat auf das Konzept des ›mythischen Genies‹ keinen Einfluss. 1147 Trotz seiner »List und Schlauheit, sein[em] Geschick in der Nutzung menschlicher Schwächen, [der] Düpierung seiner Gegner« [Fischer (2002), S. 759], liest Fischer Joseph nicht als Schelmenfigur: »Vom eigentlichen Schelmen jedoch unterscheiden ihn seine Akzeptanz gesellschaftlicher Regeln, seine Zielstrebigkeit und die Natur seiner Ziele: es geht ihm nicht um die Befriedigung von Augenblicksbedürfnissen, sondern um das langfristige Projekt des ›Nachkommenlassens‹« [ibid., S. 759]. 1148 Hermsdorf (1968), S. 148. – Angefangen von Abrahams »gelungene[m] Hirtenstreich[]« (GW IV, 125) in Ägypten und Isaaks Wiederholung/Nachahmung der Geschichte in Gerar (vgl. GW IV, 126 f.) über den von Rebekka eingefädelten Segensbetrug (vgl. GW IV, 204 – 211) und »die berühmte Geschichte mit den gesprenkelten Schafen« (GW IV, 353), bis hin zu Rahels Diebstahl der Teraphim (vgl. GW IV, 362 f.) und Thamars listenreicher »Einschaltung« (GW V, 1539) in die Gottesgeschichte werden in jeder Generation ›Stückchen‹ erdacht und ausgeführt, so dass nicht nur Joseph der Sohn »eines Schelmen« (GW V, 1432) und einer »liebliche[n] Diebin« (GW IV, 376) ist, sondern schon sein Vater von Laban, diesem »zugleich listigen und dummen Teufel[]« (GW IV, 159) als »Schlaukopf und einer Schlauköpfin Sohn« (GW IV, 302) charakterisiert wird. Und selbst der Gott dieses Stammes »ist ein Schelm, der Joseph nach Ägypten führt, damit sein Vater und das Volk ihm folgen« [ibid., S. 148]. 1149 Josephs imitatio selbst, ihre Voraussetzungen und Implikationen werden im Kapitel Der mythische Hochstapler : Imitationes Deorum untersucht (vgl. unten S. 365 – 369); hier geht es einzig um die Frage, ob und in welchem Maße er damit aus einer kindlichen oder jugendlichen Prägung heraus handelt.

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obgleich es dem Patriarchen vollständig fern liegt, sich bewusst mit einem heidnischen Fruchtbarkeitsgott zu identifizieren,1150 erscheint ihm bei seiner Rückkehr in die Heimat [s]ein Leben während der letzten fünfundzwanzig Jahre […] im Lichte kosmischer Entsprechung, als Gleichnis des Kreislaufs, als ein Auf und Ab von Himmelfahrt, Höllenfahrt und Wiedererstehen, als eine höchst glückliche Ausfüllung des wachstumsmytischen Schemas (GW IV, 159).

Stellt schon die Bezugnahme auf das ›wachstumsmythische Schema‹ eine assoziative Verbindung zu Tammuz-Adonis her, so wird Jaakob mit der Bezeichnung »Herr des Schafstalls« (GW IV, 279) zudem ein Beiname des Tammuz (vgl. GW IV, 434) sowie des Osiris beigelegt, »den man als ›Herrn des unterirdischen Schafstalls‹ kennt« (GW V, 1761).1151 Und wenn der Erzähler die Vermutung ausspricht, der Grund für »die augenfällige Außerordentlichkeit von Jaakobs Erfolgen« (GW IV, 280) als Züchter liege »in dem Herrn des Schafstalles selber« (ibid.), weist er ihm damit die Rolle des Tammuz zu.1152 Noch eindeutiger fällt die Rollenzuweisung im Falle Rahels aus, die Jaakob in der Maßlosigkeit seines Gefühls zu einer »himmlische[n] Jungfrau und Muttergöttin« (GW IV, 349) stilisiert: »Durch seines Geistes Macht und Eigensinn spielte Rahel […] eine heilige Rolle, nämlich die der Sternenjungfrau und Mutter des segenbringenden Himmelsknaben« (GW IV, 370). Da »Labans Reich […] von vornherein Unterweltsland für ihn« (GW IV, 245) ist, weist er Rahel die Rolle »seiner befreiten Ischtar« (GW IV, 159) zu,1153 mit der sie sich so weitgehend identifiziert, dass sie sich sterbend den »irdisch-trauliche[n] Name[n] der Ischtar« (GW IV, 103) beilegt und auf diese Weise »die Person der göttlichen Bildnerin und ihr eigenes Mutter-Ich undeutlich ineinanderlaufen« (GW IV, 387) lässt. 1150 Der Standpunkt von Friedhelm Marx, der von »Jaakobs gelegentliche[r] Identifikation mit Tammuz« ausgeht [Marx (2002), S. 157], erscheint anfechtbar. Der Widerwille des Patriarchen gegen die »Völkernarrheit« (GW V, 1803) ist so ausgeprägt, dass er Serach schon dafür rügt, von Adún, dem »bedenkliche[n] Wiesengott« (GW V, 1712), nur gesungen zu haben [vgl. Schulz (2000), S. 86]; und auch der Hinweis, Jaakob sei geneigt, »in dem zerrissenen Sohn von Schekem den wahren und höchsten Gott, den Gott Abrahams […] zu erblicken« (GW IV, 71), stellt kein Argument für die Identifikation dar, da Jaakob kaum so vermessen wäre, sich selbst mit dem Gott seiner Väter zu identifizieren. 1151 Auch diese Version des Namens ist für Jaakob passend, insofern das »Lande Aram Naharaim […] Unterweltsland für ihn« (GW IV, 245) ist, er sich also – nicht anders als sein Sohn später in Ägypten – im ›Unteren Reich‹ befindet. 1152 Berger (1971), S. 112. 1153 Jaakob wandelt dabei den Tammuz-Mythos den Umständen entsprechen ab: Ist es normalerweise Ischtar, die in die Unterwelt hinabsteigt, um Tammuz zu befreien (vgl. GW IV, 94), sind die Rollen hier vertauscht, und es ist Jaakob, der »die staubigen Riegel [bricht] von Labans Reich« (GW V, 1639).

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Joseph, geboren »im Tammuz-Monat um Mittag« (GW IV, 108), wird von Jaakob »Dumuzi, echter Sohn« (GW IV, 335) genannt, »wie die Leute von Sinear den Tammuz« (GW IV, 120) nennen, und auch die »Vorstellung des Weltenfrühlings« (GW IV, 350), die sich für Jaakobs »überpoetischen Sinn« (ibid.) mit der Geburt des »Sohn[es] der Rechten« (GW IV, 400) verbindet, stellt eine assoziative Verknüpfung zu dem Vegetations- und Fruchtbarkeitsgott her. »Wie man sieht, wird [die] mythische Identifikation Josephs mit Tammuz schon im Elternhaus unterstützt«,1154 und so kann es nicht verwundern, dass er sich die diese Göttergestalt zum Vorbild nimmt und sein Leben an ihrem »wachstumsmytischen Schema[]« (GW IV, 159) ausrichtet. Das mythische Muster »des syrischen Schäfers und schönen Herrn« (GW IV, 71), »dem Ninib, der Eber, die Seite zer[reißt] und der hinab[geht] in die Gefangenschaft, um zu erstehen« (GW IV, 434), ist ihm in mehr als einer Hinsicht vorgegeben.

2.3.

Bildung und Ausbildung

In seinem Aufsatz zu Thomas Manns Konzept des Mythos1155 benennt Jan Assmann zwei Instanzen der »kulturelle[n] Vermittlung«1156 als maßgeblich für die Ausbildung des jungen Joseph: »die schulische Unterweisung, die Joseph vor allem durch Eliezer, Jaakobs ›ältesten Knecht‹«1157 erfahre, und das Fest, »im besonderen die syrischen Tammuz-Adonis-Mysterien«:1158 »Das Fest vergegenwärtigt den Mythos. Der Mythos stellt die spezifisch mündliche Organisationsform des kulturellen Gedächtnisses dar.«1159 Das ›Schöne Gespräch‹, in dem »die noch in voller Entstehung begriffene spezifisch hebräische Überlieferung«1160 ihren Ausdruck findet, erfüllt eine ähnliche Funktion, und alle drei Aspekte sollen in diesem Kapitel untersucht werden.

1154 Schulz (2000), S. 112. 1155 Vgl. Jan Assmann: Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 133 – 158. 1156 Ibid., S. 142. 1157 Ibid. 1158 Ibid. Die Untersuchung beschränkt sich in diesem Teilkapitel auf Josephs Ausbildung bis zu seinem Sturz in den Brunnen. Was er im »Land seines zweiten Lebens und seiner Entrückung« (GW V, 961) vom alten Minäer, von Mont-kaw und Mai-Sachme lernt, wird im Kontext von Josephs Aufstieg in Ägypten erörtert; vgl. unten S. 406 – 412. 1159 Assmann (1993), S. 141. Zum Konzept des ›kulturellen Gedächtnisses‹ vgl. Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. Zehn Studien, München 2000, S. 37 – 44 und 52 – 57. 1160 Assmann (1993), S. 143.

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2.3.1. Das Wissen der mythischen Welt Eliezer vermittelt Joseph »den Wissensschatz [seines] Lebenskreises«:1161 Der Lehrstoff umfasst »das Wunder und das Geheimnis der Zahl« (GW IV, 402) als Grundlage von kosmischer Ordnung, Astrologie und Zeitrechnung, aber auch die Anwendung der Mathematik in Form von »kaufmännischen Berechnungen« (GW IV, 406), außerdem die Grundbegriffe der Medizin, Erd- und Völkerkunde (vgl. GW IV, 406 f.), verschiedene fremde Sprachen und vor allem die Kenntnis der Schrift: Das Lesen und Schreiben war selbstverständlich die Grundlage von allem und begleitete alles; denn es wäre sonst nur ein verwehendes Hörensagen und Wiedervergessenwerden gewesen unter den Menschen (GW IV, 407).

Josephs »Wissen und seine gebildete Beherrschung des Wortes«1162 sowie der Umstand, dass er mehrere Sprachen sprechen und schreiben kann,1163 hebt ihn nicht nur über seine Brüder hinaus, »von denen keiner schreiben konnte« (GW IV, 91), sondern auch über seinen Vater: Jaakob spricht zwar Babylonisch (vgl. GW IV, 413), ist aber »kein Gelehrter« (ibid.), und seine Fähigkeiten auf dem Gebiet der Schreibkunst reichen »kaum etwas weiter als bis zur Zeichnung seines Namens« (GW IV, 414). Joseph ist damit »the only one of his lineage who is literate«,1164 der einzige, der neben einer umfassen mythischen Bildung auch über die Gabe der Schriftlichkeit verfügt.1165 Von großer Bedeutung für Josephs Verständnis der Welt ist auch das ›Schöne Gespräch‹, in dem die Geschichten des Stammes Israel bewahrt und tradiert werden, und seine »gemeinsame Identität […] narrativ konstituiert«1166 wird. Die Bedeutung von Eliezers Unterweisungen geht dabei über reine Wissens1161 Hermsdorf (1968), S. 150. Zu Josephs Curriculum vgl. Berger (1971), S. 262 – 266; Schulz (2000), S. 171 sowie Schöll (2004), S. 247. 1162 Lehnert (1993), S. 100. 1163 Auf seiner Reise zu den Brüdern lässt Joseph »Sprachkenntnisse glänzen, die er mit Hilfe Eliezers erworben, und redet[] unterm Tore chettitisch mit einem Manne aus Chatti, mitannisch mit einem aus dem Norden und einige Worte ägyptisch mit einem Viehhändler aus dem Delta« (GW IV, 533); und zu schreiben versteht er »sowohl in babylonischer wie in phönizischer und chetitischer Schriftart« (GW IV, 26). 1164 Murdaugh (1976), S. 96. Laut Darmaun ist Joseph »der lichteste Literat, den Thomas Mann je erfunden hat« [Darmaun (1999), S. 79]. 1165 Der Aussage Assmanns, im Roman werde »der Unterschied zwischen mythischer Bildung und Schriftgelehrsamkeit an Jaakob und Joseph exemplifiziert« [Assmann (1993), S. 141], ist vor diesem Hintergrund nicht zuzustimmen: Joseph steht zwischen Jaakob, dem Manne ausschließlich »mythischer Bildung« (GW IV, 581), und den ägyptischen Traumgelehrten (vgl. GW IV, 1397), die sich gänzlich auf ihre Büchern und Kompendien verlassen und eine einseitig schriftliche – und damit defizitäre – Form der Bildung repräsentieren. Joseph vermittelt auch diesen Gegensatz: Es ist sein mythisches Wissen, das es ihm erlaubt, die Träume des Pharao zu deuten. 1166 Schöll (2004), S. 230.

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vermittlung hinaus; er vermittelt seinem Schüler grundlegende Kenntnisse über die Struktur der mythischen Welt. Wenn er von ›seiner‹ Fahrt »als Brautwerber für Isaak« (GW IV, 421) erzählt und sich dabei mit Abrahams ältestem Knecht ›verwechselt‹ (vgl. GW IV, 122 f.), demonstriert er das Konzept der ›offenen Identität‹ und die eng verwandte Vorstellung des ›In-Spuren-Gehens‹, und als Beispiel für das Prinzip der ›rollenden Sphäre‹ führt er Abrahams »kühnen Handstreich gegen die Heere des Ostens« (GW IV, 159) an, den so genannten »Kampf der Könige« (GW IV, 422). Dabei handelt es sich um »eine Lieblingsprahlgeschichte der Jaakobsleute« (ibid.), die in zwei Versionen existiert: Die ›irdische‹ besagt, Abraham habe »keck und treu entschlossen ein paar hundert hausbürtige Knechte« (GW IV, 132) mobilisiert, um seinen Bruder Lot zu befreien; die ›himmlische‹ hingegen berichtet, es hätten »die Sterne für sie gekämpft, so dass sie siegten und die Feinde zu Paaren trieben« (GW IV, 422 f.). Der Erzähler lässt an der großen Bedeutung dieses Aspekts von Josephs Ausbildung keinen Zweifel aufkommen: Wir wollen hier, im Vorblick auf Josephs Lebensgeschichte, nur gleich bemerken, daß diese Art von Eindrücken die nachhaltigsten und wirksamsten waren, die er beim Unterricht durch den alten Eliezer gewann (GW IV, 424).

Unter Eliezers Anleitung durchläuft Jaakobs Sohn einen »polyhistorische[n] Bildungsgang, der ihn mit der ganzen Mythenvielfalt seiner Zeit vertraut macht«,1167 außerdem aber mit den Mythen und Geschichten seines Familienstammes, und darüber hinaus mit den »Bruchstücke[n] großer Versfabeln der Urzeit, die erlogen [sind], doch mit so kecker Feierlichkeit in Worte gebracht, daß sie dem Geiste wirklich« (GW IV, 408) werden.1168 Auch die »Raschheit und Eindringlichkeit seines Verstandes« (GW IV, 933) lässt sich auf den Unterricht zurückführen: Zwar sind die »Ur-Schnurren und Histörchen, die Eliezer ihm schon in zartem Alter« (GW IV, 400) überliefert, »kaum halb wahr und dem Geist nur ein Schmuck« (GW IV, 401), aber sie geben Joseph doch »die ›Spielmarken‹ an die Hand, mit denen er seine kombinatorische Findigkeit«1169 auszubilden vermag, und »die Übungen des Scharfsinns und des Gedächtnisses, denen der Junge sich zu unterziehen« (GW IV, 400) hat, sorgen dafür, dass sein Verstand »hell, scharf und heiter« (GW IV, 402) wird. Als Joseph schon zu Mont-kaws 1167 Eisenhauer (1991), S. 223. 1168 Indem Joseph begreift, dass einer ›Versfabel‹ wie dem Gilgamesch-Epos trotz ihrer faktischen ›Lügenhaftigkeit‹ »ein relativer Wahrheits-Charakter zu[kommt], weil sie die Welt kreativ durch das Wort evoziert« [Lehnert (1993), S. 100], entwickelt er sogar ein Bewusstsein für das Konzept der Fiktionalität. Das Wissen um Leben und Schicksal Gilgameschs ist insbesondere deshalb bedeutsam, weil Joseph sich auf das Rollenvorbild dieses Helden beruft, wenn es gilt, den Avancen Mut-em-enets zu widerstehen; vgl. GW V, 1132 f. 1169 Eisenhauer (1991), S. 223.

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Nachfolger ausgebildet wird, ist sogar von seinem »Ingenium« (GW V, 934) die Rede. Nicht nur was Eliezer seinem Schüler beibringt, hat Einfluss auf dessen Persönlichkeitsentwicklung, sondern auch die Art, wie er es tut. Denn obgleich der Unterricht »das Lernen zu einem großen und schmeichelhaften Vergnügen« (GW IV, 405) macht, weil er die Geheimnisse Gottes, des Menschen und seiner Stellung im Kosmos umfasst, heißt es über diese höchst bedeutsamen Gegenstände: »Mit all diesem spielte Jung-Joseph unter des Alten Aufsicht wie mit Bällen und unterhielt sich gewinnbringend« (GW IV, 403): Der Unterricht, den Joseph bei Eliezer genießt und der seine Weltsicht bestimmt, ist Spiel: ästhetisches Jonglieren mit dem Zahlenzauber der Welt, Aneignung und auch Verbesserung des göttlichen Weltenkreislaufs.1170

Dadurch, dass der Unterricht, aller inhaltlichen Weihe ungeachtet, ein Spiel ist, vermittelt Eliezer seinem Schüler einen spielerischen Umgang mit Welt und Leben – auch und gerade dann, wenn es sich um »den Höchsten« (GW IV, 682) handelt. Außerdem aber lehrt er ihn, es sei des Menschen Aufgabe, »das Heilige, aber nicht ganz Stimmende« (GW IV, 403) zu verbessern, wobei es gelte, »das Notwendige einzusehen und Gottes Gemütsart dabei zu durchdringen« (GW IV, 404). Diese Lektion ist für Joseph von eminenter Bedeutung, denn »[d]as ›Notwendige‹, metaphysisch Vorgegebene einzusehen bedeutet, das Leben danach ausrichten und stimmig machen zu können«,1171 und genau diese »äußerste Klugheit und anmutigste Geschicklichkeit in der Behandlung Gottes und der Menschen« (GW IV, 320) befähigt ihn, den göttlichen Plan zu erkennen und zu erfüllen. Joseph lernt schon als Knabe, die Gegebenheiten der Welt nicht als unwandelbar, sondern als veränderlich aufzufassen, als Manifestationen des göttlichen Willens, die beeinflusst und spielerisch den eigenen Erfordernissen angepasst werden können,1172 und er begreift zugleich die Notwendigkeit, etwaige ›Manipulationen‹ nur nach eingehendem »Studium des Seelenlebens Gottes« (GW, V 1534) vorzunehmen, um nicht mit seinen Plänen in Konflikt zu geraten.

1170 Wolters (1998), S. 185. 1171 Ibid. 1172 Ein Verständnis der Welt, die »nicht mehr als gegeben, sondern als machbar« erscheint [Petersen (1991), S. 14], wird gemeinhin als eines der Kennzeichen der Moderne angesehen. Dass Joseph sich diese Überzeugung zu eigen macht – wenn auch eingeschränkt durch die Grenzen, die ihm die Rücksichtnahme auf Gottes Absichten auferlegt – kann als ein erster Hinweis darauf verstanden werden, dass Jaakobs Sohn zumindest in einzelnen Charakterzügen als ein ›modernes‹ Individuum in einer mythischen Welt anzusehen ist.

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2.3.2. Die Klärung des Geistes Obwohl Jaakob sich bewusst ist, damit Josephs Isolation im Kreis der Brüder zu verschärfen, fördert die »literarische Ausbildung durch den Schreibknecht« (GW IV, 414), wofür der Erzähler zwei Gründe anführt, »der eine ehrgeiziger Art, der andere von sorgend-erzieherischer« (ibid.): Erstens sieht der Vater in der höheren Bildung ein weiteres Argument dafür, »Rahels Erstem« (GW V, 1520) die Erberwählung zukommen zu lassen (vgl. GW IV, 414 – 416); zweitens hofft er, die »Geistesklärung durchs Schriftlich-Vernünftige« (GW IV, 520), die mit diesem Unterricht verbunden ist, werde »Josephs Anlage zu leicht ekstatischen Zuständen« (GW IV, 416) mäßigen und eindämmen.1173 Denn obwohl auch dieser Hang zur Verzückung als Zeichen der Erwähltheit und Auszeichnung verstanden werden kann, steht Jaakob ihm skeptisch gegenüber, da er an »heilige Narren, Geiferer, Gottbesessene« (ibid.) erinnert. Es ist für den Vater »[h]öchst ängstlich zu denken, daß Joseph durch seine kindliche Neigung zum Augenverdrehen und Traumreden Berührung haben sollte mit dieser unreinen Seelengegend« (GW IV, 417 f.), denn alles, was mit dieser Sphäre von »›Aulasaukaulala‹ und wüste[r] Krampfkünderei« (GW IV, 417) zu tun hat, ist Gegenstand seiner tiefen religiösen Missbilligung.1174 Ein Zweck von Josephs Unterricht besteht also darin, ihn von diesen ›Orakellallern‹ abzugrenzen: Es war sehr gut, daß Joseph was lernte, sich unter kundiger Anleitung regelrecht übte in Wort und Schriftlichkeit […] – das konnte zur Festigung seiner Schwankheit segensreich beitragen, und mit gehörnten Nacktläufern und Geiferern würde er, der Gebildete, keine Ähnlichkeit haben (GW IV, 418).

Grundsätzlich verwirft Jaakob weder prophetische Träume1175 noch Prophezeiungen oder Orakel: Er ist sehr stolz auf sein großes »Treppengesicht« (GW IV, 645) von Beth-el und hat auch »gegen ein vernünftiges Pfeil- oder Losorakel« (GW IV, 417) nichts einzuwenden – so lange die ›Gottesvernunft‹ dabei gewahrt bleibt: »Wo aber der Gottesverstand in die Brüche ging und geiler Taumel an 1173 Diese Neigung zeigt sich etwa in Josephs Verehrung des Mondes, die »ins nicht mehr ganz Geheure« (GW IV, 66) ausartet, im Falle seiner ›Wettervorhersage‹ »die Frage betreffend, ob die Spätregen wohl noch einsetzen« (GW IV, 112) würden, und angesichts seiner großen Prophezeiung über das eigene Leben (vgl. GW IV, 119). 1174 Wenn man bedenkt, dass Thomas Mann »[d]en deutschen Nationalsozialismus […] als eine Ideologie [verstand], die das ›Untere‹ auf Kosten des kritischen Verstandes, des GeistGottes, betont[e]« [Lehnert (1993), S. 109], kann wenig Zweifel daran bestehen, dass diese demonstrative Ablehnung von ›Aulasaukaulala und wüster Krampfkünderei‹ auch auf den »ordinär schwelgerischen Kult eines Hintertreppenmythus« (GKFA 10.1, 256) zielt, der zur Zeit der Entstehung der Geschichten Jaakobs in Deutschland an Einfluss gewinnt. 1175 Die Frage, ob Träume in den Josephsromanen als metaphysische ›Botschaften Gottes‹ oder psychologisch als Emanation des Inneren des Träumers aufzufassen sind, wird aus argumentativen Gründen im Kapitel Traumdeutung untersucht, vgl. unten S. 386 – 392.

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seine Stelle trat, da begann das für ihn, was er ›eine Narrheit‹ nannte« (ibid.). Und obwohl von ›geilem Taumel‹ bei Joseph kaum die Rede sein kann, da die sexuelle Komponente bei seinen Ekstasen nur eine marginale Rolle spielt,1176 geht er des ›Gottesverstandes‹ dabei weitgehend verlustig: Seine Träume sind nicht »ehrbar und mäßig« (GW IV, 418) wie die seines Vaters, sondern neigen bedenklich zum Übermaß,1177 und seine im Wachen auftretenden Visionen werden begleitet von einem Zustand der Berückung, der mit einer augenscheinlichen Trübung des Bewusstseins einhergeht.1178 Wichtiger als die Frage, welche Instanz als Quelle von Josephs Inspiration anzunehmen ist, ist ihre Beurteilung als etwas Zweifelhaftes und Anrüchiges, das in Zucht genommen werden muss. Und obgleich die Unterweisung diesen Zweck scheinbar verfehlt,1179 gelingt es Joseph im Laufe seiner Entwicklung, die »kindliche Neigung zum Augenverdrehen und Traumreden« (GW IV, 417 f.) zu überwinden. In seinem Gespräch mit Pharao erinnert er sich: Da ich ein Knabe war, verzückte es mich wohl, und ich schuf Sorge dem Vater, indem ich die Augen rollte, gehörnten Nacktläufern gleich und Orakellallern. Das hat der Sohn

1176 Zwar bestätigt der Erzähler implizit Jaakobs Vermutung, dass »des Jünglings Neigung zu einem nicht mustergültigen Entzücken mit Nacktheit zu tun« (GW IV, 418) habe, doch sind für Josephs androgyne Jugendschönheit Jungfräulichkeit, Keuschheit, Mond-Verehrung und eine »Gesamtdurchdringung der Welt und seines Wechselverhältnisses zu ihr mit Liebesgeist« (GW V, 1135) von größerer Bedeutung als Sexualität. Höchstens in der Flammen-Metaphorik von Josephs Transzendierung (vgl. GW IV, 468) ließe sich ein orgiastisch-sexuelles Element erkennen. 1177 Diesen qualitativen Unterschied verdeutlicht die Rolle, die der Träumende jeweils im eigenen Traum spielt: Jaakob »träumt[] sich nicht von der Stelle« (GW IV, 141), während er in Gottes Herrlichkeit blickt, »die nur durch die deckenden Lider zu schauen« (GW IV, 142) ist. Joseph hingegen wird im Traum nicht nur persönlich entrückt, sondern auch »zum Fürsten und Mächtigen über alle Fürsten« (GW IV, 467) des Himmels ernannt. 1178 Das zeigt sich exemplarisch am Beispiel seiner Vision »vom Vorrang und von der Kindschaft« (GW IV, 119): Auf Jaakobs besorgte Frage: »Joseph, was siehst du?« (ibid.), antwortet dieser : »Das war nur schöne Rede […,] die ich machte, um dem Herrn ein Großes zu sagen. Und es ist der Mond, der mich etwas berückt« (ibid.). Der Leser hingegen, der Josephs Geschichte ganz überblickt, erkennt, dass seine Voraussage zwar vage erscheint, den Verlauf seines Lebens dabei aber zutreffend beschreibt. Joseph fungiert hier als ›Mundstück‹ einer übergeordneten Instanz, womit er eines der charakteristischen Merkmale des Inspirierten zeigt. Die Frage Jaakobs impliziert überdies, dass er die Vision selbst nicht in Frage stellt, sondern nur insofern an ihr zweifelt, als Josephs Worte »nicht dem Verstande gemäß« (GW IV, 119) zu sein scheinen. 1179 Diese Ansicht äußert Jaakob, nachdem Joseph seinen Traum von Sonne, Mond und Sternen erzählt hat: »Nach menschlichem Ermessen ist, was du uns auftischtest, so ungereimt, daß du ebensogut nur ›Aulasaulalakaula‹ hättest lallen können […]. Ich bin in meiner Seele enttäuscht, daß du es […] trotz aller Geistesklärung durchs SchriftlichVernünftige […] noch immer nicht weitergebracht hast im Gottesverstande« (GW IV, 520).

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von sich abgetan, seit er etwas zu Jahren kam, und hält’s mit dem Gottesverstande, auch wenn er deutet (GW V, 1421).1180

Es ist unverkennbar, dass diese Entwicklung als ein Wandel zum Besseren verstanden wird, als Fortschritt von der Irrationalität des ›Aulasaukaulala‹ hin zur Klarheit des Gottesverstandes. Diese Beobachtung ist relevant, weil sie Inspiration als Attribut des ›mythologischen Genies‹ ausschließt: Von den drei untersuchten Werken würde nur die fiktionale Welt von Joseph und seine Brüder das Auftreten traditioneller Inspirations-Situationen erlauben,1181 und gerade hier ist diese Vorstellung nicht Teil der Geniekonzeption. 2.3.3. Das Fest und die Verkörperung des Tammuz

Ähnlich bedeutsam wie der Unterricht Eliezers ist Josephs heimliche Teilnahme am »Fest der weinenden Frauen« (GW IV, 32), das Tod und Auferstehung des Tammuz-Adonis vergegenwärtigt. Im Alter von 17 Jahren hat er die rituellen Suche, die Bestattung und den Auferstehungsjubel des Rituals »schon zweimal gehört und gesehen« (GW IV, 448) und beherrscht die Klagelieder der Frauen »in allen ihren Worten« (GW IV, 450): Das Fest, und zwar im besonderen die syrischen Tammuz-Adonis-Mysterien, bilden für den jungen Joseph das Medium der ›inneren Aneignung‹ […], ›so daß das Mysterium zum Schema seines Lebens wird.‹1182

Josephs Entscheidung, sich mit dem Myrtenkranz zu schmücken (vgl. GW IV, 62), macht deutlich, dass die Identifikation mit dem Gott nicht mehr nur eine 1180 Zwar kann angesichts des zeitliche Abstands kein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Josephs Reife und Eliezers Unterricht hergestellt werden, dennoch erscheint die Annahme plausibel, dass die »Geistesklärung durchs Schriftlich-Vernünftige« (GW IV, 520) die Grundlage für die Entwicklung bildet, die Joseph schließlich zu der Forderung führt: »Deutlich und klar sei das Deuten, kein Aulasaukaulala« (GW V, 1421). Er beweist damit, dass »er die Vernunft erlangt hat, die ihm in früheren Jahren, als […] er den ›Orakellallern‹ gleich mit Trance und Ekstase liebäugelte […], noch abging« [Lothar Pikulik: Joseph vor Pharao. Die Traumdeutung in Thomas Manns Romanwerk ›Joseph und seine Brüder‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 1 (1988), S. 99 – 116, hier: S. 104]. 1181 Das ist etwa abzulesen an den ›Entrückungszuständen‹ Pharaos (vgl. GW V, 1469), während derer er »authentische Belehrungen und Offenbarungen über die schöne und wahre Natur des Atún« (GW V, 1378 f.) empfängt. Allerdings stehen diese »nicht geheuere[n] Abwesenheit[en]« (GW V, 1378) in Verbindung mit der ausschließlichen Konzentration Pharaos auf seine »zärtlich verschwärmte[] Liebesreligion« (GW V, 1755) und werden damit als einseitig und lebensunfähig dargestellt. 1182 Assmann (1993), S. 142. Bei dem eingebetteten Zitat handelt es sich um eine Notiz Thomas Manns, zitiert nach Lehnert (1963), S. 501. – Schulz stellt fest: »[D]er Tammuz-AdonisMythos [ist] Teil des Joseph zur Verfügung stehenden Rolleninventars […], aus dem er gewisse Segmente, die ihm als Identifikations- und Erklärungsmuster dienen können, auswählt« [Schulz (2000), S. 118].

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Folge des väterlichen Einflusses ist, sondern er sich bewusst für dieses Muster entschieden hat. Im Gespräch mit Benjamin im Adonishain fällt dabei sein Bemühen auf, »to conceal his identification with the dying young god«:1183 Er vermeidet »die Formel des Sich-zu-erkennen-Gebens« (GW V, 1309) und weigert sich überdies, auf Benjamins neugierige Fragen einzugehen, wenn die Antworten seine Identität mit Adonai bestätigen würden:1184 Statt dessen überlässt er es dem Bruder, die notwendigen Verbindungen herzustellen und den Gott in ihm zu erkennen: Joseph’s presentation deftly epitomizes his everyday ambition; he sets out to make himself the divine youth of sacrifice and resurrection. […] Naturally, Joseph cannot simply announce that he is Adonai, ›Lord‹; to convince, he must lead his brother to see the divinity in him.1185

Auch die Fähigkeit, mythische Muster abzuwandeln und in neue Zusammenhänge einzuordnen, lässt sich an Josephs Verhalten im Adonishain erkennen: Während die Myrte im Kontext des Tammuz-Ritus ein »Todesschmuck« (GW IV, 445) ist, weil der Jünglingsgott »in Kranz und Feierkleid« (GW IV, 621) ›in die Grube‹ fährt, bezeichnet Jaakobs Sohn sie als »das Kräutlein Rührmichnichtan« (GW IV, 445) und weist ihr damit eine neue Bedeutung zu: Bitter und herb ist der Myrtenschmuck, denn er ist der Schmuck des Ganzopfers und ist aufgespart den Aufgesparten und vorbehalten den Vorbehaltenen. Geweihte Jugend, das ist der Name des Ganzopfers (ibid.).

Joseph versteht sich als auserlesenes ›Ganzopfer‹ Gottes und erklärt den Myrtenkranz des Tammuz kurzerhand zum Sinnbild der Keuschheit, dem Symbol »seiner Gottes-Brautschaft, seiner Aufgespartheit und Geweihtheit.«1186 Das Konzept des ›Ganzopfers‹ stellt eine Verbindung her zu »Jizchak, dem ver-

1183 Nolte (1996), S. 106. 1184 Als Joseph das Aussehen der Götterfigur beschreibt – der Gott ist jung und schön, hat schwarze Locken und trägt ein vielfarbiges Kleid (vgl. GW IV, 448 f.) –, fragt Benjamin: »Was hat er im Haar?« (GW IV, 449), worauf Joseph mit einem kurzen »Nichts« (ibid.) antwortet, offenbar nicht gewillt, auf die Anspielung einzugehen und die Ähnlichkeit anzuerkennen. Auch auf Benjamins wiederholte Frage, in »was für einen Baum« (GW IV, 455) die Königstochter verwandelt worden sei, reagiert er abweisend. 1185 William E. MacDonald: Thomas Mann’s ›Joseph and His Brothers‹. Writing, Performance, and the Politics of Loyalty, Rochester 1999, S. 146. Marx weist darauf hin, dass Joseph sich »die mythische Lebensform des Tammuz schon im Voraus zu eigen [mache]: Er schmück[e] sich mit einem Myrtenkranz, lange bevor er selbst nach Maßgabe seines mythischen Vorbilds in die Grube« fahre [Marx (2002), S. 162]. 1186 Brief Thomas Manns an Louise Servicen vom 31. 8. 1935, zitiert nach Mann (1999), S. 117; vgl. Schöll (2004), S. 228.

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wehrten Opfer« (GW IV, 187),1187 in dessen Spuren Joseph wandelt. Er erläutert PeteprÞ: [U]nter den Häuptern und Gottesfreunden unseres Geschlechts pflegt Gott sich einen auszuersehen, der ihm verlobt sei noch besonders im Schmucke geweihter Jugend. Dem Vater wird’s zugemutet, daß er den Sohn darbringe als Ganzopfer. Kann er’s, so tut er’s. Kann er’s nicht, so wird’s ihm getan (GW V, 923).

Die wechselseitigen Durchdringung dieser beiden Konzepte führt dazu, dass Joseph das Isaaksopfer mit Hilfe des Tammuz-Mythos deutet: Für ihn ist Tammuz der Dulder und ist das Opfer. Er steigt in den Abgrund, um daraus hervorzugehen und verherrlicht zu werden. Dessen war Abram gewiß, als er das Messer hob über den wahrhaften Sohn. Aber als er es niederstieß, da war’s zum Ersatz ein Widder (GW IV, 449).

Er tut damit so, als habe Abraham bei der Opferung seines Sohnes in dem Wissen um das Muster von Tod, Niederfahrt und Wiederaufstieg gehandelt, und nicht »aus dem großen Gehorsam und aus dem Glauben« (GW IV, 106) an seinen Gott heraus. Diese »gewagte Zusammenschau« (GW IV, 527) lässt Isaak als Tammuz-Gestalt erscheinen und bildet damit die Grundlage für Josephs Selbstdeutung: Wie der Mensch den Sohn darbringt im Tiere, so bringt der Sohn sich dar durch das Tier […], und des Tieres Sinn ist der des Sohnes, der seine Stunde kennt als wie im Feste, und kennt auch die, da er des Todes Wohnung umstürzen und hervorgehen wird aus der Höhle (GW IV, 449 f.).

Anders als Isaak, der vom Vater hätte geopfert werden sollen, erklärt der ›wahrhafte Sohn‹ Joseph1188 seine Bereitschaft, sich selbst zu opfern1189 – im Vertrauen darauf, als Tammuz aus dem Totenreich zurückkehren zu können. Indem er den Mythos der paganen Göttergestalt mit der Familienüberlieferung seines Stammes verschmilzt, generiert er eine Rolle, die er ausfüllen und an der er sein Leben ausrichten wird. Sie ist eine »Schicksalsgründung« (GW V, 1472): etwas, das es noch nie gab. Durch seine heimliche Teilnahme am kanaanitischen Tammuz-Ritus gewinnt Joseph überdies ein Verständnis für das Wesen und die Funktionsweise des Festes, dessen eminente Bedeutung in der biblischen Tetralogie in der »Aufhe1187 Vgl. Kenneth Hughes: Mythos und Geschichtsoptimismus in Thomas Manns Joseph-Romanen, Bern 1975, S. 29. 1188 Zwar bezeichnet der Ausdruck ›wahrhafter Sohn‹ prinzipiell den jeweiligen Erstgeborenen und Segensträger jeder Generation, doch wird er besonders häufig und exponiert auf Joseph angewandt. 1189 Vgl. Marx (2002), S. 160.

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bung des Unterschiedes von ›war‹ und ›ist‹« (GW V, 1252) besteht,1190 also darin, dass es mittels der immer wieder realisierten »Vergegenwärtigung einer so und so laufenden Göttergeschichte« (GW V, 1133) oder eines anderen mythischen Urgeschehens die »Vertrautheit mit dem Mythos [gewährleistet], und damit mit den geprägten Urformen und Urnormen, die dem Leben Sinn und Orientierung geben«.1191 Wenn es aber zutrifft, dass »der Sinn des Festes Wiederkehr als Vergegenwärtigung« (GW IX, 497) ist, dann folgt daraus zweierlei: (1) Verlauf und Ausgang der »Festgeschichte« (GW V, 1648) sind von Anfang an bekannt, da sie sich ›nach geprägtem Urbild‹ abspielt, und trotzdem hat (2) jede Feststunde für die Dauer ihrer ›Vergegenwärtigung‹ volle Realität und Gültigkeit, die von dem Wissen der Teilnehmer um den Ausgang der Geschichte nicht beeinträchtigt wird: Die Klage der Frauen, die den schönen Gott in der Höhle begraben, tönt nicht minder schrill, weil die Stunde kommt, da er erstehen wird. Denn für jetzt einmal ist er tot und zerrissen, und einer jeden Feststunde des Geschehens gebührt die volle Ehre und Würde ihrer Gegenwart (GW V, 1252).

Doch nicht nur der Erzähler setzt die Mechanismen des Festes auf narrativer Ebene um, indem er seine Geschichte als »Fest der Erzählung« (GW IV, 54) inszeniert, sondern auch Joseph durchschaut diese Zusammenhänge und erläutert sie seinem Bruder : »Im Fest hat jede Stunde ihr Wissen, und jede der Frauen ist die suchende Göttin, ehe sie gefunden hat« (GW IV, 448). Als Benjamin Unverständnis vorschützt und sich erkundigt, wie Tammuz im Fest ›erstehen‹ könne, da doch jeder wisse, dass »die schöne Gestalt im Tempel verwahrt [werde] von Jahr zu Jahr« (GW IV, 453), fragt Joseph zurück: Ist es denn nicht das Fest in seinen Stunden, von dem ich dir sage, und betrügen sich wohl auch die Leute, die es Stunde für Stunde begehen, indem sie die nächste kennen, aber die gegenwärtige heiligen? (ibid.).

Josephs Einsichten in die Funktionsweise des Festes sind bedeutsam, weil das Konzept des ›In-Spuren-Gehens‹, also die Ausrichtung des eigenen Lebens an einem mythischen Muster, ein weitgehendes Analogon zur Erfüllung einer vorgegebenen Rolle ›im Fest‹ darstellt.1192 Indem er begreift, wie das ›Fest‹ 1190 Thomas Mann formuliert in Freud und die Zukunft: »Das Fest ist die Aufhebung der Zeit, ein Vorgang, eine feierliche Handlung, die sich abspielt nach geprägtem Urbild; was darin geschieht, geschieht nicht zum ersten Male, sondern zeremoniellerweise und nach dem Muster; es gewinnt Gegenwart und kehrt wieder, wie eben Feste wiederkehren in der Zeit und wie ihre Phasen und Stunden einander folgen in der Zeit nach dem Urgeschehen« (GW IX, 497). 1191 Assmann (1993), S. 142. 1192 Das Phänomen des Festes findet sich – als kulturelles Phänomen oder strukturelles Prinzip – auf drei verschiedenen Ebenen der Josephsromane: innerhalb der fiktionalen Welt (1) als

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funktioniert, durchschaut Jaakobs Sohn zugleich eines der Ordnungsprinzipien der mythischen Welt.1193

2.4.

Der doppelte Segen: Schönheit und Geist

Eine der formalen Konstanten im Werk Thomas Manns ist das Prinzip des Dualismus: Nicht nur seine fiktionalen Welten werden durch Gegensatzpaare strukturiert, auch die psychische Disposition seiner Figuren ist oft von antagonistischen Kräften und Impulsen bestimmt, und nicht wenige von ihnen gehen an diesen Spannungen zugrunde. Doch obgleich dieses antithetische Strukturprinzip auch für Joseph und seine Brüder gilt, besteht ein bedeutsamer Unterschied zwischen Joseph und den Protagonisten anderer Werke: Im Gegensatz zu Gustav von Aschenbach oder dem kleinen Herrn Friedemann scheitert Joseph nicht an den inneren wie äußeren Gegensätzen seiner Existenz; statt dessen gelingt es ihm zumindest zeitweise, »die Widersprüche, die sich aus seiner Doppelnatur ergeben, in sich zum Ausgleich zu bringen«.1194 Der Grund dafür ist struktureller Art und lässt sich auf den verschiedenen motivischen Ebenen nachweisen: Im Text treten nicht nur die Antithesen Vaterwelt und Mutterwelt oder Geist und Natur auf, sondern auch eine Größe, die eine Synthese zwischen diesen Gegensätzen herzustellen vermag. Dabei handelt es sich (1) in psychologischen Kategorien um Josephs Witz, (2) astrologisch gesprochen um den Einfluss des Mondes, der sich (3) auf mythologischer Ebene in den Götterfiguren des Thot, des Nabu und vor allem des Hermes personifiziert.1195 Diese einzigartige Konstellation findet ihren konzentriertesten Ausdruck in dem »geheime[n] Motto«1196 der Tetralogie, dem ›doppelten Segen‹, der auf Jo-

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Mittel zur Vergegenwärtigung des Mythos und (2) als Grundlage der mythischen Existenz der Figuren, und (3) auf der Ebene des Erzählens als narratives Prinzip. Es ist der ›Mann auf dem Felde‹, der Josephs Leben zum ersten Mal explizit als Vergegenwärtigung des Tammuz-Mythos versteht, indem er Ruben gegenüber ausführt, »daß diese Geschichte hier bloß ein Spiel und Fest [sei], wie die des berieselten Jünglings, ein Ansatz nur und Versuch der Erfüllung und eine Gegenwart, die nicht ganz ernst zu nehmen, sondern nur ein Scherz und eine Anspielung« (GW IV, 622) sei. Schulz (2000), S. 295. Hughes weist darauf hin, dass Joseph in »vieler Hinsicht Manns bisherigem Werk die Krone aufsetz[e] um gleichzeitig darüber hinauszugehen« [Hughes (1975), S. 11]; vgl. zudem Murdaugh (1976), S. 9. Neumann formuliert treffend: »Wird Thomas Manns Neigung zu antithetischem Weltbegreifen unweigerlich durch Nietzsches Gottesgegensatz von Apollon und Dionysos angezogen, so beschwört er Hermes in der Hoffnung, das Zerstörungspotential dieser Antithesen durch Vermittlung zu entmächtigen« [Neumann (2001), S. 125]; vgl. auch Hughes (1975), S. 11. Berger (1971), S. 244. Thomas Mann betont die Bedeutung des ›doppelten Segens‹ für den Roman und seine Entstehung in einem Brief an Ernst Bertram vom 28. 12. 1926: »Mein eigentlicher und geheimer Text […] ist der Segen des sterbenden Jakob über Joseph:

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seph ruht, »oben vom Himmel herab und aus der Tiefe, die unten liegt« (GW IV, 880). Er kommt wie der Abrahamssegen vom Gotte Israels1197 und ist damit von prinzipiell anderer Art als der Einfluss der Gestirne oder der ihnen zugeordneten Göttergestalten: Diese sind zwar ›überirdisch‹, nehmen aber dennoch ihren Platz innerhalb der mythischen Welt ein, die »ein Rundes und Ganzes« (GW V, 1359) ist, eine abgeschlossene Sphäre, in der auch Thot und Tammuz, Seth und Usir ihre Rollen zu spielen haben. Abrahams Gott hingegen ist außer der Welt (vgl. GW V, 1290), er ist transzendent, und nur von einem Standpunkt der »Außerweltlichkeit, Allheit und Geistigkeit« (ibid.) ist eine harmonische Vermittlung der Gegensätze möglich, wie sie sich in der Person des Protagonisten exemplarisch vollzieht. Joseph zeichnet sich sowohl durch außergewöhnliche Schönheit wie auch durch exzeptionelle Geistesgaben und eine umfassende Bildung aus. Strukturell kann diese Konstellation verstanden werden als eine Ausprägung der Antithesen Vatererbe/Muttererbe und Geist/Körper, die in Josephs Fall zu der überraschenden Aufhebung des Gegensatzes »zwischen Schönheit und Geist« (GW IV, 410) führt, denn seine Schönheit erscheint »als die natürliche Veranschaulichung der Anmut seines Verstandes, diese aber, hinwiederum, als eine andere, unsichtbare Äußerungsform des Sichtbaren« (GW V, 1049). Es ist ihr gegeben, das Geistige und seine Künste in sich einzubeziehen […] und es, geprägt mit ihrem Siegel, dem Siegel der Anmut, wieder aus sich zu entlassen, so daß zwischen beiden, zwischen Schönheit und Geist, kein Gegensatz und fast kein Unterschied mehr (GW IV, 410)

besteht. Josephs Schönheit ist damit mehr als ein physisches Phänomen: Sie umgibt ihn mit einem »höheren Schimmer, der nicht rein leiblich [ist], sondern worin Geistiges und Körperliches sich vermähl[]en und einander« (GW V, 913) erheben,1198 und der die Menschen veranlasst, ihn »halb und halb für einen Gott zu halten« (GW IV, 829): [›]Von dem Allmächtigen bist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.‹ Damit man sich zu einem Werk entschließt, muß es, als Stoff, irgendwo einen Punkt haben, bei dessen Berührung einem regelmäßig das Herz aufgeht. Dies ist dieser produktive Punkt« [zitiert nach Mann (1999), S. 23]. 1197 Das wird zwar nicht ausdrücklich gesagt, deutet sich aber an in der Bemerkung des Erzählers, im Augenblick von Josephs Zusammentreffen mit Mont-kaw habe »der planende Gott seiner Väter ein Übriges für Joseph [getan] und ein Licht auf ihn fallen [lassen], geeignet, im Herzen des Anschauenden das Zweckdienliche hervorzurufen« (GW IV, 796). 1198 Zugleich ist dieser ›höhere Schimmer‹ ein angeborenes Zeichen des Segens und der göttlichen Bevorzugung: Als der alte Minäer sich beim Kaufe Josephs zu einer »Schätzung der Ware nach Faser und Maser« (GW IV, 611) hinreißen lässt, spricht er »nicht von der Anstelligkeit, vom Verstande und von der Schreibkunst, sondern vom Stoffe […] und vom Gewebe« (GW IV, 610). Hinzu kommt, dass Jaakob diesen ›höheren Schimmer‹ schon unmittelbar nach Josephs Geburt wahrnimmt, zu einem Zeitpunkt also, als weder von Schönheit noch von Geist die Rede sein kann: Es war »um dies Neugeborene, unnennbar,

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Die exemplarische Überbrückung der Kluft […], die zwischen Geist und Schönheit gesetzt ist, die Vereinigung beider Auszeichnungen im Einzelwesen erscheint als Aufhebung einer Spannung, die man als im Natürlich-Menschlichen begründet anzusehen gewohnt ist, und läßt ganz unwillkürlich an Göttliches denken (GW IV, 410).

Mit siebzehn Jahren ist Joseph jedoch noch nicht die »Gestalt der Erfüllung«,1199 in der sich »die stille Hoffnung Gottes« (GW IV, 48) auf eine neue Menschheit exemplarisch verwirklicht. Denn obgleich er zu diesem Zeitpunkt bereits Geist und Schönheit vereint, gibt es einen Aspekt des Menschlichen, dem er sich so bewusst wie vollständig verweigert: die Sphäre der Sexualität. In diesem Zusammenhang gewinnt die Bemerkung Benjamins an Relevanz, sein Bruder halte sein »Angesicht rein vom Barte« (GW IV, 458), obwohl es damit möglicherweise noch nicht weit her sei: [D]och immerhin, was wäre dann aus seiner Schönheit geworden, der besonderen seiner siebzehn Jahre? Ebensogut hätte er einen Hundekopf auf dem Halse tragen können – es hätte auch nichts Wesentliches mehr ausgemacht (GW IV, 447).1200

Josephs androgyne Schönheit ist ein Vorrecht der Jugend, abhängig von ihrem »vor-sexuelle[n], also a-sexuelle[n] Zustand«,1201 und die Vereindeutigung zum Männlichen, die mit einem Bart verbunden wäre, würde das zwischen den Geschlechtern schwebende Gleichgewicht zerstören. Genau das geschieht, als die Werbung Mut-em-enets zu einer »Vermännlichung des Knaben Joseph« (GW V, 1129) führt. Dieser Prozess zerstört nicht nur seine äußerliche Androgynie, sondern auch die innere Souveränität gegenüber dem »Garten der Netzestellerin« (GW V, 935), also dem Gebiet der Sexualität. Plötzlich findet sich Joseph mit einem »nicht mehr zu vermittelnde[n] Widerstreit«1202 zwischen ratio und eros konfrontiert, dessen destruktives Potential beinahe seinen Untergang bedeu-

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gleichwie ein Scheinen von Klarheit, Lieblichkeit, Ebenmaß, Sympathie und Gottesannehmlichkeit, das Jaakob, wenn nicht zu erfassen, so doch zu erkennen meinte nach seiner Bewandtnis« (GW IV, 348). Kurzke (2003), S. 127. Der ›Hundekopf‹ stellt nicht nur eine assoziative Verknüpfung zu Anubis her, der Jaakob im Traum als schöner Jüngling mit Hundekopf erscheint (vgl. GW IV, 288), sondern auch zum Gebiet der Sexualität: Anub selbst »ist aus einer versehentlichen Vermischung erzeugt worden« [Hermann Kurzke: Die Hunde im Souterrain. Die Philosophie der Erotik in Thomas Manns Roman ›Joseph und seine Brüder‹, in: Härle, Gerhard (Hrsg): ›Heimsuchung und süßes Gift‹. Erotik und Poetik bei Thomas Mann, Frankfurt am Main 1992, S. 126 – 138, hier : S. 130], auch die Sklavin Tabubu ruft beim Liebeszauber für Mut die »gnädige Frau Hündin« (GW V, 1229) an, und Thomas Mann fasst in einem Brief an Otto Grautoff vom 17. 12. 1896 seine eigenen sexuellen Impulse in das Bild der »Hunde im Souterrain« [Thomas Mann: Briefe an Otto Grautoff (1894 – 1901) und Ida Boy-Ed (1903 – 1928), hrsg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1975, S. 68], die es an die Kette zu legen gelte; vgl. Kurzke (1992), S. 129. Fischer (2002), S. 388. Neumann (2001), S. 122.

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tet.1203 Er verkörpert zu diesem Zeitpunkt also noch keine »echte Synthese von Geist und Sinnlichkeit«:1204 Bei der Androgynie seiner Jugend handelt es sich um einen vor-sexuellen und damit naturgemäß zeitlich begrenzten Zustand, und als Mut die Sexualität in ihm erweckt, kommt er unter Aufbietung aller Willenskraft »gerade eben noch mit einem blauen Auge« (GW V, 1238) davon – nicht durch die gelungene Vermittlung der Gegensätze,1205 sondern im Gegenteil dadurch, dass er sich »im letzten Augenblick« (GW V, 1298) entschieden auf die Seite des Verstandes schlägt, der vom Vater repräsentiert wird: Als es, all seiner Redegewandtheit zum Trotz, beinahe schon mit ihm dahingehen wollte, erschien ihm das Bild des Vaters. […] Dies rettete ihn; oder vielmehr […], er rettete sich, indem sein Geist dies Mahnbild hervorbrachte (GW V, 1259 f.).

Diese ›Selbstrettung durch Einseitigkeit‹ deutet darauf hin, dass der ›doppelte Segen‹ zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollständig verwirklicht ist,1206 sondern allenfalls von einer partiellen Vermittlung der Gegensätze in Josephs Person gesprochen werden kann.

3.

Der Lebens-Künstler

3.1.

Das Spiel mit den mythischen Mustern

Obgleich das Leben aller Figuren in Joseph und seine Brüder von mythischen Mustern bestimmt wird, sind nicht alle »mit dem gleichen Bewußtsein bzw. mit der gleichen Kenntnis ihrer mythischen Gebundenheit ausgestattet«:1207 Das Spektrum reicht von D•du, der seine Rolle spielt, ohne sich dessen bewusst zu werden (vgl. GW V, 1108), über Esau, der die seine zwar kennt, aber an sie gebunden ist, und Jaakob, der in einzelnen Fällen das Muster wechselt, bis hin zu Joseph, der als »bewußteste Figur des Romans«1208 über ein Höchstmaß an Reflexionsfähigkeit und Distanz zu den überlieferten Mustern verfügt. Als Jaakob 1203 Joseph ist in Gefahr, dem »Einbruch[] trunken zerstörender und vernichtender Mächte« (GW V, 1085) zu erliegen, der so vielen anderen Figuren Thomas Manns zum Verhängnis wird. Auch für ihn hängt es »an einem Haare« (GW V, 1155), und der Unterschied zu Gustav von Aschenbach besteht im Grunde nur darin, dass es Jaakobs Sohn gelingt, gerade noch rechtzeitig ›aus Venedig‹ zu flüchten. 1204 Børge Kristiansen: Ägypten als symbolischer Raum der geistigen Problematik Thomas Manns. Überlegungen zur Dimension der Selbstkritik in ›Joseph und seine Brüder‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 9 – 36, hier : S. 17. 1205 Vgl. Hughes (1975), S. 45. 1206 Vgl. Scheiffele (1991), S. 169. 1207 Schulz (2000), S. 71. 1208 Ibid., S. 73.

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sich in Gedanken das Isaaksopfer auferlegt und sich anklagt, vor Gott versagt zu haben (vgl. GW IV, 105 f.), nimmt sein Sohn den abgerückten Standpunkt des Außenstehenden und Nachgeborenen ein, der »die Kreisläufe schon kenn[t], in denen die Welt abrollt, und die Geschichten, in denen sie sich zuträgt« (GW IV, 106).1209 Aus dem Wissen um den Verlauf der Geschichte vom Isaaksopfer leitet er die Gewissheit ihres Ausganges ab: »Du hättest mögen auf die Stimme und auf den Widder vertrauen« (ibid.). Und als Jaakob sich davon nicht überzeugen lässt, stellt Joseph kurzerhand die Grundlage des ›Selbstversuchs‹ in Frage, nämlich die Identifikation seines Vaters mit Abraham: [D]em blöden Kinde scheint, daß, wenn du dich selber prüftest, du weder Abraham noch Jaakob warst, sondern […] du warst der Herr, der Jaakob prüfte mit der Prüfung Abrahams (GW IV, 107).

Was für Jaakob eine ernsthafte Probe seines Gottvertrauens ist, wird von Joseph »als Gedankenexperiment, sogar als Unterhaltung begriffen, bei der der Witzige und Gewitzte aus der Niederlage noch einen Sieg für sich machen kann«,1210 indem er kurzerhand die Spielregeln ändert. Für Jaakob ist ein solcher Standpunkt undenkbar : »While he is a willing and often conscious imitator of myths, he is usually too involved in the events to step aside for a moment and consider them with detachment.«1211 Genau dieser distanzierte Blick auf die mythischen Muster ist es, der Joseph auszeichnet. Die Gabe, »das Irdische und Himmlische, die äußere Wirklichkeit und ihre mythische Innenseite zugleich zu schauen«,1212 ist »Joseph’s particular gift and part of his blessing«,1213 und sie zeigt sich exemplarisch, als er von den Brüdern verprügelt und ›zerrissen‹ wird: Er hatte achtgegeben vom ersten Augenblick an. Man möge es glauben oder nicht, aber im verstörtesten Trubel der Überrumpelung, im schlimmsten Drange der Angst und 1209 »Der Vater kann den Gehorsam nicht mehr leisten, der Sohn kann bereits darüber reflektieren. Was sich Jaakob als Rückschlag und mangelndes Vertrauen zum Vorwurf macht, wird vom Sohn, der kommenden Generation, als geistiger Fortschritt interpretiert« [Schöll (2004), S. 237]. 1210 Schulz (2000), S. 88. Ein weiteres Beispiel für Josephs kreativen Umgang mit den überlieferten Geschichten ist seine Umdeutung »des Festes Pesach« (GW IV, 476). Schon bevor er beginnt, sich aktiv zwischen unterschiedlichen mythischen Rollen zu bewegen, lernt Joseph in Gedanken »mit den Mustern zu spielen: den Freiraum der Mitarbeit durch Wahl, Variation und Kombination zu nutzen« [Neumann (2001), S. 111]. Die Diskussionen mit Jaakob über das ›Gedankenexperiment‹ des Isaaks-Opfers und die Bedeutung des PassahFestes können damit als intellektuelle Vorübungen angesehen werden, die Joseph auf das praktische Spiel mit den mythischen Mustern vorbereiten. 1211 Nolte (1996), S. 86. 1212 Borchmeyer (1998b), S. 11. 1213 Nolte (1996), S. 149.

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Todesnot hatte er geistig die Augen aufgemacht um zu sehen, was ›eigentlich‹ geschah (GW IV, 582).

Was geschieht ›eigentlich‹? Joseph deutet das Zerreißen des Bildkleides als einen Hinweis auf den Tod des Tammuz und die Höllenfahrt der Ischtar,1214 und der Brunnen erscheint ihm als »Eingang zur Unterwelt« (GW IV, 583), als der »Abgrund, in den der wahrhafte Sohn steigt, […] der unterirdische Schafstall, Etura, das Reich der Toten, darin der Sohn Herr wird, der Hirte, der Dulder, das Opfer, der zerrissene Gott« (ibid.). Er richtet seinen Blick auf die »höhere Wirklichkeit« (GW IV, 582), deutet die Ereignisse aus seiner Identifikation mit Tammuz heraus als Erfüllung seiner mythischen Rolle,1215 als Tod und Niederfahrt des Gottes, nachdem »Ninib, der Eber« (GW IV, 434) ihn geschlagen hat, und lässt sich von ihnen zugleich in dieser Rolle bestätigen. Allerdings beschränkt sich Joseph nicht darauf, die Ereignisse seines Lebens unter Zuhilfenahme eines Urbildes zu deuten: Als einzige Figur des Romans bedient er sich des mythischen Musters auch dazu, Aussagen über den weiteren Verlauf seines Schicksal zu treffen. So gehört zum »mythischen Schema der Unterweltsfahrt […] die Perspektive zukünftigen Heils, das nach Maßgabe der Gestirne nicht länger als drei Tage auf sich warten lassen wird«,1216 und in Analogie dazu bildet die Erwartung des Wiederaufstiegs nach der Niederfahrt in die ›Unterwelt‹ für Jaakobs Sohn den unausweichlichen nächsten Schritt: [D]ie Vorstellung des Sterntodes, der Verdunkelung und des Hinabsinken des Sohnes, dem zur Wohnung die Unterwelt wird, schloß diejenige ein von Wiedererscheinen, Neulicht und Auferstehung; und darin rechtfertigte Josephs natürliche Lebenshoffnung sich zum Glauben (GW IV, 584 f.).1217

1214 Der Bezug zu Tammuz stellt sich her, da für Joseph »die Gedanken ›Entschleierung‹ und ›Tod‹ nahe« (GW IV, 582) zusammengehören, so dass das Zerreißen des Schleiers durch die Brüder einer Ermordung gleichkommt. Die Verbindung zu Ischtar besteht darin, dass sich auch die Göttin bei ihrer Niederfahrt in die Unterwelt vollständig entkleiden muss (vgl. GW IV, 456). Die Identität von Tammuz und Ischtar wiederum wird durch das Schleiergewand selbst unterstrichen, in dem Gott und Göttin eins werden (vgl. GW IV, 582). 1215 Der Lesart Noltes, Joseph werde erst im Brunnen »conscious of his own imitation of the Tammuz-myth« [Nolte (1996), S. 110], ist nicht zuzustimmen. Abgesehen davon, dass schon bei den Gesprächen mit Benjamin im Adonishain von einer Identifikation ausgegangen werden muss, hätte Joseph in der Situation der Verprügelung die »sich häufenden Anspielungen« (GW IV, 582) nicht zu erkennen vermocht, wenn er sich seiner ›Rolle‹ nicht bereits bewusst gewesen wäre. 1216 Marx (2002), S. 171. 1217 Josephs ›Glaube‹ beruht überdies auf der Überzeugung, »daß Gott weiterschau[]e als bis zur Grube, daß Er es weittragend vorha[b]e wie gewöhnlich und einen zukünftig-fernen Zweck« (GW IV, 575) verfolge – eine Annahme, die seine Errettung voraussetzt.

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Schon während er ohne viel Aussicht auf Rettung im Brunnen liegt, glaubt Joseph fest an diese Möglichkeit – basierend auf der mythischen Spekulation, das Muster des Tammuz, in dem er sich und seine Lage wiedererkennt, werde sich auch für die weitere Entwicklung der Ereignisse als bindend erweisen. Damit kann kein Zweifel mehr bestehen, dass das Konzept des ›In-Spuren-Gehens‹ mehr ist als eine Art der Weltwahrnehmung. Die Korrespondenz von Mythos und fiktionaler Wirklichkeit wäre in diesem Fall eine rein subjektive Annahme, und aus der Tatsache, dass im Mythos auf die Höllenfahrt des Tammuz mit unausweichlicher Sicherheit sein Wiederaufstieg folgt, ließe sich keinerlei Gewähr für die tatsächliche Befreiung aus dem Brunnen ableiten. Ein solcher Zusammenhang, von Joseph angenommen und durch den Verlauf der Ereignisse bestätigt, ist nur dann plausibel, wenn den Prinzipien der ›rollenden Sphäre‹ und des ›In-Spuren-Gehens‹ ein ontologischer Wirklichkeitsstatus zugesprochen wird;1218 und diese Annahme wiederum erlaubt weitreichende Schlussfolgerungen hinsichtlich Verfasstheit und Struktur der Welt von Joseph und seine Brüder : Offenbar zeichnet sie sich gerade dadurch aus, dass sie »ein Rundes und Ganzes« (GW V, 1359) bildet, und die Regeln des Mythos – wie etwa die, dass auf eine Höllenfahrt mit Notwendigkeit die Wiedererstehung folgt – auch in der fiktionalen Wirklichkeit gelten. Joseph verleiht seinem Glauben an diese Stimmigkeit Ausdruck, als er beim Mahl mit den Brüdern Benjamin gegenüber auf das Grab und »seine Unkraft zu halten« (GW V, 1662) zu sprechen kommt: Schrill soll man weinen und jammern und nur ganz unter der Hand versichert sein, daß es gar keine Niederfahrt gibt, der nicht ihr Zubehör folgte, das Auferstehn. Was wäre denn das für ein Bruchstück und eine Halbheit von Festgeschichte, die nur bis zur Grube reichte, und dann wüßt’ sie nicht weiter? Nein, die Welt ist nicht halb, sondern ganz, und ein Ganzes das Fest, und Getrostheit, unverbrüchliche, ist in dem Ganzen (ibid.).

Die Welt ist nicht halb, sondern ganz – dieser Satz kann geradezu als das Grundgesetz der mythischen Welt angesehen werden. Joseph kennt dieses Gesetz, er sieht Leben, Welt und Fest als strukturell identisch an, weil alle drei nach den Regeln des Mythos funktionieren. Daher ermöglicht ihm seine mythische Schulung, die Strukturen des Festes auch in Welt und Leben zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten. Als er nach seinem zweiten Fall »mit zusammengebundenen Ellbogen« (GW V, 1293) auf dem Weg nach Zawi-Re ist, findet er sich erneut in einer Situation wieder, in der es »anspielungsreich zu[geht] […] und die Umstände sich 1218 Die Alternative besteht darin, Josephs Errettung nach genau drei Tagen sowie zahlreiche andere Übereinstimmungen zwischen Ereignissen der erzählten Welt und mythischen Mustern, auf die die Figuren keinen Einfluss haben, als Zufälle auffassen, was interpretatorisch wenig fruchtbar erscheint.

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durchsichtig erw[ei]sen für höhere Stimmigkeit« (ibid.). Wieder weiß Jaakobs Sohn sehr genau, was ›eigentlich‹ geschieht, wenngleich das ›prägende Muster‹ diesmal nicht himmlischen oder altvorderen Ursprungs ist, sondern Teil seiner persönlichen Vergangenheit: Seine Lage war die Wiederkehr einer schrecklich-altvertrauten: abermals lag er hilflos in Banden, wie er einst drei greuliche Schwarzmond-Tage lang in runder Tiefe bei den Rasseln und Kellerwürmern des Brunnenloches gelegen (GW V, 1293 f.).

Da Joseph seinen zweiten Fall als »eine Anspielung und eine Sache trauriger Ordnung und Stimmigkeit« (GW V, 1294) begreift, kann es nicht verwundern, dass er »Zawi-Re, die Inselfestung« (GW V, 1304), in Gedanken mit den selben Kategorien belegt wie zuvor den Brunnen zu Dotan: Sie ist »der Abgrund, in den der Wahrhafte Sohn steigt, Etura, der unterirdische Schafstall, Aralla, das Reich der Toten« (GW V, 1295). Diese Übereinstimmung aber bedeutet zugleich, dass auch auf die zweite ›Höllenfahrt‹ eine Auferstehung folgen muss, wie es dem Mythos und dem »Urvorbild […] des toten Mondes« (GW IV, 583) entspricht: Er nahm ab und starb; nach dreien Tagen aber würde er wieder emporwachsen. In den Brunnen des Abgrunds hinab sank Attar-Tammuz als Abendstern; aber als Morgenstern, das war gewiß, würde er wieder daraus erstehen (GW V, 1295).1219

Doch obgleich der Verbannung ins ›Loch‹ von Zawi-Re das selbe Muster zugrunde liegt wie dem Sturz in den Brunnen, ist eine Wiederauferstehung nach nur drei Tagen nicht zu erwarten. Jaakobs Sohn trägt den veränderten Umständen Rechnung, indem er davon ausgeht, dass diesmal die »Tage des Dunkelmonds […] Jahre sein würden« (ibid.), was ihn zu der Schlussfolgerung führt, er werde »nach seiner Stimmigkeitsberechnung drei Jahre« (GW V, 1304) in Zawi-Re verbringen müssen. Dass diese Vorhersage genau eintrifft, überrascht weder Joseph noch Mai-Sachme (vgl. GW V, 1372 f.), und der Erzähler begründet diese Tatsache ausdrücklich mit Josephs Einsicht in die Ordnung der mythischen Welt: Was könnte einleuchtender und richtiger sein, als daß Joseph, entsprechend den drei Tagen, die er zu Dotan im Grabe verbrachte, drei Jahre lang und weder kürzer noch länger in diesem Loche lag? Man kann so weit gehen, zu behaupten, daß er selbst dies von vornherein vermutet, ja gewußt und nach allem, was er als ordnungsschön, sinnvoll und richtig ansah, gar keine andere Möglichkeit auch nur in Betracht gezogen habe (GW IV, 823).1220

1219 »After the second fall Joseph’s perception of the pattern that governed it gives his dark despair a glimmer of hope. He knows that the sphere revolves and that his downfall implies also his future rise« [Nolte (1996), S. 148]. 1220 Wer diese Äußerung als ironisch auffasst, verkennt, dass die anthropomorphe Erzählinstanz die eigene Geschichte – inklusive Authentizitäts-Anspruch und mythischer Stim-

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Wieder bedient sich Joseph seines Wissens um die mythischen Muster, doch besteht gegenüber seinem ersten Grubensturz ein wichtiger Unterschied: War seine Seelenlage im Brunnen bestimmt von dem Glauben an eine Errettung nach dem Muster des Tammuz-Mythos (vgl. GW IV, 585), so hat dieser Glaube sich inzwischen in ein »gewisses Wissen« (GW V, 1296) verwandelt: Joseph ist sich seiner Sache so sicher, dass er ›keine andere Möglichkeit auch nur in Betracht‹ zieht. Dank seines Verständnisses der Ordnungsprinzipien der mythischen Welt, seiner geistigen Achtsamkeit und seiner mythologischen Kenntnisse ist er zu einem gewissen Grade in der Lage, zukünftige Ereignisse vorauszusehen. Als »die bewußteste Figur des Romans«1221 weiß er nicht nur, was ›eigentlich‹ geschieht, sondern auch, was geschehen wird. Und da dieses Wissen es ihm erlaubt, den ›Plan Gottes‹ zu erkennen und sich entsprechend zu verhalten, kann die Fähigkeit, auf der Grundlage der mythischen Prinzipien die weitere Entwicklung seines Lebens vorherzusagen und sich darauf einzustellen, als wichtiger Bestandteil des ›mythischen Genies‹ angesehen werden.

3.2.

Der mythische Hochstapler: Imitationes Deorum

Im Zentrum dieses Kapitels steht Josephs Gabe, seine Mitmenschen zu beeindrucken und »stutzen zu lassen« (GW V, 1330), indem er sich selbst als Verkörperung eines Gottes präsentiert. Neben Schönheit und mythischer Bildung ist es vor allem »eine außergewöhnliche Begabung für das Schauspielerische und die Kunst der Inszenierung […] sowie ein ungewöhnliches Talent für Sprache«,1222 das es ihm ermöglicht, in dieser Weise als »eine Art von mythischem Hochstapler«1223 aufzutreten: »Der Joseph des Romans ist ein Künstler, insofern er spielt« (GW IX, 499), ein »Lebenskünstler, [der] die ganze Welt zur Bühne erklär[t]«,1224 und es sind die Talente eines Künstlers, die ihm den Weg bereiten:

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1222 1223

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migkeit – vollständig ernst nimmt und nur ihrerseits von einer übergeordneten narrativen Instanz ironisiert wird; vgl. oben S. 322 ff. Schulz (2000), S. 73; vgl. zudem Eckhard Heftrich: Der Homo oeconomicus im Werk von Thomas Mann, in: Wunderlich, Werner (Hrsg): Der literarische Homo Oeconomicus. Vom Märchenhelden zum Manager. Beiträge zum Ökonomieverständnis in der Literatur, Bern 1989b, S. 153 – 169, hier : S. 163. Julia Schöll: ›Verkleidet also war ich in jedem Fall‹. Zur Identitätskonstruktion in ›Joseph und seine Brüder‹ und ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹, in: Thomas-MannJahrbuch 18 (2005), S. 9 – 29, hier : S. 23. Brief Thomas Manns an Erika Mann vom 23. 12. 1926, zitiert nach Mann (1999), S. 22. »Daß Joseph als Verwandter von Felix Krull entworfen wurde, hat Thomas Mann […] nie zu verwischen versucht, wohl aber das ambivalente Talent des Helden ins SchelmischHermetische gesteigert, der Hochstapelei also etwas vom blendenden, die Menschen verwirrenden Glanz des Göttlichen verliehen« [Heftrich (2005b), S. 462]. Auf die zahlreichen Parallelen der beiden Hochstapler-Figuren verweist im Detail Schöll (2005), S. 10. Ibid., S. 23; vgl. auch Marx (2002), S. 144.

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Selbstinszenierung, »Redekunst und Psychologie – ihnen verdankt[] er […] seine Aufnahme in Potiphars Haus«,1225 und sie machen auch seinen Aufstieg zum Vorsteher und schließlich seine Ernennung zum »Herrn des Überblicks« (GW V, 1478) über ganz Ägypten möglich. Auch seine Fähigkeit, Pharaos »reichswichtige Träume« (GW V, 1467) zu deuten, ist als Voraussetzung seines Aufstiegs von zentraler Bedeutung. 3.2.1. Tammuz Da die zentrale Bedeutung, die dem Tammuz-Mythos im Leben des jungen Joseph zukommt, bereits ausführlich erörtert wurde, soll seine bewusste Selbstidentifikation1226 mit diesem Gott nur noch exemplarisch anhand des Gesprächs dargestellt werden, in dem Joseph seinem Bruder Ruben »den Durchblick seines Ich […] zu dessen größter Verblüffung ein wenig« (GW IV, 582) öffnet. Ruben wirft ihm vor, er habe dem Vater die ketúnet wider dessen Willen abgeschwatzt,1227 und schließt seine Vorhaltungen mit der grundsätzli1225 Hermsdorf (1968), S. 210. 1226 Es herrscht in der Forschung Uneinigkeit darüber, wie Josephs imitatio eines mythischen Musters zu beurteilen sei. Schöll geht davon aus, dass es sich »nicht um das Erfüllen einer Rolle, sondern um eine neue Identität handel[e]« [Schöll (2005), S. 21], und sie stützt diese Lesart auf den mit dem Übergang vom Tammuz- zum Osiris-Muster »einhergehende[n] Wechsel des Namens, dieses mit der Identität so eng verknüpften Attributs« [ibid.]. Demgegenüber argumentiert Schulz, Joseph sei nicht »eins mit den Rollen, er begreif[e] sich nicht wirklich als die Wiederverkörperung des Gottes« [Schulz (2000), S. 344], sondern wahre stets seine Distanz, so dass von einer Identität mit dem mythischen Vorbild nicht die Rede sein könne: »Bei aller Identifikation mit mythischen Rollen bleibt doch das Individuum Joseph immer in Distanz zur vorgeprägten Rolle, die er kreativ gestalten und je nach Bedarf und Situation wechseln kann« [ibid., S. 342]. Beide Positionen, so gegensätzlich sie auch zu sein scheinen, schließen einander nicht aus: Schon am Beispiel Jaakobs konnte gezeigt werden, dass er in manchen Situationen Abraham ist (Identität), während er in anderen eine gewisse Distanz wahrt und sich nur auf das Vorbild des Mondwanderers bezieht (Identifikation). Gleiches gilt für Joseph: In der mythischen Welt der Tetralogie besteht keine Notwendigkeit, zwischen ›Sein‹ und ›Bedeuten‹ »sonnenklar zu unterscheiden« (GW IV, 122). Oder, wie Thomas Manns mythologischer Ratgeber Karl Ker¤nyi es ausdrückt: »Einen Gott zu spielen, das bedeutet nach primitiver Denkweise immer ein wenig auch Gott zu sein« [Karl Ker¤nyi: Die griechisch-orientalische Romanliteratur in religionsgeschichtlicher Beleuchtung, Darmstadt 1962, S. 254, Anm. 122; vgl. Mann (1999), S. 90]. 1227 Schöll vertritt die Ansicht, Joseph habe es auf die Usurpation der Erberwählung und des Abrahamssegens abgesehen: »Joseph […] schmeichelt dem Vater so lange, bis dieser ihm den prächtigen Brautschleier Rahels und Leas überlässt, der dem Segensträger vorbehalten ist, und inszeniert sich in dieser Aufmachung vor den Brüdern, um seinen Anspruch auf die Position des Erwählten zu untermauern« [Schöll (2005), S. 20; vgl. auch Hermsdorf (1968), S. 192 und Schulz (2000), S. 228]. Gegen diese Position lassen sich verschiedene Einwände erheben: Zunächst einmal ist die ketúnet nicht den Erstgeborenen zugedacht, sondern den »Lieblinge[n] unter den Zahllosen« (GW V, 308); außerdem er-

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chen Frage: »Sage, wer bist du, und welches ist dein Hochmut, dass du dich abseits stellst von uns allen und wandelst wie ein Besonderer?« (GW IV, 498). An Josephs Antwort lässt sich aufzeigen, wie es ihm gelingt, seine Mitmenschen davon zu überzeugen, dass »ein Höheres sich in ihm darstell[e], als was er [sei], so daß dies Höhere träumerisch-verführerisch ineinander[laufe] mit seiner Person« (GW V, 1685). Er begegnet Rubens Vorwurf, sich das Bildkleid widerrechtlich angeeignet zu haben,1228 mit dem Hinweis auf seine mythische Identität mit Rahel, der wahren Besitzerin des Schleiers: Ich und die Mutter sind eins […] Weißt du nicht, daß Mami’s Gewand auch des Sohnes ist und daß sie’s tragen im Austausch, der eine an Stelle des andern? Nenne mich, und du nennst sie. Nenne das Ihre, und du nennst das Meine. Also, wes ist der Schleier? (GW IV, 500).

Geschickt macht Joseph sich den Umstand zunutze, dass ›Mami‹, sein kindlicher Kosename für Rahel, zugleich »der irdisch-trauliche Name der Ischtar« (GW IV, 103) ist,1229 so dass er beide zugleich bezeichnet und ihre Identitäten ineinander übergehen lässt. Zugleich bezieht er sich auf die mythische Bedeutung des ›Schleiers‹, der »ein Truggewand […] und ein Kleid der Vertauschung« (GW IV, 890) ist, und beantwortet durch diese Anspielungen die Frage seines Bruders »auf so ungeheuerlich anmaßende Weise, daß es dem Ruben schwindelt[]« (GW IV, 500). Joseph gibt sich als Personifikation des Tammuz zu erkennen, und »[w]as eben noch eine realistische Auseinandersetzung unter Brüdern war, wird überlagert von einer impliziten Epiphanie«:1230 Ruben hält ihn »in diesem Augenblick nicht geradezu für eine verschleierte Doppelgottheit von beiderlei Geschlecht […]. Und dennoch [ist] seine Liebe nicht weit vom Glauben« (GW IV, 501). Diese Reaktion verdeutlicht, dass das Wissen um die Prinzipien des ›InSpuren-Gehens‹ und der ›offenen Identität‹ auch die Weltwahrnehmung von Jaakobs Ältestem bestimmt. Der »Durchblick seines Ich« (GW IV, 582), den Joseph ihm eröffnet, lässt »die Stapfen, in denen der junge Bruder wandelt[], vor Rubens Augen hell erschimmern« (GW IV, 501), weil sie nicht die eines Ahnen, hebt Joseph nie ausdrücklich Anspruch auf die Erstgeburt, sondern dieser wird ihm nur von Jaakob (vgl. GW IV, 415 und GW V, 1744), Benjamin (vgl. GW IV, 443 f. und GW IV, 446) und den Brüdern unterstellt (vgl. GW IV, 510). Außerdem ist zu bedenken, dass Joseph sich auf Rubens Frage, wer er denn sei (vgl. GW IV, 498), nicht als Segensträger ausweist, sondern als Personifikation des paganen Gottes Tammuz-Ischtar. – Auch Marx stellt fest, es gehe »Joseph offenbar nicht um die Frage der Erstgeburtswürde, sondern um die spielerische Identifikation mit der zweigeschlechtlichen Ischtar« [Marx (2002), S. 165]. 1228 Eine detaillierte Analyse von Josephs Vorgehen, als er seinem Vater die ketúnet abschwatzt, liefert MacDonald (1999), S. 162 – 165. 1229 Vgl. Lehnert (2005), S. 220. 1230 Ibid.

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sondern die eines Gottes sind. Doch so anmaßend diese Identifikation ihm auch erscheint, kann er doch nicht umhin, sie zu akzeptieren: Er war nicht der Mann, allein in aller Welt die Wichtigkeit der Frage zu verkennen, wer einer war, in welchen Fußstapfen er ging, auf welche Vergangenheit er seine Gegenwart bezog, um sie als Wirklichkeit dadurch auszuweisen (GW IV, 500).

In Rubens Augen ist Joseph Tammuz, genau wie Esau ›der Edom‹ ist und Jaakob Noah, als er seinen Erstgeborenen verflucht. Und dieser Ahnung, sich in der Gegenwart eines Gottes zu befinden, entspricht sein Verhalten: Er tritt »drei Schritte rückwärts mit gesenktem Haupt und [wendet] sich erst danach von Joseph hinweg« (GW IV, 501).1231 Bemerkenswert ist, dass Joseph keineswegs die ketúnet trägt, als er seine ›Epiphanie‹ vollzieht, sondern »einen gemeinen Rock mit Tuscheflecken darin« (GW IV, 493): Es ist nicht das ›bunte Kleid‹, das ihn in Rubens Augen zur ›verschleierten Doppelgottheit‹ werden lässt, sondern seine körperliche Schönheit und die »Magie des Wortes, die das Obere ins Untere [zieht], diese zwanglos freie und zweifellos echte Gefügigkeit der Sprache zu verwechselndem Zauber« (GW IV, 500 f.).1232 Davon, dass der Schleier diese Wirkung noch verstärkt, zeugt weniger die Reaktion Jaakobs, die von der Ähnlichkeit seines Sohnes mit Rahel bestimmt ist (vgl. GW IV, 483), als vielmehr Josephs Reise nach Schekem, auf der auch jene seinem Zauber erliegen, die ihn nicht persönlich kennen: »[N]icht zuletzt durch die Kraft des Schleiers erregt[] seine Erscheinung Gunst und Freude bei allen« (GW IV, 533), die er trifft, und manche halten ihn, »wiederum vermöge des Schleiers […], geradezu für einen Gott und zeig[]en Neigung, ihn anzubeten« (ibid.). Es ist Josephs androgyne Schönheit, die ihm diese Verkörperung der Doppelgottheit Ischtar-Tammuz ermöglicht: Mit siebzehn […] kann einer schöner sein als Weib und Mann, schön wie Weib und Mann, schön von beiden Seiten her und auf alle Weise, hübsch und schön, daß es zum Gaffen und Sichvergaffen ist für Weib und Mann. So war es mit Rahels Sohn, und darum heißt es, daß er der Schönste war unter den Menschenkindern (GW IV, 395).

Die ketúnet verwischt die sexuelle Eindeutigkeit des Jünglings noch weiter und verstärkt damit »nicht nur Josephs androgyne Ausstrahlung, [sondern] macht 1231 Die Frage, wie Joseph ein Gott sein und zugleich ein Mensch bleiben kann, wird im Zusammenhang mit dem Gespräch in Potiphars Palmengarten beantwortet: »Gleichzeitigkeit ist die Natur und Seinsart aller Dinge, ineinander vermummt erscheinen die Wirklichkeiten, und nicht weniger ist der Bettler ein Bettler, weil möglicherweise ein Gott sich in ihn verstellt. […] Zwischen Irdischem und Himmlischem ist die Grenze fließend, und nur ruhen zu lassen brauchst du dein Auge auf einer Erscheinung, damit es sich breche ins Doppelsichtige« (GW IV, 896). 1232 Zur Bedeutung der Sprache für die Identitätskonstitution von Manns Künstler-Helden Joseph und Krull vgl. Schöll (2005), S. 23.

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ihn allem Anschein nach zu einer Gottheit«,1233 so dass Jaakob »die Muttergöttin« (GW IV, 483) Rahel-Ischtar in ihm erblickt. Joseph verkörpert »die Aufhebung der Spannung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen, genau wie in ihm auch der Gegensatz zwischen Schönheit und Weisheit aufgehoben scheint.«1234 Und da die Dualität der Geschlechter eine der naturgegebenen Existenzbedingungen des Menschen darstellt,1235 lässt ihre Aufhebung in Josephs Person »unwillkürlich an Göttliches denken« (GW IV, 410). Die Bedeutung der Androgynie in Joseph und seine Brüder geht damit weit über ihre Funktion innerhalb des Tammuz-Mythos hinaus: Sie bildet »[a] major symbol of […] godlike perfection in the novel«.1236 Die Rolle des Tammuz ermöglicht es Joseph, sich »als ein Wesen [zu] präsentieren, das eigentlich schon mehr als halb und halb ein Gott ist«,1237 aber sie bringt ihn auch ›in die Grube‹, denn das Bewusstsein seiner Besonderheit trägt zu der »schwere[n] Trübung des Verhältnisses zwischen Joseph und seinen Brüdern« (GW IV, 409) bei, und neben seinen achtlosen Worten, er komme, »um nach dem Rechten zu sehen« (GW IV, 555), ist es vor allem sein Auftreten »im bunten Rock« (GW IV, 554), das ihren Gewaltausbruch hervorruft. Dieser führt zu Josephs ›Tod‹ und ›Höllenfahrt‹ in den Brunnen, aus dem er dem mythischen Muster gemäß »nach dreien Tagen« (GW V, 1295) gerettet wird. Doch tritt der Tammuz-Mythos als Erklärungsmodell vorübergehend in den Hintergrund, als er erfährt, dass er auf dem Weg ist ins »äffische Ägypterland« (GW IV, 685). Die Göttergestalt, die Joseph nun anstelle des Tammuz als mythisches Muster wählt, ist Osiris, der »König und Richter der Toten« (GW IV, 690), Herr der ägyptischen Unterwelt.

1233 Marx (2002), S. 164. 1234 Schulz (2000), S. 205. 1235 Der Erzähler führt aus, dass »die Menschenwürde sich in den beiden geschlechtlichen Abwandlungen des Männlichen und Weiblichen verwirklich[e], so daß man, wenn man keines von beiden darstell[e], zugleich auch außerhalb des Menschlichen« (GW V, 1086) stehe – entweder, wie Potiphar, als »ein Weder-Noch von ungöttlicher Außermenschlichkeit« (GW IV, 876), oder eben als ein Gott. 1236 Joseph M. Kenney : Apotheosis and Incarnation Myth in Mann’s ›Joseph und seine Brüder‹, in: The German Quarterly 56 (1983), S. 39 – 60, hier : S. 51. Joseph selbst erklärt die »Mannweiblichkeit, die beide Geschlechtsmächte in sich vereinigt[]« (GW IV, 875) zum Signum des Göttlichen, am deutlichsten in seinen auf PeteprÞs ›Wohlgefühl‹ berechneten Ausführungen im Palmengarten, in denen er sich bemüht, »aus null zwei zu machen« (GW V, 961). 1237 Schulz (2000), S. 217.

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3.2.2. Osiris Der bewusst vollzogene Wechsel des mythischen Vorbildes von Tammuz zu Osiris hat mehrer Gründe. Der wichtigste besteht darin, dass Joseph sich als »tot und dem Totenreich angehörig« (GW V, 969) betrachtet: Der Brunnen erscheint ihm als Grab, als »tiefer Einschnitt und Abgrund, der seine Gegenwart von der Vergangenheit« (GW IV, 668) trennt, und seine Errettung ändert nichts daran, dass er »zwischen seinem gegenwärtigen Dasein und dem früheren, dessen Abschluss die Grube« (ibid.) war, scharf unterscheidet.1238 Diese »Todesgebundenheit« (GW IV, 669) widerspricht dem Tammuz-Mythos, denn gemäß der Abfolge von Tod, Höllenfahrt und Auferstehung müsste Joseph nach seiner Befreiung aus dem Brunnen in sein »erste[s] Leben« (GW V, 960) zurückkehren und wieder »[d]es Vaters Liebling« (GW IV, 698) werden. Doch widersteht er dieser Versuchung und durchbricht damit den mythischen Kreislauf: Obwohl er aus der ›Grube‹ freikommt, verbleibt er »als ein Toter« (GW V, 1534) in der Unterwelt; zumal er von den midianitischen Kaufleuten ins Totenreich geführt wird, zu dem »der Brunnen der Eingang gewesen« (GW IV, 811) ist. Das Tammuz-Muster steht im Widerspruch zu Josephs gewandelten Umständen, und in einer bewussten Entscheidung1239 gibt er sein bisheriges Leben und seinen Namen auf: »Ich darf meinen Namen nicht kennen, wie ich mein Leben nicht kennen darf« (GW IV, 675). Der Verlust »dieses mit der Identität so eng verknüpften Attributs«1240 weist darauf hin, dass er zugleich seine frühere Identität aufgibt: Er ist »nicht Joseph mehr« (GW IV, 811), und auch nicht mehr Tammuz: »Im Exil der Unterwelt definiert Joseph seine eigene Identität als die eines Toten«,1241 und das passende mythische Vorbild liefert der alte Minäer, als er ihm von »des Zerrissenen zweiter Geburt und Wiedererstehung [berichtet], 1238 Der Erzähler bestätigt diese Unterscheidung, indem er den Umstand, dass Joseph nach seiner Rettung durch die Midianiter nicht »aus allen Kräften darauf gesonnen habe, mit dem bedauernswerten Jaakob die Verbindung aufzunehmen und ihn wissen zu lassen, dass er lebe« (GW IV, 668) für »so unwillkürlich und logisch notwendig [erklärt] wie das Schweigen eines Toten« (ibid.). 1239 »What makes his act so remarkable is the fact that he adopts this name consciously and apparently fully aware of its implications and allusions« [Nolte (1996), S. 44]. 1240 Schöll (2005), S. 21; vgl. auch Dürr (2006), S. 137 f. 1241 Schöll (2004), S. 263. Die Annahme Marquardts, »[s]chon am Anfang seines Weges nach Ägypten entwinde[] sich der Verschleppte allmählich der väterlichen ›Gewohnheit, Ägypten als Unterweltsland und seine Bewohner als Scheolsleute zu betrachten‹« [Franka Marquardt: Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹ und Robert Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹, Münster 2003, S. 155], ist angesichts dieser Befunde nicht plausibel. Auch die weitreichenden Schlussfolgerungen, die sie unter anderem zu der Behauptung führen, Josephs immer wieder formulierter »Vorbehalt« (GW V, 1139) gegenüber den »Wundern und Greueln Ägyptens« (GW V, 1305) »insinuiert das genaue Gegenteil des Beteuerten« [ibid., S. 157] und diene in Wahrheit dazu, Jaakobs geistige Haltung als einseitig und starrsinnig zu entlarven, vermögen nicht zu überzeugen.

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da […] Usir, das Opfer, der Erste des Westens ward, König und Richter der Toten« (GW IV, 690).1242 Dieser Wechsel des mythischen Musters drückt sich auch in Josephs »Totennamen« (GW IV, 693) Usarsiph oder Osarsiph aus, kann dieser doch gelesen werden als »Osiris Joseph«1243 und spielt damit auf die ägyptischen Glaubenslehre an, dass jeder »Verstorbene Usir [sei] und auch so heiß[e]« (GW IV, 690). Indem er diesen »aus Anspielungen gebildeten Namen« (GW V, 1332) annimmt,1244 in dessen »mystischen Silben […] Tod und Vergöttlichung« (GW V, 1049) anklingen, erhebt Joseph Anspruch auf eine »mythische Gottähnlichkeit«,1245 und die Gelegenheit, sich als Osiris zu inszenieren, bietet sich ihm, als er in Begleitung von »Cha’ma’t, de[m] Schreiber des Schenktisches« (GW V, 926) auf dem Weg ist nach Zawi-Re. Während sie den Nil hinabfahren, fragt der zukünftige Sträfling: »[K]ommt dir dies Ochsenboot nicht vor wie Usirs Barke, wenn er niederfährt […] auf seiner nächtlichen Fahrt? Mir kommt es auffallend so vor, das wisse!« (GW IV, 1301). Damit versteht er es erneut, sein Ich mit wenigen Worten für das Göttliche hindurchscheinend zu machen, und ebenso wenig wie Ruben kann Cha’ma’t sich der Wirkung dieser Selbstdarstellung entziehen: Während es Jaakobs Ältestem kalt »den Rücken hinunter[läuft]« (GW IV, 500), wird dem Schreiber bei Josephs Reden »die Haut graupelig […] wie die Haut einer Gans« (GW IV, 1301): [Du] vergleichst diesen Kahn, der doch der Kahn deiner Schande ist, mit Usirs Abendbarke […] – ›auffallend‹, sagst du, gleiche der Kahn jener Barke, und weißt damit 1242 Da Tammuz und Osiris »in ihrem Mythos die gleiche Kombination von Fruchtbarkeitsfunktionen und Tod- und Auferstehungsglauben« aufweisen [Schulz (2000), S. 105], erscheint Josephs Identitäts- und Rollenwechsel nicht als ein vollständiger Bruch mit seiner Vergangenheit, sondern vielmehr als eine Adaption und Anpassung an die veränderten Umstände seines zukünftigen Lebens in Ägypten. Zu den Übereinstimmungen zwischen beiden Göttergestalten vgl. ibid., S. 97 – 106. 1243 Grimm (1993), S. 236. 1244 Neben der Bedeutung als ›Totenname‹ ist der Name Osarsiph auch ein ›Schweigename‹, »da der von Abúdu darin vorkommt, de[m] Herr[n] des ewigen Schweigens« (GW IV, 801 f.). Außerdem deutet er »in seiner dritten Silbe« (GW IV, 851) an, Joseph sei »ein Findling […] aus dem Schilfe und [sei] vielleicht in einem Binsenkörbchen umhergetrieben, bis ihn ein Wasserschöpfer« (ibid.) aus dem Nil gezogen habe, was auf die Legende von ›Akki, dem Wasserschöpfer‹ anspielt, die Joseph vor Potiphar erwähnt (vgl. GW IV, 886). Jenseits der fiktionalen Welt handelt es sich um eine Anspielung auf die biblische Moses-Figur. 1245 Lehnert (1993), S. 108. – Joseph »inszeniert seinen neuen Namen […] ebenso theatralisch wie seine ganze Person« [Schöll (2004), S. 278], indem er ihn selten ausspricht, ohne eine »Pause voranzuschicken, die nicht gut dem Nachdenken gelten« (GW IV, 897) kann, sondern dazu dient, seinen Gesprächspartner »stutzen zu lassen« (GW V, 1330). Dieses ›Stutzen‹, »eine Bewegung, die Joseph bei allen Menschen hervorzurufen« (GW IV, 883) trachtet, provoziert er meistens dadurch, dass er seinem Gegenüber für einen Moment »den Durchblick seines Ich« (GW IV, 582) eröffnet, wie er es Ruben gegenüber getan hat.

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in der schlichten Seele den Verdacht zu erregen, daß er’s am Ende wirklich sei und du seist möglicherweise wirklich RÞ, wenn er Atum heißt und umsteigt in die Barke der Nacht – daher die Graupelhaut (ibid.).1246

Ruben, dessen Verhältnis zu Joseph von »grimmig verschämte[r] Liebe zu dem Verhaßten« (GW IV, 564) und einer »unnennbare[n] Rührung über die plappernde Unschuld des Erkorenen« (GW IV, 514) geprägt ist, weiß der Wahrnehmung des Göttlichen in der Person des Bruders nicht anders zu begegnen als mit einem demütigen Augenniederschlag; Cha’ma’t hingegen reagiert mit Verärgerung und Widerwillen auf die Anmaßung des Ex-Meiers, sich »im Höchsten zu spiegeln und [s]ich mit ihm zu verwechseln« (GW IV, 1301).1247 Seine Reaktion zeigt, dass Joseph mit seiner imitatio des Osiris in Ägypten eine ähnliche Wirkung erzielt wie in seiner heimatlichen Sphäre mit der Personifikation des Tammuz. Die Bedeutung dieses Rollenwechsels erschöpft sich jedoch nicht in der Möglichkeit, auch Ägypter ›stutzen zu lassen‹, denn Josephs ganze Karriere im Land seiner Entrücktheit folgt »dem mythischen Vorbild seines ›raffiniert‹ gewählten Namenspatrons Osiris, dessen charakteristisches altägyptisches Epitheton Erster der Westlichen (d. h. der Verstorbenen) lautet«.1248 Indem er Osiris als mythisches Rollenvorbild wählt, fasst Joseph den Beinamen des Gottes als persönliche Handlungsanweisung auf, an der er fortan sein Leben ausrichtet: »Geht man schon gen Westen, muß man zumindest der Erste werden der Dortigen« (GW IV, 690).1249 Damit vollzieht er einen Paradigmenwechsel von einem zyklischen zu einem partiell teleologischen Lebensmuster : Der Mythos des Vegetations- und Fruchtbarkeitsgottes Tammuz besteht aus 1246 Im »lehrhaften On« (GW V, 1385) erfährt Joseph, dass »Usir der Herr der Nachtbarke [ist], in welche […] RÞ nach Untergang [umsteigt], um von Westen nach Osten zu fahren und den Unteren zu leuchten« (GW IV, 735), und dass folglich »diese beiden großen Götter […] ein und derselbe« (ibid.) sind. 1247 Aus dieser inneren Abgerücktheit heraus gewinnt Cha’ma’t eine intuitive Ahnung davon, dass Josephs Identität keine feste, in sich geschlossene Einheit bildet, sondern vielfältig, wandelbar und deshalb für einen Außenstehenden nicht recht fassbar ist: »[I]ch sehe, derselbe bist du geblieben im Elend, die Plage ist nur, daß niemand weiß, was das heißt bei dir : derselbe; denn es gleicht den bunten Bällen, die Tänzerinnen aufgehen lassen aus ihren Händen und wieder fangen, und man unterscheidet sie nicht, sondern in der Luft bilden sie einen blanken Bogen« (GW V, 1301). – Wie genau die beiden Hochstapler und Lebenskünstler Joseph und Felix Krull ihre jeweilige Identität konstruieren, untersucht Schöll (2005). 1248 Grimm (1993), S. 237. 1249 Wie Joseph bei seiner ersten ›Höllenfahrt‹ aus seiner Kenntnis des Tammuz-Mythos auf seine Befreiung geschlossen hat, schließt er hier vom Beinamen des Osiris auf sein zukünftiges Schicksal – allerdings mit dem bedeutsamen Unterschied, dass es sich in diesem Fall um eine self-fulfilling prophecy handelt, die vor allem deshalb eintritt, weil Joseph das Seine tut, um sie wahr werden zu lassen. Dürr formuliert: »Daß Joseph nach Westen gehen muß, liegt außerhalb seiner Macht. Jedoch der Erste im Westen zu werden, ist sein Entschluß« [Dürr (2006), S. 138].

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einer endlosen Abfolge von Tod, Höllenfahrt und Wiedererstehung, in der es »keinen Platz für eine Entwicklung«1250 gibt. Im Gegensatz dazu bildet der Anspruch, »der Erste […] der Unteren« (GW V, 1717) zu werden, eine Herausforderung für Joseph, der beim Einzug nach Ägypten »der Letzte […] von den Unteren« (GW IV, 811) ist. In einem Leben, das bisher weitgehend von zyklischen Strukturen bestimmt wurde, tritt damit unversehens das linear-progressive Konzept des Aufstiegs in Erscheinung.1251 Die wahre Bedeutung von Josephs Entschluss, sein Leben nach der Befreiung aus dem Brunnen an einem progressiv-teleologischen statt einem zyklischen Muster auszurichten, wird erst erkennbar, wenn man bedenkt, dass der Gedanke des Aufstiegs mit einem der drei »Traummotive« (GW IV, 722) in Verbindung steht, »die gleichsam die musikalische Substanz seines geistigen Lebens« (ibid.) bilden: Entrückung, Erhöhung und Nachkommenlassen.1252 Durch den Verkauf an die Ismaliter wird Joseph nach Ägypten entrückt, aber das ›Nachkommenlassen‹ ist nur als Folge der Erhöhung möglich – und diese vollzieht sich nach dem Muster des Osiris. Zudem bildet die gedankliche Trias von »›Entrückung‹, ›Erhöhung‹ und ›Nachkommenlassen‹« (GW V, 1373) das Bindeglied zwischen dem Einzelschicksal des Jaakobssohnes und dem seines Familienstammes: Schon als er nach Gosen kommt, sinniert er darüber, wie sehr »vor allem das Entrückungsmotiv der Ergänzung bedürfe durch das der Erhöhung, ehe das […] ›Nachkommenlassen‹ an der Reihe sein würde« (GW IV, 722), und der Erzähler betont ausdrücklich, schon damals hätten »seine Gedanken eine luftige Brücke [geschlagen] zwischen den blanken Wiesen hier und der Sippe daheim« (ibid.). Jaakob gegenüber erläutert Joseph sein Verständnis von Gottes Plan: Dich, mein Vater, und mich hat Er hart angefaßt und uns einander genommen, daß ich dir starb. Er meint’ es und tat’s. Aber in einem damit meint’ Er, mich vor euch herzusenden um der Errettung willen, daß ich euch versorgte, dich und die Brüder und dein ganzes Haus in der Hungersnot, die Er im vielbedeutenden Sinne trug (GW V, 1742).

Josephs Ehrgeiz, der ›Erste des Westens‹ zu werden, ist Ausdruck seiner »Lust und Entschlossenheit, sich auf die Höhe zu bringen von Gottes Absichten« (GW V, 935): »[N]icht nur einige soll[]en sich vor ihm bücken, sondern alle, mit Ausnahme von einem, nämlich dem Höchsten« (ibid.). Damit soll jedoch nicht 1250 Schulz (2000), S. 195. 1251 Josephs Geschichte kann als eine Kombination von zyklischen und linear-progressiven Elementen verstanden werden, denn er muss den Tammuz-Zyklus von Tod, Höllenfahrt und Wiederaufstieg zweimal durchlaufen, beim zweiten Mal auf einer ›höheren‹ Ebene: Der Brunnen ist nur »ein Grab […], von kleinerem Umlauf herangebracht« (GW IV, 622), und erst nach der Befreiung aus Zawi-Re erfüllt sich Gottes Plan. 1252 Die gedankliche Dreiklang von ›Entrückung‹, ›Erhöhung‹ und ›Nachkommenlassen‹ taucht zum ersten Mal in Josephs ›Himmelstraum‹ auf; vgl. GW IV, 460 – 469.

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unterstellt werden, er sei sich dieser weitreichenden Implikationen vollständig bewusst, als er seine neue Rolle wählt. Zwar hat er durchaus eine Ahnung davon, dass Gott »einen zukünftig-fernen Zweck« (GW IV, 575) mit ihm verfolgt, sieht die Ereignisse also als Teil eines göttlichen Plans an, doch beginnt er diesen Plan erst im Laufe seines Lebens mehr und mehr zu durchschauen. Joseph wählt das Muster des Osiris, weil es den veränderten Umständen seines ›zweiten Lebens‹ angemessener ist als das des Tammuz, und er gibt sich den Namen Osarsiph, weil dessen Konnotationen von Tod und Vergöttlichung es ihm erleichtern, seine Mitmenschen ›stutzen zu lassen‹. Zugleich jedoch ermöglicht dieser erste ›mythologische Paradigmenwechsel‹1253 seinen Aufstieg zur Macht und damit die Erfüllung der Pläne Gottes. 3.2.3. Gilgamesch, Thot und der Bringer der neuen Zeit Die imitatio des Osiris wird für Joseph in dem Augenblick problematisch, als er sich mit den Nachstellungen Mut-em-enets konfrontiert sieht, und sein Verhalten illustriert exemplarisch, wie er sich seiner Fähigkeit zum mythischen Rollenwechsel bedient, um mit einer potentiell verhängnisvollen Situation umzugehen. Den Forderungen der Herrin nachzugeben, würde »den gröbsten und zukunftsschädlichsten Fehler« (GW V, 1145) bedeuten, wäre es doch »gleichbedeutend mit einer Schändung der Vaterfiguren Jaakob, Mont-Kaw und Petepre [sic!]«1254 und letztlich mit einem Verrat an Gott. Andererseits bildet »die Erweckung des toten Osiris durch das über ihm schwebende Geierweibchen […], das den Horus von ihm« (GW V, 1129) empfängt, eine der zentralen Szenen des Osiris-Mythos, und der Erzähler weist ausdrücklich »auf die starke Übereinstimmung dieses Bildes mit den wirklichen Umständen« (ibid.) hin: Joseph ist Osiris, und Mut-em-enets mythologisch-religiöse Rolle ist die der Eset, was sich schon daran zeigt, dass sie, »wenn sie vor Amun tanzt[] als Nebenfrau Gottes, die Geierhaube« (ibid.) trägt. Josephs Dilemma besteht also darin, dass seine mythische Rolle genau das von ihm verlangt, was er aus religiös-moralischen Erwägungen unmöglich tun kann. Er befreit sich aus dieser »Zwicklage« (GW IV, 601), indem er kurzerhand »aus der Rolle des zeugenden Osiris […] in die des widerstrebenden Gilgamesch«1255 wechselt. Diese beiden mythischen 1253 Der zweite besteht in der Annahme der Hermes-Rolle; vgl. unten S. 381 – 386. 1254 Dedner (1988), S. 38. 1255 Schulz (2000), S. 212. Ein Überblick über das Gilgamesch-Epos findet sich ibid., S. 128 – 134. – Um die Rolle des Gilgamesch übernehmen zu können, muss Joseph den babylonischen Mythos auf die eigene ägyptische Lebenssituation übertragen. Einmal mehr beweist er dabei seine mythische Achtsamkeit, indem er erkennt, »was gespielt« (GW V, 1132) wird: »,So, so‹, dachte Joseph, indem er die arme Mut betrachtete. ›Anu’s verbuhlte Tochter bist du in deiner Wahrheit und weißt es am Ende selber nicht. […]‹« (GW V, 1133).

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Muster sind »mutually exclusive: the Isis-Osiris pattern is fulfilled in the sexual act, whereas the Ishtar-Gilgamesh pattern is fulfilled precisely in its non-consummation.«1256 Das Vorbild Gilgameschs kann Joseph somit als »mythische Rechtfertigung seines Handelns in einer Lebenskrise«1257 dienen, und seine Rollenwechsel werden als bewusst eingesetztes Mittel erkennbar, als Reaktion auf die Erfordernisse seines Lebens, mit dessen wechselnden Anforderungen er fertig werden kann, eben weil er nicht starr einer einzigen Rolle verhaftet ist, sondern sich frei in ihnen1258

und zwischen ihnen bewegt. Bei einer anderen Gelegenheit nimmt Joseph die Rolle eines Gottes sogar nur für wenige Augenblicke an, zu dem spezifischen Zweck, eine ganz bestimmte Person ›stutzen zu lassen‹: Eben im Hause PeteprÞs eingetroffen, legt er es darauf an, mit seinem geistreichen Wortspiel vom ›doppelten‹ und ›gerechten‹ Preis (vgl. GW IV, 795 f.) die Aufmerksamkeit Mont-kaws zu erregen. Der Hausmeier stutzt auch wirklich nach Wunsch und fasst ihn mit einer Verwunderung ins Auge […], die sich rasch zur Betroffenheit verstärkte und schon nach kurzer Dauer eine vom Namen der Verwunderung nur wenig verschiedene, aber ungleich tiefer lautende Bezeichnung verdient hätte (GW IV, 796).

Die Bewunderung des Hausmeiers rührt daher, dass die Assoziationen, die Josephs Aussehen und Auftreten bei ihm auslösen, unweigerlich eine Verbindung zwischen dem Sklaven und dem Gotte Thot herstellen:1259 Es geschah, daß er den Sohn der Rahel erblickte und sah, daß er schön war. Die Idee des Schönen aber […] hing denkgesetzlich für ihn mit der Vorstellung des Mondes zusammen, der seinerseits das Gestirn Djehuti’s von Chmunu, die Himmelserscheinung Thots […] war. Nun stand da Joseph vor ihm, eine Schriftrolle in der Hand, und sprach für einen Sklaven, auch selbst für einen Schreibersklaven, recht schalkhaft spitzfindige und kluge Worte – das fügte sich beunruhigend in die Gedankenverbindung (GW IV, 797).

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Auch Josephs Unterricht erweist sich erneut als nützlich, denn ohne die Kenntnis der »große[n] Versfabeln der Urzeit« (GW IV, 408), die Eliezer ihn hat lesen lassen, wäre er nicht in der Lage gewesen, das Gilgamesch-Muster zu erkennen. Cunningham (1985), S. 123. Schulz (2000), S. 134. Eine ähnliche Funktion erfüllt die Berufung auf das Vorbild Batas, einer Figur in der von Mai-Sachme so hochgeschätzten Geschichte von den zwei Brüdern (vgl. GW V, 1204); vgl. auch Nolte (1996), S. 113. Schulz (2000), S. 143 f. Schon Baumgart weist auf diesen erneuten Rollenwechsel hin: »Mont-kaw ›stutzt‹ nicht mehr über Josephs intendierte Usir-Rolle, sondern spürt in seiner Vereinigung von Schönheit und Geist eine Anspielung auf den Schreiber-Gott Thot-Djehuti« [Reinhard Baumgart: Das Ironische und die Ironie in den Werken Thomas Manns, Frankfurt am Main 1964, S. 159]. Sein Hinweis ist in der Forschung bisher allerdings nicht aufgenommen worden.

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Gekonnt inszeniert sich Joseph als ›schalkhafter Schreibsklave‹ mit Schönheit, Witz und Redegabe, um »im Herzen des Anschauenden das Zweckdienliche hervorzurufen« (GW IV, 796) und so in den Augen Mont-kaws als ›göttlich‹ zu erscheinen. Der signifikante Unterschied zu seinen Selbstinszenierungen als Tammuz oder Osiris besteht in der aktiveren Einbeziehung des Vorstehers: Anders als Ruben oder Ch’ama’t weist Joseph ihn nicht explizit auf die Bedeutung seiner Anspielungen hin,1260 sondern verlässt sich darauf, der Meier, der trotz seiner Bescheidenheit »im Still-Geheimen höheren Einflüsterungen sehr wohl zugänglich« (GW V, 983)1261 ist, werde die Zusammenhänge selbst herstellen und zu der intendierten Schlussfolgerung gelangen: Der junge Bedu […] war […] kein Gott, nicht Thot von Chmunu. Aber er hatte gedanklich mit ihm zu tun und erschien zweideutig, wie gewisse Worte es sind, zum Beispiel das Eigenschaftswort ›göttlich‹: diese Ableitung, die […] sich […] halb im Uneigentlichen und Übertragenen hält, aber, schwankenden Sinnes, auch wieder Eigentlichkeit beansprucht, insofern ›göttlich‹ das Wahrnehmbar-Eigenschaftliche, die Erscheinungsform also des Gottes besagt (GW IV, 797).

Joseph beschränkt sich darauf, durch genau kalkulierte Anspielungen eine Verbindung zu Thot anzudeuten, was Mont-kaw »dazu verleitet […], ihn mit dem Ibisköpfigen zu verwechseln« (GW V, 993). Aber es ist der Vorsteher, der letztlich urteilt, nicht Thot von Chmunu vor sich zu haben, sondern einen Menschen, der auf eine zweideutig-schwankende Weise am Göttlichen teilhabe.1262 Diese neue Methode, die eigene Person für das Göttliche durchscheinend zu machen, indem er den Betrachter mit einbezieht, gewinnt an Bedeutung, wenn Joseph keine spezifische Göttergestalt mehr verkörpert, sondern als namenlose Erlöserfigur auftritt,1263 wie etwa in dem Gespräch mit dem minäischen Kauf1260 Zu seinem Bruder sagt Joseph: »Ich und die Mutter sind eins« (GW IV, 500), und den ägyptischen Schreiber konfrontiert er mit der Frage: »[K]ommt dir dies Ochsenboot nicht vor wie Usirs Barke«? (GW IV, 1301). 1261 Der Erzähler führt Mont-kaws erhöhte Sensibilität auf die Wirkung seiner »wurmige[n] Niere« (GW V, 985) zurück, indem er die Vermutung ausspricht, dass der Meier ohne ihre »den Lebensmut zwar still herabsetzende, das Gemüt aber verfeinernde Wirkung […] kaum der delikaten Eindrücke fähig gewesen wäre, die er bei Josephs erstem Anblick gewonnen« (GW V, 985) habe. Damit wird, wenn auch nur von fern, das Motiv der steigernden Wirkung der Krankheit angespielt, das im Zauberberg und im Doktor Faustus von zentraler Bedeutung ist. 1262 Obgleich Mont-kaw sich dieses Eindrucks zu erwehren versucht, bestimmt er sein weiteres Verhalten gegenüber Joseph, und »nicht selten […] erneuer[n] sich in ihm die eigentümlich wankenden Gefühle, die ihn einst, als jener zuerst, die Buchrolle in Händen, vor ihm stand, so zweideutig bewegt« (GW V, 933 f.) haben. 1263 Diese Form der imitatio ist in Ägypten die Regel: Trotz der eminenten Bedeutung, die dem Osiris-Muster in struktureller Hinsicht zukommt, ist Cha’ma’t der einzige, dem gegenüber sich Joseph tatsächlich in dieser Rolle inszeniert. Weder der alte Minäer noch Mont-kaw,

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mann. Dieser erläutert gerade, dass er sogar »Mären und Vorkommnisse[]« (GW IV, 676) für möglich halte, die »nicht für wahrscheinlich gelten« (ibid.) könnten, als er plötzlich ›stutzt‹: ›Ich weiß von jenem, der aus Adel und schönem Range, darin er sich kleidete mit Königsleinen und sich salbte mit Freudenöl, getrieben wurde in Wüste und Elend –‹ Hier unterbrach sich der Kaufmann und blinzelte (ibid.).

Was den Midianiter verstummen lässt, ist die frappierende Übereinstimmung des Legenden-Musters mit dem, was er über das Vorleben seines Käuflings vermutet: Während der Verhandlung mit den Brüdern kommt er zu der Überzeugung, Joseph habe, ehe er ›in die Wüste verkauft‹ worden sei, »allenfalls bessere Tage gesehen« (GW IV, 680) – sein Schicksal entspricht somit in seiner Grundstruktur der Mär des Midianiters. Doch nicht diese Übereinstimmung selbst lässt ihn stutzen, sondern mehr noch die »notwendige und gegebene Folge seiner Rede« (GW IV, 676): Es gibt tief ausgefahrene Gedankengeleise, aus denen man nicht weicht, wenn man einmal darin ist; urgewohnt fix und fertige Ideenverbindungen, die ineinanderfassen wie Kettenglieder, so daß, wer da A gesagt, nicht umhin kann, auch B zu sagen oder es doch zu denken (GW IV, 676 f.).

Und so zieht die halb bewusste Ahnung des Minäers, auch Joseph könnte »aus Adel und schönem Range […] in Wüste und Elend« (GW IV, 676) getrieben worden sein, weitreichende Schlussfolgerungen nach sich: [S]chon indem der Alte von Jenem sprach, der da aus schöner Hoheit in Wüste und Elend getrieben wird, war er ins Göttlich-Schablonenhafte geraten. Daran aber hing unverbrüchlich der Nachsatz vom Emporsteigen des Erniedrigten zum Retter der Menschen und Bringer der neuen Zeit (GW IV, 677).

Dieser Gedanke ist es, der den Midianiter »in stiller Betroffenheit« (ibid.) innehalten lässt: Wie Ruben und Cha’ma’t in Joseph eine »verschleierte Doppelgottheit« (GW IV, 501) oder den ägyptischen Totengott erkennen, so kann der alte Kaufmann sich des Verdachts nicht erwehren, in dem »schilfgebürtigen Hundejungen« (GW IV, 611) eine Erlösergestalt vor sich zu haben. In diesem Fall ist es jedoch nicht Joseph, der sich als ›Bringer der neuen Zeit‹ präsentiert, es ist der Ma’oniter, der das vertraute Muster der Erlösergestalt auf Person und Umstände seines neu erworbenen Sklaven überträgt – Joseph beschränkt sich darauf, dessen »gelinde Betroffenheit« (GW IV, 677) durch die »mehrdeutiganzügliche Dunkelheit« (ibid.) seines Blicks »zu einer Art von Beunruhigung, Mai-Sachme oder PeteprÞ nehmen ihn je als Personifikation des Totengottes wahr. – Die Hermes-Rolle, die Joseph vor Pharao einnimmt, wird an dieser Stelle noch nicht berücksichtigt, da ihre Besonderheit erst im nächsten Argumentationsschritt verdeutlicht werden kann; vgl. unten S. 381 – 386.

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einem tieferen Stutzen, ja einem […] Schrecken« (ibid.) zu verstärken. Bei seiner Begegnung mit Mai-Sachme ist seine Selbstinszenierung schon weniger dezent, denn bereits die ersten Worte, die er an den Amtmann richtet, sind bewusst gewählt: »Ich bin’s« (GW V, 1308) ist die mythische Formel des Sich-zu-erkennen-Gebens, eines Aktus, urbeliebt in kündender Erzählung und Götterspiel, mit welchem die Vorstellung eine Reihe gleichartiger Wirkungen und Folgehandlungen, vom Augenniederschlagen bis zum verdonnerten Auf-die-KnieStürzen selbsttätig verbindet (GW V, 1309).

Unterstützt von Josephs Schönheit, die geeignet ist, »den Sinn eines mit ernstem Lächeln gesprochenen ›Ich bin’s‹ ins Träumerische zu rücken« (ibid.), bleiben diese anspielungsreichen Worte nicht ohne Wirkung: Auch Mai erkennt in seinem Gefangenen »den Bringer einer neuen Zeit« (GW V, 1329), und der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass Joseph zwar durch Wortwahl und Auftreten diesen Eindruck ermöglicht, es sich bei dem »Nimbus des Göttlichen« (ibid.), der ihn umgibt, aber vor allem um ein Rezeptionsphänomen handelt, das Mai-Sachme selbst generiert: Schon leise Andeutungen, Erinnerungen und Hinweise in den Zügen einer Gestalt genügten ihm, die Fülle und Wirklichkeit des Angedeuteten in ihr zu erblicken, und das war in Josephs Fall die Gestalt des Erwarteten und des Heilbringers, der kommt, um das Alte und Langweilige zu enden und unter dem Jauchzen der Menschheit eine neue Epoche zu setzen (ibid.).1264

Ein deutlich komplexeres Beispiel für Josephs gewandelte Strategie der Selbstinszenierung bildet sein Gespräch mit Potiphar im Palmengarten, in dem die Voraussetzungen für Josephs Aufstieg im Hause des Wedelträgers geschaffen werden.1265

1264 Vgl. Schulz (2000), S. 345 und Nolte (1996), S. 124. 1265 Das »Wohlgefühl des Vertrauens« (GW V, 997), »das der ebräische Sklave dem Freunde Pharao’s immer aufs neue zu erregen« (GW V, 925) versteht und das die Grundlage seines Aufstiegs bildet, ist allerdings nur mittelbar auf seine ›Göttlichkeit‹ zurückzuführen. Von größerer Bedeutung ist seine außergewöhnliche Geschicklichkeit darin, PeteprÞ »schmeichelhaft behilflich zu sein und mit schonender Liebesdienstlichkeit seine hohle Würde zu stützen« (GW IV, 898). Er bedient sich seiner Bildung, seines Scharfsinns und vor allem seiner Redegabe, um dem Herrn die »verstümperte[] Nullheit« (GW IV, 876) seiner Existenz als göttliche Androgynie und geistige Fruchtbarkeit erscheinen zu lassen (vgl. GW IV, 895), und diese Fähigkeit macht ihn für PeteprÞ unentbehrlich (vgl. GW V, 1062). – Wie es Joseph gelingt, »aus null zwei zu machen« (GW V, 961), wird hier nicht weiter ausgeführt, da diese Frage in der Forschung bereits untersucht worden ist, vgl. vor allem Eisenhauer (1991), S. 233 – 239 und MacDonald (1999), S. 199 – 203.

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From his familiarity with countless myths, Joseph knows exactly how to present himself as a savior-figure, and in his first meeting with Potiphar he makes, by mere allusion, all the primary characteristics his own.1266

Schon seine Antwort auf PeteprÞs schlichte Frage, ob er das Handwerk des Gärtners liebe, stellt gezielte Verbindungen her zur Sphäre mythischer Erwähltheit: »Wie sollte ich des Gärtners Amt nicht lieben […], da es ja wohlgefällig ist Göttern und Menschen […], und Erwählte übten es aus in der Vorzeit« (GW IV, 886). Er demonstriert seine Bildung, indem er drei ›Mären‹ anführt, seine Ansicht zu untermauern,1267 und die erwartbare Rückfrage Potiphars, woher der Sklave diese Geschichten kenne, gibt ihm die Gelegenheit, von »[s]eines Vaters Ältestem Knechte« (GW IV, 887) zu sprechen und wie beiläufig zu erwähnen, dass er lesen und schreiben könne. Als der Wedelträger sich durch einen »gewisse[n] poetische[n] Tonfall […], etwas unbestimmt Anspielungshaftes« (GW IV, 886) in dieser Antwort dazu veranlasst sieht, sich nach dem Vorleben des Sklaven zu erkundigen, berichtet Joseph, er habe »in schönem Range« gelebt und sich salben dürfen »mit Freudenöl die Tage der Kindheit hin«, ehe er »in Wüste und Elend« (alle GW IV, 890) getrieben worden sei.1268 Diese Antworten entsprechen bis in die Formulierungen hinein dem vertrauten Muster des Erwählten, »der aus Adel und schönem Range, darin er sich […] salbte mit Freudenöl, getrieben wurde in Wüste und Elend« (GW IV, 676), so dass in Josephs Schicksal obere und untere Wirklichkeit, das Göttliche und das Menschliche »ineinander vermummt erscheinen« (GW IV, 896). In dem Streitgespräch mit Mut-em-enet über Josephs Entfernung von Haus und Hof äußert PeteprÞ: [S]eine Leidensgeschichte […] hat zwar ihre eigene Wirklichkeit für sich selbst, scheint aber außerdem auf ein höher Vorgeschriebenes Bezug zu nehmen und sich damit ins Einvernehmen zu setzen, so daß du das eine schwerlich vom anderen unterscheidest, 1266 Nolte (1996), S. 110; vgl. auch Lehnert (1993), S. 106. 1267 Zwei dieser ›Mären‹ handeln davon, wie ein Gärtner zum König wird (vgl. GW IV, 886), und eine von diesen, die Geschichte von dem Kind, das in einem Schilfkorb ausgesetzt und von »Akki, dem Wasserschöpfer« (ibid.) in der »feine[n] Kunst des Gartens« (ibid.) unterwiesen wird, hat einen verschlüsselten Bezug zu Joseph, dessen ›Totenname‹ Osarsiph »in seiner dritten Silbe« (GW IV, 851) die Möglichkeit andeutet, er sei »ein Findling […] aus dem Schilfe und [sei] vielleicht in einem Binsenkörbchen umhergetrieben, bis ihn ein Wasserschöpfer« (ibid.) aus dem Fluss gezogen habe. Joseph hebt diese Verbindung noch hervor, indem er Potiphar als »Akki, großer Wasserschöpfer« (GW IV, 891) anspricht und sich auf diese Weise unmittelbar mit »Scharuk-inu, dem Gärtner« (GW IV, 886) identifiziert, der von einem ausgesetzten ›Binsenkind‹ zum Herrscher geworden sei. 1268 Joseph lässt die eigene Identität verschwimmen, indem »hochstaplerisch in die 3. Person wechselt« [Eisenhauer (1991), S. 237], als er von ›sich‹ spricht: »Der Beschenkte wurde getrieben in Wüste und Elend, gestohlen wurde er und verkauft« (GW IV, 890), so dass Potiphar sich zu der Frage veranlasst sieht »Sprichst du von dir?« (ibid.).

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eines sich in dem andern spiegelt und alles in allem eine anziehende Zweideutigkeit um den Jüngling ist (GW V, 1050).

In der Szene im Palmengarten erreicht Josephs sprachliche Selbstinszenierung ihren Höhepunkt: In dem, was der Jüngling am Baum über sein Vorleben ausgesagt, war mehreres Vertraute, schelmisch Erinnernde und Anmahnende gewesen, das in gewissem Grade als literarische Reminiszenz anzusehen sein mochte, wovon aber schwer zu sagen war, wieweit es auf willkürlicher Anordnung und Angleichung beruhen und wieweit im Sachlichen begründet sein mochte: Züge, die das Leben ins Göttliche übergehender, heilbringender, tröstender und errettender Wohltätergestalten kennzeichneten (GW IV, 896 f.).1269

Potiphar, der diese Anspielungen nicht nur deutet, sondern auch als ›literarische Reminiszenzen‹ erkennt, durchschaut im Gegensatz zu Mont-kaw oder MaiSachme Josephs Selbstinszenierung und begreift, dass der Sklave sich die Züge der Wohltätergestalten »geistig zu eigen [macht] und seine persönlichen Lebensangaben damit in Einklang zu setzen« (GW IV, 897) versteht. Doch tut seine Einsicht der Wirksamkeit dieser Strategie keinen Abbruch, weil der Truppenoberst das Wohlgefühl, das er in Josephs Gegenwart verspürt, als Beleg dafür auffasst, dass »auch die Dinge selbst und von sich aus ihm mindestens dabei zu Hilfe« (ibid.) kommen: »Er spürte eine Wärme im Angesicht, in der Brust und in allen seinen Gliedern, eine leichte Erregung, die ihn an diese Stelle fesselte und nicht wollte, dass er sich weiterhöbe« (GW IV, 889). Indem PeteprÞ diese »angenehme Wärme« (GW IV, 896) als Zeichen dafür versteht, sich in der Gegenwart eines Gottes zu befinden, demonstriert er die zentrale Bedeutung des Rezipienten für Josephs Strategie, denn obwohl dessen Allusionen in aller Deutlichkeit auf das mythische Muster heilbringender Wohltätergestalten anspielen, erkennt Potiphar in ihm aufgrund seines Vorwissens keine Erlöserfigur, sondern einen Gott: Ein solches Wohlgefühl, hieß es, hatten Leute empfunden, zu denen in der Gestalt eines Wanderers oder Bettlers oder irgendeines Verwandten oder Bekannten ein Gott sich gesellt […]. Sie hatten ihn, sagte man, daran erkannt oder doch einen glücklichen Verdacht daraus geschöpft (ibid.).1270 1269 Formulierungen wie ›anzusehen sein mochte‹ sowie das Tempus dieser Ausführungen (›wovon schwer zu sagen war‹) weisen darauf hin, dass es sich um eine Wiedergabe der Gedanken, Gefühle und Einsichten PeteprÞs handelt. 1270 Eine humoristische Abwandlung dieses ›Wohlgefühls‹ in der Gegenwart eines Gottes stellt der »eigentümliche[] Wohlgeruch« (GKFA 9.1, 95) dar, an dem man, nach Riemers Versicherung, »den Gott oder das Göttliche« (ibid.) erkenne. Charlotte Kestner bringt diesen Geruch mit Goethes »Eau de Cologne-Duft« (GKFA 9.1, 396) in Verbindung, der ihr »als die nüchterne Wirklichkeit des sogenannten Gottesozons« (ibid.) erscheint.

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Die Bedeutung des Betrachters für Josephs Strategie zeigt sich auch daran, dass von allen Personen, die dieser Szene beiwohnen, nur PeteprÞ in Joseph einen Gott erkennt: Mont-kaw ist »verblüfft, ungläubig, dankbar« (GW IV, 893), D•du »aufs würdigste verärgert« (ibid.), Gottlieb »knittrig entzückt« (GW IV, 894), und den Schreibern ist vor Staunen »das Lachen vergangen« (ibid.). Sie sehen, was Potiphar sieht, und trotzdem liegt es ihnen – mit Ausnahme Mont-kaws – vollständig fern, in Joseph einen Gott zu erkennen. Im Gegensatz zu früheren Selbstinszenierungen entfaltet diese ihre volle Wirkung nur für die Person, auf die sie berechnet ist. 3.2.4. Hermes Seinen letzten großen Rollenwechsel vollzieht Joseph, als er vor Pharao tritt. Mit der Wiederauferstehung aus der ›Grube‹ von Zawi-Re ist der durch Mut-emenets Anklage eingeleitete zweite Umlauf des Tammuz-Musters abgeschlossen,1271 der den Aufstieg zum »Erste[n] des Westens« (GW IV, 690) unterbricht. Dass Jaakobs Sohn bei seiner Ankunft im Palaste Merima’t die Rolle des Totengottes bereits abgelegt hat, verrät seine Antwort auf die Frage des Kämmerers nach seinem Namen: »Osarsiph hieß ich« (GW V, 1410). Gemäß dem Grundsatz, dass »man nicht immer gleich heißen, sondern seinen Namen den Umständen anpassen« (GW V, 1445) solle, hat er seinen ›Totennamen‹ bereits hinter sich gelassen: Als er vor Pharao tritt, ist er nicht mehr Osiris, aber auch nicht Tammuz, Gilgamesch oder Thot, nicht mehr Osarsiph und auch nicht Joseph. Unter dem Gesichtspunkt des ›In-Spuren-Gehens‹ ist er eine Nicht-Person, eine mythische tabula rasa.1272 Unbeeinträchtigt davon ist die Wirkung seiner Schönheit, die Pharao als »Abschein des Göttlichen« (GW V, 1419) erscheint und ihn bestimmt, Joseph mit einem »Lichtgott« (ibid.) zu vergleichen. Die Rollen scheinen vertauscht: Nicht Joseph bringt den König durch Anspielungen dazu, in ihm einen Gott zu erkennen, sondern dieser stellt von sich aus die Verbindung zur Figur des Lichtgottes her. Zwar gibt Pharao diese Assoziation sogleich wieder auf, doch läuft die Identifikation Josephs mit Hermes nach dem selben Muster ab: Es ist Amen1271 Joseph selbst stellt beim Abschied von Mai-Sachme die Verbindung her : »Du siehst, […] wie es steht und wie es mit mir dahingehen soll nach dreien Jahren. Eilend lassen sie mich aus dem Loch und ziehen mich hervor aus dem Brunnen nach altem Muster« (GW V, 1372). Zugleich lässt er keinen Zweifel daran, dass es einen dritten ›Umlauf‹ nicht geben wird: »Dieser Eilbote meint, ich werde zurückfallen herunter zu dir, aber ich glaube das nicht, und da ich’s nicht glaube, so wird’s auch nicht sein« (ibid.). 1272 Wenn die Überzeugung der Figuren zutrifft, dass »ein Leben und Geschehen ohne den Echtheitsausweis höherer Wirklichkeit […] überhaupt kein Leben und Geschehen« (GW IV, 581) ist, dann ist Joseph, nachdem er alle seine Rollen aufgegeben hat und in niemandes Spuren mehr wandelt, mythisch gesprochen keine Person mehr.

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hotep, der auf die Laute zu sprechen kommt, das Geschenk des ›kretischen Seefahrers‹,1273 und Joseph so die Gelegenheit gibt, durch das Wortspiel mit dem ägyptischen Wort ›Nofert‹ für ›Laute‹ erkennen zu lassen, dass er sich »auf die Künste des Thot« (GW V, 1424) verstehe. Jaakobs Sohn kann nicht ahnen, dass er damit eine erste Verbindung zur Figur des Hermes herstellt, da er mit diesem griechischen Gott »im Gespräch mit Pharao erstmals Bekanntschaft macht«:1274 Erst der König klärt ihn darüber auf, dass die Laute das Zeichen sei »für eines fremden Gottes Verschmitztheit, der ein Bruder des Ibisköpfigen […] oder ein anderes Selbst« (ibid.) sein könne. Die Geschichten, die Pharao von dem »durchtriebene[n] Gott-Kind« (GW V, 1425) erzählt,1275 bieten Joseph die nächste Möglichkeit zur Selbstinszenierung: Indem er sich bewusst unhöfisch verhält, provoziert er die Frage, ob ihm »die Geschichten des Gott-Schalks bekannt« (GW V, 1428) seien; durch seine spitzfindige Antwort erwirkt er die Erlaubnis, auch seinerseits ›Stückchen‹ zu erzählen und beweist dem König auf diese Weise, dass der »Geist des anschlägigen Gottes« (GW V, 1432) ihm »mehr als bekannt ist, nämlich vertraut« (GW V, 1431). Als er dann noch die »Schalks-Erfindung« (GW V, 1441) macht, Amenhotep seine zukünftigen Gedanken belauschen zu lassen, stellt Pharao eine direkte Verbindung her zum ›Herrn der Stückchen‹: »Du hältst das Geschenk des Seefahrers im Arm – mag sein, daß dir daher die Späße kommen, und daß vom Geist des Schalk-Gottes etwas in deine Worte dringt« (GW V, 1454). Joseph bleibt wenig mehr zu tun, als diese Vermutung zu bestätigen: »Es mag sein, es ist möglich und nicht ganz von der Hand zu weisen, man muß damit rechnen, daß der Gewandte zugegen ist und Pharao an sich gemahnen will (ibid.), was eine sehr verklausulierte Art ist, die ihm zugewiesene Rolle anzunehmen und Ich bin’s zu sagen. Es ist unverkennbar, dass der König diesen Teil des Gesprächs bestimmt: Er kennt die Gestalt des Hermes, erzählt von den Taten des Gottes und stellt die Verbindung zu Joseph her, in dem er den ›Geist des Gott-Schalks‹ wiedererkennt. 1273 Großhardt identifiziert den ›kretischen Seefahrer‹, der Pharao die Hermes-Geschichte erzählt, mit dem verstellten Odysseus [vgl. Peter Großhardt: Ein kretischer Seefahrer, Odysseus und Joseph. Zur Verankerung des Hermes-Motivs im vierten Teil von Thomas Manns Roman ›Joseph und seine Brüder‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 105 – 111, hier : S. 108] – eine Anspielung, die Josephs Schelmentum betont, denn er »wird durch diesen indirekten Bezug zu Odysseus zum ›Kreter‹, d. h. er tritt im Gefolge von Odysseus in den Kreis der manchmal zweckfrei, häufig zweckgebunden, aber jedenfalls immer brillant lügenden Schelme ein, für die das Ethnikon ›Kreter‹ seit Odysseus synonym ist« [ibid., S. 110 f.]. 1274 Marx (2002), S. 181. 1275 Diese Geschichten, die Thomas Mann seiner Figur in den Mund legt, stellen »eine ausführliche Paraphrase des sogenannten homerischen Hermes-Hymnos« dar [Berger (1971), S. 256].

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Jaakobs Sohn präsentiert sich als Schreiber, Geschichtenerzähler, Traumdeuter, Ratgeber und Erzieher, ohne jedoch selbst die Initiative zu ergreifen. Joseph inszeniert sich vor Pharao nicht weniger als vor Potiphar1276 – mit dem entscheidenden Unterschied, dass er es jetzt Amenhotep überlässt, die Art der Inszenierung zu bestimmen, und sich darauf beschränkt, dessen Anregungen aufzugreifen. Anstatt schon vor dem Zusammentreffen mit Pharao eine göttliche persona anzunehmen, betritt er den Thronsaal in einem Zustand mythischer Identitätslosigkeit und überlässt es dem König, ihm eine Rolle zuzuweisen.1277 Allerdings ist die Annahme wenig plausibel, Pharao identifiziere Joseph rein zufällig gerade mit der Göttergestalt, die so viele seiner Charaktereigenschaften mit ihm teilt, dass sie als mythisches Pendant seiner irdischen Person erscheint. Es handelt sich denn auch nicht um eine zufällige, sondern um eine unwillkürliche Entscheidung Amenhoteps – so jedenfalls deutet Teje die Zusammenhänge: »Empfindlich und empfänglich ist Pharao […]. Was er erzählte, gab deine Gegenwart ihm ein. Dich empfand er und sprach von dem Gott« (GW V, 1471). Nach Ansicht der Göttin-Mutter ist es also Josephs Persönlichkeitswirkung, die Pharao dazu veranlasst, von Hermes zu sprechen.1278 Und da Joseph, nach dem Ablegen aller bisherigen Rollen empfänglich für mythische Anspielungen, auf die Anregungen Pharaos eingeht, entwickelt sich zwischen den Gesprächspartnern eine Art Wechselspiel: »His role as Hermes, unlike his earlier roles, is not one Joseph consciously chooses and tries to project. It is almost the reverse situation, that is, it is projected onto him«,1279 weil Pharao sensitiv genug ist, in seinem zukünftigen Großwesir genau die Göttergestalt zu erkennen, deren Eigenschaften seine Persönlichkeit am besten entspricht. Joseph seinerseits legt es darauf an, die Anregungen des Königs aufzunehmen und sich als ›Herr der Stückchen‹ zu präsentieren: als »heiter gewandter Jüngling […], auskunftsreich und um handlichen Rat nie verlegen, ein Helfer der Götter und Menschen« (GW V, 1428), bewandert in »klug beschwatzende[r] Rede« (ibid.). Angesichts dieses Wechselspiels ist es nicht nur plausibel, sondern folgerichtig, dass Josephs letzte 1276 Auch Teje gewinnt diesen Eindruck: »Du hast’s darauf angelegt und dich ihm untergeschoben vom ersten Worte an! Vor mir brauchst du das Kind nicht zu spielen […]. ›Süßer Schlaf und Muttermilch‹, nicht wahr, ›Windelbänder und warme Bäder‹, das sind deine Sorgen« (GW V, 1471). Die Göttin-Mutter durchschaut Joseph – und bestätigt ihn zugleich in seiner Rolle, indem sie ihre Rüge in die Worte kleidet, die Hermes gegenüber Apollon gebraucht haben soll (vgl. GW V, 1426). 1277 Dieser Strategie war Joseph vorher stets gefolgt: Ob vor Ruben und Jaakob als Tammuz, vor Cha’ma’t als Osiris, vor Mont-kaw als Thot oder vor Mai-Sachme und Potiphar als ›Erlöser-Figur‹ – stets hatte er sich im Vorhinein für eine bestimmte Rolle entschieden. 1278 Die Annahme Tejes impliziert, dass Amenhotep dank seiner besonderen Sensibilität und Empfänglichkeit die weitgehenden Übereinstimmungen zwischen Hermes und Joseph unbewusst wahrnimmt und sich entsprechend verhält. 1279 Nolte (1996), S. 122.

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und einflussreichste Rolle zugleich die ist, in der sein Wesen sich am vollkommensten ausdrückt. Die Eigenschaften, die Joseph mit Hermes teilt,1280 sind zahlreich: Neben »Schalkheit und Witz, Schönheit und Charme«1281 sind die auffälligsten Attribute seine Redegabe,1282 seine Vorliebe für die Schreibkunst,1283 die Rollen als »Herr des Schlafes« (ibid.) und Führer der Toten,1284 und vor allem der Gedanke des Mittlertums.1285 Die Untersuchung hat gezeigt, dass »der Geist anmutigen Mittlertums« (GW V, 1804) das Wesen von Jaakobs Sohn bestimmt, lange bevor er nach Ägypten kommt, und er findet seine mythische Verkörperung in der Gestalt der »verschlagenen Mittlergottheit« (GW V, 1766) Hermes: Josephs Glaube an das Ganze, an die notwendige Vermittlung des Oberen und Unteren läßt ihn im Verlauf des Romans immer mehr in den Spuren des heiteren Gottes wandeln, der alle Formen der Vermittlung umschließt und der zugleich ein ›Gott-Schalk‹ ist: Hermes.1286 1280 Angesichts der Aufmerksamkeit, die das Hermes-Motiv in der Sekundärliteratur erfahren hat, genügt es an dieser Stelle, auf die wichtigsten einschlägigen Publikationen hinzuweisen; vgl. Berger (1971), S. 250 – 261; Heftrich (1993), S. 359; Lehnert (2005), S. 219 und Werner Frizen: ›Venus Anadyomene‹, in: Heftrich, Eckhard; Koopmann, Helmut; Wysling, Hans (Hrsg): Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling, Frankfurt am Main 1991, S. 189 – 223, hier : S. 206. Einen Überblick über ›the ways of Hermes in the works of Thomas Mann‹ liefert Gillespie (2003), S. 198 – 215. 1281 Walter Jens: Der Gott der Diebe und sein Dichter. Thomas Mann und die Welt der Antike, in: Jens, Walter: Statt einer Literaturgeschichte, Düsseldorf et al. 2001, S. 161 – 179, hier : S. 174. 1282 Auf einen interessanten Aspekt verweist Heftrich, wenn er bemerkt, dass Josephs Geschichten »überhaupt erst durch seine Wortmächtigkeit zur Geschichte w[ü]rden. Josephs Träume wären folgenlos geblieben, wären nie zu Taten geworden, hätte er nur zu stammeln und nicht so blendend zu reden vermocht« [Heftrich (1977), S. 663]. 1283 Wie Thot ist Hermes der Erfinder von »Schrift und rechnende[r] Zahl« (GW V, 1428). Generell lässt schon Josephs »Vorliebe und Schwäche« (GW IV, 26 f.) für Djehuti-Thot, der laut Pharao »ein anderes Selbst« (GW V, 1424) des Hermes ist, auf seine Affinität zu diesem Gott schließen. – Eine umfangreiche Liste von Josephs ›hermetischen‹ Eigenschaften präsentiert Berger (1971), S. 265. 1284 Als ›Herr des Schlafes‹ erweist sich Joseph durch seine Fähigkeit, dem alten Minäer und besonders Mont-kaw mit seinen »Gute-Nacht-Sprüchen« (GW V, 1142) die Schlaflosigkeit zu vertreiben [vgl. Sturm (1989), S. 265 und Schulz (2000), S. 175]; und zum Führer ins Reich der Toten wird er bei dessen Sterben (GW IV, 991 – 1003) [vgl. ibid., S. 219] sowie als Initiator von Jaakobs großem Leichenzug; vgl. Schöll (2004), S. 322. 1285 Schon im Kapitel zu den Metaphysischen Einflüssen wurde dargestellt, wie weitgehend Josephs Persönlichkeit von diesem Konzept bestimmt ist: Sein charakteristischer Wesenszug ist der Witz, der die Funktion des »Sendboten […] und des gewandten Geschäftsträgers« (GW V, 1758) hat; der Gott, dem er sich am engsten verbunden fühlt, ist Thot, der »zwischen den Dingen zum Guten redet und fördert den Austausch« (GW IV, 108); und sein »schicksalsbestimmende[s] Gestirn« [Grimm (1993), S. 240], der Mond, ist das »kosmische Gleichnis allen Mittlertums« (GW IX, 534). 1286 Borchmeyer (1997), S. 213. Borchmeyer erläutert die ›Vermittlungsfunktion‹ des Hermes anhand seiner verschiedenen Rollen: »Als Götterbote verbindet Hermes Himmel und Erde

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Es gehört zu den Gemeinplätzen der Joseph-Forschung, die Übernahme der Hermes-Rolle in Übereinstimmung mit den einschlägigen Äußerungen Thomas Manns1287 als ›mythologischen Paradigmenwechsel‹ anzusehen: Schon Thomas Mann selbst hat darauf hingewiesen, dass sich im vierten Teil der Josephs-Tetralogie, ausgelöst durch die Nacherzählung des Hermes-Hymnos durch den Pharao […], ein Wechsel in den mythischen Vorbildern Josephs vollzieht.1288

Implikationen und Konsequenzen dieses Rollenwechsels werden jedoch selten erörtert, einzig Kerstin Schulz weist in ihrer umfangreichen Dissertation auf den konzeptionellen Unterschied zwischen der Rolle des Hermes und den mythischen Mustern der übrigen Götterfiguren hin, mit denen sich Joseph im Laufe seines Lebens identifiziert: Anders als etwa die Rolle des Tammuz, die in ihrer »Festlegung auf den Zyklus von Fall und Aufstieg keinen Platz für eine Entwicklung«1289 bietet, eröffnet die Rolle des Hermes, die nicht mehr von einem bestimmten Verhaltensmuster, sondern von verschiedenen Wesenszügen geprägt ist, Joseph einen mythischen Bezugsrahmen […], der gleichzeitig Raum für seine individuelle Entwicklung läßt.1290

Die Flexibilität dieses mythischen Vorbildes gewährt Joseph ein »Maximum an Handlungsspielraum und kreativer Freiheit«:1291 genau den Spiel-Raum, dessen er bedarf, um als »Ernährer« (GW V, 1491) Ägyptens seine Talente frei entfalten zu können.1292 Zugleich weist Schulz darauf hin, dass diese Freiheit ihren Preis hat, denn gerade das

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und als Seelengeleiter Erde und Unterwelt. Chthonische Gottheit ist er so und doch zugleich der ›Trickster‹, der göttliche Schelm« [ibid.]. Mann stellt fest, Joseph wechsle im vierten Band »aus der ursprünglichen TammuzAdonis-Rolle immer mehr in die des Hermes hinüber« [Brief Thomas Manns an Karl Ker¤nyi vom 18. 2. 1941, zitiert nach Mann (1999), S. 193], in »die Rolle des weltlichgewandten Geschäftsmannes und klugen Vorteil-Bringers« (GW XI, 664). Großhardt (1997), S. 105. Schon Baumgart bezeichnet Josephs Hermes-Rolle als »ein Paradigma, in dem sein angeborenes mittleres Wesen und seine natürliche Mittlerbegabung unverzerrt« aufgingen [Baumgart (1964), S. 160]; vgl. außerdem Dedner (1988), S. 27; Giebel (2001), S. 132 und Heftrich (2005b), S. 469 f. Schulz (2000), S. 195. Ibid., S. 144. Ibid., S. 197. Die Behauptung Dedners, es sei »klar, daß der Wechsel vom Tammuz-Adonis- zum Hermes-Mythos nicht unbedenklich« sei, vermag nicht zu überzeugen. Zwar führt er zur Begründung an, die beiden »Mythenkomplexe gehör[t]en nicht nur verschiedenen Kulturkreisen« an, sondern seien auch »Ausdruck verschiedener Sozialformen« und folgten deshalb »unterschiedlichen mythischen Handlungsstrukturen« [alle Zitate Dedner (1988), S. 28], doch ist nicht erkennbar, warum der unterschiedliche kulturelle Ursprung der beiden Mythen ihre Verwendung im fiktionalen Zusammenhang des Josephsromans ›bedenklich‹ machen sollte. Und die ›unterschiedlichen mythischen Handlungsstrukturen‹ stellen, wie gezeigt, gerade einen Vorteil für Joseph dar.

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Fehlen des Handlungsschemas bedeutet […] auch, daß die Hermesrolle kaum Verhaltenssicherheit bietet, da sie nur Verhaltensangebote macht. Gerade die Ambivalenz des Hermes läßt Joseph die Freiheit, aber auch die Verantwortung, sich selbst für ein bestimmtes Verhalten zu entscheiden.1293

Doch obgleich es Josephs Aufstieg zweifellos erleichtert,1294 dass Pharao ihn als Hermes identifiziert und »sich mit Recht [sagt], daß kein König sich Besseres wünschen könne, als eine Erscheinung und Inkarnation dieser vorteilhaften Gottesidee zum Minister zu haben« (GW V, 1758), wäre Jaakobs Sohn doch rasch wieder in Zawi-Re verschwunden, hätte er es nicht als Einziger verstanden, Echnatons »reichswichtige Träume« (GW V, 1467) von den Kühen und den Ähren zu deuten.1295

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Träume werden in Joseph und seine Brüder1296 zwar oftmals als Botschaften Gottes aufgefasst, zugleich aber mit psychologischen Mitteln erklärt. Ein typisches Beispiel ist Jaakobs großes ›Gesicht‹ von der Himmelsleiter, in dem sich 1293 Schulz (2000), S. 196. Im Gegensatz dazu zeichnen sich die Rollen des Tammuz und des Osiris durch ein festgelegtes Ereignis- und Verhaltensmuster aus, dessen Nachahmung einerseits Lebenssicherheit gewährt, andererseits aber den Entscheidungsspielraum einschränkt: Es ist die mangelnde Flexibilität dieser starren Strukturen, die Joseph nötigt, von einer Rolle zur anderen zu wechseln. 1294 Es wäre ungenau zu sagen, der Pharao habe den Insassen von Zawi-Re zum Ernährer gemacht, weil er ihm seine Träume gedeutet habe: Die Deutung eröffnet Joseph nur die Gelegenheit, über den »Herrn des Überblicks« (GW V, 1473) zu sprechen und mit seinen Vorschlägen den König davon zu überzeugen, dass er am besten geeignet sei, »die Maßnahmen zu vollziehen, die […] sich aus der Deutung ergeben« (GW V, 1478). Letztendlich sind sein politisches Gespür und seine Wirtschaftskompetenz ausschlaggebend für seine Erhebung. 1295 Die Gegenüberstellung Josephs mit den erfolglosen ägyptischen Traumdeutern kann als Variante eines Topos der Genieästhetik aufgefasst werden, des Gegensatzes zwischen dem Gelehrten und dem Genie: Die beamteten Traumdeuter sind »wahre[] Fachidioten«, die »nur vom Bücherwissen zehren« [Pikulik (1988), S. 109]: Sie verlassen sich auf ihre »Kompendien« (GW V, 1397) und arbeiten mit »den besten Traum-Katalogen und -Kasuistiken babylonischer sowohl wie einheimischer Herkunft« (GW V, 1353), während Joseph ohne Hilfsmittel deutet, »wie es der Geist [ihm] eingibt« (GW V, 1433). 1296 Die Bedeutung der Träume wird in den meisten Arbeiten zu Joseph und seine Brüder nur beiläufig behandelt; Ausnahmen bilden der grundlegende Aufsatz von Pikulik (1988) und die Untersuchung von Joachim Schulze: Traumdeutung und Mythos. Über den Einfluß der Psychoanalyse auf Thomas Manns Josephsroman, in: Poetica 2 (1968), S. 501 – 520. Das Joseph-Kapitel in der Dissertation von Gisela Bensch bietet wenig mehr als eine Zusammenfassung und Kategorisierung der verschiedenen Träume, ohne dabei zu wesentlichen neuen Ergebnissen zu kommen; vgl. Gisela Bensch: Träumerische Ungenauigkeiten. Traum und Traumbewusstsein im Romanwerk Thomas Manns. ›Buddenbrooks‹ – ›Der Zauberberg‹ – ›Joseph und seine Brüder‹, Göttingen 2004, S. 115 – 177.

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»alles vereinigt[], was seine Seele an Vorstellungen des Königlichen und Göttlichen [birgt] und das sie […] sich zu Trost und Befestigung hinausbaut[] in den Raum ihres Traumes« (GW IV, 141).1297 Es sind Jaakobs »seelische[] Ersatzvorräte« (GW IV, 145), die ihn zur Hervorbringung »des großen Rampentraumes« (GW V, 1735) befähigen – was nicht ausschließt, dass er trotzdem von Gott gesandt sein und die Zukunft vorhersagen kann.1298 Pikulik weist darauf hin, dass im Gegensatz zum Bericht der Genesis, in dem »Traum und Deutung von Gott eingegeben [seien und] gewissermaßen von außen«1299 kämen, in Thomas Manns Roman die Schicksalhaftigkeit des Traums, der Deutung und der Erfüllung […] im Rahmen der Humanisierungstendenz, die das ganze Werk präg[e], der Vermenschlichung und Verinnerlichung des Entstehungsgrundes zum Opfer1300

falle. Obwohl die Bezeichnung »inspiriertes Lamm« (GW V, 1420) sowie seine eigene Behauptung, »Gott allein« (ibid.) sei für die Deutung verantwortlich, den Eindruck entstehen lassen, Joseph deute unter Inspiration,1301 nutzt er in Wahrheit jene Fähigkeiten, die sich bereits als ausschlaggebend für seinen Aufstieg erwiesen haben: seinen Scharfblick für mythische Muster und ihre ›psychologischen‹ Konsequenzen sowie sein Verständnis für die Ordnung seiner Welt. Seine Theorie der Traumdeutung basiert auf der Annahme, »die Deutung [sei] früher als der Traum, und wir träum[t]en schon aus der Deutung« (GW V, 1355): Mit der Träumerei möchte es wohl ein Rundes und Ganzes sein, worin Traum und Deutung zusammengehören und der Träumer und Deuter nur scheinbar zweie und unvertauschbar, in Wirklichkeit aber vertauschbar und geradezu ein und derselbe sind, denn sie machen zusammen das Ganze aus (GW V, 1354).

1297 Als Jaakob von Anubis träumt, wird der Ursprung der Träume sogar im Traum selbst erörtert. Auf Anups Frage, ob er nicht wisse, wer den Gott eigentlich hätte gebären sollen, erklärt Jaakob: »Ich kann nicht genau unterscheiden […,] was ich von mir aus weiß und was ich von dir erfahre« (GW IV, 289). Die Erwiderung des Gottes ist vielsagend: »Wüßtest du’s nicht […,] so könnte ich’s dir nicht sagen« (GW IV, 290); vgl. Cunningham (1985), S. 61 f. 1298 Josephs Himmelfahrtstraum (GW IV, 460 – 468) sowie die Träume von den Garben (vgl. GW IV, 507) und von Sonne, Mond und Sternen (vgl. GW IV, 519) ergeben sich psychologisch plausibel aus seinem Narzissmus und der Überzeugung, dass »jedermann ihn mehr lieben müsse als sich selbst« (GW IV, 556); zugleich erzählt Joseph und seine Brüder die Geschichte ihrer Erfüllung. 1299 Pikulik (1988), S. 101. 1300 Ibid. 1301 Diese Position vertritt Schulz, wenn sie annimmt, Joseph sei ein »Medium zur Interpretation und Auslegung der Träume« [Schulz (2000), S. 187] und »nur mit Gottes Hilfe in der Lage, die Träume zu deuten« [ibid.].

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In dem Kapitel Das Spiel mit den mythischen Mustern wurde ausgeführt, dass die Welt von Joseph und seine Brüder deshalb als ›mythisch‹ anzusprechen ist, weil sie ein in sich geschlossenes Ganzes bildet, das den gleichen Gesetzen folgt wie der Mythos und keinen Raum bietet für Zufälle und Kontingenzen: »[D]ie Welt ist nicht halb, sondern ganz […], und Getrostheit, unverbrüchliche, ist in dem Ganzen« (GW V, 1662). Vor diesem Hintergrund erscheint es legitim, Josephs Annahme, dass Traum und Deutung im Grunde eine Einheit bilden, als »eine Variante der Zentralidee des gesamten Romans [aufzufassen], der Idee des Zusammenstimmens alles scheinbar Disparaten zu einem Ganzen«.1302 Daraus aber folgt, dass die selben Fähigkeiten, die ihn zu seinem souveränen und spielerischen Umgang mit den Mustern der mythischen Welt befähigen, ihm auch die Deutung von Träumen erlauben. Vor allem im Umgang mit Pharaos Oberbäcker wird deutlich, dass Joseph (1) von der Physiognomie des Mannes auf den Charakter schließt und seine Beobachtungen (2) in mythischen Kategorien formuliert. So gewinnt er den Eindruck, dem »Fürst[en] von Menfe« (GW V, 1038) sei »die Darstellung unterirdischer Bedenklichkeit übertragen« (GW V, 1339): Ganz ausgesprochen unterweltliche Züge […] waren nicht zu verkennen in des Bäckers Gesicht: die längliche Nase stand ihm etwas schief, und auch sein Mund war nach einer Seite hin schief verdickt und verlängert; er hing dort mißlich herab, und zwischen den Brauen lagerte dunkel bedrängendes Fluchwesen (GW V, 1338).1303

Das Gesicht des Schenken hingegen zeichnet sich durch einen »Grundzug von Fröhlichkeit« (GW V, 1338) aus, so dass ›Bäcker‹ und ›Mundschenk‹ nicht nur Titel und Amtsbezeichnungen sind, sondern zugleich die Persönlichkeiten der Titelträger beschreiben.1304 Der Schenke unterstützt diesen Eindruck noch, indem er sich als »Chef des Lebenslaubes und […] Mann des Kranzes« (GW V, 1343), also als Repräsentant von Frohsinn und Lebensfreude charakterisiert, und in seinem Bemühungen, Joseph von seiner Unschuld zu überzeugen, explizit mit der Stimmigkeit der mythischen Welt argumentiert: [W]as nicht paßt, das paßt nun einmal nicht in der Welt! Ich bitte Dich, urteile nach deinem gesunden Verstande, der das Gesetzte kennt und das Entgegengesetzte, das 1302 Pikulik (1988), S. 108. 1303 Laban weist sich durch ganz ähnliche physiognomischen Merkmale als »Unterweltsteufel[]« (GW IV, 267) aus, von dem Jaakob schon bei ihrer ersten Begegnung »höchst zweideutige Eindrücke« (GW IV, 233) gewinnt: »Er trug ein Paar böser Zeichen zwischen den Augen, und das eine dieser Augen war blinzelnd zugezogen […]. Dazu kam […] ein ausgesprochen unterweltlicher Zug um den Mund, ein gelähmtes Hängen des Mundwinkels im schwarzgrauen Bart, das […] den Jaakob ebenfalls bedenklich anmutete« (ibid.). 1304 Jäger weist darauf hin, dass »Dionysos und Demeter als die archetypischen Rollen von Mundschenk und Bäcker angedeutet« seien [Jäger (1992), S. 234].

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Eine und das Andere, das Mögliche und das Unmögliche, – urteile, ob ich mitschuldig sein kann dieser Schuld und teilhaftig des Unteilhaftigen! (ibid.).

Auch der Bäcker appelliert an Josephs »Weltverstand« (GW V, 1344), was in seinem Fall jedoch nicht die gewünschte Wirkung hat, da er sich durch die Beschreibung, wie er die Fackel trage vor Pharao, »wenn er zu Tische geh[e], um das Fleisch des beerdigten Gottes zu essen, welcher der Sichel entgegensprieß[e] von unten hervor aus der […] Tiefe« (ibid.), nur noch deutlicher als Mann des Todes und der Unterwelt zu erkennen gibt. Unbewusst gerät ihm seine intendierte »Selbstdarstellung als Mann der Brotgöttin zur Selbstdarstellung als Mann der Rachegöttinnen«,1305 und alle Bemühungen, diesen Eindruck zu korrigieren, bleiben vergeblich: Es kam häufig vor, daß er über seine eigenen Worte erschrak und sie zurückzunehmen oder abzuändern versuchte, sich aber dabei nur noch tiefer hineinredete. Denn nach unten waren seine Worte gerichtet, und er konnte sie nicht herumdrehen (ibid.).

Josephs zutreffende Deutung der Träume der beiden Herren ist damit nicht auf göttliche Inspiration zurückzuführen, sondern auf die »Einsicht, wie stark eine mythische Charakterrolle das Leben und die Persönlichkeit eines Menschen prägen kann«,1306 und auf seine mythische Bildung, die es ihm erlaubt, die einschlägigen Zeichen zu erkennen. Durch ihre physiognomischen Charakteristika und ihre mythisch-anspielende Selbstcharakterisierung haben die beiden dem Eingeweihten eindeutig zu erkennen gegeben, zu welcher Partei sie sich anläßlich der Verschwörung geschlagen hatten, ja auf Grund ihrer Ämter und mythisch vorbestimmten Rollen hatten schlagen müssen.1307

Joseph begreift, dass der Bäcker sich genau so verhalten hat, wie es seiner mythischen Rolle als ›Mann der Unterwelt‹ entspricht: »[D]u hast dich dem Bösen verschworen, weil du’s für ehrwürdig vorgeschrieben hieltest« (GW V, 1360). Er deutet also weniger die Träume der Hofherren als vielmehr ihre mythischen

1305 Schulze (1968), S. 506. Schulze stellt den ›unterweltlichen‹ Beteuerungen des Oberbäckers (vgl. GW V, 1344) die entsprechenden Passagen aus Julius Brauns Buch zur Naturgeschichte der Sage gegenüber, auf die Mann sich bezogen hat; vgl. Schulze (1968), S. 504 f. sowie Julius Braun: Naturgeschichte der Sage. Rückführung aller religiösen Ideen, Sagen, Systeme auf ihren gemeinsamen Stammbaum und ihre letzte Wurzel, 2 Bde., München 1864/1865. 1306 Mona Clerico: Welt – Ich – Sprache. Philosophische und psychoanalytische Motive in Thomas Manns Romantetralogie ›Joseph und seine Brüder‹, Würzburg 2004, S. 111. 1307 Schulze (1968), S. 506; vgl. außerdem Jäger (1992), S. 235; Fischer (2002), S. 703 und Schöll (2004), S. 309.

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Rollen, die es ihm zusammen mit dem Wissen um die Umstände der Verschwörung ermöglichen,1308 ihr weiteres Schicksal vorauszusagen. Es ist eine Eigenart der Träume im Josephsroman, daß sie nur unter Rückführung auf den Mythos gedeutet werden können. Erst die mythische Selbstidentifikation des Oberbäckers und deren Zusammenschau mit dem mythischen Vorgang des Anschlags auf Pharao […] gibt Joseph die Möglichkeit, dessen individuellen Traum zu verstehen.1309

Auch bei der Deutung des Kuh- und Ährentraums greift Joseph auf seine Erfahrung im Erkennen vorgeprägter Muster zurück, wenngleich ihnen in diesem Falle eine geringere Bedeutung zukommt. Einen ersten Anhaltspunkt für seine erfolgreiche Deutung liefert das Konzept der ›Vorsorge‹, mit dem er die Träume Pharaos schon bei ihrer ersten entstellten Wiedergabe in Verbindung bringt (vgl. GW V, 1374), und das nicht nur »der herrschende Gedanke« (GW V, 1297) Ägyptens ist, sondern auch in Josephs »ursprünglich-eigene[r] Überlieferung […] lange Wurzeln« (ibid.) hat: Die Arche, die große Lade, der Arún, worin die Schöpfung die Fluchzeit überstanden, dem Joseph war sie das Frühbeispiel und Ur-Muster aller Weisheit, das ist: aller wissenden Vorsorge (ibid.).

Erneut bewährt sich Josephs Gabe, vertraute Konstellationen in neue Kontexte zu übertragen,1310 aber von noch größerer Bedeutung für die Deutung der »Königsträume« (GW V, 1391) ist seine Traumtheorie: Wenn »Traum und Deutung zusammengehören« (GW V, 1354), und jeder schon »aus der Deutung« (GW V, 1355) träumt, dann folgt daraus, dass der Träumer die Bedeutung seines Traumes bereits kennt und damit in der Lage ist, die zutreffende Deutung zu erkennen – eine Annahme, die innerhalb der fiktionalen Welt durch die Reaktionen Pharaos auf die verschiedenen Deutungen seine Träume bestätigt wird: Den ägyptischen Traumdeutern wirft er vor, ihre Auslegungen passten »im geringsten nicht zu seinen Träumen, und diese erkennten sich nicht darin wieder, wie Traum und Deutung sich ineinander wiedererkennen müßten« (GW V, 1401), während seine zuversichtliche Behauptung, er werde »die wahrhaft entsprechende Deutung […] als solche sofort erkennen« (ibid.), sich angesichts von Josephs Auslegung bestätigt: »[D]aß diese Deutung recht, darüber besteht nicht 1308 Auch die Verschwörung gegen Amenhotep III. folgt einem mythischen Muster, was sich vor allem an der Zahl der Verschwörer zeigt: »Alles in allem waren es zweiundsiebzig Verschwörer, die insgeheim zu dem Plane standen, eine verheißungsvoll vorgeschriebene Zahl: denn zweiundsiebzig Verschwörer waren es einst gewesen, die mit dem roten Set den Usir in die Lade gelockt hatten, und auch diese wiederum schon hatten gut kosmische Gründe dafür gehabt, an Zahl nicht mehr und nicht weniger zu sein als zweiundsiebzig« (GW V, 1351). 1309 Schulze (1968), S. 512. 1310 Vgl. Nolte (1996), S. 135.

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der leiseste Zweifel in meiner Seele, und genau erkennt mein einiger Traum sich in der Deutung wieder« (GW V, 1437). Die Erkenntnis, dass ein Traum dem Träumenden nur zu zeigen vermag, was dieser bereits weiß,1311 weil er nicht ›von außen‹ kommt, sondern »Ausdruck einer inneren, seelischen Wahrheit«1312 ist, bildet die Grundlage von Josephs Deutungskunst. Sie wird sichtbar in Josephs Entgegnung auf Amenhoteps Klage, er wisse ›noch gar nichts‹: »Pharao irrt […,] wenn er meint, er wüßte es nicht. Dieser Knecht vermag nichts anderes, als ihm wahrzusagen, was er schon weiß« (GW V, 1436). Noch einmal zeigt sich hier, dass seine Traumdeutung »keine Weissagung im engen mythologischen Sinne, d. h. Offenbarung eines göttlichen Ratschlusses«1313 ist, sondern »ein Wahrsagen psychologischer Art, die Enthüllung nämlich einer seelischen Wahrheit.«1314 Doch wie hilft diese Traumtheorie Joseph dabei, Pharaos Träume zu deuten? Seine Methode beruht, wie bei Bäcker und Mundschenk, auf einer Kombination von Vorwissen und mythischer Psychologie.1315 Das Vorwissen bezieht sich auf die Person Amenhoteps IV., auf die Joseph schon während seiner Zeit im Gefängnis ›achtgegeben‹ hat (vgl. GW V, 1365),1316 auf die Hintergründe der Verschwörung und auf die »Denkbilder der Nahrung, der Hungersnot und der Vorsorge« (GW V, 1374), die ihm einen Hinweis auf das Thema des Traumes geben. Nachdem Pharao ihm seine Träume erzählt hat, setzt Joseph die einzelnen Teile ›nur noch‹ zusammen. Der eigentliche Kniff, dessen er sich dabei bedient, ist seine mäeutische Vorgehensweise: The dialogue between Joseph and the Pharao [sic!] follows the maieutic pattern of Socratic arguments: both men take turns at the interpretation of the dream. Joseph puts causes and results of his own interpretation piece by piece into the Pharao’s [sic!] mouth, and Pharao [sic!], eager for the knowledge, formulates the findings.1317 1311 Jaakob kommt dieser Zusammenhang in seinem Anubis-Traum allenfalls halb zu Bewusstsein (vgl. GW IV, 289), sein Sohn hingegen ist sich dessen vollständig bewusst. 1312 Pikulik (1988), S. 103. 1313 Ibid., S. 102. 1314 Ibid. Entsprechend ist die Deutung, die Joseph den Pharao ›finden lässt‹, »nicht eigentlich eine Voraussage dessen, was kommt, sondern nur ein Hinweis darauf, was kommen könnte« [ibid.]. Damit stimmt das Urteil des Erzählers überein, dass sich seine ›Prophezeiung‹ »in lebendiger Ungenauigkeit [erfülle] und nicht abgezählt-wörtlich« (GW V, 1483). 1315 Der Gedanke, in Träumen einen Ausdruck der seelischen Befindlichkeit des Träumers zu sehen, ist zweifellos von den Lehren Sigmund Freuds beeinflusst, die Thomas Mann zur ›Psychologisierung des Mythos‹ in Joseph und seine Brüder herangezogen hat. Damit kann auch Josephs Traumtheorie als ein Indiz für die ›Modernität‹ des Romans angesehen werden. 1316 Vgl. Pikulik (1988), S. 105. 1317 Pütz (2004), S. 174; vgl. außerdem Pikulik (1988), S. 105 und Eisenhauer (1991), S. 241. – In der Sekundärliteratur wird wiederholt die Position vertreten, Joseph vollziehe seine

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Welchen Vorteil hat diese umständliche Methode? Es ist nicht plausibel anzunehmen, Joseph versuche den Anschein zu erwecken, Pharao selbst deute seinen Traum – der König ist sich sehr wohl bewusst, dass dem nicht so ist: »Nein, das sagst du nur so und hast es mir nur so vorkommen lassen, als ein Schelmensohn […,] als ob ich selber geweissagt hätte und meine Träume gedeutet« (GW V, 1437). Diese Vorgehensweise dient einem anderen Zweck: Statt ein fertiges Ergebnis zu präsentieren, wie es die ägyptischen Gelehrten versuchen, weist Joseph einem Element des Traumes nach dem anderen eine Bedeutung zu – und lässt sich die Richtigkeit jedes einzelnen Schrittes von Pharao bestätigen, ehe er den nächsten unternimmt! Dieses Vorgehen schließt die Möglichkeit einer vollständigen Fehldeutung weitgehend aus, aber es funktioniert nur – und Joseph kann überhaupt nur auf den Gedanken kommen, Pharao auf diese Weise als Korrektiv einzusetzen –, weil er weiß, dass der König die ›richtige‹ Deutung als seelische Wahrheit bereits in sich trägt. Da diese Erkenntnis in einem inneren Zusammenhang steht mit der Einheit der mythischen Welt, kann das Wissen um ihre Geschlossenheit als Voraussetzung für Josephs Traum-Theorie angesehen werden.

3.4.

Gottesklugheit und das Heilige Spiel

Als Joseph im Brunnen liegt, begreift er die sträfliche Fehlerhaftigkeit seines Verhaltens gegenüber den Brüdern und erkennt, dass er selbst sich in diese Lage gebracht hat. Gleichzeitig nimmt er an, dass Gott »einen zukünftig-fernen Zweck verfolg[e], in dessen Diensten er, Joseph, die Brüder ha[b]e zum Äußersten treiben müssen« (GW IV, 575), so dass auch die von ihm »begangenen Fehler allenfalls als im Plane gelegen, als zweckgemäß also und in aller Blindheit gottgelenkt gelten« (GW IV, 697) können. Auch sein Verkauf nach Ägypten gehört zum göttlichen Plan,1318 so dass es »der Gipfel der Dummheit« (GW IV, 698) wäre, wieder nach Hause zurückzukehren. Es ist also Traumdeutung nach der psychoanalytischen Methode Sigmund Freuds, vgl. etwa Schulze (1968); Heftrich (1977), S. 667 und Dietmar Mieth: Epik und Ethik. Eine theologischethische Interpretation der Josephsromane Thomas Manns, Tübingen 1976, S. 105. Überzeugende Gegenargumente liefert Pikulik (1988), S. 104 f. 1318 Auch Josephs Schweigen angesichts der »verzweifelt keck[en]« (GW IV, 607) Lügenmärchen, die seine Brüder den Midianitern auftischen, erklärt sich aus dem Wissen, dass sein Verkauf zum Plane Gottes gehört. Gleiches gilt für sein Verstummen angesichts der Vorwürfe Mut-em-enets (vgl. GW V, 1273), und die Verbindung zwischen beiden Gelegenheiten wird noch dadurch verstärkt, dass sein Verhalten jeweils mit dem Ausdruck beschrieben wird, er benehme sich »wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt« (GW IV, 607 und GW V, 1273). Die von Murdaugh (1976), S. 86 und Schulz (2000), S. 180 vertretene Ansicht, sein Verhalten ergebe sich aus dem Tammuz-Mythos, vermag nicht zu

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die Einsicht in die töricht-sündliche Fehlerhaftigkeit des Fluchtgedankens, die klare und intelligente Wahrnehmung, daß es ein läppischer Mißgriff […] wäre, Gottes Pläne durch Ausreißen stören zu wollen« (GW IV, 697),

die ihn bewegt, sich von den Midianitern nach Ägypten führen zu lassen. Dieses neu gewonnene Verständnis hat weitreichende Folgen für die Art, wie Joseph sich selbst und sein Verhältnis zu Gott wahrnimmt: Eine neue, höhere Lieblingsschaft und Erwählung war es, in der es nun, nach der Grube, zu leben galt, im bitter duftenden Schmuck der Entrafftheit, der aufgespart war den Aufgesparten und vorbehalten den Vorbehaltenen. Den zerrissenen Kranz, den Schmuck des Ganzopfers, er trug ihn neu – nicht mehr in vorträumendem Spiel, sondern in Wahrheit, das hieß: im Geiste, – und um törichten Fleischestriebes willen sollte er sich seiner begeben? So albern und jeder Gottesklugheit bar war Joseph nicht (GW IV, 698).1319

Joseph weiß sich ›im Feste‹,1320 und er ist bereit, die ihm von Gott übertragene Rolle zu erfüllen: Er lässt sich nach Ägypten führen und setzt sich auch dann nicht mit seinem Vater in Verbindung, als er zu Potiphars Jungmeier aufgestiegen ist und damit über die erforderlichen »Gelegenheiten der Benachrichtigung« (GW V, 961) verfügt. Als der Erzähler die Frage dieses Schweigens zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgreift, führt er als Grund Josephs Einblicke in das Seelenleben Gottes an: Wenn Joseph dem Vater geschwiegen hatte […] all diese Jahre hin, so war es überlegte Politik, verständige Einsicht in jenes Seelenleben gewesen, was ihn dazu vermocht hatte (GW V, 1534).

überzeugen, da er dieses Muster gerade durch seine Rückkehr nach Hause erfüllt haben würde. 1319 Dass Joseph tatsächlich und im Ernst »das Ganzopfer geworden [ist], mit dem er im Adonishain noch kokettiert« hatte [Schulz (2000), 126], zeigt das Verhalten der Brüder, die nicht nur das Muster des Tammuz an ihm vollziehen, sondern ihn auch zum Ganzopfer machen, indem sie »die Fetzen des Bildkleides durchs Schlachtblut« (GW IV, 613) ziehen, um den Vater zu täuschen. Die Tatsache, dass »Jaakob das Blut des Tieres notwendig und unwidersprechlich für Josephs Blut« (GW IV, 669) halten muss, kommt einer Bestätigung dieser mythischer Rolle gleich. 1320 »Kannte er das Fest, oder kannte er es nicht, in allen seinen Stunden? Das Mittel der Gegenwart und des Festes – war er es, oder war es nicht? Den Kranz im Haar, sollte er vom Feste laufen, um wieder ein Hirte des Viehs zu sein mit seinen Brüdern? Die Anfechtung war stark nur im Fleische, im Geiste aber sehr leicht« (GW IV, 698).

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In einem Gleichnis1321 macht er zudem deutlich, dass ›das Kalb‹ Joseph sich schon bei seinem Eintreffen vor dem Haus des Wedelträgers ein ziemlich genaues Bild davon macht, welche Rolle ihm zukommt in Gottes Zwecken und langfristigen Anschlägen […]. Wie es den Mann kennt, mutmaßt es ohne weiteres und ist sich träumerisch im klaren darüber, daß seine Entrückung auf diesen Acker […] kein zusammenhangloses Ungefähr bedeutet, sondern einem Plane angehört, worin das eine das andere nach sich zieht (GW IV, 817).

Zu dem Zeitpunkt, als Joseph sich der Avancen Mut-em-enets erwehren muss, sind diese Einsichten sogar noch umfassender. Zunächst weist der Erzähler darauf hin, der eigentliche Grund für Josephs Enthaltsamkeit sei »nichts weiter als Vorsicht, Gottesklugheit, heilige Rücksichtnahme« (GW V, 1137), und auf die Frage, warum Jaakobs Sohn die Herrin unter diesen Umständen nicht meide, formuliert er die Vermutung: Vielleicht war es […] das heimliche Wissen um seine Bahn und ihre Krümmung, die Ahnung, daß sie sich wieder einmal vollenden wollte im kleineren Umlauf und es ein anderes Mal mit ihm sollte in die Grube gehen, die nicht zu vermeiden war, wenn sich erfüllen sollte, was vorgeschrieben stand im Buch der Pläne (GW V, 1146).1322

Joseph verfügt nicht nur über einen ahnungsvollen Eindruck des gesamten Plans und seines Ziels, sondern stellt auch Vermutungen an über die Mittel, dieses Ziel zu erreichen, und die Motive, die Gottes Verhalten bestimmen. So verhelfen seine Einblicke in das »Seelenleben[] Gottes« (GW V, 1534) ihm zu der Erkenntnis, dass es für seine »Absonderung ins Weltliche« (ibid.) zwei Gründe gebe: Der eine war die Eifersucht, der andere der Errettungsplan. Über den zweiten konnte Joseph nur Vermutungen hegen; der erste lag seiner Klugheit vollkommen offen, und 1321 Der Erzähler erläutert den Plan Gottes mit Hilfe eines Gleichnisses, in dem jedem Beteiligten seine Rolle zugewiesen wird: »Es war ein Mann, der hatte eine störrige Kuh, die das Joch nicht tragen wollte, da es den Acker zu pflügen galt, sondern es immer abwarf vom Nacken. Nahm der Mann ihr das Kalb weg und brachte es auf den Acker, der gepflügt werden sollte. Wie nun die Kuh das Blöken ihres Kindes vernahm, ließ sie sich treiben dorthin, wo das Kalb war, und trug das Joch« (GW IV, 817). 1322 Pütz nimmt an, Joseph verweigere sich dem Ansinnen Muts aus dem »ahnungsvolle[n] Bewußtsein, daß die Liebende zur Raserei getrieben werden [müsse], damit durch Rache und Strafe der erneute Weg in die Grube eröffnet und damit eine neue, noch glanzvollere Erhöhung ermöglicht werde« [Pütz (1991), S. 183]. – Wie selbstbewusst Joseph mit dem »Herrn der Pläne« (GW IV, 990) umgeht, zeigt sich angesichts von Mont-kaws Sterben, der »ein Opfer der Pläne Gottes« (ibid.) ist: »Joseph erschrak sehr, als er Gottes Absichten erkannte. Menschliche Vorkehrungen dagegen zu treffen, bedeutete, so entschied er bei sich, keinen sündlichen Versuch, den planenden Willen zu durchkreuzen, sondern hieß nur, ihn auf eine notwendige Probe stellen« (GW V, 988). Er ist nicht nur gewiss, Gottes Plan zu durchschauen und seine Absichten zutreffend einzuschätzen, sondern sogar vermessen genug, den göttlichen Willen einem Test zu unterziehen.

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diese reichte sogar aus, zu durchschauen, daß es wirklich der erste war, und daß sich in dem zweiten nur das Mittel geboten hatte, Leidenschaft und Weisheit zu vereinigen (ibid.).

Der Grund für Gottes Eifersucht auf Joseph besteht in Jaakobs übermäßiger Liebe zu Rahel (vgl. GW V, 1778), die er nach ihrem Tod auf den »vergötterten Knaben« (GW IV, 378) überträgt. Sie stellt eine Nachahmung von Gottes eigener Erwählungs-Willkür dar, die dieser nicht toleriert (vgl. GW V, 1744): Er bestraft Jaakob, indem er ihm erst Rahel und dann Joseph nimmt, und schlägt das Labanskind mit jahrelanger Unfruchtbarkeit und einem frühen Tod. Joseph entgeht dem Schicksal seiner Mutter,1323 weil es ihm »durch äußerste Klugheit und anmutigste Geschicklichkeit in der Behandlung Gottes und der Menschen [gelingt], den Dingen die Wendung zum Guten zu geben« (GW IV, 320), woraus der Erzähler die Schlussfolgerung zieht, Joseph habe für das Seelenleben Gottes »sogar mehr Sinn [besessen] und gewandter Rücksicht darauf zu nehmen [gewusst] als sein Erzeuger« (GW IV, 321). Vollständige Klarheit über den Zusammenhang von Entrückung, Erhöhung und Nachkommenlassen gewinnt Joseph nach eigenen Worten in seinem Gespräch mit Amenhotep: »Gewußt hab’ ich’s, als ich vor Pharao stand, und als ich ihm deutete, da habe ich’s mir gedeutet, wo Gott hinauswollte, und wie er diese Geschichte lenkt« (GW V, 1590). Josephs Rolle und Aufgabe im Plan war die des in die große Welt versetzten Bewahrers, Ernährers und Erretters der Seinen […], und alles spricht dafür, daß er sich dieses Auftrages bewußt war, ihn jedenfalls im Gefühl hatte (GW V, 1520).

Von dem Augenblick an, da er aus dem Brunnen befreit wird und die Rolle des Osiris annimmt, fühlt er die Verpflichtung, »dem Herrn behilflich zu sein bei seinen Plänen« (GW V, 1405) und ihm »getreulich zur Hand zu gehen mit allen empfangenen Geisteskräften, statt etwa durch träge Unbestrebtheit seine Absichten lahmzulegen« (GW IV, 811).1324 Dabei hebt der Erzähler ausdrücklich hervor, dass Joseph nicht aus Eigennutz handle und es deshalb unangemessen sei, wegen »eine[r] gewisse[n] Zielstrebigkeit (GW V, 1499) seines Verhaltens »mit ihm zu rechten und ihn einen niedrig Bestrebten zu nennen« (GW IV, 811): Der stillen Vermutung oder Überzeugung gemäß zu leben, daß Gott es einzigartig mit einem vorhat, ist keine niedrige Bestrebtheit, und nicht Ehrgeiz ist das gerechte Wort dafür ; denn es ist Ehrgeiz für Gott, und der verdient frömmere Namen (GW IV, 811 f.). 1323 Der Erzähler weist darauf hin, dass es sich erneut um die Variation eines elterlichen Musters im Leben des Sohnes handelt: »Das Schicksal seiner lieblichen Mutter, dessen Name ›verschmähte Bereitwilligkeit‹ gewesen war, erschien bei ihm wieder in Abwandlung und unter andrer Formel; es hieß: ›absprechende Liebe‹« (GW V, 1772). 1324 Schon Jaakob ist in Labans Diensten nach dieser Überzeugung verfahren; vgl. GW IV, 273.

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Nicht nur gegenüber PeteprÞ oder Pharao, auch im Umgang mit Gott selbst geht Jaakobs Sohn methodisch vor : »Einer höchsten Politik mit irdischer Politik zu begegnen ist unerläßlich, will einer durchs Leben kommen« (GW V, 1534), und Joseph ist jemand, der Gott sehr gut »zu ›behandeln‹ weiß« (GW XI, 666): Anders als Jaakob, der in schwerem Sinnen darum ringt, Gottes Willen zu enträtseln, »Joseph does not labour for God, he plays with him.«1325 Sein Aufstieg ist damit in hohem Maße der Fähigkeit geschuldet ist, Gottessorge zu üben, das heißt: »Einblick in ein oberstes Seelenleben« (GW V, 1239) zu gewinnen, das eigene Handeln an den gewonnenen Erkenntnissen auszurichten und auf diese Weise die Pläne Gottes nicht nur zu durchschauen, sondern auch aktiv zu unterstützen. Die bisherige Untersuchung hat gezeigt, dass Joseph über eine ausgeprägte Fähigkeit zur Selbstdistanzierung verfügt: (1) von gegenwärtigen Ereignissen, um die mythologischen Muster zu erkennen, von denen sie bestimmt werden; (2) von der eigenen Identität, was es ihm erlaubt, sie zeitweise aufzugeben und von einer mythischen Rolle in die nächste zu wechseln; und sogar (3) vom eigenen Leben – weit genug, dieses Leben bewusst an den Plänen Gottes auszurichten. Und wie er mit Identität und Welt spielerisch umgeht, so nimmt auch sein Verhältnis zum eigenen Leben spielerisch-künstlerische Züge an, als er beginnt, es als eine »zu inszenierende Geschichte«1326 aufzufassen. In seinem Versuch, Mut-em-enet ihr Begehren auszureden, warnt Joseph: [M]eine Worte werden bestehen bleiben, und wenn unsre Geschichte aufkommt und kommt in der Leute Mund, so wird man sie anführen. Denn alles, was geschieht, kann zur Geschichte werden und zum Schönen Gespräch, und leicht kann es sein, daß wir in einer Geschichte sind. Darum hüte auch du dich und hab’ Erbarmen mit deiner Sage, daß du nicht zur Scheuche werdest in ihr und zur Mutter der Sünde (GW V, 1172).

Anhand dieser Aussage lässt sich der gedankliche Prozess nachvollziehen, in dem Joseph die Möglichkeit bewusst wird, sein Leben könne eine Geschichte sein. In diesen drei Sätzen kommt das Wort ›Geschichte‹ dreimal vor, und jedes Mal hat es eine etwas andere Bedeutung:1327 Beim ersten Mal (»wenn unsere Geschichte aufkommt«) bedeutet es ›Skandalgeschichte‹ – etwas, worüber die Menschen reden. Im zweiten Fall (»alles, was geschieht, kann zur Geschichte werden«) verdeutlicht der Verweis auf das ›Schöne Gespräch‹, dass Geschichte einerseits ›Überlieferung‹ oder ›tradiertes Wissen‹ meint, andererseits aber auch eine narrative Struktur impliziert. Josephs Feststellung, es sei sehr wohl mög1325 Murdaugh (1976), S. 91. 1326 Schöll (2004), S. 299. Allerdings tritt dieser Wandel nicht erst, wie Schöll annimmt, »im vierten Band« [ibid.] der Tetralogie auf, sondern bereits während Josephs Aufenthalt in PeteprÞs Haus. 1327 Auch Murdaugh weist auf diese Bedeutungsunterschiede hin, fasst sie allerdings etwas anders auf, vgl. Murdaugh (1976), S. 97 f.

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lich, dass er und Mut in einer Geschichte seien, bezieht sich somit nicht darauf, dass ihre Erlebnisse unvermeidlich Teil der Weltgeschichte sind,1328 sondern deutet die Möglichkeit an, sie könnten versprachlicht, in eine Erzählung überführt und auf diese Weise tradiert werden. Er wechselt damit seine Bezugsebene, spricht nicht mehr über Ereignisse, Personen und Dinge, sondern über die sprachlichen Repräsentationen, die die Form darstellen, in der sie in die »Weltüberlieferung« (GW IV, 152) eingehen. Zudem stellt er eine erste Verbindung zur Sphäre des Künstlerischen, zu Inszenierung und »Tempeltheater« (GW V, 1252) her, indem er Mut-em-enet davor warnt, sie werde die ›Mutter der Sünde‹ zu spielen haben. Er weist der Herrin eine Rolle zu und übernimmt damit, wenn auch nur andeutungsweise und für den Augenblick, die Funktion eines Regisseurs der eigenen Geschichte. Später stellt er Mai-Sachme gegenüber fest: Groß ist das Schrifttum! Aber größer noch ist es freilich, wenn das Leben selbst, das man lebt, eine Geschichte ist, und daß wir in einer Geschichte sind, einer vorzüglichen, davon überzeuge ich mich je länger, je mehr. Du bist aber mit darin, weil ich dich hineinnahm zu mir in die Geschichte, und wenn in Zukunft die Leute vom Haushalter hören und lesen […], so sollen sie wissen, daß du es warst (GW V, 1511 f.).

Der Verweis auf das Schrifttum Ägyptens bezieht sich auf Mais misslingende Versuche, sein »Abenteuer von den drei Liebschaften, die ein und dieselbe sind, auf eine erfreuliche und vielleicht sogar erregende Weise zu Papier zu bringen« (GW V, 1322).1329 Joseph, das verrät die Analogie, »begins to perceive not only the patterns of his own life, but his life itself as a Geschichte, in which he takes part creatively and which he shapes himself«:1330 Indem er entscheidet, mit MaiSachme eine neue Figur in die Geschichte aufzunehmen1331 und sogar ihre zu1328 »[I]n der Geschichte der Welt steht jeder. Man braucht nur in die Welt geboren zu sein, um so oder so und schlecht und recht durch sein bißchen Lebensgang zur Gänze des Weltprozesses sein Scherflein beizutragen« (GW V, 1558). 1329 Während Hermsdorf davon ausgeht, dass Mai-Sachmes literarische Versuche als Kontrastfolie zu Josephs Künstlertum fungierten, da sie eine Kunst repräsentierten, die den Kontakt zum Leben verloren habe [vgl. Hermsdorf (1968), S. 257], fasst Nolte die Gegenwart des Hobby-Schriftstellers Mai als Vorteil auf: »When Joseph is in prison, his gaoler is Mai-Sachme, who […] tries to become the narrator of his story […]. He appears to contribute further to Joseph’s growing detachment and consciousness regarding his own life« [Nolte (1996), S. 136]. 1330 Ibid., S. 135. 1331 Clerico weist darauf hin, dass die Distanz Josephs zu sich selbst und seiner Rolle nicht nur die Voraussetzung für seinen künstlerischen Zugriff auf das eigene Leben darstelle, sondern von dieser Form der Weltwahrnehmung auch ihrerseits verstärkt werde: »Josephs spielerischer Umgang mit der Rolle des Dichters seines eigenen Lebens verschafft ihm Macht: Er erlangt intellektuelle Verfügungsgewalt über die anderen ›Figuren‹ der von ihm ›erzählten‹ Geschichte und eine größere Distanz zu seiner eigenen Rolle« [Clerico (2004), S. 149 f.].

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künftige Wirkung im Blick hat, verhält er sich zu seinem Leben wie ein Künstler zu seinem Werk. Er ist »nicht nur der Held seiner Geschichten, sondern ihr Regisseur, ja ihr Dichter« (GW XI, 666),1332 was sich am deutlichsten anlässlich der »komödiantisch inszenierte[n] Wiederbegegnung mit den Brüdern«1333 zeigt. »Together with Mai-Sachme Joseph stages his own Feststunde like a director, and he gives attention to the smallest detail:«1334 »[N]un kommt’s darauf an und liegt uns ob, daß wir sie ausgestalten recht und fein und das Ergötzlichste daraus machen und Gott all unseren Witz zur Verfügung stellen« (GW V, 1590). Joseph hat keine Muße für Brettspiel oder Zofentanz, sondern »muß selber gaukeln und [s]ich im Spiele regen, Zuschauer aber sind Gott und die Welt« (GW V, 1676). Hier zeigt sich noch einmal sehr deutlich sein wirkungsästhetischer Anspruch: Es geht ihm nicht nur darum, dass »die Welt unter Tränen zu lachen habe länger als fünftausend Jahre lang« (GW V, 1594), seine Inszenierung ist überdies auf den »Herrn der Pläne« (GW V, 1520) hin berechnet, denn schlussendlich ist es sein Ziel, durch seine Fest-Aufführung »Gott selbst, den gewaltig Antwortlosen, zum Lächeln [zu] bringe[n]« (GW V, 1597).1335 Der Verweis auf die Pläne Gottes macht deutlich, wie weit die Analogie mit Mai-Sachme und seiner Ausgestaltung der Geschichte von den drei Liebschaften tatsächlich reicht: Wie der frühere Gefängnisamtmann grundsätzlich an seine Erlebnisse gebunden ist und nur »Nechbets drittes Erscheinen« (GW V, 1372) nach freier Erfindung hinzufügen kann, so ist auch Josephs gestalterische Freiheit beschränkt durch sein Wissen darum, »wo Gott hinaus[will], und wie er diese Geschichte lenkt« (GW V, 1590) – und er ist sich dieser Einschränkung bewusst: »Diese ganze Geschichte steht […] schon geschrieben, Mai, in Gottes Buch, und wir werden sie miteinander lesen unter Lachen und Tränen« (GW V, 1596).1336 1332 Vgl. Hermsdorf (1968), S. 256; Murdaugh (1976), S. 98; Schulz (2000), S. 317 f.; Giebel (2001), S. 70 und Clerico (2004), S. 148. Die Annahme Dürrs, auch Esau sei »ein Mythenspieler« [Dürr (2006), S. 138], der die eigene Geschichte zu gestalten vermöge, überzeugt nicht: Zwar weiß der ›Rote‹ um seine Rolle, aber sein Einfluss auf sie beschränkt sich auf Kleinigkeiten. 1333 Kurzke (1997), S. 252. 1334 Nolte (1996), S. 149. 1335 Schon auf dem Weg nach Zawi-Re hat Joseph gegenüber Cha’ma’t die Bedeutung der Unterhaltung hervorgehoben, die, wenn sie mit »Anklang […] ans Höchste« (GW V, 1302) geschehe, eine »vertraulichere Lobpreisung« (ibid.) sei als ein »langweilige[s] Halleluja« (ibid.): »Daß sich der Mensch unterhalte und nicht sein Leben hinbringe wie das dumpfe Vieh, das ist doch schließlich die Hauptsache, und wie hoch er es bringt in der Unterhaltung, darauf kommt’s an« (ibid.). 1336 Wenn Joseph Mai-Sachme gegenüber feststellt, das ›Heilige Spiel‹ werde »sich abspielen, als ob’s schon geschrieben stände und spielte sich eben nur ab nach der Schrift« (GW V, 1645), dann beschreibt er zugleich das Verhältnis, in dem der Erzähler von Joseph und seine Brüder zu seiner Geschichte steht, dem es ja ebenfalls darum zu tun ist, »das sich

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Wie das »Fest der Erzählung« (GW IV, 54) ist auch das »heilige Spiel« (GW V, 1675) ein Kunstereignis: Es ist Tempeltheater, sein Schauplatz keine Bühne, sondern das theatrum mundi, und sein Publikum »Gott und die Welt« (GW V, 1684).1337 Joseph, dieses »Genie der Unterhaltungskunst«,1338 gestaltet es in allen Einzelheiten und geht sogar so weit, besonders gelungene Äußerungen seiner unfreiwilligen Mitspieler für sich zu reklamieren.1339 Er ist der Spielleiter dieses Stücks, ein Lebens-Künstler nicht nur durch Mundfertigkeit, Selbstinszenierung und mythische Hochstapelei, sondern auch und vor allem in dem Sinne, dass er sein Leben zur Kunst macht. Er tut dies nicht wie Goethe in Lotte in Weimar, der das Leben an die Kunst verrät, sondern indem er den Gegensatz aufhebt, der zwischen diesen beiden Sphären besteht, und damit etwas vollbringt, das im Gesamtwerk Thomas Manns ohne Beispiel ist. Zugleich kommt in der Vorstellung, dass ein »Künstler nicht vorrangig ein Werk, sondern sich selbst, sein Leben als Kunstwerk«1340 auffasse und forme, eines der Merkmale zum Ausdruck, die das systematische Geniekonzept dieser Arbeit konstituieren: Die von Joseph erreichte Identität von Leben und ›Werk‹ kann als die höchste Form von Authentizität aufgefasst werden,1341 und als ein Zeichen der Modernität von Joseph und seine Brüder.

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selbst erzählende Leben« (GW V, 1005) möglicht authentisch zu restituieren. Obgleich Joseph sich also dadurch, dass er ein Bewusstsein für die eigene Geschichte entwickelt, dem Erzähler der Tetralogie annähert, sind Behauptungen wie diejenige Wißkirchens, Thomas Mann mache Joseph »zum Mitautor« [Wißkirchen (2004), S. 48] des Romans, kaum überzeugend: Das Attribut ›Mitautor‹ weist der fiktionalen Figur Joseph eine Stellung zu, die derjenigen Theodor W. Adornos in bezug auf den Doktor Faustus entspräche; vgl. außerdem Murdaugh (1976), S. 14; Pütz (1991), S. 187 und Friedrich Junge: Thomas Manns fiktionale Welt Ägypten, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), S. 37 – 58, hier : S. 47. Auch sprachlich besteht kein Zweifel daran, dass hier ein Stück inszeniert wird: Bezogen auf den Höhepunkt der Handlung, das Ich bin’s, zeigt Joseph sich zuversichtlich, dass »das Wort der Rolle« (GW V, 1646) ihm schon bleiben werde; die Anwesenheit seiner ägyptischen Beamten ist ihm »willkommen, da er Komparsen braucht[]« (GW V, 1677), und als sich die Stunde der Entscheidung nähert, erinnert sein Verhalten nach den Worten des Erzählers »sehr an das Herumrennen fertig maskierter Komödianten, bevor es angeht« (GW V, 1676); vgl. Hermsdorf (1968), S. 256 und Giebel (2001), S. 70. Eisenhauer (1991), S. 247. So fragt er Mai-Sachme, bezugnehmend auf eine Äußerung Rubens: »Und wie der große Ruben sagte: ›Wir erkennen dich in deiner Größe, du aber erkennst uns nicht in unserer Unschuld‹, war das nicht golden und silbern?« (GW V, 1621). Den Einwand des Freundes, er könne doch gar nichts dafür, dass jener so gesprochen habe, lässt Joseph nicht gelten: »Aber ich hatte es darauf angelegt! Und überhaupt bin ich verantwortlich für alle Einzelheiten des Festes« (ibid.). Klinger (2000 – 2005), S. 156. Es könnte argumentiert werden, der Begriff der Authentizität, verstanden als möglichst unverfälschter Ausdruck von Individualität, ließe sich nicht auf eine Figur anwenden, deren Persönlichkeit und Bewusstsein von mythischen Strukturen bestimmt und geformt sei. Dieser Einwand ist prinzipiell berechtigt, da in Bezug auf Eliezer, der vollkommen in

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Der Gesonderte und die Welt

Ausgehend von der Beziehung des jungen Joseph zu den Söhnen Leas und der Mägde wird in diesem Kapitel der doppelte Bildungsprozess nachvollzogen, der ihn in die Lage versetzt, von dem selbstverliebten Narziss, der sich mit seiner »sträfliche[n] Egozentrizität« (GW XI, 666) ›in die Grube‹ bringt, zum »Schattenspender des Königs« (GW V, 1480) aufzusteigen. Im Laufe dieser Entwicklung lernt Joseph nicht nur, auf die Ansichten und Gefühle seiner Mitmenschen Rücksicht zu nehmen, sondern erwirbt auch all die Kenntnisse, die ihn befähigen, seine Aufgaben als »Herr des Überblicks« (GW V, 1442) erst über Zawi-Re und dann über ganz Ägypten zu erfüllen. Als Jaakobs Sohn sein Amt im Dienste des Pharao antritt, hat er sowohl seinen Narzissmus überwunden als auch die Androgynie seiner Erscheinung eingebüßt: die beiden Attribute, die ihn in seiner Jugend vor allen anderen Eigenschaften als Künstler ausgewiesen haben. Es stellt sich folglich die Frage, ob er auch als ›Ernährer‹ noch ein Künstler ist, worin dieses Künstlertum besteht, und wie Joseph ein Künstler und zugleich Verwaltungsbeamter, Sozialpolitiker, »Volkswirt« (GW V, 1686) und vor alldem Ehemann und Familienvater sein kann.

4.1.

Der Erzgescheite und die Hundsköpfe

Das Verhältnis zwischen Joseph und seinen Brüdern1342 ist geprägt von der »gefühlvolle[n] Willkür« (GW V, 1789), mit der Jaakob den »Sohn der Rechten« (GW IV, 634) sein ganzes Leben lang den Kindern Leas und der Mägde vorzieht; eine Ungleichbehandlung, die ihn schon als Kind zum Außenseiter werden lässt: Er ist ungefähr neun Jahre alt,1343 als seine Brüder anfangen, »Blicke zu wechseln ob der Narretei, die der Alte anstellt[] mit dem mundfertigen Balg« (GW IV, 165). Bereits zu diesem frühen Zeitpunkt beginnt sich die Konstellation des Einzelnen herauszubilden, der einer Gruppe gegenübersteht, und einige Jahre später hat seiner Rolle aufgeht, kaum von Authentizität gesprochen werden kann. Im Kapitel Der Erzgescheite und die Hundsköpfe wird jedoch gezeigt werden, dass Joseph sich sehr weitgehend aus der Bindung an den Mythos löst und im spielerischen Umgang mit den verschiedenen Rollen eine beinahe ›modern‹ anmutende Individualität zum Ausdruck bringt. Insofern kann die Art, wie er sein Leben führt und formt, durchaus als authentischer Ausdruck seiner Persönlichkeit angesehen werden. 1342 Wenn im Folgenden von ›den Brüdern‹ die Rede ist, sind damit die sechs Lea-Söhne und »die vier von den Mägden« (GW V, 1600) gemeint, nicht aber Benjamin, der als Josephs Vollbruder ebenfalls eine Sonderrolle spielt und außerdem sowieso »bei nichts […] dabei gewesen« (GW V, 1820) ist. 1343 Bei der Begegnung mit Esau am Jabbok ist er »fünf Jahre alt« (GW IV, 351), und als die Brüder erste Blicke tauschen, zelten die Jaakobsleute »seit fast vier Jahren vor Schekem« (GW IV, 164).

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dieser Gegensatz sich so weit verschärft, dass »die Älteren Rahels Sohn kaum noch sehen [können], ohne daß ihre Gesichter sich entstell[]en« (GW IV, 83). Es ist jedoch nicht nur Jaakobs »innig-majestätische Vorliebe für Joseph« (GW IV, 86), die diesen daran hindert, unter den Brüdern eine Stellung »als Zugehöriger und Einverstandener ihrer Sohnesgemeinschaft gegen den Alten« (GW IV, 398) einzunehmen: Die älteren Jaakobssöhne sind »allesamt, was Joseph, um recht in ihrer Gemeinschaft aufzugehen, auch [sein müsste]: Hirten und gelegentlich […] auch feldbestellende Bauern« (GW IV, 413). Joseph hingegen leistet solche Arbeiten nur gelegentlich und nach Belieben, er ist ein »Schreiber« (GW IV, 493): nicht nur schriftkundig und umfassend gebildet, sondern noch dazu »hübsch und schön« (GW IV, 541), was auf keinen der Söhne Leas und der Mägde zutrifft: Es widersteht unserm Griffel, die Brüder und Stammhalter […] in Bausch und Bogen als recht gewöhnliche Burschen zu bezeichnen. […] Erstens jedoch konnte von Schönheit bei denen sowenig, die dem Joseph an Jugend näher waren, wie bei denen, die schon hoch in den Zwanzigern standen, als er siebzehn zählte, im entferntesten die Rede sein […]; und was nun gar Wort und Weisheit betraf, so gab es keinen unter ihnen, der sich nicht geradezu eine Ehre daraus gemacht hätte, nicht das geringste davon zu halten und zu verstehen (GW IV, 412).1344

Doch sind Schönheit und Hässlichkeit, Bildung und Unbildung nur die äußeren Anzeichen eines tiefergehenden Gegensatzes: Den Brüdern, trotz individueller Unterschiede durch eine Art Kollektiv-Identität gekennzeichnet,1345 steht der Einzelne gegenüber, der Gruppe ›gewöhnlicher Burschen‹ der Besondere, »ein Anmutiger und Gewitzter, ein Götterliebling, zum ›Sichvergaffen‹ schön, ein Künstler und Träumer«.1346 Und da die Brüder »in ihrer Kollektivität offenbar eine soziale Qualität«1347 verkörpern, kann dieser Widerspruch auch als Gegensatz »zwischen dem einsamen Künstler-Ich und der Gesellschaft«1348 aufgefasst werden – eine im Werk Thomas Manns nur zu vertraute Konstellation. Wie Goethe und Adrian Leverkühn steht der junge Joseph der Gesellschaft als Außenseiter gegenüber, und für seinen heimlichen Wunsch, diesen Gegensatz zu 1344 Dem minäischen Kaufmann gegenüber bringt Juda die Einstellung der Brüder gegenüber der Schreibkunst deutlich genug zum Ausdruck: »Wir erachten’s für Sklavensache« (GW IV, 610). 1345 Sie treten fast immer »gebündelt« (GW V, 1602) und als Gruppe auf, so in der Rolle des »zehnköpfige[n] Kain« (GW V, 1544) bei Josephs ›Ermordung‹, und selbst Benjamin nimmt die übrigen Brüder nicht als Individuen wahr, wie sich bei ihrer unvollzähligen Rückkehr aus Ägypten zeigt: »[E]r sah weder neun noch zehn, sondern einfach die Brüder« (GW V, 1631). 1346 Kurzke (2003), S. 63. 1347 Hermsdorf (1968), S. 193. 1348 Wolters (1998), S. 195; vgl. auch Lehnert (1993), S. 103.

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überwinden, spricht die bereitwillige Teilnahme an den gemeinsamen Erntearbeiten: Es wäre ihm ein leichtes gewesen, von Jaakob Befreiung von der Feldfron zu erlangen, aber er dachte nicht daran, […] weil die Arbeit […] ihn den Brüdern näherte und er’s in frohem Stolze genoß, mit ihnen zusammenzuwirken (GW IV, 503).

Die Tatsache, dass Joseph die Wahl hat, »nach Belieben zu Hause« (GW IV, 398) zu bleiben und nur zu arbeiten, wenn ihm der Sinn danach steht, macht erneut deutlich, dass die üblichen Regeln des Zusammenlebens im Volke Israel für ihn nicht gelten. Er verfügt über ein vollkommen einzigartiges Maß an Selbstbestimmung, was als ein weiterer Hinweis auf die Autonomie des Genies verstanden werden kann. Bei der gemeinsamen Tätigkeit erfährt Joseph eine Andeutung von Gemeinschaft, die er allerdings bald darauf durch seine gedankenlose Schwatzhaftigkeit zunichte macht. Nicht nur die Feindschaft der Brüder, auch die lächelnde Bewunderung für seine Schönheit und seinen Witz distanziert ihn von seinen Mitmenschen, so dass er, »obgleich jedermann mit hohen Augenbrauen lächelt[], der ihn [sieht], doch recht vereinsamt« (GW IV, 441) dasteht – eine Isolation, die er durch die »elitäre Attitüde seines Wesens«1349 nur noch verschärft. An dieser Stelle ist ein Exkurs zur Frage der Individualität in Joseph und seine Brüder notwendig. Joseph als Individuum gegenüber der Gesellschaft zu charakterisieren, wirft die Frage auf, welche Bedeutung das Konzept der Individualität in einer fiktionalen Welt haben kann, in der die Persönlichkeit des Einzelnen von mythischen Mustern bestimmt wird. Das beste Beispiel für ein Ich-Bewusstsein, das vollständig im Mythos aufgeht, ist Josephs Lehrer Eliezer. Er führt ein gänzlich »vorindividuelles, ganz mythisch gebundenes Leben«,1350 so dass von »Identität im heutigen Begriffsverständnis […] nicht die Rede sein«1351 kann. Im Gegensatz dazu ist Jaakob ist eine Figur des Übergangs:1352 Er lebt nach den Regeln des Mythos, richtet sein Handeln an dem Muster seiner Vorväter aus, während die Bedeutung, die er seinem persönlichen Gefühl beimisst, als deutliches Anzeichen eines sich entwickelnden Ich-Bewusstseins angesehen werden kann: »[D]er Kult, den er seinen Gefühlen widmet […], ist die sanfte, aber stolze Behauptung eines Ich, das sich würdevoll als Subjekt und Held 1349 1350 1351 1352

Wolters (1998), S. 195. Neumann (2001), S. 108. Schulz (2000), S. 76. Thomas Mann fasst diese im Entstehen begriffene Individualität der Figuren in ein plastisches Bild: »[I]hr Ich löst sich aus dem Kollektiven etwa so, wie gewisse Figuren Rodins sich aus dem Stein losringen und aus ihm erwachsen. Auch Jaakob, der Geschichtenschwere, ist eine solche halbabgelöste Gestalt: seine Feierlichkeit ist noch mythisch und schon individuell« (GW XI, 666).

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seiner Geschichten fühlt« (GW XI, 666).1353 Damit beschreibt Joseph und seine Brüder auch die »Geburt des Ich aus dem mythischen Kollektiv« (GW XI, 665).1354 Einen deutlichen Hinweis darauf, dass sich Josephs Individualität und IchBewusstsein substantiell von dem seiner Vorväter unterscheidet, bildet die Tatsache, dass sein Name nicht »geschlechtserblich« (GW IV, 129) ist. Der Erzähler stellt fest, seit der Zeit des ersten Eliezer habe so mancher Abraham, Isaak und Jaakob die Geburt des Tages aus der Nacht geschaut, ohne dass der einzelne […] die Grenzen seiner ›Individualität‹ gegen die der Individualität früherer Abrahams, Isaaks und Jaakobs sehr deutlich abgesetzt hätte (GW IV, 129).1355

Diese Namen geben ›Spuren‹ vor, können als Lebensvorbilder dienen und gehören damit dem Mythos an. Nolte nennt »the absence of a fully-developed ego«1356 als eines der Merkmale des mythischen Bewusstseins und fügt hinzu: »This condition is encouraged by the fact that names are inherited and thus make the adoption of a certain ›mythical‹ role almost natural.«1357 Joseph ist nicht Teil dieser mythischen Abfolge des Immer-Gleichen: Weder hat er Namen und Rolle von einem Vorfahren übernommen, noch wird er sie an einen Nachkommen weitergeben; sein Leben und seine Geschichte bilden eine »geschichtliche Neugründung« (GW IV, 136), die sich nur unter spezifischen Um1353 Auch Neumann deutet Jaakobs differenziertes Gefühlsleben als Indikator für den Grad seiner Individualisierung: »Die Entschiedenheit seiner Liebeswahl entspringt rein Jaakobs individuellem Gefühl für die individuell liebenswerte Rahel. Hierin emanzipiert sich das Persönliche vom Musterhaften« [Neumann (2001), S. 110]. 1354 Clerico postuliert eine »Tendenz zur Einsicht in die persönliche Identität, zur Entwicklung des individualisierten Ichs« [Clerico (2004), S. 38] von Abraham über Jaakob zu Joseph. Dagegen spricht, dass Abrahams theologische Maxime, der Mensch dürfe »ausschließlich dem Höchsten dienen« (GW IV, 425), bereits einem Gefühl für die Bedeutung des eigenen Selbst entspringt, das der Erzähler »fast hoffärtig und überhitzt« (ibid.) nennt. Der Urwanderer, der »die Eigenschaften Gottes mit Hilfe der eigenen Seelengröße« (GW IV, 431) ausgemacht hat, verfügt über ein exzeptionell ausgeprägtes »Selbstgefühl« (GW IV, 425): Er steht vor Gott als ein Individuum [vgl. Schulz (2000), S. 84], und keineswegs ist »sein gottvoll mutiges Ich gesonnen, in Gott zu verschwinden, mit Ihm eins zu werden und nicht mehr Abraham zu sein« (GW IV, 431). Der Mondwanderer vollendet das Konzept der Individualität, das er selbst in die Welt von Joseph und seine Brüder einführt, in der eigenen Person, so dass der Bund Abrahams mit dem Herrn im Bedeutungszusammenhang der Joseph-Tetralogie als Geburtsstunde des Individuums gelten kann. 1355 Eine Sonderstellung nimmt naturgemäß der ursprünglich-erste Abraham ein, der Gott ›hervorgedacht‹ und damit die Grundlage der Glaubensüberlieferung seines Familienstammes gelegt hat: Er hat keinen Vorgänger, in dessen Spuren er wandeln könnte; seine geistige Rastlosigkeit hat ihn »ins Leere [getrieben], wo nichts war, so daß er das Neue selber aus sich hervorbringen musste« (GW V, 1551). 1356 Nolte (1996), S. 79. 1357 Ibid.

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ständen ereignen und deshalb nicht wiederholt werden kann.1358 Er ist Teil der mythischen Welt und ›modernes‹ Individuum1359 zugleich, separated from his family […] by his psychological development and his increasing consciousness. He leaves the family collective by stepping out of the mythical consciousness, thus releasing himself from the participation mystique.1360

»Josephs Weg führt aus der […] Existenz im Mythisch-Kollektiven zur Entstehung eines bewussten Ichs und zum spielerischen Umgang mit dem Mythus«,1361 woran sich zeigt, dass das sich aus dem Mythos befreiende Ich »sehr bald ein künstlerisches Ich [wird], reizvoll, heikel und gefährdet, […] mit eingeborenen Möglichkeiten der Entwicklung und des Reifens, die es vorher noch nicht gab« (GW XI, 666). Im Falle von Jaakobs Sohn ist diese »kecke Existenzform«1362 begabten Künstlertums gekennzeichnet durch »sträfliche[] Egozentrizität« (GW XI, 666) und ausgeprägte Selbstliebe, da Josephs Verhältnis zu seiner Umgebung bestimmt wird von der »wie ein Naturgesetz feststehende[n] Überzeugung, daß jedermann ihn mehr lieben müsse als sich selbst« (GW IV, 556). Sie hat zur Folge, dass er es nicht für nötig hält, sich über mögliche Konsequenzen seines Handelns Gedanken zu machen oder die Reaktionen seiner Mitmenschen zu erwägen: 1358 Vgl. Heftrich (1989a), S. 732. – Die Einmaligkeit des Namens wie der Person deutet darauf hin, dass der Herausbildung individuellen Bewusstseins und der Lösung aus den mythischen Mustern »der allmähliche Übergang einer zyklischen Zeitauffassung in eine progressive und damit das Aufkommen eines historischen Bewusstseins« entspricht [Clerico (2004), S. 34]. Das lässt sich exemplarisch daran ablesen, dass der Erzähler Esau bei einer Gelegenheit als »Josephs Oheim« (GW IV, 189) identifiziert, weil es »bedeutend sicherer [sei], seine Identität nach der absteigenden als nach der aufsteigenden Verwandtschaft zu bestimmen« (ibid.). Augenscheinlich bietet ›Joseph‹, anders als Namen und Personen, die am mythischen Kreislauf teilnehmen, einen zuverlässigen Referenzpunkt. – Auf das Verhältnis von mythisch-zirkulärer und historisch-linearer Zeit in Joseph und seine Brüder kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden, vgl. aber Hermsdorf (1968), S. 198 f.; Dedner (1988), S. 32; Borchmeyer (1998a), S. 211 und Kurzke (2003), S. 26. 1359 Diese Doppelung ist eine Folge der Doppelperspektive von Joseph und seine Brüder, der narrativen Fiktion, ein Erzähler sei aus dem 20. Jahrhundert durch den »Brunnen der Vergangenheit« (GW IV, 9) in die mythische Welt hinabgefahren und beschreibe sie nun mit ›modernen‹ Methoden und Kategorien, zu denen auch die des Individuums gehört. 1360 Nolte (1996), S. 77. Nolte definiert participation mystique als »the non-differentiation of subject from object« [ibid.]. 1361 Clerico (2004), S. 34. – Die Behauptung Hughes’, »von Abraham zu Jaakob [wachse] allmählich eine Tendenz zur Einsicht in die persönliche Identität« [Hughes (1975), S. 24], bestätigt sich also nicht: Der Urwanderer, der die Vorstellung Gottes aus sich selbst hervorbringt, entfaltet damit seine Individualität in Vollendung. In den nachfolgenden Generationen tritt die Individualität des Einzelnen hinter dem Einfluss mythischer Muster zurück, bis sie sich in der Person Josephs in einem Ausmaß entwickelt, das die Form des Künstlertums annimmt; vgl. Heftrich (1990), S. 16. 1362 Brief Thomas Manns an Jonas Lesser vom 1. 1. 1943, zitiert nach Mann (1999), S. 233.

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Gleichgültigkeit gegen das Innenleben der Menschen und Unwissenheit darüber zeitigen ein völlig schiefes Verhältnis zur Wirklichkeit, sie erzeugen Verblendung. […] Seine Vertrauensseligkeit war eine Art von Verwöhnung, die ihn trotz unzweideutigster Gegenzeichen beredete, daß alle Menschen ihn mehr liebten denn sich selbst und daß er also keine Rücksicht auf sie zu nehmen brauche (GW IV, 485).

Im Verhältnis zur ›Welt‹ nimmt Jaakobs Sohn »die Stellung eines Künstlers ein, der das Leben zwar metaphysisch transzendieren kann, es jedoch immer nur auf sich selbst bezieht.«1363 Er ist ein »künstlerisch begabte[r] Träumer-Narziß«,1364 der »den Konflikt mit den Brüdern selbst hervor[ruft], weil er in seiner narzißtischen Befangenheit nicht versteht, wie er deren Neid erweckt«:1365 »Mit dem jungen Joseph gestaltet Thomas Mann das ästhetische Dilemma des Künstlers, der sich kategorisch weigert, der Gesellschaft Bedeutung beizumessen«,1366 und schafft damit die Voraussetzung für die Alterität des Genies. Auch seine Androgynie, die »Joseph sowohl als Gott wie auch als Künstler erkennbar«1367 macht, trägt zu dieser Außenseiterstellung bei, da sie der »rohe[n] Männlichkeit«1368 der Brüder gegenübersteht: Mit seiner erotischen Wirkung auf beiderlei Geschlecht passt Joseph […] nicht in das geschlechtlich streng dualistische Weltbild des Patriarchats, in dem er lebt, zumal er um seine zweifach wirksame Schönheit weiß und sie für seine Zwecke zu nutzen versteht.1369

Josephs Verhältnis zur ›Welt‹ entspricht damit in der Tat dem des Künstlers als Antipoden der Gesellschaft: Schon als Jüngling ist er »der Gesonderte« (GW V, 1745), der Herausgehobene und Außenseiter und hat damit eine Stellung inne, die cum grano salis derjenigen Goethes oder Leverkühns gleichkommt.

1363 1364 1365 1366 1367 1368 1369

Wolters (1998), S. 195. Lehnert (2005), S. 192. Lehnert (1993), S. 104. Wolters (1998), S. 190. Marx (2002), S. 142. Kurzke (2003), S. 65. Schöll (2004), S. 230. Schöll weist darauf hin, dass sich das Scheitern von Josephs Fahrt zu den Brüdern bereits darin andeute, dass er sich auf einer Reise, deren erklärtes Ziel es sei, seine Mannheit zu erproben (vgl. GW IV, 525), mit Kranz und Schleier als Braut inszeniere, und dass mit Juda schließlich derjenige der Brüder den Abrahamssegen erbe, der als »Knecht der Herrin« (GW IV, 1798) »am deutlichsten über seine eindeutig männliche Geschlechtlichkeit definiert« sei [Schöll (2004), S. 230].

406 4.2.

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Die Jahre des Wachstums

Während der »drei Tage Brunnenzucht« (GW V, 1822) erkennt Joseph die »tödliche Fehlerhaftigkeit seines bisherigen Lebens« (GW IV, 668) und überwindet den »kindlichen Wahn, daß alle ihn mehr lieben müßten als sich selbst« (GW V, 940).1370 Er sieht nicht nur ein, dass er »den Brüdern die Träume nie und nimmer hätte erzählen dürfen« (GW IV, 575), sondern auch, dass er sie mit seinem Verhalten zu ihrer »verzweifelten Tat getrieben hat«.1371 Dem alten Minäer erläutert er : [E]s ist blind und tödlich, den Menschen zu trauen über ihre Kraft und ihnen zuzumuten, was sie nicht hören wollen noch können: vor solcher Liebe und Hochachtung läuft ihnen die Galle über, und sie werden wie reißende Tiere (GW IV, 675).1372

Diese Neubewertung seines Verhaltens in dem Wissen um seine Folgen verhilft Joseph zu der Einsicht, »dass er die Gefühle anderer Menschen berücksichtigen und sich etwas Menschenkenntnis aneignen muss«,1373 wenn er seine Fehler in Zukunft nicht wiederholen will. Schon im Gespräch mit Kedma, dem Sohn des alten Kaufmanns, beginnt er, diese Erkenntnis umzusetzen. Der junge Minäer zeigt sich irritiert von der Annahme des Sklaven, seine neuen Herren ›führten‹ ihn nach Ägypten, da sie impliziert, Joseph bilde den eigentlichen Zweck der Reise, während sie nur als Mittel dienten: »Meinst du Heda, wir reisen, damit du irgendwohin kommst, wo dein Gott dich haben will?« (GW IV, 665).1374 Um Kedma zu verdeutlichen, dass mit seiner Aussage der »Würde und Selbstherr-

1370 Vgl. Lehnert (1993), S. 105 f. und Schulz (2000), S. 233. 1371 Ibid., S. 301. Der Erzähler weist explizit darauf hin, dass Joseph während der Verprügelung in die »wut- und gramverzerrten Mienen« (GW IV, 573) der Brüder geblickt und angesichts der »Qual des Hasses, die er darin [habe] lesen können« (ibid.), Mitleid mit ihnen empfunden habe, »und das Mitleid mit einer Pein, als deren Urheber wir uns bekennen müssen, kommt der Reue gleich« (ibid.). 1372 Schulz sieht in diesem Bekenntnis der Reue einen »wesentliche[n] Schritt« [Schulz (2000), S. 303] in Josephs Entwicklung, da er seine Verantwortung damit nicht nur vor sich selbst, sondern auch vor einer anderen Person anerkenne. Eine Vorstufe dazu bestehe in Josephs Sorge um »des Vaters Herz« (GW IV, 572), die ihn nicht für sich selbst, sondern für Jaakob bitten lasse: »Ein erster Schritt aus der Egozentrik heraus ist das Erwachen des Mitleidens, das geradezu eine fundamentale Änderung in ihm hervorruft« [ibid., S. 300 f.]. 1373 Clerico (2004), S. 154. 1374 Der Kommentar Kedmas: »Du […] hast eine Art, dich in die Mitte der Dinge zu stellen, daß niemand weiß, ob er sich wundern soll oder ärgern« (GW IV, 665), mach deutlich, dass Josephs Erwähltheitsglaube von seiner Entwicklung unberührt bleibt. Der verdrießliche Wüstenführer macht eine ganz ähnliche Bemerkung (vgl. GW IV, 703), Mai-Sachme unterstellt Joseph »Selbstverzärtelung und Eigenminne« (GW V, 1321), und sogar Teje schließt sich dieser Einschätzung an: »Du hast eine Art […,] von deiner Sippe zu reden – als Mutter möchte ich sie verzogen nennen« (GW V, 1470).

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lichkeit« (GW IV, 706) der Ismaeliter kein Abbruch geschehe, erläutert Joseph ihm das Konzept der ›Weltkreise‹: [S]iehe, die Welt hat viele Mitten, eine für jedes Wesen, und um ein jedes liegt sie in eigenem Kreise. Du stehst nur eine halbe Elle von mir, aber ein Weltkreis liegt um dich her, deren Mitte nicht ich bin, sondern du bist’s. Ich aber bin die Mitte von meinem (GW IV, 665).

Die Einsicht, dass jeder Mensch das Zentrum eines eigenen ›Weltkreises‹ bilde, illustriert den Wandel, den Joseph durchlaufen hat, denn vor seinem Brunnensturz würde er »mit Kedmas eigenem Würdegefühl nicht gerechnet«1375 haben, da er einen anderen Standpunkt als den eigenen gar nicht erst in Erwägung gezogen hätte. Die ›Weltkreis-Theorie‹ verdeutlicht, dass seine »reine Egozentrik […] von einer Polyzentrik abgelöst [wurde], die die Existenzberechtigung anderer Menschen anerkennen kann.«1376 Joseph und die Minäer können gemeinsam nach Ägypten ziehen, ohne dass eine der beiden Parteien ihren Standpunkt aufgeben müsste, weil Gott ihre jeweiligen ›Weltkreise‹ tief ineinander gerückt und verschränkt [hat], also daß ihr Ismaeliter zwar ganz selbstherrlich reist und nach eigenem Sinn […], außerdem aber und in der Verschränkung Mittel und Werkzeug seid, daß ich an mein Ziel gelange (GW IV, 666).

Die beiden Sichtweisen schließen einander nicht aus, wie Joseph seinem Zeltgenossen versichert: Es ist »beides wahr, wie man redet, von dir aus oder von mir« (GW IV, 665 f.). Obwohl er also weiterhin überzeugt ist, dass die Ismaeliter »gewissermaßen nur reisen, damit [er] dahin komm[t], wo Gott [ihn] haben will« (GW IV, 706), nimmt er doch zugleich Rücksicht auf ihr Selbstgefühl, indem er die Auffassung, sie reisten unabhängig von seiner Person, ebenfalls gelten lässt. Genau diese Fähigkeit aber, »auch die Perspektive des anderen in seine Überlegungen einzubeziehen«,1377 hatte er in seinem Verhalten gegenüber 1375 Hughes (1975), S. 38. 1376 Schulz (2000), S. 302; vgl. MacDonald (1999), S. 185. – Es handelt sich um einen bedeutsamen Fortschritt, dem die Aussage Schölls, am »Weltbild des jungen Joseph schein[e] sich zunächst nicht viel geändert zu haben« [Schöll (2004), S. 268], nicht hinreichend Rechnung trägt: Zwar trifft es zu, dass Jaakobs Sohn die Nomaden mit seinen Ausführungen »zu Werkzeugen seiner eigenen Karriere im Exil« erklärt [ibid., Anm. 734], aber er hat begriffen, dass seine Sicht der Ereignisse nicht die einzig mögliche ist, denn das Modell der ›Weltkreise‹ impliziert die perspektivische Gebundenheit jedes Urteils über die Welt. – Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass der Erzähler Josephs Einschätzung bestätigt, der Minäer alleiniger Lebenszweck bestehe darin, Jaakobs Sohn nach Ägypten zu führen: »Es war getan. Die Ismaeliter von Midian hatten ihren Lebenszweck erfüllt, sie hatten abgeliefert, was nach Ägypten hinunterzuführen sie ausersehen gewesen, sie mochten weiterziehen und in der Welt verschwinden – es bedurfte ihrer nicht mehr« (GW IV, 813). 1377 Schöll (2005), S. 28; vgl. außerdem Scheiffele (1991), S. 168.

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den Brüdern vermissen lassen – eine tiefgreifende Veränderung in seiner Weltwahrnehmung: Josephs Erwählungs-Bewußtsein [bleibt] unerschüttert, das Verhalten zu seinen Mitmenschen aber unterzieht er einer Revision. Er versteht es von nun an, sich auf die realen Gegebenheiten und die psychologischen Situationen einzustellen.1378

Auch in Potiphars Haus beweist Joseph, dass er seine Lektion gelernt hat: Auf die Anweisung Mont-kaws, er solle dem Herrn vorlesen, reagiert er mit der Frage nach seinem »Vorgänger[] im Leseamt« (GW V, 938), und als der Meier sich nach dem Grund erkundig, erklärt er, »keines Mannes Grenzstein verletzen« (GW IV, 900) zu wollen. Obgleich diese »zarte Bedenklichkeit […] in erster Linie auf den Meier selbst berechnet [ist], in dem Bewußsein, daß sie ihn angenehm berühren werde« (GW V, 938), ist Jaakobs Sohn doch zugleich ehrlich bemüht, »die Überschatteten und Untertretenen mit seiner Existenz zu versöhnen« (ibid.), indem er ihnen schmeichelt und ihnen zur Entschädigung gute Ämter verschafft:1379 Auch wenn Joseph in Ägypten vor allem auf seinen Aufstieg hin orientiert ist, behandelt er doch nun – nachdem er die Bedeutung der Rücksichtnahme einzuschätzen gelernt hat – auch die mit mehr Entgegenkommen, die er bei seinem Aufstieg hinter sich läßt.1380

Die Mischung von Berechnung und Wahrhaftigkeit, die Joseph bei der Behandlung Mont-kaws und Amenemujes an den Tag legt, ist kennzeichnend für sein Verhalten in Potiphars Haus. Auch das Bemühen, die hohle Würde seines Herrn zu stützen, ist letztlich von der Erwägung bestimmt, dass er Gott bei der Erfüllung seiner Pläne »am besten behilflich sein w[e]rde, indem er […] PeteprÞ, dem Herrn, ›behilflich‹« (GW IV, 877) sei. Trotzdem lässt der Erzähler keinen Zweifel daran, dass Josephs Motive nicht ausschließlich strategischer Natur sind, sondern bemüht sich, »den Vorwurf kalter Spekulation von ihm abzuwehren« (GW IV, 876).1381 1378 Werner Schwan: Hermetische Heiterkeit in Thomas Manns Josephsroman, in: Hildebrand, Olaf; Pittrof, Thomas (Hrsg): »… auf klassischem Boden begeistert«. Antike-Rezeptionen in der deutschen Literatur. Festschrift für Jochen Schmidt zum 65. Geburtstag, Freiburg/Breisgau 2004, S. 433 – 448, hier : S. 439. 1379 Er überzeugt nicht nur Amenemuje davon, ein guter Vorleser gewesen zu sein, sondern auch den Herrn, ihm »zwei Festkleider« (GW V, 939) zukommen zu lassen und ihn zum »Schreiber der Süßigkeiten und Lustbarkeiten des Hauses der Abgeschlossenen« (ibid.) zu ernennen, so dass der frühere Vorleser »am Ende ganz gewonnen [ist] und aufrichtig gern seine Absetzung vom Leseamt in den Kauf [nimmt], um dessentwillen, daß sein Nachfolger so reizend zu ihm« (GW V, 938) ist. 1380 Schulz (2000), S. 327. 1381 Aus dem Umstand, dass Joseph »[m]it dem arbeitenden Volk auf Potiphars Hof […] nichts zu tun haben« wolle [Schöll (2004), S. 288], folgert Schöll, er kreise noch immer »nar-

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Von entscheidender Bedeutung für Josephs Reifeprozess ist seine Beziehung zu Mont-kaw. So können die abendlichen Segenssprüche, die dem Meier zu einem ruhigen Schlaf verhelfen, als ein Merkmal für Josephs »wachsenden Altruismus gewertet werden, denn er setzt die beruhigende Macht seiner Stimme auch dann ein, wenn er keinen direkten Nutzen davon hat.«1382 Der Bund für den Herrn, den er mit Mont-kaw schließt, prägt nicht nur sein Verhältnis zu PeteprÞ,1383 sondern stellt auch einen Meilenstein in Josephs Entwicklung dar. Dieses Verhältnis zu Potiphar ist eines seiner wichtigsten Bildungserlebnisse: Mont-kaw hat ihn zur Treue und echter Bemitleidung [sic!] eines anderen Menschen erzogen, und das ist genau die Art der Uebung [sic!], die Joseph braucht, um seinen Egoismus abzustreifen.1384

Doch Mont-kaws Einfluss reicht noch weiter. Indem er den Käufling zu seinem »Lehrling und Junggeselle[n]« (GW IV, 902) macht, übernimmt er die Rolle des Mentors, die in Josephs ›erstem Leben‹ Eliezer innehatte, und unterweist ihn in all den Kenntnissen und Fertigkeiten, deren er bedarf, um zunächst zum Hausmeier Potiphars, dann zum »Herrn des Überblicks« (GW V, 1327) über Zawi-Re und schließlich zum »Markthalter Ägyptens« (GW V, 1644) aufzusteigen. Als Mont-kaws »Mund und Adlat« (GW V, 1337) erlernt er »[i]m überschaubaren Rahmen […], was er dann im welthistorischen Massstab [sic!] anwenden und ausbauen wird«,1385 und wie bereits Jaakobs Ältesten Knecht, so versetzt er auch seinen ägyptischen Lehrer in Erstaunen durch die Raschheit und Eindringlichkeit seines Verstandes, dieses Vermögen eines so schönen Kopfes, die Dinge und Verhältnisse zu ergreifen und zu verknüpfen, ja, noch freihändig Vorschläge zu ihrer Verbesserung zu machen (GW V, 933).

1382 1383

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zisstisch um das eigene Ich« [ibid.]. Diese Lesart erscheint wenig überzeugend, denn Josephs Entscheidung, sich mit den Handwerkern nicht gemein zu machen, ist strategisch motiviert: Er will vermeiden, »seine Ungelerntheit vor ihnen bloßzustellen« (GW V, 932 f.), da es ihnen danach schwerer fallen würde, »einen allgemeinen Kopf in ihm zu erblicken, geschaffen zur Über- und Aufsicht« (GW V, 933), und ihn als ihren Vorgesetzten zu akzeptieren. Dass Joseph die Meinung zukünftiger Untergebener überhaupt in Erwägung zieht, macht seine Entwicklung deutlich. Zutreffend ist allerdings, dass während Josephs Aufenthalt in Potiphars Haus von einer »sozialen Ausrichtung […] noch nicht die Rede sein« kann [Schöll (2004), S. 287]. Schulz (2000), S. 176. Dass Joseph »Potiphars nächster Diener ward und dieser danach allmählich sein ganzes Haus unter des Ebräers Hände tat […], das war schon alles vorbereitet und keimweise enthalten in den Worten Mont-kaws und in dem Bunde, den er mit Joseph geschlossen, und war fix und fertig darin […], so daß es nur Zeit brauchte, sich zu entfalten und zu erfüllen« (GW V, 913). Zu der Analogie zwischen dem Bund des Volkes Israel mit Gott und dem ›Bund‹, den Joseph mit Mont-kaw zugunsten PeteprÞs und mit Teje zugunsten Pharaos schließt, vgl. Schulz (2000), S. 127 f. Hughes (1975), S. 43. Heftrich (1989b), S. 163.

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Als »Folge-Meier in Petepre’s Haus« (GW V, 1510) ist Joseph, der »im ersten Leben gar keine Pflicht und Anstrengung gekannt, sondern es ganz beliebig getrieben« (GW V, 960) hat, zum ersten Mal mit einer Situation konfrontiert, in der hochstaplerische Fähigkeiten, Schönheit und Charme nicht genügen, sein Ziel zu erreichen. Statt dessen ist er »eingespannt in strenge Ansprüche« (GW V, 959 f.), die er nur mit harter Arbeit zu erfüllen vermag: Viel saß er damals und arbeitete Rechnungen durch der Haushaltung und Wirtschaft, indem er, Zahlen und Aufstellungen vor Augen, seinen geistigen Blick auf die Wirklichkeit gerichtet hielt, von denen sie abgezogen waren (GW V, 933).

Zwar bildet auch in Ägypten die imitatio einer Götter- oder Erlösergestalt die Voraussetzung für Josephs Karriere, doch ist diese zugleich das Ergebnis »der harten Arbeit als Verwalter auf Potiphars Hof, guter Umgangs- und ›Ausdrucksformen‹ […] sowie emotionaler Rücksichtnahme auf die Empfindlichkeiten seiner Umwelt«.1386 Nur das Zusammenwirken dieser Faktoren ermöglicht es ihm, die Stellung des Verwalters von PeteprÞs Anwesen nicht nur zu erreichen, sondern auch erfolgreich auszufüllen.1387 Josephs ›verwaltungspraktische Ausbildung‹ bewährt sich auch in Zawi-Re, wo er von Mai-Sachme als Aufseher und »Verwaltungsgehilfe« (GW V, 1322) eingesetzt wird, nachdem sich gezeigt hat, dass er »etwas versteh[t] von der Industrie« (GW V, 1321). Binnen kurzer Frist ist Joseph für den Amtmann ebenso unentbehrlich wie vormals für Mont-kaw oder PeteprÞ, da er nicht nur »die Schreibstube und das Archiv« (GW V, 1330) in Ordnung bringt, sondern mit der Zeit auch »wie von selbst und ohne daß eine besondere Ernennung erfolgt wäre, zum Herrn des Überblicks in der Kanzlei und zum Nährvater der ganzen Festung« (GW V, 1327) aufsteigt – eine Stellung, die er nicht deswegen einnimmt, weil er es verstanden hat, Mont-kaw als Erlöserfigur zu erscheinen, sondern weil 1386 Schöll (2004), S. 276. 1387 In der Sekundärliteratur wird verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Joseph seinen Aufstieg nicht nur seinen Talenten verdanke, sondern auch der »historischen Ausnahmesituation« [Hermsdorf (1968), S. 239], die er in Ägypten vorfinde, so dass er »nur in diesem imaginären Augenblick von Thomas Manns poetischer Geschichtsutopie zum Retter Israels und der Völker werden« könne [Eckhard Heftrich: Joseph in der Fremde, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 67 – 82, hier : S. 70]. Die Bedingungen, die das ermöglichen, sind etwa die gesellschaftliche Wertschätzung alles Fremden und Ausländischen als fein und vornehm (vgl. GW IV, 832 – 835), und der Streit zwischen »dem AtumRÞ’s verbindlichem Sonnensinne zuneigenden Hof und Amuns eifernd lastender Tempelmacht« (GW V, 1364). Der Erzähler bezieht sich auf die Bedeutung dieser gesellschaftlichen Umstände, wenn er bemerkt, Ägypten sei so »weltgewohnt-weltlustig und dermaßen sittenlocker bereits, daß es für einen aufgelesenen Asiatenjungen nur einer gewissen Durchtriebenheit im Gutenachtsagen und in der Kunst [bedürfe], aus null zwei zu machen, um eines ägyptischen Großen Leibdiener und was nicht noch alles zu werden« (GW V, 961).

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er sich dank seiner »konkreten und wirkungsvollen Lösungsansätze[] für die anstehenden Verwaltungsfragen«1388 unter fachlichem Gesichtspunkt »als der Beste für die Sache«1389 erweist. Die Bedeutung des Aufenthalts in Zawi-Re liegt in Josephs persönlicher Entwicklung. In Mai-Sachme begegnet er »erstmals einer Person, die sich tätig für andere einsetzt und aus diesem sozialen Handeln ihre Selbstsicherheit bezieht«,1390 und diese Haltung seines ›Fronvogts‹ beeinflusst Josephs Einstellung zu seinen Mitgefangenen: Während es ihm in PeteprÞs Haus vor allem darum zu tun war, sich vor dem Gesinde keine Blöße zu geben, beginnt er nun, »im Sinne sozialer Verbesserung zu wirken«.1391 Nach dem Vorbild Mai-Sachmes setzt er »seine neugewonnene Machtposition […] ausgesprochen altruistisch [ein], indem er die harten Arbeitsbedingungen der Häftlinge erleichtert«1392 (vgl. GW V, 1326). Mai-Sachme ist der letzte und wichtigste in der Reihe der ›Ersatzväter‹ Josephs, deren Aufgabe darin besteht, dem narzisstischen Künstler und Träumer »zu einer weltlichen und realistischen Selbstauffassung zu verhelfen und ihn zum Dienst an anderen zu erziehen.«1393 Vor diesem Hintergrund kann Josephs Wirken in Zawi-Re als »eine Art Feinschliff für seine Humanität und als Vorbereitung für die unvergleichlich wichtigere Sozialarbeit«1394 angesehen werden, die er in Pharaos Diensten leisten wird. Einen Beleg für Josephs Entwicklung und zugleich die erste Bewährungsprobe seiner Bereitschaft, soziale Verantwortung in größerem Maße zu übernehmen, bildet das Gespräch mit Pharao. Zwar gewinnt Jaakobs Sohn die Aufmerksamkeit des Königs mit Allusionen ans Göttliche und versteht es geschickt, sich ihm ›unterzuschieben‹, doch hat dieses Vorteilsdenken die Merkmale narzißtischer Selbstliebe verloren, die es vormals hatte. Joseph denkt nicht mehr vorrangig an die eigene Stellung oder sein persönliches Glück, er sorgt vielmehr für die Angelegenheiten der Allgemeinheit.1395

Die mythischen Anspielungen bilden damit ebenso wenig den ausschlaggebenden Grund für seine Ernennung zum ›Ernährer‹ wie seine Deutung der Träume Pharaos; stattdessen gibt, wie schon in Zawi-Re, seine fachliche Kompetenz den Ausschlag:

1388 1389 1390 1391 1392 1393 1394 1395

Schöll (2004), S. 312. Hermsdorf (1968), S. 233. Fischer (2002), S. 697. Schöll (2004), S. 269. Schulz (2000), S. 331. Hughes (1975), S. 59. Ibid., S. 51. Schwan (2004), S. 442; vgl. auch MacDonald (1999), S. 233.

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Das hohe Amt, das Pharao ihm schließlich verleiht, verdankt Joseph nicht bloß seiner geläufigen Redekunst und den Familiengeschichten, mit denen er Pharao erheitert. Vielmehr legt Joseph dem Staatsoberhaupt Ägyptens ein fertig ausgearbeitetes Wirtschaftskonzept vor, das von seiner dezidierten Kenntnis der ökonomischen und politischen Verhältnisse Ägyptens zeugt.1396

Josephs Vorschläge, wie aus Dürre und Vorratshaltung politisches Kapital zu schlagen sei, sind vorwiegend darauf berechnet, Teje zu beeindrucken, da sie eine »politische Frau« (GW V, 1471) ist, und er ihren schwärmerischen Sohn bereits durch seine Ausführungen über das Wesen des Atún für sich eingenommen hat (vgl. 1462 – 1469).1397 Das Ausmaß von Josephs Entwicklung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass er, dessen überheblicher Versuch, Mut-em-enets »Erzieher spielen [zu] wollen« (GW V, 1239) so grandios scheitert, dem verträumten jungen Pharao gegenüber nun tatsächlich die Rolle des Erziehers einnimmt1398 und ihn zur Rüstigkeit gegenüber ausländischen »Räuberkönigen« (GW V, 1453) ermahnt. Einen wichtigen Schritt in Josephs Reifeprozess bildet der Pakt, den er mit Teje schließt, und der mehr als nur eine »Wiederholung des Bundes [darstellt], den Joseph bereits am Anfang seiner ägyptischen Laufbahn mit dem Hausmeier für Potiphar«1399 geschlossen hat. Die Bereitwilligkeit, mit der Joseph der Mutter Echnatons sein Wort gibt, ihrem Sohn »zu dienen und ihm zu helfen« (GW V, 1471), zeugt von seiner Bereitschaft, Verantwortung nicht nur für sich selbst, sondern auch für Pharao und damit für ganz Ägypten zu übernehmen. Der ›Bund‹ zwischen Teje und Joseph ist ein Zeugnis dafür, dass seine Entwicklung den »künstlerisch begabten Träumer-Narziß«1400 an einen Punkt geführt hat, an dem er bereit ist, zum ›Ernährer‹ zu werden. Oder, wie Thomas Mann es formuliert: In den ganzen vier Bänden wird ein Mensch von großer natürlicher Begabung, aber von einer gewissen selbstzentrierten künstlerischen Veranlagung zum Mitmenschen, zum sozialen Diener einer Gesellschaft und zum ›Ernährer‹ erzogen.1401

1396 Schöll (2004), S. 312. 1397 Vgl. Hermsdorf (1968), S. 236 und Schöll (2004), S. 312. – Das »Gottes- und Göttergespräch« (GW V, 1482) wird hier nicht weiter erörtert, weil es trotz seiner Bedeutung für Josephs Erhöhung für die Frage nach seinem Verhältnis zur ›Welt‹ nicht relevant ist. 1398 Vgl. Hughes (1975), S. 12. – Dass Joseph gegenüber dem jungen Echnaton sogar etwas wie eine Vaterrolle einnimmt, zeigt sich darin, dass das Verhältnis der beiden mit den Jahren immer vertraulicher wird, und »Jung-Pharao den Joseph ›Onkelchen‹ zu nennen« (GW V, 1535) pflegt. 1399 Heftrich (1977), S. 666. 1400 Lehnert (2005), S. 192. 1401 Brief Thomas Manns an Erwin Schrotter vom 11. 1. 1951, zitiert nach Mann (1999), S. 320.

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4.3.

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Als ein Großer Ägyptenlandes

Amt und die Verantwortung des ›Ernährers‹ bilden auch insofern das letzte Stadium von Josephs Entwicklung, als die Rolle des »Staats-Geschäftsmann[s] von reichlicher Durchtriebenheit«1402 ihm die Gelegenheit bietet, seine ›hermetischen‹ Charakterzüge auszuleben. So sind seine Maßnahmen geprägt von der »Sympathie, diese[r] Grundeigenschaft seines Gemütes« (GW V, 1584), die sich in seiner Führsorge für die einfachen Leute ausdrückt und in engem Zusammenhang steht mit einem der zentralen Motive in Joseph und seine Brüder : Wir sprechen von Witz, weil dieses Prinzip seinen Platz hat in dem kleinen Kosmos unserer Geschichte und früh die Bestimmung fiel, daß der Witz die Natur hat des Sendboten hin und her und des gewandten Geschäftsträgers zwischen entgegengesetzten Sphären und Einflüssen (GW V, 1758).

Ein Bote und Vermittler zwischen den Gegensätzen ist auch Hermes, und obgleich das »schlank-behende, lustig versöhnende Mittlertum« (ibid.), das er verkörpert, in Ägypten noch »keinen rechten Ausdruck in einer Gottesperson gefunden« (ibid.) hat, und Joseph nur von Pharao mit dem ›Herrn der Stückchen‹ identifiziert wird, lässt die verschlagene Ambivalenz seiner Maßnahmen diese wie »augenlachende Stückchen einer klug gewandten Diener-Gottheit« (GW V, 1769) erscheinen. Sie umgeben ihn mit einem »Nimbus des Göttlichen« (GW V, 1329), »denn das Göttliche benimmt und äußert sich auf diese zweideutige Art« (GW V, 1582): Diese mythische Popularität, die Joseph gewann, und auf deren Gewinnung sein Wesen wohl immer ausgegangen war, beruhte vor allem auf der irisierenden Gemischtheit, der mit den Augen lachenden Doppelsinnigkeit seiner Maßnahmen, die gleichsam nach zwei Seiten funktionierten und auf eine durchaus persönliche Weise und mit magischem Witz verschiedene Zwecke und Ziele miteinander verbanden (GW V, 1758).1403

Einerseits verkauft Joseph den »stolzen Gauherren und überständigen Landkönigen« (GW V, 1475) das Korn zu ›Teuerungspreisen‹ und nimmt dafür ihr Land in Zahlung, so dass »am Ende aller Besitz in Pharaos Hand ist, der ihn, gleichmäßiger und gerechter als zuvor, als zinspflichtiges Lehen wieder aus1402 Brief Thomas Manns an Karl Ker¤nyi vom 18. 2. 1941, zitiert ibid., S. 193. 1403 Vgl. Schulz (2000), S. 192. – Da das ägyptische Volk Hermes nicht kennt, identifiziert es Joseph mit Chapi, der göttlichen Verkörperung des Nils (vgl. GW V, 1586), was als letztes Stadium seiner imitationes deorum angesehen werden kann: Es liegt in diesem Fall nicht einmal mehr in Josephs Absicht, als ein Gott zu erscheinen, sondern in seinem Wesen – es ist eine Folge seiner bloßen Existenz. Damit erreicht Joseph das, was im Zusammenhang mit der Goethe-Figur in Lotte in Weimar als ›Größe‹ bestimmt worden ist: eine persönliche Qualität, bei der es sich »weniger darum handelt, ob einer etwas kann, als darum, ob einer etwas ist« (GKFA 15.1, 825).

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teilt.«1404 Andererseits versorgt er die »Kleinen und Rippenmageren« (GW V, 1583) mit Getreide »aus den Vorräten für nichts und wieder nichts, daß sie äßen und nicht hungerten« (GW V, 1584). Diese mehrfache Zielsetzung führt zu einem »zusammengesetzte[n] System von Ausnutzung der Geschäftslage und Mildtätigkeit, von Staatswucher und fiskalischer Fürsorge« (GW V, 1582), das »in seiner Mischung aus Härte und Freundlichkeit jedermann, auch die von der Ausnutzung Betroffenen, märchenhaft und göttlich« (ibid.) anmutet. Doch nicht nur Josephs Maßnahmen als »Ernährungs- und Ackerbau-Minister« (GW V, 1499) sind von einer ›lachenden Doppelsinnigkeit‹ gekennzeichnet, sondern auch seine Persönlichkeit, »a characteristic which his brothers and the narrator […] describe as t’m«.1405 Als Jaakobs Söhne ihren Bruder in der Rolle von »Pharao’s Markthalter« (GW V, 1635) wiedersehen, erscheint er ihnen als ein »Mann des Wendepunktes und der Vertauschung der Eigenschaften, der oben und unten zu Hause« (GW V, 1617) ist, »zweideutig, doppelgesichtig […], schön und mächtig, ermutigend und beängstigend, gütig und gefährlich« (GW V, 1616). T’m ist das Kennzeichen sowohl der »verschlageneren Mittlergottheit« (GW V, 1766), die Joseph verkörpert, als auch des Mondes, der von Jugend an sein Leitgestirn gewesen ist: T’m ist ein ›hermetisches‹ Wort; es hat einen irisierenden Zauber und schwebt graziös über dem Abgrund, der das Licht von der Finsternis trennt, und die obere Welt von der unteren. Wer t’m ist, der ist ein Mittler zwischen oben und unten, zwischen dem Reich des reinen Geistes und den chthonischen Tiefen.1406

Als Attribut des Mittlers ist t’m auch eine Eigenschaft des Künstlers, der für Thomas Mann gekennzeichnet ist durch seine »hermetisch-zauberhafte Rolle als 1404 Kurzke (1997), S. 252. – Thomas Mann hat in Briefen und Essays wiederholt darauf hingewiesen, dass Franklin D. Roosevelts »New Deal sich in Josephs magischer Wirtschaftsadministration unverkennbar widerspiegel[e]« (GW XI, 680). Die Haltung der Forschung zu dieser Behauptung ist uneinheitlich: Kurzke schließt sich der Position Manns an [vgl. Kurzke (1997), S. 252], während Lehnert sie weitgehend ablehnt [vgl. Lehnert (2005), S. 201]; vgl. außerdem Eike Middell: Sozialutopie und ›Gottessorge‹ in Joseph der Ernährer, in: Brandt, Helmut; Kaufmann, Hans (Hrsg): Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog, Berlin/Weimar 1978, S. 229 – 248, hier : S. 230; Dedner (1988), S. 35 f.; Heftrich (1989b), S. 166 und Giebel (2001), S. 134 – 139. 1405 Nolte (1996), S. 40. Das Attribut ›t’m‹ wird in Joseph und seine Brüder auch auf Jaakob angewendet. Nachdem der Erzähler ausgeführt hat, es habe von Jaakob »immer geheißen, er sei ›t’m‹, nämlich ›redlich‹ und wohne in Zelten« (GW V, 1508), korrigiert er die ungenaue Übersetzung des Wortes: »Aber ›t’m‹ ist ein seltsam oszillierendes Wort, das mit ›redlich‹ sehr schwach übersetzt ist, denn sein Sinn umfaßt beides, das Positive und Negative, das Ja und das Nein, Licht und Finsternis, Leben und Tod […].T’m oder Tummim ist das Helle und Finstere, das Oberweltliche und Unterweltliche zugleich und im Austausch« (ibid.). 1406 Erich Heller : Thomas Mann. Der ironische Deutsche, Frankfurt am Main 1975, S. 269.

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Mittler zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erscheinung, Geist und Sinnlichkeit« (GW IX, 534). Diese Bestimmung wiederum stellt eine Verbindung her zwischen der Eigenschaft t’m und dem doppelten Segen,1407 den Joseph trägt, von »oben vom Himmel herab und aus der Tiefe, die unten liegt« (GW IV, 880): Der humane Zauber allen Künstlertums besteht in diesem doppelten Segen: dem aus der Höhe herab und dem aus der Tiefe; es ist der Zauber der Sinnlichkeit, die Geist wird, und des Geistes, der sich verleiblicht; Begabung ist es aus mütterlichem Lebensgrunde, aus der Sphäre des Instinkts, des Gefühls, des Traumes, der Leidenschaft – und Begabung aus der väterlichen Lichtsphäre des Geistes, der Vernunft, des Verstandes, des ordnenden Urteils (GW XIII, 205).1408

Damit zeigt sich, dass Josephs Doppelsegen auch ein »Künstlersegen« (ibid.) ist, weil er ausdrückt, was mehr und mehr als das maßgebliche Charakteristikum des Künstlers in Joseph und seine Brüder erkennbar wird: das Mittlertum. Und da gerade der ›Ernährer‹ sich durch seine Maßnahmen als t’m erweist, kann kein Zweifel bestehen, dass Jaakobs Sohn auch als Politiker, der über einen vielköpfigen Verwaltungsapparat gebietet und mit seiner Sozialgesetzgebung, seinem »Grundrenten-Gesetz« (GW V, 1499) und seiner Bodenreform, die Gesellschaftsstruktur Ägyptens von Grund auf umgestaltet, ein künstlerisches Verhältnis zur Welt bewahrt. Daran ändert sich auch nichts, als er heiratet – eine Handlung, die in Thomas Manns Werk gewöhnlich das Todesurteil für jede künstlerische Ambition bedeutet, da die Ehe die Aufgabe der spezifischen Sonderstellung des Künstlers und seine Einordnung in die Gesellschaft repräsentiert. Obwohl er also ein Künstler bleibt, lässt sich der Prozess, den Jaakobs Sohn durchläuft, kaum anders denn als »Verbürgerlichung der […] Figur Josephs«1409 bezeichnen: Ein begabter, narzisstisch-selbstverliebter Träumer und gesellschaftlicher Außenseiter lernt soziale Verantwortung, gründet eine Familie, übernimmt ein Staatsamt und stellt seine Kenntnisse und Fähigkeiten fortan in den Dienst der Gemeinschaft. Dass Joseph trotzdem »die Besonderheit des Künstlers wahrt«,1410 1407 Da Jaakob zwar t’m ist, nicht aber den Doppelsegen trägt, erscheint die Annahme plausibel, dass dieser eine übergeordnete Kategorie darstelle. Inhaltlich lässt sich die These formulieren, der doppelte Segen verweise auf die Synthese der Gegensätze zu einem harmonischen Dritten, während t’m zwar zwischen den Polen vermittele, sie dabei aber in ihrer spannungsvollen Gegensätzlichkeit bestehen lasse. 1408 In Über Oskar Kokoschka formuliert Mann: »Ein Künstler sein hat immer geheißen: beides haben, Verstand und Träume; es heißt heute wie immer : gesegnet sein ›mit Segen von oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt‹« (GW X, 915). 1409 Baumgart (1991), S. 81. Natürlich lässt sich das Attribut ›bürgerlich‹ nicht in einem historisch korrekten Sinn auf die mythische Welt der Tetralogie anwenden, dennoch gibt es, gerade im Kontext der Werke Thomas Manns, keinen passenderen Begriff. 1410 Wolters (1998), S. 201.

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macht eine eingehendere Untersuchung dieses Wandels erforderlich: Wie vollzieht er sich, und wie verändert er Josephs Verhältnis zur Gesellschaft? Seine ›Verbürgerlichung‹ lässt sich exemplarisch daran ablesen, dass die beiden Eigenschaften, die den ›Sohn der Rechten‹ in seiner Jugend als Künstler und Außenseiter kenntlich machen, dem ›Ernährer‹ nicht mehr zugeschrieben werden: Narzissmus und Androgynie. Der charakterliche Reifeprozess, in dem Joseph seinen Narzissmus überwindet, wurde bereits dargestellt; die »Vermännlichung des Knaben Joseph« (GW V, 1129), die zum Verlust seiner Androgynie führt, ist maßgeblich dem Einfluss Mut-em-enets geschuldet: Schon während seines Aufenthalts in PeteprÞs Haus ist Josephs Schönheit dem Stadium vormännlicher Jugendanmut entwachsen […]. Er [ist] bei vierundzwanzig Jahren noch immer und erst recht zum Gaffen schön, aber seine Schönheit [ist] über den Doppelreiz jener Frühe hinausgereift, sie bewahrt[] wohl ihre allgemein gewinnende Wirkung, [hat] aber ihre Gefühlswirksamkeit viel entschiedener […] auf den weiblichen Sinn gesammelt (GW V, 1017 f.).

Durch ihre Abhängigkeit von einer jugendlichen Schönheit, die zwischen dem Männlichen und Weiblichen eine schwebende Mitte hält (vgl. GW IV, 394 f.), erweist sich Josephs Androgynie als ein prinzipiell »vor-sexueller, also a-sexueller Zustand«.1411 Wenn sein Erscheinungsbild sich zudem trotz der ›Erweckung‹ seiner Sexualität durch Mut noch eine Weile »mehr oder weniger im Jünglingsmäßigen« (GW V, 1530) hält, so hängt das mit seiner sprichwörtliche Keuschheit zusammen. Als Joseph sie aufgibt, verliert sein physisches Erscheinungsbild seine androgyne Qualität: In der Hochzeitsnacht mit »Asnath, dem Mädchen« (GW V, 1528) endet Josephs Aufgespartheit für Gott, wodurch er die männliche Seite seiner Sexualität ausleben kann […]. So nimmt es nicht Wunder, daß die dritte große Beschreibung von Josephs Schönheit nun den Aspekt seiner Männlichkeit und Macht stärker betont.1412

Während Juda seinem Vater gegenüber nur bemerkt, Joseph sei »das Rehkalb nicht mehr von ehemals, sondern [sei] ein Haupthirsch geworden, der seinen Schmuck« (GW V, 1718) habe,1413 beschreibt der Erzähler die Veränderung differenzierter : 1411 Fischer (2002), S. 388. 1412 Schulz (2000), S. 215. – Die anderen beiden Beschreibungen betreffen den siebzehnjährigen Knaben (vgl. GW IV, 395) und den vierundzwanzigjährigen Mann (GW V, 1017 f.). 1413 Ob diese Bemerkung Judas von dem Zeichentrickfilm Bambi beeinflusst wurde, den Thomas Mann »so ›allerliebst‹ fand, dass er ihn sich gleich zweimal ansah« [Peter Zander : Thomas Mann im Kino, Berlin 2005, S. 29], lässt sich nicht mit Sicherheit nachweisen. Da er den Film zum ersten Mal am 1. 11. 1942 sah (vgl. Tb. V, 491), das ›Serach-Kapitel‹, an dessen Ende die Bemerkung steht, aber schon am 12. 7. 1942 abgeschlossen hatte (vgl. ibid., 451), kann höchstens eine nachträgliche Einfügung angenommen werden.

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Um diese Zeit nun, nach seiner Eheschließung […], wurde er ein wenig schwer – allenfalls etwas zu wuchtig von Gestalt, wobei nicht an Plumpheit zu denken ist: sein Wuchs war hoch genug, um diese Zunahme in guter Proportion zu halten, und das Gebieterische seiner Haltung, gemildert durch die heitere List der Augen, den gewinnenden Ausdruck der […] in ruhigem Lächeln sich zusammenfügenden Lippen, tat ein übriges, um immer das Urteil lauten zu lassen: Ein ausnehmend schöner Mann! Eine Idee zu voll vielleicht, aber entschieden prächtig (GW V, 1530 f.).1414

Die Veränderung ist unverkennbar und im Kontext dieser Argumentation von signifikanter Bedeutung: So lange Josephs Schönheit auf seine jugendliche Androgynie zurückzuführen ist, erscheint sie als ›göttlich‹ – nicht umsonst ist er in seiner Jugend »auf den ersten Blick mehrmals halb und halb für einen Gott gehalten« (GW IV, 65) worden. Seine maskuline Schönheit ist weniger vollkommen, dafür aber menschlicher : Als androgyner Jüngling glaubt er sich »erhaben […] übers Geschlecht« (GW IV, 889) und damit auch über das Menschliche, denn wer jenseits des Geschlechtlichen steht, steht damit »zugleich auch außerhalb des Menschlichen« (GW V, 1086) – entweder als »bedürftige[] Null« (GW IV, 878) wie Potiphar, oder als »hochbedürftige[] Zwei« (ibid.) wie Gott. Als Ehemann und Vater hat Joseph naturgemäß teil an der »Zerrissenheit der Welt im Geschlecht«,1415 und anstatt durch Keuschheit, Androgynie und Anspielungen ans Göttliche in den Augen seiner Mitmenschen zur über- und außermenschlichen ›Zwei‹ werden zu wollen, ist er nun damit zufrieden, eine vollständig menschliche ›Eins‹ zu sein.1416 Dieser Wandel zeigt sich explizit in der großen Wiedererkennungs-Szene mit den Brüdern, denn im Gegensatz zu früheren Gelegenheiten ist Joseph nicht bestrebt, sich als Gott zu inszenieren, seine Absicht besteht im Gegenteil darin, sich als Mensch zu erkennen zu geben,1417 womit die Bedeutung dieser Szene jedoch noch nicht erschöpft ist: Wenn Joseph den Brüdern gegenüber alle Rollen und Masken ablegt, handelt es sich dabei nicht um ein taktisches Manöver wie 1414 Der Erzähler führt Josephs Schönheit – ob androgyn oder männlich – an dieser Stelle auf den ›doppelten Segen‹ zurück, »der ein Segen nicht nur von oben herab und von Witzes wegen, sondern ein Segen auch aus der Tiefe [sei], die unten lieg[e] und mütterliche Lebensgunst ins Gebilde emporsende[]« (GW V, 1770). 1415 Schulz (2000), S. 217; vgl. GW IV, 888. 1416 Das bedeutet zugleich, dass Joseph, obgleich – oder weil – er nicht mehr versucht, den Gegensatz von männlich und weiblich in der eigenen Person aufzuheben, das Element der (nun eindeutig männlichen) Sexualität in seine Persönlichkeit integriert hat. Damit ist die zerstörerische Spannung zwischen ratio und eros gelöst, die ihn beinahe vermocht hätte, den Nachstellungen Mut-em-enets zu erliegen – nicht in einer harmonischen Synthese der Gegensätze, sondern, ganz wie in der konkreten Situation, durch die entschlossene Wahl einer der beiden Seiten. 1417 »[O]nce the brothers confess their guilt […], Joseph can reveal himself as not divine. With this Joseph and his Brothers reaches its well staged humanist epiphany : The god has become man« [MacDonald (1999), S. 240].

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vor dem Betreten der ›kretischen Loggia‹, sondern es geschieht in der Absicht, sich vollständig und vorbehaltlos zur eigenen Identität zu bekennen. Diese Bereitschaft wird deutlich in Josephs Antwort auf die Frage Issakhars, ob er gar kein Fürst sei, sondern ›eigentlich bloß‹ ihr Bruder Joseph: Bloß? […] Das ist ja wohl das meiste, was ich bin! Aber ihr müßt es recht verstehen: ich bin beides; ich bin Joseph, den der Herr Pharao zum Vater gesetzt hat und zu einem Fürsten über ganz Ägyptenland. Joseph bin ich, überkleidet mit den Herrlichkeiten dieser Welt (GW V, 1687).

Josephs neue Bescheidenheit wird auch darin erkennbar, dass er die mythische Formel, die seine wahre Identität enthüllt, »einfach und […] sogar mit einem kleinen bescheidenen Lachen« (GW V, 1685) ausspricht, indem er sie ein wenig ins Vertrauliche wendet: »Kinder, ich bin’s ja« (ibid.). Joseph here fully acknowledges his own identity. He knows who he is and what he is […]. First and most of all he is Joseph, and whatever masks or roles he adopts, by choice or by virtue of his office, they are but an actor’s costume as the word ›überkleidet‹ indicates.1418

Dieses Bekenntnis zur eigenen Identität bildet den Schlusspunkt von Josephs Entwicklung. Er beweist seine persönliche Reife, indem er den Brüdern verzeiht,1419 seine frühere fehlerhafte Deutung der Träume von den Garben und von Sonne, Mond und Sternen richtigstellt, und auf diese Weise für jeden erkennbar die Rolle akzeptiert, die Gott ihm zugewiesen hat: [E]uer Bruder ist kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils, sondern ist nur ein Volkswirt, und daß sich eure Garben neigten vor meiner im Traum […], und sich die Sterne verbeugten, das wollte so übertrieben Großes nicht heißen, sondern nur, daß Vater und Brüder mir Dank wissen würden für leibliche Wohltat (GW V, 1686 f.).1420

Joseph versöhnt sich mit seinen Brüdern, und eine unscheinbare Szene verdeutlicht, dass er sich nicht mehr als »ein Besonderer« (GW V, 498) begreift, sondern bereit ist, sich – all seiner weltlichen Größe ungeachtet – in der Familien-Hierarchie den Söhnen Leas unterzuordnen: Als der Vater zur Sterbeversammlung ruft, treten die Brüder gemeinsam ins Zelt, 1418 Nolte (1996), S. 126. »At the end of this development, when he reveals himself to his brothers, he no longer identifies with archetypical roles, and his constant striving to allude to the divine, his effort to suggest that he is more than he appears to be, has disappeared together with his inflated ego« [ibid., S. 127]. 1419 Vgl. Sturm (1989), S. 268 und Schöll (2004), S. 330. 1420 Vgl. Heftrich (1977), S. 672. Marx weist zurecht darauf hin, dass dieser Aussage mit Vorbehalt zu begegnen sei: »Josephs Bescheidenheit ist offenbar der Situation geschuldet, die die Brüder zu überfordern droht. Der Roman hingegen läßt keinen Zweifel daran, daß es sich bei dem Bekenntnis, nur ein Volkswirt zu sein, um ein spielerisches understatement handelt« [Marx (2002), S. 187].

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der ägyptische Joseph mit ihnen, aber durchaus nicht zuerst, obgleich sie ihn wollten vorangehen lassen; sondern […] hinter den Lea-Söhnen und nur vor den Kindern der Mägde (GW V, 1790).

Bedenkt man, dass Josephs Beziehung zu seinen Brüdern, wie sie sich vor seinem Verkauf nach Ägypten gestaltete – der Einzelne, der als Außenseiter der Gemeinschaft gegenübersteht – zu Beginn dieses Kapitels als symptomatisch für sein Verhältnis zur Gesellschaft angesehen wurde, stellt sich nun die Frage, ob die Versöhnung mit den Brüdern und die bereitwillige Einordnung in die familiären Strukturen als Zeichen der Aufhebung dieses Gegensatzes anzusehen ist, und Joseph als Ehemann und Familienvater zu einem Teil der Gesellschaft wird. Thomas Mann jedenfalls hat behauptet, in Joseph und seine Brüder »münde[] das Ich aus übermütiger Absolutheit zurück ins Kollektive, Gemeinsame« (GW XI, 666 f.), und vor allem die ältere Forschung hat sich dieser Aussage angeschlossen.1421 Gegen diesen Standpunkt ist einzuwenden, dass Joseph auch nach der Wiedervereinigung keineswegs seinen angestammten Platz im sozialen Gefüge des Familienstammes einnimmt. Nach Jaakobs Willen wird er nicht zu einem Stamm in Israel wie seine Brüder, sondern zu einem »Vater von Stämmen« (GW V, 1745). Er behält auf diese Weise »den Kontakt zu Vatersippe, obwohl er nicht mehr ganz zu ihr gehört: er bleibt letztlich ein Abgesonderter«:1422 »Joseph war der Gesonderte, der zugleich Erhöhte und Zurückgetretene, – vom Stamme abgetrennt war er und sollte kein Stamm sein« (GW V, 1772). Das Verhältnis Josephs zur ägyptischen Gesellschaft ist von einer ähnlichen Konstellation bestimmt: Als ›Ernährer‹ und Groß-Wesir gehört Joseph zur ägyptischen Oberschicht, ist aber zugleich über sie erhoben als »Haupt der Häupter und Vorsteher aller Vorsteher« (GW V, 1477). Er ist der »Stellvertreter des Gottes« (GW V, 1477 f.) und nimmt damit »zwischen Pharao und den Großen des Staates« (GW V, 1477) die gleiche Position ein wie der »Mond zwischen Himmel und Erde« (GW V, 1478). Auch Jaakobs Sohn fungiert als Mittler zwischen den Instanzen, ist mit beiden verbunden, ohne einer von ihnen vollkommen zuzugehören, und vermittelt außerdem zwischen König und Volk: Er hat eine vertrauliche Beziehung sowohl zu Amenhotep, der ihn »Onkelchen« 1421 So spricht Hermsdorf von der am Ende der Tetralogie hergestellten »Einheit von Individuum und Gesellschaft« [Hermsdorf (1968), S. 243], und Murdaugh schließt ihren Überblick über den zeitgenössischen Forschungsstand mit der Aussage, Joseph werde »indeed reunited with the collective« [Murdaugh (1976), S. 10]. Eine Gegenposition formuliert Lukcs, der feststellt, der ›Ernährer‹ bleibe »nach dem Sieg seiner Revolution von oben gesellschaftlich ebenso isoliert wie der tragisch scheiternde Marquis Posa« [Georg Lukcs: Die Tragödie der modernen Kunst, in: Lukcs, Georg: Thomas Mann, Berlin 1953, S. 45 – 103, hier : S. 58] in Schillers Drama Don Karlos. 1422 Schulz (2000), S. 291. Dazu passt das Verhältnis Josephs zu seiner Familie im Alltagsleben; vgl. GW V, 1772.

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(GW V, 1535) nennt, als auch zu den »Kleinen und Rippenmageren« (GW V, 1583), die ihn stets »sehr herzlich, begeistert-vertraulich« (GW V, 1586) begrüßen: [S]ie, die man nur in eine Matte wickeln würde, wenn man sie in die Wüste hinaustrug, wünschten ihm zu: ›Vier feine Krüge für deine Eingeweide und deiner Mumie einen Sarg aus Alabaster!‹ – Das war ihre Sympathie, die der seinen erwiderte (GW V, 1586 f.).

Durch seine Heirat mit Asnath, der »Tochter des Sonnenpriesters zu On« (GW V, 1514), ist Joseph außerdem mit dem ägyptischen Klerus verbunden und wird sogar zum Priester in Echnatons Sonnen-Kult, da es undenkbar ist, dass ein Mann in so hohem Staatsamte wie Joseph nicht auch zugleich eine höhere priesterliche Funktion hätte ausüben und Tempeleinkünfte hätte beziehen sollen […]. Zu seiner Staatsgarderobe gehörte fortan das priesterliche Leopardenfell, und unter Umständen kam er in die Lage, amtlich vor einem Bilde […] zu räuchern (GW V, 1519).

Obwohl Joseph also Verbindungen zu allen drei Gruppen hat, die im Roman die ägyptische Gesellschaft repräsentieren – der Oberschicht, der Priesterschaft und dem einfachen Volk – und als »Ernährungs- und Ackerbau-Minister« (GW V, 1499) schon von Amts wegen in Staat und Verwaltung eingebunden ist, ist seine Stellung doch vollkommen einzigartig: Es handelt sich um die Position des Mittlers, um »die (genuin künstlerische) Lebensform eines ›Gesonderten‹«,1423 der zwar insofern an der Gesellschaft teilhat, als er offizielle Funktionen erfüllt und seine Maßnahmen dem Wohl dieser Gesellschaft dienen, den die völlige Einzigartigkeit seiner Position aber nichtsdestoweniger daran hindert, in der Gemeinschaft aufzugehen. Trotz aller gesellschaftlichen Verflechtungen bleibt Joseph »der Gesonderte« (GW V, 1745), der immer »etwas außerhalb des vollen Lebens steht, der dessen Begierden und Interessen nicht voll teilt«1424 und deshalb keiner der gesellschaftlichen Gruppen vollständig angehört. Er ist noch immer der Künstler, den seine Entwicklung zwar zu Ehe und Vaterschaft, Priesteramt und sozialer Verantwortung, kurz gesagt: »zu einem tätigen Leben in der Gemeinschaft«1425 geführt hat, der aber unausweichlich ein Fremder in dieser Gemeinschaft bleibt. Indem er gesellschaftliche Verantwortung übernimmt und zum Wohle der Gemeinschaft tätig wird, ohne dabei sein Künstlertum einzubüßen, hebt Joseph, der schon als Jüngling Schönheit und Geist in seiner Person vereinigt, eine weitere der grundlegenden Dichotomien auf, die üblicherweise Thomas Manns fiktionale Welten strukturieren: den Gegensatz zwischen Künstler und Gesell1423 Marx (2002), S. 191. 1424 Lehnert (2005), S. 222 f. 1425 Schulz (2000), S. 340.

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schaft. Er ist das Beispiel eines »sozial verantwortlichen Künstler[s]«,1426 der kein Werk im herkömmlichen Sinn zu schaffen, »nicht Kunst hervorzubringen braucht, weil er […] unmittelbar zum Segen der Menschheit tätig ist.«1427 Joseph ist der einzigartige Fall eines »lebensfreundlichen – anstatt bloß lebensverherrlichenden – Künstlers […], der Träume in Taten umsetzt«1428 und auf diese Weise sein gesamtes Leben zum ›Kunstwerk‹ macht. Ein Künstler zu sein bedeutet also in Joseph und seine Brüder, das eigene Leben »mit höchster Verantwortlichkeit zu vollbringen – mit einer Bewußtheit und Sicherheit, daß es durchheitert und zum festlichen Spiel erhöht werden kann.«1429

5.

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In diesem Abschnitt wird die Frage untersucht, ob Joseph nach Maßgabe der Kategorien Authentizität, Autonomie und Alterität als Genie anzusehen ist. Und wie die Konzeption des Genies in diesem Kapitel den Bedingungen der fiktionalen Welt von Joseph und seine Brüder angepasst werden musste, wird es auch in diesem Kontext erforderlich sein, die besonderen Umstände des analysierten Werks zu berücksichtigen. Zu ihnen gehört vor allem die durch Josephs ›Tod‹ vollzogene Zweiteilung seines Lebens, da es angesichts der Bedeutung dieser Zäsur geboten ist, bei der Untersuchung auf die genannten Merkmale zwischen seinem ›ersten Leben‹ im Kreise seine Familie in Kanaan und dem ›zweiten Leben‹ in Ägypten zu unterscheiden. Diese Notwendigkeit zeigt sich schon daran, dass Joseph erst nach seiner »Brunnenbuße« (GW IV, 611) beginnt, sein Leben bewusst an Gottes Plänen auszurichten und seine Talente zu ihrer Erfüllung einzusetzen, so dass erst damit die Voraussetzung geschaffen ist, es als ›Kunstwerk‹ zu betrachten. Zwar konnte gezeigt werden, dass Jaakobs Sohn sein ganzes Leben lang als Künstlerfigur anzusehen ist, aber erst nach seiner Befreiung durch die Midianiter entwickelt er 1426 Kurzke (1997), S. 252. 1427 Heftrich (1989a), S. 729. 1428 Heftrich (2005b), S. 469. – Die Frage nach den Implikationen dieser Vorstellung vom Künstler und ihren möglichen Konsequenzen ist in der Forschung nur selten gestellt worden: Während Wolters die These vertritt, dass »Josephs Mittlerposition der zwischen Metaphysik und ›Leben‹ vermittelnden Aufgabe [entspreche], die nach Thomas Manns Meinung dem Künstler in der Gegenwart zukäme« [Wolters (1998), S. 184 f.], bemerkt Borchmeyer unter Bezugnahme auf Thomas Manns Essay Meerfahrt mit ›Don Quijote‹ (vgl. GW IX, 427 – 477), Joseph repräsentiere »nicht jenes melancholisch-überspannte Ästhetentum der Moderne, sondern das sich heiter-dienend ins soziale Gefüge der Gesellschaft eingliedernde Künstlertum des Don-Quixotte-Dichters« Miguel de Cervantes [Borchmeyer (1997), S. 214]. 1429 Hermsdorf (1968), S. 257.

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eine ›künstlerische‹ Sichtweise auf das eigene Leben, die es erlaubt, diesem Leben in Joseph und seine Brüder die selbe Funktion zuzuweisen wie den Werken Goethes oder Leverkühns in Lotte in Weimar oder Doktor Faustus. Und erst von diesem Zeitpunkt an kann sinnvoll von Authentizität gesprochen werden, die angesichts der tatsächlichen Identität von Leben und ›Werk‹ dann aber auch das höchste nur denkbare Ausmaß erreicht. Es wurde bereits ausgeführt, dass tatsächliche Autonomie allenfalls im Werk möglich ist, etwa in der duodekaphonischen Kompositionsmethode Adrian Leverkühns, während in Bezug auf das Leben nicht die tatsächlich erreichte Eigengesetzlichkeit das Kriterium des Genies bildet, sondern das AutonomiePostulat, wie August von Goethe es im Namen seines Vaters erhebt, dem es erlaubt sein müsse, »nach eigenem Gesetz zu leben und nach dem klassischen Grundsatz der sittlichen Autonomie« (GKFA 9.1, 237). Zwar macht die streng patriarchalisch-hierarchische Gesellschaftsstruktur der biblischen Tetralogie es Joseph unmöglich, einen solchen Anspruch zu formulieren, nichtsdestoweniger macht sein Verhalten deutlich, dass der »siebzehnjährige Knabe« (GW V, 962) für sich ein Recht auf Selbstbestimmung beansprucht, das erstaunliche Ausmaße erreicht: Jaakob gönnt ihm »viel freie Zeit« (GW IV, 398), er darf »nach Belieben zu Hause« (ibid.) bleiben und arbeitet nur, wenn ihm der Sinn danach steht. Allerdings reicht der Hinweis, dass die üblichen Regeln für Joseph nicht gelten, und er es »im ersten Leben […] ganz beliebig« (GW V, 960) treibt, noch nicht aus, einen autonomen Status zu konstituieren, denn alle diese Privilegien lassen sich auf die »Vorliebe Jaakobs« (GW IV, 83) zurückführen, der sie gewährt und auch wieder entziehen kann. Weit eher als Joseph, so scheint es, kann der Patriarch als ›autonom‹ gelten, und zwar im Wortsinne: Er ist die höchste irdische Autorität im Volke Israel, übt »Vater- und Königsmacht« (GW IV, 510) aus, und sein Wort ist Gesetz.1430 Sein Lieblingssohn allerdings übt über ihn »die Macht Rahels« (GW IV, 497) aus: Er setzt sie gezielt ein, um seinen Willen gegen den des Vaters durchzusetzen, wie sich zeigt, als er ihn »ums bunte Kleid beschwatzt« (GW V, 1561). Joseph lenkt den Gesetzgeber, und in diesem indirekten Sinne ist er tatsächlich weitgehend autonom. Die »drei Tage Brunnenzucht« (GW V, 1822) und der anschließende Verkauf an die Midianiter beenden Josephs quasi-autonomen Status. Als Sklave, das macht Kedma ihm gleich zu Beginn klar, geht es nicht mehr nach seinen Wünschen, sondern »nach des Alten Kopf, je wie er’s aussinnt« (GW IV, 666 f.), und einen Herrn – oder eine Herrin – hat Jaakobs Sohn sein Leben lang, ob als »Jungsklave Osarsiph« (GW IV, 876) in PeteprÞs Haus, oder als »Königssklave« (GW V, 1274) erst in Zawi-Re und dann in Pharaos Diensten. Allerdings tritt diese konkrete und handgreifliche Heteronomie, die für »Pharao’s Alleinige[n] 1430 Vgl. Schöll (2007), S. 105 f.

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Freund« (GW V, 1737) zudem zu einer reinen Formalität geworden ist, in den Hintergrund gegenüber der gewissermaßen ›metaphysischen‹ Fremdbestimmung durch den Plan Gottes. Nach seiner Befreiung aus dem Brunnen entschließt sich Joseph, »der Erste des Westens« (GW IV, 690) zu werden und fortan sein gesamtes Leben dem göttlichen Plan unterzuordnen, der ihm »Rolle und Aufgabe« (GW V, 1520) des »Bewahrers, Ernährers und Erretters der Seinen« (ibid.) auferlegt. Alles, was er tut, wird von diesem Ziel bestimmt: Ob er es sich versagt, Kontakt zu seinem Vater aufzunehmen, oder den Avancen Mut-em-enets widersteht – Joseph gibt nicht mehr jedem Impuls nach, sondern wägt die Folgen seines Handelns ab, und das maßgebliche Kriterium jeder Entscheidung sind ihre Konsequenzen im Hinblick auf den Plan Gottes. Die Frage, ob Joseph diesen ›Plan Gottes‹ durch seine Annahmen und Vermutungen selbst konstituiere, so dass er nicht als äußeres Gesetz, sondern als Externalisierung seiner eigenen Überzeugungen aufzufassen sei,1431 spielt für diese Argumentation keine Rolle: Genau wie es der Anspruch auf Autonomie ist, der das maßgebliche Kriterium des Genies bildet, ist in diesem Fall die Aufgabe dieses Anspruchs ausschlaggebend. Joseph ist überzeugt, dass Gott mit allem, was er geschehen lässt, »einen zukünftig-fernen Zweck« (GW IV, 575), also einen Plan verfolgt. Das macht diesen Plan für ihn real, und indem er sein Handeln und seine Entscheidungen daran ausrichtet, begibt er sich seines Anspruchs auf Selbstbestimmung. Damit kann in seinem ›zweiten Leben‹ von einem Autonomie-Postulat keine Rede mehr sein: Sowohl rein praktisch durch seinen Status als Sklave als auch psychologisch durch die Akzeptanz seiner Rolle im ›Plan Gottes‹ ist Joseph in hohem Maße fremdbestimmt. Die Wurzel der Alterität des jungen Joseph besteht in seiner narzisstischen »Überzeugung, daß jedermann ihn mehr lieben müsse als sich selbst« (GW IV, 556). Sie entfremdet ihn von seinen Brüdern und macht ihn zum Außenseiter, eine Stellung, die durch seine Überheblichkeit und die ihm von Jaakob gewährten Vorrechte noch verschärft wird. Da die Bewunderung, die seiner Schönheit und Klugheit gilt, ihn darüber hinaus selbst von Wohlgesonnenen isoliert, und sein ›Vollbruder‹ Benjamin zu jung ist, um als ebenbürtiges Gegenüber geeignet zu sein, steht er in seiner Jugend »recht vereinsamt« (GW IV, 441) da. Diese Außenseiterstellung wird noch dadurch verschärft, dass er sich seiner androgynen Schönheit bedient, um als Personifikation des Tammuz zu erscheinen, was ihn geradezu außerhalb des Menschlichen stellt. Zusammen1431 Dieser Einwand erscheint vor allem dann plausibel, wenn man bedenkt, dass Gott selbst der »Humanisierungstendenz« [Pikulik (1988), S. 101] von Joseph und seine Brüder unterliegt, die ihn als Konstrukt des menschlichen Geistes erscheinen lässt und damit seine objektive Existenz in Frage stellt.

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fassend ist daher zu konstatieren, dass die Situation des jungen Joseph vor seinem Brunnensturz sich nicht grundsätzlich von der Goethes oder Leverkühns unterscheidet: Wie sie stellt er sich bewusst außerhalb der Gesellschaft, und obwohl er zeitweise den Wunsch hegt, Teil der Gemeinschaft zu werden, ist er dazu ebenso wenig fähig wie der große alte Mann in Weimar oder der ›deutsche Tonsetzer‹ aus Kaisersaschern. Nachdem Joseph seinen »kindlichen Wahn« (GW V, 940) überwunden hat, gelingt es ihm zunehmend besser, die Distanz zu seinen Mitmenschen zu überwinden, wie sich auf der Reise nach Ägypten, in Potiphars Haus und in Zawi-Re zeigt. Ihren Abschluss findet diese Entwicklung an Pharaos Hof: Zwar bleibt Joseph auch als Ernährer »der Gesonderte« (GW V, 1745), ist dabei jedoch weit davon entfernt, sich als Antipode der Gesellschaft zu verstehen. Dank seiner einzigartigen und herausgehobenen Stellung gehört er keiner der gesellschaftlichen Gruppen Ägyptens vollkommen an, ist aber dennoch mit jeder von ihnen verbunden: durch sein Amt als ägyptischer »Ernährungs- und Ackerbau-Minister« (GW V, 1499), seine Heirat mit Asnath und seine Funktion in Echnatons Sonnenkult. Zieht man überdies in Erwägung, dass Josephs Maßnahmen dem Wohl dieser Gesellschaft dienen, ist unverkennbar, dass von Alterität in seinem ›zweiten Leben‹ so wenig gesprochen werden kann wie von einem Anspruch auf Autonomie. Statt dessen lässt sich Josephs Verhältnis zur Gesellschaft mit dem Begriff der Alienität beschreiben, jener Eigenschaft, die am Beispiel Werthers als charakteristisch für das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft ausgewiesen wurde:1432 Jaakobs Sohn ist mit den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen Ägyptens verbunden,1433 bleibt jedoch in jeder von ihnen ein ›Gesonderter‹, ein alienus. Es zeigt sich also, dass die Frage, ob Joseph nach Maßgabe der drei Kriterien Authentizität, Autonomie und Alterität als Genie anzusehen ist, für sein ›erstes‹ und sein ›zweites Leben‹ jeweils gesondert beantwortet werden muss. Vor dem Brunnensturz zeichnet er sich durch Eigenschaften und Verhaltensweisen aus, die als Erfüllung der Kriterien Autonomie und Alterität aufgefasst werden können, soweit diese im ›Leben‹ zu erfüllen sind: Sein unausgesprochener Anspruch auf Eigengesetzlichkeit drückt sich darin aus, dass (1) die gewöhnlichen gesellschaftlichen Regeln für ihn nicht gelten, und er (2) die ›Macht Rahels‹ über seinen Vater Jaakob auszuüben vermag, wodurch es ihm spielend gelingt, seinen Willen gegen die höchste Autorität im Volk Israel durchzusetzen. Er ist zudem ein alterus, der nicht nur von seinen Brüdern, sondern auch von seinen übrigen 1432 Vgl. oben S. 51 – 58. 1433 In der Terminologie Luhmanns, die im Methodenteil dazu verwendet wurde, um das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft zu beschreiben, könnte man von verschiedenen gesellschaftlichen »Funktionssysteme[n]« [Luhmann (1993), S. 158] sprechen.

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Mitmenschen isoliert ist, unfähig zur Gemeinschaft. Hinzu kommt, dass er sich durch seine Androgynie sowie die imitatio eines Gottes zumindest implizit außerhalb des Menschlichen stellt. Der erste Teil des Befundes lautet also, dass der siebzehnjährige Knabe Joseph die Bedingungen einer Geniefigur cum grano salis erfüllt. In seinem ›zweiten Leben‹ stellen die Dinge sich anders dar, denn von den drei notwendigen Bedingungen für die Konstituierung eines Genies trifft nur die der Authentizität auf Joseph zu: Nicht nur ist er nach seiner Befreiung aus dem Brunnen ein Sklave, was ein hohes Maß an Fremdbestimmung impliziert; er fühlt sich darüber hinaus verpflichtet, alle seine Handlungen an der Erfüllung des göttlichen Plans auszurichten, der – unabhängig davon, ob er ›in Wahrheit‹ nur ein Produkt seines Geistes darstellt oder nicht – subjektive Wirklichkeit besitzt. Auch das Verhältnis zu seinen Mitmenschen ist nicht mehr gekennzeichnet von Alterität, sondern lässt sich mit der Kategorie der Alienität beschreiben, die als Signum des Künstlers angesehen werden kann. Während also der Narziss und Außenseiter des ›ersten Lebens‹, der seine Gaben gedankenlos einsetzt, um sich persönliche Vorteile zu verschaffen, strukturelle Merkmale des Genies aufweist, gilt das weder für den Jüngling, der all sein Handeln am göttlichen Plan ausrichtet, noch für den Mann, der sich als ›Ernährer‹ in den Dienst der Gesellschaft stellt. Joseph, der in Ägypten »wächst wie an einer Quelle« (GW V, 937) und schließlich »Regent der Länder« (GW V, 1498) wird, ist kein mythisches Genie mehr, sondern über dieses Stadium hinausgewachsen. Anhand des doppelten Segens, dieser »leitmotivische[n] Formel der Josephsromane«,1434 soll nun dargelegt werden, worin das Ergebnis dieser Entwicklung besteht.

6.

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Schon als Knabe ist Joseph sich bewusst, dass körperliche Schönheit und geistige Gaben, die ihn vor seinen Brüdern auszeichnen, auf den zweifachen Segen zurückzuführen sind, der auf ihm ruht, von Vater- und von Mutterseite, »von oben herab und von der unteren Tiefe« (GW V, 1804).1435 Sein Lieblingsgedanke besteht in dem »Zusammenwohnen von Körper und Geist, Schönheit und Weisheit und [dem] wechselseitig einander verstärkende Bewußtsein beider« (GW IV, 411), also in der Synthese dieser gegensätzlichen Kategorien in seiner Person, in der sich darüber hinaus männliche und weibliche Einflüsse zu androgyner Ju1434 Borchmeyer (1998a), S. 197. 1435 Dass der mütterliche Segen tatsächlich ›von unten‹ kommt, bestätigt nicht nur Joseph, der Rahels Segen als einen »Segen der Tiefe« (GW IV, 111) charakterisiert, sondern auch der Hinweis des Erzählers, Josephs Segen sei »ein Segen auch aus der Tiefe […], die unten lieg[e] und mütterliche Lebensgunst ins Gebilde« (GW V, 1770) emporsende.

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gendschönheit vereinen. Als Folge des doppelten Segens wird Joseph zu einer Erscheinung, die dank ihrer außermenschlichen Harmonie »ganz unwillkürlich an Göttliches denken« (GW IV, 410) lässt und damit geeignet ist, verschiedene ›göttliche‹ Rollen zu verkörpern. Die Entwicklung, die mit dem Sturz in den Brunnen beginnt und Jaakobs Sohn letztlich zum Ernährer werden lässt, schließt auch das Verständnis des doppelten Segens mit ein. Die »Vermännlichung des Knaben Joseph« (GW V, 1129) stellt die androgyne Harmonie seiner Erscheinung in Frage, und obgleich es ihm dank seiner »vielbeschriebenen Keuschheit« (GW V, 1134) gelingt, sie über das rein zeitliche Ende seiner Jugend hinaus zu bewahren, wird die scheinbare Vollkommenheit dieses Zustandes dadurch unterlaufen, dass er sich nur um den Preis der Unterdrückung eines integralen Bestandteils der menschlichen Existenz aufrecht erhalten lässt: seiner Sexualität. Heirat und Vaterschaft lassen sich somit als Ausdruck von Josephs Erkenntnis auffassen, dass auch er von der »Zerrissenheit der Welt im Geschlecht«1436 nicht ausgenommen, sein Anspruch auf ›göttliche Außermenschlichkeit‹ nicht länger haltbar ist – eine Einsicht, die sich auch in der Deutung des doppelten Segens niederschlägt: Anstatt zu versuchen, die Dichotomien menschlicher Existenz zu einem über- und außermenschlichen Dritten zu vereinigen, zieht Joseph es nun vor, zwischen ihnen zu vermitteln: Er ist t’m, ein »Mann des Wendepunktes […], der oben und unten zu Hause« (GW V, 1617) ist, weil er die menschliche Dualität akzeptiert hat, statt sie aufheben zu wollen. Der doppelte Segen wird damit zu einem »Segen des Mittlertums«.1437 Auch andere Formulierungen des Doppelsegens im Text machen deutlich, dass er die Vermittlung menschlicher Gegensätze beschreibt, nicht aber ihre Aufhebung oder Vereinigung zu einer quasi-göttlichen Synthese. So steht die »feine und liebliche Vermischung« (GW IV, 748) von Frömmigkeit und Sympathie, die Joseph auszeichnet und ihn befähigt, »Gunst zu finden vor Gott und den Menschen« (GW V, 1804), »in geheimer Entsprechung […] zu dem doppelten Segen, als dessen Kind er sich« (GW IV, 748) fühlt. Und obgleich es, nach Jaakobs Aussage, »ein seltener Segen« (GW IV, 1804) ist, da man meist die Wahl habe, »Gott zu gefallen oder der Welt« (ibid.), kommt in ihm doch eher allgemein menschliches Potential als außermenschliche Vollkommenheit zum Ausdruck. An anderer Stelle wird Josephs Sympathie, »diese Grundeigenschaft seines Gemütes« (GW V, 1584), sogar unmittelbar auf seinen Segen zurückgeführt: Sympathie ist eine Begegnung von Tod und Leben: die echte entsteht nur, wo der Sinn für das eine dem Sinn für das andre die Waage hält […], wo Frömmigkeit zum Tode

1436 Schulz (2000), S. 217; vgl. GW IV, 888. 1437 Schulz (2000), S. 293.

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getönt und durchwärmt ist von Freundlichkeit zum Leben, diese aber vertieft und aufgewertet von jener. So war Josephs Fall (GW V, 1508).1438

Erneut wird eine der grundlegenden Dichotomien menschlicher Existenz nicht aufgehoben oder zur Synthese geführt, sondern vermittelt und damit fruchtbar gemacht: »Der doppelte Segen, mit dem er gesegnet war, von oben herab und von der Tiefe, die unten liegt […] – dies war er« (ibid.). Auch eine Bemerkung Josephs in der ›kretischen Loggia‹ lässt sich mit der Frage nach dem doppelten Segen in Zusammenhang bringen, obgleich dieser Bezug nicht explizit hergestellt wird. Zum Verhältnis von Individualität und vorgegebenen Mustern führt Joseph aus: [D]as musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, das sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere (GW V, 1422).

Diese wechselweise Beeinflussung und Durchdringung kann ebenfalls als eine Form des doppelten Segens angesehen werden;1439 zugleich steht außer Zweifel, dass Joseph zwar einen Zusammenhang beschreibt, der prinzipiell auf alle Menschen zutrifft, der jedoch, ruft man sich die Ausführungen zur Frage der Individualität in der mythischen Welt ins Gedächtnis,1440 in seiner Gegenwart noch nicht allgemein eingetreten ist: Die ›mythischen‹ Menschen haben das Gleichgewicht zwischen den ›bindenden Mustern der Tiefe‹ und der Freiheit von Geistes wegen noch nicht erreicht, das zu einem Maß an ›Menschengesittung‹ befähigt, wie Joseph sie am Ende des Romans beweist. Jaakobs Sohn hingegen hat es verstanden, zwischen den Widersprüchen zu vermitteln, »die sich aus seiner Doppelnatur ergeben […]: So gelingt ihm ein Leben, das einen gewissen utopischen Gehalt besitzt«.1441 Er ist seiner Zeit voraus, und der doppelte Segen »vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt« (GW V, 1745), beschreibt 1438 Heftrich bemerkt, diese Formulierung des Doppelsegens sei »nichts anderes als die neue Fassung, die Josephs-Fassung jenes zentralen, gesperrt gedruckten Satzes, mit dem im Zauberberg die Quintessenz der abenteuerlichen alchemistischen Steigerung des Bildungsadepten Hans Castorp dargeboten« werde [Heftrich (1977), S. 673]: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken« (GKFA 5.1, 748). Kurzke kommentiert: »Was Hans Castorp von der Anlage des Romans her versagt ist, bildet im Joseph die Grundlage der Konzeption. In ihm ist der Schneetraum realisiert. Joseph verkörpert die Synthese der Freiheit des Gedankens mit der Treue zum Tode […], vertritt sie nicht nur meinungsweise und folgenlos wie Hans Castorp« [Kurzke (1997), S. 250]; vgl. Sturm (1989), S. 262; Wißkirchen (2004), S. 42 und Lehnert (2005), S. 198. 1439 Vgl. Borchmeyer (1998a), S. 203. 1440 Vgl. oben S. 402 ff. 1441 Schulz (2000), S. 295.

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folglich keinen Zustand quasi-göttlicher Harmonie, sondern das Entwicklungspotential des Menschen an sich. Diesem utopischen Gehalt der Joseph-Figur wird bereits in der Höllenfahrt eine zentrale Bedeutung zugewiesen, wenn der Erzähler andeutet, dass sich die »Selbstvollendung des Menschen […] im verheißungsvollen Einzelfall des Joseph antizipier[e]«:1442 [D]ie stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in […] dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen von oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt (GW IV, 48 f.).

Nicht nur der Roman Joseph und seine Brüder ist also ein »Menschheitssymbol« (GW XI, 667), sondern auch sein Protagonist, in dem sich das Potential, das prinzipiell jedem Menschen innewohnt, exemplarisch erfüllt.1443 Er ist der vorweggenommene Vertreter einer neuen Menschheit, und einem so umfassenden Anspruch kann er nur gerecht werden, wenn er seinen Narzissmus überwindet, seine Selbstdarstellung als Göttergestalt aufgibt und sein Dasein nicht als Außenseiter und Antipode der Gesellschaft verbringt, sondern seine Rolle in der Welt akzeptiert: Die Stellung des ›Gesonderten‹, der nicht in der Gemeinschaft aufgehen, aber zu ihrem Wohl und Vorteil wirken kann. Das jedoch ist nur möglich, wenn Joseph aufhört, ein Genie zu sein, und in diesem Sinne kann seine Geschichte als Relativierung der Genie-Ideologie gelesen werden: Nicht mehr der ›große Mann‹ ist das non plus ultra, der einsam und unberührbar alle überragt, sondern der große Mann, der sich in den Dienst der Gemeinschaft stellt.1444 Die Entwicklung, die Joseph befähigt, den Plan Gottes zu erfüllen, seinen Familienstamm vor dem Hungertod zu beschützen und auf diese Weise die Kontinuität der Geschlechterfolge zu gewährleisten, die schließlich Schilo 1442 Manfred Dierks: Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum ›Tod in Venedig‹, zum ›Zauberberg‹ und zur Joseph-Tetralogie, Bern/München 1972, S. 107. 1443 Schulz (2000), S. 345. 1444 In seinem 1938 entstandenen Aufsatz Bruder Hitler stellt Thomas Mann Hitler als ›Genie‹ dar, wenn auch »auf der Stufe der Verhunzung« (GW XII, 848); vgl. Dane (1999), S. 366. Und obgleich er sich dagegen ausspricht, sich »durch ein solches Vorkommnis das Genie überhaupt, das Phänomen des großen Mannes verleiden« (GW XII, 851) zu lassen, besteht doch kein Zweifel, dass durch den Führerkult des Nationalsozialismus die Vorstellung des ›großen Mannes‹ in Misskredit geraten ist [zum ›Führer‹ als Genie vgl. Schmidt (2004c), S. 194 – 212]. Vor diesem Hintergrund wohnt der Relativierung der Genie-Ideologie durch Josephs Entwicklung auch eine politische Dimension inne: In der Manier eines Fürstenspiegels demonstriert der Roman, wie der ›große Mann‹ sich zu verhalten hat, wenn er in eine politisch verantwortliche Position aufsteigt; vgl. auch Heftrich (1993), S. 43.

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hervorbringen wird, hat damit noch einen weiteren Zweck: Sie soll das Potential, das in ihn gelegt ist durch den doppelten Segen, zu seiner vollen Entfaltung bringen. Schönheit und Geistesgaben, mythische Achtsamkeit und Künstlertalente sind nur Facetten dieses Potentials,1445 und die Leistung Josephs besteht darin, sie alle nach bestem Vermögen zu auszubilden: Dank des Unterrichts durch Eliezer und der Ausbildung durch Mont-kaw, dank seiner imitationes deorum und mythischen Hochstapelei, dank der Inszenierung seines Lebens als Kunstwerk und ›göttlichem Spiel‹, und nicht zuletzt dank seiner Entwicklung zum Dienst an der Gesellschaft ist es ihm gelungen, ganz der zu werden, der er sein kann und sein soll. Am Ende dieser Entwicklung ist Joseph mehr als ein Genie: Er verkörpert den »Inbegriff des Menschen«1446 in seiner Vollendung.

1445 »Die glückliche Ausstattung ist nötig für Josephs schwere Berufung, soll er doch die eigne Person zum prägenden Muster zurichten, durch welches die schöpferische Vermittlung der feindlichen Antipoden ›Geist‹ und ›Stoff‹ in der weiteren Menschheitsgeschichte fortwirken kann« [Neumann (2001), S. 118 f.]. 1446 Sturm (1989), S. 263.

VIII. Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne

Alle drei untersuchten Romane, ob ihre Protagonisten nun als Geniefiguren anzusprechen sind oder nicht, stehen im Spannungsfeld von Tradition und Modernität. Obgleich nur in Joseph und seine Brüder der Gegensatz von Mythos und Moderne durch die narrative Doppelperspektive der Erzählinstanz selbst zum Thema wird, prägt sein strukturelles Pendant auch Lotte in Weimar und Doktor Faustus: Die Vorstellung des Genies wird bestimmt von Konzepten wie Originalität, Inspiration und der gottähnlichen creatio ex nihilo, die unweigerlich aufgerufen werden, wann immer der Begriff fällt, und die im 20. Jahrhundert ihre Überzeugungskraft weitgehend eingebüßt haben. Soll das Genie dennoch zur Beschreibung literarischer Figuren der klassischen Moderne verwendet werden, ohne sie vollkommen unzeitgemäß erscheinen zu lassen, dann ist das nur möglich, wenn diese Kategorien modifiziert, aktualisiert und den veränderten Umständen angepasst werden. Durch die Analyse des Verhältnisses der in den Romanen Thomas Manns entwickelten Geniekonzepte zur historischen Tradition des Geniebegriffs wurde in der vorliegenden Arbeit eine solche Aktualisierung dargestellt. Nachdem diese Untersuchung eine Vielzahl von Anknüpfungspunkten, Übereinstimmungen und Abwandlungen ergeben hat, sollen zu ihrem Abschluss noch einmal ihre großen Linien in den Blick genommen, und soll eine Frage beantwortet werden, die auf den Kern der Problemstellung zielt: Wie konstituieren sich die literarischen Figuren Goethe, Joseph und Adrian Leverkühn im Spannungsfeld zwischen Tradition und Moderne? Sowohl in der fiktionalen Welt des Romans Lotte in Weimar wie in der Überzeugung des Autors Mann steht außer Frage, dass Goethe ein Genie ist, und der Weg, dieses Genie im Jahre 1936 in überzeugender Weise zu inszenieren, besteht in einer Modernisierung seiner traditionellen Beschreibungskategorien: Die Forderung nach schöpferischer Originalität wird ersetzt durch die MontageTechnik im Stile Thomas Manns, das Konzept der Inspiration wird in der Nachfolge Friedrich Nietzsches als rein physisches Phänomen, als Resultat überreizter Nerven aufgefasst, und die gängigen Vergleichsgrößen der Geniezeit wie Jupiter, Proteus und Christus werden durch den Mund Friedrich Wilhelm

432

Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne

Riemers in einer Weise gedeutet, die mit Kälte, Einsamkeit und Isolation die typischen Merkmale des modernen Künstlers hervorhebt. Mit einem Wort, der fiktionale Goethe wird als Künstlerfigur des Fin de siºcle inszeniert: Er selbst führt die Grundlagen seines Genies, unter denen pathologische Elemente, Krankheit und Wahn von besonderer Bedeutung sind, mittels einer spekulativ-intuitiven Vererbungslehre auf die erblichen Einflüsse seiner Vorfahren zurück und erklärt Struktur, Ordnung und eine strenge Arbeitsethik zu Voraussetzungen seines künstlerischen Schaffens, nicht Irrationalität und Gefühl. Auch die Inszenierung der Goethe-Figur lässt den Einfluss Friedrich Nietzsches erkennen: Er zeigt sich in dem theatralischen Auftreten des ›großen Mannes‹ vor den in Devotion erstarrten Trabanten, die auf die Vorstellung des ›Genies als Schauspieler‹ verweist, und am deutlichsten in dem von Riemer geprägten Begriff des ›Nihilism‹, der in dem ›Blick der absoluten Kunst‹ resultiert und auf die Immoralität des Genies Goethe hindeutet. Auch das ›Selbstopfer‹ des großen Mannes auf dem Altar der Kunst, mit dem er seinen Verrat am Leben rechtfertigt und seine metaphysische Schuld begleicht, steht in der geistigen Tradition Nietzsches, und so ist der fiktionale Goethe, dieses »Monstrum an Kälte, Ichbezogenheit, Narzißmus, Immoralismus und Nihilismus«,1447 ganz ohne Zweifel als moderner Künstler aufzufassen. Nachdem die traditionellen Genievorstellungen des Sturm und Drang, die in Lotte in Weimar nur noch als überständige Residuen in den Ansichten poetischer Laien wie Charlotte und Carl existieren, sich als ungeeignet erwiesen haben, das »Phänomen Goethe« (GKFA 9.2, 281) zu beschreiben oder zu erklären, entwickelt der Protagonist ein gänzlich neues Geniekonzept: Es basiert auf der Vorstellung der universellen Ubiquität, also der Fähigkeit, sich durch ›Kontaktnahme‹ mit den verschiedensten Gebieten der Kunst und der Natur vertraut zu machen und auf diese Weise geistige Verfügungsgewalt über sie zu gewinnen; außerdem auf dem Konzept der geistverstärkten Lebenserneuerung, also der Gabe Goethes, die ›Urszenen‹ und mythischen Strukturen seines eigenen Lebens nicht nur zu wiederholen, sondern zu steigern und so auch im Alter seine schöpferische Fruchtbarkeit zu bewahren. Beide Eigenschaften zusammen bilden Goethes Genie und können obendrein auf seinen Nihilism und seine Immoralität zurückgeführt werden: Die ›geistverstärkte Lebenserneuerung‹ ist nur möglich, weil der emotionale Parasit Goethe das Leben an die Kunst verrät und die Menschen seiner Umgebung zu seinen Opfern macht, und die ›universelle Ubiquität‹ ist eine Folge seiner nihilistischen Weigerung, sich auf einen Standpunkt festlegen zu lassen. Damit steht das Genie des fiktionalen Goethe, wie es in Lotte in Weimar inszeniert wird, in der geistigen Tradition Friedrich Nietzsches und ordnet sich folglich in den Kontext der Moderne ein. 1447 Frizen (2004b), S. 82.

Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne

433

Im Falle der Nietzsche-Figur Adrian Leverkühn, Erfinder der duodekaphonischen Kompositionsmethode, erübrigt sich der ausführliche Nachweis seiner Modernität, allerdings steht sein Status als Genie in Frage, denn wie kann ein avantgardistischer Komponist des 20. Jahrhunderts unter Rückgriff auf die Kategorien der Genietradition überzeugend inszeniert werden? Der Text trägt dieser Problematik Rechnung, indem er zwei alternative, aber gleichermaßen plausible Erklärungen für Leverkühns Illumination anbietet, die jeweils eine zentrale Vorstellung der Genietradition aktualisieren: Abgängig davon, ob der Teufel, dessen Wirklichkeitsstatus im Roman weitgehend unbestimmt bleibt, als real oder als Illusion angesehen wird, kann die ›unlautere Steigerung‹ Adrian Leverkühns entweder als Folge einer metaphysischen Einflussnahme oder als das Ergebnis einer organischen Erkrankung aufgefasst werden. Wird die Realexistenz des Teufels angenommen, werden die illuminierten Zustände des ›deutschen Tonsetzers‹ auf die ›Eingießungen‹ des »schwarze[n] Kesperlin« (GKFA 10.1, 145) zurückgeführt, der damit die Funktion der inspirierenden Instanz übernimmt, die gemäß der platonischen Inspirationstheorie die Musen innehatten. Diese Substitution stellt jedoch nicht die einzige Veränderung gegenüber der antiken Vorstellung göttlicher Begeisterung dar : Zwar hat auch Leverkühn keinen Einfluss darauf, wann ihn ein Erleuchtungszustand überkommt und wieder verlässt, und auch er ist unfähig, ohne Inspiration schöpferisch tätig zu werden. Trotzdem ist er mehr als nur das willenlose ›Mundstück‹ des Teufels, da der inspirative Prozess in seiner modernisierten Fassung in zwei Schritten verläuft: Der Teufel stellt dem Komponisten in »melodischen Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 522) das musikalische Material zur Verfügung, doch die Aufgabe, es der rigiden Systematik des ›strengen Satzes‹ zu unterwerfen, bleibt Adrian Leverkühn vorbehalten. Dieser Einfluss auf den schöpferischen Prozess ist von grundlegender Bedeutung, weil nur so das entstehende Werk als authentischer Ausdruck der Persönlichkeit des Komponisten verstanden werden kann – eine Voraussetzung, ohne die weder die Vorstellung des modernen Künstlers noch des Genies denkbar ist. Wird der Teufel hingegen als Illusion des ›deutschen Tonsetzers‹ aufgefasst, lässt sich dessen Illumination auf die organische Ursache der syphilitischen Infektion zurückführen und damit ohne Bezugnahme auf eine metaphysische Instanz erklären. Zugleich wird dadurch nicht nur auf das D¤cadence-Motiv der ›genialisierenden Krankheit‹ verwiesen, sondern vor allem die antike Vorstellung der Melancholie in der Nachfolge des pseudo-aristotelischen Problem XXX, 1 aktualisiert, in dem die besondere Begabung eines Menschen erstmals auf einen pathologischen Zustand zurückgeführt wird. Diese Lesart wird noch dadurch gestützt, dass Adrian Leverkühn zahlreiche Merkmalen des homo melancholicus aufweist, darunter seine Kälte, den Wechsel zwischen Depression und Manie sowie seine Migräne-Attacken.

434

Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne

Es zeigt sich also, dass die antiken Vorstellungen von Inspiration und Melancholie zwar im Kern bestehen bleiben, in einzelnen zentralen Aspekten aber modifiziert und modernisiert werden, um auf Adrian Leverkühn anwendbar zu sein. Dabei werden nicht nur Fauststoff und Teufelspakt sowie das D¤cadenceMotiv der ›genialisierenden Krankheit‹ mit dem Genie-Diskurs verquickt, sondern darüber hinaus wird auch der Bezug auf die fragwürdig gewordenen Kategorien der Genie-Ideologie des Sturm und Drang vermieden: Die »Aufschwünge […] und Erleuchtungen« (GKFA 10.1, 336) des ›deutschen Tonsetzers‹ erscheinen als etwas substantiell anderes als die angebliche »Dichter-Begeisterung« (GKFA 9.1, 88) des Originalgenies – er erfährt »das Archaische, das Urfrühe, das längst nicht mehr Erprobte […], [die] echte, alte urtümliche Begeisterung« (GKFA 10.1, 346). Dank dieser atavistisch anmutenden Rückbindung an die ältesten Vorstellungen der Genietradition bei gleichzeitiger Aktualisierung eben dieser Kategorien erscheint der Protagonist des Romans Doktor Faustus als ein moderner Künstler, der zugleich ein Genie ist. In Joseph und seine Brüder stellen die Dinge sich wieder anders dar : Obgleich die Bezüge zur Genietradition eher sporadisch und indirekt sind, weist Joseph zumindest im ›ersten Leben‹ mutatis mutandis die Merkmale einer Geniefigur auf: Er ist ein Künstler von außenordentlicher Begabung, der sich von seinen Brüdern durch Geistesgaben, Schönheit und Bevorzugung unterscheidet und dadurch zum Außenseiter wird, für den die üblichen gesellschaftlichen Regeln nicht gelten. Sein narzisstisches Verhalten verschärft diese Isolation noch weiter, und durch die spielerische Identifikation mit der Göttergestalt des Tammuz stellt er sich praktisch außerhalb des Menschlichen. Doch bildet dieser Zustand »schreiender Unreife« (GW V, 1821) nur ein Stadium in Josephs Entwicklung. Mit der Akzeptanz seiner Rolle im ›Plan Gottes‹ gibt er seinen Anspruch auf Eigengesetzlichkeit auf, und nach seinem Verkauf an die Ismaeliter lernt er, auf die Gefühle seiner Mitmenschen Rücksicht zu nehmen und seine Fähigkeiten, statt sie nur zu seinem eigenen Nutzen einzusetzen, in den Dienst der Gesellschaft zu stellen. Bei der Wiederbegegnung mit den Brüdern verzichtet er darauf, die eigene Person weiterhin mit einem Nimbus des Göttlichen zu umgeben und bekennt sich zu seiner rein menschlichen Identität. Und obgleich er auch als Ernährer »der Gesonderte« (GW V, 1745) bleibt, ist sein Leben nicht »einsam, unverstanden, gespielenlos und kalt« (GKFA 9.1, 352): Als Vorsteher der Verwaltung, als Priester des ägyptischen Sonnenkultes und als Ehemann und Vater ist er in die Gesellschaft »des Landes seiner Entrückung« (GW V, 1305) eingebunden. Josephs Entwicklung führt ihn über das Genie hinaus, und gerade deshalb gelingt ihm, woran die beiden anderen Figuren scheitern:1448 Im Gegensatz zu 1448 Schon Hermsdorf postuliert, dass »im Joseph-Roman Wirklichkeit [werde], was für

Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne

435

Goethe ist sein Wesen kein »Balance-Kunststück genauer Not« (GKFA 9.1, 323), sondern eine wenn auch gefährdete Synthese von Schönheit und Geist, Männlich und Weiblich zu über- und außermenschlicher Harmonie, die sich schließlich zum Inbegriff des Menschlichen wandelt. Indem Joseph, der ›Künstler ohne Werk‹, sein Leben zum Kunstwerk formt, überwindet er den Gegensatz von Leben und Kunst1449 und verwirklicht auf seine Weise die Durchbruchs-Utopie Adrian Leverkühns: In der »lachenden Doppelsinnigkeit seiner Maßnahmen« (GW V, 1758) kommt die Lebens-Kunst des ›Ernährers‹ zum Ausdruck, »eine Kunst mit der Menschheit auf Du und Du« (GKFA 10.1, 469). Und auch die »Lebenswirksamkeit« (GKFA 10.1, 355) des Jaakobssohnes übersteigt alles, was dem ›deutschen Tonsetzer‹ je verheißen wird: Joseph reformiert die ägyptische Gesellschaft, rettet die Völker des »mittelländischen Morgenlandes« (GW IV, 730) vor dem Hungertod und bewahrt auf diese Weise, da aus seinem Familienstamm einst »der Friedensfürst und der Gesalbte« (GW V, 1557) kommen soll, die Hoffnung der Menschheit auf Erlösung. Der Umstand, dass Josephs Reifeprozess ihn über das Stadium des Genies hinausführt, bildet eine implizite Relativierung der Genie-Ideologie: Nicht der ›große Mann‹ ist das Ideal, der einsam und unberührbar alle überragt und die Welt aus seiner Isolation heraus mit dem nihilistischen ›Blick der absoluten Kunst‹ betrachtet, sondern der verantwortungsvolle Künstler, der sich in den Dienst der Gemeinschaft stellt und seine außergewöhnlichen Gaben zum Wohl seiner Mitmenschen einsetzt. Die Bedeutung dieses neuen Paradigmas wird noch unterstrichen durch die utopische Dimension von Joseph und seine Brüder : Anders als Goethe oder Leverkühn ist Jaakobs Sohn Teil einer mythischen Vergangenheit und verkörpert zugleich – gemäß dem »Geheimnis der Vertauschung von Überlieferung und Prophezeiung« (GW IV, 32) – die Verheißung einer utopischen Zukunft: die »stille Hoffnung Gottes« (GW IV, 48) auf ein Menschentum, »das gesegnet [ist] mit Segen von oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt« (GW IV, 49). In Lotte in Weimar werden die traditionellen Genievorstellungen modernisiert, indem Goethe zum Künstler des Fin de siºcle umgedeutet wird, während der avantgardistische Komponist Adrian Leverkühn im Doktor Faustus als archaisches Genie inszeniert wird, das an den fragwürdig gewordenen Kategorien der Genieästhetik des Sturm und Drang keinen Anteil hat. Joseph relativiert beide Ansätze zur Restituierung des Genies, denn erst vor dem Hintergrund des Adrian Leverkühn als gegenwartsgeschichtlicher Figur Vision bleiben« müsse [Hermsdorf (1968), S. 258]. 1449 »Joseph, der in so vieler Hinsicht Manns bisherigem Werk die Krone aufsetzt um gleichzeitig darüber hinauszugehen, bietet eine künstlerische Lösung […] der Wirkungslosigkeit des Künstlers und seiner Stellung in der Gesellschaft« [Hughes (1975), S. 11].

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Conclusio: Geniefiguren zwischen Tradition und Moderne

utopischen Menschheitssymbols Joseph und seine Brüder wird das wahre Ausmaß der Gebrochenheit, Tragik und Düsternis dieser beiden Figuren erkennbar, und damit die tiefe Fragwürdigkeit des Geniekonzepts in der Moderne. In der Entwicklung Josephs zum Inbegriff des Menschlichen vollzieht sich die Transzendierung des Genies.

IX. Bibliographie

Sekundärliteratur ist grundsätzlich nach Kapiteln geordnet; Überblickswerke zu Thomas Mann werden gesondert aufgeführt, gleiches gilt für Titel, die keinen unmittelbaren Bezug zum behandelten Primärtext haben. Die in den Exkursen zu den Antiken Wurzeln des Genies verwendeten Texte werden gemeinsam zitiert, aber nach Primär- und Sekundärtexten unterschieden. Werke, die von Thomas Mann verwendet wurden, sind mit * gekennzeichnet.

1.

Siglen

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Bibliographie

2.

Weitere Primärtexte

2.1.

Texte Thomas Manns

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2.2.

Werke anderer Autoren

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Kapitel II: Systematische Bestimmung des Geniebegriffs

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Günter Peters: Der zerrissene Engel. Genieästhetik und literarische Selbstdarstellung im achtzehnten Jahrhundert, Stuttgart 1982. Jürgen H. Petersen: Der deutsche Roman der Moderne. Grundlegung – Typologie – Entwicklung, Stuttgart 1991. Gerhard Plumpe: Ästhetische Kommunikation der Moderne. Von Kant bis Hegel, Bd. 1, Opladen 1993. Wolfgang Raible: Alterität und Identität, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998, S. 7 – 22. Vinzenz Rüfner : Homo secundus deus. Eine geistesgeschichtliche Studie zum menschlichen Schöpfertum, in: Philosophisches Jahrbuch 63 (1955), S. 248 – 291. Gerhard Sauder : Geniekult im Sturm und Drang, in: Grimminger, Rolf (Hrsg): Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680 – 1789, Bd. 3, 2., durchges. Aufl., München 1984, S. 327 – 340. Gerhard Sauder, Karl Richter : Vom Genie zum Dichter-Wissenschaftler. Goethes Auffassungen vom Dichter, in: Grimm, Gunter E. (Hrsg): Metamorphosen des Dichters. Das Selbstverständnis deutscher Schriftsteller von der Aufklärung bis zur Gegenwart, Frankfurt am Main 1992, S. 84 – 104. Jutta Schlich: Literarische Authentizität. Prinzip und Geschichte, Tübingen 2002. Brigitte Schlieben-Lange: Die Dialektik von Identität und Alterität, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998, S. 41 – 57. Brigitte Schlieben-Lange: Vorwort, in: Schlieben-Lange, Brigitte; Hermes, Christian (Hrsg): Alterität. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 110, Stuttgart 1998, S. 5 – 6. Christoph Schmidt: Die Endzeit des Genies. Zur Problematik des ästhetischen Subjekts in der (Post-)Moderne, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 69 (1995), S. 172 – 195. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik. 1750 – 1945, 3. Aufl., 2 Bde., Heidelberg 2004a. Bd. 1: Von der Aufklärung zum Idealismus (2004b) Bd. 2: Von der Romantik bis zum Ende des Dritten Reichs (2004c) Charles Taylor : The Ethics of Authenticity, 11. Aufl., Cambridge 2003. Horst Turk: Alienität und Alterität als Schlüsselbegriffe einer Kultursemantik, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik 22 (1990), S. 8 – 31. Silvio Vietta, Dirk Kemper: Einleitung, in: Vietta, Silvio; Kemper, Dirk (Hrsg): Ästhetische Moderne in Europa. Grundzüge und Problemzusammenhänge seit der Romantik, München 1998, S. 1 – 55. Oskar Walzel: Das Prometheussymbol von Shaftesbury zu Goethe, Reprographischer Nachdruck der 2., neubearbeiteten Aufl., München 1932; 3., unveränderte Aufl., Darmstadt 1968. David Wellbery : Die Form der Autonomie. Goethes Prometheus-Ode, in: Pankow, Edgar ; Peters, Günter (Hrsg): Prometheus. Mythos der Kultur, München 1999, S. 109 – 125. Marianne Willems: Wider die Kompensationsthese. Zur Funktion der Genie-Ästhetik der Sturm-und-Drang-Bewegung, in: Euphorion 94 (2000), S. 1 – 41.

444

Bibliographie

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7.

Kapitel III und V: Antike Wurzeln des Genies

7.1.

Primärtexte

Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung. begründet von Ernst Grumbach, hrsg. von Hellmut Flashar, 19 Bde., Berlin 1962. Marcus T. Cicero: De oratore. Lateinisch – deutsch, hrsg. u. übers. v. Theodor Nüßlein, Düsseldorf 2007. Marcus T. Cicero: Gespräche in Tusculum. Lateinisch-deutsch = Tusculanae disputationes, hrsg. u. übers. v. Olof Gigon, 7. Aufl., Düsseldorf 1998. Marcus T. Cicero: Über die Ziele des menschlichen Handelns. Lateinisch-deutsch = De finibus bonorum et malorum, hrsg. u. übers. v. Olof Gigon, 2. Aufl., Düsseldorf 2002. Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch und deutsch, hrsg. von Hans Färber, München, 8. Aufl. 1979. Hermann Diels, Gert Plamböck (Hrsg): Die Fragmente der Vorsokratiker, Berlin 1954. Marsilio Ficino: Three Books on Life. A Critical Edition and Translation with Introduction and Notes by Carol V. Kaske and John R. Clark, 2. Aufl., Binghamton 1998. Platon: Werke in acht Bänden. Griechisch und deutsch, hrsg. von Gunther Eigler, Darmstadt 2001. Plutarch’s Moralia in Fifteen Volumes, hrsg. von Phillip H. DeLacey, Cambridge, Reprinted 1994. Sallust: Werke. Lateinisch und deutsch. hrsg. und übers. v. Werner Eisenhut und Joseph Lindauer, Düsseldorf, 3., durchges. Aufl. 2006.

7.2.

Sekundärtexte

Giorgio Agamben: Genius, in: Agamben, Giorgio: Profanierungen, Frankfurt am Main 2006, S. 7 – 17 Eike Barmeyer: Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie, München 1968. Hans Brög: Zum Geniebegriff. Quellen, Marginalien, Probleme, Ratingen 1973. Carlos Ceia: Comparative Readings of Poems Portraying Symbolic Images of Creative Genius. Sophia de Mello Breyner Andresen, Teixeira de Pascoaes, Rainer Maria Rilke, John Donne, John of the Cross, Edward Young, Lao Tzu, William Wordsworth, Walt Whitman, Lewiston, 2002. Hellmut Flashar : Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966.

Kapitel IV: Lotte in Weimar

445

Piero Giordanetti: Das Verhältnis von Genie, Künstler und Wissenschaftler in der kantischen Philosophie, in: Kant-Studien 86 (1995), S. 406 – 430. Bernhard Greiner : Genie-Ästhetik und Neue Mythologie. Versuche um 1800, das Neue als Neues zu denken, in: Moog-Grünewald, Maria (Hrsg): Das Neue. Eine Denkfigur der Moderne, Heidelberg 2002, S. 39 – 53. Raymond Klibansky, Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt am Main 1990. Hille Kunckel: Der römische Genius, Heidelberg 1974. Verena Lobsien: Das manische Selbst. Frühneuzeitliche Versionen des Melancholieparadigmas in der Genese literarischer Subjektivität, in: Fetz, Reto Luzius; Hagenbüchle, Roland; Schulz, Peter (Hrsg): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität, Bd. 1, Berlin 1998, S. 713 – 739. Franz-Joseph Meissner : Wortgeschichtliche Untersuchungen im Umkreis von französischem Enthousiasme und Genie, Genf 1979. Penelope Murray : Poetic Genius and its Classical Origins, in: Murray, Penelope (Hrsg): Genius. The History of an Idea, Oxford 1989, S. 9 – 31. Penelope Murray : Introduction, in: Murray, Penelope (Hrsg): Genius. The History of an Idea, Oxford 1989, S. 1 – 8. Jane Chance Nitzsche: The Genius Figure in Antiquity and the Middle Ages, 3. Aufl., New York 1975. Erwin Panofsky, Fritz Saxl: Dürers ›Melencolia I‹. Eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung, Berlin 1923. Winfried Schleiner : Melancholy, Genius, and Utopia in the Renaissance, Wiesbaden 1991. Wendelin Schmidt-Dengler : Genius. Zur Wirkungsgeschichte antiker Mythologeme in der Goethezeit, München 1978. Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters, Berlin 1996. Edgar Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffes. Ein Beitrag zur Ideengeschichte der Antike und des Frühkapitalismus, Nachdruck der Ausgabe Tübingen 1926, Hildesheim 1972.

8.

Kapitel IV: Lotte in Weimar

Stewart Atkins: Das Leben ist ein Gänsespiel. Some Aspects of Goethe’s ›West-östlicher Divan‹, in: Schwarz, Egon (Hrsg): Festschrift für Bernhard Blume. Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur, Göttingen 1967, S. 90 – 102. Reinhard Baumgart: Joseph in Weimar – Lotte in Ägypten, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 4 (1991), S. 75 – 88. Reinhard Baumgart: Eine Fata Morgana deutscher Kultur. Über Thomas Mann. Reinhard Baumgart über ›Lotte in Weimar‹, in: Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg): Romane von gestern – heute gelesen, Bd. 3: 1933 – 1945, Frankfurt am Main 1990, S. 215 – 223. Bernhard Blume: Thomas Mann und Goethe, Bern 1949. *Joseph A. von Bradish: Goethe als Erbe seiner Ahnen, Berlin/New York 1933.

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Bibliographie

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Kapitel IV: Lotte in Weimar

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Gert; Baron, Frank (Hrsg): Goethe im Exil. Deutsch-amerikanische Perspektiven, Bielefeld 2002, S. 141 – 159. Helmut Koopmann: Schattenspiele, Schattenrisse. Die Auseinandersetzung Thomas Manns mit Gerhard Hauptmann und Veränderungen im Wirklichkeitssinn des Emigranten Goethe in Weimar, in: Wellnitz, Philippe (Hrsg): Thomas Mann. Lotte in Weimar. Künstler im Exil – L’Artiste et son Exil, Strasbourg 1998, S. 21 – 46. Herbert Kraft: Goethe 1939. Thomas Manns Roman ›Lotte in Weimar‹, in: Gockel, Heinz; Neumann, Michael; Wimmer, Ruprecht (Hrsg): Wagner – Nietzsche – Thomas Mann. Festschrift für Eckhard Heftrich, Frankfurt am Main 1993, S. 310 – 323. Theo Kramer : Thomas Mann. ›Lotte in Weimar‹, in: Enklaar, Jattie; Ester, Hans (Hrsg): Von Goethe war die Rede …, Amsterdam 1999, S. 21 – 38. Bernd M. Kraske: Von der unio mystica mit dem Vater. Der Goethe-Roman ›Lotte in Weimar‹, in: Kraske, Bernd M. (Hrsg): Nachdenken über Thomas Mann. Sechs Vorträge, Glinde 1997, S. 103 – 131. *Paul Kühn: Weimar, Leipzig 1908. Herbert Lehnert: Dauer und Wechsel der Autorität. ›Lotte in Weimar‹ als Werk des Exils, in: Bernini, Cornelia (Hrsg): Internationales Thomas-Mann-Kolloquium 1986 in Lübeck, Bern 1987, S. 30 – 52. Herbert Lehnert: Repräsentation und Zweifel. Thomas Manns Exilwerke und der deutsche Kulturbürger, in: Durzak, Manfred (Hrsg): Die deutsche Exilliteratur 1933 – 1945, Stuttgart 1973, S. 398 – 417. Claudia Liebrand: Im Kabinett der Spiegel. Masken und Signifikantenspiele, Memoria und Genre in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Börnchen, Stefan; Liebrand, Claudia (Hrsg): Apokrypher Avantgardismus. Thomas Mann und die Klassische Moderne, München 2008, S. 267 – 298. Irmela von der Lühe: ›Lotte in Weimar‹. Thomas Manns Goethe zwischen Dichtung und Wahrheit, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 22 (2009), S. 9 – 21. Irmela von der Lühe: »Opfer einer Fascination«. Die Frauengestalten in ›Lotte in Weimar‹, in: Sprecher, Thomas (Hrsg): Lebenszauber und Todesmusik. Zum Spätwerk Thomas Manns. Die Davoser Literaturtage 2002, Frankfurt am Main 2004, S. 89 – 104. Karl Robert Mandelkow: Der proteische Dichter. Ein Leitmotiv in der Geschichte der Deutung und Wirkung Goethes, in: Mandelkow, Karl Robert (Hrsg): Orpheus und Maschine. Acht literaturgeschichtliche Arbeiten, Heidelberg 1976, S. 23 – 37. Friedhelm Marx: »Die Menschwerdung des Göttlichen«. Thomas Manns Goethe-Bild in ›Lotte in Weimar‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 10 (1997), S. 113 – 132. Barbara Molinelli-Stein: Thomas Mann. Das Werk als Selbstinszenierung eines problematischen Ichs. Versuch einer psycho-existenziellen Strukturanalyse zu den Romanen ›Lotte in Weimar‹ und ›Doktor Faustus‹, Tübingen 1999. Katharina Mommsen: Goethe und die arabische Welt, Frankfurt am Main 1988. Morten Dyssel Mortensen: Humanität als universelle Ubiquität. Zu Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Text und Kontext 26 (2004), S. 7 – 41. Rüdiger Nutt-Kofoth: Charlotte Kestners Tradierungsstrategie. Zur Funktion von Erinnerung und Gedächtnis in Thomas Manns ›Lotte in Weimar‹, in: Plachta, Bodo; Woesler, Winfried (Hrsg): Literatur als Erinnerung. Winfried Woesler zum 65. Geburtstag, Tübingen 2004, S. 245 – 268.

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Kapitel VI: Doktor Faustus

449

päische Roman zwischen Aufklärung und Postmoderne. Festschrift zum 65. Geburtstag von Jürgen C. Jacobs, Weimar 2001, S. 205 – 218.

9.

Kapitel VI: Doktor Faustus

Jn Albrecht: Leverkühn oder die Musik als Schicksal, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 45 (1971), S. 375 – 388. Marguerite DeHuszar Allen: The Faust Legend. Popular Formula and Modern Novel, New York 1985. Peter-Andr¤ Alt: Thomas Mann. ›Doktor Faustus‹. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde, in: Schneider, Sabine (Hrsg): Lektüren für das 21. Jahrhundert. Klassiker und Bestseller der deutschen Literatur von 1900 bis heute, Würzburg 2005, S. 59 – 82. Dietrich Assmann: Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹ und seine Beziehungen zur Faust-Tradition, Helsinki 1975. Dietrich Assmann: »Herzpochendes Mitteilungsbedürfnis und tiefe Scheu vor dem Unzukömmlichen«. Thomas Manns Erzähler im ›Doktor Faustus‹, in: Hefte der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft 6/7 (1987), S. 87 – 97. Erhard Bahr : »Identität des Nichtidentischen«. Zur Dialektik der Kunst in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹ im Lichte von Theodor W. Adornos ›Ästhetischer Theorie‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 2 (1989), S. 102 – 120. Erhard Bahr : Art Desires Non-Art. The Dialectics of Art in Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹ in the Light of Theodor W. Adorno’s ›Aesthetic Theory‹, in: Lehnert, Herbert; Pfeiffer, Peter C. (Hrsg): Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹. A Novel at the Margin of Modernism, Columbia 1991, S. 145 – 160. Christian Baier : »… ich weiß es, und möge man zehnmal den Einwand erheben, ich könne es nicht wissen …«. Analyse einer Szene in Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, in: Wirkendes Wort 58/1 (2008), S. 113 – 126. Gabriele von Bassermann-Jordan: Fausts ›Attritio‹, Luthers ›Contritio‹ und Leverkühns ›stolze Zerknirschung‹. Zur Gnadenthematik in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 52 (2008), S. 413 – 437. Eva Bauer Lucca: Versteckte Spuren. Eine intertextuelle Annäherung an Thomas Manns Roman ›Doktor Faustus‹, Wiesbaden 2001. Michael Beddow: Analogies of Salvation in Thomas Mann’s ›Doctor Faustus‹, in: London German Studies 3 (1986), S. 117 – 131. Michael Beddow: Thomas Mann. ›Doctor Faustus‹, Cambridge 1994. Gunilla Bergsten: Thomas Manns ›Doktor Faustus‹. Untersuchungen zu den Quellen und zur Struktur des Romans, 2., erg. Aufl., Tübingen 1974. Georg Bollenbeck: ›Doktor Faustus‹. Das Deutungsmuster des Autors und die Probleme des Erzählers, in: Röcke, Werner (Hrsg): Thomas Mann. Doktor Faustus 1947 – 1997, Bern 2001, S. 35 – 57. Dieter Borchmeyer : Musik im Zeichen Saturns. Melancholie und Heiterkeit in Thomas Manns ›Doktor Faustus‹, in: Thomas-Mann-Jahrbuch 7 (1994), S. 123 – 167.

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Kapitel VI: Doktor Faustus

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Palaestra – Untersuchungen zur europäischen Literatur Filippo Smerilli Moderne – Sprache – Körper Analysen zum Verhältnis von Körpererfahrung und Sprachkritik in erzählenden Texten Robert Musils ISBN 978-3-89971-710-5 Sprach- und Körperthematik in Musils »Die Verwirrungen des Zöglings Törleß«, »Vereinigungen« und »Der Mann ohne Eigenschaften«. Wolfgang Struck Die Eroberung der Phantasie Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik ISBN 978-3-89971-769-3 Kolonialismus, Literatur und Film zwischen deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik. Caroline A. Lodemann Regie als Autorschaft Eine diskurskritische Studie zu Schlingensiefs ›Parsifal‹ ISBN 978-3-89971-624-5 Beziehungen von Text und Inszenierung in der Aufführung im Hinblick auf Zuschreibung und Markierung von Autorschaft. Vera Hildenbrandt Europa in Alfred Döblins Amazonas-Trilogie Diagnose eines kranken Kontinents ISBN 978-3-89971-817-1 Döblin mit Papier und Bleistift auf der Spur der Krankheit des modernen Europa.

Leseproben und weitere Informationen unter www.vr-unipress.de Email: [email protected] ............... Tel.: +49 (0)551 / 50 84-301 ............... Fax: +49 (0)551 / 50 84-333