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German Pages [245] Year 2019
MIRIAM ALBRACHT
ORDNUNG UND GEWALT Thomas Manns Josephroman und die Erzähung »Das Gesetz«
Miriam Albracht
Ordnung und Gewalt Thomas Manns Josephroman und die Erzählung »Das Gesetz«
Böhlau Verlag wien köln weimar
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abruf bar. © 2019 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : Peter van Lisebetten, Kain and Abel (1673) Korrektorat : Constanze Lehmann, Berlin Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-51559-1
Danksagung
Das vorliegende Buch ist die aktualisierte Fassung der Dissertation, die unter dem Titel »Ordnung und Gewalt in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder und der Erzählung Das Gesetz an der Philosophischen Fakultät der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf im Sommer 2014 zur Promotion angenommen wurde. Ich danke überaus herzlich meinem Doktorvater und langjährigen Lehrer Prof. Dr. Hans-Georg Pott für seine stete Unterstützung, sein Vertrauen sowie die akademische Freiheit, die ich unter seiner Leitung am Institut für Germanistik genießen durfte. Zu großem Dank bin ich auch Prof. Volker C. Dörr verpflichtet, der das Zweitgutachten übernommen hat und nun maßgeblich mit dafür verantwortlich ist, dass ich nicht nur immer noch, sondern vor allem auch sehr gerne an der Heinrich-Heine-Universität tätig bin. Mein Dank geht darüber hinaus an Prof. Dr. Sibylle Schönborn, die mir den Stoff der Josephromane in intensiver Seminararbeit zum ersten Mal nähergebracht hat. Herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Prof. Dr. Jochen Hörisch, in dessen Oberseminar ich meine Thesen vorstellen und diskutieren durfte, sowie bei den Teilnehmerinnen und Teilnehmern des Seminars für die konstruktive Kritik. Ein großer Dank geht an meinen sehr geschätzten Kollegen und guten Freund Frank Weiher, der den gesamten Prozess der Arbeit begleitet und durch Diskussionen unterstützt und bereichert hat. Bei Karl-Heinz Krügel bedanke ich mich herzlich für die sorgfältige Durchsicht des Manuskripts. Vielen Dank zudem an Harald S. Liehr vom Böhlau-Verlag für die freundliche und kompetente Unterstützung bei der Drucklegung meiner Arbeit und an die Stiftung Wissenschaft und Bildung für die großzügige finanzielle Unterstützung meiner Dissertation. Zuletzt mein tiefster Dank für die vielfältige stete Unterstützung an Thommy und Timo van Treeck – und an meine Eltern, für ihren Humor und ihre Geduld.
Inhalt
Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Gott : der Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Der Mensch : Höllenfahrt.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Gott und Mensch : Von Schöpfungs- und Gründungsmythen . . . . . . . 16 Erwählung und Offenbarung : Roman und Novelle. . . . . . . . . . . . . 19 Stand der Forschung und Methodik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.1 Stand der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.2 Methodik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.2.1 Der Mythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1.2.2 Gewalt und Gesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.2.3 Sprache und Schrift . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 1.
2.
Textanalyse : Joseph und seine Brüder.. . . . . . . . . . . . . . . . 57 57 64 64 67 71
2.1 Thomas Manns Gottesbild : Von Gottes und des Menschen Eifer .. 2.2 Sozialisation und Ausbildung Josephs . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Das Fest und das »schöne Gespräch«. . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Der Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum . . . . . . . . . . 2.4 Der Umsturz der Ordnung : die symbolische Bedeutung des Schleiers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.5 Die mythische Vorlage. Der erste Mord : Kain und Abel. . . . . . . 2.6 Die gestörte Ordnung der Brüder. Gewalt als Zurechtstutzung der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.7 Sexualität und Gewalt. Störung und Wiederherstellung der Ordnung : Dina. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Die Ordnung der Familie. Von Einschaltung und Ausschaltung : Thamar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.9 Die Segensszene : Die Ordnung wird befestigt. . . . . . . . . . . . 3.
3.1
91 103 109 125 140 165
Textanalyse : Das Gesetz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 Sozialisation und Ausbildung Moses. . . . . . . . . . . . . . . . . 181
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Inhalt
3.2 Die Voraussetzung : Leidenschaft.. . . . . . . . . 3.3 Das Mittel : Der unsichtbare Gott . . . . . . . . . 3.4 Das »gestaltlose« Volk . . . . . . . . . . . . . . . 3.5 Auszug in die ›Freiheit‹ : Propaganda und Gewalt . 3.6 Das »Bündig-Bindende« : Gesetz und Schrift . . . 3.6.1 Die Sittengesetze. . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.2 Moses Rechtsapparat. . . . . . . . . . . . . . . . 3.6.3 Die Lautschrift. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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185 190 192 195 201 201 210 214
Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233
Einleitung
Höre, Herr, hatte Abraham damals gesagt, so oder so, das eine oder das andere ! Willst du eine Welt haben, kannst du nicht Recht verlangen ; ist es dir aber ums Recht zu tun, so ist es aus mit der Welt.1
Gott : der Ursprung Thomas Manns ›alttestamentarisches Werk‹2, die Roman-Tetralogie Joseph und seine Brüder (entstanden 19263–1943) und die Novelle Das Gesetz (1943), erzählen Schöpfungs- und Ursprungsmythen4 der Bibel neu : Aus dem Chaos entsteht 1 Thomas Mann : Joseph und seine Brüder. In : Ders.: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. IV, 429. Die Werke Thomas Manns werden, sofern nicht bereits in der GkFA erschienen, nach der Ausgabe Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Frankfurt a. M. 1960/1974 zitiert. Alle weiteren Werke aus : Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher. Hrsg. v. Heinrich Detering. Frankfurt a. M. 2002 ff. Ich verwende die Siglen GW und GkFA. Die Nachweise zum Josephroman (GW IV und GW V) sowie zur Erzählung Das Gesetz (GW VIII, 808–867) erfolgen mit Seitenangaben im Text. Der Roman war zum Zeitpunkt der Fertigstellung des Manuskripts in der GkFA noch nicht erschienen. 2 Die Roman-Tetralogie erzählt die Geschehnisse Genesis 37–50, die Mose-Erzählung Das Gesetz im Wesentlichen das Buch Exodus neu. 3 Herbert Lehnert datiert den Beginn der Niederschrift auf November 1926, gibt aber zu bedenken, dass »[d]ie Anfänge der Beschäftigung mit dem Josephsstoff […] noch in die Zeit der Niederschrift des Zauberbergs zurück[gehen].« Herbert Lehnert : Thomas Manns Vorstudien zur Josephstetralogie. In : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 7 (1963), 458–520, 465 ; im Folgenden : Lehnert : Vorstudien. 4 Ich folge bei der Unterscheidung zwischen Ursprungs- und Schöpfungsmythen Mircea Eliade : Mythos und Wirklichkeit. Frankfurt a. M. 1988, S. 30. Im Folgenden : Eliade : Mythos. Emil Angehrn fasst Eliade konzise zusammen : »Berichten die ersten im Rahmen einer schon bestehenden polytheistischen Götterwelt von der Einsetzung bestimmter Institutionen oder einfach von bestimmten vorbildlichen Ereignissen und Taten, so greifen die zweiten dahinter zurück und vergegenwärtigen die absoluten Anfänge, in denen die Bedingungen jener Welt entstehen ; diese handeln von Schöpfung, jene von Geschichte.« (Emil Angehrn : Die Überwindung des Chaos. Zur Philosophie des Mythos. Frankfurt a. M. 1996, 62 ; im Folgenden : Angehrn : Überwindung) Im Sinne Angehrns begreife ich zudem Ursprungsmythen als Austragungsort von Urkonflikten. (Vgl. ebd., 62) Die Begriffe Ursprungs- und Gründungsmythos werden synonym verwendet, wobei ich den
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Einleitung
Kosmos, entsteht Welt, und in ihr entwickeln sich die Urkonflikte des Menschen, die im Mythos erinnert und im immer wiederkehrenden Fest leiblich-rituell erfahrbar gemacht werden. Thomas Mann gewährt dem Leser mit seinem »Fest der Erzählung« (GW IV, 54) einen Einblick in die Konstitution des Menschenwesens, in sein Bestreben nach Weiterentwicklung und in seine stetige Sorge5, dem zu entsprechen, was die Stunde geschlagen hat, sein »intelligentes Lauschen auf das, was der Weltgeist will«6. Im Roman wird dieses »intelligente Lauschen« mit »Gottessorge« übersetzt. Was darunter zu verstehen ist, erläutert Thomas Mann in seinem Essay Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag von 1942 : »Die ›Gottessorge‹ ist die Besorgnis, das, was einmal das Rechte war, es aber nicht mehr ist, noch immer für das Rechte zu halten und ihm anachronistischerweise nachzuleben ; sie ist das fromme Feingefühl für das Verworfene, Veraltete, innerlich Überschrittene, das unmöglich, skandalös, oder in der Sprache Israels, ein ›Greuel‹ geworden ist.«7 Roman und Erzählung thematisieren, um meinen Untersuchungsgegenstand ein erstes Mal zu benennen, das Errichten von Ordnungs- und Gesetzesstrukturen, die Herrschafts- und Machtstrukturen inkludieren und gleichzeitig offenlegen. Der alttestamentarische Stoff, der, um seinen Universalismus Begriff Gründungsmythos favorisiere, da er den Unterschied zum Schöpfungsmythos klarer herausstellt, denn der Schöpfungsmythos berichtet ja von einem Ursprung im Sinne eines »Übergang[s] vom Nicht-sein zum Sein« (ebd.). 5 Der Begriff ›Sorge‹ wird hier mit Blick auf Martin Heidegger verwendet. Für Heidegger ist die Grundverfasstheit des Daseins Sorge, das »Sein des Daseins als Sorge« (254) ist also immer schon gegeben, ist ontologisch gesetzt. Bei Thomas Mann wird diese Grundverfasstheit dann im Sinne der Verantwortung für die Zukunft zugespitzt. Der Aspekt der Zeitlichkeit (»Sich-vorweg-sein«, 255) ist jedoch auch bei Heideggers Begriff der ›Sorge‹ zentral. (Martin Heidegger : Sein und Zeit. Hrsg. v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann. Gesamtausgabe Bd. 2. Frankfurt a. M. 1977, erster Teil, sechstes Kapitel). 6 GW XI (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag), 654–669, 668. Weiter heißt es dort : »Sie ist das intelligente Lauschen auf das, was der Weltgeist will, auf die neue Wahrheit und Notwendigkeit, und ein besonderer, religiöser Begriff der Dummheit ergibt sich dabei : die Gottesdummheit, die diese Sorge nicht kennt […].« S. auch Hendrik Johan Adriaanse : Auf der Suche nach der Gottesklugheit. In : Niklaus Peter und Thomas Sprecher : Der Ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen. Frankfurt a. M. 2012, S. 63–77. (= Thomas-Mann-Studien 45 (2012)) Edo Reents : Zu Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption. Würzburg 1998 [zugl. Münster Univ., Diss., 1995], 207 ; im Folgenden : Reents : Schopenhauer-Rezeption, sieht in der Gottessorge Josephs Schopenhauers »transscendenten Fatalismus« (Arthur Schopenhauer : Parerga und Paralipomena. Kleine philosophische Schriften. Erster Band, erster Teilband. In : Ders.: Zürcher Ausgabe. Werke in zehn Bänden. Bd. VII. Zürich 1977, 224). 7 GW XI (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag), 668.
Gott : der Ursprung
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zu unterstreichen, vor allem im Roman durch weitere Mythen unterschiedlicher Kulturkreise8 ergänzt wird, eignet sich für dieses Unternehmen in zweifacher Hinsicht besonders gut : Zum einen bietet die Bibel mit ihrem Schöpfungsmythos ein Szenario für einen möglichen Anfang, für einen Ursprung. Welt entsteht hier erst ; und in ihr, als Krönung der Schöpfung, der Mensch, der so, quasi in seiner ›Reinform‹, an seinen Wurzeln erzählerisch aufgesucht wird, und hierdurch kann auch die Frage nach dem Wesen des Menschen noch einmal ursprünglich gestellt werden. Denn, so formuliert der Erzähler zu Beginn des Vorspiels zum Roman, Höllenfahrt : »[D]as A und O all unseres Redens und Fragens bildet […] allein das Menschenwesen.« (GW IV, 9) Zum anderen berichten die Vätergeschichten und das Buch Exodus explizit von Ereignissen (im Sinne der Gründungsmythen), bei denen etwas neu begründet wird, von Einschnitten, die der menschlichen Gemeinschaft also etwas Neues hinzufügen, das diese mehr oder weniger in ihren Grundfesten erschüttert : Der erste Mord (Kain und Abel), die erste Strafe nach der Vertreibung aus dem Paradies (Verbannung Kains), der erste Vertrag (der Bund Abrahams bzw. des auserwählten Volkes mit Gott), der Auszug in eine neue (geistige) Welt (Exodus), die ersten schriftlich fixierten Gesetze eines transzendenten Gottes (die Zehn Gebote am Berg Sinai). Gott ist hier, im Alten Testament, stets präsent, er handelt, er greift ein, er offenbart sich. In all diesen biblischen ›Geschichten‹ geht es also darum, wie sich der Mensch mit Gottes hohen Ansprüchen an ihn
8 Wobei es sich hier eigentlich nicht um eine Ergänzung, sondern vielmehr um eine Offenlegung handelt, da ja bereits der biblische Text Träger dieser Mythen ist, die ihm als Subtexte eingeschrieben sind. Im Alten Testament ist also »keineswegs nur die Geschichte des Volkes Israel verzeichnet, sondern zugleich das umfassendste Gedächtnisarsenal des Vorderen Orients«. (Christoph Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift. München 22013, 18 ; im Folgenden : Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code. Vgl. hierzu auch Jamme : »Gott an hat ein Gewand«. Grenzen und Perspektiven philosophischer Mythos-Theorien der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1991, 205 ; im Folgenden : Jamme : »Gott an hat ein Gewand«, und Angehrn : Überwindung, 333) So sind in den Roman etwa griechische (Dionysos, Orpheus), sumerische (Gilgamesch), ägyptische (Isis und Osiris) oder babylonische (Tammuz) Mythen eingeflochten, die auch die mythische Lebenswelt der Figuren prägen. Siehe hierzu exemplarisch : Manfred Dierks : Studien zu Mythos und Psychologie bei Thomas Mann. An seinem Nachlaß orientierte Untersuchungen zum ›Tod in Venedig‹, zum ›Zauberberg‹ und zur ›Joseph‹-Tetralogie. Frankfurt a. M. 22003 [zugl. Freiburg, Univ., Diss., 1968] (= Thomas-Mann-Studien 2 (1972)) ; im Folgenden : Dierks : Studien ; Jan Assmann : Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen. München 2006 ; im Folgenden : Assmann : Thomas Mann und Ägypten.
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Einleitung
arrangiert, wie es möglich ist, in Zukunft Strafe zu vermeiden und gottgefällig zu leben. Was aber, wenn Gott nicht handelt, nicht eingreift, sich nicht offenbart, aber dennoch präsent ist ? Diesen Fall, so meine These, spielt Thomas Manns alttestamentarisches Werk in aller erzählerischen Breite durch. Der auktoriale Erzähler in Roman und Erzählung präsentiert dem Leser einen radikalen Deismus : Nach der Schöpfung zieht sich Gott aus der Welt zurück, der transzendente Gott erwählt nicht, vollbringt keine Wunder und offenbart sich nicht. Doch gerade dieses, ich möchte es vorläufig in Anlehnung an Peter Sloterdijk ›Resonanzproblem‹9 nennen, ist Voraussetzung für das immanent erfolgreiche Wirken der beiden Protagonisten, Joseph und Mose, wie zu zeigen sein wird. Indem Gott als Handelnder und somit als tätiger Urheber für Neues ausscheidet, legt der Text dem Menschen für seine Ordnungen und Strukturen die Verantwortung in die Hände und präsentiert gleichzeitig eine alternative Lesart der Bibel. Meine Frage soll also lauten : Wie konstituiert sich der Mensch ›Welt‹ ? Wie gestaltet sich der Mensch eine sinnhafte Welt, die seinem Drang zur Subjektwerdung entspricht ? Welche Strategien, welche Ordnungssetzungen wirken sich progressiv auf sein kulturelles und zivilisatorisches Fortkommen aus ? Ich frage also mit Roman und Novelle nach kulturell-zivilisatorischen ›Großereignissen‹, nach Phänomenen, die sich unter dem Begriff ›Sinnproduzierer‹ zusammenfassen lassen : Mythos, Gesetz sowie Schrift, und suche nach einem gemeinsamen Kern dieser Sinnkonstrukte. Es wird hierbei zu zeigen sein, dass diese Sinnproduzierer Ordnungskategorien darstellen, die sich nicht ohne die Beteiligung von Gewaltakten denken lassen. An exemplarischen Kapiteln und Abschnitten, die ich als Schlüsselszenen für die Frage nach der Konstitution von Welt auffasse, möchte ich in einem Close Reading zeigen, wie Ordnungen errichtet werden, wie sie bedroht oder zerstört und erneut aufgerichtet werden – und was dann der Preis hierfür ist. Konkret geht es mir hierbei um Szenen, die 1. Formen der mythischen Identifikation und Selbststilisierung enthalten, 2. Akte des Rechtsbruchs und der Rechtsetzung gestalten, 3. kulturelle Errungenschaften (Sprache, Schrift) zum Inhalt haben und 4. Akte von Gewalt schildern. Wobei anzumerken ist, dass sich diese Themen in den zu untersuchenden Szenen mitunter naturgemäß überschneiden können. 9 »Transzendenz entsteht […] aus einer Überinterpretation der Resonanzlosigkeit.« (Peter Sloterdijk : Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen. Frankfurt a. M. u. Leipzig 2007, 24 ; im Folgenden : Sloterdijk : Gottes Eifer.
Der Mensch : Höllenfahrt
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Der Mensch : Höllenfahrt Noch einmal : »[D]as A und O all unseres Redens und Fragens bildet […] allein das Menschenwesen.« Was hier als Credo für die Josephtetralogie formuliert wird, gilt für das gesamte Schaffen Thomas Manns. Dieses »Menschenwesen« ist zugleich ein »Rätselwesen« (GW IV, 9), dessen Geheimnis ergründet sein will. Das Werk Manns ergründet dieses Rätsel an ausgesonderten, besonderen Individuen, die einen Weg zurücklegen müssen, der sie aus der gewohnten Ordnung herausführt.10 In der Regel handelt es sich dabei um eine »Höllenfahrt«11, eine Hadesfahrt in den realen oder symbolischen Tod. Der Josephroman unternimmt eine solche Höllenfahrt in zweifacher Hinsicht : Zum einen geht es zeitlich gedacht tief in den »Brunnen der Vergangenheit«, in die »Unterwelt des Vergangenen«, zu den »Anfangsgründen des Menschlichen, seiner Geschichte, seiner Gesittung«. (GW IV, 9) Diese Anfangsgründe erweisen sich jedoch zunächst als »gänzlich unerlotbar«, wir müssen uns somit lediglich mit »Anfänge[n] bedingter Art« (ebd.) zufriedengeben. Thomas Mann unternimmt also den Versuch einer »historischen Anthropologie«12, indem er danach fragt, wann oder vielmehr warum und wodurch sich das menschliche Ich zum ersten Mal aus dem mythischen 10 Vgl. zum Aspekt der ausgesonderten Helden grundlegend die Dissertation von Stefan Nagel : Aussonderung und Erwählung. Die »verzauberten« Helden Thomas Manns und ihre »Erlösung«. Frankfurt a. M. 1987, bes. das Kapitel Die Verzauberung (im Folgenden : Nagel : Aussonderung). Diese reiht Joseph, wie überhaupt die Mann’schen Helden, in die Reihe der modernen Helden ein. Wichtig zu erwähnen ist bereits hier, dass es sich bei den Helden Thomas Manns nicht um gesellschaftliche Außenseiter im eigentliche Sinne handelt, wie mitunter in der Forschung (etwa Tobias Kurwinkel : Apollinisches Außenseitertum : Konfigurationen von Thomas Manns »Grundmotiv« in Erzähltexten und Filmadaptionen des Frühwerks. Würzburg 2011) behauptet wird. Außenseitertum wird durch eine gesellschaftliche Randstellung angezeigt, Thomas Manns Helden sind aber in der Regel vollwertige Bürger oder sie sind zumindest in die Gesellschaft integriert. Auf das Frühwerk bezogen sind dies etwa : Der Protagonist der Erzählung Der kleine Herr Friedemann, der kanonisierte Schriftsteller Gustav von Aschenbach oder der angesehene Kaufmann Thomas Buddenbrook. 11 Nagel : Aussonderung, stellt treffend fest, dass »die Methode ihrer [der Frage nach dem Geheimnis des Rätselwesens Mensch] Beantwortung […] ›Höllenfahrt‹ […]« (10) heißt. Der Erzähler spricht in Joseph und seine Brüder die Methodik aus, wie ein Deuten des Menschen möglich ist : In der Fahrt in die Unterwelt, wo Zeitlosigkeit herrscht. Zeitlosigkeit ist aber auch die Gestalt der Erzählung selbst, die als Fest aufgefasst wird : »Fest der Erzählung, du bist des Lebensgeheimnisses Feierkleid, denn du stellst Zeitlosigkeit her für des Volkes Sinne und beschwörst den Mythus, daß er sich abspiele in genauer Gegenwart ! Todesfest, Höllenfahrt, bist du wahrlich ein Fest und eine Lustbarkeit der Fleischesseele, welche nicht umsonst dem Vergangenen anhängt, den Gräbern und dem frommen Es war.« (GW IV, 54) 12 Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 37.
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Einleitung
Kollektiv13 erhoben und Anspruch auf Individualität und ein Wirken in der Zeit (im Sinne von Geschichte14) angemeldet hat. Es geht um den Prozess der »Gesittung«15, wie es Thomas Mann etwas eigenwillig formuliert, also um eine Sittigung, die aus einer bestimmten Gesinnung heraus, aus einer bestimmten Haltung zum eigenen Selbst und zur Welt, entsteht. Die Knotenpunkte hierfür findet er in den Geschichten des Alten Testaments16, die von der Entwicklung des Menschen im Angesicht Gottes berichten. Diese Entwicklung, diese stete Sorge um ein gottgefälliges Leben, bestimmt im Roman die Gedanken und Sorgen der Stammväter : »Unkenntnis der Ruhe, Fragen, Horchen und Suchen, ein Werben um Gott, ein bitter zweifelvolles Sichmühen um das Wahre und Rechte, das Woher und Wohin, den eigenen Namen, das eigene Wesen, die eigentliche Meinung des Höchsten.« (GW IV, 50) Hier wird deutlich, dass die Frage nach Gott immer auch die Frage nach dem eigenen Wesen beinhaltet. Und so sind die zeitlichen (Schein-)Anfänge der menschlichen Geschichte ebenso eine Fahrt in die Tiefenschichten der menschlichen Seele, ganz im Sinne der Tiefenpsychologie Sigmund Freuds17, wie Thomas Mann sie in seinem Essay Freud und die 13 Vgl. GW XI, 666 (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag). 14 »Mit dem Erscheinen des Menschen ist die Schöpfung abgeschlossen, ist der Raum für konkrete Geschichte, für die durch die Menschen bewirkten Anfänge und Veränderungen eröffnet […].« (Angehrn : Überwindung, 328). 15 Siehe auch die Verwendung des Begriffs »Gesittung« im Zauberberg, etwa nachdem Hans Castorp in seinem Schneetraum die Abgründe des Menschen erschaut hat : »Da liege ich an meiner Säule und habe im Leibe noch die wirklichen Reste meines Traums, das eisige Grauen vor dem Blutmahl und auch die Herzensfreude noch von vorher, die Freude an dem Glück und an der frommen Gesittung der weißen Menschen.« (GkFA 5.1, 746). 16 Thomas Mann unternimmt in seinem ›alttestamentarischen Werk‹ etwas, was er nur sehr selten tut : Er verlässt die bürgerliche und damit seine gegenwärtige zeitliche Sphäre. Vergleichbares tut Mann in diesen zeitlichen Dimensionen, soweit ich sehen kann, nur noch in zwei weiteren Werken : in seiner Adaption der Gregorius-Legende, Der Erwählte, und in seinem »metaphysischen Witz« (Dieter Borchmeyer : ›Die vertauschten Köpfe‹. Eine indische Legende. Thomas Manns »metaphysical joke«. In : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 54 (2010), 378–397), der ›Indien-Erzählung‹ Die vertauschten Köpfe. (Ich rechne die erzählte Zeit in Lotte in Weimar noch zu Thomas Manns zeitlicher Sphäre, da Mann sich in seiner Goethe-imitatio dieser zurechnete. Vgl. hierzu Hans Wißkirchen : Zeitgeschichte im Roman. Zu Thomas Manns ›Zauberberg‹ und ›Doktor Faustus‹. Bern 1986 (= Thomas-Mann-Studien 6 (1986)). 17 »Frühes Trauma – Abwehr – Latenz – Ausbruch der neurotischen Erkrankung – teilweise Wiederkehr des Verdrängten : so lautete die Formel, die wir für die Entwicklung einer Neurose aufgestellt haben. Der Leser wird nun eingeladen, den Schritt zur Annahme zu machen, daß im Leben der Menschenart Ähnliches vorgefallen ist wie in dem der Individuen.« (Sigmund Freud : Der Mann Moses und die monotheistische Religion. In : Studienausgabe, Bd. 9 : Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt a.M 1989, 455–581, 528 ; im Folgenden : Freud : Der Mann Moses.).
Der Mensch : Höllenfahrt
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Zukunft auf sein Romanwerk bezieht : »In der Wortverbindung ›Tiefenpsychologie‹ hat die ›Tiefe‹ auch zeitlichen Sinn : die Urgründe der Menschenseele sind zugleich auch Urzeit, jene Brunnentiefe der Zeiten, wo der Mythos zu Hause ist und die Urnormen, Urformen des Lebens gründet.«18 Somit ist das »Zurückdringen [der Tiefenpsychologie] in die Kindheit der Einzelseele […] zugleich auch schon das Zurückdringen in die Kindheit des Menschen, ins Primitive und in die Mythik.«19 Zum anderen bestreitet auf der Handlungsebene auch Joseph in mythischer Nachahmung seiner Ahnen eine Hadesfahrt, die ihn in das dem Vater verhasste Totenreich Ägypten führt, das die Sünde nicht kennt. Der Eintritt zu diesem Totenreich ist auch für ihn ein Brunnen, in den er, an Leib und Seele schwer verletzt, von den Brüdern geworfen wird. Bereits Gustav von Aschenbach hatte in seiner ›Unterwelt‹ Venedig am Brunnen gesessen20 und begonnen, die Tiefen der menschlichen Unterwelt, den dionysischen Sog, auszuloten. Er entrichtet hierfür seinen Obolus und bezahlt mit dem Leben.21 Und auch Hans Castorp, der scheinbar so »einfache[ ] junge[ ] Mensch«22, darf in seinem Venus-Berg tief in den ›Brunnen‹ schauen und die Anfangsgründe des Menschen, das uranfängliche »Blutmahl«23 in seinem ›Schneetraum‹ erblicken. Auch er stirbt : auf 18 GW IX, 493 (Freud und die Zukunft). Vgl. Sigmund Freud : Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (Studienausgabe, Bd. 1), 204 : »Die Vorzeit, in welche die Traumarbeit uns zurückführt, ist eine zweifache, erstens die individuelle Vorzeit, die Kindheit, andererseits, insofern jedes Individuum in seiner Kindheit die ganze Entwicklung der Menschheit irgendwie abgekürzt wiederholt, auch diese Vorzeit, die phylogenetische.« Im Roman kommt das Prinzip der Entsprechung von individueller und menschheitsgeschichtlicher ›Frühzeit‹ immer wieder zum Tragen. Etwa in Bezug auf den sterbenden Isaak, der angesichts des nahenden Todes in infantile Verhaltensweisen zurückfällt und urzeitlich/kindlich lallend von archaischen Zeiten des Menschenopfers kündet (s. GW IV, Kap. Urgeblök, 185–188). Auch Mut-em-Enet fällt durch ihre unerwiderte Liebe zu Joseph, durch ihr erotisches Begehren in primitive Verhaltensweisen zurück, bedient sich schwarzer Magie und zerbeißt sich die Zunge, weil diese ihr unterdrücktes sexuelles Begehren nicht aussprechen soll, was sie wie ein lallendes Kind zu Joseph sprechen lässt. (Vgl. GW V, 1161). 19 GW IX, 493 (Freud und die Zukunft). 20 GkFA 2.1, 542 und 588. Auch Joseph sitzt am Brunnen und zwar während er sich in einem tranceähnlichen Zustand befindet, halb nackt und den Mond anbetend. Ein entgrenzender, dionysischer und autoerotischer Zustand (vgl. GW V, 1135), den der geistig strenge Vater nicht dulden kann : »›Es sitzt das Kind an der Tiefe ?‹ Sonderbares Wort, das unsicher kam und wie in träumerischem Fehlschlagen, Es klang, als finde der Sprecher es ungehörig oder doch überraschend, daß man in so jungen Jahren an irgendwelcher Tiefe sitze ; als paßten ›Kind‹ und ›Tiefe‹ nicht zusammen.« (GW IV, 70). 21 GkFA 2.1, 518. 22 GkFA 5.1, 9. 23 Ebd., 747.
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den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges. Die Abenteuer von »Durchgängerei und Vernunft«24, die der exzeptionelle Mensch, und das sind alle drei, Aschenbach, Castorp und Joseph, zu bestehen hat, sollen das Wesen des ›Menschen an sich‹ ergründen. Was zunächst als Paradox erscheint, wird verständlicher, wenn man betrachtet, wovon oder besser, von wem sich diese Figuren absetzen. Die Antwort lautet : von den »Ordentlichen und Gewöhnlichen«25. Die gewöhnliche Welt, der Alltag mit seinen eingefahrenen Familien- und Arbeitsstrukturen muss zurückgelassen werden, zugunsten neuer (Extrem)Erfahrungen, die dann das Wesen des ›Menschen an sich‹ enthüllen. Aus welcher Ordnung fällt aber nun der schöne und begabte Joseph ? Aus der Ordnung der Familie, genauer : aus der patriarchal strukturierten Familienordnung26, noch genauer : aus der Ordnung seiner Brüder.27 Gott und Mensch : Von Schöpfungs- und Gründungsmythen »Es wird ausgesagt, daß die Seele, das ist : das Urmenschliche, wie die Materie, eines der anfänglich gesetzten Prinzipien war und daß sie Leben, aber kein Wissen besaß.« (GW IV, 40) Im Roman der Seele28, der in das Vorspiel zum Roman, Höllenfahrt, eingeschaltet ist, geht es dann doch um das ganz Uranfängliche : die göttliche Schöpfung. Am Anfang war hier jedoch nicht das Wort, am Anfang war der Mensch, oder vielmehr ein Teil von ihm : die Seele. Die Seele jedoch ist ein unruhiges Prinzip und hat Neigungen und dies ist auch ganz wörtlich zu nehmen, denn sie neigt sich herab29 zur »formlosen Materie« (GW IV, 40), zu der 24 Ebd. 25 GkFA, 2,1, 252 (Tonio Kröger), s. hierzu auch Nagel : Aussonderung, 35. 26 Vgl. hierzu : die Verf.: Die Gefährdung der patriarchalen Ordnung. Keuschheit und Sexualität in Thomas Manns Roman ›Joseph und seine Brüder‹. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 28 (2015), 63–73. 27 Erneut : Nicht aus der Ordnung der Gesellschaft, wie es etwa bei Kerstin Schulz lautet. (Identitätsfindung und Rollenspiel in Thomas Manns Romanen ›Joseph und seine Brüder‹ und ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹. Frankfurt a. M. 2000, 22. [zugl. Bochum, Univ., Diss, 1997], im Folgenden : Schulz : Identitätsfindung). 28 »[D]as philosophische Zentrum der Einleitung [der Höllenfahrt] ist gewiß die Nacherzählung der auf die orphischen Mythen und die Dreifaltigkeitslehre des Neoplatonikers Plotinos zurückgehenden anthroposophischen Legenden vom ›Roman der Seele‹ – von der Vereinigung der Seele mit der Materie.« (Boris L. Sučkov : Roman und Mythos in Thomas Manns Josephslegende. In : Sinn und Form 21,1 (1969), 382–403, 388 ; im Folgenden : Sučkov : Roman und Mythos. Sicher ist das Vorspiel auch als Anspielung auf Richard Wagners Vorspiel zur Tetralogie Ring des Nibelungen zu sehen. 29 Reents, Schopenhauer-Rezeption untersucht Manns Schopenhauer-Rezeption auch im Roman der
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sie in Leidenschaft entbrennt, und die ihre Begierde nach Vermischung weckt, was die lustbringende Form zur Folge hat ; die Welt entsteht. Und sie entsteht aus der Sünde der Vermischung, die die Form hervorbringt und mit ihr auch erst den Tod. Sündenfall und Erschaffung der Welt sind also eins. Es besteht »kein Zweifel, daß hier das letzte ›Zurück‹ erreicht, die höchste Vergangenheit des Menschen gewonnen, das Paradies bestimmt und die Geschichte des Sündenfalls, der Erkenntnis und des Todes auf ihre reine Wahrheitsform zurückgeführt ist.« (GW IV, 42) Aus Lust und Mangel an Wissen, an Geist also, verliebt sich die Seele in die Materie und bindet damit beide in der Form. Es liegt somit nahe, dass, um diesen Zustand der Sünde aufzuheben, der Geist auf den Plan gerufen werden muss. Und so sendet Gott der Seele den Geist hinterher, um sie ›aufzuklären‹ über ihr sündhaftes Treiben, sie wieder aus der Form zu lösen und heimzuführen in die Gestaltlosigkeit, in das Paradies30 : Der Auftrag des Geistes in dieser aus der hochzeitlichen Erkenntnis von Seele und Materie entstandenen Welt der Formen und des Todes ist vollkommen eindeutig und klar umrissen. Seine Sendung besteht darin, der selbstvergessen in Form und Tod verstrickten Seele das Gedächtnis ihrer höheren Herkunft zu wecken ; sie zu überzeugen, daß es ein Fehler war, sich mit der Materie einzulassen und so die Welt hervorzurufen ; endlich ihr Heimweh bis zu dem Grade zu verstärken, daß sie sich eines Tages völlig aus Weh und Wollust löst und nach Hause schwebt – womit ohne weiteres das Ende der Welt erreicht, der Materie ihre alte Freiheit zurückgegeben und der Tod aus der Welt geschaffen wäre. (GW IV, 42 f.)
Doch dieser Plan geht, man ahnt es, nicht auf. Der Geist verliebt sich seinerseits in die Seele und in ihr »leidenschaftliches Treiben« (GW IV, 44) und bleibt mit ihr verhaftet. Nun gibt aber der Erzähler zu bedenken, dass Gott sich doch über den Verstoß gegen sein Verbot der Vereinigung hätte im Klaren sein müssen ; ebenso wie im Falle der ersten Menschen, die vom Baum der Erkenntnis essen, wobei es sich hier bereits »um einen sekundären und schon irdischen Vorgang handelt« (GW IV, 45). Gottes Ansinnen gibt zur Verwunderung Anlass »und [so bleibt ] dunkel […], warum er es nicht lieber vermied, durch Erlassung eines Verbotes, dessen Nichtbefolgung sicher war, die Schadenfreude seiner dem MenSeele, und sieht in der Materie, die »eigenwillig und träge« (GW IV, 40) ist, den »erkenntnislose[n] Willen […] in seiner primitiven Manifestation als Schwerkraft«. (190, Anm. 573). 30 Der Sündenfall Adams und Evas im Paradiesgarten ist bereits ein spätes, immanentes Ereignis, in ihm wird der uranfängliche Sündenfall der Seele gespiegelt.
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schentum sehr mißgünstig gesinnten englischen Umgebung [gemeint sind hier die Engel] zu erregen.« (GW IV, 45) Und so wird in Erwägung gezogen, dass in dieser Version des Romans der letzte Ratschluss, die letzte Absicht Gottes nicht liegen könne. Vielmehr stünde zu vermuten, dass Gott Sympathie und Mitleid beim Anblick »der Passion der Seele« und ihres »Liebeskampf[s] mit der Materie« empfunden und für sie die lustspendenden Formen erst hervorgebracht habe. (GW IV, 46) Und ebenso wird das Gebot Gottes, an den Geist gerichtet, er solle die Seele aus der Form lösen und heimführen, umgedeutet. Auch hier nämlich hätte doch Gott voraussehen müssen, dass der Geist an der Seele Gefallen finden werde. Und so ist [e]s […] möglich, daß die Aussage, Seele und Geist seien eins gewesen, eigentlich aussagen will, daß sie einmal eins werden sollen. Ja, dies erscheint um so denkbarer, als der Geist von sich aus und ganz wesentlich das Prinzip der Zukunft, das Es wird sein, es soll sein, darstellt, während die Frömmigkeit der formverbundenen Seele dem Vergangenen gilt, dem heiligen Es war. […] Das Geheimnis aber und die stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in ihrer Vereinigung, nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen aus der Tiefe, die unten liegt. (GW IV, 48)
Die recht detaillierten Ausführungen zum Roman der Seele zu Beginn dieser Arbeit erscheinen notwendig, weil hier ein Ideal benannt und im Motiv des Doppelsegens konkretisiert wird, das sich leitmotivisch durch den gesamten Roman zieht und das als Lebensprinzip auch in der Novelle erneut thematisiert und radikalisiert wird : der Widerstreit von Geist und Seele und das Ideal ihrer Vereinigung. Konkretisieren wir noch einmal das bisher Gesagte : Das ›alttestamentarische Werk‹ Thomas Manns beschreibt zum einen die Gründung des Kosmos durch Gottes eigene hintersinnige Geschicke, die auf ein Ideal des doppeltgesegneten Menschen zielen. In der Transzendenz wird ein Ideal für die Immanenz formuliert. Der Held des Romans, Joseph, wird denn auch sowohl vom Erzähler als auch von seinem Vater Jaakob als ein solch doppeltgesegneter Mensch bezeichnet. Bei sorgfältiger Lektüre mehren sich hier jedoch die Zweifel, und der Verdacht einer bewussten Zuschreibung, die jedoch der faktischen Ausprägung entbehrt, entsteht.
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Meine These lautet deshalb, dass der doppeltgesegnete Mensch, der zu gleichen Teilen an den Sphären Geist und Seele partizipiert, Utopie bleibt und dies nach der Logik des Romans, in den Zeiten der Gründungsereignisse, die zur »Gesittung« führen sollen, auch bleiben muss, um aus dem zeitlosen Mythos in die Sphäre der Zeitlichkeit, die Verantwortung bedeutet, einzutreten. Es ist also auch zu fragen, zu welchem Grad sich das Ideal des Schöpfungsmythos überhaupt in die Gründungsmythen ›hinüberretten‹31 lässt und warum des Weiteren ein Motiv geradezu liturgisch beschworen wird, das sich in Gänze nicht erfüllen kann und darf. Offenbar scheint es aber von Bedeutung zu sein, dass man sich des Segens stets versichert, und so bleibt zu fragen, welche Funktion dem Glauben an den Doppelsegen zukommt. Erwählung und Offenbarung : Roman und Novelle Bevor ich mich der Darstellung der Methodik meiner Untersuchung widme, scheint es mir geboten zu sein, einige Begründungen voranzuschicken, warum ich mich in meiner Arbeit zum einen auf zwei Werke Thomas Manns beschränke und mich zum anderen gerade auf diese beiden Werke konzentriere. Diese Begründung scheint mir angebracht und notwendig zu sein, da erstaunlicherweise der Josephroman und die Erzählung Das Gesetz in der Forschung bisher nahezu ausschließlich32 getrennt voneinander untersucht worden sind – 31 »Es ist im einzelnen zu sehen, wie sich beide Ebenen [Schöpfungs- und Ursprungsmythen] seinsmäßig zueinander verhalten, inwiefern der erste Anfang den Grund, die Präfiguration oder die Antithese der späteren Gründung darstellt. […] Die Ursprungsnähe soll dem Späteren etwas von der Seinsdichte, der Wesentlichkeit des Ursprungs mitteilen.« (Angehrn : Die Überwindung, 63) – Es ist also zu prüfen, ob der Ursprung zur Schöpfung in einem Verhältnis der »creatio continua« steht. 32 Eine Ausnahme ist hier der kurze Abschnitt von Wolf-Daniel Hartwich Das Gesetz Moses und die ›Geschichten Jaakobs‹ innerhalb seines Aufsatzes Prediger und Erzähler. Die Rhetorik des Heiligen im Werk Thomas Manns. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 11 (1998), 31–50, hier 43–50. Hartwich stellt hier die »ethische Normativität« der Gebote in der Erzählung der »kulturelle[n] Geltung des Mythos« im Roman gegenüber. Eine weitere Ausnahme ist hier, allerdings auch nur sehr bedingt, Käte Hamburger, die jedoch die Notwendigkeit einer grundsätzlich anderen Methodik zur Untersuchung beider Werke betont, zwar beide Werke unter »biblisches Werk« subsumiert, aber dann doch thematisch getrennt voneinander untersucht. Dies ergibt sich schon allein daraus, dass der Text lediglich ein Neudruck ihrer früheren Abhandlungen zum Joseph (Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder. Eine Einführung. Stockholm 1945) und zum Gesetz (Thomas Mann : Das Gesetz. Vollständiger Text der Erzählung ; Dokumentation. Frankfurt a. M. 1964) darstellt. Vgl. dies.: Thomas Manns biblisches Werk. Der Joseph-Roman, die Moses-Erzählung ›Das Gesetz‹, München 1981 ; im Folgenden : Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk.
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obwohl Thomas Mann seine Gesetzesnovelle direkt im Anschluss an die Roman- Tetralogie verfasst und in der Sphäre des Alten Testaments bleibt. Darüber hinaus befassen sich beide Werke unter anderem mit den religiösen Ereignissen, die Kern des Judentums und Christentums sind : Erwählung und Offenbarung. Ebenso teilen beide Werke den Fokus auf die Konstitution von Ordnungen und Gesetzen sowie Machtstrukturen. Thomas Mann begibt sich also mit der Adaption der Väter-Geschichten sowie der Schilderung des Exodus und der Gesetzgebung am Berg Sinai in den theologischen Kern des Alten Testaments : »Das abrahamische summotheistische Streben nach dem Höchsten und das mosaische monolatrische Eifern für den Einen werden […] zu einer […] Form von Devotion verschmolzen.«33 Der Begriff ›Eifer‹, der im Zentrum von Peter Sloterdijks religionssoziologischer Studie Gottes Eifer. Vom Kampf der drei Monotheismen steht, wird auch für die vorliegende Arbeit von Bedeutung sein, denn der Eifer, in seiner Doppelbedeutung von Eifersucht (der »eifernde Gott«) und Ereifern (das Streben nach etwas) erweist sich als Movens von Gesetz und Gewalt. Eifer, das Streben nach dem Einen, Höchsten, setzt aber auch vor allem Bereitschaft zum Dienen voraus. Beide theologische Ereignisse, das »abrahamische Streben« (Roman) und das »mosaische Eifern« (Erzählung)34 verbindet also vor allem die Idee des Dienens. Und um zu dienen, bedarf es der Hierarchien. Und was sind Hierarchien anderes als Ordnungsstrukturen ? Die Zurückhaltung der Forschung, beide Werke als Einheit35 zu betrachten, mag, aber hier können wirklich nur Vermutungen angestellt werden, an dem – vordergründig – diametral entgegengesetzten Welt- bzw. Menschenbild liegen, das Roman und Erzählung transportierten. So stellt die Novelle einen äußerst heiklen ›Antihelden‹ vor, der repressiv und gewaltsam einen losen Menschenverbund zum geordneten, »Volksleib« (GW VIII, 846) formiert – und das 1944 ! –, wohingegen der hübsche und kluge, wenn auch eitle Protagonist Joseph der Held einer mitunter sehr heiteren »success-story«36 zu sein scheint. Und in der Tat 33 Sloterdijk : Gottes Eifer, 49. 34 Wobei auch im Gesetz ›Erwählung‹ und im Joseph ›Offenbarung‹ Bedeutung zukommt. Die thematische Aufspaltung soll jedoch den religiösen Kern beider biblischen Ereignisse verdeutlichen. 35 Dabei wird Das Gesetz eher als Teil von Thomas Manns Spätwerk gesehen : »Mit der säkularisierten Vorstellung der Dialektik von Gesetz (Moses-Erzählung) und Sündenfall (›Doktor Faustus‹), auflösbar durch Gnade (›Der Erwählte‹), nimmt die vorletzte Schaffensperiode Thomas Manns ihren Anfang.« Volkmar Hansen : Thomas Manns Erzählung ›Das Gesetz‹ und Heines Moses-Bild. In : Rudolf Wolff (Hrsg.) : Thomas Mann : Erzählungen und Novellen. Bonn 1984, 68–85, 72 ; zuerst erschienen in : Heine-Jahrbuch 13 (1974), 132–149, im Folgenden : Hansen : Thomas Manns Erzählung ›Das Gesetz‹. 36 GW XI, 769 (Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ›Joseph und seine Brüder‹ in einem
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ist die Mose-Figur eine der am schwierigsten zu greifenden Figuren Thomas Manns : Moses Projekt, als gewaltsamer »Bildner des Volkes« (GW VIII, 855) zu wirken, scheint so gar nicht zur erklärten Absicht des Josephromans, den Mythos »dem Faschismus aus den Händen [zu nehmen] und bis in den letzten Winkel hinein [zu] humanisier[en]«37, zu passen. Auf diese Deutung des Romans durch den Autor werde ich am Ende meiner Arbeit noch einmal zu sprechen kommen. Und noch einem Einwand gegen die Beschränkung auf beide Werke möchte ich zuvorkommen : Geht es in Thomas Manns Werk, ja in Literatur überhaupt, nicht immer um die Darstellung/Errichtung von Ordnungen und a lternativen möglichen Welten ?38 Dies ist natürlich eindeutig mit ja zu beantworten. Worum es aber in Thomas Manns ›alttestamentarischem Werk‹ geht, sind bewusste Setzungen, Akte der Gesetzgebung und der Rechtsprechung39, die die jüdisch-christliche Kultur in einem kaum zu überschätzenden Maße geprägt haben und weiterhin prägen. Es geht also nicht um ein alltägliches Ordnungsbestreben40 oder um ein diffuses Streben sowie um das Bedürfnis des Menschen nach Bändigung des Chaos und Überwindung der Angst, sondern um Ordnungen, die aus eben diesem Streben heraus bewusst und mit radikaler Konsequenz sowie durchschlagenden und weitreichenden Folgen gesetzt werden.
Bande). Das komplette Zitat lautet : »›Joseph, der Ernährer‹ ist Teil des Werkes, der vom ersten bis zum letzten Wort in Amerika geschrieben wurde, und es ist wohl kein Zweifel, daß er vom Geist des Landes dies und das abbekommen hat. Nicht nur als die ›success story‹, die er von Natur und seiner Bestimmung nach war, auch nicht nur durch gelegentliche, gern zugelassene angelsächsische Abfärbungen auf seinen deutschen Vortrag.« (679 f.) Hier erscheint mir relevant, dass Thomas Mann darauf hinweist, dass seine biblische Vorlage das erfolgreiche Schaffen Josephs in Ägypten vorgibt, dieses nicht genuine Zutat des Dichters ist. 37 GW XI, 658 (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag). 38 Seit Aristoteles’ Poetik wissen wir, dass Literatur Möglichkeitswelten entwirft. 39 Vgl. Marcel Mauss : Die Religion und die Ursprünge des Strafrechts nach einem kürzlich erschienenen Buch. In : Ders.: Schriften zur Religionssoziologie. Hrsg. u. eingeleitet von Stephan Moebius. Berlin 2012, 33–93. 40 Wie es etwa den Epikureer Friedemann, den Leistungsethiker Aschenbach oder den zwanghaft seine tadellose Toilette überprüfenden Kaufmann Thomas Buddenbrook prägt.
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1. Stand der Forschung und Methodik 1.1 Stand der Forschung Die Forschung zu Thomas Manns großen Romanen, und hier bildet die Josephtetralogie mittlerweile keine Ausnahme mehr, ist sprichwörtlich unüberschaubar. Zur Gesetzes-Novelle liegen deutlich weniger Publikationen vor, hier lässt sich der Stand der Forschung recht umfassend und schnell umreißen. In Bezug auf den Roman scheint es sinnvoller, einige Forschungsschwerpunkte aufzuzeigen. Meine Ausführungen erheben also keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern wollen vielmehr Tendenzen der Forschung aufzeigen und eine Systematisierung entlang wichtiger Forschungslinien versuchen. Der Josephroman wurde zunächst naturgemäß deskriptiv-positivistischen Quellenstudien unterzogen, die ohne Frage noch bis heute eine hoch zu schätzende Grundlage für weitere Untersuchungen liefern. Pionierarbeit haben hier vor allem Herbert Lehnert1 und Manfred Dierks2 geleistet, die anhand des umfangreichen Archivmaterials die Quellen Thomas Manns gründlich erschlossen haben. Sowohl Lehnert als auch Dierks beschränken sich in ihren Arbeiten jedoch nicht ausschließlich auf Quellenstudien. So listet Lehnert nicht nur die von Thomas Mann verwendeten Ausgaben der genutzten Werke auf, sondern fasst zudem deren Relevanz für Thomas Manns Joseph zusammen, und arbeitet die wichtigsten Motive heraus, die Mann nach bewährtem Montage-System3 in sein Werk einbaute. Manfred Dierks präzisiert in seiner Dissertation vor allem das Thomas Manns Werk prägende Gestaltungsmerkmal ›Mythos plus Psychologie‹ und arbeitet Manns Verhältnis zur Metaphysik Schopenhauers4, zur Tiefenpsychologie Freuds5 und zu Mythos und Ideologie bei Bachofen/Baeumler heraus. 1 Lehnert : Vorstudien ; Ders.: Thomas Manns Josephstudien. 1927–1939. In : Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 10 (1966), S. 378–406. Im Folgendem : Lehnert : Josephstudien. 2 Dierks : Studien. 3 Zur Montage-Technik bei Thomas Mann vgl. den Sammelband Thomas Mann und seine Quellen. Hrsg. v. Eckhard Heftrich und Helmut Koopmann. Frankfurt a. M. 1991. 4 Vgl. hierzu auch Børge Kristiansen : Ägypten als symbolischer Raum der geistigen Problematik Thomas Manns. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), 9–36 ; im Folgenden : Kristiansen : symbolischer Raum. 5 Vgl. hierzu auch : Jean Finck : Thomas Mann und die Psychoanalyse. Paris 1973 ; im Folgenden : Finck : Thomas Mann und die Psychoanalyse.
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Diesen Ansatz, der sich auf die Verwendung und Bedeutung der Mythen im Joseph konzentriert, nehmen u. a. Elisabeth Galvan6, Jan Assmann7, Eberhard Scheiffele8, Eckhard Heftricht9 und Dieter Borchmeyer10 auf.11 Mit der Auslotung der mythisch-kulturellen Dimension befasst sich der größte Forscherkreis. Auch in Bezug auf die Frage nach seinem biografisch-zeitgeschichtlichen Impetus stellt der Josephroman innerhalb der Thomas Mann Forschung keine Ausnahme dar. So werden Thomas Manns (politische) Grundhaltung im Exil, seine Erfahrung von Fremde und Verunsicherung in Amerika beleuchtet und Spuren hiervon im Joseph ausgemacht.12 6 Elisabeth Galvan : Bachofen-Rezeption in Thomas Manns ›Joseph‹-Roman. Frankfurt a. M. 1996 (= Thomas-Mann-Studien 12 (1996)) ; im Folgenden : Galvan : Bachofen-Rezeption. 7 Assmann : Thomas Mann und Ägypten ; Ders.: Mythos und Psychologie in Thomas Manns Josephromanen. Würzburg 2012 ; im Folgenden : Assmann : Mythos und Psychologie. 8 Eberhard Scheiffele : Die Joseph-Romane im Lichte heutiger Mythos-Diskussion. In : Thomas-MannJahrbuch 4 (1991), 161–183. 9 Eckhard Heftrich : Geträumte Taten. ›Joseph und seine Brüder‹. In : Beatrix Bludau u. a.: Thomas Mann 1875 –1974. Vorträge in München – Zürich – Lübeck. Frankfurt a. M. 1977, 659–676. 10 Dieter Borchmeyer : »Zurück zum Anfang aller Dinge«. Mythos und Religion in Thomas Manns Josephsromanen. In : Thomas Mann Jahrbuch 11 (1998), 9–31. Borchmeyer zeigt hier auch Parallelen zur Mythenstruktur bei Richard Wagner auf. Ausführlicher dann in : Ders.: Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹ und Richard Wagners ›Ring des Nibelungen‹ : eine Kontrafraktur. In : Wagnerspectrum 7, 2 (2011), 95–111. 11 Zu nennen wären des Weiteren die frühe Studie von Willy Berger : Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman ›Joseph und seine Brüder‹. Köln u. a. 1971 [zugl. Bonn, Univ., Diss., 1968] ; im Folgenden : Berger : Die mythologischen Motive, die neben den mythologischen Motiven im Joseph auch auf zeitkritische und geistesgeschichtliche Wurzeln der Auseinandersetzung Thomas Manns mit dem Mythos eingeht, sowie der Katalog zur Sonderausstellung Joseph und Echnaton, der vor allem Thomas Manns Ägyptenbild der geschichtlichen Realität gegenüberstellt (Alfred Grimm (Hrsg.) : Joseph und Echnaton. Thomas Mann und Ägypten. [Begleitpublikation zur Sonderausstellung Joseph und Echnaton – Thomas Mann und Ägypten (Lübeck, München, Berlin, Zürich, Bern 1992–1993)]. Mainz 1992). 12 Hans Rudolf Vaget zuletzt in : Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil 1938–1952. Frankfurt a. M. 2011 ; Sibylle Schulze-Berge : Heiterkeit im Exil. Ein ästhetisches Prinzip bei Thomas Mann ; zur Poetik des Heiteren im mittleren und späten Werk Thomas Manns. Würzburg 2006 [zugl. Berlin, Freie Univ., Diss., 2005]. Vgl. auch die älteren Studien von Terence J. Reed : Thomas Mann. The Uses of Tradition. Oxford u. a. 21996 (die erste Auflage stammt aus dem Jahr 1974), der sich in diesem Zusammenhang auch auf weitere Werke Thomas Manns bezieht, und Klaus Schröter : Vom Roman der Seele zum Staatsroman. Zu Thomas Manns ›Joseph‹-Tetralogie. In : Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.) : Thomas Mann. München 21982, 94–111 [Text + Kritik : Sonderband]. (Zuerst erschienen 1976). Zur Auseinandersetzung Thomas Manns mit dem Faschismus im Joseph s. vor allem Raymond Cunningham : Myth and politics in Thomas Mann’s »Joseph und seine Brüder«. Stuttgart 1985. [zugl. London, Univ., Diss., 1984] (= Stuttgarter Arbeiten zur Germanistik ; Bd. 161).
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Der jüdisch-christlichen Motivik13 des Josephromans haben sich einige Theologen bzw. Alttestamentler angenommen, hier wären Gerhard von Rad14 und Friedemann W. Golka15 zu nennen.16 Die zahlreichen von Thomas Mann verwendeten Bibel- und Koranzitate listet etwa Peter Pütz auf.17 Auch die Literaturwissenschaftler Wolf-Daniel Hartwich18 und Friedhelm Marx19 setzen sich mit der religiösen Motivik des Romans auseinander. Ihre Leistung besteht unter anderem darin, Bezüge zur Bibel gründlich offenzulegen und damit zugleich Thomas Manns detaillierte Bibelkenntnis, aber auch seine Kenntnis zeitgenössischer Religionsdiskurse darzulegen. Unter Gender-Aspekten wird der Joseph ausführlich bei Jelka Keiler20 und bei Mechthild Curtius21 beleuchtet. Hierbei 13 Einen äußerst kritischen Blick wirft hier die Dissertation Erzählte Juden. Untersuchungen zu Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹ und Robert Musils ›Mann ohne Eigenschaften‹. Münster 2004 [zugl. Köln, Univ., Diss., 2003] von Franka Marquardt ; im Folgenden : Marquardt : Erzählte Juden auf die typisierte Darstellung der »Urjuden« und kommt zu dem Schluss, dass die »nacherzählten ›Urjuden‹ im Grunde […] Nicht-Juden [sind]« (186), da die jüdische Geschichte der Urväter zu einer Menschheitsdichtung erweitert und somit das spezifisch Jüdische assimiliert und »entkern[t]« werde (260, vgl. auch 261). Sie bewertet also das »synkretistische Konglomerat von Mythen und Märchen« (259) grundsätzlich negativ und sieht in Thomas Manns Josephroman »Reste[ ] und Rückstände[ ] eines tradierten Antijuda- und Antisemitismus«. (259)]. 14 Gerhard von Rad : Biblische Josepherzählung und Josephroman. In : Gisela Röhn : Bilder und Gedanken zu dem Roman ›Joseph und seine Brüder‹ von Thomas Mann. Hamburg 1975, 141–149. 15 Friedemann W. Golka : Joseph – biblische Gestalt und literarische Figur. Thomas Manns Beitrag zur Bibelexegese. Stuttgart 2002. Golka hat jeweils auch eine Monografie zu Jakob (1999) und Moses (2007) als biblische Gestalten und literarische Figuren vorgelegt. 16 Des Weiteren unterzieht Christoph Schwöbel : Die Religion des Zauberers. Theologisches in den großen Romanen Thomas Manns. Tübingen 2008, den Josephroman einer theologischen Lesart ; im Folgenden : Schwöbel : Die Religion des Zauberers. 17 Peter Pütz : Verwirklichung durch »lebendige Ungenauigkeit«. Joseph von den Quellen zum Roman. In Eckhard Heftrich/Helmut Koopmann : Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling. Frankfurt a. M. 1991, 173–188. 18 Wolf-Daniel Hartwich : Religion and culture : Joseph and his brothers. In : Ritchie Robertson (Hrsg.) : The Cambridge Companion to Thomas Mann. Cambridge u. a. 2002, 151–167. 19 Friedhelm Marx : »Ich aber sage Ihnen … ! Christusfigurationen im Werk Thomas Manns. Frankfurt a. M. 2002 [zugl. Wuppertal, Univ., Habil.-Schr., 2000]. Im Folgenden : Marx : Christusfigurationen. 20 Jelka Keiler Geschlechterproblematik und Androgynie in Thomas Manns Joseph-Romanen. Frankfurt a. M. u. a. 1999 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe I : Deutsche Sprache und Literatur. Bd. 1723) ; im Folgenden : Keiler : Geschlechterproblematik. 21 Mechthild Curtius : Erotische Phantasien bei Thomas Mann. ›Wälsungenblut‹, ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹, ›Der Erwählte‹, ›Die vertauschten Köpfe‹, ›Joseph in Ägypten‹. Königsstein/Ts 1984 ; im Folgenden : Curtius : Erotische Phantasien. In Bezug auf eine stärker tiefenpsychologisch orientierte Untersuchung der Erotik im Joseph ist vor allem Herrmann Kurzke : Die Hunde im
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steht vor allem die androgyne Schönheit, aus der Josephs besondere Anziehungskraft resultiere, im Vordergrund. Darüber hinaus wurde der Joseph in jüngeren Publikationen vor allem der postmodernen Frage nach Identität- und Subjektwerdung22 unterzogen, wobei im Zentrum Josephs Spiel mit dem Mythos, sein »zitathaftes Leben«23 und sein Narzissmus stehen. Unter Bezugnahme auf Käte Hamburgers frühe Studien hat zuletzt Matthias Löwe die Erzählhaltung im Josephroman in den Blick genommen.24 Am Rande seien noch zwei Dissertationen erwähnt, die den Roman in Bezug auf den Genie-Diskurs25 bzw. in Bezug auf die Geld-Metaphorik26 analysieren. Die beiden sehr sorgfältig gearbeiteten Studien, die sich nicht nur auf die Josephromane beschränken, kommen zwar mitunter zu sehr guten Ergebnissen, überstrapazieren ihren Untersuchungsgegenstand jedoch für den Roman, denn m. E. ist Joseph nicht als Genie zu deuten, wie Baier es tut, und auch das Geld spielt bei Weitem nicht die übergeordnete Rolle für den Roman, die Kinder ihm Souterrain. Die Philosophie der Erotik in Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder. In : Gerhard Härle (Hrsg.) : »Heimsuchung und süßes Gift«. Erotik und Poetik bei Thomas Mann. Frankfurt a. M. 1992, 126–139, zu nennen ; im Folgenden : Kurzke : Die Hunde im Souterrain. 22 Schulz : Identitätsfindung ; Julia Schöll : Joseph im Exil. Zur Identitätskonstruktion in Thomas Manns Exil-Tagebüchern und -Briefen sowie im Roman ›Joseph und seine Brüder‹. Würzburg 2004 (= Studien zur Literatur- und Kulturgeschichte 18 (2004)) ; im Folgenden : Schöll : Joseph im Exil ; ebd.: »Verkleidet also war ich in jedem Fall«. Zur Identitätskonstruktion in ›Joseph und seine Brüder‹ und ›Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull‹. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 18 (2005), 9–29. Im Folgenden : Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«. 23 GW IX, 497 (Freud und die Zukunft) ; den Begriff übernimmt Thomas Mann von Karl Kerényi. 24 Matthias Löwe : Hobbyforscher, Märchenonkel, Brunnentaucher : Der unzuverlässige Erzähler in Thomas Manns Josephromanen und seine ästhetische Funktion. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 28 (2015), 75–96. Vgl. auch : Ders.: Narrativer Angstschweiß. Zur ästhetischen Funktion erzählerischer Emotionalität im Joseph-Roman. In : literaturkritik.de, Nr. 4, April 2010 (https://literaturkritik.de/id/14190, letzter Zugriff : 18.05.2019) und ders.: »Fest der Erzählung«. Käte Hamburgers ›episches Präteritum‹ und ihre Deutung von Thomas Manns Joseph-Roman. In : Martin Blawid/Katrin Henzel (Hgg.) : Poetische Welt(en). Ludwig Stockinger zum 65. Geburtstag zugeeignet. Leipzig 2011, 279–292. 25 Christian Baier : Zwischen höllischem Feuer und doppeltem Segen. Geniekonzepte in Thomas Manns Romanen ›Lotte in Weimar‹, ›Joseph und seine Brüder‹ und ›Doktor Faustus‹. Göttingen 2011 [zugl. Bamberg, Univ., Diss., 2010]. 26 Anna Kinder : Geldströme. Geld im Romanwerk Thomas Manns. Berlin 2013 (= Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 76 = (310)) ; im Folgenden : Kinder : Geldströme. Vgl. auch Rez. Verf. (zusammen mit Frank Weiher) : Verdienen wird groß geschrieben. Über Anna Kinders Studie ›Geldströme. Ökonomie im Romanwerk Tomas Manns‹. In : Tomas Anz (Hg.). Literaturkritik.de, Nr. 9, September 2009 (http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_ id=18310, letzter Zugriff : 01.05.2019).
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zuschreibt. Ich nenne diese beiden Arbeiten stellvertretend für eine Problematik, die entstehen kann, wenn man Thomas Manns große Romane, oder einen Teil von diesen, unter einem gemeinsamen Aspekt, einer Motivik oder Metaphorik untersucht : Nicht für alle untersuchten Werke geht die Rechnung gleichermaßen auf, und es werden Gemeinsamkeiten oder Entwicklungslinien aufgezeigt, die einer kritischen Textanalyse nicht immer standhalten können.27 Die Erzählung Das Gesetz ist, unter ›Thomas-Mann-Dimensionen‹ betrachtet, Gegenstand relativ weniger Untersuchungen.28 In der Regel steht, neben der Offenlegung von alttestamentarischen Bezügen29, in der Forschung die erzählerische Gestaltung des Protagonisten Mose30 im Zentrum. Hier wurden vor allem die intertextuellen Verweise auf Sigmund Freuds Der Mann Moses und die monotheistische Religion, Bezüge zum bildhauerischen Schaffen Michelangelos31, zu Elias Auerbachs religionswissenschaftlicher Studie Wüste und Gelobtes Land, zu Goethes Israel in der Wüste32 sowie zu Heinrich Heines Moses- und Got27 Gelungen ist dieses Unterfangen etwa bei Helmut Koopmann : Thomas Mann. Konstanten seines literarischen Werks. Göttingen 1975. Im Folgenden : Koopmann : Thomas Mann. 28 Zur Entstehung der Novelle s. ausführlich Hans Rudolf Vaget : Thomas-Mann-Kommentar zu sämtlichen Erzählungen. München 1984, 273 ff.; im Folgenden : Vaget : Kommentar) Einen Überblick über die Deutungsgeschichte bis in die 1980er-Jahren bietet ebenfalls Vaget : Kommentar, 286–287. Friedemann W. Golka : Moses – biblische Gestalt und literarische Figur. Thomas Manns Novelle ›Das Gesetz‹ und die biblische Überlieferung. Stuttgart 2007, liefert dann im ersten Teil seiner Arbeit, Studien zu Thomas Manns Novelle, einen Überblick bis in die 2000er-Jahre. Im Folgenden : Golka : Moses. 29 S. etwa Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk ; Rudolf Smend : Thomas Mann : Das Gesetz. In : Wilfried Barner (Hrsg.) : Querlektüren. Weltliteratur zwischen den Disziplinen. Göttingen 1997, 232–246. 30 Bei Golka in Abgrenzung zum biblischen Moses ; Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk. Thomas Mann schreibt, wie Martin Luther, in der Novelle stets ›Mose‹. Ich übernehme diese Schreibweise in Bezug auf Thomas Manns Text daher. 31 Thomas Mann verleiht seinem Mose nicht die Züge der Moses-Skulptur Michelangelos (mit Ausnahme der beiden Hörner, denen bei Thomas Mann eine zentrale Bedeutung zukommt), sondern die Züge des Künstlers selbst. Damit vergleicht er die Arbeit Moses am Volk mit der Arbeit des Bildhauers am umgestalteten Stein. Sigmund Freud hingegen vergleicht seinen Moses mit dem Kunstwerk Michelangelos. Zu weiteren Quellen für das Gesetz s. Klaus Makoschey : Quellenkritische Untersuchungen zum Spätwerk Thomas Manns. ›Joseph, der Ernährer‹, ›Das Gesetz‹, ›Der Erwählte‹. Frankfurt a. M. 1998 (= Thomas-Mann-Studien 17 (1998)) und Andreas Käser : Thomas Mann als (biblischer ?) ›Redaktor‹. Die Moses-Novelle ›Das Gesetz‹. In : Heinrich-Mann-Jahrbuch (11) 1998, 123–160 ; wie Hamburger sieht auch Käser die Novelle als Bibelkommentar, Käser betont zudem noch den Aspekt der Faschismuskritik. Im Folgenden : Käser : Redaktor. 32 Etwa Jaques Darmaun : Das Gesetz. Hebräische Saga und deutsche Wirklichkeit. In : Volkmar Hansen
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tesbild33 herausgestellt. Des Weiteren wird der totalitäre Machtapparat34, den Mose errichtet, vor der Folie des Nationalsozialismus gelesen und die Novelle als Faschismuskritik gewertet. Darüber hinaus steht die Rolle des Erzählers als ironischer Kommentator35 des Geschehens im Fokus. Auch autobiografisch wurde die Erzählung gedeutet, indem Manns Drang zur Repräsentation in Bezug zur Mose-Figur gesetzt wird.36 Eher ungewöhnlich für ein literarisches Werk, hat sogar vereinzelt die Jurisprudenz37 Interesse an dem Gesetzes-Stoff gezeigt, was die Aktualität der Gesetzes-Thematik der Novelle auch für unser gegenwärtiges Rechtssystem verdeutlicht. Dieser Überblick zeigt zum einen, dass die Forschung sich bereits stark mit religiösen und mythischen sowie metaphysischen und tiefenpsychologischen Dimensionen beider Werke auseinandergesetzt hat. Zum anderen zeigt er auch, dass sich die Gesetzes-Thematik ausschließlich auf die Erzählung konzentriert, die diese ja bereits durch ihren Titel und die biblisch vorgegebene Handlung evoziert. Mein Ziel ist es, diese Thematik nun auch als eine für den Roman zentrale Thematik herauszuarbeiten und somit die Zugehörigkeit der Novelle zum Roman stärker zu betonen. (Hrsg.) : Thomas Mann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, 270–293. Im Folgenden : Darmaun : Das Gesetz. 33 Hansen : Thomas Manns Erzählung ›Das Gesetz‹. Hansen liest Das Gesetz »als Produkt der Heine-Rezeption« (69) Thomas Manns. Auch Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk weist auf die Ähnlichkeit des Gottesbildes von Heine und Thomas Mann hin. Hamburger betont zudem vor allem die Entmythisierung des biblischen Stoffes. 34 Børge Kristiansen : Freiheit und Macht. Totalitäre Strukturen im Werk Thomas Manns. Überlegungen zum ›Gesetz‹ im Umkreis der politischen Schriften. In : Thomas-Mann-Studien 7 (1987), 53–72 ; im Folgenden : Kristiansen : Freiheit und Macht ; Darmaun : Das Gesetz ; Frederick Alfred Lubich : »Fascinating fascism« : Thomas Manns ›Das Gesetz‹ und seine Selbst(de)montage als Moses-Hitler. In : Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 20 (1990), 129–133 ; im Folgenden : Lubich : »Fascinating Fascism« ; Karl-Josef Kuschel : »Mein Gott, die Menschen …«. Probleme einer Erziehung zur Humanität bei Thomas Mann anhand der Mose-Novelle ›Das Gesetz‹. In : Dietmar Mieth : Erzählen und Moral. Narrativität im Spannungsfeld von Ethik und Ästhetik. Tübingen 2000, 237– 258, im Folgenden : Kuschel : Humanität ; Philipp Gut : Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. Frankfurt a. M. 2008, 315–302 ; im Folgenden : Gut : Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur. 35 Volker Ladenthin : Ironie und Sittlichkeit. Thomas Manns Moses-Erzählung ›Das Gesetz‹. In : Juristische Zeitgeschichte 6 (1999). Gerhard Neumann : »Seine Geburt war unordentlich«. Ironie und Gesetz in Thomas Manns ›Moses‹-Legende. In : Rüdiger Campe u. a. (Hgg.) : Gesetz – Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg 2005, 209–221. 36 Wolfgang Frühwald : Das Talent, Deutsch zu schreiben, Goethe – Schiller – Thomas Mann. Köln 2005. 37 Siehe die Nr. 6 der Zeitschrift Juristische Zeitgeschichte, darin Ladenthin und Thomas Vormbaum : Recht und Staat – Mythos, Erzählung, Realität. Thomas Manns Novelle ›Das Gesetz‹ ; im Folgenden : Vormbaum : Recht und Staat.
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1.2 Methodik Um diese Zugehörigkeit herauszuarbeiten, stütze ich mich in meiner Untersuchung auf Erkenntnisse aus allen diesen Bereichen der Forschung, möchte jedoch in Ergänzung hierzu das Tor zu einer stärker an religionssoziologischen und kulturanthropologischen Diskursen orientierten Lesart weiter aufstoßen. Hierbei ist für meine Untersuchung der Begriff der »kulturellen Semantik«, den ich von Jan Assmann übernehme, relevant. Assmann versteht hierunter »die großen Erzählungen und Leitunterscheidungen, mithilfe derer sich eine Gesellschaft in der Welt und in der Zeit orientiert und die sich in ihren fundierenden Mythen, Symbolen, Bildern und literarischen Texten ausprägt.«38 Immer dann, wenn von Gott, ›seinen‹ Worten und Taten die Rede ist, und dies sowohl in Bezug auf Roman und Novelle als auch in Bezug auf die Bibel, fasse ich dies als ›kulturelle Semantik‹ auf. Noch einmal : Es geht mir also darum, wie sich menschliche Vorstellungen, Wünsche, Werte und Ängste in Texten, in denen von Gott und den Göttern die Rede ist, manifestieren. Ich lese die Texte also sozusagen ›soziologisch‹, in Anlehnung an Niklas Luhmann : »Die Soziologie geht nicht von religiösen Glaubensmaximen aus, selbst dann und gerade dann nicht, wenn sie von Religion handelt. Sie pflegt einen ›methodischen Atheismus‹«39. Meiner Textanalyse möchte ich drei Theorie-Kapitel voranstellen, die eine kulturanthropologische Einordnung der kulturellen Phänomene, die in der Arbeit im Zentrum stehen, vornehmen sollen : Der Mythos (1.2.1), Gewalt und Gesetz (1.2.2) sowie Sprache und Schrift (1.2.3). Hierbei strebe ich keine umfassende Definition und Analyse dieser Phänomene an. Es geht mir vielmehr darum, einzelne Charakteristika zu benennen, die in Bezug auf Roman und Novelle relevant sind und die ich vorwegschicken möchte, um die Textanalyse nicht durch theoretische Exkurse zu unterbrechen und um die Auswahl der untersuchten Szenen prägnanter herauszustellen. Die zuvor gewonnenen Erkenntnisse werden im Analyseteil aufgegriffen, ergänzt und gegebenenfalls modifiziert. Zur Definition einzelner Begriffe (etwa religiöser und rechtlicher) stütze ich mich vor allem auf Studien Niklas Luhmanns40 und ferner auf Walter Benjamins Abhandlung 38 Jan Assmann, Monotheismus und die Sprache der Gewalt. Wien 42007, 21 ; im Folgenden : Assmann : Monotheismus. Ausführlich entwickelt Assmann diesen Begriff bereits in Ägypten – eine Sinngeschichte. München u. a. 1996. 39 Niklas Luhmann : Säkularisierung : In : Ders. Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2000, 278. 40 Ebd.: Rechtszwang und politische Gewalt. In : Ders.: Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a. M. 1981, 154–172 ; Ders.: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2000.
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Zur Kritik der Gewalt41. Jan Assmanns Theorie des kulturellen Gedächtnisses42 ist besonders in Hinblick auf die Schrift für mich von Bedeutung. Im Bereich des Mythos und der Gewalt, hier ergeben sich die meisten Schnittpunkte, stütze ich mich zum einen auf die »Urhorden«-Theorie Sigmund Freuds43 und auf René Girards Ausführungen zur »einmütigen Gewalt«44. Darüber hinaus sind ebenfalls Thomas Hobbes‹45 Überlegungen zum Urzustand, und bezugnehmend hierauf, Alfred Hirschs Studie Recht auf Gewalt ?46 für diese Arbeit relevant. Auch Wolfgang Sofskys Traktat über die Gewalt erweist sich als äußerst hilfreiche Studie, wenn es darum geht, die Wechselwirkung von Gewalt und Kultur aufzuzeigen. Der Soziologe und Essayist zeigt im Traktat sehr eindringlich, wie der Mensch seit eh und je bemüht ist, mit Hilfe von Gewalt Ordnung zu schaffen, um seinem »Bedürfnis nach Obhut und Unversehrtheit«47 nachzukommen. In Bezug auf kulturanthropologische Lesarten biblischer ›Schlüsselszenen‹ werden schließlich u. a. Peter Sloterdijks48 religionssoziologische Studien herangezogen. Der wichtigste Referenztext für meine Untersuchung bleibt jedoch die biblische Vorlage. Indem Thomas Mann biblische Mythen neu erzählt, geht er ein Wagnis ein, das in seinem Werk singulär ist : Er bearbeitet einen bekannten Stoff, der ihm die Handlungskoordinaten vorgibt und somit Handlungskontingenz weitgehend ausschließt. Dieses Wissen beschränkt sich jedoch nicht nur auf Autor, Erzähler und Leser. Auch Joseph ist ein solch Eingeweihter, der bereits weiß, dass er seine Ziele erreichen wird, und so ist seine »Hoffnung« für die Zukunft 41 Walter Benjamin : Zur Kritik der Gewalt. In : Ders.: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. Rolf Tiedemann u. Hermann Schweppenhäuser, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem, 7 Bde. Frankfurt a. M. 1980, Bd. 2, 1, 179–203, im Folgenden : Benjamin : Zur Kritik der Gewalt. 42 Jan Assmann : Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 52005 ; im Folgenden : Assmann : Das kulturelle Gedächtnis. 43 Sigmund Freud : Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. In : Studienausgabe, Bd. 9 : Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt a. M 1989, 287–445. 44 René Girard : Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. Frankfurt a. M. 2008, 120 ; Ders.: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 1999. 45 Thomas Hobbes : Leviathan. Oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates. Hrsg. u. eingeleitet v. Iring Fetscher. Neuwied u. Berlin 1966 ; im Folgenden : Hobbes : Leviathan. 46 Alfred Hirsch : Recht auf Gewalt ? Spuren philosophischer Gewaltrechtfertigung nach Hobbes. München 2004. 47 Wolfgang Sofsky : Traktat über die Gewalt. Frankfurt a. M. 2005, 11 ; im Folgenden : Sofsky : Traktat. 48 Peter Sloterdijk : Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch. Frankfurt a. M. 2006 ; im Folgenden : Sloterdijk : Zorn und ders.: Gottes Eifer.
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stets »gewissestes Wissen.« (GW V, 1296) Was der Erzähler nun leisten muss – eine bekannte Geschichte so gut zu erzählen, dass sie unterhält – wird auch für Josephs Lebensgeschichte bestimmend sein. In der Textanalyse bleibt die Bibel also, sofern es Entsprechungen gibt, stets der Referenztext, sodass Abweichungen und Ergänzungen Thomas Manns herausgestellt werden können, um Akzentuierungen zu verdeutlichen. Diese Änderungen (oder wie Thomas Mann sagen würde : ›Genaumachungen‹) betreffen nicht nur sehr grundsätzliche Aspekte des Romans und der Erzählung wie die Säkularisierung49 der Wunder Gottes, der Offenbarung und der Erwählung, sondern vor allem auch Korrekturen hinsichtlich der Chronologie der biblischen Ereignisse (vgl. die Kapitel 2.7 und 2.8, die sich mit zwei Frauenfiguren, Dina und Thamar, befassen) oder die (anachronistische) Montage rechtlicher und politischer Begriffe und Motive in den Text (vgl. Kapitel 3.6.1 und 3.6.2) sowie die ›Ausschmückung‹ von Szenen, die Gewalt darstellen (vgl. Kapitel 2.6 und 2.7). All diese Änderungen haben vor allem zwei Dinge gemeinsam : Sie bewerten oder betonen die Schuldfrage der Figuren anders als die Bibel und sie stellen den Menschen – und nicht Gott – ins Zentrum der Ereignisse. Zu Beginn meiner Textanalyse werde ich anhand des Roman-Kapitels Wie Abraham Gott entdeckte zunächst Thomas Manns anthropozentrisches Gottesbild in den Blick nehmen. 1.2.1 Der Mythos Die Geschichte der Völker ist eine »Geschichte ihrer Mythen«.50 [D]em Menschen ist am Wiedererkennen gelegen ; er möchte das Alte im Neuen wiederfinden und das Typische im Individuellen.51
Wie oben bereits angedeutet, soll hier keineswegs eine umfassende Begriffs- und Bedeutungsbestimmung des Phänomens ›Mythos‹ erfolgen.52 Da aber besonders 49 Zur Begriffsgeschichte und -problematik s. das Kap. Säkularisierung in : Luhmann : Die Religion der Gesellschaft, 278–319. 50 Giovanni Battista Vico : Prinzipien einer neuen Wissenschaft. Über die gemeinsame Natur der Völker. Hamburg 1990. Ohne Seitenangabe zitiert bei Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 62. 51 GW IX, 492 (Freud und die Zukunft). 52 Eine knappe Begriffsbestimmung und einen historischen Überblick bieten Aleida und Jan Assmann : Art. ›Mythos‹. In : Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe. Hrsg. v. Hubert Cancik, Burkhard Gladogow und Karl-Hein Kohl, Bd. IV : Kultbild – Rolle. Stuttgart u. a. 1998, 179–200, 179 ff. Assmann und Assmann führen sieben Mythos-Begriffe an : 1. polemischer Mythos-Begriff,
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für den Roman das mythische Bewusstsein seiner Figuren, also ihre Partizipation und der Grad ihrer Partizipation am Mythos zentral ist, werden im Folgenden einige Mythos-Theorien, die Thomas Manns Auffassung vom Mythos erläutern helfen, in ihrem Kern zusammengefasst. In seinem Essay Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag begründet Thomas Mann seine Wahl für den mythischen Stoff damit, dass ihn am Joseph im Gegensatz zum »bloß Individuellen und Besonderen, dem Einzelfall, dem ›Bürgerlichen‹« nun »[d]as Typische, Immer-Menschliche, Immer-Wiederkehrende, Zeitlose, kurz : das Mythische«53 reize. Dass Thomas Mann aber gerade in seinem Protagonisten – ebenso wie in seiner Mose-Figur im Gesetz – den ganz Besonderen gestaltet54, dürfte außer Frage stehen. Thomas Mann nutzt in der Betrachtung der Anfangsgründe der Welt und des Menschen den Mythos als Erkenntnismittel für psychologische Vorgänge – und schließt hierin, auch wenn der oben zitierte Ausspruch etwas anderes suggeriert, nahtlos an seine früheren Werke an. Mann deutet also »Mythologeme als Urform psychischer Situationen«55 und folgt hierin dem Mythosverständnis Karl Kerényis, mit dem Mann einen regen Briefwechsel pflegte.56 Indem Thomas Mann den Mythos als Menschheitserbe begreift, möchte er ihn vor der politisch-nationalen Vereinnahmung bewahren. Seit den 1920er-Jahren beobachtet Mann eine Hinwendung zum völkischen Mythos – in der Kunst ebenso wie in der Politik – die ihm als »unheimliche[r] Prozeß der Rebarbarisierung«57 erscheint. Thomas Manns Ausspruch, er habe den Mythos, »dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert«, ist in der Thomas-Mann-For2. historisch-kritischer Mythos-Begriff, 3. funktionalistischer Mythos-Begriff, 4. Alltags-Mythos-Begriff, 5. narrativer Mythos-Begriff, 6. literarische Mythen, 7. Ideologien, bzw. ›Große Erzählungen‹. Vor allem Mythos-Begriff 3 ist hilfreich, um Thomas Manns Verständnis von Mythos zu charakterisieren : Mythos-Begriff 3 (M3) »definiert Mythos als einen kulturellen Leistungswert. Religionswissenschaft und Ethnologie thematisieren M3 als fundierende, legitimierende und weltmodellierende Erzählung. […]« (180). Hilfreich ist sicher auch die »Minimaldefinition« Christoph Jammes, der den »Mythos als mündliche[n] Kommentar einer Kulturhandlung […]« beschreibt. Dieser weist eine »Erzählstruktur [auf ] ; erzählt werden bestimmte wiederholbare Ereignisse, die außerhalb von Raum und Zeit liegen und ansetzen an bestimmten Knotenpunkten der menschlichen Existenz.« ( Jamme : Einführung, 21). 53 GW XI, 656 (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag). 54 Die Ergründung dieses ›Besonderen‹ erlaubt ihm dann jedoch wiederum Aussagen über das Immer-Menschliche. S. hierzu meine Ausführungen in der Einleitung. 55 Volker C. Dörr : Mythomimesis. Mythische Geschichtsbilder in der westdeutschen (Erzähl-)Literatur der frühen Nachkriegsjahre (1945–1952). Berlin 2004, 265. Im Folgenden : Dörr : Mythomimesis. 56 Thomas Mann/Karl Kerényi : Gespräch in Briefen. München 1960. 57 GW XIII, S. 669 (Die Wiedergeburt der Anständigkeit).
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schung ein viel zitiertes Credo geworden. So strebt er eine »Umfunktionierung des Mythos« an, und bedient sich der (biblischen) Mythen, die für ihn das Wesen des Menschen ergründen. Zentral für Thomas Manns Mythos-Verständnis ist, wenn auch nicht in der Absolutheit des häufig bemühten Schlagworts Vom Mythos zum Logos58, ein Heraustreten des Menschen aus dem zeitlosen Mythos und ein Eintreten in die gerichtete Zeit, die das Primat des Geistes bedeutet, und aus mythischen, immer wiederkehrenden Figuren, Individuen hervorbringt. Der Mythos, oder besser gesagt, das Leben im Mythos, ist also eine erste anthropologische Stufe, die notwendig ist, um sich in einer oft als chaotisch empfundenen Welt zurechtzufinden. Diese Stufe muss aber auch zu einem gewissen Grad überwunden werden. Denn nur durch die erkennende Emanzipation vom Mythos ist die Entwicklung hin zu einem mündigen Subjekt möglich. So nehmen sich Josephs Ahnen noch nicht als Individuen im modernen Sinne wahr, sondern sehen sich als Wiederverkörperungen eines gewissen Typs, was ihnen Orientierung59 und Halt in der Welt verschafft und ihr kurzes Dasein mit bedeutungsvoller Dauer anfüllt. Die Wiederholung60 und die Erinnerung stehen 58 Vgl. das Werk des Altphilologen Wilhelm Nestle : Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates. Stuttgart 31975, das immer wieder zur Beschreibung einer angeblichen anthropologischen Entwicklungslinie hin zur Ratio herangezogen wird. So etwa Hans Blumenberg : Arbeit am Mythos. Frankfurt a. M. 1979. Wobei Jamme : Einführung zu bedenken gibt, dass Blumenberg, ebenso wie Horkheimer/Adorno, nicht von einem »endgültigen Triumph der Aufklärung« (120) ausgeht. Auch Johann Jakob Bachofen : Das Mutterrecht. Eine Untersuchung über die Gynaikokratie der alten Welt nach ihrer religiösen und rechtlichen Natur. Frankfurt a. M. 21978, geht davon aus, dass alle Kulturen ein mythisches Zeitalter durchlaufen haben und dass eine grundsätzliche Entwicklung hin zur Rationalität stattgefunden hat. Bachofens Theorie zu mutterrechtlich organisierten Kulturen ist vor allem in die Gestaltung der ägyptischen »Ehegeschwister« Huij und Tuij eingegangen. Vgl. GW V, Viertes Hauptstück, Kap. Huij und Tuij, 852–873, s. auch Galvan : Bachofen-Rezeption. 59 Die Wiederholung, im Roman im Bild der »rollenden Sphäre« (GW IV, 190) ausgedrückt, »bietet durch den Ausschluss von Kontingenz ein Maximum an Sicherheit«. (Katharina Ratschko : Kunst als Sinnsuche und Sinnbildung. Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹ und Hermann Brochs ›Tod des Vergil‹ vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung um die Moderne seit der Frühromantik. Hamburg 2010 (= Studien zur Germanistik, Bd. 35). Das Motiv der »rollenden Sphäre« fand Mann bei Dacqué, Jeremias, Mereschkowski und Bachofen, vgl. Lehnert : Der sozialistische Narziß. Joseph und seine Brüder. In : Volkmar Hansen (Hrsg.) : Thomas Mann, Romane und Erzählungen. Stuttgart 1993, 186–227, 215 ; Heftrich : Joseph und seine Brüder, 455 betont vor allem Jeremias als Quelle. 60 Auch Kurt Hübner : Die Wahrheit des Mythos. München 1985, geht davon aus, dass die mythische Zeit eine zyklische Zeit ist, und sieht in ihr die stete »Wiederholung eines Urereignisses« (142). S. auch Mircea Eliade : Die Religion und das Heilige. Frankfurt a. M. 1986, der die »ewige Gegenwart der mythischen Zeit« (496) betont.
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für ihr Selbstverständnis im Vordergrund. In der Denk- und Lebensweise der Figuren spiegelt Thomas Mann grundsätzliche Funktionen des Mythos : [D]ie Wiederholung von Gründungshandlungen oder kosmischen Schöpfungsakten ist eine Selbstvergewisserung bestehender Ordnungsverhältnisse ; gleichzeitig ist das periodische Auflösen und Wiederherstellen von Ordnung eine erlebensmäßige Auseinandersetzung mit dem Antagonismus von Chaos und Ordnung, Zerstörung und Aufbau.61
Mythos bedeutet also Sinnstiftung62, bedeutet das Bemühen um ein Sich-Zurechtfinden in der Welt. Somit haben die Mythen eine lebensgründende und lebenserschließende Kraft und werfen Licht auf Situationen und Erfahrungen, die sie mit Sinn und Orientierung erfüllen. Mythen sind narrative Kerne, deren vielförmige Ausgestaltung Gesellschaften, Gruppen und auch einzelnen Individuen dazu verhilft, eine Identität auszubilden, das heißt, zu wissen, wer sie sind und wohin sie gehören, und komplexe Situationen und Lebenskrisen zu bewältigen.63
Um diese »komplexen Situationen und Lebenskrisen«, in diesem Zusammenhang verstanden als Gründungsmythen, geht es Thomas Mann in Roman und Novelle. In seinem Streben nach Erkenntnis ist der Mythos der Philosophie verwandt, denn Mythos wie Philosophie sind umfassende Weltdeutungen, die von ersten Anfängen ausgehen und auf abschließende Ganzheiten zielen und die in eins mit der Verständigung über die Wirklichkeit ein bestimmtes Verständnis des Menschen von sich selber erarbeiten. […] [B]eide sind Bemühungen um die menschliche Orientierung in der Welt, beide fungieren als Wirklichkeitsaneignung wie als Daseinsbewältigung.64
61 Angehrn : Die Überwindung, 38. 62 »Sinn bleibt nur durch Zirkulation lebendig«. (Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 91). 63 Ebd.: Exodus, 20. 64 Angehrn : Die Überwindung, 28. Worin sich Mythos und Philosophie wiederum unterscheiden, führt Angehrn auf den Seiten 33 f. aus. Vgl. auch Manfred Frank : Der kommende Gott. Vorlesungen über die Neue Mythologie. Frankfurt a. M. 1982, 11 ; im Folgenden : Frank : Der kommende Gott. Dort heißt es weiter : »Die oder eine Leistung des Mythos […] liegt im normativen Bereich und hat zu tun mit der Frage der Rechtfertigung von Lebenszusammenhängen in sozialen Einrichtungen.« Die Rechtfertigung oder Begründung erfolgt dabei in der »Rückführung aufs Heilige«. (Ebd., 82).
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Die narrative Struktur des Mythos macht dabei »durch Benennung, Gliederung und Strukturierung die Wirklichkeit überschaubar und beherrschbar.«65 An Aleida und Jan Assmann angelehnt, lässt sich Thomas Manns Umgang mit dem Mythos als »funktionalistischer Mythos«66 begreifen. Assmann/Assmann untergliedern diesen Mythos-Begriff noch einmal in »legitimierende und deutende Mythen« : Während erstere die »Rückführung bestehender Verhältnisse auf einen urzeitlichen ordo« meinen sowie einem »anthropologischen Bedürfnis nach ›Werterhöhung‹«67, also nach Sinnstiftung des Lebens entsprechen, werfen die deutenden Mythen ›lediglich‹ »allgemeine Themen der Daseinsbestimmung« auf, was meint, dass sie »anthropologische Grundfragen«68 stellen, aber nicht zwangsläufig beantworten. Unter diesen Typus subsumieren Assmann/Assmann eine Reihe von Mythen, die z. T. auch Thomas Mann in sein Werk einbaut : Genesis, Tammuz, Persephone, Kain und Abel, Sintflut, Turmbau zu Babel.69 In der Joseph-Figur führt Thomas Mann nun einen Charakter vor, der dieses sinnstiftende, erklärende Potenzial der Mythen nutzt, jedoch bewusster mit den Mythen umgeht als seine Väter. Er spielt mit dem Mythos und begreift sich als handelndes Individuum, das nachahmt und sich nicht als reine Wiederverkörperung versteht. Joseph eignet sich die Mythen dabei ganz nach dem Motto an : »Wer weiß, woher er kommt, weiß, wer er ist.«70 Und mehr noch : »Nicht nur wer weiß, woher er kommt, weiß, wer er ist ; auch zu wissen, wovon man sich emanzipiert hat und wohin man geht, ist Grundlage von Identität.«71 Auch dies ist Joseph zu eigen. Im Roman wird nun beschrieben, wie die Figuren langsam in die Sphäre der Zeitlichkeit eintreten, und diese Entwicklung ist entscheidend an die Hervorbringung und die geistige Weiterentwicklung eines monotheistischen, transzendenten Gottes gebunden, der vor allem Jaakobs »Geschichtenschwere« (GW V, 1538) prägt, und sich für Joseph als unentbehrlicher Bezugspunkt für seine Karriere in Ägypten erweist. Der Aspekt des mythischen Bewusstseins und des Hineintretens in die gerichtete Zeit ist in der Forschung für den Roman bereits um-
65 Angehrn : Die Überwindung, 38. 66 Assmann/Assmann : Mythos, 180. 67 Ebd., 185 f. 68 Ebd., 186. 69 Vgl. ebd. Assmann/Assmann nehmen innerhalb der deutenden Mythen noch eine weitere Unterteilung in vier Untertypen vor, die hier jedoch vernachlässigt werden kann. 70 Angehrn : Die Überwindung, 62. 71 Ebd., 84.
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fassend untersucht worden.72 Doch auch im Gesetz kommt der auf die Zukunft gerichteten Zeit sowie der radikalen Transzendenz Gottes eine große Bedeutung zu, denn erst die gerichtete Zeit macht die Konsequenz von Rechtsverletzungen, also den Verstoß gegen Gottes Gebote, erfahrbar – und was ist machtvoller als ein transzendenter Gott, der sieht, den man aber selbst nicht sehen kann, der jedoch hinter einem sehr wohl sicht- und spürbaren Machtapparat steht ? Roman und Erzählung antizipieren somit »Kristallisationspunkte«73 des Mythos, die sich, ebenso wie das Œuvre Thomas Manns, »für Individuen und besondere Geschehnisse«74 interessieren, und in deren Zentrum »Ursprung, Chaos und Identität, Chaos und Ordnung, das Werden des Subjekts«75 stehen. Damit »berichtet [der Mythos] über Ereignisse, die von hohem Stress und starken Emotionen geprägt sind«76, was ihre Verankerung im individuellen aber auch kulturellen Gedächtnis begünstigt.77 Erklärtes Ziel von Thomas Manns ›alttestamentarischem Werk‹ ist es, ich habe dies in meiner Einleitung bereits dargestellt, das »Rätselwesen« Mensch zu ergründen ; hierzu dient ihm das Mythische als das Typisch-Menschliche. Thomas Mann geht es somit um »die Grundmuster an sich, die hinter allen scheinbar individuellen Verhältnissen und Ereignissen der Welt auszumachen sind.«78 Für den im Mythos lebenden Menschen ist diese Sphäre »Seinswirklichkeit«79, es existiert weder ein Unterschied zwischen Vergangenheit und Gegenwart, noch lassen sich irdische und menschliche Geschicke klar voneinander trennen ; die Menschen leben noch »irrational-ahnend«80, »Sein und Bedeuten« (GW IV, 32)81 sind identisch : »Wer in Mythen lebt, wer die Geschichten, die er von sich erzählen kann, mit den Mythen, in denen ganze Generationen vor und nach ihm gelebt haben und leben werden, gleichsetzt, der gliedert seine private Biogra72 Vgl. vor allem : Assmann, Jan : Zitathaftes Leben. Thomas Mann und die Phänomenologie der kulturellen Erinnerung. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 6 (1993), 133–158, im Folgenden : Assmann : Zitathaftes Leben und zuletzt Baier : Zwischen höllischem Feuer, Kap. VII, 1. 73 Angehrn : Die Überwindung, 45. 74 Ebd., 34. 75 Ebd., 45. 76 Heiner Mühlmann : Jesus überlistet Darwin. Wien/New York 2007, 37 ; im Folgenden : Mühlmann : Jesus überlistet Darwin. 77 S. hierzu meine Ausführungen im Kap. Gewalt und Gesetz. 78 Dierks, Manfred : Thomas Mann und die Mythologie. In : Thomas-Mann-Handbuch. Hrsg. v. Helmut Koopmann. Stuttgart 2001, 301–306, 301 ; im Folgenden : Dierks : Thomas Mann. 79 Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk, 40. 80 Ebd. 81 Vgl. ebd.
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phie ein in einen größeren kollektiven Zusammenhang.«82 Und dieser kollektive Zusammenhang spendet Sinn über das eigene zeitlich begrenzte Dasein hinaus. Und so identifiziert sich der mythisch-denkende Mensch mit seinen Ahnen, aber auch mit den Göttern.83 »Imitation und Identifizierung sind Momente mythischer Denkform und Erlebnisweise […].«84 Die Identifikation des Menschen mit den Göttern ist möglich, da im Mythos eine, wie es im Roman heißt, »sphärische Drehung«, die Umkehrung von Oben und Unten möglich ist : Oben ist bald Unten und Unten Oben […]. Nicht allein daß Himmlisches und Irdisches sich ineinander wiedererkennen, sondern es wandelt sich auch, kraft der sphärischen Drehung, das Himmlische ins Irdische, das Irdische ins Himmlische, und daraus erhellt, daraus ergibt sich die Wahrheit, daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können. (GW IV, 190)
Die Figuren, die Thomas Mann im Josephroman dem Leser vorführt, partizipieren in unterschiedlichen Ausprägungen an diesem mythischen Bewusstsein. Was sie unterscheidet ist auch der Grad ihrer Gottes- und Selbsterkenntnis, die im Roman eng miteinander verknüpft ist. Während Joseph sich seiner Individualität bereits sehr stark bewusst ist, sehen sich seine Vorfahren vor allem (noch) im Kontext des »Geschlechtes« (GW IV, 128), also des Stammes. Auf diese Einheit von Charakter und Stamm verweist auch Arthur Schopenhauer : »Es ist der selbe Charakter, also der selbe individuell bestimmte Wille, welcher in allen Descendenten eines Stammes, vom Ahnherrn bis zum gegenwärtigen Stammhalter, lebt.«85 82 Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 40. 83 Thomas Mann verwendet für dieses Phänomen die Wendungen »gehen in Spuren« oder »zitathaftes Leben«. (GW IX, 497 ; Freud und die Zukunft) Vgl. hierzu ausführlich : Assmann : Zitathaftes Leben. Joseph identifiziert sich etwa mit Tammuz, Thot und Osiris. Thomas Mann hat dieses mythische Bewusstsein als »historische Lebensform« (GW IX, 494 ; Freud und die Zukunft) betrachtet. Vgl. auch Die Einheit des Menschengeistes. In : Thomas Manns Essays. Bd. 3 : Ein Appell an die Vernunft. Hrsg. v. Hermann Kurzke u. Stephan Stachorski. Frankfurt a. M. 1994, 301–306, 305 : »Das antike Ich und sein Bewußtsein von sich war ein anderes als das unsere, weniger ausschließlich, weniger scharf umgrenzt. Es stand gleichsam nach hinten offen und nahm vom Gewesenen vieles mit auf, das es gegenwärtig wiederholte, das mit ihm ›wieder da‹ war.« Hierzu kritisch Assmann : Zitathaftes Leben, 155 : »Im Grunde kennzeichnet das, was Thomas Mann als ›zitathaftes Leben‹ beschreibt, weniger bestimmte historische Lebenswirklichkeiten der späten Bronzezeit oder der klassischen Antike, als vielmehr eine spezifische Richtung und Stimmung in den Künsten der 20er Jahre […].« 84 Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk, 28. 85 Arthur Schopenhauer : Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band. Zweiter Teilband. Zürcher Ausgabe : Werke in zehn Bänden, Bd. IV. Hrsg. v. Arthur Hübscher. Zürich 1977, 619.
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Deutlich wird dieses ausgeprägte Stammesbewusstsein durch die immer wiederkehrenden Namen – Abraham, Isaak, Jaakob – die »geschlechtserblich« (GW IV, 129) sind und einen bestimmten Typus86 verkörpern : Dieses typisierte Leben in der zeitlosen Gegenwart bedeutet vor allem, dass die historische, ›reale‹ Ahnenfolge ignoriert wird. Jaakob beispielsweise hält seinen tatsächlichen Großvater Abraham für den Ur-Abraham, was, allein aus zeitlichen Gründen, auszuschließen ist. Indem der eine jedoch für den anderen gesetzt wird, verschwimmt die Grenze zwischen Vergangenheit und Gegenwart, wodurch die Zeit gleichsam aufgehoben wird. Ganze Jahrhunderte werden in der mythischen Zeit zusammengezogen und vertauscht, bis das Gestern und Jetzt zur Unkenntlichkeit verwischen. Die Geschichte wird zur ›Ur-Geschichte‹ verdichtet. Das ›primitive‹ Individuum verortet sich in dieser, nun überschaubar gemachten Weltgeschichte, indem es sich als Wiederkehr des ›Schon-da-gewesenen‹ versteht.87
Josephs Vater Jaakob steht hierbei sozusagen zwischen seinem ›modernen‹ Sohn und seinen archaischen Vätern. Er reflektiert zwar seine imitatio zum Teil bereits kritisch, ist aber der Sinnstiftung durch Nachahmung der Geschichten seiner Väter noch viel mehr verhaftet als Joseph. Joseph hingegen spielt mit dem Mythos, sein erklärtes Ziel ist nicht Wiederverkörperung, sondern Individualität. So partizipiert er bewusst auch an den fremden Mythen der umliegenden Völker und nimmt unterschiedliche Attribute der, aus Jaakobs Sicht, heidnischen Götter an. Dabei passt er die Imitation jeweils geschickt seinen Lebensumständen an.88 Im Brunnen ist Joseph Tammuz, der wieder auferstehen wird, in Ägypten ist er Osiris, der seine Hadesfahrt antritt, und erweist sich damit als »Meister der Identitätskonstruktion«89. Er inszeniert sehr bewusst ein Leben in der Anspielung, das nicht nur seiner Selbstvergewisserung dient, sondern vor allem auch nach außen sichtbar gemacht werden soll : So etwa durch das Tragen des »Myrtenschmuck[s]« (GW IV, 445), den auch Tammuz trägt, oder durch die Annahme
86 Hierin steht Thomas Mann C. G. Jungs Archetypenlehre nahe. S. hierzu auch Manfred Dierks : Thomas Mann und die Tiefenpsychologie. In : Thomas-Mann-Handbuch, 284–300, 296, der betont, dass die [vorhandenen] Analogien sich [über] die gemeinsame Affinität zu Schopenhauer« hergestellt haben. 87 Die Verf.: Mythos und Zeit in Thomas Manns Joseph in Ägypten. In : Online-Magazin für die Forschungsbereiche Mythos, Ideologie und Methoden, hrsg. v. Peter Tepe, 2007, 9. 88 Und hierin ist Joseph zudem eine Präfiguration Felix Krulls. 89 Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«, 16.
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des ägyptischen Namens »Osarsiph«90, der die Ägypter an Osiris91 gemahnen soll, wenn sie Josephs ansichtig werden. Der Mythos wirkt also auch für Joseph sinnstiftend92, aber er antizipiert ihn bewusst und fügt sich ihm nicht in fatalistischer Demut : »Man kann nicht bedeutender, nicht würdiger leben, als indem man den Mythos zelebriert.«93 Die mythische Identifikation ist hingegen im Gesetz einer bewusst modernen Konstruktion der Hauptfigur Mose gewichen. Mose lebt nicht mehr im Mythos, er ist das moderne, stets an sich und Gott zweifelnde Individuum, das nicht – wie Joseph – auf den günstigen Lauf der Dinge vertraut. Er ist nicht der charismatisch-schöne Jüngling, der die Menschen mit Leichtigkeit für sich zu gewinnen vermag. Er benötigt Hilfe für sein geistiges Bildungswerk, das so ungeheuerlich, neu und beängstigend ist, dass es jeder Zeit droht, zu misslingen oder zerstört zu werden, und das der Gewalt und Kontrolle bedarf, um es gegen die Natur des Menschen zu verteidigen.
90 Der Name Osarsiph kann auch mit Moses in Verbindung gebracht werden. Jan Assmann erläutert hierzu eine Exodus-Deutung Flavius Josephus’, die Assmann jedoch als »völlig haltlos[ ]« (Exodus, 62) bezeichnet. So brachte Flavius Josephus »ein Exzerpt aus Manetho […] mit dem Exodus der Israeliten in Verbindung […], das sich aber in Wirklichkeit auf die Amarna-Erfahrung bezieht. Danach soll sich ein heliopolitanischer Priester namens Osarsiph zum Führer einer großen Gruppe von Aussätzigen […] aufgeschwungen und den Namen Moyses angenommen haben […].« (Ebd., 62 f.) Vgl. auch ebd., 194–197, wo weitere Quellen für eine Engführung von Joseph/Osarsiph und Moses angeführt werden. »Hier [bei Chairedon, ein Priester aus Alexandria] erscheinen also Joseph und Mose nebeneinander als Anführer der Vertriebenen ; das könnte ein Hinweis darauf sein, dass wir bei Manetho-Josephus tatsächlich den Namen Osarsiph als ägyptisierte Form des Namens Joseph auffassen dürfen (wie das ja Thomas Mann getan hat).« (196 f.) Thomas Mann stieß auf Osarsiph und dessen Engführung mit Mose wohl über den Rabbiner Jakob Horovitz, mit dem er im Briefwechsel stand. (Vgl. hierzu Berger : Die mythologischen Motive, 153). 91 Vgl. auch die Entsprechungen von Tammuz und Osiris, je nachdem, ob sie sich gerade ›oben‹ auf der Erde befinden oder ›unten‹ im Totenreich : »›Der Tote ist Gott. Er ist Tammuz, der Hirte, der da Adonis heißt, aber im Unterlande Usiri […].‹« (GW IV, 457). 92 Dass der Mythos als Legitimation des Lebens fungiert, wird immer wieder von Thomas Mann betont. (Vgl. Die Einheit des Menschengeistes, 306). 93 Ebd.
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1.2.2 Gewalt und Gesetz
Die Geschichte der Zivilisation ist eine Geschichte der Gewalt.94 Diese Geschichte zu rekonstruieren95, die Ursachen und Wirkungen von Gewalt zu verstehen, scheint dabei ein ebenso grundsätzliches Bemühen der Menschheit zu sein.96 Mythische Gründungsszenen der Menschheit erzählen seit jeher von Gewalt und zeigen somit auch das Bedürfnis, dieses Phänomens Herr zu werden. Die Bibel – und zwar das Alte wie das Neue Testament – ist, wie andere religiöse Schriften auch, ein Arsenal an Beschreibungen gewalttätiger Handlungen : Gott straft, tötet und führt Kriege ; der Mensch straft, tötet und führt Kriege, zum Teil für und zum Teil gegen Gott.97 Es kann und soll in diesem Überblick zum Thema ›Gewalt‹ und ›Gesetz‹ nicht darum gehen, mich an einer Diskussion über das Gewaltpotenzial des Monotheismus und, daraus resultierend, über sein Gefahrenpotenzial zu beteiligen. Es geht mir auch nicht darum, ob die Gewalt, die in der Bibel geschildert wird, einen realen Kern hat98, viel94 Meiner Analyse liegt ein enger Gewaltbegriff im Sinne von lat. violentia zugrunde, also die Anwendung physischen Zwangs, womit ich den Gewaltbegriff gegenüber dem Machtbegriff (potestas) abgrenze. Es geht mir also um die Darstellung und Rechtfertigung von physischer Gewalt, die verletzt, zerstört oder tötet. 95 An dieser Stelle sei mit Robert Weninger : Gewalt und kulturelles Gedächtnis. Repräsentationsformen von Gewalt in Literatur und Film seit 1945. Tübingen 2005, betont, dass der Kunst bei dieser Rekonstruktion selbstverständlich eine prägnante Rolle zukommt : »[Die] alltägliche Gewalt, die sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit historisch ablagert und zu einem neuralgischen Fixpunkt unserer Erinnerungs- und Gedächtniskulturen wird, tritt natürlich nicht nur real in unseren Erfahrens- und Erlebnishorizont, sondern auch fiktional in literarischer, filmischer oder sonstwie künstlerisch aufbereiteter Gestalt. Die Kunst (sei es als bildende Kunst, sei es als Literatur oder Film) nimmt […] nur auf und verarbeitet, was wir oder andere im Weltalltag an Gewalt erleiden ; sie reproduziert demnach und repräsentiert das reale Phänomen : die Welt steht Modell.« (viii, Einleitung) S. zur Auseinandersetzung ›Gewalt und Kunst‹ (allerdings ohne einen Aufsatz zu Thomas Manns Werk) auch den Sammelband : Rolf Grimminger (Hrsg.) : Kunst Macht Gewalt. Der ästhetische Ort der Aggressivität. München 2000. 96 S. hierzu etwa die umfassende Studie Gewalt. Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt a. M. 2011 von Steven Pinker. Im Folgenden : Pinker : Gewalt. 97 Zahlreiche Beispiele für Gewalt in der Bibel bringt z. B.: Hans Jürgen Benedict : Die dunkle Seite Gottes : Gott und Gewalt in der Bibel. In : Hermann Düringer (Hrsg.) : Monotheismus – eine Quelle der Gewalt ? Frankfurt a. M. 2004, 30–59, 31. Im Folgenden : Benedict : Die dunkle Seite Gottes. Dieser Sammelband ist nur ein Beispiel für die inflationäre Frage nach dem Gewaltpotenzial der Monotheismen, die verstärkt seit dem 11. September 2001 gestellt wird. Eine knappe Zusammenfassung biblischer Gewaltszenen bringt auch Pinker : Gewalt, 30–38, wobei er sich jedoch unverständlicherweise auf die »hebräische Bibel« (30) beschränkt. 98 Dieser Frage kommt etwa bei René Girard und Claude Lévi-Strauss Bedeutung zu, allerdings mit gegenteiligem Ergebnis. Die Mimesis- bzw. Sündenbock-Theorie René Girards steht dabei im
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mehr ist hier, dem Prinzip der »kulturellen Semantik« folgend, der Ursprung der »Sprache der Gewalt«99 relevant : »›Wie gerät Gott in eine solche Sprache ? Wie kommen Menschen dazu, sich Gott so vorzustellen, sich vorzustellen, dass Gott will, dass man seine Nächsten verrät und zu Tode bringt ?‹«100 Die Antwort, die Jan Assmann hierfür anführt, und die später noch an Textbeispielen anschaulich gemacht werden soll, lautet : Religiöse Texte haben politische Texte kopiert, so sei etwa aus dem assyrischen Königsrecht der Gedanke der »absoluten Loyalität«101 oder auch Detailschilderungen verschiedener Strafsanktionen in die Bibel eingegangen.102 Der biblische Gott ist daher »ein politischer Herrschergott […], der Gesetze erlässt und Gehorsam fordert.«103 Der tieferliegende Grund für die
scharfen Kontrast zu der Ursprungsmythen-Theorie Claude Lévi-Strauss’. Sowohl Lévi-Strauss als auch Girard gehen zunächst von einer gemeinsamen Prämisse aus : Der Zustand der Dinge, der zu Beginn zahlreicher Mythen herrscht, ist die Abwesenheit der Ordnung. Beide zeigen an verschiedenen Mythen, wie eine Situation, die für die Gemeinschaft eine Bedrohung darstellt, und eine bestehende Ordnung zu vernichten droht, oder dies bereits getan hat, durch kollektive Gewalt erfolgreich bekämpft wird. Nun geht Lévi-Strauss davon aus, diese Gewalt stehe sinnbildlich für etwas außerhalb der Mythen und zeige die Fähigkeit, das Denken zu symbolisieren. Anders Girard : Er nimmt an, dass die Gewaltakte real sind und wirklich stattgefunden haben und dass diese im Nachhinein von den Gewaltverursachern mythisiert werden. (Vgl. René Girard : Die verkannte Stimme des Realen. Eine Theorie archaischer und moderner Mythen. München 2005 ; ders.: Das Heilige und die Gewalt. Frankfurt a. M. 31999 sowie Claude Lévi-Strauss : Das Ende des Totemismus. Frankfurt a. M. 1965 ; ders.: Strukturale Anthropologie. Frankfurt a. M. 1967). 99 So der Untertitel von Assmann : Monotheismus. 100 Ebd., 27. Assmann zitiert hier den Alttestamentler Othmar Keel in Bezug auf die Strafaktionen, die Gott von Mose fordert und die sich vor allem gegen den Nächsten, nicht gegen einen äußeren Feind richten (vgl. Exodus, 32, 25–27 : »Da nun Mose sah, daß das Volk zuchtlos geworden war (denn Aaron hatte sie zuchtlos gemacht, zum Geschwätz bei ihren Widersachern), trat er an das Tor des Lagers und sprach : Her zu mir, wer dem Herrn angehört ! Da sammelten sich zu ihm alle Kinder Levi. Und er sprach zu ihnen : So spricht der Herr, der Gott Israels : Gürte ein jeglicher sein Schwert um seine Lenden und durchgehet hin und zurück von einem Tor zum andern das Lager, und erwürge ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten.«) Vgl. auch René Girard : Gewalt und Religion. Ursache oder Wirkung ? Hrsg. v. Wolfgang Palaver. Berlin 2010, 5 : »Die Frage der religiösen Gewalt ist deshalb zuallererst eine Frage des Menschen, eine gesellschaftliche und anthropologische Frage und nicht unmittelbar eine religiöse.« 101 Assmann : Monotheismus, 27. 102 Vgl. ebd., 26 ff. Für Assmann gehören die Fluch- und Drohformeln aus 5. Mose 28, die der Herr seinem auserwählten Volk gegenüber ausspricht, sollte es vom Glauben abfallen, »zum Repertoire politischer Verträge, und das Deuteronomium steht hierin in der Tradition der Assyrer, die ihre Vasallenverträge mit ähnlichen Verwünschungen für den Fall des Abfalls beschlossen haben. Das Deuteronomium greift diese Tradition auf, um sie noch weit zu überbieten.« (29). 103 Hans-Georg Pott : Kurze Geschichte der europäischen Kultur. Paderborn 2005, 18 ; im Folgenden : Pott : Kurze Geschichte.
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Darstellung von Gewalt ist zudem ein psychologisch schnell einsehbarer : Gewalt hat eine hohe »Memoaktivität«104, wie es bereits Nietzsche in seiner Genealogie der Moral formuliert : »Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer ab, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtnis zu machen. […] [I]m Schmerz [liegt] das mächtigste Hülfsmittel der Mnemonik«.105 Untersuchungen der Neurowissenschaften können Nietzsches Worte heute empirisch belegen.106 So haben Opferrituale – Tieropfer ebenso wie Menschenopfer –, die in nahezu allen Kulturen im Zentrum von Erinnerungsritualen stehen107 und die starke Emotionen und Stress in der ganzen Gruppe auslösen, alle Eigenschaften, um sich im Gedächtnis des Einzelnen, aber auch im kulturellen Gedächtnis zu verankern : Tieropfer sind Enkulturierungsrituale. Sie erneuern die Erinnerung an den Gründungs mythos, indem sie die episodischen Gedächtnisse aktivieren. Dabei zeigt es sich, dass die Inszenierung des Opferrituals viele Elemente enthält, die memoaktive Eigenschaf104 Mühlmann : Jesus überlistet Darwin, 79. Mühlmann begründet die Memoaktivität durch die menschlichen Gehirnfunktionen und resümiert lakonisch : »Wenn ein Leser dieses kleinen Buchs, durch seine neuen Erkenntnisse ermutigt, eine Religion gründen will, die frei von Grausamkeit ist, sei es bei Opferritualen, sei es bei Gründungsereignissen, so wird ein anderer Leser, der eine Religion mit Grausamkeit gründet, in der Evolution obsiegen, einfach weil der Grausamkeitsanteil durch seine Amygdala-Stimulation größere Memoaktivität und damit größere Stabilität im transgenerationalen Gedächtnis erreicht.« (79) Mühlmann erklärt auf diese Weise auch, warum das Christentum eine so erfolgreiche Religion ist, obwohl es sich auf ein einmaliges historisches Ereignis gründet : die Kreuzigung. »Die historische Kreuzigungsszene enthielt alle Stimuli, die auch im Tieropfer enthalten waren, allerdings in verstärkter Form. Denn es handelte sich um die Tötung eines Menschen, der von den Zeugen, die bei der Hinrichtung anwesend waren, als Vorbild anerkannt wurde. Der Vorbildcharakter des Geschehens aktivierte die Hippocampi der Umstehenden, denn der Hippocampus ist die wichtigste Eingangsschleuse zum Langzeitgedächtnis, auch weil er besonders auf Relevanz und Neuheit reagiert. Die Tötung durch Kreuzigung erzeugt einen Todeskampf, der weitaus qualvoller ist als das langsame Verbluten eines Stiers. Das emphatische Mitgefühl der Zeugen wird dabei in höchstem Maße stimuliert. Dadurch wird eine äußerst starke Aktivierung der Amygdala hervorgerufen. Die gleichzeitige Stimulierung von Amygdala und Hippocampus löst einen intensiven Lernvorgang aus. […] Dieses Memoaktivitätsarrangement hatte die höchst mögliche Stärke.« (75 f.). 105 Friedrich Nietzsche : Zur Genealogie der Moral. In : Ders.: Sämtliche Werke. Studienausgabe in fünfzehn Bänden. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 5. München 1980, 295. 106 Eine Übersicht neurowissenchaftlicher Untersuchungen zum Thema Gewalt und Gedächtnis bringt Thomas Grunwald in seiner Einleitung Kognitive Module und Modulare Prozesse. Ein Vorwort zu Heiner Mühlmanns Jesus überlistet Darwin. Wien/New York 2006. 107 S. zu dieser Entwicklung auch Christoph Türcke : Vom Kainszeichen zum Genetischen Code. Kritische Theorie der Schrift. München 2013, Kap. 2 : Von der sakralen zur profanen Schrift. Im Folgenden : Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code.
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ten aufweisen. Memoaktivität bedeutet : Ein kulturelles Ritual oder Artefakt verfügt über endogene Eigenschaften, die die Merkfähigkeit erhöhen. MSC-Ereignisse sind von höchster Memoaktivität, und Opferrituale sind echte MSC-Ereignisse.108
Auch die erlittene Gewalt ist etwas, das das Opfer transformiert, indem sie immer zweierlei trifft : den Körper und die Psyche des Menschen : Gewalt ist eine verwandelnde Kraft. Sie macht den Menschen zur Kreatur, zu einem schreienden Angstbündel, zu schmerzendem Fleisch. In der physischen Zerstörung liegt die Substanz aller Gewalt. Aber das ist nicht alles. Der Körper ist nicht ein Teil des Menschen, sondern dessen konstitutionelles Zentrum. Daher trifft die Verletzung zugleich Seele und Geist, das Selbst und die soziale Existenzweise.109
Nicht nur die am eigenen Leib erfahrene Gewalt gräbt sich in die Erinnerung des Menschen ein, auch drastische Darstellungen von Folter, Mord oder Opferungen, die intensive Gefühle wie Angst oder Ekel hervorrufen, bleiben im Gedächtnis. Gewalt muss als uranfängliches Prinzip begriffen werden. So beschreibt es auch Thomas Hobbes in seinem Leviathan (1651), wenn er den Naturzustand des Menschen als Zustand des Krieges aller gegen alle (bellum omnium contra omnes) definiert. Für Hobbes liegt die Ursache der Gewalt in der prinzipiellen Gleichheit der Menschen, so dass jeder in der Lage ist, dem anderen in gleichem Maße Schaden zuzufügen, wie es auch ihm selber geschehen könnte. »Aus Gleichheit [aber] entsteht Unsicherheit und aus Unsicherheit entsteht Krieg.«110 Denn wenn zwei Menschen nach dem gleichen Ziel streben, also in Konkurrenz zueinander treten, kommt es, nach Hobbes, unweigerlich zu Konflikten. Und so lebt der Mensch in ständiger Unsicherheit und Sorge um Leib und Leben. Nun tendiert der Mensch aber, trotz seiner prinzipiellen Gleichheit, zu Eitelkeit und Ruhmsucht111, was ihn im Falle der Konkurrenz zu Gewalt und Unterdrückung 108 Mühlmann : Jesus überlistet Darwin, 39. »Enkultivierung« bedeutet die »Übertragung von Kulturellen Merkmalen«, ebd., 33 ; MSC-Ereignisse sind ›Maximal Stress Cooperations‹, vgl. ebd. 37, zur Maximal-Stress-Cooperation-These vgl. auch ebd.: MSC Maximal Stress Cooperation. The Driving Force of Cultures. Wien 2005 und ebd.: Die Natur der Kulturen. Versuch einer kulturgenetischen Theorie. München 2011 (erweiterte Auflage des 1996 in Wien erschienenen gleichnamigen Bandes). 109 Sofsky : Traktat, 66. 110 Hobbes : Leviathan, 104. 111 Nach Thomas Hobbes (vgl. Leviathan, 13) ist es die Natur des Menschen, die zwangsläufig zu Gewalt führen muss : »So liegen also in der menschlichen Natur drei hauptsächliche Konfliktsursachen [sic !] : Erstens Konkurrenz, zweitens Mißtrauen, drittens Ruhmsucht.« (Hobbes : Leviathan, 95) »Mißtrauen« hier im Sinne von Lat. defensio, Abwehr.
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des Anderen treibt. Die Lösung hierfür sieht Hobbes in einer Macht, die mächtiger ist als der Einzelne oder die locker verbundene Gruppe, und zwar in der staatlichen Macht112 : »Außerhalb von Staatswesen herrscht immer ein Krieg eines jeden gegen jeden. Hierdurch wird offenbar, daß sich die Menschen, solange sie ohne eine öffentliche Macht sind, die sie alle in Schrecken hält, in jenem Zustand befinden, den man Krieg nennt […].«113 »Die öffentliche Macht«, »die alle in Schrecken« hält, kulminiert schließlich im Souverän, dem Leviathan. An ihn geben die Menschen per Vertrag ihre Macht ab und müssen sich somit nicht mehr vor ihren Mitmenschen fürchten, sondern nur noch vor der Strafe des Souveräns. Individuelle Freiheit wird somit gegen Sicherheit eingetauscht. Und diese Sicherheit ist nur durch einen strafenden Gewaltapparat zu gewährleisten : »Verträge ohne Schwert sind bloße Worte und besitzen nicht die Kraft, einem Menschen auch nur die geringste Sicherheit zu bieten.«114 In diesem Sinne sieht auch Niklas Luhmann die Funktion von Gewalt in einem Rechtssystem : »Politik und Recht [sind] nur möglich […], wenn sie zu ihrer Durchsetzung auf physische Gewalt zurückgreifen und Gegengewalt wirksam ausschließen können.«115 Der Staat, und mit ihm sein Rechtsapparat, werden also benötigt, um Gewalt zu unterbinden, sind aber für die Durchsetzung des Rechts mitunter selber auf Gewalt angewiesen und wurden auch nur ins Leben gerufen, um einen ursprünglichen Zustand der Gewalt zu beenden. Dem Rechtssystem ist also Gewalt inhärent, es wird stets von innen heraus bedroht116 : »Gewalt ist das im Staat eingeschlossene Ausgeschlossene der Neuzeit.«117 112 »Der Mythos vom kriegerischen Ursprung stilisiert und plausibilisiert zugleich den notwendigen Übergang von einer ungeordneten und chaotischen Frühe zu einer kalkulierbaren politischen Ordnung.« (Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 13). 113 Hobbes : Leviathan, 104. 114 Ebd., 140. Vgl. hierzu Hannah Arendt : Macht und Gewalt. München/Zürich 232013, 9, die Hobbes’ Diagnose auch für die Gegenwart reklamiert. 115 Niklas Luhmann : Rechtszwang und politische Gewalt. In : Ausdifferenzierung des Rechts. Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, 154–172, 154. 116 Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 13 : »Der natürliche Krieg geht dem von der Vernunft gestifteten Staat voraus. Weil aber die kriegerischen Ursprungsbedingungen noch im vernunftgeordneten Staat fortwirken und stets mit ihrer Wiederkehr drohen – dies auch, da es sich bei Hobbes um eine sozialanthropologische Konstante handelt –, ist noch nach Errichtung des Staates der Krieg virulent. Der Krieg droht nicht nur in seinem Innern, sondern wird an seinen Rändern immer wieder auftauchen, da das ›Recht auf Gewalt‹, das jeder einzelne im ›wilden‹ Naturzustand besitzt, ›vertraglich‹ auf den Staatskörper übergeht und dieser nunmehr das ›Recht auf Gewalt‹ als Recht zur gewaltsamen Kontrolle der Ordnung ›nach innen‹ und zum kriegerischen Agieren ›nach außen‹ wahrnimmt.« 117 Norbert Bolz : Das konsumistische Manifest. München 2002, 47.
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Auch in der Bibel ist Gewalt ein uranfängliches Prinzip. Kaum ist der Mensch aus dem Paradies vertrieben worden, geschieht der erste Mord : Der Brudermord Kains an Abel, der aus Eifersucht auf den Gleichen verübt wird. Der Souverän, Gott, unterbindet hierauf die befürchtete Spirale der Gegengewalt durch Androhung einer noch viel gewaltigeren Strafe. Gottes Gesetze sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht kodifiziert und es existiert noch kein Gewaltmonopol, das über die Einhaltung der Gesetze wachen könnte.118 Und so ist die Rache das Mittel der Wahl. Darüber hinaus sieht Christoph Türcke im Kainszeichen die »sakralen Anfänge[ ]« der Schrift : Dieser »blutig-heilige[ ]«119 Akt macht deutlich, dass die erste Schrift, Gottes Kennzeichnung der Haut seines Geschöpfes, Verletzung bedeutet. Hierauf verweist auch der »ursprüngliche Bedeutungsradius sowohl des lateinischen Verbs scribere als auch des griechischen graphein oder des hebräischen katab« : »[e]inritzen, einkerben, einstechen.«120 Türcke verweist zudem darauf, dass auch der Name »Kain« (»qajin«) ›Spieß, Lanze‹ bedeutet [2. Samuel 21, 16, MA], und es wäre nach der Logik archaischer Namensgebung geradezu folgerichtig, wenn Kain nach dem Gerät hieße, das ihm sein Zeichen macht, ihn als Unverwechselbaren identifiziert.«121 Der eben erwähnte Begriff ›Gewaltmonopol‹ oder auch der Begriff ›Staatsgewalt‹ machen deutlich, dass der Ausdruck ›Gewalt‹ ebenso die Bedeutungen ›Ordnung‹ und ›Kontrolle‹ inkludiert.122 Wo Gewalt herrscht, herrscht Chaos, und das Chaos ist wiederum der Inbegriff des Ursprungs, denn am Ursprung herrscht Chaos, dessen der Mythos Herr zu werden versucht, indem er die Welt ordnet, gliedert und sie somit überschaubarer macht.123 Die Gewaltszenen im Roman, – ich werde die beiden drastischsten und für den Handlungsgang wichtigsten Szenen untersuchen : die Gewalt der Brüder gegen Joseph (Kap. 2.6) und die Gewalt der Brüder gegen die Bewohner Schekems (Kap. 2.7), – werden stets mit einem archaischen Rückfall assoziiert. Im Akt der Gewalt vollzieht 118 Diese Aufgabe geht schließlich an den Staat über. 119 Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 10. 120 Ebd., 14. 121 Ebd., 20. Semiotisch gelesen ist das Kainszeichen für Türcke »der Signifikant par excellence«, aber nicht im Sinne Ferdinand de Saussures als »›unmotivierte[es]‹« Zeichen, »›d. h. [als] beliebig im Verhältnis zum Bezeichneten [stehend], mit welchem es in Wirklichkeit keinerlei natürliche Zusammengehörigkeit hat.‹« (Ebd., 39, vgl. auch 42) Der Signifikant par excellence »ist das Motivierte schlechthin.« (43). 122 Vgl. Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 23 f. 123 »In jedem Falle geht es der mythischen Weltauslegung um Differenzierung der einen übermächtigen Gewalt in eine Menge von jeweils begrenzten Einzelgewalten […].« (Frank : Der kommende Gott, 63.)
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sich ein regressives Eintauchen in den Mythos124, das zugleich legitimierend125 für die Täter wirkt. Die Bewohner Schekems, oder vielmehr diejenigen, die nach dem Gemetzel noch übrig sind, überhöhen die Tat dann wiederum mythisch, was eine Erklärung dafür sein könnte, dass in der biblischen Vorlage dann vom mordenden Gott die Rede ist. Das Töten erscheint so unbegreiflich grausam, dass in ihm eine höhere Macht als die schlichte niedere Aggression des Menschen vermutet wird. Auch für Joseph wird sich der Gewaltakt gegen ihn als bedeutend erweisen, weil er ihn achtsamer und klüger im Umgang mit seiner Umwelt werden lässt, indem er lernt, im richtigen Moment zu schweigen. Auch einen Akt der Rechtsetzung und Rechtsprechung schildert der Roman, und zwar im fünften Hauptstück des vierten Bandes überschrieben mit Thamar. Diesem Hauptstück widmet sich ausführlich Kapitel 2.8, denn der Akt der Rechtsetzung wird entscheidend für die erfolgreiche Stammeslinie Judas, des Segensträgers, sein. In Bezug auf die Novelle enthüllt sich dann in drängender Prägnanz die nicht zu lösende Verschlingung von Chaos, Gewalt, Ordnung und Gesetz. Moses Ordnungsliebe entspringt dem Chaos seiner Abstammung und seiner eigenen Gewalttätigkeit, die ihm die Notwendigkeit aufzeigt, einen Rechtsapparat zu errichten, hinter dem – durchaus im Hobbes’schen Sinne – ein effektiver Strafap-
124 Ruben wird im Roman von Jaakob »Vaterschänder« und »Chaosdrache« (GW IV, 86) genannt, wenn er mit der Frau Jaakobs, der Magd Bilha, »[ ]scherzt« (GW IV, 85). Der Chaosdrache ist aber auch Tiamat, der von dem babylonischen Schöpfergott Mardug besiegt wird. Beide Götter werden u. a. im Kap. Wie Abraham Gott entdeckte (GW IV, 2. Hauptstück) erwähnt. Auch hier bedeutet Schöpfung den gewaltsamen Sieg über das Chaos. In der Bibel heißt es »Israel hörte davon.« (1. Mose 35, 21) Dass hier Jaakob mit Israel bezeichnet wird, zeigt die Auswirkungen, die die Bilha-Episode für den Stamm hat. Sie ist nicht bloß eine Angelegenheit zwischen Vater und Sohn, sondern hat für den ganzen Stamm Bedeutung, weil es Ruben vom Segen ausschließt. Ruben bringt also Chaos in die Familie, indem er mit der falschen Frau schläft. (Zu Mardug und Tiamat s. auch Thomas Manns Essay Die Einheit des Menschengeistes, 302 und Kurzke : Mondwanderungen, 96 : »Mardug ist in der altbabylonischen Sagenwelt der Heilsbringer, der den Chaosdrachen Tiamat besiegt. Er ist insofern ein typologisches Vorbild für Joseph, während Tiamat für die Welt des Bösen und der sexuellen Unordnung steht. Zu Mardug gehört der Mond als Sinnbild für Tod (Neumond) und Auferstehung, zu Tiamat die Sonne, denn mit ihr verbinden sich die Vorstellungen von Wüste und Feuer.« Die Vorstellung »Wüste und Feuer« gehört auch in den Bedeutungskreis Moses, der die Offenbarung empfängt.). 125 So bedeuten auch die vertraglichen Regelungen, die die Jaakobsleute zu Friedenszwecken mit Schekem schließen, für die Brüder nichts, sie berufen sich vordergründig auf verletztes göttliches Recht.
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parat steht.126 Es geht also um eine »Straf- und Disziplinargewalt«, in deren Zentrum »Befehl und Gehorsam« stehen.127 Das Wesen des Gesetzes ist dabei die Unterscheidung.128 Es teilt in ein I nnen und ein Außen, ein Gut und Böse. Gesetze schaffen durch Unterscheidung aber in gewisser Hinsicht auch Gleichheit129, weil sie für alle die gleichen Regeln festlegen. Wenn für alle die gleichen Regeln und Verbote gelten, wird eine moralische Identität gestiftet, an der alle teilhaben (müssen). Die Teilhabe am Gesetz, und somit an einer bestimmten Gruppe, kann also identitätsstiftend wirken, indem sie ein Zugehörigkeitsgefühl schafft, aber eben auch das Gegenteil 126 Mose eint unter den zahlreichen Sittengesetzen, die er installiert, das Volk, d. h., er lässt hierdurch erst ein Volksgebilde entstehen. Im Sinne Walter Benjamins Studie Zur Kritik der Gewalt übt er damit »rechtsetzende Gewalt« aus, sein Rechtsapparat steht dann für die »rechtserhaltene Gewalt«. Benjamin lehnt dabei beide Formen dieser Gewalt zugunsten der schicksalhaft »göttlichen Gewalt« ab, die rechtsvernichtende Gewalt ausübt und entsühnen kann : »Verwerflich aber ist alle mythische Gewalt, die rechtsetzende, welche die schaltende genannt werden darf. Verwerflich auch die rechtserhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr dient. Die göttliche Gewalt, welche Insignium und Siegel niemals Mittel heiliger Vollstreckung ist, mag die waltende heißen.« (203) Das Recht lässt sich bei Walter Benjamin grundsätzlich nicht ohne Gewalt denken. »Wie in allen Bereichen dem Mythos Gott, so tritt der mythischen Gewalt die göttliche entgegen. Und zwar bezeichnet sie zu ihr den Gegensatz in allen Stücken. Ist die mythische Gewalt rechtsetzend, so die göttliche rechtsvernichtend, setzt jene Grenzen, so vernichtet diese grenzenlos, ist die mythische verschuldend und sühnend zugleich, so die göttliche entsühnend, ist jene drohend, so diese schlagend, jene blutig, so diese auf unblutige Weise letal. Der Niobesage mag als Exempel dieser Gewalt Gottes Gericht an der Rotte Korah gegenübertreten. Es trifft Bevorrechtete, Leviten, trifft sie unangekündigt, ohne Drohung, schlagend und macht nicht Halt vor der Vernichtung. Aber es ist zugleich eben in ihr entsühnend und ein tiefer Zusammenhang zwischen dem unblutigen und entsühnenden Charakter dieser Gewalt nicht zu verkennen.« (199) Benjamin geht es in dieser göttlichen Gewalt um eine Gewalt, die nicht mehr über das bloße Leben, symbolisiert im Blut, um ihrer selbst richtet, sondern darum, dass »die göttliche reine Gewalt über alles Leben um des Lebendigen willen [richtet]. Die erste fordert Opfer, die zweite nimmt sie an.« (200) Göttliche Gewalt ist also die »reine« Gewalt, die Gewalt ›an sich‹, die den Konnex von Recht und Gewalt aufhebt und mit ›Zorn Gottes‹ übersetzt werden könnte. Hier wäre auch eine Entsprechung zur Willkür der göttlichen Erwählung zu sehen, die, allein durch die Tatsache ihres göttlichen Ursprungs, jeder Letztbegründung entbehren darf. Und auch der Machtaspekt eines transzendenten, allumfassenden Gottes wird hier deutlich, denn nur der Zorn des prinzipiell nicht erreichbaren, nicht durchschaubaren Gottes, kann den Menschen jederzeit treffen. 127 Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 139. 128 »Im ganzen bildet der Prozeß der Ausdifferenzierung das Fundament dessen, was die positive Überwindung des Chaos meint : die Setzung von Identität und Konstruktion von Ordnung ; ja, das Unterscheiden des Einen vom Anderen ist bereits an ihm selber ein Identifizieren und elementares Ordnen.« (Angehrn : Überwindung, 170). 129 Gesetze regeln immer die »Teilhabe [an einer Ordnung, einem System] unter Gleichen« (Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 141).
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bedeuten : »Sich Gesetzen ganz und gar zu verweigern, bedeutet daher zunächst auch nicht mehr und nicht weniger, als die Teilhabe an Gemeinschaft überhaupt abzuweisen.«130 Die Problematik der Unterscheidung liegt jedoch darin, dass sie in letzter Konsequenz auf Willkür beruht, also ein Legitimationsdefizit besitzt, dem wiederum die Gewalt entgegenwirken soll : »Auch das Gesetz, das die Repräsentanten zum Wohle aller erlassen, gründet zuletzt auf einem Akt der Willkür, einem Akt des Setzens. Und Dauergeltung erlangt das Gesetz nur, indem es tatsächlich durchgesetzt wird, immerzu, im Notfall mit Gewalt.«131 Doch nicht nur dem Gesetz ist die Unterscheidung, das Trennen inhärent, die Unterscheidung ist im Grunde der Beginn von allem, sie ist das Prinzip der Schöpfung : »Da schied Gott das Licht von der Finsternis und nannte das Licht Tag und die Finsternis Nacht. […] Und Gott sprach : Es werde eine Feste zwischen den Wassern, und die sei ein Unterschied zwischen den Wassern. Da machte Gott die Feste und schied das Wasser unter der Feste von dem Wasser über der Feste.«132 Emil Angehrn betont in diesem Zusammenhang, dass das Prinzip der Trennung gemeinsames Gut zahlreicher Mythen ist133 : »Von ho130 Ebd., 142. 131 Sofsky : Traktat, 14. Sofsky sieht Ordnung grundsätzlich als einen Prozess der Gewalt an, der Kategorisierungen schafft, gegen die Ambivalenz arbeitet und schließlich auf die »vollständige Eliminierung der Freiheit [zielt].« (21) Gesetze schaffen nach Sofsky eine unendliche Spirale von neuen Regeln und Verordnungen : »Ein Gesetz folgte dem anderen, eine Verordnung der nächsten. Endlos war dieses Werk der Regeln. Denn jede Vorschrift rief neue Verstöße, jede Regel neue Ausnahmen hervor, die wiederum neue Regeln und neue Vorschriften nach sich zogen. Wie die Fangarme eines Ungeheuers umklammerte die Ordnung das Leben.« (8). 132 1. Mose 1. »Vier Schöpfungstage sind wesentlich mit Teilung befaßt«. (Angehrn : Überwindung, 166) Vgl. auch ebd., 160 : »Der Kosmos entsteht durch Trennungen der Seinsregionen, Auseinanderhalten der Richtungen, Unterscheidung der Gestalten […].« 133 Etwa der griechische Schöpfungsmythos um Gaia und Uranos, in welchem sich Gewalt als das uranfängliche Prinzip der Trennung erweist (vgl. ebd., 163 ff.). Uranos (der Himmel) hasst seine Kinder, die er mit Gaia (der Erde) in ihrer ursprünglich ununterscheidbaren Verschlingung zeugt. Er will seine Kinder in der Erde verborgen halten und sie nicht an das Licht lassen. »Die Ursünde ist der tyrannische Machtanspruch, der exklusive Besitzanspruch des Ursprungs über seine Abkömmlinge. […] Das erste Verbrechen ist die Unterbindung der Zukunft ; die erste, rudimentäre Selbstbehauptung ist die Entmachtung des Ursprungs. Die mythische Figur ist der Vatermord oder, so in Hesiods Erzählung, der [sic !] Vater-Kastration. […] Dieser Gewaltakt hat für den kosmischen Fortgang entscheidende Konsequenzen. Aus ihm resultiert die endgültige Trennung von Himmel und Erde. Beide werden sich fürderhin nicht mehr verbinden und weitere Nachkommen hervorbringen. Der Himmel bleibt von der Erde entfernt, zwischen beiden tut sich der offene Raum auf, in dem Leben Form annimmt und sich weiterpflanzt. Daß die Trennung in einem solchen Akt roher Gewalt zustande kommt […], zeugt von dem mächtigen Widerstand, der zu brechen ist, damit Leben und Gestalt sich entfalten können. […] Die Einsetzung der kosmi-
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her Ausdruckskraft sind Schöpfungstexte verschiedenster Kulturen, die von der Trennung zwischen Himmel und Erde erzählen. Sie erscheint als Urtrennung schlechthin, die in einem weltweit verbreiteten Mythologem tradiert wird.«134 Zu Beginn herrscht stets das Chaos, das »Tohu und Bohu« (GW IV, 18)135 ; durch das Trennen und Ordnen, das eine Unterscheidung voraussetzt, entsteht Welt. Das Prinzip der Unterscheidung haben also Schöpfungsmythos und die Gründungsakte der Gesetzgebung gemeinsam. Gesetze partizipieren damit am Ursprung und lassen sich somit schließlich durch das göttliche Prinzip der Unterscheidung legitimieren. Zu betonen ist, dass durch das Trennen des im Chaos Ununterscheidbaren nicht etwa etwas ursprünglich Zusammengehöriges auseinandergerissen wird. »Die Schöpfungstat wird nicht dadurch gemindert, daß sie nur Trennung eines scheinbar Vorgegeben ist.«136 Der Schöpfergott kreiert […] ex nihilio, indem er zuallererst die allumfassende Finsternis durch die Scheidung von Licht und Dunkel ersetzt. Das Chaos (tohuwabohu), aus dem heraus die Entstehung geschieht, ist nicht ein Stoff des Herstellens, welcher der ›Schöpfung aus dem Nichts‹ widerspräche, sondern vielmehr die negative Umschreibung derselben. […] Die Urspaltung, die sich auftut, ist nicht die zwischen definierten Gestalten – die sich erst im Kosmos auseinanderhalten lassen –, sondern die zwischen der Ungeschiedenheit und der Trennung von Gestalt und Nichtgestalt : die Differenz von Identität und Nichtidentität. Durch die ursprüngliche Trennung wird nicht zweierlei Seiendes auseinandergehalten, sondern erst Seiendes konstituiert : Die Trennung ist ursprüngliche Konstitution, Konstitution vollzieht sich als Differenzierung und Bestimmung ; Sein ist Bestimmtheit.137
schen Ordnung scheint ihren Gang über ein ursprüngliches Verbrechen nehmen zu müssen, sie ist von vornherein mit der Erblast einer Schuld behaftet.« (164 f.) Auch in der ägyptischen Kosmologie ist die Erschaffung von Welt durch das Trennen eine gängige Denkfigur. »Die Trennung von Wasser und Land gehört zu den zentralen Schöpfungsvorstellungen, als erstes Auftauchen des Erdhügels inmitten der Urgewässer (mit dem Erfahrungshintergrund des wiederkehrenden Auftauchens des Landes aus dem Nil oder der Scheidung zwischen Wüste und Kulturboden als schroffer ›Demarkationslinie zwischen Leben und Leblosigkeit‹).« (Ebd., 168 ; Angehrn zitiert hier Henri Frankfort u. a.: Alter Orient – Mythos und Wirklichkeit. Stuttgart 21981, 37 f.). 134 Angehrn : Überwindung, 162. 135 Der hebräische Ausdruck »Tohuwabohu« ( )והבו והתwird meist mit »wüst und leer« (1. Mose 1, 2) übersetzt. 136 Angehrn : Überwindung, 167. 137 Ebd.
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Zum Schluss dieses Kapitels möchte ich noch auf die besondere Bedeutung eingehen, die dem Begriff ›Gesetz‹ im Kontext des Alten Testaments zukommt. Was genau meint die Bezeichnung ›Gesetz‹ ? Sind hiermit die Zehn Gebote im 2. Buch Mose (Exodus) gemeint ? Zählen hierzu auch die weiteren zahlreichen rechtlichen Bestimmungen, die sich an 2. Mose 20, 2–17 (Dekalog) anschließen und nahezu jeden Bereich des täglichen Lebens rechtlich reglementieren ? Oder lässt sich der im Singular verwendete Begriff noch weiter fassen ? Auffällig ist, dass das Neue Testament bereits den Pentateuch, also die ersten fünf Bücher Mose als »das Gesetz« bezeichnet.138 »Der Grund dieser Benennung kann nur die Auffassung gewesen sein, daß ›das Gesetz‹ das sachliche Zentrum und den Hauptinhalt des Pentateuch darstelle.«139 Da der Pentateuch mit der Genesis, dem Exodus, dem Buch Leviticus und Numeri sowie dem Deuteronomium die entscheidenden Gründungsereignisse des Judentums140 schildert, lag es nahe, das gesamte Alte Testament als ›das Gesetz‹ aufzufassen. Hieraus ergibt sich der Eindruck, »daß die Religion des Alten Testaments in der Erfüllung des Gesetzes sich im wesentlichen erschöpfe und daß der Gott des Alten Testaments in erster Linie als Geber und Hüter des Gesetzes zu verehren sei.«141 Und in der »›Vorrede auf das Alte Testament‹«, erstmals 1523 in deutscher Sprache formuliert, heißt es : »›So wisse nun, daß dies Buch [das Alte Testament] ein Gesetzbuch ist, das da lehret, was man tun und lassen soll. Und daneben anzeigt Exempel und Geschichten, wie solche Gesetze gehalten oder übertreten sind.‹«142 Das Gesetz hat also doppelte Bedeutung : Es ist zum einen der Dekalog, der bündig dem Menschen Verhaltensregeln auferlegt, das Gesetz ist aber zum anderen auch die Lehre Gottes in toto, wie sie das Alte Testament transportiert und beispielhaft zu verdeutlichen sucht. Während die Zehn Gebote durch ihren klaren Imperativ unmissverständlich mitteilen, was dem Menschen nicht erlaubt ist, bedarf die Lehre Gottes insgesamt noch der Auslegung. 138 Vgl. Martin Noth : Die Gesetze im Pentateuch. Ihre Voraussetzungen und ihr Sinn. Halle 1940. Im Folgenden : Noth : Die Gesetze. Vgl. Gal. 4,21, Luk. 24,44. Auch Martin Luther fasste den Dekalog »gern als Inbegriff des Inhalts des Alten Testaments auf.« (Ebd., 51). 139 Ebd., 49. 140 Mit Einschränkung natürlich auch die Gründungsereignisse des Christentums, wobei hier wohl die Kreuzigung als das Gründungsereignis zu bezeichnen ist. 141 Noth : Die Gesetze, 50. Im Folgenden geht Noth auf diese Bedeutungsverengung des Alten Testaments oder, je nach Perspektive, auf die Bedeutungserweiterung des Dekalogs kritisch ein, dies kann an dieser Stelle jedoch vernachlässigt werden, da es mir auf die Bibeltradition ankommt und nicht darauf, ob diese Deutung dem Alten Testament in seinem theologischen Gehalt gerecht wird. 142 Ebd.
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Wenn in Bezug auf Roman und Novelle von ›Gesetz‹ die Rede ist, meine ich hiermit zunächst das Gesetz im Rechtssinne, also »die von einer hierzu befugten Rechtsautorität durch Satzung erzeugte Vorschrift für menschliches Verhalten«143. Hierunter subsumiere ich auch die Zehn Gebote und die Sittenvorschriften, die Mose erlässt. In einem zweiten Schritt wird dann zu klären sein, ob auch der ›weite‹ Gesetzesbegriff auf Thomas Manns alttestamentarisches Werk anwendbar ist. 1.2.3 Sprache und Schrift
Der Sprache und der Schrift144 kommen in Roman und Novelle wichtige Funktionen zu, da sie Entwicklungslinien der Figuren aufzeigen, die wiederum kulturhistorische Prozesse spiegeln. Im Josephroman wird die primär orale Kultur145 der Urväter der bereits weitgehend literarisierten Gesellschaft Ägyptens gegenübergestellt. Joseph, sich hierin von seinen Ahnen unterscheidend, partizipiert durch seine ›schulische‹ Bildung an beiden Sphären. Er erweist sich als äußerst sprachbegabt und beherrscht verschiedene Schriftsprachen bis zur Perfektion. Zudem unterstreicht die wohlgeformte anspielungsreiche Rede, derer sich Joseph bedient, um sein Gegenüber »stutzen« (GW IV, 883) zu lassen, seine außergewöhnliche Schönheit.146 Mose hingegen ist, aufgrund seiner Abstammung und Erziehung, »so recht in keiner Sprache zu Hause« (GW VIII, 817). Seine mangelhaften rhetorischen Fähigkeiten, seine ›Sprachverwirrung‹, trägt jedoch dazu bei, dass er das Machtpotenzial einer universalen Schrift erkennt, die kulturübergreifend leicht zu erlernen ist.147 143 Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hrsg. v. Joachim Ritter. Darmstadt 1974, Bd. 3, Sp. 480 (Lemma ›Gesetz‹). Im Folgenden : Ritter : Historisches Wörterbuch, Bd. 3 bzw. Ritter/Gründer : Historisches Wörterbuch, Bd. 8. 144 Ich verstehe ›Schrift‹ im engeren Sinne von Sprach- und Textschrift und nicht im Sinne Jaques Derridas als »Notationssystem« (164), das den Menschen von Anfang an begleitet und somit genuin zu ihm gehört. S. Jaques Derrida : Grammatologie. Frankfurt a. M. 1983, vor allem : 130–170 ; Ritter/Gründer : Historisches Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 1417 (Lemma ›Schrift‹). 145 D. i. »Kulturen ohne Schriftkenntnis« (Walter J. Ong.: Oralität und Literalität. Die Technologisierung des Wortes. Opladen 1987, 9). 146 Vgl. Anja Schwennsen : Mythische Rede in der Literatur. Mit Analysen zu Thomas Manns ›Joseph und seine Brüder‹ und Marcel Prousts ›À la recherche du temps perdu‹. Würzburg 2015, 149 [zugl. Hamburg, Univ., Diss] (= Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft, Bd. 845). 147 Ein kurzer Abriss der Sozialisation und Erziehung der beiden Protagonisten in den Kap. 2.2 und 3.1 schildert die Aneignung von Sprache und Schrift.
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Im Folgenden soll es zunächst um einige Aspekte des funktionalen Unterschieds von Sprache und Schrift gehen, die für Roman und Novelle relevant sind. Ich konzentriere mich hierbei auf die Rolle des Individuums bzw. Körpers in oralen und literalen Kulturen und auf den Macht- und Ordnungsaspekt, der der Schrift zukommt. Direkte Bezüge zu Roman und Novelle sollen diese Aspekte verdeutlichen. In oralen Kulturen ist das Gedächtnis, das Erinnern und die Übermittlung von Inhalten an den Körper gebunden und somit, wie Jan Assmann es nennt, »identitätskonkret«148. Um das kulturelle Gedächtnis149 einer Gemeinschaft zu erhalten und weiterzugeben, bedarf es bestimmter Mnemotechniken, etwa des Gesangs oder der regelmäßig rituell durchgeführten Handlungen150 in der Gruppe. Das Gedächtnis ist so auch immer in einen »sozialen Bezugsrahmen«151 eingebettet. »Wir erinnern nicht nur, was wir von anderen erfahren, sondern auch, was uns andere erzählen und was uns von anderen als bedeutsam bestätigt und zurückgespiegelt wird. Vor allem erleben wir bereits im Hinblick auf andere, im Kontext sozial vorgegebener Rahmen der Bedeutsamkeit.«152 Durch die Errungenschaft der Schrift wird das Wissen nach außen verlagert, auf ein Medium außerhalb des Körpers : Wort und Gedanke sind von der mündlichen Verlautbarung, von der Präsenz der Sprecher und Zuhörer unabhängig. Der Sinn erlangt Dauerhaftigkeit, der Inhalt gewinnt Eigengewicht und kann ohne Rücksicht auf den Autor überprüft und überliefert wer148 Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 39. 149 Eine knappe Definition des »kulturellen Gedächtnisses« bietet Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 69 f.: »Die Theorie des kulturellen Gedächtnisses beruht auf der Annahme, daß es noch eine dritte Dimension des Gedächtnisses gibt. Das verkörperte Gedächtnis existiert in uns und nirgendwo sonst. Das interaktive oder kommunikative Gedächtnis existiert sowohl in uns als auch außerhalb von uns, aber nicht außerhalb verkörperter Gedächtnisse oder sich erinnernder Menschen. Das kulturelle Gedächtnis dagegen existiert nicht nur in uns und in anderen sich erinnernden Personen, sondern auch in Dingen wie Texten, Bildern und Handlungen. […] [Es ist] die Tradition in uns, für die über Generationen, in jahrhunderte-, ja jahrtausendelanger Wiederholung gehärteten Texte, Bilder und Riten, die unser Zeit- und Geschichtsbewußtsein, unser Selbst- und Weltbild prägen.« Hier ist jedoch kritisch anzumerken, dass auch das kulturelle Gedächtnis, das in Dingen bewahrt wird, letztendlich einer Person bedarf, die die Bedeutung der Dinge erinnert und versteht. 150 S. auch meine Ausführungen zum Fest in Kap. 2.2.1. 151 Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 35. Assmann greift hier die These von Maurice Halbwachs, der »sozialen Bedingtheit des Gedächtnisses« (ebd.) auf. Vgl. Maurice Halbwachs : Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen. Frankfurt 1985. 152 Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 36.
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den. Das Gesprochene ist seiner Vergänglichkeit enthoben. Was geschrieben und gedruckt ist, gehört der Welt auf ewige Zeiten, Glaube und Wissen, Befehl und Gesetz erlangen durch die Schrift Dauergeltung, Autorität.153
Schrift »ermöglicht nach der Befreiung vom Wiederholungszwang der rituellen Kommunikation die reflexive Haltung zur Tradition und führt durch schlagartige Ausweitung des Gedächtnisses zu einer veränderten Struktur des Wissens, zu einer neuartigen ›noetischen Ökonomie‹«.154 Die Schrift arbeitet also gegen die rituelle Wiederholung, die Kern des Mythos ist, und steht somit für eine neue Form der Welterkenntnis und -aneignung. Sie wird so »zu einem der aufschlußreichsten Gradmesser für den Stand menschlicher Entwicklung«155. Die Bedeutung der Schrift in Bezug auf die Wahrnehmung von ›Welt‹ wird deutlich, wenn man sie dem mythischen Denken gegenüberstellt : »Sie [die Schrift] macht […] einen Unterschied. Den nämlich zwischen Sein und Bedeuten, Sein und Sinn, Sein und Wert. Mit der Schrift wird auch der Geist erfunden, so wie Hegel ihn versteht, wie er sich herauswindet aus der Natur.«156 Hegel hat als Grundlage der ägyptischen Hieroglyphe »das sinnliche Bild«157 gesehen, welches dem Buchstaben in seiner Abstraktion vorausgeht. Das sinnliche Zeichen wird also in der Schriftgeschichte schließlich durch das abstrakte alphabetische Zeichen ersetzt.158 Die Schrift hat zudem auch einen stark ord153 Sofsky : Traktat, 201. 154 Ritter/Gründer : Historisches Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 1417. Zur »neotischen Ökonomie« vgl. auch : Klaus E. Müller : Der Ursprung der Geschichte. In : Jan Assmann/Klaus E. Müller : Der Ursprung der Geschichte. Archaische Kulturen, das Alte Ägypten und das Frühe Griechenland. Stuttgart 2005, 57. 155 Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 11. 156 Pott : Kurze Geschichte, 10. Vgl. auch Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 9 : »Schrift ist ein Anthropologicum.« Auf die ursprüngliche Einheit von Sprache und Wirklichkeit, die sich im Schöpfungsakt Gottes durch das Wort zeigt, weist Ulrich Welbers : Religiöse Semantik. Eine sprachphilosophische Grundlegung. Paderborn 2014, 118 hin : »Wenn ›Gott sprach : Es werde Licht. Und es wurde Licht‹, fällt hier nicht der Akt des Wollens mit dem des Seins aneinander, sondern die Sprache mit dem der Wirklichkeit zusammen. Die eigentliche Wirklichkeitsstiftung ist Sprache. […] Man kann sich in sprachreflexiver Hinsicht zu Beginn der Bibel kaum ein eindrucksvolleres Fanal vorstellen als die Proklamation Gottes als einem Sprachkonstitutionsakt.« (Im Folgenden : Welbers : Religiöse Semantik). 157 G.W.F Hegel : Vorlesungen über die Philosopie der Geschichte. In : Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Hrsg. v. Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel, Bd. 12. Frankfurt a. M. 1970, 246. 158 Innerhalb der Geschichte der Schrift kommt dem alphabetischen Schriftsystem eine radikale »›Disziplinierung‹ des Geistes« zu. (Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 259. Assmann verwendet den Begriff ›Disziplinierung‹ hier in Anlehnung an Eric Havelock. Diese Entwicklung bezieht sich auf die griechische Schriftkultur.).
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nenden Charakter, der besonders im wirtschaftlichen Bereich159 in Bezug auf Listen über Warenbestände unmittelbar deutlich wird : Der Besitz (Signifikat), und somit auch Macht, wird durch das Geschriebene (Signifikant) auch ortsentbunden für Dritte sichtbar gemacht. Die Schrift als Zeichen von Besitz und somit Macht spielt auch in der Urbanisierung eine wichtige Rolle, diese Macht beurteilt Claude Lévi-Strauss äußerst kritisch : Das einzige Phänomen, das sie [die Schrift] immer begleitet hat, ist die Gründung von Städten und Reichen, das heißt die Integration einer großen Zahl von Individuen in ein politisches System sowie ihre Hierarchisierung in Kasten und Klassen. Dies ist jedenfalls die typische Entwicklung, die man von Ägypten bis China in dem Augenblick beobachten kann, da die Schrift ihren Einzug hält : sie scheint die Ausbeutung von Menschen zu begünstigen, lange bevor sie ihren Geist erleuchtet. […] Wenn meine Hypothese stimmt, müssen wir annehmen, daß die primäre Funktion der schriftlichen Kommunikation darin besteht, die Versklavung zu erleichtern. Die Verwendung der Schrift zu uneigennützigen Zwecken, daß heißt im Dienst intellektueller und ästhetischer Befriedigung, ist ein sekundäres Ereignis, wenn nicht gar nur ein Mittel, um das andere zu verstärken, zu rechtfertigen oder zu verschleiern.160
Im Roman ist für Ägypten die Schrift, anders als in der Welt der Väter, ein Bestandteil des täglichen Lebens. Ägypten bedarf der Schrift, weil es bereits staatliche und wirtschaftliche Strukturen ausgebildet hat, und das große Reich verwaltet werden muss.161 Hier wird Buch geführt und das Geschriebene archiviert. Die Schrift ist ein hochgeschätztes Kulturgut und wird zum Wert an sich 159 »Die Schrift gehört ihrem Ursprung nach ins Gebiet der Wirtschaft.« ( Jamme : Gott an hat ein Gewand, 188). Anders Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 59, der zu bedenken gibt, dass Schrift zunächst sakralen Zwecken diente. So sieht er in den »Vasen, Amulette[n], Statuetten der Donaukultur des sechsten Jahrtausends« eine »Beschwichtigungspraxis« für die Götter. »Sie sind mit regelmäßigen Ritzungen versehen und gewinnen in der Geschichtsforschung zunehmend das Ansehen, die ältesten Schriftdokumente zu sein : Beweise dafür, daß Schrift zum Zweck der Beschwörung göttlicher Mächte in sakralen Zusammenhängen erfunden wurde und nicht erst in Mesopotamien zu profanen ökonomischen Zwecken.« 160 Claude Lévi-Strauss : Schreibstunde. In : Sandro Zanetti : Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. Berlin 2012, 35–48, 42 ; im Folgenden : Lévi-Strauss : Schreibstunde. 161 »Kulturelle Entwicklungen [werden] dort vorangetrieben, [wo] der Aufbau einer straffen staatlichen Organisation« erfolgt. (Harald Haarmann : Geschichte der Schrift. München 2002, 29. Vgl. auch Ritter/Gründer : Historisches Wörterbuch, Bd. 8, Sp. 1417 : »Wie die Sprache das Leben in Gemeinschaft, so fundiert die Schr[ift] das Leben in Staaten, d. h. großräumigen Organisationsformen politischer Herrschaft […].«).
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stilisiert162, sie hat praktischen Nutzen, aber auch ästhetischen Wert. Diese hohe Wertschätzung der Schrift kommt dem schriftkundigen Joseph zugute. Bereits dem alten Ismaeliter fällt Joseph durch seine Bildung auf : »›Trifft es zu oder nicht, daß du schreiben kannst und kannst Listen führen über allerlei Waren ?‹ ›Spielend leicht‹, antwortete Joseph.« (GW IV, 672 f.) Für den alten Kaufmann, der den Überblick über seine Waren behalten muss, erweist sich Josephs Können von praktischem Nutzen, und so beschließt der Alte, ein solches Talent nicht an irgendeinen Hof zu verkaufen, sondern an einen einflussreichen, an dem derlei Fertigkeiten hohe Wertschätzung erfahren. Ganz Kaufmann, ahnt er, dass ihm Joseph, der zu Höherem bestimmt ist, eine erhebliche Summe einbringen wird. In Ägypten, an Potiphars Hof angekommen, qualifiziert Joseph sein rhetorisches und schriftliches Können dann auch schnell zu höheren Aufgaben und bewahrt ihn vor der Feldfron und weiteren niederen Tätigkeiten im Hause des Herrn.163 Mont-kaw, der väterliche Hausvogt, den Joseph nach seinem Tod in dieser Funktion beerben wird, erkennt Josephs Talente : »›Wer da reden kann vor dem Herrn [Hervorhebung M. A.] wie du, und wem sich derart die feinen Gedanken fügen nebst ihren Worten, der soll nicht gebückt sitzen übers einzelne, sondern soll zwischendurch wandeln an meiner Seite. Denn im Worte und nicht in der Hand ist Herrschaft und Überblick.‹«164 (GW IV, 902) Josephs Wissen im Bereich der Buchführung lässt ihn schließlich zum Herrn des Überblicks165 aufsteigen, seine Bildung ermöglicht ihm den Zugang zu einer Elite, der ihm sonst verschlossen geblieben wäre. Er bringt, wenn auch vorläufig nur auf dem Papier, 162 Etwas »Geschriebenes« muss die Reisetruppe um den alten Ismaeliter vorweisen, damit sie in Ägypten einreisen darf : »Nur darauf kommt es an, daß man etwas Geschriebenes vorweisen kann und die Leute Ägyptens wieder etwas haben und können’s irgendwohin schicken, daß es geschrieben werde abermals und diene der Buchführung. Freilich, ohne Schriftliches kommst du nicht durch, kannst du aber eine Scherbe vorweisen oder eine Rolle und Urkunde, so hellen sie sich auf. Denn sie sagen wohl, Amun sei ihnen der Höchste oder Usir, der Sitz des Auges ; aber ich kenne sie besser, im Grunde ist’s Tut [Thot], der Schreiber.« (GW IV, 710). 163 Auch im Gefängnis Zawi-Rê, wo er auf den schriftstellerisch ambitionierten Gefängnisaufseher Mai-Sachme trifft, muss Joseph keine niederen Tätigkeiten verrichten. 164 Durch den auffälligen Gebrauch von »Herr« in Bezug auf Potiphar wird das Schema deutlich, das Joseph verinnerlicht hat : Gott zu dienen, heißt immer auch, dem Nächsthöchsten in seiner Umgebung zu dienen. So kann Joseph nicht vor dem höchsten Herrn stehen und sprechen, aber zumindest vor dem Höchsten am Hofe. Vgl. auch GW IV, 670 wenn Joseph mit den Worten »›[z]um Herrn sollst du kommen‹« aufgefordert wird, zum alten Ismaeliter zu kommen, der Joseph an den Hof Potiphars bringt. 165 Vgl., GW IV, 903 : »›Gut‹, sagte er [Mont-kaw] Geh denn und reinige dich zum Leib- und Lesedienst des Herrn [Potiphar]. Wenn er dich aber entläßt, so komm zu mir, daß ich dich einführe in des Hauses Wirtschaft und dich lehre den Überblick !‹«.
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die Besitztümer Potiphars unter sich und macht sie gleichzeitig portabel und für jedermann sichtbar. Hier erweist sich ein wichtiger Machtaspekt der Schrift ; das schreibkundige Individuum setzt sich von der Masse ab und wird über diese gesetzt : »Der Schreiber ist selten ein Beamter oder ein Angestellter der Gruppe : seine Wissenschaft verleiht ihm Macht, so daß er häufig nicht nur die Funktion des Schreibers, sondern auch die des Wucherers ausübt, nicht nur weil er, um seinem Gewerbe nachzugehen, lesen und schreiben können muß, sondern weil er damit in doppelter Hinsicht jemand ist, der Macht über die anderen hat.«166 Josephs Vater Jaakob167 repräsentiert im Roman dagegen die Sphäre der Oralität168, er ist ganz der mündlichen Tradition verhaftet, hier ist sein Einfluss- und Wirkungsbereich.169 Die Schrift symbolisiert für ihn das Ende einer langen Tradition, durch das seine Position als Stammvater, der das kulturelle Gedächtnis in sich trägt und weitergibt, gefährdet wird. Dieser empfundene Traditionsverlust sowie die Marginalisierung der eigenen Gedächtnisleistung – was einer empfindlichen Schwächung der eigenen Person gleichkommt170 – manifestiert sich für Jaakob in Ägyptens Vorliebe für die Schrift und das Geschriebene. Er fühlt sich also ganz persönlich durch die schriftfreundliche Fremde in seiner patriarchalen Eitelkeit gekränkt und bedroht. In diesem Kontext ist auch das hohe Alter der Stammväter als Kriterium für Wertschätzung zu betrachten, denn es besteht stets die Gefahr, dass eine Botschaft mit dem Tod ihres Trägers verloren geht.171 166 Lévi-Strauss : Schreibstunde, 40. 167 Vgl. Assmann : Zitathaftes Leben, 141. 168 Christoph Jamme unterscheidet das Mythische vom Mythos. Das Mythische sei an die Sprache gebunden, bedürfe aber nicht der Schrift, anders der Mythos, der an die Schrift gebunden sei. Vgl. Jamme : Gott an hat ein Gewand, bes. Kap. III : Mythos zwischen Sprache und Schrift. Nach Jammes Unterscheidung wäre Jaakob dem Mythischen zuzuordnen und Joseph dem Mythos. »Mit der Geschichte beginnt die Schrift, andererseits beginnt mit der Schrift die Geschichte, und mit der Entstehung eines schriftlichen Bewußtseins endet die schriftlose Vorgeschichte, endet – zwar nicht der Mythos, aber das Mythische.« (Ebd., 192). 169 S. das »schöne Gespräch«, das Jaakob mit Joseph führt, sowie die Weitergabe des kulturellen Gedächtnisses an Thamar, was sich als unentbehrlicher Faktor für die Genealogie des Stammes erweist. 170 Vgl. Luc Brisson : Einführung in die Philosophie des Mythos. Bd. 1 : Antike, Mittelalter, Renaissance. Darmstadt 1996, 22 : »In einer oralen Kultur ist das Abfassen einer Botschaft von ihrer Weitergabe nicht zu trennen, während diese beiden Sphären sich in einer Schriftkultur deutlich voneinander abheben.« Im Folgenden : Brisson : Einführung. Vgl. auch Sofsky : Traktat, 201 : »Einmal aufgezeichnet, muß sie [die Geschichte] nicht mehr von Generation zu Generation weitererzählt werden. So ist die Schrift zugleich Substrat und Sinnbild kultureller Unsterblichkeit.« 171 Vgl. Brisson : Einführung, 22 : »In einer Schriftkultur können Botschaften unabhängig von Indi-
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Stand der Forschung und Methodik
Für Thomas Manns Mose hat die Lautschrift auf der einen Seite einen stark kompensatorischen Charakter, indem sie die Sprache bestmöglich ›ersetzt‹ : »Die Zertrümmerung der Sprache durch das Alphabet, das durch semantische und phonetische Einheiten hindurchstößt, ermöglicht eine Reorganisation von Elementen, die dann dem Duktus gesprochener Sprache näher kommt als alle anderen Notationssysteme.«172 Auf das Zergliedern und Neuordnen der Sprache durch Mose wird in Kapitel 3.6.3 eingegangen. Auf der anderen Seite erweist sich die Schrift für Mose als ungeheures Machtmittel, durch das er seine Gebote schriftlich fixiert, also kodifiziert und somit für alle Zeiten unabwandelbar und bindend festschreibt. Schrift markiert also einen Fortschritt in der »Gesittung«, sie ist Ausdruck des Geistes und auf die Zukunft gerichtet. Schrift bedeutet für Roman und Erzählung neben dem Kommunikations- vor allem ein Machtmittel und ist eng mit der Karriere der Protagonisten verwoben. Dennoch haben auch orale Mnemotechniken wie Gesang und die rituelle Wiederholung im Fest weiterhin ihre Berechtigung, da sie, anders als die Schrift, das Vergangene, den Mythos leiblich erfahrbar machen und das ehrbare Gefühl, sich in einer langen Tradition oder Genealogie zu befinden, stärken. Zudem sei noch betont, dass gerade die biblische Vorlage besonders geeignet scheint, die Entwicklung von der mündlichen zur schriftlichen Tradierung zu illustrieren : Der biblische Text als ein »zu einem gewissen Zeitpunkt stillgestellter tausendjähriger Traditionsstrom«173 zeigt den Übergang von »ritueller« zu »textueller Kohärenz«174, indem er verschiedene (mündliche) Traditionen verknüpft und zusammenführt.
viduen aufbewahrt werden : Es genügt, wenn materielle Spuren auf materiellen Trägern haften. In einer oralen Kultur hingegen ist die Aufbewahrung von Botschaften an Individuen gebunden. Folglich erscheint das hohe Alter eines Individuums als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für die Breite seines Wissens.« 172 Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 260. 173 Ebd., 92, Anm. 6. 174 Ebd., 89.
2. Textanalyse : Joseph und seine Brüder 2.1 Thomas Manns Gottesbild : Von Gottes und des Menschen Eifer Um sich dem Gottesbild und damit auch dem Menschenbild in Roman und Erzählung zu nähern, bietet sich das Kapitel Wie Abraham Gott entdeckte aus dem zweiten Band der Tetralogie exemplarisch an.1 Das Kapitel zeigt in nuce den Prozess der Individualisierung, der an einen transzendenten Gott geknüpft ist und den der Erzähler beim Erzvater Abraham ansetzt und schließlich bis hin zu Joseph fortsetzt. Zentral ist hierbei der Gedanke des Bundes, der etwas völlig Neues beschließen soll. Der Bund Gottes mit dem in Abram, dem Wanderer, tätigen Menschengeist war ein Bund zum Endzwecke beidseitiger Heiligung, ein Bund, in welchem menschliche und göttliche Bedürftigkeit sich derart verschränkten, daß kaum zu sagen ist, von welcher Seite, der göttlichen oder der menschlichen, die erste Anstrengung zu solchem Zusammenwirken ausgegangen sei, ein Bund aber jedenfalls, in dessen Errichtung sich ausspricht, daß Gottes Heiligwerden und das des Menschen einen Doppelprozeß darstellen und auf das innigste aneinander ›gebunden‹ sind. […] Die Weisung Gottes an den Menschen : ›Sei heilig, wie ich es bin !‹ hat die Heiligwerdung des Menschen bereits zur Voraussetzung ; sie bedeutet eigentlich : ›Laß mich heilig werden in dir, und sei es dann auch !‹ […] Die Läuterung Gottes aus trüber Tücke zur Heiligkeit schließt, rückwirkend, diejenige des Menschen ein, in welchem sie sich nach Gottes dringlichem Wunsche vollzieht. (GW IV, 319 f.)
Betrachten wir zunächst die Voraussetzung für die Entdeckung Gottes : es ist der »tätige Menschengeist«, also eine Kraft, die im Menschen wirkt und nach Erkenntnis strebt. Und auch das Ziel eines solchen geistigen Prozesses wird genannt : die »Heiligwerdung« beider. Der Mensch, und mit ihm sein Gott, beeinflussen sich wechselseitig, treiben sich in ihrer Entwicklung an, und diese Entwicklung soll eine Entwicklung hin zum Heiligen sein. Der Bund ist jedoch 1 S. hierzu auch das Kap. Abraham entdeckt Gott : Der wechselseitige Bund und die ›Entdeckung‹ des Ich, in : die Verf. Mythos und Zeit, hier wird der Aspekt der Gottesentdeckung jedoch anders akzentuiert und weitergehend gedeutet.
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lediglich der Anfang eines Prozesses, der auf ein Ziel mit einem in der Zukunft liegenden finalen Zweck gerichtet ist. Hiermit steht der Bund mit einem werdenden Gott dem mythischen Bewusstsein von der ewigen Wiederholung entgegen. Der Faktor der linearen Zeit tritt in die Welt ein. Und Zeit bedeutet immer auch Verantwortung, das Bewusstsein, dass Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft formen. Abraham ist der Erste, der das mythische Schema in Frage stellt, der seinen Geist auf die Zukunft richtet und der sucht. Dieses Suchen ist ein Suchen in der Welt, ein Betrachten und Erschließen der Welt und die Frage nach der Stellung des Menschen in dieser, die mit großer Anstrengung verbunden ist : Die Entdeckung war auf sehr mühsamem, ja qualvollem Wege vor sich gegangen ; Urvater hatte sich nicht wenig gegrämt. Und zwar war sein Mühen und Trachten von einer gerade ihm eigentümlichen Vorstellung bestimmt und getrieben gewesen : der Vorstellung, daß es höchst wichtig sei, wem oder welchem Dinge der Mensch diene. […] Urvater hatte diese Frage unbedingt wichtig genommen, wem der Mensch dienen solle, und seine merkwürdige Antwort darauf war gewesen : ›Dem Höchsten allein.‹ (GW IV, 425)
Die Entscheidung Abrahams, zu dienen und zwar ausschließlich dem Höchsten zu dienen, bedeutet, dass er sich in Bezug zu einer Größe setzt, die außerhalb seiner selbst liegt und über allem steht. Gleichzeitig setzt der Entschluss, dem Höchsten zu dienen, eine außerordentliche Wertschätzung der eigenen Person voraus, ein »Selbstgefühl, das man fast hoffärtig und überhitzt hätte nennen können.« (Ebd.) Und höchst humorvoll heißt es weiter : »Der Mann hätte mögen zu sich selber sagen : ›Was bin und tauge ich weiter und in mir der Mensch ! Es genügt, daß ich irgendeinem Elchen oder Ab- und Untergott diene, es liegt nichts daran.‹ So hätte er es bequemer gehabt. Er aber sprach : ›Ich, Abram, und in mir der Mensch, darf ausschließlich dem Höchsten dienen.‹ Damit fing alles an.« (Ebd.) Die Definition Gottes als »der Höchste« spiegelt also das Selbstbild des Menschen. Abraham entdeckt Gott dabei buchstäblich nach dem Ausschlussverfahren, indem er der Reihe nach einen als anbetungswürdig erscheinenden Gegenstand nach dem anderen nach seiner Qualität zum »Höchsten« absucht und schließlich entdeckt, dass weder Erde noch Regen, Sonne noch Mond seiner Anbetung würdig sind und er nur dem dienen kann, der über sie alle gebietet. So entdeckt Abraham den einen2, geistigen, unsichtbaren und höchsten Gott. Und wohlge2 Aus der Tatsache heraus, dass Gott einzig ist, also alleine über die Welt herrscht und er ursprungs-
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merkt : Abraham entdeckt ihn – Gott offenbart sich Abraham nicht.3 Während »Offenbarungswahrheiten unhinterfragbar und unveränderbar«4 sind, ist Abrahams Erkenntnisakt ein prinzipiell offener und unter Umständen sogar falsifizierbarer. Aber wer hat nun wen ursprünglich erschaffen ? Der Erzähler gibt zu bedenken, dass Abirâm »mein Vater ist erhaben« heißt, aber eben auch : »Vater des Erhabenen« (GW IV, 428) und das mit einigem Recht, denn »gewissermaßen war Abraham Gottes Vater. Er hatte ihn erschaut und hervorgedacht, die mächtigen Eigenschaften, die er ihm zuschrieb, waren wohl Gottes ursprüngliches Eigentum, Abram war nicht ihr Erzeuger. Aber war er es nicht dennoch in einem gewissen Sinne, indem er sie erkannte, sie lehrte und denkend verwirklichte ?« (GW IV, 428) Ein Gott, der nicht erkannt wird, hat keine Existenz in der Welt, er ist also auf den Erkennenden angewiesen und bedarf daher des Bundes. Zweifelsohne durchläuft Abraham also einen Erkenntnisprozess, den er nur durchlaufen kann, weil er sich seiner selbst bewusstgeworden ist und sein Dasein wertschätzt. An Abrahams Suche nach dem Höchsten demonstriert Thomas Mann somit den »Anfang der Bewußtwerdung des Menschengeistes«5. Die Entdeckung Gottes hat die Entdeckung des Ichs zur Voraussetzung. Den frühen Prozess der Entlos ist, ergibt sich seine »lebendige[ ] Eifersucht« (GW V, 1135) : »Es gab von Gott keine Geschichten. Das war vielleicht sogar das Bemerkenswerteste : Der Mut, mit dem Abram Gottes Dasein von vornherein, ohne Umstände und Geschichten, hinstellte und aussprach, indem er ›Gott‹ sagte. Gott war nicht entstanden, nicht geboren worden von keinem Weibe. Es war auch neben ihm auf dem Throne kein Weib, keine Ischtar, Baalat und Gottesmutter. […] Er war allein, und das war ein Merkmal seiner Größe. Aber wie das Alleinsein des weib- und kinderlosen Gottes beitragen mochte zur Erklärung seiner großen Eifersucht auf seinen Bund mit den Menschen, so hing damit jedenfalls seine Geschichtenlosigkeit zusammen und daß es nichts von ihm zu erzählen gab.« (GW IV, 432) Dieser Gott ist ein ganz auf die Zukunft gerichtetes Prinzip. 3 Anders in der Bibel (1. Mose 17). Hier wird »ein Gespräch zwischen Abraham und Gott geführt. Gott spricht zu Abraham […]. Die Reaktion Abrahams ist ein Niederfallen […]. Das Gespräch ist also sehr einseitig ; das Ganze steht einer Rede Gottes nahe. Da diese Rede Gottes in der Hauptsache Verheißung enthält, könnte man Kap. 17 […] eine nachgeahmte Verheißungserzählung nennen.« (Claus Westermann : Genesis. Neukirchen-Vluyn 1981 (Biblischer Kommentar. Altes Testament. Hrsg. v. Siegfried Herrmann/Hans Walter Wolff, Bd. I.2, 306) ; im Folgenden : Westermann : Genesis. Abraham ist hier also der passiv Empfangende. Zudem steht in der Bibel vor allem »Mehrungsverheißung« (ebd., 307) im Vordergrund : »Und ich will meinen Bund zwischen mir und dir machen und ich will dich gar sehr mehren.« (1. Mose 17, 2). 4 Assmann : Exodus, 256. 5 Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk, 98. Auch bei dem Schriftsteller und Weggefährten Thomas Manns, Hermann Broch, steht der Begriff »Menschengeist« im Zentrum seiner Mythostheorie. (Broch : Die mythische Erbschaft der Dichtung. In : Die Neue Rundschau 56/57, 1945/46, Sonderausgabe zu Thomas Manns 70. Geburtstag, 68–76, 68).
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wicklung eines anthropozentrischen Welt- oder Gottesbildes, um Orientierung und Halt im Diesseits zu finden, beschreibt auch Türcke : Man lernt sich überhaupt nur in der Welt zurechtzufinden, indem man sie als ein Geflecht von Bedeutungen kennenzulernen versucht, von menschenähnlichen Intentionen, auf die man beschwörend einzuwirken trachtet. […] Die menschliche Selbst- und Weltwahrnehmung hatte zunächst einmal gar keine andere Chance, als von sich auf ihre Umgebung zu schließen, sich in ihre Umgebung gleichsam hineinzulegen, wenn sie sie als etwas Verständliches, Bedeutendes erfassen wollte.6
Der Mensch wird zum Schöpfer des Bedeutenden, des Höchsten, der von nun an über ihm steht und seine Ansprüche stellt. Der Mensch erzieht sich demnach selbst durch seine Gottes-Idee, indem er in sich den Drang zum Höchsten, zum Fortschrittlichen und Prozesshaften entdeckt. Dieser Drang zum Höchsten, der das Hinter-Sich-Lassen des Rückständigen und Überalterten beinhaltet, dieses »Lauschen auf den Weltgeist«, das ist das Humane. »Humanität meint die Idee des Menschen, das, was er möglicherweise sein kann […].«7 Die Suche des Menschen nach Gott ist also die Suche nach sich selbst, und so heißt es in Thomas Manns Essay Fragment über das Religiöse von 1931 : »Die Stellung des Menschen im Kosmos, sein Anfang, seine Herkunft, sein Ziel, das ist das große Geheimnis, und das religiöse Problem ist das humane Problem, die Frage des Menschen nach sich selbst.«8 Diese Frage, diese Suche nach sich selbst, wird im Bild des Wanderers Abraham anschaulich gemacht, dessen Drang nach räumlicher und geistiger Bewegung kommt auch im körper- und ortlosen Gott zum Ausdruck. Denn Gott ist »im Feuer, aber nicht das Feuer […] [er ist] der Raum der Welt, aber die Welt nicht sein Raum.« (GW IV, 431) Dieser Gott ist an keine feste Kultstätte mehr gebunden, er ist ein mobiler, transzendenter Gott. Er macht alle anderen Gottheiten überflüssig. Mit diesen Eigenschaften ist er kein leicht zu nehmender, beim Volk wenig populärer Gott – wie es Das Gesetz schließlich in letzter Konsequenz vorführt. Denn der mythisch-denkende Mensch war es gewohnt, seine Bitten, seinen Dank und seinen Zorn gleichsam auf mehrere Götter zu verteilen, 6 Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 178. 7 Reents : Schopenhauer-Rezeption, 196. 8 GW XI, 424. Vgl. auch die Grundannahme der Religionskritik Ludwig Feuerbachs, »daß das Geheimnis der Theologie die Anthropologie ist«. (Ludwig Feuerbach : Das Wesen des Christentums. Stuttgart 1974, 10 ; im Folgenden : Feuerbach : Das Wesen des Christentums. Vgl. auch Schwöbel : Die Religion des Zauberers, 122.).
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die durch ihre menschliche oder tierische Gestalt dem Menschen sehr nah und vertraut waren. Und so gibt Lot Abraham gegenüber bangend zu bedenken : ›Wenn aber dein Gott dich verläßt, so bist du ja ganz verlassen !‹ Worauf Abram erwidert hatte : ›Recht so, du sagst es. Dann kommt keine Verlassenheit im Himmel und auf Erden nach ihrem Umfang der meinen gleich, – sie ist vollkommen. Bedenke aber, daß, wenn ich Ihn versöhne und Er mein Schild ist, mir nichts mangeln kann und ich die Tore meiner Feinde besitzen werde !‹ (GW IV, 428)
Und dieser äußerst mächtige Gott ist zu allem Überfluss auch kein gütiger Gott ; oder, er ist es auch : Er ist das Gute und das Böse. Er »war der, von dem alles kam, das Gute und Böse, das Plötzliche und Grauenhafte sowohl wie das segenvoll Regelmäßige (GW IV, 427). Dass Gott beide Seiten in sich vereint, wird damit begründet, dass er im Schöpfungsprozess das Chaos besiegt und sich dessen Kraft einverleibt hat : Allein, wie ein Mann, der einen Feind erschlägt, wohl durch den Sieg dessen Eigenschaften den seinen hinzufügt, so hatte Gott, wie es schien, indem er das Chaosungeheur spaltete, dessen Wesen sich einverleibt und war vielleicht erst dadurch zur vollen Majestät seiner Lebendigkeit erwachsen. Der Kampf zwischen Licht und Finsternis, dem Guten und Bösen, dem Schrecknis und der Wohltat auf Erden, war nicht […] die Fortsetzung jenes Mardug-Kampfes gegen Tiamat ; auch die Finsternis, das Böse und das unberechenbar Schreckliche, auch das Erdbeben und der knisterne Blitz, der Heuschreckenschwarm, der die Sonne verdunkelte, die sieben bösen Winde, der Staub-Abubu, die Hornissen und die Schlangen waren von Gott, und hieß er der Herr der Seuchen, so darum, weil er zugleich ihr Sender war und ihr Arzt. Er war nicht das Gute, sondern das Ganze. Und er war heilig ! Heilig nicht vor Güte, sondern vor Lebendigkeit und Überlebendigkeit, heilig vor Majestät und Schrecklichkeit, unheimlich, gefährlich und tödlich, so daß ein Versehen, ein Fehler, eine leichte Unachtsamkeit im Verhalten zu Ihm entsetzliche Folgen haben konnte. (GW IV, 430 f.)
Dieser Gedanke – die Dialektik von Gut und Böse, Schuld und Unschuld, Recht und Unrecht, Gewalt und Frieden – durchzieht den Roman ebenso wie die Novelle und wird zu Beginn des vierten Bandes, Joseph, der Ernährer, im Vorspiel in oberen Rängen noch einmal pointiert ausgeführt : »Man brauchte nur an die Ausübung von Gnade und Barmherzigkeit, ans Richten und Rechten, an das Aufkommen von Verdienst und Schuld, von Lohn und Strafe zu denken – oder
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besser ganz einfach an die Entstehung des Guten, die mit der des Bösen verbunden war.« (GW V, 1281) Gott nimmt also Rache und übt Gewalt aus, er ist der eifernde Gott. Aber : Da er einen Bund mit den Menschen zur beidseitigen Heiligwerdung geschlossen hat, beinhaltet dieser Bund auch einen Prozess zunehmenden Gewaltverzichts. Deutlich wird dies etwa in Gottes Verzicht auf das Isaak-Opfer, in welchem das menschliche Opfer durch das Opfertier und schließlich nur noch durch ein Zeichen – etwa ein Tierfell – ersetzt wird. Gleichzeitig ist das Isaak-Opfer aber auch eine Demonstration der Willkür Gottes, denn dieses Opfer bleibt begründungslos, es gibt keine Anzeichen, dass eine gestörte Harmonie zwischen Gott und den Menschen wieder hergestellt werden soll : »Nach diesen Geschichten versuchte Gott Abraham und sprach zu ihm : Abraham ! Und er antwortete : Hier bin ich. Und er sprach : Nimm Isaak, deinen einzigen Sohn, den du lieb hast, und gehe hin in das Land Morija und opfere ihn daselbst zum Brandopfer auf einem Berge, den ich dir sagen werde.«9 Doch auf dieses Opfer wird bekanntermaßen schließlich verzichtet, mit dem Verzicht Gottes auf das Menschenopfer beginnt die von Rückschlägen gesäumte Entwicklung hin zum stellvertretenden Opfer. Eine Entwicklung hin zum Zeichen bedeutet aber einen »Fortschritt in der Geistigkeit«10 und der Gesittung. Und so tadelt die Romanfigur Abraham seinen aufbrausenden Gott, dass er – mit Blick auf die Taten Gottes in Sodom – »etwas milder werden muss« (GW IV, 429), damit die Welt weiterhin Bestand haben kann. Gott hüllt sich ob dieses Vorwurfs in »[w]ohlwollendes Schweigen« (GW IV, 429). Dieses Schweigen, also die Resonanzlosigkeit Gottes, wird aber nun gerade als »Ausdruck eines ungeheuren Faktums [gewertet], das sowohl dem Außensein Gottes wie auch gleichzeitig der Seelengröße Abrams angehörte, deren eigentlichstes Erzeugnis es vielleicht war : des Faktums, daß der Widerspruch einer Lebewelt, die gerecht sein sollte, in Gottes Größe selber lag […].« (GW IV, 429) Und Gottes Größe macht eben aus, dass er »das Ganze« ist, und das Ganze ist der Inbegriff des Heiligen. Der wechselseitige Bund, im Text auch als »Vertrag« (GW IV, 432) bezeichnet, verpflichtet beide Parteien darauf, an der gegenseitigen Heiligwerdung mitzuwir 9 1. Mose 22, 1–2. Die begründungslose Opferproblematik dieser Szene hat auch in der deutschen Geistesgeschichte immer wieder für Irritation gesorgt. Anthony Stephens hat für die deutsche Aufklärung darauf hingewiesen, dass sich »der Konflikt zwischen Religionskritik und biblischer Überlieferung [nirgends] hartnäckiger und gründlicher ausgetragen« hat als an diesen Versen des Alten Testaments. (Kleist : Sprache und Gewalt. Freiburg i. Br. 1999, 104). 10 Freud : Der Mann Moses, Kap. Fortschritt in der Geistigkeit. Durch den transzendenten Gott und das damit verbundene Bildverbot komme es zum »Triebverzicht«, der zur »Ethik« führe.
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ken. Durch den Bund werden also auf theologischer Ebene des erste Mal Imperative an den Menschen – und auch an Gott – formuliert, die dann über das rein Theologische hinausgehen und die praktische Lebensbewältigung betreffen. Auch Jan Assmann sieht in dem Bundesgedanken – unter diesem Aspekt jedoch erst den Bund am Berg Sinai – das zentrale Denkmodell des jüdischen Monotheismus, das etwas völlig Neues in die Welt bringt und Religion radikal neu denkt.11 Ein Vertrag schließt aber auch immer die Möglichkeit des Vertragsbruchs mit ein und somit wird der Mensch durch den Bundschluss in ein äußerst heikles Rechtsverhältnis zu Gott gesetzt. Der Mensch tritt der Welt und Gott gegenüber in eine Verantwortlichkeit, die es im zeitlosen Mythos noch nicht gegeben hat und die Gefahren für den Menschen in sich birgt. »Das war bemerkenswert : Durch Abraham und seinen Bund war etwas in die Welt gekommen, was zuvor nicht darin gewesen war und was die Völker nicht kannten : die verfluchte Möglichkeit des Bundesbruches, des Abfallens von Gott.« (GW IV, 432) Der Abfall von Gott bedeutet, wieder in das Vor-Geistige, den Mythos, zurückzufallen. Fassen wir zusammen : Die Erkenntnis Gottes hat ein Ich zur Voraussetzung, das Subjekt geworden ist und sich somit aus dem Kollektiv erhoben hat. In seinem Stolz fühlt es sich einzig dazu verpflichtet und berufen, dem Höchsten zu dienen. Und dieser Höchste duldet keine anderen Götter neben sich, er ist einzig, er ist das Ganze, vereint Gut und Böse in sich, er ist reiner, körperloser Geist. Schlagen wir nun den Bogen zu Abrahams Ur-Ur-Enkel Joseph. Der Stolz, der sich in Abraham geregt hat, ist auch der Stolz Josephs und damit die wichtigste Voraussetzung für sein Schaffen in Ägypten. Joseph kennt die Geschichte seines Urahnen Abraham sehr genau, sein Lehrer Eliezer berichtet sie ihm und »Joseph, so jung er war, begriff sehr wohl die Kühnheit und Seelenstärke, die in Urvaters Gottesbeschlüssen sich ausgedrückt hatten und vor der viele mit Grauen zurückgeschreckt waren, denen er sie hatte zumuten wollen.« (GW IV, 427) Besonders der Gedanke, »daß es höchst wichtig sei, wem oder welchem Dinge der Mensch diene«, erlangt für Josephs Lebensweg übergeordnete Bedeutung ; der Erzähler betont : »Das machte dem Joseph Eindruck, er verstand es sogleich, und zwar vor allem nach der Seite des Wichtignehmens. Um es vor Gott und den Menschen zu irgendwelcher Ansehnlichkeit und Bedeutung zu bringen, war es nötig, daß man die Dinge, oder wenigstens ein Ding – wichtig nahm.« (GW IV, 425) 11 Vgl.: Assmann : Exodus, 12 f. Vgl. hierzu auch Aleida Assmann : »Der Urknall der Modernisierung vollzog sich mit dem […] Auszug aus der Welt der polytheistischen Kulturen. (Aleida Assmann : Ist die Zeit aus den Fugen ? Aufstieg und Fall des Zeitregimes der Moderne. München 2013, 25).
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In der Joseph-Figur kommt das Individuum erzählerisch zu seiner stärksten Ausprägung, der Glaube an seine Besonderheit und daran, dass Gott mit ihm im Bunde steht, macht es Joseph möglich, eine bedeutende Geschichte aus seinem Leben zu machen. Mit schelmischem Witz, Klugheit und Weltoffenheit kann er so in der Fremde bestehen und die Bewunderung der Menschen gewinnen. Die große Kränkung, die ihm widerfährt, der Wurf in den Brunnen, erschüttert seinen Glauben an sich selbst nicht nachhaltig. Und so gelingt Joseph ein Lebenskunststück, das er zu Ehren Gottes und zu Ehren der Menschen inszeniert. Um hierfür die Voraussetzungen zu schaffen, bedarf es einer besonderen Erziehung des Knaben, um die es im folgenden Kapitel gehen soll. 2.2 Sozialisation und Ausbildung Josephs Für Josephs Erziehung und Sozialisation und damit auch für die Ausbildung seiner flexiblen Identität12, die sowohl eng mit der Aneignung des Fremden als auch mit dem Verinnerlichen des Eigenen verbunden ist, sind im Wesentlichen drei Eckpfeiler13 von Bedeutung : die affektive Aneignung des Fremden im Ritus des Festes, die Vergewisserung der eigenen Tradition im ›schönen Gespräch‹14 und die kognitive Aneignung des Fremden durch die Schrift.15 Im Folgenden werden die zwei Formen der Vermittlung mythischer Prägung, das Fest und das »schöne Gespräch« (GW IV, 116), nur kurz gestreift, da hier besonders die Bedeutung der Schrift für Joseph im Vordergrund stehen soll. 2.2.1 Das Fest und das »schöne Gespräch«
Der erste Eckpfeiler der Erziehung Josephs ist die rituelle Vermittlung des Mythos über das Fest16. Im Fest werden in regelmäßigen Abständen ritualisierte 12 Vgl. Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«, 26. 13 Die drei Eckpfeiler der Erziehung Josephs helfen ihm, die hermetische Welt der Väter zu verlassen. Denn Josephs Familie grenzt sich strikt von den umliegenden Völkern und Stämmen ab, deren Religion und Lebensweise sie als unterlegen empfinden. Vgl. hierzu ausführlich : Julia Schöll : Joseph im Exil, Kap. V, 1. (Konstruktion von Heimat). 14 Vgl. GW IV, Kap. Zwiegesang, 114–120. 15 Vgl. die ausführliche Darstellung in die Verf.: Mythos und Zeit, hier genügen daher einige wenige zentrale Aspekte. Vgl. auch : Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 53–61. 16 Als ›Fest‹ ist hier zu verstehen : Eine »multimediale[ ] Inszenierung […], die den sprachlichen Text unablösbar einbettet in Stimme, Körper, Mimik, Gestik, Tanz, Rhythmus und rituelle Handlung.« (Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 56 f.). »[R]ituelle Wiederholungen des Schöpfungsgesche-
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Handlungen vollzogen, die durch ihre stete Wiederholung des Immergleichen, die Zeit aufzuheben scheinen, und die Vergangenheit so zur Gegenwart bringen : Feste und Riten sorgen im Regelmaß ihrer Wiederkehr für die Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens und damit für die Reproduktion der kulturellen Identität. […] In der Festzeit oder ›Traumzeit‹ der großen Zusammenkünfte weitet sich der Horizont ins Kosmische, in die Zeit der Schöpfung, der Ursprünge und großen Umschwünge, die die Welt in der Urzeit hervorgebracht haben.17
Im Fest werden also ›Urszenen‹ erinnert und performativ nachvollzogen. Indem Joseph auch Feste der umliegenden Stämme beobachtet und nachahmt, wird ein Partizipieren am Anderen möglich und das Fremde so zum Eigenen. Besonders der babylonische Mythos um den schönen Gott Tammuz, der getötet und wieder zu neuem Leben erweckt wird, ist für Josephs Persönlichkeitskonstitution von großer Bedeutung. Die Szene der Tötung und der Wiederauferstehung wird im alljährlichen Tammuz-Fest mit der immer gleichen tiefempfundenen Trauer und anschließenden unbändigen Freude zelebriert. Auf die Bedeutung des Tammuz-Festes wird im Kapitel Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum ausführlich eingegangen, wenn es darum geht, Josephs Gefühl des Auserwähltseins zu verdeutlichen. An dieser Stelle soll es genügen, zu betonen, dass Tammuz für Joseph als Identifikationsfigur dient, die für sein Dasein sinnstiftend wirkt. Der zweite Eckpfeiler der Sozialisation Josephs betrifft seine eigene Kultur. Thomas Mann hat das Motiv des rituellen mündlichen Erinnerns in Form des »schöne[n] Gespräch[s]« in seinen Roman integriert. Dieser Ritus hat eine solch übergeordnete Bedeutung für die Gruppe, da das Volk Israel noch der mündlichen Tradition verhaftet ist und auf die Mnemotechnik der ritualisierten mündlichen Wiederholung angewiesen ist. Im »schönen Gespräch«, das Jaakob mit seinem Sohn Joseph zelebriert, wird kein neues Wissen transportiert, sondern das eigene Vergangene, bereits Bekannte wird zeremoniell erinnert. Joseph verstand, daß das Gespräch ›schön‹ werden sollte, ein ›Schönes Gespräch‹, das hieß : ein solches, das nicht mehr dem nützlichen Austausch diente und der Verständigung über praktische oder geistliche Fragen, sondern der bloßen Aufführung und
hens« stellen »Ursprungsnähe« her, die »die Gegenwart mit ihrem Grund« zusammenschließen. (Angehrn, Überwindung, 180). 17 Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 57.
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Aussagung des beiderseits Bekannten, der Erinnerung, Bestätigung und Erbauung, und ein redender Wechselsang war […]. (GW IV, 116)
Das schöne Gespräch ist also eine Art Kunst, ein Gesang, der das kulturelle Gedächtnis des Stammes Israel konstituiert und transportiert und bei dem es um mehr als das bloße ›Auffrischen‹ von Wissen geht : [D]ie mythische Erinnerung als Wiederholung […] will nicht einfach ein Ereignis, das zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit stattgefunden hat, ver-gegenwärtigen, es als Gewesenes im gegenwärtigen Bewußtsein […] re-präsentieren. Vielmehr wird das Urgeschehen als aktuales Geschehen erlebt, die ursprüngliche Stiftung als ein hier und heute wirksamer Akt begangen […].18
Auch im »schönen Gespräch« wird also, wie im rituellen Fest, das Vergangene gegenwärtig. Die Erfahrung wird hier jedoch nicht über spielerische Nachahmung erlangt, sondern über die ritualisierte Wechselrede der kulturell Eingeweihten. Das Gespräch stiftet somit auch ein Gefühl der Zugehörigkeit zum Stamm, und bedeutet eine Abgrenzung gegenüber anderen Stämmen. Es geht also darum, das eigene Vergangene erfahrbar zu machen und die eigene Herkunft nicht nur zu erinnern, sondern emotional zu erleben. Für Josephs Lebensweg bedeutet dies, dass er seine Wurzeln, seine Tradition und Kultur kennt und verinnerlicht hat. Die Rückbindung an das eigene Vergangene festigt seine Identität und seine geistige Zugehörigkeit zu seinem Stamm. Das Wissen um die Geschichte(n) seiner bedeutenden Väter stärkt sein Bewusstsein, Teil eines elitären, mit Gott besonders verbundenen Volks zu sein.19 Er weiß, wo er herkommt, aber er weiß eben hierdurch auch, dass er von diesen Geschichten, von dem Familienschema abweichen muss, wenn er sich abheben und Neues gestalten will. »›Das ist aber der Vorteil der späten Tage, daß wir die Kreisläufe
18 Angehrn : Überwindung, 66. 19 In der Fremde erzählt Joseph dann selber die Gründungsmythen, die er gehört und verinnerlicht hat, so etwa seinem Gönner am Hofe Potiphars, dem Zwerg Gottliebchen, dem das Gehörte sehr zu gefallen scheint : »Erzähle mir [Gottliebchen] auch einmal wieder die Geschichte von der Schlange im Baum und wie der Unangenehme den Angenehmen erschlug und die vom Kistenschiff des vorschauenden Mannes ! Auch die Geschichte vom verwehrten Opfer des Knaben hörte ich gern noch einmal, sowie die von dem Glatten, den die Mutter rauh machte mit Fellen und der im Dunkeln die Unrechte erkannte !« (GW IV, 847).
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schon kennen, in denen die Welt abrollt, und die Geschichten, in denen sie sich zuträgt und die die Väter begründeten.‹« (GW IV, 106)20 Die späten Tage ermöglichen es Joseph schließlich auch, ein Schriftkundiger zu werden. Dass er die Schrift so spielend leicht zu beherrschen lernt, ist eng mit seinem kreativen Vermögen und seiner weltoffenen Bereitschaft, Neues anzunehmen und Neues hervorzubringen, verbunden. So verweist die Schrift bereits auf eine Entwicklung hin zum gestalterisch Neuen und weg von der mythischen Wiederholung. Denn während »der (mündliche) Mythos eine Form der Weltmodellierung und Welterklärung darstellt, ist die (schriftliche) Literatur eine Form der Weltveränderung, der Erschließung alternativer Welten im Medium der Fiktion.«21 2.2.2 Der Unterricht
Während Jaakob die mündliche Tradierung repräsentiert, ist seinem Sohn, wie bereits gezeigt wurde, die Schrift zugeordnet. Joseph erhält im Auftrag Jaakobs eine anspruchsvolle schulische Ausbildung ; sein Lehrmeister ist Eliezer, der »Älteste[ ] Knecht« (GW IV, 419). In Joseph findet Eliezer einen äußerst begabten und wissbegierigen Schüler, auf dessen Ausbildung Jaakob besonderen Wert legt, und der als einziger unter den zwölf Brüdern diesen umfassenden Unterricht erhält. Joseph hebt sich von seinen Brüdern also vor allem auch durch Bildung ab.22 20 Das Gespräch wird als Lied inszeniert. 21 Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 36. 22 Vgl. GW IV, 398 : »Die Arbeit nun aber, die Joseph mit den Brüdern auf Feld und Weide leistete, tat er nicht alle Tage, – man darf sie nicht ernst nehmen. […] Jaakob, der Vater, gönnte ihm viel freie Zeit zu höheren Beschäftigungen […]. Er saß mit dem alten Eliezer unter dem Gottesbaum […] und trieb die Wissenschaft.« (GW IV, 398 f.) Die Tatsache, dass Joseph sich durch seinen Unterricht von den Brüdern absondert, bringt diese gegen ihn auf : »›Sie, da kommt er [ Joseph] geschlendert, der Laffe mit Tintenfingern, und hat Steine gelesen von vor der Flut ! […] Ach, käme es nur auf unsere Lust an, ihn zu verprügeln, er sollte nicht leer ausgehen, wie es nun leider geschehen muß von wegen der Furcht Jaakobs !‹« (GW IV, 409) Auch in Thomas Manns letztem vollendeten Roman Der Erwählte (1951) wird der Protagonist Gregorius, das erwählte Findelkind, im Gegensatz zu seinen ›Geschwistern‹, schulisch gebildet, er lernt im Kloster lesen und schreiben. Auch hier entfremdet sich der Außergewöhnliche dadurch noch mehr von den ›Geschwistern‹, bis es schließlich zum »Faustschlag« zwischen den ungleichen ›Brüdern‹ Flann und Gregorius kommt. Die Schrift spielt auch in Gregorius’ Leben eine entscheidende Rolle, denn Ziel seiner Bildung ist es zunächst, Lesen zu lernen und so die Bewandtnisse seiner Herkunft von der Tafel seiner leiblichen Mutter ablesen zu können. (Vgl. GW VII, 56) Das Lesen dient hier also der Aufdeckung und schließlich der Aneignung (Gregorius liest die Worte auf der Tafel, die die Umstände seiner
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Eliezer ist in seiner Persönlichkeitskonstitution noch ganz der mythischen Sphäre verhaftet. So sieht er sich nicht als Individuum, sondern als Wiederverkörperung eines ›Ur-Eliezers‹23, der den Stamm schon immer begleitet hat. In jeder Generation gibt es am Hofe des Patriarchen, in einer immer gleichen archetypischen Abfolge, einen »Älteste[n] Knecht«, der »lese- und schreibkundig« ist, als Gedächtnis für das mythische Wissen fungiert und dieses vermittelt. Während die Stammväter allenfalls notdürftig das Lesen und Schreiben beherrschen und dieses rudimentäre Können ausschließlich zu Rechtszwecken, nämlich zur Vertragsunterzeichnung benötigen, fungiert der ›Eliezer-Typus‹ als Chronist. Joseph zeigt sich im Umgang mit der »Schreibkunst« (GW IV, 26) äußerst begabt, er vervollkommnet nicht nur sehr rasch seine rhetorischen Fähigkeiten, er übt sich auch in »babylonischer wie in phönizischer und chetitischer Schriftart.« (GW IV, 26) Und mehr noch : Joseph »hegte geradezu eine Vorliebe und Schwäche für den Gott oder Abgott […] : den ägyptischen Thot […], den Briefschreiber der Götter und Schutzherrn der Wissenschaft […].« (GW IV, 26 f.)24 All die »Ur-Schnurren und Histörchen, die Eliezer [ Joseph] schon in zartem Alter überlieferte« (GW IV, 400), schreibt der Schüler gewissenhaft auf, lernt sie auswendig und verinnerlicht sie. Ein konzentriertes Arbeiten, bei dem Joseph sehr gerade hocken [musste] unter dem Baum, die Knie gespreizt, und in seinem Schoße das Schreibzeug halten, die Tontafel, in die er mit dem Griffel keilförmige Zeichen grub, oder die geklebten Blätter aus Schilfgewebe, das geglättete Stück Schafoder Ziegenhaut, darauf er mit dem faserig zerkauten oder spitz zugeschnittenen Rohr Krähenfüße aneinanderreihte, indem er es in den roten und den schwarzen Napf seiner Tuschtafel tauchte. Abwechselnd schrieb er die Landes- und Menschenschrift, die zur Befestigung seiner täglichen Redeweise und Mundart taugte und in der sich Handelsbriefe und -aufstellungen nach phönizischem Muster am säuberlichsten zu Blatt bringen ließen, – und auch wieder die Gottesschrift, die amtlich-heilige von Babel, die
Geburt und Aussetzung schildern viele Male) der eigenen Identität. Die Schrifttafel ist Gregorius’ einzige Verbindung zur Vergangenheit. 23 »[E]s hatte ihn [Eliezer] immer gegeben an den Höfen von Abrahams geistlichem Familienstamm, und immer hat er dort die Rolle eines Hausvogts und Ersten Knechts gespielt […] er war eine Einrichtung […].« GW IV, 421 f. 24 Die Erwähnung der Schreibkunst Josephs mit dem Verweis auf Thot erfolgt zudem im Vorspiel Höllenfahrt, was seine Bedeutsamkeit für den Knaben betont. Zu Thot s. Bernd-Jürgen Fischer : Handbuch zu Thomas Manns ›Josephsromanen‹. Tübingen/Basel 2002, 387 : »Der Mondgott Thot […] wurde in ptolemäischer Zeit mit Hermes trismegistos identifiziert […].«
Sozialisation und Ausbildung Josephs
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Schrift des Gesetzes, der Lehre und der Mären, für die es den Ton gab und den Griffel. (GW IV, 407 f.)25
Diese kurze Passage gleicht einer gedrängten Kulturgeschichte der Schreibwerkzeuge. Joseph verwendet sowohl abtragende als auch auftragende Schreibwerkzeuge aus unterschiedlichen Zeit- und Kulturräumen : Die (sumerische) Keilschrift, bei der mit einem Keil oder Griffel Zeichen in den feuchten Ton geritzt wurden, findet ebenso Erwähnung, wie der schon früh in Ägypten gebräuchliche Papyrus und das aus gegerbter Tierhaut hergestellte Pergament, auf welches Farbe aufgetragen wurde.26 Ebenso vermag es Joseph spielend leicht, zwischen den unterschiedlichen Schriftzeichen hin und her zu wechseln. Je nach Kontext und Bedeutung des Inhalts wandelt Joseph das Medium Schrift also ab und übt sich im Gebrauch der unterschiedlichen Schriftarten und Schreibwerkzeuge. Die übergeordnete Bedeutung der Schrift macht der Erzähler noch einmal unmissverständlich deutlich : »Das Lesen und Schreiben war selbstverständlich die Grundlage von allem und begleitete alles ; denn es wäre sonst nur ein verwehendes Hörensagen und Wiedervergessenwerden gewesen unter den Menschen.« (GW IV, 407) Hier wird das Problem des Vergessens in einer oralen Kultur deutlich, dem die Mnemotechniken wie das »schöne Gespräch« und das Fest ja eigentlich vorbeugen sollen. Die Schrift wird nun als das effektivste und gleichsam präziseste Speichermedium vorgeführt. Die Bildung, die Jaakob Joseph angedeihen lässt und die auch »kaufmännische[ ] Berechnungen« (GW IV, 406) sowie astronomische und geografische Bestimmungen umfasst, ist auf die Zukunft gerichtet27, denn zum einen erfüllt sie den Zweck, dem Mythos das Rationale, Objektive entgegenzusetzen, sich in einer modernen Zeit, in der die Schrift langsam die mündliche Tradierung ablöst, zurechtzufinden. Zum anderen aber dient sie gerade der Bewahrung des Mythos, indem die Tradition vom Individuum gelöst wird und personenentbunden schriftlich tradiert und somit auch für spätere Zeiten zugänglich gemacht werden kann. In dem Kapitel Joseph tut Leib- und Lesedienst, im dritten Band der Tetralogie, wird die Spannung zwischen mündlicher und schriftlicher Tradierung anschaulich in Szene gesetzt. Während Joseph seinem Herrn Potiphar allabend25 In »tägliche Redeweise und Mundart« könnte ein Verweis auf Martin Luthers Bibelübersetzung zu sehen sein. 26 Zur Geschichte der Schreibwerkzeuge vgl. Jürg-Peter Huber : Griffel, Feder, Bildschrift. Eine Kulturgeschichte der Schreibgeräte. Stuttgart 1985. 27 »Die Zeiten änderten sich : bisher hatten Abrams geistige Erben Gelehrsamkeit nicht nötig gehabt, Jaakob für seine Person hatte sie nicht entbehrt.« (GW IV, 415).
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lich aus dem reichen Fundus an Literatur vorliest, wird beim Abendessen ein Abgesang auf die mündliche Tradition inszeniert : »In einem entfernten Winkel kauerte meist ein alter Harfenspieler, der mit dürren Krummfingern sacht in die Seiten griff und undeutliche Murmellieder sprach. Er war blind, wie es sich für einen Sänger gehörte, und konnte auch etwas weissagen, obwohl nur stockend und ungenau.« (GW V, 917) Der blinde, weissagende Seher der griechischen Sage wird zum funktionslosen Rudiment einer Gesellschaft, die ihre Unterhaltung und Zerstreuung in Büchern findet. Was bleibt, ist ein undeutliches Murmeln. Im Hause des Herrn dient die Literatur, die Joseph Potiphar vorliest, als reiner Eskapismus. Vor seinem Tagesgeschäft flüchtend, sehnt sich Potiphar fortwährend nach »der Beschaulichkeit seiner Bücherhalle […] – nach dem Geistigen in seiner Reinheit also, anstatt in seiner Angewandtheit.« (GW V, 1087) Als reiner Ästhet, dem alles Praktische, Weltliche – außer Speis und Trank – im Grunde fremd ist, flüchtet er sich in die Welt der Bücher, seine Passivität wird noch dadurch verdeutlicht, dass ihm vorgelesen wird. Weniger passiv gebärdet sich hier der Gefängniswärter Mai-Sache, der ebenfalls ein Liebhaber der Literatur ist, diese jedoch nicht bloß konsumiert, sondern aktiv produziert. Doch diese Tätigkeit, die vor allem der literarischen Verarbeitung einer unerfüllten Liebe dient, lenkt ihn von seinen administrativen Verpflichtungen ab, die er mehr und mehr vernachlässigt. Hier springt Joseph wiederum tatkräftig ein, der ein weiteres Mal seine Talente unter Beweis stellen kann. Erneut wird deutlich, dass Josephs umfassende Bildung eine wichtige Voraussetzung ist, um in seinem Exil Ägypten gesellschaftlich so weit aufsteigen zu können. Dass dies möglich wird, dass seine Akkulturation28 in Ägypten gelingt, ist der außergewöhnlichen Erziehung geschuldet, die Jaakob seinem Lieblingssohn angedeihen lässt. Denn obgleich Jaakob der Schrift äußerst skeptisch gegenübersteht und sie nicht als Teil seiner Welt ansieht, hat er dennoch so viel Gespür für kommende Notwendigkeiten, dass er sich sicher ist, dass es »[i]n Zukunft aber […] nützlich und wünschenswert sein [würde], daß der Gesegnete auch ein Studierter sei.« (GW IV, 415 f.)
28 Vgl. Schöll : Joseph im Exil, 303 ff.; s. auch Sybille Schneider-Philipp : Überall heimisch und nirgends. Thomas Mann – Spätwerk und Exil. Bonn 2001, 34.
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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2.3 Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum Im Traume traten zuerst […] die herrlichen Göttergestalten vor die Seelen der Menschen29
Josephs Bewusstsein seiner Erwählung wird nicht nur durch die exklusive Erziehung des Vaters bestärkt. Es sind vor allem Josephs Träume, die ihn an seine Erwählung glauben lassen. Im Sinne Nietzsches ist Josephs ausgesprochene ›Traumbegabung‹ dabei essentieller Teil seiner Künstlernatur : »Wie nun der Philosoph zur Wirklichkeit des Daseins, so verhält sich der künstlerisch erregbare Mensch zur Wirklichkeit des Traumes ; er sieht genau und gern zu : denn aus diesen Bildern deutet er sich das Leben, an diesen Vorgängen übt er sich für das Leben.«30 Im Folgenden soll zum einen gezeigt werden, wie Joseph aus seinen Träumen heraus das Leben deutet und somit sein Dasein mit transzendenter Bedeutung auflädt. Zum anderen soll deutlich werden, dass sich in seinem Traum Gottes willkürlicher Eifer für den Auserwählten enthüllt, ein Umstand, der Eifersucht und Hass unter den Zurückgesetzten schürt. Bevor Joseph seine berühmten folgenschweren Träume der sich neigenden Garben und der ihn umkreisenden Himmelsgestirne träumt, die er in seinem törichten Dünkel den Brüdern berichtet, träumt ihm ein noch viel bild- und wortgewaltigerer Traum, der die beiden folgenden Träume in ihrer Auserwählungs- und Erhöhungsthematik bei Weitem übertrifft und für die Deutung des Romans kaum zu überschätzen ist : Joseph träumt seine gewaltige Haupterhebung, die motivisch auf seinen Aufstieg in Ägypten verweist. Es ist jedoch kein Traum von weltlichen Dingen, sondern ein Himmelstraum, der die absolute Entrückung aus der irdischen Sphäre und die göttliche Erhöhung beschreibt. Dem Kapitel Himmelstraum ist das Kapitel Im Adonishain vorangestellt, in dem Joseph seinen Bruder Benjamin – und somit den Leser – in den mythischen Bedeutungskomplex von Schönheit und Aufgespartsein, Tod und Auferstehung einweiht und hiermit seine mythische Identifikation mit Tammuz/Adonis offenlegt. Um dieses Kapitel soll es zunächst gehen, weil es den Himmelstraum motivisch einleitet. 29 Friedrich Nietzsche : Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. In : Ders.: Sämtliche Werke. Studienausgabe in fünfzehn Bänden. Hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1. München 1980, 26. 30 Ebd. Geburt der Tragödie, 27.
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Joseph zieht seinen jüngeren »Vollbruder« (GW IV, 441) Benjamin oder »Ben-Oni«, »Sohn des Todes« (GW IV, 387)31, wie die sterbende Rahel ihren Zweiten nennt, schon früh in sein Vertrauen, und weiht ihn in sein mythisches Wissen und in seine Träume ein. Im Hauptstück Joseph und Benjamin unternimmt Joseph mit seinem achtjährigen Bruder einen Ausflug in den »Adonishain«32. Thomas Mann verbindet den griechischen Adonis mit dem babylonischen Tammuz33 zu einem Typus des schönen zerrissenen »Jünglingsgottes«34, der für Tod und Auferstehung steht.35 Während im griechischen Mythos um den jungen Adonis zwischen der Liebesgöttin Aphrodite und der Unterweltgöttin Persephone ein Streit entbrennt, den Zeus damit beendet, dass Adonis nur einen Teil des Jahres frei über seinen Aufenthaltsort bestimmen darf, das übrige Jahr jedoch zur Hälfte bei der Liebesgöttin auf der Erde und zur anderen Hälfte bei der Göttin des Hades, also in der Unterwelt, verbringen muss36, sind es im babylonischen Mythos Ischtar (Aphrodite) und Ereschkigal (Persephone), die um Tammuz kämpfen.37 Adonis wird vom wilden Eber zerrissen und von Aphrodite beweint, er stirbt und steigt in die Unterwelt hinab, aus der er jedoch wieder auferstehen wird. Ein Kreislauf, der sich in der alljährlich ersterbenden und wieder erblühenden Natur spiegelt und dem mythischen Gedanken der »rollenden Sphären« entspricht. 31 »Der Name ›Ben-Oni‹ aber bedeutete für den Wissenden, dessen Gedanken den rechten Bogen schlugen, ›Sohn des Todes.‹« (GW IV, 387). 32 So der Name des Kap. (GW IV, 440). 33 Vgl. Karl Kerényi : Die Mythologie der Griechen. Erster Band : Die Götter- und Menschheitsgeschichten (1951). Darmstadt 31964, 68, im Folgenden : Kerényi : Die Mythologie. Kerényi verweist auch auf die »semitische[ ] Anrufung Adonis, ›mein Herr‹«, bei Thomas Mann dann »hebraisierend ›Adonai‹« (Kurzke : Mondwanderungen, 98). Auch Siegfried wird, wie Tammuz, in Wagners Götterdämmerung vom Eber getötet. 34 Kurzke : Mondwanderungen, 97. 35 Vgl. Thomas Mann zum wiederkehrenden Motiv der Auferstehung : »Als das Christentum das Tamuz [sic !]-Motiv der Höllenfahrt Jesu als Glaubensartikel in die Geschichte des sterbenden und wieder auferstehenden Heilbringers aufnahm, brauchte es nicht zu fürchten, daß man ihm eines Tages diese Lehre als Plagiat an Sumer und Akkad nachweisen und solchen Nachweis als Einwand gegen seine Wahrheit betrachten würde. Im Gegenteil ; es hätte einfach ›etwas gefehlt‹ ohne dieses Motiv, und eine Religion kompromittiert nicht, sondern legitimiert sich, indem sie wiederbringt, was immer war.« (Die Einheit des Menschengeistes, 304). 36 Vgl. Ilias XXIV. Gesang, V. 347 f. und Odyssee X. Gesang, V. 278 f. 37 Thomas Mann kannte die »Tammuz-Adonis-Mysterien« (Kurzke : Mondwanderungen, 98) durch Dimitri Mereschkowskis Die Geheimnisse des Ostens. Vgl. ebd. und Lehnert : Vorstudien, 500, der darauf verweist, dass Thomas Mann die Verbindung Tammuz/Jesus vor allem durch Mereschkowski kannte, 255.
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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Beide, Adonis und Tammuz, stehen für Schönheit, Tod und Fruchtbarkeit (Leben). Die Tammuz-Mysterien, die Joseph bei den »Leuten von Hebron« (GW IV, 440) im Frühjahr, wenn die Natur erwacht und die Zeit der Fruchtbarkeit beginnt, heimlich beobachtet38, bieten eine Identifikationsmöglichkeit für Jaakobs Ersten39, der die Kreisläufe des Lebens durchschaut und Gefallen hat am alljährlichen Ritus des Todes, der Trauer und an dem Jubel über die Auferstehung. Der Adonishain, ein mit »Zeugungssymbole[n]« versehenes »Heiligtum« (ebd.), dient den Brüdern, um den bekannten Mythos in fragender und antwortender Wechselrede zu vergegenwärtigen. Joseph nennt diesen heiligen Ort im Vertrauen mit Benjamin »unseren Ort« (GW IV, 442) und verdeutlicht damit die persönliche Beziehung zu diesem Fest-Ort. Benjamin lernt hier, dass sein älterer Bruder sich mit Adonis/Tammuz identifiziert, und ahnt, dass diese Identifikation mit Josephs »Gedankengeheimnis«, seinem Aufgespartsein40 und »Ganzopfer«41 (GW IV, 445) zu tun hat. Einmal fragte er [Benjamin] zum ersten Male so, und Joseph belehrte ihn. Später tat der Kleine öfters, als habe er die Belehrung vergessen, um sie aufs neue zu empfangen und Joseph über Adonai, den Schäfer und Herrn, den Gemordeten, um den Klage war in der Welt, reden zu hören. Denn er horchte dabei zwischen seine Worte hinein und auf den Ton und die Bewegung seiner Rede, und es war ihm unbestimmt so, als möchte er dem Bruder dabei auf sein Gedankengeheimnis kommen, das – so schien es ihm – in der Rede aufgelöst war wie Salz am Meere. (GW IV, 447)
Als Zeichen dieser Identifikation, und um sich in die Tradition der gestorbenen und auferstandenen Gottjünglinge einzureihen, trägt Joseph einen Myrtenkranz als Kopfschmuck, denn die Myrte ist beides : »Todesschmuck« (GW IV, 445) und »Gleichnis […] der Jugend und Schönheit«42 (GW IV, 444). Benjamin er38 Heimlich, da Jaakob die Mysterien der umliegenden Völker als Blasphemie auffasst. 39 Nicht nur Joseph stellt einen gedanklichen Bezug zwischen sich und Adonis her. Auch Eliezer nennt Joseph während des Unterrichts »Adonai«. (GW IV, 403). 40 »›Bitter und herb ist der Myrtenschmuck, denn er ist der Schmuck des Ganzopfers und ist aufgespart den Aufgesparten und vorbehalten den Vorbehaltenen. Geweihte Jugend, das ist der Name des Ganzopfers. Aber die Myrte im Haar, das ist das Kräutlein Rührmichnichtan.‹« (GW IV, 445). 41 Das »Ganzopfer« wird etwa in 5. Mose (Deuteronomium) 13,17 erwähnt und zwar als Wiedergutmachung für den Abfall von Gott. 42 Vgl. die Erzählung der Königstochter Myrrha, die, unsterblich in ihren Vater verliebt, diesen täuscht und inzestuös mit ihm den Adonis zeugt. Myrrha, von ihrer eigenen Tat entsetzt, wird in einen Baum verwandelt und gebiert aus der Rinde des Myrrhabaumes schließlich den Adonis.
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kennt, dass der Myrtenkranz Joseph als Zeichen der »Erberwählung und Erstgeburt« dient und ihn in ein besonderes Verhältnis zu Gott rückt, nämlich in ein »bräutlich[es]«43 (GW IV, 50). Erneut fungiert die Darstellung der Tammuz-Adonis-Mysterien sowohl als Vorausdeutung auf Josephs persönliches Schicksal, denn auch er wird symbolisch sterben und wieder auferstehen, als auch als Christuspräfiguration44 : ,Man muß ihn [Tammuz’ Sarg] ›die Lade‹ nennen. Auch ›Kasten‹ wäre ein Wort dafür, ganz zutreffend an und für sich, doch unschicklich in diesem Fall. […] Sobald Er darin liegt, schlagen sie den Deckel zu, verpechen ihn ringsherum und setzen bei den Herrn in der Höhle dort unter Tränen, wälzen den Stein davor und kehren heim von dem Grabe.‹ (GW IV, 451 f.)45
Durch die Erzählung der Tammuz-Mysterien im Adonishain auf die Thematik der göttlichen Identifikation vorbereitet, berichtet Joseph im Folgekapitel Benjamin von seinem Himmelstraum. In diesen Traum wird lediglich Benjamin eingeweiht, vor seinen älteren Brüdern verschweigt Joseph ihn, wohl ahnend, dass dieser Traum deutlich über die Stränge schlägt und eine Beleidigung der Brüder und des Vaters darstellen muss. Darüber hinaus betrifft der Himmelstraum, anders als die Garben- und Gestirn-Träume, nur ihn allein und sein Verhältnis zum Vatergott. Können die Garben und die Sterne für seine Brüder sowie Mond und Sterne für seine Mutter und seinen Vater stehen – und in diesem Sinne (Vgl. Kerényi : Die Mythologie, 75 ff.) Auch im Roman berichtet Joseph Benjamin vom Inzest zwischen dem König von Gebal und seiner Tochter, aus dem Adonai hervorgeht. Allerdings ist es hier Astaroth, die den König »›mit Narrheit [schlägt] […] also daß die Lust ihn ergriff nach seinem Fleisch und Blut und er die Tochter erkannte.‹« (GW IV, 455), womit die Schuld der Tochter deutlich abgeschwächt wird. Auch hier wird die Königstochter in einen »Baum oder Strauch« (ebd.) verwandelt, aus dem Adonai geboren wird. 43 Direkt zu Beginn des Romans, im Vorspiel Höllenfahrt, wird das Verhältnis Josephs zu Gott auf diese Weise benannt. Weiter heißt es : »[…] wie denn Joseph von babylonischen Frauen [Hervorhebung M. A.] wußte, welche, der Ischtar oder Mylitta heilig, ehelos aber zu frommer Hingabe verpflichtet, in Tempelzellen wohnten und ›Reine‹ oder ›Heilige‹, auch ›Bräute Gottes‹, ›enitu‹, genannt wurden. Vom Lebensgefühl dieser Enitu war etwas in seinem, also auch von Strenge und Verlobtheit etwas […].« (GW IV, 50). 44 Vgl. die Grablegung des gekreuzigten Jesus in Mt. 17, 59 f.: »Und Joseph nahm den Leib und wickelte ihn in eine reine Leinwand und legte ihn in sein eigenes Grab, welches er hatte lassen in einen Fels hauen, und wälzte einen großen Stein vor die Tür des Grabes und ging davon.« 45 Auch Adonis wird, seiner außergewöhnlichen Schönheit wegen, direkt nach seiner Geburt von der eifersüchtigen Aphrodite in eine Lade gelegt, um ihn den Blicken der Welt zu entziehen. (Vgl. Kerényi : Die Mythologie, 76).
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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fassen die Brüder und Jaakob die Symbolik ja auch sofort auf – hat seine Familie im Himmelstraum keine Entsprechung, was bereits ein Verweis darauf ist, dass seine Unterweltsfahrt, die zu seiner weltlichen Haupterhöhung führen wird, seine ganz persönliche Geschichte ist, und er diese Reise alleine bestreiten muss. Während bei der Identifikation mit dem Tammuz-Mythos vor allem der mythische Kreislaufgedanke und die Verbindung von Eros und Thanatos im Vordergrund stehen, begibt sich Joseph in seinem Himmelstraum ganz in die transzendente Sphäre des Vatergottes. Dieser Traum hat, anders als der Traum der sich neigenden Garben und der kreisenden Himmelsgestirne, keine Entsprechung in der biblischen Josephsgeschichte, Thomas Mann überträgt hier vielmehr vor allem die jüdische Sage des zum Matatron erhobenen Henoch auf Joseph. Die Henoch-Sage kannte Thomas Mann aus Micha Josef bin Gorions Die Sagen der Juden. Von hier hat er zahlreiche Details übernommen.46 Neben der HenochSage47 enthält Josephs Traum zudem Motive der sumerischen Etana-Sage, die ebenfalls von Geschehnissen kurz nach »der großen Flut«48 berichtet und somit die ersten Menschen der neuen Welt in den Blick nimmt. Und auch Motive aus der griechischen Mythologie werden antizipiert, indem Elemente der Ganymed-Sage49, des schönen Hirtenknaben50, der von Zeus aus Liebe in den Olymp entführt wird, verwendet werden. Durch die Ganymed-Zeus-Bezüge erhält der Traum also auch einen erotischen Charakter. Im Folgenden werden nicht systematisch alle Übernahmen und Abweichungen von den mythischen Vorgänger-Versionen genannt, sondern nur solche, die für meinen Zusammenhang relevant sind. Hierbei geht es mir vor allem darum, 46 Vgl. Micha Josef bin Gorion : Die Sagen der Juden. Band I : Von der Urzeit. Jüdische Sagen und Mythen. Frankfurt a. M. 1913, 293–308. Der Erzählung entnimmt Thomas Mann viele Einzelheiten wie etwa die eifersüchtigen Engel »Aza und Azaël« (294), die Bezeichnung »kleine[r] Gott« (301) oder »innere[r] Fürst[ ]« (295) für Henoch/Matatron, oder die »Seraphim« und »Cherubim« (297). 47 S. hierzu auch : Kerstin Schulz : Identitätsfindung, Kap. 5.3. 48 Auch der Held Gilgamesch ist in diese Zeit einzuordnen. Es geht also wiederholt um Figuren verschiedener Sagen, die sich zu einer Zeit begeben, in der Ordnungen nach der totalen Vernichtung erneut aufgebaut werden. Diese Gründer-Figuren üben einen besonderen Reiz auf Joseph aus. 49 S. hierzu auch Joseph M. Kenney : Apotheosis and Incarnation Myths in Manns ›Joseph und seine Brüder‹. In : German Quaterly 56 (1983), 39–60, 44. Der Ganymed-Mythos wurde in der Kulturgeschichte breit rezipiert und dürfte Thomas Mann sehr vertraut gewesen sein. Von Ganymed berichten in der Antike Homer (Ilias), Vergil (Aeneis) und Ovid (Metamorphosen), in der Neuzeit greifen Goethe und Hölderlin Ganymed literarisch sowie Schubert musikalisch auf. 50 Auch Joseph wird hier ausdrücklich als Hirte bezeichnet, was auch auf den Pastor verweist, der die Herde (Gemeinde), in der Nachfolge Gottes ›hütet‹. Auch Tammuz wird als »Hirte« bezeichnet (GW IV, 457).
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Abweichungen und Übernahmen zu markieren, die Josephs Verhältnis zum Vatergott und die Beweggründe für seine Haupterhebung thematisieren. In seinem Traum wird Joseph »mitten aus [des] Vaters Herde« durch den in Adlergestalt auftretenden Engel Amphiel geraubt und hoch in die Lüfte getragen. Joseph durchfliegt in den Fängen des Adler-Engels mehrere Himmelsschichten : »Schejakim, den Wolkenhimmel, […] Rakia, den Sternenhimmel«, und schließlich gelangt er »in die letzte Höhe und die Weite des Araboth.« (GW IV, 463)51 Thomas Mann nennt hier einige der »sieben Himmel«, die im Talmud genannt werden und die Mann ebenfalls von bin Gorion kannte.52 Das Motiv des Adlers entstammt jedoch nicht der Henoch-Sage, sondern ist der Etana-Sage entnommen. Etana, der den Beinamen »der Hirte, der zum Himmel aufstieg«, erhielt, wird ebenso wie Joseph von einem Adler in die Lüfte gerissen.53 Joseph kennt auch diese Erzählungen54 aus seinem Unterricht bei Eliezer : Er [ Joseph] las und schrieb von Etana’s Freundschaft mit dem Adler, der ihn gegen den Himmel Anu’s trug ; und so hoch gelangten sie in der Tat, daß das Land unter ihnen wie ein Kuchen und das Meer wie ein Brotkorb war. Als aber beides ganz verschwunden gewesen, hatte den Etana leider die Furcht gepackt, und mitsamt dem 51 Die Kenntnis des »Araboth« entspringt nicht einfach Josephs Traum-Phantasie. Diese Bezeichnung für den Himmel ist Joseph durch Jaakob bekannt. Er nennt Joseph einen »Engel des Araboth« (GW IV, 406). Die Erhöhung durch Gott wird also durch die Erhöhung des Vaters explizit vorbereitet. 52 Vgl. bin Gorion : Die Sagen der Juden, 38 f. Bei bin Gorion werden alle sieben Himmel mit ihren Eigenschaften genannt. Thomas Mann hält sich nicht an diese Reihenfolge und ordnet Schejakim (bei bin Gorion »Schechakim«) vor Rakia an. Die Reihenfolge bei bin Gorion lautet : »Wilon, der Vorhang ; Rakia, die Himmelsfeste ; Schechakim, der Wolkenhimmel ; Sebul, die Zuflucht ; Maon, die Wohnstätte ; Makhon, der Sitz ; Araboth, die Weite.« (38) Die Siebenzahl im Himmel ist Joseph darüber hinaus durch seinen Unterricht bei Eliezer vertraut, ebenso der Ort, wo Gottes Herrschersitz zu lokalisieren ist : »Sonne und Mond bildeten zusammen mit fünf anderen Wandelnden die Siebenzahl der Planeten und Befehlsträger, die in sieben Kreisen unterschiedlichen Umfangs am Damme des Tierkreises dahingingen, so daß dieser einem siebenstufigen Rundturme glich, dessen Terrassenringe emporführten zum obersten Nordhimmel und Herrschersitz.« Die Vorstellung der sieben Himmel war auch der griechischen Antike bekannt. Aristoteles etwa teilte den Himmel in sieben Sphären. 53 Auch die Ganymed-Sage kennt das Motiv des Adlers. In einigen Darstellungen entführt Zeus, in einen Adler verwandelt, Ganymed in den Olymp. Auch zahlreiche ikonografische Darstellungen zeigen Zeus als Adler, so etwa bei Rubens und Rembrandt. 54 Thomas Mann hält sich hier also an die Chronologie, indem er Joseph zwar die Etana-Sage kennen lässt, aber nicht die Henochs. Gleichzeitig entsteht hierdurch der ›Kniff‹, dass Joseph träumerisch Etana nachahmt, Henoch jedoch vorwegnimmt.
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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Adler war er in die Tiefe gestürzt – ein beschämender Ausgang. Joseph hoffte, daß er sich anders verhalten würde als Held Etana ; gegebenen Falles […]. (GW IV, 408)
Und er wird sich anders verhalten und es besser machen – im Traum ist er ganz Henoch, der in den 7. Himmel aufsteigt und des Herrn ansichtig wird. Joseph gelingt der Aufstieg, da ihn, im Gegensatz zu Etana, nicht die Angst ergreift.55 (Vgl. GW IV, 461 ff.) Etana nämlich fürchtet sich in dem Moment, in dem er die Erde aus den Augen verliert und sich in die Transzendenz begibt. Joseph lernt also aus der Sage, die er im Unterricht kennengelernt hat, und hat im Traum Vertrauen auf ein gutes Ende, er deutet somit träumerisch das Scheitern Etanas in sein eigenes Gelingen um. Der Ort, der für Joseph auserkoren ist, ist, ebenso wie bei bin Gorion, die heilige Stätte des Herrn. Joseph wird in »des Weltnordens oberste Höhe« versetzt, ›[…] [d]enn es ist der Ratschluß, daß ich dich geradewegs und ohne Verzug in die letzte Höhe und Weite des Araboth verbringen soll, wo sich die Schatzkammer des Lebens, des Friedens und des Segens befinden, und zum obersten Gewölbe, in die Mitte des Großen Palastes. Dort ist der Wagen und ist der Stuhl der Herrlichkeit, den du täglich fortan bedienen sollst, und sollst vor ihm stehen und Schlüsselgewalt haben, die Hallen des Araboth zu öffnen und zu schließen, und was man sonst noch im Sinn hat mit dir.‹ (GW IV, 463)
Joseph wird vom Herrn die Schlüsselgewalt als Symbol der Macht und als Zeichen des intimen Zugangs zu Gott verliehen. Der Begriff der »Schlüsselgewalt« ist in der europäischen Geistestradition ein feststehender Begriff, der die Macht der Kirche bezeichnet, Sünden zu vergeben oder deren Vergebung zu verweigern.56 Es wird deutlich, dass der Traum also durchaus auch neutestamentliche, christliche Motive aufnimmt57. Die heilsgeschichtliche Anspielung in Bezug auf Joseph schimmert erneut durch, indem über das Alte Testament hinaus auf das 55 Was also in der sumerischen Sage nicht gelingt, wird in der jüdischen Sage zu einem erfolgreichen Abschluss geführt. 56 Ursprünglich entstammt der Begriff dem Jüdischen Recht (Halacha). Im 20. Jahrhundert ist der Begriff der »Schlüsselgewalt« dann auf das Familienrecht angewendet worden. Vgl. BGB § 1357 (Beschluss vom 1. Januar 1900, bis 1977 gültig). 57 S. auch die Verwendung der Begriffe »Hirte« und »Herde«, die auf die vom Pastor geführte Gemeinde verweisen. Auch Jesus liegt, wie Joseph, auf einer Wiese. Die Wiese ist hier als Ikonografie eines idyllischen Ortes zu sehen.
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Matthäus- und Johannesevangelium verwiesen wird. In Matthäus 19, 16 verleiht Christus Petrus die »Schlüsselgewalt«, nachdem dieser Jesus als »Christus, des lebendigen Gottes Sohn« identifiziert hat : Und ich sage dir auch : Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde, und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen Und ich will dir des Himmelsreichs Schlüssel geben : alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.58
Mit Petrus wird somit die Schlüsselgewalt an die Kirche, genauer, die Päpste weitergegeben.59 Im Araboth angekommen wird Joseph des »Vater[s] der Welt« (GW VI, 466) ansichtig, der in seinen Zügen Jaakob ähnelt60. Interessant ist die Wendung, mit der Gott beschrieben wird, denn dieser ist »gestaltet gleich wie ein Mensch nach dem Mannesbilde geschaffen, in vertraulicher Majestät.« (GW VI, 465) Wohl gemerkt : Gott ist hier nach dem Ebenbild des Menschen geschaffen, nicht umgekehrt. In diesem anthropomorphen Gottesbild sind auch stets die Züge Jaakobs erkennbar. Vor dem Stuhle des Herrn angekommen, wird Joseph über die Maßen mit den höchsten Aufgaben betraut, mit dem kostbarsten Gewand bedeckt und viele Male gesegnet. Das Ausmaß der Erhöhung ist gewaltig und in weiten Teilen von bin Gorion übernommen. Interessant ist, dass die Geschichte Henochs bei 58 Matthäus 16, 19, s. auch. Matthäus 18, 18 und 16, 19. Vgl. auch Helmut Jendreiek : Der demokratische Roman. Düsseldorf 1977, 378. 59 Das Motiv der Schlüsselgewalt nimmt Thomas Mann wieder in seinem Roman Der Erwählte auf : »›Hörst du ?‹ frug Probus. ›Nicht nur, daß es [das Igeltier Gregorius] spricht und weint, es ist auch wissenschaftlich durchaus zum Binden und Lösen vorgebildet. Du tätest gut, ihm den Schlüssel zu reichen.« (GW VII, 228) Mit »Schlüssel« ist auf der Handlungsebene zunächst der Schlüssel für Gregorius’ Fußkette gemeint. Dieser wurde nämlich inzwischen im Bauch eines Fisches gefunden – natürlich ein christliches Symbol. Aber Gregorius erhält hier, angedeutet durch die Wörter »Binden« und »Lösen«, viel mehr : Er erhält die Schlüsselgewalt. Mit dieser Gewalt ausgestattet, kann er nun sich und seine Eltern von der Schuld ›lösen‹. Gregorius’ Schicksal wird somit heilsgeschichtlich gedeutet, denn im Neuen Testament ist es wie gesagt Petrus, der von Christus die Schlüsselgewalt erhält, auf dass er die Kirche errichte (vgl. Matthäus 16, 18–19). 60 »›[E]s schimmerte ihm der Bart mit dem Schläfenhaar seitlich dahin, und liefen Furchen hinein, gut und tief. Unter seinen Augen war’s zart und müde drunter her, und waren nicht allzu groß, aber braun und glänzend, und spähten besorgt nach mir, da ich näher kam.‹ ›Mir ist‹, sagte Benjamin, ›als sähe ich Jaakob auf dich blicken, unseren Vater.‹« (GW IV, 465 f.).
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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bin Gorion in zwei Versionen bzw. aus zwei Blickwinkeln erzählt wird. Einmal berichtet Henoch selber von seiner Erhöhung (291–303, »Dies alles ist der Geschichten eine, die Matatron selber erzählt hat«, 295). In der zweiten Version berichtet wiederum der Herr über die Erhöhung Henochs (»Der Herr berichtet selber über Matatron«, 304–306). Die Version des Herrn ist kürzer gehalten und geraffter, sie enthält nur einige Privilegien des Bevorzugten und konzentriert sich auf die eigentliche Krönung Henochs. Die Berichte unterscheiden sich darüber hinaus in wichtigen Details, etwa dem Grad der Erhöhung. Während es in Henochs Version heißt : »Er [der Herr] machte ihm einen Stuhl, ähnlich wie der Stuhl seiner Herrlichkeit war«61, heißt es in der Version des Herrn : »Und den Stuhl Matatrons machte ich größer denn meinen eigenen Stuhl, und ich machte seine Herrlichkeit noch größer denn meine eigene.«62 Thomas Mann hat diese Stelle in seinem Exemplar der Sagen der Juden angestrichen und mit einem Ausrufezeichen versehen.63 In seinen Text übernimmt er die Version Henochs, lässt Gott aber in Josephs Bericht in der ersten Person sprechen : »Ich mache ihm einen Stuhl, ähnlich meinem eignen […].« (GW IV, 466) Und weiter : »Und war mir nur leid, daß ich seinen Stuhl nicht größer machen konnte denn meinen eignen und seine Herrlichkeit größer denn meine eigne, denn sie ist unendlich !« (GW IV, 468) Humoristisch nimmt Thomas Mann hier also das Motiv des Stuhles aus der zweiten Version der Sage auf und ›berichtigt‹ diese sogleich, indem er ergänzt, dass wohl ein unendlich mächtiger Gott keinen gleichwertigen Sitz zu seiner Rechten schaffen könne, geschweige denn einen noch größeren. Ein längeres Zitat soll das Ausmaß der Liebe Gottes für Joseph verdeutlichen : Der König aber übertrieb seine Worte und sprach : ›Auf diesen hier lege ich die Hand und segne ihn mit dreihundertfünfundsechzigtausend Segen und mache ihn groß und erhaben. […] Es gehe ein Ruf vor ihm her von Himmel zu Himmel : Obacht, und nehmt euer Herz zu euch ! Henoch, meinen Knecht, habe ich zum Fürsten und zum Mächtigen über alle Fürsten meines Reiches ernannt und über alle Himmelskinder […]. Und jeglicher Engel, so ein Anliegen an mich hat, soll erst vor ihn treten und mit ihm sprechen. Ein jedes Wort aber, das er zu euch spricht in meinem Namen, sollt ihr hüten und befolgen, denn die Fürsten der Weisheit und der Vernunft stehen 61 bin Gorion : Die Sagen der Juden, 300. 62 Ebd., 305. Es wird also deutlich, dass es alleine Gott vorbehalten bleibt, das Ausmaß seiner Macht und Gnade in Gänze darzustellen, Henoch übt sich hier in verhältnismäßiger Bescheidenheit. 63 Ich danke dem Thomas-Mann-Archiv Zürich sehr herzlich für die Einsicht in die private Bibliothek des Autors.
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ihm zur Seite ! […]‹ Und der Herr warf mir über ein herrlich Gewand, darin allerart Lichter verwoben waren […]. Und nahm einen Reif mit neunundvierzig Steinen darin von unaussprechlichem Schimmer. Den setzte er mir aufs Haupt eigenhändig zu dem Kleide vor dem Angesicht der ganzen himmlischen Sippe und nannte mich mit meinem Titel : Jahu, den Kleinen, den Inneren Fürsten. Denn er übertrieb es. […] Der Herr aber stand auf vom Stuhl und übertrieb es aufs äußerste und fing an zu künden und sprach : ›[…] Und der da unter den Scharen der Jüngste war an Tagen, Monden und Jahren, den Knaben machte ich größer denn alle Wesen, in meiner Unbegreiflichkeit, um der Vorliebe willen und der Gnadenwahl ! Ich befahl ihn zum Aufseher über alle Kostbarkeiten der Hallen des Araboth und über alle Schätze des Lebens, so in den Höhen des Himmels aufbewahrt sind. […] Mir machte er jeden Morgen den Sitz zurecht, wenn ich den Stuhl meiner Herrlichkeit besteigen wollte, […] Ich hüllte ihn in ein herrlich Gewand und zog ihm einen Mantel an voll Stolz und Ruhm. Mit einem schweren Reif krönte ich sein Haupt und verlieh ihm von der Hoheit, der Pracht und dem Glanz meines Thrones. […] Sein Name aber war Der kleine Gott !‹ Nach dieser Verkündigung geschah eines gewaltigen Donners Krachen, und alle Engel fielen auf ihr Angesicht. Dieweil aber der Herr mich in Freuden auserkor, ward mein Fleisch zur Feuersflamme, meine Adern loderten hell, meine Knochen werden wie Wacholderfeuer, meiner Wimpern Aufschlag gleich einem Blitzstrahl, meine Augäpfel rollen wie Feuerkugeln, die Haare meines Hauptes werden zur brennenden Lohe, meine Glieder zu feurigen Fittichen, und ich erwachte. (GW IV, 466 ff.)64
Joseph wird hier zum Stellvertreter Gottes ernannt, gottgleich wird er über alle Himmelscharen gesetzt, die neidvoll nach dem Grund der Bevorzugung fragen. In der Begründung unterscheiden sich Sage und Roman erheblich. Während in der Sage durchaus triftige Gründe genannt werden, die zum Teil in Henochs Charakter begründet sind, ist es im Roman die übermäßige Liebe Gottes, die Joseph willkürlich zu treffen scheint – es sind also in Gott selbst liegende Gründe. In der Sage weist der Herr die nach dem Grund der Erwählung fragenden Engel zwar zunächst ebenso wie im Roman zurück (»Was seid ihr, die ihr mir dazwischenredet«65), dabei belässt es aber die Sage nicht, denn der Herr erklärt sich dann doch an anderer Stelle seinen Heerscharen :
64 Erwähnt sei an dieser Stelle noch, dass Gott, der Herr, in der Henoch-Sage auch »König« (bin Gorion : Die Sagen der Juden, 295) genannt wird. Ein Verweis auf Josephs spätere irdische Haupterhebung durch Pharao, der ebenfalls weltlicher Herrscher und Gott ist. 65 Ebd., 296.
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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›Ihr meine Diener, ihr meine Krieger, ihr meine Räder, ihr meine Cherubim, ihr meine Seraphim, nicht soll euch übelgefallen, was ich tue, denn sehet, alle Menschenkinder sind mir abtrünnig worden, mir und meinem großen Reiche ; sie gingen und dienten fremden Göttern ; da nahm ich meine Herrlichkeit hinweg von ihnen und kam nun wieder nach oben. Nur dieser hier, den ich von ihnen emporhob, der ist von allen ausersehen, und er übertrifft sie alle durch seinen Glauben, durch seine Gerechtigkeit und durch seiner Taten Gabe ; und dies ist der Entgelt, den allein ich von der Welt da unter dem Himmel habe.‹66
Henoch ist also ein Mensch, der besonders gottgefällig gelebt hat, der, während die Menschheit der Sünde anheimgefallen ist und Götzendienst betrieben hat, an den einen Gott geglaubt und auch durch Taten seinen rechten Glauben bewiesen hat. Und noch durch einen anderen Umstand erscheint die Wahl Henochs nicht zufällig, denn noch vor seiner Erhöhung ist es zunächst einmal Henoch selbst, der um seine Versetzung in das Reich der Engel bittet. In der allerersten Welt, die der Welt Adams voranging, nahm Henoch, der Sohn Jareds, einen hohen Rang ein, und er sah vor sich kein Böses und kein Unrecht zu seiner Zeit. Dann brachte ihn der Herr in die Welt der Adamkinder, auf daß er sie erhalte, und auf daß er ihnen ein Vorbild sei in Recht und Barmherzigkeit. Er sollte die Geschöpfe prüfen, aber sie bestanden die Prüfung nicht und erwählten den Weg des Todes, nicht den Weg des Lebens. Da stand Henoch auf und sprach vor dem Herrn : Dies Geschlecht hier sind eitel Bösewichter, und ist kein Glaube in ihnen. […] [S]o mache mich nun, Herr aller Welten, zu deiner Diener einem. In der ersten Welt, in der Welt der Gnade, die vorüber ist, und von der ich gekommen bin, da waren alle groß und da waren alle Engel, und auch ich war groß mit ihnen ; bin ich nun jetzt nicht mehr wie der Engel einer, da ich der Sünder viel gesehen habe, so lasse mich zumindest unter den Engeln weilen, nicht mehr unter dem elenden, verworfenen Volke. Da ward Henochs Leib zu einer Feuerfackel, wie der Leib Elias, und er ward unter die Engel versetzt. Und der Herr brachte den Henoch im Sturm gen Himmel, gleichwie Elia, den Seher.67
Henoch bittet angesichts der Sündhaftigkeit des Menschen, die er schmerzlich zu empfinden scheint, um seine Erhöhung und Entrückung aus der Welt. Der 66 Ebd., 297 f. Erneut zeigt sich, dass der eifersüchtige Gott keine Götter neben sich duldet. 67 bin Gorion : Die Sagen der Juden, 291 f.
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Impuls zur Aussonderung geht also von Henoch aus. Auch wird Henochs Anderssein stark betont, seine ursprüngliche Zugehörigkeit zu der Welt vor Adam und somit auch vor der Flut und der Verdammung der sündhaften Menschen durch Gott trennt ihn von seiner Umwelt und weist ihm eine Sonderstellung zu. Doch auch der Herr hat, über seine Liebe zu Henoch hinaus68, ein Interesse an der Versetzung Henochs. Dieser wird zu dem Zweck in den Himmel versetzt, um wider die Menschen zu »zeugen«.69 Denn Gott fürchtet die Klage der Menschen über seine gewaltsamen Taten. Henoch soll verhindern, dass die Menschen fragen, was denn ›alle diese Massen getan […], daß sie umkamen in den Tagen der Flut ? Und gewißlich würden sie sagen : Wohl hat das Geschlecht der Sintflut übelgetan, was haben aber da das Vieh, die Tiere und die Vögel verschuldet, daß sie mit ihnen vertilgt worden sind ? Darum eben hat der Herr mich noch bei Lebzeiten auf den Himmel genommen, auf daß ich wider sie zeugen sollte […].‹70
Henoch soll also ein Legitimationsdefizit der Gewalt Gottes ausgleichen. Aus Sorge, Gott könnte vorgeworfen werden, er sei nicht länger der »barmherzige Gott«, sondern vielmehr »hartherzig«71, muss Henoch die Schlechtigkeit der Welt bezeugen. Henoch soll also in einem ersten Schritt als Vermittler zwischen Gott und den Menschen dienen und in einem zweiten Schritt zum gewaltigen Metatron aufsteigen. Der Roman setzt hier andere Akzente. Es geht Thomas Mann vor allem darum, Gottes väterlich-liebende ›Schwäche‹ für Joseph zu betonen, die jeder rationalen Begründung schlussendlich entbehrt. Im Roman fragen die Engel zunächst ebenfalls nach dem Grund der Vorliebe für einen Menschen : »Herr aller Welten, was für einer ist dieser hier, daß er nach den Oberen Regionen kommt, seinen Dienst unter uns zu nehmen ?« »Ist er nicht vom weißen Samentropfen entstanden und vom Geschlechte derer, die Unrecht trinken wie Wasser ?« (GW IV, 466)72 Und zunächst erwidert Gott auch hier : »Was seid ihr, daß ihr mir dazwischenredet ? […] Wahrlich, eher denn 68 »[E]r liebte ihn mehr denn alle Himmelskinder […].« bin Gorion : Die Sagen der Juden, 302. 69 Ebd., 296. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Vgl. ebd., 296 f.
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euch alle will ich ihn zum Fürsten und Herrscher der Himmelshöhen machen !« (GW IV, 466)73 Aber der Erzähler fügt an dieser Stelle noch ein wichtiges Detail hinzu, indem er ergänzt : »Ich gönne ; wem ich gönne, und erbarme, wes ich erbarme !« (GW IV, 466) »Willkür und Gnadenwahl« (GW IV, 469) sind es also, die Joseph hier zufallen. Der Grund für seine Erhöhung ist in Gott begründet, der Gefallen an Joseph gefunden hat, was nicht genauer begründet wird. Und diesen Grund scheint auch Joseph zunächst nicht zu kennen, denn er fragt den Engel Amphiel nach dem Motiv seiner Entrückung und erfährt lediglich, dass es »der Ratschluß der gewaltigen Vorliebe [ist], und ist kein Klügeln und kein Aufkommen dagegen […]« (GW IV, 461). Es ist nicht, wie bei Henoch, die Rede von vorbildlichen Taten Josephs ; allein die emotionale Neigung, die der rationalen Erklärung entbehren muss, ist ausschlaggebend. Gott will in seiner Größe willkürlich und irrational sein, die Erhöhung allein aufgrund seiner Neigung macht seine schrankenlose Größe geradezu aus, und so kann er eben verkünden : »Ich gönne, wem ich gönne, und erbarme, wes ich erbarme !«74 Die Ungeheuerlichkeit der Vorliebe reflektiert der Herr dabei höchstselbst, wenn er unumwunden zugibt : »[I]ch will’s übertreiben !« (GW IV, 466) Gott ist hier der absolute Souverän, der über Zurückweisung und Erwählung entscheidet und damit seine ganze Macht und zugleich die Machtlosigkeit der Menschen, aber auch die der Engel, demonstriert. Willkür und Bevorzugung sind hierbei zentrale Eigenschaften Gottes, die seine Macht über die Menschen definieren : »Zum Begriff Gottes gehört die Freiheit, zu diskriminieren, wo und wen er will.«75 Dass er dies auch tut, zeigt das Beispiel der Brüder Kain und Abel sowie Esau und Jakob : »Auch hier liebt Gott ohne Angabe von Gründen den einen und haßt den anderen.«76 73 Vgl. ebd. 74 S. auch 2. Mose 33 : »Wem ich aber gnädig bin, dem bin ich gnädig ; und wes ich mich erbarme, des erbarme ich mich.« Und Römer 9.1–9.16 zu »Gottes freie[r] Gnadenwahl« : »Was wollen wir denn hier sagen ? Ist denn Gott ungerecht ? Das sei ferne ! Denn er spricht zu Mose : ›Welchem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig ; und welches ich mich erbarme, des erbarme ich mich.‹ So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen.« Die Gerechtigkeit Gottes wird also tautologisch begründet, Gottes Wort und Gottes Handeln sind dadurch, dass sie Gottes sind, gerecht. Dies zeigt im Grunde die Unvereinbarkeit der menschlichen und der göttlichen Semantik. Durch Gottes Willkür- und Gnadenwahl ist der Mensch befangen in der Rolle des Empfängers und ist ständig dazu verdammt, seine Semantiken zu verwerfen und die Gottes begründungslos zu akzeptieren, was doch eher Des- als Orientierung in der Welt zur Folge haben müsste und lediglich durch den begründungslosen irrationalen Glauben gerechtfertigt werden kann. 75 Sloterdijk : Zorn, 124. 76 Ebd.
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Fassen wir zusammen : Joseph träumt hier einen Traum der Haupterhebung, der Jaakobs Traum von seiner Erhöhung deutlich übertrifft. Auch hier ›überbietet‹ Joseph das durch seinen Vater vorgegebene Schema. Darüber hinaus betonen die Modifizierungen, die Thomas Mann gegenüber der Vorlage vornimmt, Gottes Willkür bei seiner Erwählung. Dieser Aspekt ist für das Gottesbild, das im Roman entwickelt wird, von Bedeutung und wird noch im Zentrum stehen, wenn es um die »unermeßliche[n] Implikationen« (GW VIII, 808) Gottes geht, die Mose dem Volk beibringen muss. Vorerst sei festgehalten, dass es sich hier um ein Machtmittel Gottes handelt, das außerhalb des Erkenntnisbereichs des Menschen liegt und gerade daher so gewaltig ist. Wenn wir nun annehmen, dass sich hier, im Traum, Josephs eigenes Gefühl des Auserwähltseins ausdrückt, bleibt zu fragen, ob er sein geträumtes Ziel erreichen wird. In welchem Verhältnis zueinander stehen also seine Erhöhung im Traum und sein weltlicher Aufstieg in Ägypten ? Damit wird die Frage nach der Möglichkeit, ein transzendentes Ideal auch in der Immanenz zu verwirklichen, erneut aufgenommen. Zunächst einmal spiegelt sich in der Vorliebe Gottes für Henoch/Joseph die Bevorzugung und Liebe Jaakobs zu seinem Sohn77, dies wird durch die ähnliche Physiognomie Gottes und Jaakobs überdeutlich. Darüber hinaus wird durch das »herrlich Gewand, darin allerart Lichter verwoben waren«, in das Gott Joseph kleidet, auf die verhängnisvolle Ketônet Passim angespielt.78 Und vor allem : Joseph sitzt im Traum neben dem Herrn, ebenso wie er später neben seinem weltlichen Herrn, dem jungen Pharao, sitzen wird. Wichtig festzuhalten ist auch, dass im Himmelstraum, wie in jedem Traum, der im Roman geträumt wird, reale Ereignisse und Erlebnisse verwoben werden, was nahelegt, dass es sich hier um Träume handelt, die der menschliche Geist im Sinne der Tiefenpsychologie generiert und nicht um göttliche Offenbarungsträume, in denen dem Träumer unmittelbar von Gott die Augen für seine weiteren Geschicke und die göttliche Macht geöffnet werden. Und dies ist auch gar nicht nötig, denn es kommt darauf an, dass der Traum den Träumer in seinen Gedanken und Taten bestärkt, seinem Tun Bedeutung zumisst. Durch den Traum kann Joseph, und mit ihm der Leser, seine weltliche Haupterhöhung als Erfüllung seines Traumes deuten, was jedoch, bei genauer Betrach77 »Und aus der übergroßen Liebe, mit der der Herr Matatron liebte – er liebte ihn mehr denn alle Himmelskinder […]«. (bin Gorion : Die Sagen der Juden, gleicher Wortlaut auf S. 301 und 302, auf S. 302 von Thomas Mann angestrichen). 78 Thomas Mann übernimmt die Beschreibung des Gewandes von bin Gorion.
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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tung, eine heilsgeschichtliche Überinterpretation seiner weltlichen Taten darstellt. Joseph misst also durch sein Erwähltheitsgefühl, das sein Himmelstraum in aller Deutlichkeit ausdrückt und gleichzeitig befeuert, seinen wirtschaftlichen Taten nachträglich einen göttlichen Sinn zu, indem er in seinem Lebenswerk die Erfüllung seines Traumes sieht. Im Grunde jedoch ist dies eine Übertreibung oder Überinterpretation der Wirklichkeit : Josephs Karriere in der Fremde ist eine ganz und gar weltliche. Sein irdischer Weg wirkt in all seinen Stationen als die äußerst gemäßigte und eben auch – im Sinne Max Webers – entzauberte Variante des Himmelstraumes. Wenn Joseph am Ende des Romans zu seinen Brüdern sagt : »›Bin ich denn wie Gott ? Drunten, heißt es, bin ich wie Pharao, und der ist zwar wie Gott genannt, ist aber bloß ein arm, lieb Ding‹« (GW V, 1821), wird das Spiel mit der Deutung erkennbar : Es kommt auf die Perspektive an, es kommt darauf an, wie man etwas auffassen möchte. Joseph weiß, dass er »kein Gottesheld und kein Bote geistlichen Heils ist, sondern nur ein Volkswirt« (GW V, 1686 f.), und er weiß auch, dass seine Träume von den sich neigenden Garben und Sternen »so übertrieben Großes nicht heißen« (GW V, 1687) sollten. Und dies gilt stillschweigend auch für den Himmelstraum, der sich eben nur auf sehr irdische und also sehr profane Weise zu erfüllen wusste, der sich aber wiederum auch nur erfüllen konnte, weil Joseph an seine Träume glaubt und durch sie Stärkung und Sicherheit erfährt. So kommt alles auf die Auslegung und Deutung der Welt an, auf die man seine performance hin auf baut, mit der man dann sein Leben gestaltet. Wie wichtig der richtige Traum und seine bestmögliche irdische Verwirklichung in der Geschichte des eigenen Lebens ist, zeigt Josephs Geringschätzung gegenüber dem »Verheißungstraum« (GW IV, 743) des Pharaos Tutmoses, der einst von der Sphinx geträumt und ihrem Traum-Wunsche nachgekommen war, sie vom Wüstensand zu befreien. Die Worte der Sphinx an den schlummernden Königssohn sind auf einer Tafel zu Füßen des »maßlose[n] Gott-Tier[es]« (GW IV, 742) zu lesen : ›Ich will dir, Tutmose, die Königsherrschaft geben, die Kronen der beiden Länder sollst du tragen auf dem Throne Gebs, und dir soll die Erde nach ihrer Länge und Breite gehören nebst allem, was des Allherrn Strahlenauge bescheint. Die Schätze Ägyptens und die großen Tribute der Völker sollen dir beschieden sein. Unterdessen aber bedrängt mich Anbetungswürdigen der Sand der Wüste, auf der ich stehe. Mein berechtigter Wunsch ergibt sich aus dieser Beschwerde.‹ (GW IV, 742 f.)
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Der Königssohn erwacht aus diesem Traum und kommt sogleich der Bitte der Sphinx nach und befreit sie vom Wüstensand. Joseph schweigt in der Runde79 zu dieser Geschichte. Die Mahnung des alten Ismaeliter, in der Fremde aus Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Ägypter seine Rede zu mäßigen, hat er verinnerlicht, schließlich hatte er zuvor am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, sein Gegenüber zu kränken. Doch der Leser erfährt die heimlichen Gedanken Josephs, denn [i]m stillen […] ärgerte er sich um Jaakobs willen an diesem Verheißungstraum und fand ihn aus solchem Ärger sehr trocken und mager. Pharao, fand er, machte allzuviel Aufhebens davon mit seinem Denkstein. Was war ihm schließlich verheißen worden ? Nichts anders als was ohnehin von Geburt schon seine Bestimmung gewesen war, nämlich zu seiner Stunde König zu werden über die beiden Länder. (GW IV 743)
Ein Traum, in welchem der Gott vom Sand befreit werden will und also seine Hilfsbedürftigkeit bei den niedrigsten Dingen demonstriert, ist Josephs nicht würdig. Sein eigener Traum ist hiermit nicht zu vergleichen. Und auch für den Götzendienst am steinernen Abbild hat Joseph lediglich Verachtung übrig : Da sah man, wie läppisch es war, sich ein Bild zu machen. Das Bild kam in Sandesnot und der Gott in die Lage, zu betteln : ›Rette mich, Sohn !‹ und einen Bund einzugehen, darin er gegen klägliche Wohltat das ohnehin Wahrscheinliche verhieß. […] Übrigens war der Königssohn König geworden zu seiner Stunde, aber den Gott deckte der Wüstensand schon wieder weitgehend zu. Für so vorübergehende Erleichterung war wohl nur eine überflüssige Verheißung als Gegengabe am Platze gewesen […]. (GW IV, 743)80
Joseph sieht denn auch den Bund seines Volkes mit dem Gott der Väter, der auf Dauer angelegt ist, dem Bildniskult überlegen. »Da war es ein anderer Bund gewesen, ein feinerer, den Gott der Herr geschlossen hatte mit den Vätern : auch aus Bedürftigkeit, aber aus beidseitiger ; daß sie einander erretten aus dem Sand der Wüste und heilig würden der eine im andern !« (GW IV, 743)81 79 »[U]nter vier Augen«, gegenüber Kedma, dem Sohn des alten Ismaeliter, äußert Joseph seine Bedenken jedoch. (GW IV, 744). 80 Joseph nimmt hier aus der Anschauung heraus das zweite Gebot bereits vorweg, vgl. das Vorgehen Moses, das in Kap. 3 beschrieben wird. 81 In der Errettung »aus dem Sand der Wüste« wird natürlich bereits auf Moses Auszug aus Ägypten angespielt.
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Doch auch Joseph träumt am Fuße der Sphinx, jedoch keinen Verheißungstraum, sondern einen erotischen Warntraum, der bereits seine Standhaftigkeit gegenüber der Verführung durch seine spätere »Herrin« (GW IV, 831), Mutem-enet, vorwegnimmt. So offenbart ihm im Traum die Sphinx, über deren geschlechtliche Beschaffenheit er zuvor gesinnt hatte, ihre Liebe und fordert ihn, die späteren Worte Muts vorwegnehmend, auf, mit ihr zu schlafen : »›Tu dich zu mir und nenne mir deinen Namen, von welcher Beschaffenheit ich nun auch sei !‹« Aber Joseph bleibt unbeeindruckt und antwortet : »›Wie sollte ich ein solches Übel tun und wider Gott sündigen ?‹« Denn »Aug in Auge mit dem Verpönten, spürt man, wes Geistes Kind man ist, und hält’s mit dem Vater.« (GW IV, 745 f.) Das männliche Prinzip siegt hier über die androgyne Ununterscheidbarkeit der Sphinx, der Vatergott erweist sich als leitende und überlegene Kraft.82 Und dieser Vater-Gott hat Joseph in seinem Traum zu verstehen gegeben, dass er Großes mit ihm vorhat. Nun liegt es an Joseph, dies zu erfüllen. Und noch ein weiteres Mal wird ein Traum Joseph zum Erfolg verhelfen, indem er ihm die Notwendigkeit der »Vorsorge« und »Vorsicht« (GW V, 1297) aufzeigt. In seiner »andere[n] Grube« (GW V, 1292), dem Gefängnis Zawi-Rê, träumt Joseph »Tafelverse« (GW V, 1296) : Ischtar, die Rasende, schwang sich zu Anu, dem Götterkönig, forderte Rache. ›Den Himmelstier sollst Du schaffen, zerstampfen soll er die Welt, versengen mit dem Feuerhauch seiner Nüstern die Erde, ausdörren und verderben die Flur !‹ – ›Den Himmelsstier will ich schaffen, Herrin Aschirta, denn schwer bist Du beleidigt. Aber Spreujahre werden kommen, sieben an der Zahl, Jahre der Hungersnot dank seinem Stampfen und Sengen. Hast Du für die richtige Nahrung gesorgt, aufgehäuft Speise, den Jahren des Mangels damit zu begegnen ?‹ (Ebd.)
Joseph nimmt hier – in abgewandelter Form – Amenhoteps Traum von den sieben fetten und den sieben mageren Jahren vorweg. Er träumt also erneut aus dem Bekannten, aus den ihm vertrauten Mythen heraus. Josephs mythologische Bildung erweist sich zum wiederholten Male als erkenntnisfördernd und handlungsweisend, indem er sie klug auf seine Geschicke überträgt. Und dass es überaus wichtig ist, wie man seine Geschichte gestaltet, damit sie Gottes Ansprüchen gerecht wird, soll anhand einer weiteren Szene aus dem vierten Band der Tetralogie verdeutlicht werden. 82 Auch Schöll : Joseph im Exil, 221 betont, dass »[d]er Gottesbund […] ein Bund zwischen Männern« ist.
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Als Joseph erfährt, dass seine Brüder Nahrung suchend endlich zu ihm nach Ägypten reisen, beginnt sich sein Plan zu erfüllen. Stets war er auf das »Nachkommenlassen« (GW IV, 722) seiner Familie bedacht, und nun weiß er, dass die Zeit seiner schelmenhaften Artistik gekommen ist. Nun ist es an ihm, die Geschichte so zu inszenieren, dass sie seinem Anspruch an Unterhaltung, den er auch für den seines Gottes hält, gerecht wird. Mit dem Künstler, genauer gesagt, dem Schriftsteller Mai Sachme, überlegt Joseph, wie die Geschichte zu inszenieren wäre : »Was für eine Geschichte, Mai, in der wir sind ! Es ist eine der besten ! Und nun kommt’s darauf an und liegt uns ob, daß wir das Ergötzlichste daraus machen und Gott all unseren Witz zur Verfügung stellen. Wie fangen wir’s an, einer solchen Geschichte gerecht zu werden ? Das ist’s, was mich so aufregt […].« (GW V, 1590) Hier scheint der Dichter Thomas Mann zu sprechen, der ebenso an sich den Anspruch stellt, seine Geschichte, die ja eine bereits beim Leser bekannte ist, nun dennoch so zu erzählen, dass sie unterhält und zwar besser unterhält als ihre Vorlage. Und noch etwas wird deutlich : Joseph ist am Ziel angekommen. Er ist durch seine machtvolle Position in Ägypten endlich in der Lage, seine Geschichte gleich einem Regisseur zu inszenieren und seine Figuren für sich spielen zu lassen.83 Lesen wir erneut : Wenn Joseph am Ende des Romans zu seinen Brüdern sagt : »›Bin ich denn wie Gott ? Drunten [beim Volk], heißt es, bin ich wie Pharao, und der ist zwar wie Gott genannt, ist aber bloß ein arm, lieb Ding‹«, könnte man ebenso gut antworten : Ja, du bist wie Gott. Denn Pharao ist in seiner Stellvertreterfunktion wie Gott. Josephs Karriere ist die bestmögliche weltliche Umsetzung seines Traumes. In himmlische Höhen jedoch wird Joseph nicht versetzt, denn dies ist dem Menschen auch schlicht nicht möglich. Joseph hat aber begriffen, dass er, wenn er erfolgreich sein will, seinen weltlichen Herren dienen muss, die an Gottes Stelle rücken, denn dieser ist schlicht nicht ›greifbar‹. Von Gott, aus der Transzendenz, kommt aber die Stärkung für diesen Weg, und da der Zugang zu Gott eben nur im Traum unmittelbar möglich ist, Joseph sozusagen ein ›Adressatenproblem‹84 hat, deutet er den Himmelstraum als Auftrag85, sich an die 83 Vgl. Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«, 23 f. 84 Für diesen Ausdruck und die vielfältigen Anregungen danke ich Jochen Hörisch und den Teilnehmerinnen und Teilnehmern seines Oberseminars, an dem ich im Sommersemester 2014 teilnehmen durfte. 85 Marquardt : Erzählte Juden sieht in Josephs Sendungsbewusstsein, seinem Glauben an seine Erwähltheit, die Voraussetzung für sein erfolgreiches Leben ist, lediglich ein »dünkelhaftes Erwählungsbewusstsein«, das die »Einfalt der ›Unterlage‹« (261), die Thomas Mann in den jüdischen Gründungsgeschichten enthülle, einmal mehr zeige. Thomas Mann nennt den biblischen Text selbst »Unterlage« (GW V, 1004).
Erwählung und Willkür : Josephs Himmelstraum
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Adressaten zu wenden, die ihm unmittelbar zugänglich sind : seine weltlichen Herren, also Mont-kaw, Potiphar und schließlich Pharao, der zumindest im Verständnis der Ägypter gottgleich ist.86 Wie genau inszeniert Joseph nun aber sein Leben ? Wie setzt er seinen »Himmelstraum« bestmöglich um ? Hier spielt die Beziehung von Gründung und Ursprung eine entscheidende Rolle, denn »[w]as in der Zeit existiert, gewinnt seine Wirklichkeit, Bedeutung und ›Würde‹ durch seine Beziehung zum Ursprünglichen bzw. Höheren. Alles Hier und Jetzt ist umfangen von einem Nicht-hier und Nicht-jetzt, das ihm erst Wirklichkeit verleiht im Sinne der Eindrücklichkeit und Erinnerbarkeit.«87 Diese Beziehung zum Höheren spürt Joseph deutlich durch seine Träume. Joseph ist hierin noch Teil der mythischen Welt und ist es gewohnt, seine Person und sein Handeln mit Bedeutung aufzuladen, indem er seine Geschicke an Vergangenes anbindet und sein Schicksal in alten Mythen vorgeprägt sieht. Hinzu kommt jedoch sein Wissen darum, dass er im Mythos ist, dass Leben auch immer heißt, in einer Geschichte zu sein. Was ihn antreibt, und hierin hebt er sich von seinen Ahnen ab, ist sein Drang zur Neu-Inszenierung, dass ihm diese gelingen wird und auch wohin sie ihn schließlich führen wird (zum »Höchsten« !), ist er sich jedoch gewiss. Zum einen benötigt er zwar den Mythos, um in der ›Anspielung‹ zu leben, um sein Leben mit Bedeutung aufzuladen und somit sein Vertrauen in die Welt, in sich selbst und Gott zu stärken und vor allem auch, um mythische Ahnungen und Assoziationen in seinen Mitmenschen hervorzurufen. Zum anderen ist seine Gewissheit darüber, dass sein Leben narrativ abläuft, – und dass Narration Geschichten für die Ewigkeit konservieren kann – verantwortlich für seinen Ehrgeiz, eine ganz besonders gute, ganz besonders einmalige und unterhaltsame (Lebens)geschichte zu erzählen. Er will mit seiner Unterweltsfahrt nach Ägypten nicht mehr nur die Unterweltsfahrt Jaakobs zu Laban und die Haupterhebung des Vaters wiederverkörpern. Dies will er auch, er will aber zusätzlich auch der sein, dem das Haupt auf eine neue, abgewandelte Art und Weise erhoben wird. Ja, Labanszeit war es, die nun anbrach für Joseph, und doch war alles ganz anders als im Fleischesfalle des Vaters, und anders fügten sich für den Nachfolger die Dinge. 86 Hier zeigt sich ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor des transzendenten Gottes : Dieser kann den Gläubigen zu immer neuen Höchstleistungen im weltlichen Dienen anhalten, seine grundsätzliche Unerreichbarkeit wird durch die irdischen Stellvertreter aufgefangen. 87 Assmann : Gott-Mythologien der Josephsromane. Düsseldorf 2013 (= Schriften des Ortsvereins BonnKöln der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft e. V., Bd. 7), 11 ; im Folgenden : Assmann : Gott-Mythologien.
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Textanalyse : Joseph und seine Brüder
Denn Wiederkehr ist Abwandlung, und wie im Guckrohr ein immer gleicher Bestand an farbigen Splittern in immer wechselnde Schauordnungen fällt, so bringt das spielende Leben aus dem Selben und Gleichen das immer Neue hervor, die Sohnes-Sternfigur aus denselben Teilchen, aus welchen der Lebensstern des Vaters sich bildete. Die Guckunterhaltung ist lehrreich ; denn in wie andere Ordnungen werden dem Sohne die Splitter und Steinchen sich fügen, die Jaakobs Lebensschaubild ergaben, – aber um wieviel reicher, verwickelter, aber auch schlimmer werden sie fallen ! Er ist ein späterer, heiklerer ›Fall‹, dieser Joseph, ein Sohnesfall, leichter und witziger wohl als der des Vaters, aber auch schwieriger, schmerzlicher, interessanter, und kaum sind die einfachen Gründungen [Hervorhebungen M. A.] und Muster des väterlichen Vor-Lebens wiederzuerkennen in der Gestalt, worin sie wiederkehren in seinem. Was wird zum Beispiel darin aus dem Rahel-Gedanken und -Vorbild werden, der holden und klassischen Lebens-Grundfigur, – welch eine vertrackte und lebensgefährliche Arabeske ! (GW IV, 827 f.)88
Wenn Joseph weiß, dass er in einer Geschichte ist und wenn er auch weiß, in welcher Geschichte er ist, dann muss ihm von Anfang an klar sein, dass er aus der Familiengeschichte ausscheiden wird, dass er seine eigene Geschichte inszenieren und die Imitationsbahn der Ahnen verlassen muss. Zu stark hebt er sich durch seine Individualität und Egozentriertheit, kurz : durch seine Modernität vom Stamm ab, er weiß, dass er diesen Stamm nicht weiterzeugen kann. Das Zeugen und das Leben als Hirte, fernab der Hochkultur Ägyptens mit ihren Inszenierungsmöglichkeiten89, ist nicht die Sphäre seiner Haupterhebung. Dann gilt es aber, einen alternativen Lebensentwurf zu konstruieren, der der Stammesgeschichte ebenbürtig ist, sie aber an allem, was zu einer guten Geschichte gehört – (Liebes)drama, Gewalt, Hass, Eifersucht, Exotik, Spaß und Witz – noch 88 Hier wird noch einmal durch den Vergleich der Rahel- mit der Mut-em-enet-Episode deutlich, dass Joseph etwa nicht am Ende in Asnath seine Rahel und also seine Liebe findet. Vielmehr wäre mit Mut eine Episode der Leidenschaft möglich gewesen. Eine Rahel, die er liebt, wie Jaakob einst seine Mutter, wird es in Josephs Leben nicht geben. 89 Ägypten wird zu »eine[r] Art kultureller Spielwiese« (Schöll : Joseph im Exil, 251). Der Identitätswechsel Josephs entspricht seinem Ortswechsel und wird durch den Namenswechsel angezeigt : Nach Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«, erfüllt Joseph in der Fremde nicht einfach eine »Rolle«, dass es sich vielmehr »um eine neue Identität« handelt, zeigt der mit der Veränderung einhergehende Wechsel des Namens : »Im heimischen Kontext tritt Joseph unter seinem ursprünglichen Namen auf, als Exilant in Ägypten wandelt er sich zu Osarsiph, um am Ende vollständig zum ›Ernährer‹ zu werden.« (21) Zu ergänzen wäre hier, dass die Bezeichnung »Ernährer« Joseph schließlich vor allem auf seine Funktion reduziert und anzeigt, was seine Bestimmung im Leben ist.
Der Umsturz der Ordnung : die symbolische Bedeutung des Schleiers
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übertrifft. Freilich liegt es in der hohen Wertschätzung seiner selbst begründet, dass er dennoch all diese ganz weltlichen Abenteuer an die göttliche Sphäre anbindet und sich so als Gesegneter und Erwählter inszeniert. Dabei ist seine Überzeugung, ein Erwählter zu sein, konstitutiv für seine Identität. An seiner Erwählung, ebenso wie an der Übermacht und unbedingten Vormachtstellung seines Gottes, zweifelt er zu keiner Zeit. Wenn der Mythos ein Spiel für Joseph ist, das man abwandeln und in seinen Teilen austauschen und neu kombinieren kann, so ist der Monotheismus, der Glaube an den Gott der Väter, für ihn zu keiner Zeit verhandelbar. Joseph ist das Ganzopfer, über dessen Exklusivität er selbst eifersüchtig wacht.90 In dem Ausmaße, in dem Joseph an gesellschaftlicher Macht in Ägypten gewinnt, gewinnt er auch immer mehr an Mitteln der Inszenierung hinzu. Sein Wirkungsraum wird sozusagen größer und einflussreicher. Der Erzähler betont, dass Joseph bei seinem Eintritt in Ägypten mit »knapp achtzehn Jahren« »gesellschaftlich gesehen[ ] eine vollkommene Null« (GW IV, 822) war. Zur Zeit seiner gesellschaftlich höchsten Stellung aber, nach der zweiten Grube, am Hofe des Pharaos, ist er schließlich so mächtig, dass er sich nicht mehr durch bloße Anspielungen und Selbstinszenierungen zum Protagonisten einer Geschichte machen muss, was, wir sehen es in der Mut-Episode, auch aus dem Ruder laufen kann. Nein, nun ist er ganz der Regisseur der Geschichte, nun kann er die Geschichte selber nach seiner Vorstellung inszenieren und seine Figuren das Spiel spielen lassen. 2.4 Der Umsturz der Ordnung : die symbolische Bedeutung des Schleiers Doch vorerst lebt Joseph noch unter seinen Brüdern, wenn auch nicht in wirklicher Gemeinschaft mit ihnen. Hierzu trägt in erheblichem Maße auch Jaakob bei, indem er seinem Sohn das kostbare Schleiergewand, das eigentlich dem Segensträger zugedacht ist, überlässt. Das Schleiergewand, die Ketônet passim, wird zum Symbol für die Unordnung, die Joseph innerhalb seiner Familie stiftet. Im Folgenden wird zunächst gezeigt, wie Joseph in den Besitz des Kleides kommt und was dies für seine Stellung innerhalb der Familie bedeutet. In einem zweiten Schritt soll deutlich werden, welche Bewandtnis Jaakob dem Schleier in
90 Vgl. die Szene im Kap. Im Adonishain, in welcher Joseph Benjamin das Tragen des Kranzes verbietet.
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Bezug auf seine Hochzeitsnacht mit ›Rahel‹ zumisst, da es in dieser Nacht um das Prinzip der ›Unterscheidung‹ geht. Nach Friedemann W. Golka wird die Ketônet in der Bibel erstmals in Zusammenhang mit der Übergabe an Joseph genannt. Bei Thomas Mann gehört die Ketônet ursprünglich in die ›Unterwelt‹, denn sie ist Labans Geschenk an seine Tochter. Das Kleid wird seitdem in einer Truhe in Jaakobs Zelt aufbewahrt ; Joseph weiß dies sehr wohl, und in einem Moment liebevollen Leichtsinns hatte Jaakob Joseph gegenüber bereits angekündigt, dem Sohn etwas zu schenken, was ihn »kleiden wird«. (GW IV, 477) Jaakob weiht den Neugierigen nun in die Bewandtnisse des Kleides ein : Da ich [ Jaakob] gedient um Rahel sieben Jahre und der Tag herankam, daß ich sie empfangen sollte im Herrn, sprach Laban zu mir : ›Einen Schleier will ich ihr schenken, daß sich die Braut verschleiere und sich der Nana heilige und sei eine Geweihte. Längst habe ich‹, sprach er, ›die Augendecke gekauft von einem Wandernden und sie in der Truhe verwahrt, denn sie ist kostbar. Einer Königstochter soll sie gehört haben vorzeiten und soll gewesen sein das Jungfrauengewand eines Fürstenkindes, was da ist glaubhaft zu sagen, so kunstfertig wie das Gewirk bestickt ist über und über mit allerlei Zeichen der Götzen. Sie aber soll ihr Haupt darein hüllen und soll sein wie der Enitu eine und wie eine Himmelsbraut im Bettgemach des Turmes Etemenanki.‹ So oder ähnlich der Teufel zu mir. (GW IV, 478 f.)91
Joseph, von derlei anspielungsreichen Geschichten in seiner Neugierde befeuert, beginnt nun ein listiges Werbegebahren, das Jaakob schließlich schwach werden lässt. Dabei ist die Szene deutlich erotisch als Verführung gezeichnet und zwar durch Zitate aus dem biblischen Hohelied. Als Joseph seinen Vater endlich überredet hat, das Kleid anprobieren zu dürfen, ist der Effekt nicht gering. Natürlich sah er aus wie ein Gott. Der Effekt war vernünftigerweise zu erwarten und der geheime Wunsch, ihn hervorzubringen, dem Widerstand Jaakobs nicht zuträglich gewesen. Kaum hatte Joseph, mit Methoden, deren Schlauheit und Anmut man am besten tut ruhig anzuerkennen, das Kleid aus den Händen des Alten in seine hinübergespielt, als es auch schon, mit drei, vier Griffen und Würfen, deren Sicherheit eine natürliche Anlage zur Selbstkostümierung bewies, auf freie und günstige Art seiner 91 Der »Turm Etemenanki« ist eine weitere Anspielung auf Mardug, dem das Etemenanki als Zikkurat gewidmet war. Von »›enitu‹« ist bereits in der Höllenfahrt die Rede. Es bedeutet »Reine«, »Heilige« oder »Bräute Gottes«.
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Person angetan gewesen, – ihm das Haupt bedeckt, die Schultern umwand, an seiner jungen Gestalt in Falten hinabwallte, aus denen die Silbertauben blitzten, die Buntstickereien glühten und deren langer Fall ihn größer als sonst erscheinen ließ. Größer ? Hätte es dabei nur sein Bewenden gehabt ! Aber der Prunkschleier stand ihm auf eine Weise zu Gesicht, daß es schwergefallen wäre, seinem Ruf unter den Leuten noch irgendwelchen kritisch mäßigenden Widerpart zu bieten, er machte ihn dermaßen hübsch und schön, daß es schon nicht mehr geheuer war und tatsächlich ans Göttliche grenzte. Das Schlimmste war, daß seine Ähnlichkeit mit der Mutter, in Stirn, Brauen, Mundbildung, Blick, nie so sehr in die Augen gesprungen war als dank dieser Gewandung, – dem Jaakob in die Augen, so daß sie ihm übergingen und er nicht anders meinte, als sähe er Rahel in Labans Saal, am Tag der Erfüllung. (GW IV, 482 f.)
Der Schleier entspricht Josephs Drang nach Anspielung und Identifikation und macht ihn weiblich-schön. Doch der Anspielung nicht genug : »Lächelnd stand im Knaben die Muttergöttin vor ihm und fragte : ›Ich habe mein Kleid angezogen, – soll ich’s wieder ausziehen ?‹« (GW IV, 483) Dieser Satz ist aus dem Hohelied entlehnt, wo es heißt : »Ich habe mein Kleid ausgezogen, soll ich’s wieder anziehen ?« Doch Joseph zitiert hier nicht nur das Hohelied, denn auf dem Kleid selbst, das nach Jan Assmann eine Figur des kulturellen Gedächtnisses ist, ist dieser Satz gestickt und Rahel hatte ihn bereits gesprochen.92 Im Hohelied, sicher das erotischste Buch der Bibel, unterhalten sich zwei Verliebte – Mann und Frau. Josephs Worte sind hier also Teil einer erotischen Rede, in der freilich ein angemessener Partner fehlt. Denn Joseph spricht nicht zu einer Geliebten, sondern zu seinem Vater. Und für den ist der Sohn in dieser Szene zwar wie seine geliebte Rahel, ist es aber nicht. Die Geschlechter- und die Generationenordnung wird hier von Joseph durch mythische Anspielungen verwirrt. Joseph verführt den Vater, ihm das Brautkleid Rahels zu geben.93 Und was der Vater damit anrichtet, scheint er ahnungsvoll zu wissen : »›Nein, behalt es, behalt es !‹ sagte der Vater ; und während der Gott entsprang, hob jener die Stirn und Hände, und seine Lippen bewegten sich im Gebet.« (GW IV, 483) Was nun folgt, war zu erwarten : »Das Aufsehen war ungeheuer.« (GW IV, 483) In seiner Prahlsucht zeigt sich Joseph der ganzen Sippe. Zunächst sollen 92 Vgl. GW IV, 298 : »Und Rahel entzifferte : ›Ich habe mein Kleid ausgezogen, soll ich’s wieder anziehen ?‹« In dieser Form auch in HL 5, 3. Vgl. auch Golka : Joseph, 50. 93 Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«, 26 sieht hier eine homoerotische Komponente : »Selbst die Beziehung zu seinem leiblichen Vater ist nicht frei von einer homoerotischen Anziehung, die Joseph wiederholt geschickt für seine Zwecke zu nutzen versteht.« Ich denke jedoch, dass im Kern dieser Verführung die Ähnlichkeit mit der geliebten Rahel steht.
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die Mägde, Bilha und Silpa, ihn bewundern. Joseph »präsentiert seine Segenträgerschaft im performativen Akt als vollendete Tatsache, im Wissen darum, dass, wer das Gewand des Gesegneten trägt, der Gesegnete ist […].«94 Durch die Prahlerei mit seinem Schleiergewand vor den Frauen seines Vaters übertritt Joseph soziale Regeln des Miteinanders, der Erzähler gibt unmissverständlich zu verstehen, dass ihm dieser Regelverstoß zum Verhängnis werden wird, denn die sarkastischen Lobeshymnen auf den Schleierträger missversteht Joseph ; er erkennt den Sarkasmus in der Rede der Frauen nicht und versteht ihren Rat, sich allen, und zuvorderst den Brüdern, im Gewand der Auserwählung zu zeigen, als ehrlich gemeintes Lob. Fast unwahrscheinlich zu sagen, aber Joseph empfand nicht die dick aufgetragene Bitterkeit und Tücke in den Worten der Frauen. Sein Erfülltsein, seine kindliche und nichtsdestoweniger sträfliche Vertrauensseligkeit machten ihn taub dagegen und unempfänglich für Warnung. Er ließ sich die Süßigkeit ihrer Reden gefallen, überzeugt, daß nichts anderes als Süße ihm zukomme, und ohne daß er sich die geringste Mühe gegeben hätte, in ihr Inneres zu schauen. Das aber eben war das Sträfliche ! Gleichgültigkeit gegen das Innenleben der Menschen und Unwissenheit darüber zeitigen ein völlig schiefes Verhältnis zur Wirklichkeit, sie erzeugen Verblendung. […] Einbildungskraft und Kunst des Erratens in Bezug auf das Gefühlsleben der anderen, Mitgefühl also, ist nicht nur löblich, sofern es die Schranken des Ich durchbricht, es ist auch ein unentbehrliches Mittel der Selbsterhaltung. [Hervorhebung M. A.] Von diesen Regeln wußte Joseph nichts. (GW IV, 484 f.)
Aber Joseph wird auch direkt gewarnt, von Ruben, der das Schlimmste kommen sieht und zu verhindern sucht. Der Disput, den die Brüder nun um den rechtmäßigen Besitz des Kleides führen (GW IV, 498 ff.), enthüllt Josephs ganze Sprachgewalt, indem er Ruben über »Wahrheit« und »Wirklichkeit« (GW IV, 499) belehrt, sich mit der Mutter in eins setzt und den rechtmäßigen Besitz des Schleiers anmahnt, so dass Ruben zunächst »stutzte« (ebd.) und »wankte« und es ihm schließlich »schwindelte« (GW IV, 500). Ruben ist entsetzt über so viel »Hochmut« (GW IV, 500), doch kann er auch seine Bewunderung nicht verleugnen. Aber die Magie des Wortes, die das Obere ins Untere zog, diese zwanglos freie und zweifellos echte Gefügigkeit der Sprache zu verwechselndem Zauber, ließ die Stapfen, 94 Ebd., 20. Ebenso trägt Joseph auch den Myrtenkranz als Zeichen der »Erberwählung und Erstgeburt«.
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in denen der junge Bruder wandelte, vor Rubens Augen hell erschimmern. Er hielt den Joseph in diesem Augenblick nicht geradezu für eine verschleierte Doppelgottheit von beiderlei Geschlecht – wir wollen so weit nicht gehen. Und dennoch war seine Liebe [Hervorhebung M. A.] nicht weit vom Glauben. ›Kind, Kind !‹ sagte er mit der zarten Stimme seines mächtigen Leibes, ›schone deine Seele, schone den Vater, schone dein Licht ! Stelle es unter den Scheffel, daß es dir nicht zum Verderben leuchte !‹ Dann trat er drei Schritte rückwärts mit gesenktem Haupt und wandte sich erst danach von Joseph hinweg. Beim Abendmahl aber trug dieser das Kleid, so daß die Brüder wie Klötze saßen und Jaakob sich fürchtete. (GW IV, 500 f.)
Die Schlussszene spielt auf das letzte Abendmahl95 an, das Jesus mit seinen Jüngern am Vorabend seines Kreuzestodes feiert, und verweist damit bereits auf Josephs Gruben-Schicksal. Doch nicht nur von Ruben wird Joseph gewarnt, auch von Eliezer, der Joseph die Doppelbedeutung des Schleiergewandes enthüllt : ›Ein Großes, mein Kind, […] hat Jisrael dir geschenkt, denn im Schleier ist Leben und Tod, aber der Tod ist im Leben und das Leben im Tod, – wer es weiß, ist eingeweiht. Es mußte die schwesterliche Mutter-Gattin sich entschleiern und entblößen am siebenten Höllentor und im Tode, da sie aber zurückkehrte ins Licht, verschleierte sie sich wieder, zum Zeichen des Lebens. Siehe das Saatkorn an : Sinkt es zur Erde, so stirbt’s, auf daß es zur Ernte entstehe. Denn der Ähre ist schon die Sichel nahe, die im Schwarzmonde wächst als junges Leben, da sie doch der Tod ist und den Vater entmannt, nämlich zu neuer Herrschaft der Welt […]. So ist im Schleier das Leben nach der Entblößung im Tode, und alsobald schon ist darin Erkennen und Tod, da doch wieder im Erkennen die Zeugung ist und das Leben. Großes verlieh dir der Vater, Licht und Leben, da er dich verschleierte mit dem Schleier, den die Mutter lassen mußte im Tode. Darum hüte ihn, Kind, daß ihn dir niemand entreiße und nicht der Tod dich erkenne !‹ (GW IV, 486 f.)
Thomas Mann spielt hier mit der Doppeldeutigkeit des Wortes »Erkennen«, das sowohl Erkenntnis als auch den Zeugungsakt meint und somit die Inbesitz95 Etwa Mat. 26, 17–30 ; Joh. 13. Auch dieses Motiv wird in Der Erwählte wieder aufgenommen : »Er [Gregorius] aß vom Brote, trank von dem Wein, und von dem Augenblick an begann in stillem und stetem, unüberstürztem Vollzuge, ich möchte sagen : ohne viel Aufhebens von sich zu machen […] die Wandlung […].« (VII, S. 231) Gregorius, das Igeltier, erlangt durch das Sakrament des Abendmahls wieder Menschengestalt.
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nahme durch beides verdeutlicht. Der Schleier, der ebenso für Zeugung und Leben als auch für den Tod steht, symbolisiert somit den ewigen Kreislauf von Erstehen und Vergehen. Mit »Mutter-Gattin« ist Ischtar gemeint. Die Verbindung der Josephsgeschichte mit dem Ischtar-Mythos über den Schleier kannte Thomas Mann aus einem reich bebilderten Werk von Immanuel Benzinger, das starke Lesespuren aufweist und in dem Thomas Mann zahlreiche Einzelheiten zur Kleidung und zur allgemeinen Lebensführung (Feste, Ackerbau, Wissenschaften etc.) der antiken Welt finden konnte.96 Dort heißt es : Wenn Ischtar in die Unterwelt geht, wird sie dort an den Toren entkleidet. Solange sie in der Unterwelt weilt, ist auf Erden die Zeit des Todes, alle Vegetation hört auf. Die entschleierte Ischtar bringt den Tod, wer den Schleier des Bildes von Sais lüftet, stirbt. Wenn Ischtar die Unterwelt verläßt, wird sie wieder in ihre Kleider gehüllt und tritt verschleiert ihrem Geliebten, dem Tammuz-Adonis, entgegen. Aber Ischtar bringt ihren Buhlen den Tod (vgl. Tamar Gen 38 7 ff.; Sara in der Tobiasgeschichte Tob 3 7 ff.) ; also auch hier stirbt, wer die Ischtar entschleiert, während andererseits alles Leben hier seinen Ausgangspunkt hat. Im ewigen Kreislauf gehen Natur und Tod in stetem Wechsel immer wieder ineinander über.97
Thomas Mann hat in seinem Exemplar diese Stelle angestrichen und den Satz »Die entschleierte Ischtar bringt den Tod« zusätzlich unterstrichen.98 Joseph ist sich der Bedeutung des Schleiers selbstverständlich bewusst : Nun war Joseph gewiß auf dem Gebiet des Doppelten nicht schlecht zu Hause. Er trug es durchaus im Geiste, daß sich in der Person der Ischtar eine Jungfrau und ein 96 Immanuel Benzinger : Hebräische Archäologie. Leipzig 1927, im Folgenden : Benzinger : Hebräische Archäologie. Vgl. auch Lehnert : Josephstudien, 388. 97 Benzinger : Hebräische Archäologie, 85. 98 Allerdings : In 2. Sam 13 handelt es sich nicht um die Thamar, der im Roman ein eigenes Hauptstück gewidmet ist. Die hier erwähnte Thamar ist nicht die Schwiegertochter Judas, sondern die Schwester Absaloms und Amnons, die wiederum die Söhne Davids sind. Auffällig ist, dass es sich in 2. Sam. 13 ebenfalls um eine Szene handelt, in der es um den Beischlaf geht, allerdings um einen gewaltsam erzwungenen Beischlaf, also um Vergewaltigung. Thamar wird von ihrem Bruder Amnon vergewaltigt, obwohl sie auf die Schuld hinweist, die Amnon damit begehen würde, und somit 3. Mose 18, 9 und 5. Mose 22, 21 zitiert : »Komm her, meine Schwester, schlaf bei mir ! Sie aber sprach zu ihm : Nicht, mein Bruder, schwäche mich nicht, denn so tut man nicht in Israel ; tue nicht eine solche Torheit ! Wo will ich mit meiner Schande hin ? Und du wirst sein wie die Toren in Israel. Rede aber mit dem König ; der wird mich dir nicht versagen. Aber er wollte nicht gehorchen und überwältigte sie und schwächte sie und schlief bei ihr.«
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Jüngling vereinigten und daß in dem, der den Schleier tauschte mit ihr, in Tammuz, dem Schäfer, dem Bruder, Sohne und Gatten, daß sie eigentlich zusammen vier ausmachten. […] Israel, des Vaters geistlicher Name in seinem erweiterten Verstande, war jungfräulich ebenfalls in doppeltem Sinn, verlobt dem Herrn, seinem Gott, als Braut und als Bräutigam, ein Mann und ein Weib. Und er selbst, der Einsame, Eifrige ? War er nicht Vater und Mutter der Welt auf einmal […] ? (GW V, 1128)
Während Jaakob jedoch seine Verlobung mit Gott auf einer theologischen Ebene auffasst und vornehmlich als Auftrag versteht, an Gottes Größe erkennend zu arbeiten, nimmt Joseph seine bräutliche Beziehung zu Gott wörtlich und verschließt sich im Leben der Erotik und Leidenschaft.99 Als Braut ist Joseph bereits vergeben, deshalb ist eine Beziehung zu seiner Herrin100 in Ägypten, Mutem-enet, die die männliche, aktive Rolle des Verführers übernimmt, von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das eigentlich Verstimmende für ihn [ Joseph] war eben die stolze Unumschränktheit, mit der sie [Mut-em-enet] die Redefreiheit der Herrin auch auf die neuen Verhältnisse anwandte und ihm verfängliche Artigkeiten über seine Augen sagte, wie der Liebhaber sie seinem Fräulein sagt. Man muß bedenken, daß in der weiblichen Abwandlung des Wortes ›Herr‹ – daß also im Namen der ›Herrin‹ das ursprünglich männliche Element immer gebietend erhalten bleibt. Eine Herrin, das ist, körperlich gesehen, ein Herr in Weibesgestalt, geistig gesehen aber ein Weib von herrenhaftem Gepräge, so daß eine gewisse Doppelheit, in der sogar die Idee des Männlichen vorwiegt, dem Herrinnennamen niemals fehlen kann. (GW V, 1127 f.) 99 So wird Joseph etwa auch als »Rahels jungfräuliches Erbe« (GW IV, 559) bezeichnet. Joseph verschließt sich jedoch nicht sein Leben lang der Zeugung. Der Erzähler geht in einem eigenen Kap. (Von Josephs Keuschheit, GW V, 1133–1146) auf diese Bewandtnisse ein. 100 Vgl. Nagel : Aussonderung, 214. Stefan Nagel fasst Thomas Manns Frauenfiguren grundsätzlich als »Herrinnen« auf, die den Mann bedrohen (161 f.). Holger Rudloff betont in Anlehnung an Hans Rudolf Vaget : Goethe. Der Mann von sechzig Jahren. Mit einem Anhang über Thomas Mann. Königstein 1982, 160, dass »[d]er Terminus ›Herrin‹ […] eine Mischung von männlichen und weiblichen Eigenschaften [signalisiert].« (Holger Rudloff : Pelzdamen. Weiblichkeitsbilder bei Thomas Mann und Leopold von Sacher-Masoch. Frankfurt a. M. 1994, 128.) In diesem Sinne bleibt Joseph als Diener Mut-em-Enets zu einem gewissen Grad in der patriarchalen Ordnung. Zum Motiv der ›Herrin‹ s. auch : Peter Dettmering : Dichtung und Psychoanalyse. Thomas Mann – Rainer Maria Rilke – Richard Wagner. Frankfurt a. M. 1969 [= Sammlung Dialog 33 (1969)], Kap. V : Die ›Herrin‹, 54–64. Vgl. auch : Hans Mayer : Außenseiter. Frankfurt a. M. 1975, 263 f.; Eckhard Heftrich : Potiphars Weib im Lichte von Wagner und Freud. Zu Mythos und Psychologie des Josephromans. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 4 (1991), 58–74 ; Hermann Kurzke : Hunde im Souterrain, 126 ff.
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Erst ganz zum Schluss seiner Reise, wenn Joseph alles erreicht hat, was ihm auf Erden möglich war, kann er eine Beziehung eingehen, und zwar zu einem »Mädchen« (GW V, 1512), er kann hier also ganz die Rolle eines väterlichen Mannes übernehmen, sein bräutliches, weibliches Verhältnis zu Gott bleibt dabei, anders als es bei Mut der Fall gewesen wäre, unangetastet. »Als Joseph heiratet, heiratet er nicht eine Mutter, sondern eine Tochter.«101 Die Rechtfertigung für seine Zweigeschlechtlichkeit und damit sein bräutliches Verhältnis zu Gott leitet Joseph dabei vom Wesen Gottes selbst ab : Und er selbst, der Einsame, Eifrige ? War er nicht Vater und Mutter der Welt auf einmal, doppelgesichtig, ein Mann nach seinem dem Tageslicht zugekehrten Antlitz, ein Weib aber dem anderen nach, das ins Dunkel blickte ? Ja, war nicht diese Zweiheit von Gottes Natur das Erstgegebene, durch das der geschlechtliche Doppelsinn des Verhältnisses Israel zu ihm und besonders noch das persönliche Josephs, das stark bräutlich, stark weiblich war, erst bestimmt wurde ? (GW V, 1128)
Die Doppelgesichtigkeit Gottes ist dabei auch durchaus als doppelter Machtbereich aufzufassen. Es erweist sich erneut, dass Gott nicht nur das Gute ist, sondern das Ganze. Betont sei, dass Joseph der einzige Mann ist, der durch das Schleiermotiv mit dem Erotischen verknüpft ist, das Tragen eines Schleiers ist ansonsten den weiblichen Figuren vorbehalten. Der Schleier unterstützt bei den Frauenfiguren die Grundkonnotation des Weiblichen im Text. So trägt ihn Lea als untergeschobene, falsche Braut, Mut hüllt sich zur Verführung und Reizerhöhung in durchsichtige Schleiergewänder und Thamar schlüpft in ein ›Ketônet paspasim, das Schleiergewand der Bestrickenden‹ (V, 1572), um sich als Hure zu maskieren. Der Schleier kommt bei weiblichen Figuren ins Spiel, wenn es um Blendung oder Bedrohung des Mannes, um Sexualität und Tod geht.102
Doch das Schleiergewand steht in seiner Funktion nicht nur für Sexualität, es ist selbst von einer Fülle »sinnigster Zeichen und Bilder« (GW IV, 297) be-
101 Kurzke : Hunde im Souterrain, 135. 102 Keiler : Geschlechterproblematik, 172. Vgl. auch die dominant-werbende Ischtar im Gilgamesch-Epos, die von Gilgamesch als männermordende Furie beschrieben wird. (Vgl. Tafel VI) ; vgl. auch Schulz : Identitätsfindung, 152, Anm. 262.
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deckt, »Zeichen der bisexuellen, der androgynen, […] der inzestuösen Liebe und Fruchtbarkeit«103, die den verschiedensten Mythen entnommen sind : Ischtar-Mami’s Figur war oft und in verschiedener Ausführung dargestellt, nackt und klein, wie sie mit den Händen Milch aus ihren Brüsten preßt, Sonne und Mond zu ihren Seiten. […] [U]nd silbern glänzte öfters die Taube, als Vogel der Liebes- und Muttergöttin, im Gewebe. Gilgamesch, der Held, […] war da zu sehen, wie er im Arm einen Löwen drosselt. […] Man sah unterschiedliches Getier, […] eine Fledermaus […]. In einem bunten Vogel aber erkannte man Tammuz, den Schäfer, den ersten Gesellen ihrer [Ischtars] Wollust. […] (GW IV, 297 f.)
Auch der biblische Sündenfall – Baum und Schlange – wird bildlich dargestellt sowie die Dattelpalme, »ein Zwitterbaum, dessen Fertilität die Ägypter früh zu beschleunigen wußten, indem sie mit dem männlichen Fruchtstand die phallisch längliche Blüte berührten.«104 Der Schleier, mit welchem Joseph den Brüdern gegenübertritt, ist also ein ganz und gar erotisch aufgeladenes Kleidungstück. Mit seiner Ketônet, die Josephs Schönheit so unheimlich verstärkt, irritiert er die Brüder in ihrer Identität als Männer, Joseph ruft also eine Verwirrung der Geschlechter hervor, die die Brüder so nicht akzeptieren können, es gilt, diese wieder zurechtzurücken. Wie sehr die Brüder nicht nur durch den übermäßigen väterlichen Vorzug gekränkt sind, sondern sich in ihrer körperlichen Stärke und ihrer Sexualität, was beides eng verknüpft zu sein scheint, verunsichert fühlen, zeigt die Unterhaltung der Brüder im Kapitel Von Lamechs Strieme, auf die ich gleich zurückkommen werde. Die symbolische Bedeutung des Schleiers unterstreicht auch Elisabeth Galvan, die sorgfältig die Bezüge zu Johann Jakob Bachofen offenlegt. Auch Bach ofen betont den »erotischen Charakter« des Schleiers, »als Webstück trägt er die tellurisch-aphroditische Natur in sich«105 und verweist somit auf »die Be-
103 Curtius : Erotische Phantasien, 172. 104 Ebd., 172 f. In dieser ›Bestäubungsfunktion‹ trifft Joseph auch zum ersten Mal auf seinen ägyptischen Herrn Potiphar (vgl. GW IV, 881–893), und auf diese sexuell aufgeladene Tätigkeit spielt Joseph im Gespräch mit Mut wieder an (vgl. GW V, 1099), vgl. auch Curtius : Erotische Phantasien, 171 ff. Curtius verweist zudem darauf, dass an dem menschlichen Eingreifen in die Fruchtbarkeit der Natur bereits Josephs landwirtschaftliches Wirken in Ägypten angedeutet wird. »Wirtschaftliche Prosperität, menschliches Planen und alle utopischen Träume gehen ineinander über, von allen zeugt die Szene in Potiphars paradiesesschönem Baumgarten.« (175). 105 Galvan : Bachofen-Rezeption, 56. Galvan zitiert hier Bachofen.
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griffssphäre […] des Matriarchats«106. Da der Schleier aber auch gleichzeitig Zeichen der Erwählung ist und der, der ihn trägt, den Erstgeburtssegen von Jaakob erhalten soll, deutet der Schleier zum einen auf die gestörte Bruderordnung, zum anderen auf einen Machtwechsel vom Patriarchat zum Matriarchat hin107, eine Ordnung, die die ganze Verfasstheit des Stammes angreifen würde, und zugleich auch ein Affront gegen den als Vorbild dienenden Vatergott ist. Man muss sich an dieser Stelle die Verfasstheit und Struktur des patriarchalisch organisierten Jaakobs-Stammes noch einmal vor Augen führen : Zum einen sind die Machtstrukturen klar geordnet. Es gibt ein Oberhaupt des Stammes, das den Segen trägt, und einen Erben. Zum anderen ist auch die Geschlechterordnung klar festgelegt : Der Stamm ist auf Fortpflanzung und somit auf Vergrößerung und Machtgewinn ausgerichtet, zu diesem Zwecke ist es vonnöten und natürlich auch durchaus willkommen, mehrere Frauen zu Fortpflanzungszwecken zu besitzen. Joseph gliedert sich aus dieser patriarchalischen Ordnung mit dem Tragen des Schleiers bewusst aus. Er ignoriert die Erbfolge und er ignoriert geschlechtliche Schranken. Die Brüder können diesen Angriff also keinesfalls unbeantwortet lassen, denn sie sind persönlich und darüber hinaus noch ›politisch‹ betroffen. Bereits Eliezer hatte gegenüber Joseph von einem Machtwechsel, vom Ende der Ära der Vaterherrschaft gesprochen, das durch »Entmannung« drohe. Bei Sigmund Freud sind es bekanntlich ebenfalls die Söhne, die den Vater entmannen und somit entmachten. Diese latente Gefahr droht dem Vater stets durch die neue Generation. Nun trägt der erwählte Sohn in der Josephsgeschichte aber den Schleier der Muttergöttin, was eben nicht nur einen Machtdurch Generationenwechsel, sondern eben auch das Umstürzen des gesamten patriarchalischen Systems bedeuten würde. Joseph ist also eine vierfache Bedrohung für den Stamm Israel : eine existentielle (Verweigerung der Zeugung), eine religiöse, eine machtpolitische und eine persönliche auf der Ebene der Identität der einzelnen Mitglieder des Stammes, allen voran der Brüder.
106 Ebd., 57. 107 Peter Dettmering, und nach ihm Stefan Nagel : Aussonderung, 161, haben darauf hingewiesen, dass auch in anderen Werken das Patriarchat vom Matriarchat abgelöst wird. Ein Beispiel hierfür sei das Überleben der weiblichen Figuren in Buddenbrooks (Peter Dettmering : Suizid und Inzest im Werk Thomas Manns. In : Ders.: Dichtung und Psychoanalyse : Thomas Mann – Rainer Maria Rilke – Richard Wagner, München 1969, 79). Ob ein reines Überleben – denn die Familie Buddenbrook hat ja ihr Ansehen, ihren Einfluss und Wohlstand zu einem großen Teil eingebüßt – jedoch auf einen Wechsel zum Matriarchat hindeutet, sehe ich eher kritisch.
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Exkurs : Vom Unterschied der rechten und der falschen Braut
Auch für den Lebensweg Jaakobs hat das Schleiergewand eine große Bedeutung. Der Schleier macht in Jaakobs Hochzeitsnacht den Betrug Labans an ihm möglich. Gerade in dieser Szene der Vertauschung, in welcher Jaakob Lea, die ältere Tochter Labans, nicht Rahel, die Rechte, zugeführt wird, wird die Unterscheidung gepriesen, obwohl Jaakob doch gerade nicht unterscheiden will : »Laß uns preisen die Unterscheidung, und daß du Rahel bist und ich Jaakob bin und zum Beispiel nicht etwa Esau, mein roter Bruder !108 […] Gott ist die Unterscheidung !« (GW IV, 308) Dass hier die Unterscheidung so sehr betont und Gott als geradezu entscheidende Eigenart zugeschrieben wird, zeigt, dass Jaakob weiß, dass dieser Betrug sein muss, dass es eben seine Geschichte ist und er hier den mythischen Vorgaben folgen muss. So sind zwei Gründe anzuführen, aus denen heraus Jaakob den Betrug in Kauf nimmt. Zum einen weiß Jaakob, dass seine Heirat mit Rahel eigentlich die Ordnung stören würde. Denn Lea, die ältere Tochter, müsste als erste in den Stand der Ehe treten.109 Die unheimliche Bewandtnis, die es damit auf sich hat, die erste und somit Rechte, aber nicht Rechte des Herzens zu ehelichen, enthüllt ihm bereits »Anup, der Führer und Öffner der Wege«110 (GW IV, 289), der Jaakob als ägyptischer Gott (»Sohn des Usiri«, ebd.) und zugleich als hundsköpfige Hermesgestalt111 in einem Traum vor (!) seiner Hochzeitsnacht erscheint und ihm von seinen unordentlichen Zeu108 An dieser Stelle wird auf den Segensbetrug, den Jaakob zusammen mit Rebekka und wohl auch mit dem Wissen Isaaks, der nicht mehr sehen wollte, begangen hat, angespielt. Auch Jaakob ›erkennt‹ Rahel »mit sehenden Händen« (GW, IV, 308). Da der Erzähler zuvor nicht versäumt, immer wieder die sehr unterschiedlichen Physiognomien der beiden Laban-Töchter zu betonen (vgl. GW IV, 237), kann man auch bei Jaakob davon ausgehen, dass er auf gewisse Weise, ebenso wie Isaak, den Betrug, demütig seiner Rolle folgend, wissend hinnimmt. 109 Am Rande sei erwähnt, dass Lea in ihrer Physiognomie auch durchaus als die Gebärfähigere anmutet, was auch Jaakob nicht verborgen bleibt : »›Allerdings, sie [Lea] ist etwas älter. Sie ist stattlich und stolz trotz kleinerer Mängel ihres Äußeren oder gerade ihretwegen, und wäre wohl tüchtig, mir Kinder zu gebären, wie ich sie wünsche.‹« (GW IV, 264). 110 Auf seiner Flucht vor dem betrogenen Bruder Esau läuft ein Schakal Jaakob durch die Wüste voraus, und Jaakob weiß schon hier, dass es sich um »den Öffner der ewigen Wege, den Führer ins Totenreich«, den Hermes-Psychopompos, in das Reich Labans handelt. (GW IV, 221) Der Schakal hat ebenso wie Anup »schmutziggelb[es]« Fell und besitzt ebenfalls einen »beizende[n] Dunst« (Ebd.). Hundefiguren durchziehen den Roman leitmotivisch und verweisen stets auf das Triebhafte und Geschlechtliche. »Der Hund ist in der Bilderwelt des Romans ›das Symbol der unbeschränkten Geschlechtsmischung«. S. Kurzke : Die Hunde im Souterrain, 13 und FN S. 181. (Kurzke zitiert hier Bäumler). 111 S. Kurzke : Mondwanderungen, Kap. Der Hundsköpfige.
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gungsumständen berichtet : »›Sie hätte nicht meine Mutter sein sollen‹ […]. Sie war die Unrechte. Die Nacht war schuld.« (Ebd.) Und weiter : »›Denn es ist ein Frauenleib wie der andere, gut zum Lieben, zum Zeugen gut. Nur das Angesicht unterscheidet den einen vom andern und macht, daß wir wähnen, in diesem zeugen zu wollen, aber in jenem nicht. Denn das Angesicht ist des Tages, der voller aufgeweckter Einbildungen ist, aber vor der Nacht, die die Wahrheit weiß, ist es nichts.‹« (GW IV, 291) Die Leidenschaft, der Trieb, ist im Augenblicke der Zeugung blind und unterscheidet, hier ganz der Schopenhauer’sche Wille, eben nicht. Erst bei Tage, wenn die Vernunft wieder Herr über die Zeugenden geworden ist, liebt der Liebende wieder individuell und differenziert. Diese Reflexion über das Wesen des Triebes ist eingebunden in Anups Bericht vom Usiris-Mythos, der Jaakob als mythisch Gebildetem natürlich bekannt ist. Usiris wurde einst von seinem eifersüchtigen Bruder Set zerstückelt, als Strafe dafür, dass der Unwissende mit Nebthot schläft und dabei den Unglücksknaben Anup zeugt. Die liebende »Eheschwester« (ebd.) des Usiris, Eset, fügt den Zerstückelten wieder zusammen und umfängt ihn, als Geierweibchen über ihm schwebend, im Tode, so dass Geschlecht und Tod sich im Zeugungsakt verschränken und zur Auferstehung des Usiris führen : »Denn im Geschlecht ist der Tod und im Tod das Geschlecht, das ist das Geheimnis der Grabkammer, und das Geschlecht zerreißt die Wickelbinden des Todes und steht auf gegen den Tod, wie es mit dem Herrn Usiri geschah […].« (GW IV, 293) Durch den Hinweis auf die Zeugung im Dunkeln und das Umfangen der Falschen wird der Usiris-Mythos in Vorausschau mit der Brautnacht Jaakobs verschränkt.112 Jaakob wird durch Anup »auf eine große Täuschung« vorberei112 In Bezug auf Anup und Lea werden zudem ähnliche Wendungen zur Beschreibung ihrer Physiognomie verwendet : »[Lea] gab aber ein Beispiel ab für die eigentümliche Entwertung, die ein tadelfreier Gliederwuchs durch ein häßliches Antlitz erfährt.« (GW IV, 237) Und : »Aber an den schmalen Schultern schon, der oberen Brust und dem Halse begannen dem Gotte Haare zu wachsen und wurden zum lehmgelben Pelz des Hundskopfes mit dem weit gespaltenen Maul und den kleinen, hämischen Augen, der ihm anstand, wie eben ein blödes Haupt einem stattlichen Körper ansteht : entwertend und traurig […].« (GW IV, 288 f.) Thomas Mann verwendet dieses Motiv u. a. auch in der Erzählung Die vertauschten Köpfe, die 1940, also zwischen dem dritten und vierten Josephband, entstanden ist. Hier ist es eine besondere Auszeichnung der Schönheit Sitas, »daß nicht etwa diese reizende Körpergestalt durch ein häßliches Antlitz entwertet und seiner Bedeutung beraubt wurde, sondern daß Einheit [Hervorhebung M. A.] waltete und die Anmut des Köpfchens diejenige des Wuchses vollauf bestätigte.« Ein schöner Körper und ein schönes Haupt symbolisieren also Ordnung, Einheit und Ebenmaß.
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tet. Er weiß, auch wenn es nur eine träumerische Gewissheit ist, dass auch er erst die Falsche, aber Gebärfähige, umfangen muss, bevor er seinen rechten Weg weitergehen kann, so will es der Mythos, und Jaakob weiß dies. »Jaakob heiratet zwei Frauen, Rachel und Lea, eine fürs Gemüt, die andere für Sexualität und Nachkommenschaft, ein Gesicht ohne Körper (Rahel) und einen Körper ohne Gesicht (Lea […]), eine liebliche und eine leibliche […].«113 Jaakobs rechter Weg besteht in dem Auftrag seines Gottes zur Mehrung. Weiß Jaakob doch insgeheim, dass seine Labanszeit für ihn noch lange nicht beendet ist und dass es noch nicht seine Zeit ist, die Rechte wieder in seine Heimat zu führen, denn Jaakob ist bei Leibe noch nicht so reich an Vieh und Gold (und Kindern), als dass er in einem Triumphzuge heimkehren könnte. Hauptsächlich aber urteilte Jaakob, er habe aus seinem Untergang in Labanswelt noch nicht genug Nutzen gezogen, sei noch nicht schwer genug in ihr geworden. Die Unterwelt barg zweierlei : Kot und Gold. Den Kot hatte er kennengelernt : in Gestalt grausamer Wartezeit und des noch grausameren Betrugs, mit dem Laban, der Teufel, in der Brautnacht ihm die Seele gespalten. Auch mit Reichtum hatte er sich angefangen zu beladen, – aber nicht hinlänglich, nicht ausgiebig ; was nur zu tragen war, galt es aufzupacken, und Laban, der Teufel, mußte noch Gold lassen, sie waren nicht quitt, er mußte gründlicher betrogen sein : nicht um der Rache Jaakobs willen, sondern schlechthin, weil es sich so gehörte [Hervorhebung M. A.], daß zuletzt der betrügerische Teufel spottgründlich betrogen war […]. (GW IV, 325 f.)114
Der Schleier markiert also im Roman wichtige Schlüsselszenen115, er ermöglicht den Betrug in Jaakobs Hochzeitsnacht und ist schließlich auch der ausschlaggebende Grund für die Gewalt der Brüder gegen Joseph. 2.5 Die mythische Vorlage. Der erste Mord : Kain und Abel Das Leitmotiv des antagonistischen Bruderpaares, das vielfach im Roman beschworen wird, findet seinen Ursprung im Mythos vom ersten biblischen Mord : Kain ermordet aus Eifersucht seinen gottgefälligen Zwillingsbruder Abel : »Das
113 Kurzke : Die Hunde im Souterrain, 127. 114 Vgl. Kinder : Geldströme, Kap. 5.1.5 Kot und Gold : Die kapitalistische Unterwelt, 125–131. 115 Vgl. Galvan : Bachofen-Rezeption, 49.
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Urmodell der zwischenmenschlichen Sünde ist also die Gewalttat«116. Eifersucht und Bevorzugung sind zwei Aspekte, die das Verhältnis aller nachfolgenden Bruderpaare kennzeichnen wird : Isaak/Ismael, Jaakob/Esau.117 In der Josephsgeschichte findet dieses Motiv dann insofern eine Abwandlung, als hier die Zweiheit zugunsten der Vielheit aufgehoben wird und Joseph sich zehn118 Brüdern gegenüber sieht. Kain ist in dieser Typologie – und mit ihm Ismael, Esau und die zehn Lea-Söhne – der Typus des Roten119, der Wilde, der gegenüber seinem Bruder kränkende Zurücksetzung erfährt. Der Kain-und-Abel-Mythos erweist sich somit als konstitutiv für den Joseph roman, indem er an Joseph und seinen Brüdern noch einmal durchgespielt wird – wobei Joseph, das Opfer, nur einen symbolischen Tod stirbt und somit der Mythos von Kain und Abel auch hier abgewandelt wird. Der erste Mord, der in der Bibel beschrieben wird, ist kein Mord an dem verhassten Anderen, sondern am verhassten Gleichen. Die Gewalt richtet sich gegen den eigenen Bruder. Gleichzeitig ist der Mord an Abel die erste Eifersuchtstat. Kain ist eifersüchtig auf Abel, weil dieser, ohne ersichtlichen Grund, von Gott bevorzugt wird. Wohlgemerkt handelt es sich auch tatsächlich um einen Mord im Falle Kains und nicht etwa um eine Tötung im Affekt, denn die Tat folgt nicht direkt auf die Kränkung, Abel muss sich erst zu Kain auf den Acker begeben, es verstreicht also Zeit zwischen Motivierung und Tat. Warum aber liebt Gott den Schafhirten Abel, den Ackerbauern Kain120 hingegen nicht ? Die Bibel kennt keine Begründung : »Es begab sich nach etlicher Zeit, daß Kain dem Herrn Opfer brachte von den Früchten des Feldes ; und Abel brachte auch von den Erstlingen seiner Herde und von ihrem Fett. Und der Herr sah 116 Norbert Lohfink : Gewalt und Gewaltlosigkeit im Alten Testament. Freiburg i. Br. 1983. Im Folgenden : Lohfink : Gewalt. 117 Ist es bei Kain und Abel noch Gott, der bevorzugt, sind es bei den nachfolgenden Bruderpaaren die Eltern, die ihre Kinder ungleich behandeln. 118 Benjamin, der zwölfte Bruder, ist hier herauszunehmen, da er in die Bruderzwistigkeiten nicht involviert ist. 119 »Laß uns preisen die Unterscheidung, und daß du Rahel bist und ich Jaakob bin und zum Beispiel nicht etwa Esau, mein roter Bruder ! […] Gott ist die Unterscheidung !« (GW IV, 308) S. auch das Kap. Der Rote (GW IV, 188–194). 120 Kain und Abel »repräsentieren verschiedene Kulturstufen. Der eine betreibt Ackerbau, der andere Viehzucht.« (Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 20.) Zur Vertauschung der »historischen Reihenfolge der beiden […] Kulturstufen«, s. ebd. 20 f. Ein Antagonismus der Kulturstufen wird auch an den Brüdern und Joseph gezeigt. Während die Brüder noch dem archaisch-rituellen Mythos verhaftet sind, ist ihr Bruder Joseph bereits das schriftkundige, gebildete Individuum.
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gnädig an Abel und sein Opfer ; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.«121 Die Liebe Gottes erscheint willkürlich, sie ist unberechenbar, entbehrt einer klaren Begründung : Dieser Gott, der nicht das Gute sondern das Ganze ist, kümmert sich nicht ums einzelne. Und gerecht im ausgleichenden Sinne kann er eigentlich auch nicht sein, denn was dem einen nützt, schadet meist dem andern. Wenn Gott den einen segnet, dem anderen flucht, hat das nichts mit den sittlichen Mängeln der Verfluchten zu tun. Der einzelne hat keine Wahl, es muss die Bösen geben um der Guten willen. Die Rolle Kains muss gespielt werden wie die des Esau, Ismael oder des Oberbäckers in der Josephgeschichte.122
Kain ist erzürnt, denn, was kränkt mehr als Ungerechtigkeit und verweigerte Liebe ? Doch damit nicht genug, »[d]em Diskriminierten wird [zudem] die Beherrschung seines Kränkungsaffektes zugemutet«123, Kain soll sich ›zusammenreißen‹, obwohl der Dämon »Sünde« bereits ein Auge auf ihn geworfen hat : »Da sprach der Herr zu Kain : Warum ergrimmst du ? und warum verstellt sich deine Gebärde ? Ist’s nicht also ? Wenn du fromm bist, so bist du angenehm ; bist du aber nicht fromm, so ruht die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen ; du aber herrsche über sie.«124 Das ist zu viel verlangt für den verschmähten Bruder »[u]nd es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.«125 Was nun folgen muss, ist die Strafe Gottes – aber Gott vergilt nicht etwa Gleiches mit Gleichem und tilgt 121 1. Mose 4, 3 f. 122 Benedict : Die dunkle Seite Gottes, 36. René Girard : Das Heilige, 14 begründet die Bevorzugung Abels durch Gott mit der Möglichkeit des Viehzüchters, Tiere opfern zu können, diese Möglichkeit hat Kain als Ackerbauer nicht. »Der biblische Text macht zu jedem der Brüder nur eine einzige präzise Angabe. Kain ist Ackerbauer, und er bringt seinem Gott die Früchte des Feldes dar. Abel ist Hirte, und er opfert die Erstlinge seiner Herde. Einer der beiden Brüder tötet den anderen, und zwar ist es jener, der nicht in der Lage ist, die Gewalt zu überlisten, wie es in Form des Tieropfers möglich ist. Dieser Unterschied zwischen Opferkult und opferlosem Kult ist gleichzusetzen mit der Tatsache, daß Gott das Opfer Abels annimmt und Kains Opfer nicht.« Girard deutet das Tieropfer in der Hinsicht, dass es »Gewalt von bestimmten, zu schützenden Individuen abwendet«. (Ebd., 11). 123 Sloterdijk : Zorn, 124. 124 1. Mose 4, 6–7. Für Sloterdijk : Zorn, 125 ist »[d]er Sinn dieser vor die Taterzählung eingeschobenen Ermahnung […] offensichtlich : Der Brudermord soll nicht als spontane Affekthandlung mißverstanden werden. Vielmehr muß er als Resultat einer Suspension der deutlich ausgesprochenen Warnung gelten. Die Tat geschieht nicht in der relativen Unschuld des hitzigen Gefühls.« 125 1. Mose 4, 8.
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Kain ebenfalls vom Erdboden. Was Kain trifft, ist zunächst der Fluch Gottes : »Und nun verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen. Wenn du den Acker bauen wirst, soll er dir hinfort sein Vermögen nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.«126 Kain wird also seiner Existenzgrundlage, des fruchtbaren Ackers, beraubt und soll zudem heimatlos sein. Als hierauf Kain zu bedenken gibt, dass ihm als des Landes Verwiesener schnell das gleiche Los wie Abel treffen und man ihn totschlagen könnte, widerspricht ihm Gott : »Nein ; sondern wer Kain totschlägt, das soll siebenfältig gerächt werden. Und der Herr machte ein Zeichen an Kain, daß ihn niemand erschlüge, wer ihn fände.«127 Kain wird von Gott verflucht, und gleichzeitig unter seinen besonderen Schutz gestellt. Die Zeichnung Kains verweist auf »das Zugriffsprivileg [Gottes] auf den Körper seiner Kreatur«128 und ist so gleichzeitig auch Beweis der Macht Gottes. Was Gott Kain einträgt, ist mithin eine Besitzstandsmarkierung, die ihn einerseits mit der unauslöschlichen Veröffentlichung seines Sklavenstatus straft, ihn aber andererseits genau dadurch dem besonderen Schutz seiner – Gottes – allumfassenden Verfügungsgewalt unterstellt. Ihre eigentliche Funktion erfüllt diese Markierung im Text der Genesis dabei nicht als Individualstrafe, sondern als öffentlichkeitswirksame Zurschaustellung absoluten göttlichen Autoritätsanspruchs schlechthin. Indem der Text nämlich zur Form des Zeichens und zum technischen Verfahren seiner Herstellung keinerlei Informationen gibt, inszeniert er die entsprechende Intervention hier als Ausdruck eines göttlichen Heilshandelns, das keiner empirischen Mittel bedarf und das auch von Kriterien, die am entsprechenden menschlichen Erfahrungshorizont gewonnen sind, nicht gefasst werden kann : Der Akt, in dem Gott Kain ›ein Zeichen macht‹, ist ein Akt derselben deiktischen Gestaltungsmacht, die schon den Menschen 126 1. Mose 4, 12. 127 1. Mose 4, 15. Wobei hier natürlich die Frage zu stellen wäre, wer denn Kain überhaupt etwas antun sollte, denn nach der Logik der Generationenfolge dürfte er neben Adam und Eva der einzige Mensch auf Erden sein. Vgl. Türcke : Vom Kainszeichen zum Genetischen Code, 18 f. 128 Ulrike Landfester : Stichworte. Tätowierung und europäische Schriftkultur. Berlin 2012, 34. Landfester verweist zudem auf den historischen Ursprung der Körperzeichnung, den »Codex Hammurabi […]. Es handelt sich dabei um die Kennzeichnung von Besitzgütern durch den Siegelabdruck ihres Besitzers, im engeren Sinne um die Sicherung juristischer und kultischer Maßnahmen gegen unbefugte Eingriffe, etwa durch die Versiegelung eines Grabes oder eines Gefängnisses. Kennzeichnungen dieser Art wurden an Nutztieren und Sklaven vermutlich zunächst überwiegend durch Brandmarkung durchgeführt […].« (Ebd.) Zum Codex Hammurabi, oder auch Hammurapi, s. Kap. 3.6.2.
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selbst hervorgebracht hat, und das Zeichen mithin zu einem Offenbarungszeichen sui generis werden lässt.129
Die Strafe ist also nicht identisch mit der Tat, und das Mal soll ihn davor bewahren, dass an ihm eben jene Tat verübt wird. Mehr noch, wer an Kain tut, was dieser einst dem Bruder getan, der wird siebenfach gerächt, die Strafe exponiert sich also. Wie ist dies zu verstehen ? Peter Sloterdijk sieht in dem Paradox des Kainsmals – auf der einen Seite soll es die Gewaltspirale beenden, auf der anderen Seite bedeutet die Übertretung dieses Gebots eine »exzessive Vergeltung« – ein »Symptom für das Fehlen eines effektiven Gewaltmonopols«130 : Wo noch keine zentrale Strafautorität existiert, ist das Racheverbot – versuchsweise – nur mittels einer exzessiven Reaktionsdrohung einzuschärfen. Man muß auf die Einführung einer stabilen Rechtskultur mit förmlichem Gerichtswesen warten, bevor die bekannten talionischen Gleichungen zum Zuge kommen können : ›Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmal für Brandmal, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme.‹ (Exodus 21,23–25) Die Gleichheitszeichen zwischen der linken und der rechten Seite der Formeln drücken aus, daß Gerechtigkeit künftig als Angemessenheit begriffen werden soll. Das Maß setzt einen Maßhalter voraus, in der Regel den frühen Staat als Rechtsgaranten.131
Auf diese Weise entsteht »ein Konzept von Gerechtigkeit als einfacher Äquivalenz«132, welches man auch mit der Rechtsfigur der oben genannten lex talionis133 fassen könnte, die aber offensichtlich des Menschen zu ihrer Errichtung bedarf und die so als Weiterentwicklung und Überwindung der göttlichen Strafexzesse gesehen werden kann. Auf der anderen Seite enthüllt sich hier die Dialektik von Gewalt und Strafe, denn der göttliche Exzess ist nötig, um auf die Notwendigkeit der gemilderten Äquivalenz aufmerksam zu machen, die auch gerechter und einsichtiger erscheint, weil sie nicht der Auslegung bedarf.134 Darüber hinaus ist
129 Ebd., 35 f. 130 Sloterdijk : Zorn, 126. 131 Ebd. 132 Ebd. Eberhard Th. Haas hat in seiner Studie … Und Freud hat doch Recht. Die Entstehung der Kultur durch Transformation der Gewalt. Gießen 2002, das »Mosaische Gesetz [als] den Inbegriff des kulturellen Über-Ich« (245) bezeichnet. Im Folgenden : Haas : … Und Freud hat doch Recht. 133 Vgl. Angehrn : Überwindung, 165. 134 Sloterdijk : Zorn, 126 spricht vom »erhaben schlichte[n] Eins-zu-Eins.«
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die unverhältnismäßige Strafe, also ein Strafen ohne Maß, Privileg Gottes. Diese Macht kommt dem Menschen nicht zu. Es sei noch einmal betont, was durch das Kainsmal für die biblische Zivilisation und Kultur erreicht wird : Es ergibt sich ein Raum latent vorhandener, doch notdürftig durch erste Formen des Rechts gebändigter Gewalt. In ihm lässt die Bibel die menschliche Kultur entstehen. Kain und seine Nachkommen bauen die erste Stadt, organisieren die Viehzucht, erfinden die Musik und beginnen mit der Metallverarbeitung. Das will besagen : Der Mensch entwickelt die Kultur in Verbindung mit dem Urelement des Rechts, der Racheordnung für den Mord. Die Kultur muss helfen bei der Bändigung der Gewalt, dem menschlichen Hauptproblem. Nichts in der menschlichen Entwicklung kommt daher in Unschuld auf uns zu : weder die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in der funktionalen Vielfalt einer Stadt noch die Tierzucht noch die Kunst noch die Industrie. Alles bindet und besänftigt den Drang nach Gewalt. Doch alles bleibt ambivalent. Es kann die Gewalt auch steigern. Dann muss die Gegengewalt ebenso gesteigert werden.135
»Die ›legitime Gewalt‹ [in Form eines geordneten Rechtswesens] in menschlichen Gesellschaften ist also biblisch fundiert, ja gefordert.«136 Genauso exzessiv und unverhältnismäßig werden dann die mosaischen Verordnungen, die nahezu jeden Lebensbereich aufs Kleinste ordnen, wird die Gesetzgebung erfolgen. Diese Gesetze, die u. a. auch Speise- und Hygienevorschriften umfassen und die Thomas Mann in aller humoristischen Ausführlichkeit in seiner Novelle darstellt, sind wiederum als Schutz vor Unverhältnismäßigkeiten zu sehen und sind damit »ein Schritt zur Rationalisierung der Vergeltungskalküle«137. Das Gleichheitszeichen zwischen Unrechtswert und Vergeltungswert besitzt zudem einen impliziten zeitlichen Sinn, da die Dinge erst wieder ins Lot geraten können, wenn die Äquivalenz zwischen Tatleiden und Strafleiden hergestellt ist. Das Warten auf Gerechtigkeit färbt nun den Sinn von Zeit. Durch die von der Justiz erwirkte Gleichung 135 Lohfink : Gewalt, 72. Zum Motiv der ersten Stadt, s. Westermann : Genesis, 444 : »Die Gründung der ersten Städte wird in der Genealogie 41.17–24 als erste Kulturerrungenschaft berichtet. Wenn sie dem Sohn Kains zugeschrieben wird, so kann das im Kontext dieser Genealogie nur heißen, daß Städtegründung zur seßhaften Kultur gerechnet wird, die ihre Grundlage im Ackerbau hat (Kain, der Ackerbauer).« 136 Lohfink : Gewalt, 74. 137 Sloterdijk : Zorn, 127.
Die gestörte Ordnung der Brüder. Gewalt als Zurechtstutzung der Ordnung
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zwischen Schuld und Strafe werden, zumindest in idealtypischer Betrachtung, lokale Zornspannungen beim Opfer oder Kläger aufgelöst. Wenn danach die Sonne aufgeht, scheint sie zwar wie immer über Gerechte und Ungerechte, ihr Aufgang begleitet zugleich den Neuanfang zwischen Parteien, die ihre Rechnungen beglichen haben.138
Der Gründungsmythos vom Brudermord legt also zentrale theologische, genauer jüdisch-christliche Implikationen frei, die auch Thomas Manns biblisches Werk thematisiert : der Brudermord als Gründungsmythos und damit als Ursprung der menschlichen Gesellschaft, Willkür und Gnadenwahl Gottes sowie die Notwendigkeit der Errichtung weltlicher Strukturen, die sozusagen die befürchteten Racheakte, oder weiter gefasst, Gewalt und Chaos, eindämmen können. Darüber hinaus klingt in der Verfluchung Kains an, dass der ertragreiche, fruchtbare Acker und sein Gegenteil, der dürre Boden, von göttlicher Gnade abhängig sind. Verweiszusammenhänge, die für das Selbst- und Weltverständnis der Romanfiguren offenkundig sind. Dies alles sind Überlegungen, die auch Moses Rechtsapparat in Das Gesetz zugrunde liegen, zunächst soll es jedoch um den symbolischen Brudermord an Joseph gehen. 2.6 Die gestörte Ordnung der Brüder. Gewalt als Zurechtstutzung der Ordnung Der Gewalt, die im Kapitel Joseph wird in den Brunnen geworfen geschildert wird, geht das Kapitel Von Lamech und seiner Strieme voraus, in dem die Brüder einen Disput über Rache und Gewalt führen, der die spätere Gewalttat an Joseph vorwegnimmt und die Tat an den Kain-und-Abel-Mythos anbindet.139 Die Brüder sind zum Zeitpunkt der Eskalation der Gewalt in einem Zustand, der einer Identitätskrise gleichkommt. Zutiefst gekränkt und gedemütigt durch die väterliche Vorliebe für Joseph und Josephs Träume von den sich neigenden Garben und den ihn umkreisenden Himmelsgestirnen, haben sie sich dem Bannkreis Jaakobs entzogen und weiden ihre Herden zunächst fünf Tagesreisen vom Vater entfernt. Die Brüder sind in diesem Moment in ihrem Gram gegen Joseph und auch gegen den Vater vereint, im Zentrum ihrer Schwermut steht die Befürchtung, nicht mehr ›mannbar‹ zu sein. 138 Ebd., 126. 139 Die Geschichte von Lamech, der Nachfahre Kains ist, wird direkt nach dem Brudermord in 1. Mose 4, 17–24, erzählt.
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Die Jaakobssöhne saßen im Kreise auf ihren Fersen […]. Ihre Leiber waren gesättigt, aber in ihren Seelen nagte ein Hunger und trockener Durst, den sie nicht zu nennen gewußt hätten, der ihnen jedoch den Schlaf verdarb und die Kräftigung aufhob, die ihnen das Morgenmahl hätte zuführen sollen. Ein Dorn saß ihnen im Fleisch, jedem einzelnen, der nicht herauszuziehen war, der schwärte, quälte und zehrte. Sie fühlten sich schlaff, und den meisten von ihnen schmerzte der Kopf. Wenn sie die Fäuste zu ballen versuchten, so ging’s nicht. Wenn diejenigen, die einst das rächende Blutbad zu Schekem angerichtet um Dina’s willen, sich prüften, ob sie jetzt noch, heute und hier, die Männer seien zu solcher Tat, so fanden sie : nein, sie seien die Männer nicht mehr ; der Gram, der Wurm, der schwärende Dorn, der zehrende Hunger im Innern entnervte und entmannte [Hervorhebung M. A.] sie. (GW IV, 548 f.)
In dieser Stimmung der Verunsicherung beginnt Schimeon, einer der »wilden Zwillinge« »ein uraltes Lied«, eine »überlieferte Ballade oder Epopӧe aus versunkenen Zeiten« (GW IV, 549) zu singen : Lamech, der Held, nahm der Weiber zwei, Ada und Zilla mit Namen genannt. ›Ada und Zilla, höret mein Lied, Ihr Weiber Lamechs, vernehmt meinen Spruch ! Einen Mann erschlug ich, weil er mich kränkte, Einen Jüngling streckt’ ich für meine Strieme. Siebenmal gerochen ward Kain, Doch Lamech siebenundsiebzigmal !‹140 (Ebd.)
Die Gewalt Kains setzt sich also fort, als Antwort hierauf erhöht auch Gott seine Racheandrohung für Lamech. Die Brüder schöpfen aus diesem Lied Kraft und malen sich die Bluttat Lamechs in Gedanken aus ; sie sahen Lamech, den Helden, mit ihres Geistes Auge, wie er voll heißen Stolzes daherkam in Waffen von seiner Tat und den sich bückenden Weibern kündete, daß er sein Herz gewaschen. Sie sahen auch den von ihm Gestreckten im blutigen Grase liegen, das nur wenig schuldige Sühneopfer für Lamechs wild empfindliche Ehre. Das robuste Wort ›Mann‹ ward zum Zarteren bestimmt im Reime durch den Jünglingslaut, 140 Hier zitiert Thomas Mann fast wörtlich die biblische Lamech-Geschichte (vgl. 1. Mose 4, 17– 24). Und auch Dina, ihre Schwester, werden die Brüder »siebenundsiebzigmal« (GW IV, 182) rächen.
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der in seiner blutenden Holdheit mitleidige Regungen hätte begünstigen können. Sie wären allenfalls Ada’s und Zilla’s, der Weiber, Sache gewesen, doch mochten sie nur zur Würze ihrer Anbetung dienen von Lamechs unbestechlich mörderischer Mannheit und anspruchsvoller Rachsucht, die ehern und alt das Lied und seine Gesinnung beherrschte. (GW IV, 549 f.)
Männliche Potenz wird hier deutlich an einen Gewaltakt gebunden, während das »wenig schuldige Sühneopfer« in seiner »blutenden Holdheit« erotisiert wird. Levi nennt denn Lamech auch »Kerl, ein Löwenherz, von echtem Schrot«. (GW IV, 550) Und dann provoziert er die restlichen Brüder : ›Der mochte vor seine Weiber treten gewaschenen Herzens, und wenn er sie heimsuchte, eine nach der anderen, mit seiner Kraft, so wußten sie, wen sie empfingen, und zitterten vor Lust. Trittst du auch wohl so, Juda, vor Schua’s Tochter und du, Dan, vor die Moabiterin ? Sagt mir doch an, was aus dem Menschengeschlecht geworden ist seit dazumal, daß es nur noch Klügler und Frömmler erzeugt, doch keine Männer ?‹ (GW IV, 550)
Ruben jedoch, der älteste, ist klüger, er weiß, wie das Lied weitergeht und enthüllt, einem Bibelkommentar gleich, den Sinn, der hinter der Lamech-Erzählung steht und der auf Gewaltverzicht verweist : ›[I]ch will dir sagen, was aus des Mannes Hand nimmt seine Rache und macht, daß wir ungleich geworden Lamech, dem Helden. Es ist zweierlei : Babels Satzung und Gottes Eifer, die sprechen beide : Rache ist mein. Denn die Rache muß von dem Manne genommen sein, sonst zeugt sie wild weiter, geil wie ein Sumpf, und die Welt wird voll Blutes. Welches war Lamechs Los ? Du weißt es nicht, denn das Lied kündet’s nicht mehr. Aber der Jüngling, den er schlug, hatte einen Bruder oder Sohn, der schlug den Lamech zu Tode, daß die Erde auch sein Blut empfange, und aus Lamechs Lenden wiederum einer schlug Lamechs Mörder um seiner Rache willen, und so immer fort, bis weder aus Lamechs Samen noch aus dem Samen des Ersterschlagenen einer mehr übrig war und die Erde ihr Maul schließen mochte, denn sie war satt. So aber ist es nicht gut, es ist Sumpfzeugung und Rache und hat keine Regel. Darum, als Kain den Habel erschlagen, heftete Gott ihm sein Zeichen an, daß er ihm gehöre, und sprach : Wer ihn totschlägt, das soll siebenfältig gerochen werden. Babel aber setzte ein das Gericht, daß der Mann dem Rechtsurteil sich beuge für Blutschuld und nicht wuchere die Rache.‹ (GW IV, 550)141 141 Vgl. auch Girard : Das Heilige, 28 : »Es gibt keinen eindeutigen Unterschied zwischen dem Akt,
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Das Gericht zu Babel soll also schließlich die potenzierte Rache Gottes ersetzen, damit geht die Ahndung des Verbrechens in ein weltliches Gericht, in die Hände des Menschen über und die Racheandrohung Gottes wird hinfällig. Doch die Brüder wollen derlei nicht hören und verspotten Ruben mit seinem »mächtigen Leib«, aus dem aber eine »dünne[ ] Stimme« (GW IV, 551) spricht. Ruben, körperlich der kräftigste der Brüder, ist zugleich der gefühlvollste, der die Tücken des Mythos durchschaut. Und so bestärken sich die übrigen Brüder gegen die Rede Rubens, lieber Nachfahren von Kain und Lamech sein zu wollen. Sebulun schwingt sich gar zur Verwünschung seiner ganzen Sippe auf : ›Ada ist schuld […], [d]enn sie gebar Jabal, den Urahn derer, die in Zelten wohnen und Viehzucht treiben, Abrahams Ahn, Jizchaks und Jaakobs, unseres sanften Vaters. Da haben wir den Verderb und die Bescherung, daß wir keine Männer mehr sind, […] sondern Klügler und Frömmler, und sind als wie mit der Sichel verschnitten, daß Gott erbarm ! Ja, wären wir Jäger oder gar Seefahrer, das wäre was andres. Aber mit Jabal, Ada’s Sohn, kam die Zeltfrömmigkeit in die Welt, das Schäferwesen und Abrams Gottessinnen, das hat uns entnervt, daß wir zittern, dem würdigen Vater ein Leides zu tun, und der große Ruben spricht : Die Rache ist Gottes.‹ (GW IV, 552)
Auch der Bund mit Gott, symbolisiert im Zeichen der Beschneidung, wird als Schwächung ihrer Männlichkeit empfunden. Es wird deutlich, dass die Kränkung der Brüder erheblich ist. Sie zweifeln an ihrer persönlichen »Mannbarkeit«, ziehen aber auch die ganze Entwicklung des Stammes und ihr Verhältnis zu Gott in Zweifel. Ein Zustand, der nach Rache verlangt. Der schöne Leib und die »einmütige Gewalt«
Die Szene, in der die Brüder Joseph massiv Gewalt antun, seine Kleidung zerreißen und ihn brutal niederschlagen, ihn anschließend fesseln und in den Brunnen werfen, stellt sowohl die größtmögliche leibliche Annäherung an den Bruder als auch Josephs größtmögliche leibliche Verletzung dar. Die Distanz, die bisher zwischen den Brüdern herrschte, wird aufgelöst in einer Entladung brutalster den die Rache bestraft, und der Rache selbst. Rache ist Vergeltung und ruft nach neuen Vergeltungsmaßnahmen.« Und : »Das Gerichtswesen wendet die von der Rache ausgehende Bedrohung ab. Es hebt die Rache nicht auf ; vielmehr begrenzt es sie auf eine einzige Vergeltungsmaßnahme, die von einer auf ihrem Gebiet souveränen und kompetenten Instanz ausgeübt wird.« (Ebd., 29) Im Gerichtswesen hat die Potenzierung von Gewalt ein Ende, es herrscht die Regel des »Einszu-Eins«.
Die gestörte Ordnung der Brüder. Gewalt als Zurechtstutzung der Ordnung
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Gewalt. Der schöne Leib mit dem Kleid der Erwählung, der Kentônet passim, Rahels Brautkleid142, wird gewaltsam entkleidet und entstellt. Mit René Girard gelesen, entfacht sich in dieser Szene die »einmütige Gewalt«143 der Brüder gegen Joseph. Die Brüder verbinden sich zu einer Gemeinschaft, nach welcher die Gekränkten zutiefst bedürfen. Girard sieht die Funktion des Opfers, und als ein solches deutet er den biblischen Joseph, vor allem darin, eine gestörte Ordnung wieder herzustellen. »In erster Linie beansprucht das Opfer nämlich für sich, Zwistigkeiten und Rivalitäten, Eifersucht und Streitigkeiten zwischen einander nahestehenden Personen auszuräumen ; es stellt Harmonie innerhalb der Gemeinschaft wieder her ; es verstärkt den sozialen Zusammenhalt.«144 Bereits zuvor wird die Sehnsucht nach Gemeinschaft, aber auch Liebe, die für die Brüder nur in ihrer Gruppe erfahrbar ist und ihnen vom Vater und – wie sie denken – auch von Joseph verwehrt bleibt145, thematisiert. Wenn die Söhne der Mägde Joseph zugedeckt mit seiner Ketônet schlafen sehen, sprechen sie Schmähworte über den Ahnungslosen aus, die doch nur dazu dienen sollen, »sich Liebe zu erwerben und warme Einigkeit [unter den Brüdern] zu erzeugen.« (GW IV, 489) Als die Brüder, die sich in der Ferne vor Josephs Prahlsucht, aber auch vor ihrer eigenen Aggressivität und Wut in Sicherheit wähnten, in dem nahenden Jüngling Joseph auf seiner Eselin146 Hulda erkennen, verschmelzen sie denn auch zu einer Einheit, wenn auch nicht zu einer liebenden, sondern zu einer hassenden und dem Blutrausch langsam anheimfallenden Gruppe : »Und in demselben 142 Zur leitmotivischen Verwendung des Schleiers im Roman s. auch : Keiler : Geschlechterproblematik, vor allem 172. 143 René Girard : Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des Christentums. Frankfurt a. M. 2008, 120. Vgl. auch in Bezug auf die Brüder : »[N]ur gemeinsame Voraussetzungen schaffen den rechten Haß.« (GW IV, 513) Vgl. auch Sofsky : Traktat, 10 : »Es ist die Erfahrung der Gewalt, welche Menschen vereinigt.« 144 Girard : Das Heilige, 19. 145 Dabei sehnt sich auch Joseph im Geheimen nach der Nähe der Brüder und genießt die gemeinsame Arbeit auf dem Felde zur Erntezeit mit ihnen. »[D]ie Werkgemeinschaft mit ihnen [den Brüdern] […] erhob ihm das Herz, sie machte ihn glücklich, und Widersprüche widerlegen hier nichts ; sie heben in aller zerstörenden Unvernunft die Tatsache nicht auf, daß er die Brüder liebte und, so unvernünftig, ja gänzlich verblendet nun dies wieder anmuten möge, auf ihre Liebe vertraute […].« (GW IV, 503 f.). 146 Auf das Eselsmotiv weist eingehend Elisabeth Galvan : Bachofen-Rezeption, hin, indem sie betont, dass der Esel einerseits für Fruchtbarkeit steht, auf der anderen Seite aber das Prügelopfer ist. Hier wird die Verbindung Phallus/Tod deutlich, wie sie auch im Osiris-Mythos hergestellt wird. Zum anderen dient der Esel als neutestamentliches Zitat (vgl. den Einzug Jesu in Jerusalem, Mt. 21, 5) und leistet der christologischen Deutung Josephs Vorschub. (Vgl. Golka : Moses, 54).
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Augenblick wurden sie alle auf einmal in ihren braunen Gesichtern […] fahl […] und ihre Herzen schlugen in wild beschleunigtem Gleichtakt wie Pauken […].« (GW IV, 554) Als Joseph in überheblicher Verkennung der Situation die Brüder grüßt und ihnen verkündet, »nach dem Rechten […] sehen« (GW IV, 555) zu wollen, gibt es für die Gruppe kein Halten mehr, die Sprache versagt ihnen und es bricht sich ein animalisches Begehren nach Zerstörung Bahn, die jahrelange Demütigung entlädt sich in einem Augenblick. Sie saßen ohne Wort und Regung und stierten, eine unheimlich verzauberte Gruppe. Wie sie aber so saßen, wurden, obgleich doch kein Sonnenaufgang oder -untergang war, der sich in ihren Gesichtern hätte malen können, diese Gesichter so rot wie die gewundenen Stämme der Bäume in ihrem Rücken, rot wie die Wüste, dunkelrot wie der Stern am Himmel, und ihre Augen schienen Blut verspritzen zu wollen. (GW IV, 555)
Fernab der Einflusssphäre des Vaters, in der Wüste, werden die Brüder förmlich zum Typus des Roten, werden ganz Körper und stürzen sich auf den Bruder : Da erscholl ein dröhnendes Röhren, das Zwillings-Stiergebrüll, das die Eingeweide erschütterte, und mit langgezogenem Schrei wie aus einer gequälten Kehle, einem verzweifelt frohlockendem Ahhh der Wut, des Hasses und der Erlösung, sprangen sie auf alle Zehn in wild-genauer Gleichzeitigkeit und stürzten sich auf ihn. Sie fielen auf ihn, wie das Rudel verhungerter Wölfe auf das Beutetier fällt ; es gab kein Halten und kein Besinnen für ihre blutblinde Begierde, sie stellten sich an, als wollten sie ihn in mindestens vierzehn Stücke zerreißen. Ums Reißen, Zerreißen und Abreißen war’s ihnen wirklich vor allem in tiefster Seele zu tun. (Ebd.)
Diese Szene, in der das Zerreißen, das Zergliedern im Vordergrund steht, verweist zum einen auf den griechischen Dionysos- und phönizischen Adonis-Mythos, zum anderen auch auf den ägyptischen Osiris-Mythos sowie den sumerischen Tammuz-Mythos. In dieser Szene der Gewalt »herrscht vollends die Symbolik des Mythos«.147 Im Kern der genannten Mythen steht die Zergliederung des (göttlichen) Leibes. Eine Ordnung, ein Gebilde, der Leib148 soll zergliedert, die Macht, die von ihm ausgeht, hierdurch gebannt werden. 147 Sučkov : Roman und Mythos, 394 f. 148 Den Begriff ›Leib‹ verwende ich nach Alfred Hirsch in bewusster Abgrenzung zum ›Körper‹ : »Anders als der Körper ist der ›Leib‹ des Menschen […] immer schon sprachlich, symbolisch,
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Aber sich des Körpers eines anderen zu bemächtigen heißt auch, an ihm teilzuhaben, die trennende Distanz zu überwinden und den anderen zu berühren – auch wenn diese Berührung mit Verletzung gleichzusetzen ist. Emmanuel Levinas hat diese zweideutige Leibzentriertheit im Akt der Gewalt beschrieben als die Möglichkeit der lebendigen Leiblichkeit des Menschen, als Möglichkeit des Schmerzes – als Sensibilität, die von sich her die Empfänglichkeit dafür ist, Schmerz zu empfinden – als entblößtes Sich, sich darbietend in seiner Haut, leidend – als in seiner Haut schon nicht wohl in seiner Haut, seine Haut nicht für sich haben – als Verwundbarkeit.149
Alfred Hirsch spitzt diesen Aspekt noch einmal zu, wenn er die »Suche der Haut nach Berührung«150 mit in den Blick nimmt. Nach ihm ist die ›Verwundbarkeit‹ der Haut untrennbar verwoben […] mit der Suche der Haut nach Berührung. Denn verwundbar ist die Haut als zurückweisbare erst dann, wenn sie sich als Selbst und Anderer, die liebende Berührung suchend, anbietet. Insofern wäre die lebendige Leiblichkeit – und von ihr ausgehend das Phänomen der Gewalt – nur vorläufig und allein als ›Ausgesetztheit‹ gegenüber dem Anderen zu beschreiben, denn diese ist vor allem und zunächst Suche nach der Nähe der Haut des Anderen, denn erst dort wird sie verletzbar.151
Nur durch Gewalt ist den Brüdern die Teilhabe am anderen möglich. Wie reagiert nun Joseph auf die massive Gewalt gegen ihn und die anschließende ›Grubenhaft‹ ? Er ist keinesfalls in der Hinsicht geläutert, dass er in seiner Prügelstrafe eine Strafe für die fatale Annahme sieht, die Brüder müssten ihn mehr lieben als sich selbst. Er ist weiterhin von der Liebe der Brüder überzeugt, bereut nur seinen Fehler, ihnen diese Liebe bewusst gemacht zu haben. Zu seikulturell und semantisch aufgeladen. Es gibt keinen vorkulturellen menschlichen Leib. Erst indem der Körper in die Zeichen und kulturellen Gegenstände sowie deren Beziehungen zueinander hineinragt und umgekehrt die Zeichen und die jeweilige kulturelle Umwelt dem Körper ein-geprägt werden, entsteht der Leib. Insofern ist jeder menschliche Leib immer kultureller Leib.« (Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 42) Nur wenn man den Leib so versteht, wird deutlich, warum auch eine objektiv harmlose Verletzung etwa im Gesicht schwerwiegendere physische und psychische Folgen haben kann als beispielsweise eine lebensgefährliche Verwundung. 149 Emmanuel Levinas : Jenseits des Seins oder als Sein geschieht. Freiburg i. Br./München 1992, 123 f. Vgl. auch Hirsch : Recht auf Gewalt, 34. 150 Ebd. 151 Ebd.
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nem Retter aus dem Brunnen, dem alten Ismaeliter, sagt Joseph, nach der Ursache für seine Strafe gefragt : »Sträflich Vertrauen und blinde Zumutung, das ist ihr [der Schuld] Name. Denn es ist blind und tödlich, den Menschen zu trauen über ihre Kraft und ihnen zuzumuten, was sie nicht hören wollen und können : vor solcher Liebe und Hochachtung läuft ihnen die Galle über, und sie werden wie reißende Tiere.« (GW IV, 675) Joseph interpretiert die Wut der Brüder also als nach außen verlagerte und auf ihn gerichtete Autoaggression, da die Brüder ihr Empfinden gegenüber Joseph nicht wahrhaben wollen und gewaltsam von sich weisen müssen. Mit dieser Annahme hat er zwar nicht ganz unrecht, übersieht aber den unbändigen Hass, den er ebenfalls geschürt hat. Wie eng Berührung und Gewalt verbunden sind und dass beide als körperliche Bemächtigung des anderen fungieren, macht die emotionale Verwirrung Rubens deutlich, als dieser ihn noch vor der Abreise der Brüder vor seiner Hoffart warnen will. Ruben, der zuvor, als er »Josephs Lippen auf seiner Schulter spürte«, »leicht und sozusagen heimlich […] über des Bruders Kopf [strich]«, bereut sein Tun wenig später und fragt sich, warum er nicht an Joseph seine ›Stärke‹152 probiert : ›Ich könnte ihn niederstrecken auf immer mit einem einzigen Streich ; die Kraft, die Bilha schwächte, wäre auch dazu gut, und der Dieb meiner Erstgeburt würde sie spüren nach Mannesart, wie Bilha sie spürte als Weib. Was hätte ich aber davon ? Habel läge erschlagen, und ich wäre, der ich nicht sein will, Kaijn, den ich nicht verstehe. Ich werde ihm keine verliebten Fratzen schneiden und mich nicht demütigen vor seiner Anmut – schon daß ich ihm übers Haar strich vorhin, war läppisch und fehlerhaft. Ich werde nicht die Hand an ihn legen, weder so noch so [Hervorhebung M. A.].‹ (GW IV, 496 f.)
Zum einen wird Gewalt in Bezug zu sexuellem Vermögen gesetzt – denn die »Stärke«, die Ruben an Bilha erwies, war schließlich der Beischlaf –, diese aber als Möglichkeit in Bezug auf Joseph verworfen. Zum anderen wird aber auch die Möglichkeit einer brüderlichen Berührung verworfen, da diese die Demütigung der eigenen Person beinhalten würde, denn Ruben ist in der Lage, aus dem Mythos heraus zu deuten. Da er dies also erkennt, versucht Ruben, was allerdings den übrigen Brüder verborgen bleibt, Joseph in der Prügelszene vor dem Schlimmsten zu bewahren, indem »[e]r […] sich den Anschein gab, als würde er gestoßen, stieß aber in Wahrheit selbst, indem er, so gut er konnte, diejenigen, 152 Sloterdijk : Zorn, 91 nennt den Aggressor auch »Schmerzspender«.
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die daran waren, auf Joseph einzuschlagen […] von ihm hinwegpuffte, um ihn nach Möglichkeit zu schützen.« (GW IV, 556) Zu betonen ist an dieser Stelle zum einen der besondere Stellenwert, der der Bruderschaft, der Blutsverwandtschaft der Täter mit dem Opfer, hier zukommt. Die Aggression richtet sich nicht gegen den klar von den Brüdern abgrenzbaren Fremden153, sondern gegen einen Bruder, eine Tatsache, die Joseph in besonderem Maße seelisch verletzt. Und zum anderen ist zu betonen, welche Rolle dem Brautkleid der Mutter zukommt, das Joseph trägt und mit welchem er sich in ein bräutliches, also ganz unpassendes und anmaßendes Verhältnis zu den Brüdern setzt. Die familiäre Ordnung wird durch diese Schieflage bedroht, Joseph positioniert sich mit seinem Schleiergewand somit auch außerhalb der Bruderreihe und hebt seine Besonderheit, aber auch seine Vorrangstellung hervor.154 Diese falsche, von den Brüdern als Beleidigung aufzufassende Ordnung, gilt es im wahrsten Sinne des Wortes zu zerschlagen. Zunächst muss Joseph hierfür entblößt, sein Schleierkleid zerrissen werden : »›Herunter, herunter, herunter !‹ schrien sie keuchend, und einhellig war die Ketônet gemeint, das Bildkleid, das Schleiergewand, das mußte von ihm herunter […].« (GW IV, 555) Der Erzähler spart denn auch nicht mit brutalen Einzelheiten, und betont das regressive Verhalten155 der Brüder deutlich stärker als der biblische Text :
153 Vgl. mein Kap. zu Kain und Abel. 154 S. GW IV, 500 : »›Ich und die Mutter sind eins‹, sagte Joseph. ›Weißt du nicht, daß Mami’s Gewand auch des Sohnes ist und daß sie’s tragen im Austausch, der eine an Stelle des anderen ? Nenne mich, und du nennst sie. Nenne das Ihre, und du nennst das Meine. Also wes ist der Schleier ?‹« Ruben, dessen »Liebe nicht weit vom Glauben« entfernt ist, erschauert über diese Worte und assoziiert Joseph mit einer »verschleierten[n] Doppelgottheit von beiderlei Geschlecht« (GW IV, 501). Joseph spielt hier absichtlich mit einer Zweigeschlechtlichkeit. 155 Die Brüder ergehen sich, wie schon bei dem Massaker in Scheckem, in mythischem Gehorsam und wiederholen alte Muster : »Hier fielen Worte, die wir nicht unmittelbar wiedergeben, weil sie eine neuzeitliche Empfindlichkeit erschrecken und, eben in unmittelbarer Form, die Brüder, oder einige von ihnen, in ein übertrieben schlechtes Licht setzen würden. Es ist Tatsache, daß Schimeon und Levi sowie der gerade Gad sich erboten, dem Gefesselten kurzerhand den Garaus zu machen. Jene wollten es mit dem Stabe besorgen, ausholend mit beider Arme Kraft nach guter Kainsart, daß er hin sei. Dieser ersuchte um den Auftrag, ihm rasch mit dem Messer die Kehle zu durchschneiden, wie Jaakob einst mit dem Böcklein getan, deren Fell er brauchte zum Segenstausch. […] Es wurde gesagt, weil es gesagt werden mußte, weil es, in unserer Sprache zu reden, in der Konsequenz der Dinge lag. Und es war wiederum folgerecht, daß diejenigen es über die Lippen brachten und sich dafür zur Verfügung stellten, zu deren Rolle auf Erden es am besten paßte und die damit, sozusagen, ihrem Mythus sich gehorsam erwiesen : die wilden Zwillinge und der stramme Gad.« (GW IV, 562).
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Es ist nicht zu leugnen, vielmehr zu betonen, daß die Aufführung der Jaakobssöhne, soviel Gerechtigkeit ihr zur Seite stehen mochte, die allerbeschämendste war, ja geradezu rückfällig genannt werden mußte. Sie gingen unter die Menschheit hinab und erinnerten sich ihrer Zähne, um dem Blutend-Halbohnmächtigen das Mutterkleid vom Leibe zu reißen, da ihre Hände leider noch mehr zu tun hatten. (GW IV, 556)
Das Entblößen des Leibes vom Brautkleid wird zudem motivisch in die Nähe der Entjungferung, der Vergewaltigung156 durch die Brüder gerückt. Ihm war, was mit der Ketônet geschah, das Entsetzlichste und Unfaßlichste von allem ; es war ihm schmerz- und grauenhafter als alle verbeulende Unbill, die nebenherlief. Er trachtete verzweifelt, das Gewand zu bewahren, die Trümmer und Lappen davon noch an sich zu halten, schrie mehrfach auf : ›Mein Kleid !‹ und bettelte in Ängsten der Jungfräulichkeit : ›Zerreißt es nicht !‹, noch als er schon nackend war. Denn die Entschleierung geschah allzu gewalttätig, als daß sie sich eben nur auf den Schleier hätte beschränken können. Hemdrock und Schurz gingen mit herunter, ihre Fetzen lagen vermengt mit denen des Kranzes, des Schleiers im Moose umher, und auf den Bloßen, das Gesicht mit den Armen notdürftig Deckenden gingen die Schläge des Haufens […] erbarmungslos nieder […]. (GW IV, 557)157
Es ist also nicht nur die rohe Gewalt, die Joseph so verletzt, sondern vor allem auch die Entblößung, die Demütigung, die er durch den Entzug des identitätsstiftenden Kleides erfährt. Josephs Keuschheit, die »Vorsicht, Gottesklugheit, heilige Rücksichtnahme« (GW V, 1137) bedeutet, soll hier vernichtet werden. Für die Brüder genügt jedoch die »Entschleierung« nicht, auch eine weitere ›Hülle‹, seine Haut, das Sinnbild seiner Schönheit und Jugend, muss versehrt werden. Denn es ist auch zu einem großen Teil die außergewöhnliche Schönheit des 17-Jährigen, die die unbändige Eifersucht der Brüder erregt, ihn aber dennoch für die Brüder auf eine zwiespältige Art und Weise anziehend macht : »So war es mit Rahels Sohn, und darum heißt es, daß er der schönste war unter den Menschenkindern. […] Vieles spricht jedenfalls dafür, daß der Haß der Brüder im Wesentlichen nichts anderes war als die allgemeine Verliebtheit mit verneinendem Vorzeichen.« (GW IV, 395) Die Schönheit Josephs zieht an, ob 156 S. GW V, 1137 : Die »Entschleierung« wird später vom Erzähler als ein »Erlebnis furchtbarer Vergewaltigung« bezeichnet. 157 Kranz und Schleier werden auch in Josephs Hochzeitsnacht »zerrissen«, »wo Jungfräulichkeit auf Jungfräulichkeit traf […],– ein schwieriges Zerreißungswerk«. (GW V, 1528).
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in Liebe oder in Hass, und sie verwirrt und stört die männlich konnotierte Ordnung der Brüder, da sie sowohl weibliche als auch männliche Züge trägt. Diese verwirrende, anziehende und deswegen auch abstoßende ›Hülle‹ gilt es nun zu zerstören : Vor ihnen lag Rahels Sohn, kläglich zugerichtet. Er lag auf seinen gefesselten Armen, den Hinterkopf steil im Kraute, die Knie hochgezogen, mit fliegenden Rippen, zerbeult, verbleut, und über seinen von brüderlicher Wut begeiferten Körper, an dem Moos und Staub klebten, lief in schlängelnden Rinnsalen der rote Saft, der der Schönheit entquillt, wenn man ihre Oberfläche verletzt. (GW IV, 558)158
Joseph wird also körperlich erheblich verletzt und – die Metaphorik weist darauf hin – sexuell gedemütigt. Seine »Welthabe«159, die bisher stark Ich-zentriert war, wird zerschlagen : Er taumelte fassungslos, den Kopf zwischen den Schultern, die Ellbogen gespreizt unter diesem Hagelgewitter wüster Brutalität, das aus blauem Himmel, ohne greulicher weise sich im geringsten darum zu kümmern, wohin es traf, auf ihn niederprügelte und seinen Glauben, sein Weltbild, seine wie ein Naturgesetz feststehende Überzeugung, daß jedermann ihn mehr lieben müsse als sich selbst, in kurze und kleine Stücke schlug. (GW IV, 556)
Die Brüder treten also in die Fußstapfen Kains und Lamechs. »Die physische Gewalt ist der intensivste Machtbeweis. Sie trifft das Opfer unmittelbar im Zentrum seiner Existenz, in seinem Körper. Keine Sprache ist von größerer Überzeugungskraft als die Sprache der Gewalt.«160 Die Gewalt, die Joseph hier widerfährt, durchtrennt »die Kontinuität [seiner] Lebenslinie«161, dieser Bruch bewirkt bei ihm die endgültige Erkenntnis, dass sein Platz nicht in der Reihe der Brüder zu suchen ist, dass die Sphäre seiner Väter nicht länger seine Heimat ist. Was diese Gewalt jedoch nicht zerstört, ist Josephs Glauben an seine Erwählung durch Gott. 158 Joseph ist in der gesamten Brunnen-Szene enger mit Rahel verbunden, ihr mehr zugehörig als dem Vater. Dies betont die Kluft zwischen den Brüdern noch einmal deutlich, da sie den Vater, aber nicht die Mutter teilen. 159 Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 53. 160 Sofsky : Traktat, 19. 161 Ebd., 80.
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Die Gewalt an Joseph hinterlässt auch Spuren bei den älteren Brüdern, die im Gewaltakt die körperliche Nähe zum Bruder gespürt haben, und der sie nun, nach getaner Arbeit und der Entsorgung Josephs im Brunnen, dem symbolischen »Mutterschoß der Erde«162, beim gemeinsamen aber schweigsamen Mahl nachsinnen : Sie kauten blinzelnd und nachdenklich. Diese Nachdenklichkeit aber betraf vorderhand etwas ganz Nebensächliches, was ihnen dennoch für den Augenblick vor allem eindrucksvoll war. Ihre Hände und Arme, die beim Begräbnis tätig gewesen, trugen die Erinnerung an die Berührung mit Josephs bloßer Haut, und diese Erinnerung war überaus zart, obgleich die Berührung so unzärtlicher Art gewesen, und teilte sich ihrem Herzen als eine Weichheit mit, der sie blinzelnd nachspürten, ohne sich recht auf sie zu verstehen. […] Sie grübelten kauend und blinzelnd, an den Händen und Armen das Nachgefühl der Sanftheit von Josephs Haut. (GW IV, 566 f.)
Die Brüder sprechen nicht über ihre Gefühle, und doch sind sie alle durch ihre verwirrenden Gefühle gegenüber Joseph miteinander verbunden. Die Aussonderung des Störenfrieds schweißt also die übrigen Brüder enger zusammen, eine Gemeinschaft, die sich später noch bewähren wird, wenn die Brüder nach Ägypten reisen, um Korn zu kaufen. Dass diese Geschehnisse keine dauerhaft negativen Folgen vor allem für die psychische Konstitution Josephs haben, dass sein Glauben an seine Besonderheit nicht gebrochen wird, lässt sich nur dadurch erklären, dass er die Gewalt als notwenige Strafe anerkennt und annimmt sowie als Tod seines alten Selbst begreift, von dem er durch die Annahme einer neuen Existenz metaphorisch auferstehen wird. Seine Höllenfahrt hinab nach Ägypten beginnt, wo er sein neues Selbst spielerisch austesten und vervollkommnen kann. Joseph begreift sein früheres Selbst als notwendiges Opfer – in der identifikatorischen Nachfolge des Tammuz’ – für seinen weiteren Weg. Der Quelle der Gefühlslage der Brüder bedarf nun einer genaueren Untersuchung. Sie hängt eng mit Josephs Leib zusammen und der Anziehung, die von diesem ausgeht, die verwirrt und Unordnung im sozialen Familiengefüge entstehen lässt. Josephs oben bereits erwähnte androgyne Schönheit ist ein Grund, warum die Brüder Joseph hassen und ihn körperlich versehren wollen.163 Sowohl in der 162 Sučkov : Roman und Mythos, 396. 163 Ich sehe die Androgynie damit nicht, wie etwa Kerstin Schulz, Identitätsfindung, 205, als »Aufhe-
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Bibel als auch im Roman wird der Hass der Brüder gegen Joseph mehrfach begründet und hierdurch psychologisch nachvollziehbar motiviert. Die Bibel kennt drei Gründe, die in einer Steigerungsform dargestellt werden : die schlechte Nachrede Josephs gegenüber den Brüdern, die Vorliebe des Vaters gegenüber Joseph und die Erhebungsträume. Der zweite Erhebungstraum stellt hierbei gegenüber dem ersten noch einmal eine Steigerung dar, da sich nun nicht nur die Garben (= Brüder), sondern neben den Sternen (= Brüder) auch Mond und Sonne (= Mutter und Vater) vor Joseph verbeugen.164 Der biblische Text schildert die Gründe für den Hass der Brüder äußerst dicht formuliert und deutlich die Steigerung des Hasses hervorhebend : Joseph war siebzehn Jahre alt, da er ein Hirte des Viehs ward mit seinen Brüdern ; und der Knabe war bei den Kindern Bilhas und Silpas, der Weiber seines Vaters, und brachte vor ihren Vater, wo ein böses Geschrei wider sie war. Israel aber hatte Joseph lieber als alle seine Kinder, darum daß er ihn im Alter gezeugt hatte ; und machte ihm einen bunten Rock. Da nun seine Brüder sahen, daß ihn ihr Vater lieber hatte als alle seine Brüder, waren sie ihm feind und konnten ihm kein freundlich Wort zusprechen. Dazu hatte Joseph einmal einen Traum und sagte zu seinen Brüdern davon ; da wurden sie ihm noch feinder. Denn er sprach zu ihnen : Höret doch, was mir geträumt hat : Mich deuchte, wir banden Garben auf dem Felde, und meine Garbe richtete sich auf und stand, und eure Garben umher neigten sich vor meiner Garbe. Da sprachen seine Brüder zu ihm : Solltest du unser König werden und über uns herrschen ? und sie wurden ihm noch feinder um seines Traumes und seiner Rede willen. Und er hatte noch einen andern Traum, den erzählte er seinen Brüdern und sprach : Siehe, ich habe einen Traum gehabt : Mich deuchte, die Sonne und der Mond und elf Sterne neigten sich vor mir. Und da das seinem Vater und seinen Brüdern gesagt ward, strafte ihn sein Vater und sprach zu ihm : Was ist das für ein Traum, der dir geträumt hat ? Soll ich und bung der Spannung zwischen dem Männlichen und dem Weiblichen« und somit als Element der Vermittlung, sondern vielmehr als Element der Verunsicherung, das Spannungen erzeugt. Siehe hierzu das Kap. Der Umsturz der Ordnung : die symbolische Bedeutung des Schleiers, in dem gezeigt wird, wie Joseph das wohlgeordnete patriarchalische Familienkonstrukt, in welchem jedem eine eindeutige Rolle zukommt, stört. An dieser Stelle sei noch einmal betont, dass Joseph durch seine Keuschheit den erklärten Zweck des Stammes (der durch Gott vorgegeben ist), zu zeugen und ein Volk zu werden, nicht erfüllen kann. Daher muss er eine andere Geschichte für sich ›erfinden‹ und zumindest die am Leben erhalten, die willig sind, zu zeugen, allen voran den sehr zeugungswilligen Juda, der auch schließlich den Segen erhalten wird. 164 Vgl. auch die Rechtfertigungen der Brüder nachdem diese Joseph verprügelt haben : »Löscht sein Weinen in dieser Stunde es aus, daß die Kröte unverschämt war all ihrer Lebtage bis über den Himmel hinaus und uns untertreten hat beim Vater mit schändlicher Gleisnerei ?« (GW IV, 561).
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deine Mutter und deine Brüder kommen und vor dir niederfallen ? Und seine Brüder beneideten ihn. Aber sein Vater behielt diese Worte. [Hervorhebungen M. A.]165
Der Hass der Brüder gegen Joseph entwickelt sich also erst langsam und steigert sich durch das Verhalten von Jaakob und Joseph. Bereits in der Bibel ist also eine Mitschuld von Vater und Opfer erkennbar, die Thomas Mann im Roman noch deutlicher hervortreten lässt. Von Josephs Schönheit ist jedoch in der Bibel in diesem Zusammenhang nicht die Rede. Das Motiv der Schönheit, als Hass auslösendes Moment, fügt Thomas Mann also gegenüber der Bibel hinzu. Im ersten Kapitel des zweiten Bandes, überschrieben mit Von der Schönheit werden Josephs Äußeres und seine Wirkung auf andere Menschen beschrieben. Joseph war siebzehn Jahre alt und in den Augen aller, die ihn sahen, der Schönste unter den Menschenkindern. Offengestanden sprechen wir nicht gern von Schönheit. Geht nicht Langeweile von dem Wort und Begriffe aus ? Ist Schönheit nicht ein Gedanke erhabener Blässe, ein Schulmeistertraum ? Man sagt, sie beruhe auf Gesetzen ; aber das Gesetz redet zum Verstande, nicht zum Gefühl, das sich von jenem nicht gängeln läßt. Daher die Ödigkeit vollkommener Schönheit, bei der es nichts zu verzeihen gibt. Wirklich will das Gefühl etwas zu verzeihen haben, sonst wendet sich’s gähnend ab. Das bloß Vollkommene mit Begeisterung zu würdigen, bedarf es einer Ergebenheit für das Gedachte und Vorbildliche, die Schulmeistersache ist. Es ist schwer, dieser gedachten Begeisterung Tiefe zuzuschreiben. Das Gesetz bindet auf äußerlich lehrhafte Weise ; innere Bindung bewirkt nur der Zauber. Schönheit ist magische Gefühlswirksamkeit, immer halb wahnhaft, sehr schwankend und zerstörbar eben als Wirkung […]. Wieviel Betrug, Gaukelei, Fopperei ist einschlägig ins Gebiet des Schönen ! Und warum ? Weil es zugleich und auf einmal das Gebiet der Liebe und des Verlangens ist ; weil das Geschlecht sich einmischt und den Begriff der Schönheit bestimmt. (GW IV, 393 f.)166
Die ganz und gar Gesetzen folgende167, also ebenmäßige, symmetrische Schönheit spricht lediglich zum Verstande. Hier ist sie bloß ästhetische Wahrnehmung 165 1. Mose 37, 1–11. Das Kap. Von der Schönheit beginnt mit denselben Worten, vgl. GW IV, 393. 166 Auch Gustav von Aschenbach verfällt dem jungen Tadzio, den er zunächst als ebenmäßige Statue im griechischen Stil wahrnimmt, was den Erzähler in Hexametern über seine Schönheit räsonieren lässt, erst, nachdem er Makel an ihm entdeckt hat. (Vgl. GkFA 2,1, 534 f.). 167 Vgl. auch : GW IV, 63 : »Auch ist Schönheit ja nie vollkommen und hält ebendarum zur Eitelkeit an ; denn sie macht sich ein Gewissen aus dem, was ihr zum durch sie selbst gegebenen Ideal fehlt, – was eben doch wieder irrig ist, da ihr Geheimnis eigentlich in der Anziehungskraft des Unvollkommenen besteht.«
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und taugt nicht zum Gefühl, also weder zur Liebe noch zum Hass. Der Mensch, der die gefühlsmächtige Schönheit empfindet, tritt mit dem Objekt der Schönheit emotional in Interaktion, indem wohlwollend Störungen der Gesetzmäßigkeit wahrgenommen und verziehen werden. Über dem Akt des Verzeihens steht ein großes ›dennoch‹, das auch dem Verzeihenden Würde und Größe verleiht. Der schauend Verzeihende partizipiert also an der Größe verleihenden Schönheit des Objekts, indem nur durch das Verzeihen des Makels vollkommene Schönheit überhaupt erst wahrgenommen wird. Das betrachtete Objekt bedarf also des schauenden (verzeihenden) Subjektes. Wie diese emotional empfundene Schönheit zustande kommt, berichtet der Text ebenfalls : Die anekdotische Welt ist voll von Geschichten, wie als Weiber verkleidete Jünglinge Männern die Köpfe verdrehten, Fräuleins in Hosen die Leidenschaft von ihresgleichen anfachten. Die Entdeckung genügte, jedes Gefühl zu dämpfen, da die Schönheit unpraktisch geworden war. Menschenschönheit als Gefühlswirksamkeit ist vielleicht nichts als Geschlechtszauber, Anschaulichkeit der Geschlechtsidee, so daß man besser von einem vollkommenen Mann, einem höchst weiblichen Weibe als von einem schönen redete und nur mit verständiger Überwindung eine Frau die andere, ein Mann den anderen schön heißen wird. (GW IV, 394)
Das Stehen zwischen den Geschlechtern, Androgynität, ist die vollkommene Schönheit, sie zieht an, auch und vor allem in sexueller Hinsicht, sie ist aber ebenso Betrug, da sie, sexuell gesehen, ihr Versprechen nicht einlösen kann. Emotional empfundene Schönheit, die durch Androgynität entsteht, hat also immer eine sexuelle Konnotation, die geradezu dafür prädestiniert ist, Verwirrung zu schaffen, da sie ein ›Dazwischen-Stehen‹ markiert und aus ihr kein Leben entstehen kann, sie also dekadent ist.168 Diese anziehende und verwirrende Androgynität ist des Weiteren ein Privileg der Jugend, was das »Unpraktische« noch einmal betont. Hier [im Bereich der ›unpraktischen Schönheit‹] tritt das Moment der Jugend ins Spiel, also ein Zauber, den das Gefühl mit Schönheit zu verwechseln sehr geneigt ist, so daß Jugend, wenn nicht gar zu störende Gebrechen ihre Anziehung lähmen, meistens einfach als Schönheit empfunden wird – und zwar auch von ihr selbst, wie ihr Lächeln unmissverständlich bekundet. Ihrer ist die Anmut : eine Erscheinungsform 168 Vgl. hierzu Die Ehe im Übergang (GkFA, Essays, Bd. 2).
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der Schönheit, die ihrer Natur nach zwischen dem Männlichen und Weiblichen eine schwebende Mitte hält. Ein Jüngling von siebzehn ist nicht schön im Sinne vollkommener Männlichkeit. Er ist auch nicht schön im Sinne bloßer unpraktischer Weiblichkeit – die wenigsten würde das anziehen. Aber soviel ist zuzugeben, daß Schönheit als Jugendanmut seelisch und ausdrucksweise immer ein wenig ins Weibliche spielt ; das liegt an ihrem Wesen, ihrem zarten Verhältnis zur Welt und dem Verhältnis der Welt zu ihr begründet und malt sich in ihrem Lächeln. Mit siebzehn, das ist wahr, kann einer schön sein als Weib und Mann, schön wie Weib und Mann, schön von beiden Seiten her und auf alle Weise, hübsch und schön, daß es zum Gaffen und Sichvergaffen ist für Weib und Mann. So war es mit Rahels Sohn […]. (GW IV, 394 f.)
Josephs Schönheit hat also etwas stark Anziehendes – für beide Geschlechter. Und genau hierdurch auch wieder etwas Verwirrendes, da sie klare Trennlinien zerstört und die duale Geschlechterordnung zu untergraben droht. Und so ist denn auch der Hass der Brüder als »Verliebtheit mit verneinenden Vorzeichen« (GW IV, 395) zu lesen. Auch die Brüder können Joseph in seiner Schönheit oft nur staunend betrachten. Er spricht sie hierdurch stärker emotional an, als diese es sich wünschen, wäre es ihnen doch am liebsten, Joseph einfach ignorieren zu können. Und so kommentiert der Erzähler die emotionale Verfasstheit der Brüder nach der Gewalt an Joseph, die seine so sinnhafte Schönheit zerstört : »Was sie an dem Bruder getan, hatten sie am Ende aus Eifersucht getan ; aber man weiß ja, welches Gefühl in der Eifersucht seine Verzerrung erleidet.«169 Die Brüder tun Joseph aus Liebe, die sie nicht zulassen können und die sich zur Eifersucht verzerrt, Gewalt an, weil des Knaben anziehende und verwirrende Schönheit ihre Identität als Männer und die Ordnung der Familie bedroht.170 Da jedoch Joseph nicht nur ›irgendeine‹ weibliche Schönheit besitzt, sondern die weibliche Schönheit der Mutter171, rückt sie das Stutzen über Joseph in ein inzestuöses, die Chronologie der Familie störendes Verhältnis, wie bereits durch die Bedeutung des Schleiers, Rahels Brautkleid, das der Sohn trägt, deutlich geworden ist.
169 Vgl. auch GW IV, 564 : »Es war die Furcht Jaakobs und grimmig verschämte Liebe zu dem Verhaßten [ Joseph], die ihn [Ruben] dies heimlich betreiben – und auf Verrat sinnen ließen an dem Brüderclan, es ist nicht anders zu nennen.« 170 Vgl. hierzu auch Sloterdijk : Zorn, Kap.: Der Aggressor als Geber, der den »Haß, die extremste Form des Etwas-übrig-Haben[ ] für Andere« nennt. (92). 171 Rahel ist zwar nicht die biologische Mutter der zehn Lea-Söhne, es geht hier aber um den Typus der Mutter, der eine Generation über den Söhnen bzw. den Brüdern steht.
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2.7 Sexualität und Gewalt. Störung und Wiederherstellung der Ordnung : Dina Eine weitere und, im Gegensatz zum biblischen Urtext, sehr ausführlich beschrie bene Gewaltszene ist der Überfall der Jaakobs-Söhne auf die Siedlung Schekem. Der Roman bereitet in aller erzählerischen Ausführlichkeit den Angriff vor172 und gibt hierbei insbesondere Einblicke in die Motivation der gewaltsam denkenden und handelnden Brüder. Eingebettet ist die blutige Tat der Jaakobs-Söhne in das dritte Hauptstück Die Geschichte Dinas. Dina ist Jaakobs einzige Tochter, ein »Leakind[ ]« (GW IV, 153), das sich den Ereignissen in Schekem schicksalhaft beugen muss und schließlich rasch wieder aus dem Sichtfeld der großen Väter-Geschichte tritt. Dennoch spielt die kurze Geschichte um Dina, die die Rahel-Handlung unterbricht, keine unerhebliche Rolle für Jaakob, sie wird Teil seiner Geschichte, wird »Erinnerungswürdenlast seines Alters« und schreibt sich ein in seine »müde und zügige Greisenmiene« (GW IV, 152).173 Der Erzähler deutet gar an, dass die Geschichte Dinas recht eigentlich um Jaakobs Willen berichtet wird : »Wenn wir das schlimme und schließlich blutige Geschehen von damals entwickeln […], 172 Das Wort »entwickeln« weist darauf hin, dass der Erzähler Schritt für Schritt die ›realen‹ Geschehnisse gleich einem Chronisten rekonstruieren will. 173 Es sei betont, dass es vor allem die Geschehnisse, die sich um Dina entfalten, sind, die hier eine Rolle spielen, nicht eigentlich die Person Dinas. Denn Dina bleibt in dieser, in ›ihrer‹ Geschichte stets die Passive. Über sie wird lediglich verhandelt, sie duldet das Geschehen. Darüber hinaus wird unmissverständlich deutlich, dass dies auch im Wesentlichen alles ist, was zu Dina als Person zu sagen ist, ihre Rolle in der Welt ist kurz und wenig glorreich. Dies wird sinnbildlich an ihrer Weiblichkeit deutlich gemacht, die kurz nach den Ereignissen versiegt : »[U]nd die Ereignisse taten das Ihre, sie vor der Zeit zu einem müden und abgeblühten Weiblein zu machen.« (GW IV, 153) Dinas Intermezzo-Charakter wird auch an den Umständen ihrer Geburt deutlich, indem der Erzähler sie zwischen ihren Brüdern zur Welt kommen lässt und nicht als letzte. Dies geschieht natürlich auch aus dem Grunde, sie älter zu machen, darüber hinaus wird aber auch ihre Position innerhalb der Familie herabgesetzt : »Dina’s Erscheinen [ihre Geburt], richtig eingeordnet, bildete gewissermaßen den Übergang von Lea’s kurzer Unfruchtbarkeitsperiode zu neuer Ergiebigkeit ihres Leibes, welche mit Issakhars Austritt erst ernstlich wieder einsetzte.« (GW IV, 153) Der Erzähler betont zwar, dass er mit der Richtigstellung der Reihenfolge der Geburten der Lea-Kinder Dina zu ihrem Recht verhelfen will, erreicht aber freilich durch die Betonung der Mittelstellung und der noch nicht gänzlich als wieder hergestellt zu betrachtenden Fruchtbarkeit Leas das Gegenteil. Auch die Bezeichnung »Erscheinen« für Geburt, betont ihre stark zeitlich gebundene Rolle. Zuvor fand Dina kaum Erwähnung, der Leser weiß lediglich, dass es sich bei Dina um ein Lea-Kind handelt, das, um es vor Esau zu schützen, »als tot in eine Truhe gelegt [wurde], darin sie beinahe erstickt wäre«. (GW IV, 146).
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so ist es im Verfolg und Zusammenhang unserer Betrachtung seines [ Jaakobs] Seelengepräges […].« (GW IV, 152) An der Marginalisierung Dinas in ›ihrer‹ Geschichte wird also kein Zweifel gelassen, im Verlauf der Ereignisse wird deutlich, dass sie nicht mehr als der vorgeschobene Stein des Anstoßes zu einer unheilvollen Tat ist, die Dina so zum unschuldig-schuldigen Opfer ihrer Brüder werden lässt.174 Der auffällige Verweis des Erzählers auf die korrekte Chronologie der Ereig nisse, an welche sich die Bibel, laut Erzähler, nicht hält, betont erneut, dass besonders durch die gestörte zeitliche Ordnung Ereignisse und Taten vertuscht werden sollen und somit gleichsam mit verzerrtem Sinn in die Tradition Eingang gefunden haben. Zu dieser ›Geschichtskorrektur‹ gehört, dass der Erzähler erneut insistiert, dass er auch dieses Ereignis zum ersten Male so erzähle, wie es sich wirklich zugetragen habe und wie es schließlich ›wahr‹ sei, nämlich in der richtigen Reihenfolge. Der von Thomas Mann vorausgesetzte bibelkundige Leser weiß zwar, was in Schekem/Sichem passiert, aber erst jetzt wird er das Ereignis richtig zu beurteilen wissen, zumal er ebenfalls Einblicke in die (Hinter) Gedanken und Beweggründe der Beteiligten erlangt. Es findet also eine Psychologisierung des Mythos statt, wie sie für Thomas Manns ›alttestamentarisches Werk‹ konstitutiv ist. Vor einer detaillierten Betrachtung der Ereignisse in Schekem soll zunächst die Stadt selber in den Blick genommen werden, denn der Text gibt auch Einblicke in die administrative, kulturelle und religiöse Ordnung der Stadt, die nicht unerheblich für das Gelingen des Überfalls auf Schekem ist. In der Bibel wird der Name Schekem nicht erwähnt, Schekem ist hier mit der »Stadt Sichems, die im Lande Kanaan liegt«175, identisch. Sichem heißt auch der Sohn Hemors, »der des Landes Herr war […].«176 Thomas Mann übernimmt diesen Namen. 174 Auch der Umstand, dass sich Jaakob »niemals viel um Dina, das Frätzchen gekümmert« und dass erst das »Begehren des Burgsohnes […] sie in seinen Augen im Werte steigen [ließ]«, macht deutlich, dass Dinas Bedeutung rein auf ihre erotische Anziehungskraft beschränkt ist (s. in diesem Zusammenhang auch das »mimetische Begehren« bei René Girard : Figuren des Begehrens : das Selbst und der Andere in der fiktionalen Realität. Beiträge zur mimetischen Theorie. München u. Wien 1999 und erläuternd hierzu : Wolfgang Palaver : René Girards mimetische Theorie. Im Kontext kulturtheoretischer und gesellschaftspolitischer Fragen. In : Beiträge zur mimetischen Theorie 6. Wien u. a. 2008). Sie ist ganz passives Objekt : »Sie war ein unbedeutendes Ding, ergeben, ohne Urteil und Widersetzlichkeit. Was mit ihr geschah, wenn es klar und energisch geschah, nahm sie als das Gegebene und Natürliche hin.« (GW IV, 174). 175 1. Mose 33, 18. 176 1. Mose 34, 2.
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Schekem ist im Roman in vielerlei Hinsicht durch das nahe gelegene Ägypten geprägt. Auf rund fünfhundert Einwohner kommen »einige zwanzig Mann ägyptischer Besatzung« (GW IV, 154), an deren Vorsteher die Bewohner Abgaben zu leisten haben. Die Mentalität und Wehrhaftigkeit der Stadtbewohner, daran lässt der Erzähler keinen Zweifel, lässt sehr zu wünschen übrig. Schekem ist eine leicht zu bezwingende »behäbige Siedlung« (ebd.), deren Einwohner eine gewisse städtische Dekadenz an den Tag legen und hiermit der ägyptischen Lebensart eher entsprechen als der der einfachen aber stolzen und mannhaften Jaakobs-Leute : Der Ortsgeist war wenig mannhaft, vielmehr händlerisch, bequem und friedlich, der Stadtfürst Hemor ein grämlicher Greis mit schmerzhaften Knoten an den Gelenken, sein Sohn, der junge Sichem, ein verhätscheltes Herrensöhnchen mit eigenem H arem, ein Teppichlieger und Süßigkeitenschlecker, eine elegante Drohne […]. (GW IV, 155)177
Auch die ägyptischen Besatzer versprechen wenig Schutz im Ernstfall eines Angriffs, ihr Kommandant hat von einem »Krieger so gut wie gar nichts an sich« (GW IV, 155) und frönt einem von »Weichheit« (GW IV, 156) geprägten Zärtlichkeitskult der Katzen- und Blumenliebe, die der Erzähler mit »lächerlich« (ebd.) kommentiert. Seine Erscheinung wirkt durch die »bürgerlich[e]« Kleidung anachronistisch, seine »gewisse[ ] Schreibfertigkeit« weist ihn als Mann des Wortes und nicht der Tat aus. Auch seine Leute sind »ausgemachte Feiglinge« (ebd.), die sich den Tag mit allerlei Spielen vertreiben, für die »Schicksal und Schutz von Schekem […] nicht mehr wog als ein Getreidekorn.« (GW IV, 157) Noch bevor der Leser von dem kriegerischen Ansinnen der Jaakobssöhne erfährt, wird überdeutlich, dass Schekem eine leicht einzunehmende Stadt darstellt. Die Söhne Jaakobs, namentlich Ruben, Schimeon, Levi, Dan, Naphtali und Juda sinnen denn auch von Anbeginn ihres Siedelns gen Schekem auf gewaltsame Plünderung und Eroberung.178 Im stark betonten Kontrast zu den Bewohnern Schekems werden die Brüder als archaisch anmutende Krieger beschrieben : 177 Die »schmerzhaften Knoten an den Gelenken« (GW IV, 155), also die Gicht, deuten zudem auf eine dekadente Lebensweise hin. 178 Der Erzähler betont, dass die restlichen Fünf lediglich aufgrund ihres jungen Alters noch außen vor bleiben. Im Buch Genesis (1. Mose 34) werden lediglich Simeon und Levi als treibende Kraft genannt, und auch nur diese beiden werden später von Jaakob gescholten. (1. Mose 34, 30) Thomas Mann dehnt also die Schuld auf mehrere Brüder aus.
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Die draußen die Köpfe zusammensteckten, diese von der Sonne Naharina’s bis zur Schwärzlichkeit gebräunten Gesellen in ihren gegürteten Zottelkitteln und mit ihrem vom Fett starrenden Haar, waren ziemlich wild aufgewachsen, bogen- und messerfrohe Steppensöhne und Hirtenjungen, gewöhnt an Begegnungen mit Wildstieren und Löwen, gewöhnt an ausgiebige Raufereien mit fremden Hütern um einen Weideplatz. Von Jaakobs Sanftmut und Gottesdenkertum war wenig auf sie gekommen ; ihr Sinn war handfest praktisch gerichtet, voll eines nach Beleidigung und Anlaß zum Kampfe geradezu ausspähenden Jugendtrotzes und Stammesdünkels, welcher auf einen geistlichen Adel pochte, der persönlich gar nicht der ihre war. (GW IV, 157 f.)
Diesen »geistlichen Adel« vorschiebend, fühlen sie sich als »Nomaden« den »Seßhaften« überlegen. Ihre Kampfeslust und Kühnheit resultiert aus einem freien, ortsungebundenen Leben. Das »unbehauste«, an Gefahren reiche Leben ohne Schutz einer festen Siedlung steigert ihr Verlangen nach körperlicher Ertüchtigung im Kampf. Schnell wird deutlich, dass die »Gedanken« der Brüder »auf Raub [gingen]«. (GW IV, 158) Dabei ist es den Brüdern vor allem am Unterhaltungswert des Raubzuges gelegen, denn in ökonomischer Hinsicht hat es Jaakob bei seiner »Höllenfahrt« zu seinem Schwiegervater und »Schwarzmonddämonen« (GW IV, 370) Laban zu beachtlichem Reichtum gebracht. Wie steht es nun mit Jaakob, der sich am Jabbok den bedeutungsvollen Namen Israel, Gott führt Krieg, errungen hat ? Er weist die Brüder mit ihren unheilvollen Plänen schroff zurück, nennt sie »Dummköpfe« (GW IV, 160) und weist ihnen, um sie von Kampfesvorbereitungen abzuhalten, niedere Arbeiten zu. Jaakob ist kein Mann des Krieges179, er, der Sanfte und Kluge, Träger des geistlichen Segens, fühlt sich auch hier zu einem zitathaften Leben verpflichtet.180 Sein Gottesdenkertum macht ihn friedlich, und dies ist die »Nachfolge 179 Anders Jakobs Großvater Abraham, der ein »Mann starker Hände« war und sich mit »dreihundertachtzehn Mann« erfolgreich gegen »Räuberkönige« zur Wehr gesetzt hat. (GW V, 1453) Auch Joseph ist im Gespräch mit dem Pharao Amenhotep der Auffassung, dass Krieg durchaus ein wirksames Mittel sein kann, wenn es die Umstände verlangen : »›Was willst du machen mit Räuberkönigen, die brennen und brandschatzen ? Den Frieden Gottes kannst du ihnen nicht beibringen, sie sind zu dumm und zu böse. Du kannst ihnen nur beibringen, indem du sie schlägst, daß sie spüren : der Friede Gottes hat starke Hände. Bist du doch auch Gott Verantwortung schuldig dafür, daß es auf Erden halbwegs nach seinem Willen geht und nicht ganz und gar nach den Köpfen der Mordbrenner.‹« (Ebd.) Hier spiegelt sich sicher die Einstellung des Autors gegenüber Nazi-Deutschland wider. Vgl. auch Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 164 f. 180 Zitat- und anspielungsreich verbietet er denn auch den Söhnen einen Angriff auf Schekem und misst diesem dann wiederum mythische Bedeutung zu : »Sind wir Räuber der Wüste, die da kom-
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oder Wiederverkörperung Abrahams«181 (GW IV, 162), denn dieser hatte einst in friedlicher Kooperation in Schekem geweilt. Jaakob erhält ebenfalls sofort umfassende Siedlungs- und Handelsrechte, denn auch die Bewohner Schekems haben den reichen und würdevollen Abraham nicht vergessen. Eine »Friedensund Handelsurkunde« nach »Recht und Gesetz« wird aufgesetzt und soll das friedliche Zusammenleben besiegeln : Sichemiten waren die Jaakobsleute, Bürger, Berechtigte. Sie mochten ein- und ausgehen durch das Tor der Stadt nach ihrem Gefallen. Sie mochten das Land durchziehen und Handel treiben im Lande. Ihre Töchter wollten Schekems Söhne zu Weibern nehmen und Schekems Töchter ihre Söhne zum Mann. Von Rechts wegen ; wer sich dawidersetzte, sollte Ehre bar sein für Lebenszeit. (GW IV, 163)
Doch nicht nur die anspielungsreiche »Wiederverkörperung« Abrahams durch Jaakob macht eine rasche und zunächst friedliche Einigung möglich. Auch das Wesen Jaakobs nimmt die Bewohner Schekems sofort für ihn ein : Die ergreifende Sanftheit und Tiefe von Jaakobs Blick, sein vollendeter Verstand, die Ausgesuchtheit seiner Gebärden, das Tremolo seiner Stimme, seine gebildete und blumige, in Satz und Gegensatz, Gedankenreim und mythischer Anspielung sich bewegenden Rede lassen das Volk geradezu in ›Beifall‹ ausbrechen. (GW IV, 162)
Wie wertet und kommentiert nun der Erzähler das kriegerische Sinnen der Brüder und Jaakobs Sanftmut ? Zur Einordnung und Erläuterung der Siedlung vor Schekem wird zunächst auf die historische Realität verwiesen : Unerhört war es nicht, was sie [die Brüder] erwogen. Daß Städte des Landes von lüsternen Eindringlingen der Wüste, südlicher oder östlicher Herkunft, Chabiren oder Beduinen, überfallen und vorübergehend auch eingenommen wurden, war, wenn men über das Land gleich Heuschrecken und gleich einer Plage Gottes und fressen die Ernte des Ackermanns ?« (GW IV, 159 f.). 181 Jaakob ist zur Zeit der Siedlung vor Schekem in »besonders gehobener Stimmung«, was vor allem bedeutet, dass er über die oberen Dinge sinnt : »Sein Leben während der letzten fünfundzwanzig Jahre erschien seinem feierlichen Sinnen im Lichte kosmischer Entsprechung, als Gleichnis des Kreislaufs, als ein Auf und Ab von Himmelsfahrt, Höllenfahrt und Wiedererstehung, als eine höchst glückliche des wachstumsmytischen Schemas.« (GW IV, 159) Jaakob ist also im höchsten geistigsten Maße mit sich selbst und seiner Bedeutsamkeit beschäftigt. Dies ist nicht die beste Ausgangssituation, um das sehr weltliche Ansinnen seiner Söhne wirksam zu unterbinden.
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nicht an der Tagesordnung, so doch ein nicht seltenes wiederkehrendes Vorkommnis. (GW IV, 158)
Die Söhne Israels unterscheiden sich also in ihrem Eroberungsdrang nicht von anderen Völkern.182 Um die Wahrhaftigkeit der gewaltsamen Vorkommnisse noch zu untermauern, wird dann auf die Überlieferung und auf die Quelle rekurriert und betont, dass der Raub- und Mordzug durch Schekem später beschönigt worden ist, und mehr noch, ausgesprochen wird auch, wer die Geschehnisse beschönigt : die Täter. Die Überlieferung aber, deren Quelle nicht bei den Städtern, sondern bei den Chabi ren, ober Ibrim im engeren Sinne des Wortes, den bene Israel liegt, verschweigt mit dem besten Gewissen von der Welt, überzeugt von der Erlaubtheit solcher epischer Reinigung der Wirklichkeit, die Tatsache, daß es von Anfang an in Jaakobs Lager auf eine kriegerische Regelung des Verhältnisses zu Schekem abgesehen war und nur der Widerstand des Stammeshauptes die Ausführungen dieser Pläne um einige Jahre […] verzögerte. (GW IV, 158)
Auffällig ist auch die Betonung des Erzählers, dass die Gewalttat nach der Installation des Friedensvertrages stattfindet, der Vertrag kann also die Gewalt nicht verhindern. Der Erzähler ist um die Richtigstellung der Chronologie, welche durch »Israels Hirten« im »schönen Gespräch« »um der Geschichte Reinheit willen« (GW IV, 164) nachträglich verfälscht wurde, äußerst bemüht : ›Weißt du davon ?‹ – ›Ich weiß es genau.‹ Mitnichten wußten es Israels Hirten noch genau, wenn sie es später am Feuer zum Gegenstand ›Schöner‹ Gespräche machten. Guten Gewissens stellten sie manches um und verschwiegen anderes um der Geschichte Reinheit willen. Sie schwiegen davon, wie schiefe Mäuler die Söhne Jaakobs […] gleich damals zu dem Friedensvertrag gezogen, – und taten, als sei der Vertrag erst errichtet worden, als die Geschichte mit Dina und Sichem […] schon begonnen, – und zwar etwas anders begonnen hatte, als sie es ›wußten‹. Sie überlieferten es so, als habe eine gewisse Bedingung, die man dem Sichem in Beziehung auf Jaakobs Tochter stellte, einen Punkt des Verbrüderungsdokumentes ausgemacht, – während 182 Lohfink : Gewalt weist darauf hin, dass »[d]aran, dass zur archaischen Kriegsführung die Ausrottung der Bevölkerung einer eroberten Stadt gehören konnte, und zwar als gelobte Opfergabe an die eigene Gottheit, […] historisch kein Zweifel [besteht]. […] In der Bibel nennt man das Cherem« [vor allem auch bei der Eroberung durch Mose und Josua, Dt. 1–3] (65 f.).
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diese Bedingung völlig eine Sache für sich war und zu einem ganz anderen Zeitpunkt erstellt wurde, als sie ›genau zu wissen‹ vorgaben. Wir werden es darlegen. Der Vertrag war das erste […]. Ohne ihn hätte die Ansiedlung der Jaakobsleute gar nicht statthaben und auch das Folgende sich nicht ereignen können. [Hervorhebung M. A.] (GW IV, 163 f.)
Der auffällige Satz »Der Vertrag war das erste«, betont in besonderer Weise die Rechtmäßigkeit und die hohe »Gesittung« der beiden späteren Kontrahenten und steht im harschen Kontrast zu den barbarischen Taten der Brüder. Es handelt sich also um einen Vertragsbruch, was das Handeln der Brüder noch einmal in ein besonders schlechtes Licht rückt. Die hohe Sittlichkeit und Rechtmäßigkeit des Abkommens wird zudem dadurch betont, dass in dem mit Der Vertrag überschriebenen Kapitel die Zusammenkunft der Vertragspartner auf einem »Markt- und Gerichtsplatz« (GW IV, 161) vonstattengeht. Das gesamte Prozedere ist ein ritualisierter, durch »Umständlichkeiten schöner Gesittung« (ebd.) in die Länge gezogener Akt der Kultiviertheit.183 Anders ist es um die Chronologie der Geschehnisse im Buch Genesis bestellt. Hier verhält es sich so, wie auch im Roman später die Söhne Israels im Schönen Gespräch ausdrücklich laut Erzähler falsch tradieren. In 1. Mose 34 steht in der Tat das Friedensangebot nach der Schändung Dinas : Da die sah Sichem, Hemors Sohn, des Heviters, der des Landes Herr war, nahm er sie und lag bei ihr und schwächte sie. Und sein Herz hing an ihr, und er hatte die Dirne lieb und redete freundlich mit ihr. Und Sichem sprach zu seinem Vater Hemor : Nimm mir das Mägdlein zum Weibe. Und Jakob erfuhr, daß seine Tochter Dina geschändet war ; und seine Söhne waren mit dem Vieh auf dem Felde, und Jakob schwieg, bis daß sie kamen. Da ging Hemor, Sichems Vater, heraus zu Jakob, mit ihm zu reden. Indes kamen die Söhne Jakobs vom Felde. Und da sie es hörten, verdroß es die Männer, und sie wurden sehr zornig, daß er eine Torheit an Israel begangen und bei Jakobs Tochter gelegen hatte, denn so sollte es nicht sein. Da redete Hemor mit ihnen und sprach : Meines Sohnes Sichem Herz sehnt sich nach eurer Tochter ; gebt sie ihm doch zum Weibe. Befreundet euch mit uns ; gebt uns eure Töchter und nehmt ihr unsere Töchter und wohnt bei uns. Das Land soll euch offen sein ; wohnt und werbet und gewinnet darin. 183 Gerade dieser »Luxus der Übersachlichkeit«, »um höherer Menschlichkeit willen« ist es, was das »menschlich Würdige, nämlich das mehr als Natürliche und also Gesittete eigentlich ausmach[t].« (GW IV, 162).
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Es kommt also nie zu einem Friedens- und Handelsvertrag zu Beginn des Siedelns Israels gen Schekem. Vielmehr weiß die Bibel lediglich von einem Landkauf zu berichten, der die rechtmäßige Siedlung möglich macht.184 Zu weiteren Vertragsvereinbarungen »nach Recht und Gesetz« kommt es nie, also auch zu keinem Vertragsbruch, der im Roman das Ausmaß der Verbrechen noch einmal betont. Vielmehr wird hier erst nach erfolgter Schändung das Gespräch mit den Jaakobs-Leuten gesucht und ein Friedensangebot unterbreitet, es wird also durchaus eine Wiedergutmachung angestrebt. Erst an dieser Stelle, also nach der Schändung Dinas, wird das Angebot unterbreitet, dass sich die beiden Völker durch Heirat freundschaftlich verbinden könnten. Auf dieses Angebot gehen die Söhne Israels nicht ein, sondern machen einen »hinterlistigen«185 Vorschlag. In der Bibel ist also erst hier, nach der Schändung, von Hintergedanken die Rede, nicht wie im Roman direkt zu Beginn der Siedlung. Doch wie kommt es im Roman nun zur Katastrophe, zum Beischlaf Sichems mit Dina – von Vergewaltigung, wie in der Bibel, kann keine Rede sein – und dem anschließenden Gewaltausbruch gegen die Bewohner Schekems ? Die Ordnung, die per Vertrag verbürgt sein sollte, wird durch Leidenschaften gestört. Im Zentrum dieser Leidenschaft stehen Dina, Jaakobs einzige Tochter, und Sichem, das »Burgsöhnchen« (GW IV, 155) des Stadtfürsten Hemor. Das dritte Hauptstück, Die Geschichte Dina’s, setzt denn auch mit einer Beschreibung der äußeren Reize Dinas ein. Wohlgemerkt : Dies geschieht, noch bevor der Erzähler von Vertrag, Vertragsbruch und Blutbad berichtet. Und so ist es zuallererst eben doch »Dina’s körperliche Anlage« (GW IV, 153), also die Erotik, die Anstoß für das Unheil oder zumindest Voraussetzung für dieses ist. Der Erzähler nimmt erneut eine ›Korrektur‹ des Urtextes vor : So ist Dina »zur Zeit der Katastrophe« (GW IV, 152) bei Thomas Mann dreizehn Jahre alt, nicht elf, wie der Urtext laut Erzähler weismachen will.186 Diese Korrektur ist für den Erzähler äußerst wichtig, denn wie ließe sich sonst Dinas körperliche Anziehungskraft erklären ? Dina war mit dreizehn Jahren bereits »erblüht[ ]«, war zum »Weib« und »so anziehend [geworden], wie man es bei einem Leakinde nur irgend erwarten konnte […].« (GW IV, 153) Dina ist nicht schön im eigentlichen Sinne, aber jung und deswegen begehrenswert. Die Beschreibung 184 Vgl. 1. Mose 33, 19. 185 1. Mose 34, 13. 186 Durch die Diskussion um Dinas Alter werden Kommentare aus der hebräischen Tradition antizipiert. Der Erzähler legt berichtigend dar, dass Dina aus o. g. Gründen unmöglich Leas letztes Kind gewesen sein könne, was bedeuten würde, dass sie bei der Katastrophe erst elf Jahre alt war. Vielmehr setzt er die Geburt der Lea-Kinder Issakhar und Sebulum nach der Dinas an.
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ihrer körperlichen Anziehungskraft erfolgt typisiert und metaphernreich.187 »Sie war ein rechtes Kind der mesopotamischen Steppe, welcher ein früh ausbrechender und überschwenglich blütenreicher Frühling gegeben ist, dem kein lebendiger Sommer folgt ; denn schon im Mai ist die ganze Zauberpracht von einer unbarmherzigen Sonne zu Kohle verbrannt.« (Ebd.) Die Jahreszeitenbzw. Naturmetaphern betonen Dinas Kreatürlichkeit, ihre rein körperliche Anziehungskraft. Auf dieses Lea-Kind nun also wirft Sichem ein Auge. Es folgt das anspielungs reiche Kapitel, Die Weinlese, in welchem die Bürger Schekems ein weinseliges, rauschhaftes Fest feiern, das in der Genesis völlig fehlt und im Roman die archaische, dionysische Verwicklung von Erotik und Gewalt symbolisch vorbereitet, denn »[d]as Fest ist die Zeit des geregelten Tumults, der Ausschweifung, wo sich die Werteordnung umkehrt.«188 Die männlichen Bewohner springen und tanzen »bärtig und nackt« mit »Tierschwänzen« und wie »Böcke« zu Trommel- und Flötenmusik, »indem sie die Mädchen zu haschen suchten, welche ausgebogenen Leibes entwischen.« (GW IV, 167) Die Atmosphäre ist also äußerst erotisch aufgeladen, was noch durch Opfergaben an den »großen Baal« (ebd.)189 Adonai hervorgehoben wird. Jaakob, der »das Rauschen und Klimpern nicht liebte, da es betäubte und die Gottesbesinnung nahm«, macht lediglich aus »Höflichkeit« und »um der Leute willen« »behagliche Miene«. (GW IV, 168) Ebenso wie sein Sohn Joseph später in Ägypten wahrt er Distanz zu den in seinen Augen wenig gottgefälligen Bräuchen, jedoch schließt er sich, ebenso wie Joseph, nicht gänzlich aus und vermeidet so Konflikte mit den Fremden. Sichem erblickt in dieser sexuell aufgeladenen Fest-Atmosphäre Dina und fühlt sich sofort erotisch zu ihr hingezogen, mehr noch : Ihm »taumelten die Sinne und die Luft ging ihm aus«, wenn er nur an das »Beilager« mit Dina dachte. (GW IV, 169) Fürs Erste zügelt er jedoch seine Gelüste und bittet eindringlich seinen Vater, für ihn bei Jaakob vorzusprechen und ihm Dina als seine Frau zu gewinnen. Hamor, Sichems Vater, bietet Jaakob auch einen stolzen Preis für seine einzige Tochter, und weist ihn auf die Möglichkeit der »Herstellung verwandtschaftlicher Beziehungen« (ebd.), wie dies bereits die Friedensurkunde als Möglichkeit nennt, hin. Der Antrag Sichems ist, »weltlich gesehen, ehrenvoll« (ebd.). Doch Jaakob ist kein Mann weltlicher Dinge, und so dringt sein 187 Zur Bildvorlage für Dina s. Hans Wysling : Text und Bild bei Thomas Mann. Eine Dokumentation. Bern u. a. 1975. (Begleitband zur Ausstellung Thomas Mann 1875/1975 im Zürcher Helmhaus). 188 Sofsky : Traktat, 59. 189 Hierin könnte eine Anspielung auf den Tanz um das Goldene Kalb liegen.
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Geist weiter, findet sich in der mythischen Tradition seiner Stammväter wieder und bedenkt die »höhere[ ] Schicklichkeit dieser Verbindung« (ebd.) : Hatte nicht Abraham sich von Eliezer die Hand unter die Hüfte legen lassen darauf, daß er Jizchak, dem wahrhaften Sohn, kein Weib nehmen wolle von den Töchtern der Kanaaniter, unter denen er wohnte, sondern ihm eines holen aus der Heimat im Morgen und aus der Verwandtschaft ? Hatte nicht Jizchak das Verbot weitergegeben an ihn selbst, den Rechten, und gesprochen : ›Nimm nicht Weib von den Töchtern Kanaans !‹ (GW IV, 170)
Hier tritt der Inhalt des Vertrages in Konflikt mit dem Gefühl der göttlichen Auserwähltheit und der damit verbundenen Tradition des eigenen Volkes, die die ›Vermischung‹ nicht gutheißt. Derlei »höhere« Gedanken haben die Söhne Jaakobs wohl nicht, für sie ist der Vorfall mit ihrer Schwester Dina eine willkommene Gelegenheit, um endlich doch noch ihre Mord- und Raublust auszuleben. Thomas Mann nimmt hier, wie es Friedemann Golka ausdrückt, eine »kräftige Sachkritik«190 am Bibeltext vor, die sich vor allem in der Dina- und in der Mut-Episode zeige.191 Ergänzend wäre hier auch die Thamar-Episode im vierten Band zu nennen. Auffällig ist also, dass der Roman gerade Episoden, die von Erotik und Heimsuchung handeln, ausführlich kommentiert und erweitert. Wie im Buch Genesis zieht Jaakob seine Söhne zu Rate, die eine Bedenkzeit von drei Tagen fordern. Doch anders als in der Bibel folgt bereits jetzt die Bedingung für die Herausgabe Dinas : Sichem soll sich beschneiden lassen. Er ist also vor dem Beischlaf mit Dina ein beschnittener Mann und genügt somit den religiösen Forderungen der Abrahamsleute. Und auch auf die unbedingte Beachtung dieser »wahren Reihenfolge der Geschehnisse« (GW IV, 171) zugunsten Sichems wird noch einmal hingewiesen : Nach ihnen [den Hirten im Schönen Gespräch] hätte Sichem sofort und unvermittelt das Böse getan und listige Gegengewalt herausgefordert ; in Wirklichkeit aber entschloß er sich erst, vollendete Tatsachen zu schaffen, als die Jaakobsleute sich vor ihm ins Unrecht gesetzt hatten und er sich hingehalten, wenn nicht betrogen sah. (Ebd.)
190 Golka : Joseph, 18. 191 Vgl. ebd.
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Die Brüder schlagen Jaakob in einer »Stipulation« (ebd.), erneut ein Begriff aus dem Rechtswesen, vor, Sichem die Beschneidung anzutragen, ausdrücklich nur die Beschneidung Sichems, von den restlichen männlichen Bewohnern ist, anders als im Bibeltext, nicht die Rede. Die Ereignisse werden also immer wieder hinausgezögert, der Gewaltausbruch wird langsam vorbereitet. Sichem willigt denn auch ein und lässt die Beschneidung sogleich vornehmen. Dies genügt den Brüdern jedoch nicht und sie rücken nun, nachträglich und also zu spät, damit heraus, dass die Beschneidung nicht nach rechtem Geist und Verstand (vgl. GW IV, 172) vollzogen worden sei und es lediglich geschehen sei »um der Vermählung […] mit Dina [willen], dem Weibe, und nicht im Sinne der Vermählung mit ›Ihm‹« (ebd.). Zudem hätte Sichem ein Steinmesser benutzen müssen, kein metallenes, kurzum, sie könnten Sichem ihre Schwester, »die Tochter Jaakobs, des Gottesfürsten, Abrahams Samen« (GW IV, 173), nicht dem Ungläubigen aushändigen. Nun ist Sichems Geduld am Ende, er lässt Dina entführen und entjungfert sie. Von Vergewaltigung kann, wie gesagt, nicht die Rede sein. Zunächst einmal erwartet Dina unter der Obhut Sichems »ungeahnte städtische Annehmlichkeit«, zum anderen hat sie gegen das »Beilager« nichts »Gewichtiges einzuwenden […]. Außerdem fügte Sichem ihr ja kein Übles zu, sondern im Gegenteil […]« (GW IV, 174). Hier wird also im Gegensatz zum Buch Genesis die Gewalt gemildert, wenn nicht gänzlich aufgehoben, dies jedoch, um die folgende Gewalt der Brüder als umso unrechtmäßiger darzustellen. Wie verhält sich der Stammvater bei alldem ? Jaakob ist, Böses ahnend, »verritten und verreist. [Er] vermied die Begegnung. Er ließ seine Söhne walten« (GW IV, 172). Jaakob entzieht sich also bewusst der Verantwortung und legt das Schicksal Schekems in die Hände seiner Söhne, die blutige Rachepläne schmieden. Doch auch jetzt wird der Gewaltausbruch noch einmal durch ein Rechtsgesuch verzögert, und zwar durch ein äußerst schmeichelhaftes schriftliches Friedens- und erneutes Heiratsangebot an Jaakob. In der Bibel erfolgt dieses mündlich, der Roman hebt also die Kultiviertheit und höfliche Korrektheit des Antrages hervor. Sichem spricht sogar seinen Gott, Baal-berit, und den Jaakobs, El eljon, an und betont, dass diese »beinahe ein und derselbe Gott sind und sich nur in Nebensächlichkeiten voneinander unterscheiden […]« (GW IV, 176). Ein wahres Exempel an polytheistischer Toleranz und eine Denkweise, die nicht aus der Luft gegriffen ist, sondern den altorientalischen Gottesvorstellungen durchaus entspricht.192 192 Hier handelt es sich in Grundzügen um eine Gottesauffassung, die Jan Assmann : Monotheismus,
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Der Brief an Jaakob gibt noch einmal den Ablauf der ganzen Affäre aus den Augen Sichems wieder und entspricht exakt den Ausführungen des Erzählers, der ja beteuert, die Wahrheit zu kennen. Es wird also aus zwei Perspektiven Identisches berichtet : Das Opfer gibt die wahren Ereignisse wieder, die später von den Tätern und Nachfahren der Täter im »Schönen Gespräch«, welches hierdurch eine Doppelsinnigkeit im Sinne des ›Beschönigen‹ erhält, verfälscht werden. Und dass das »Gemetzel,« so der drastische Titel des Kapitels, das die blutigen Ereignisse schildert, stattfinden, dass Jaakob trotz seiner Autorität nicht Schlimmeres verhindern kann und letztendlich auch nicht will, liegt an seinem überstarken Willen zu Wiederverkörperung und ehrenvoller Nachfolge : Was ihn [ Jaakob] verblendet hatte, war die Freude an Imitation und Nachfolge gewesen. Er hatte Abrahams gedacht, und wie er auf des Herrn Befehl und zum Bunde mit ihm sein ganzes Haus, Ismael und alle Knechte, daheim geboren und erkauft von allerlei Fremden, und alles, was Mannesnamen war in seinem Hause, eines Tages am Fleische beschnitten hatte, und war sicher gewesen, daß auch jene [die Brüder] sich gestützt hatten auf diese Geschichte bei ihrem Geheisch, – ja, das hatten sie wohl getan, der Einfall kam ihnen von dort, aber wie dachten sie ihn zu Ende zu führen ! […] Den Jaakob schauderte es ob solcher Imitation, und ihn schauderte wieder beim Anblick ihrer Gesichter […]. Mehr als einmal wollte er die Hände erheben und sie beschwören ; aber er fürchtete die Übermacht ihres empörten Bruderstolzes […]. (GW IV, 179)
Was hier zur Sprache kommt, ist die biblische Forderung Gottes an Abraham nach Beschneidung193, die den Bund des auserwählten Volkes mit Gott symbolisiert : 24, »inklusiver Monotheismus« (»alle Götter sind Eins«) nennt. Er unterscheidet diesen vom »exklusiven Monotheismus« Moses’ (»mosaische Unterscheidung« : »Keine anderen Götter außer Gott !«). Während ersterer im Wesentlichen meint, dass die unterschiedlichen Götter im Prinzip Ausprägungen einer einzigen Gottheit sind, ist der »exklusive Monotheismus« ausgrenzender und radikaler : Er verneint alle anderen Gottheiten und erkennt nur den einen transzendenten Gott an. Thomas Mann war diese Gottesauffassung durch Karl Kerényi vertraut. Anzumerken ist hier, dass Jan Assmann in seinem 2015 erschienenen Werk Exodus die Unterscheidung »Israel = wahr und Ägypten = falsch« durch die Begriffe »Treue« und »Verrat« ersetzt. (Assmann : Exodus, 11). 193 Es erfolgt hier also eine Legitimation als »Rückführung auf das Heilige« (Frank : Der kommende Gott, 82). Der heilige Auftrag an das Volk Israel, sich beschneiden zu lassen, wird jedoch für die niederen Zwecke der Brüder missbraucht.
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Und Gott sprach zu Abraham : So halte nun meinen Bund, du und dein Same nach dir, bei ihren Nachkommen. Das ist aber mein Bund, den ihr halten sollt zwischen mir und euch und deinem Samen nach dir : Alles, was männlich ist unter euch, soll beschnitten werden. Ihr sollt aber die Vorhaut an eurem Fleisch beschneiden. Das soll ein Zeichen sein des Bundes zwischen mir und euch. Ein jegliches Knäblein, wenn’s acht Tage alt ist, sollt ihr beschneiden bei euren Nachkommen. Beschnitten werden soll alles Gesinde, das dir daheim geboren oder erkauft ist. Und also soll mein Bund an eurem Fleisch sein zum ewigen Bund. Und wo ein Mannsbild nicht wird beschnitten an der Vorhaut seines Fleisches, des Seele soll ausgerottet werden aus seinem Volk, darum daß es meinen Bund unterlassen hat.194
Gott fordert vom auserwählten Volk, in welchem er sich einen Leib auf Erden gegeben hat, ein kollektives leibliches Zeichen der Verbundenheit und Zusammengehörigkeit. Historisch belegt ist der Brauch der Beschneidung bereits im alten Ägypten und den »angrenzenden Kulturen des östlichen Mittelmeerraums«195. Dort diente sie der »rituellen Initiation junger Männer«196. Der Text des Pentateuch nimmt aber nun eine gravierende Änderung vor, die den Zeitpunkt der Beschneidung und somit auch ihre Bedeutung betrifft : Statt den Abschluss der Pubertät und den Eintritt in das Erwachsenenalter zu markieren, liegt die alttestamentliche Beschneidung so nah wie möglich an der Geburt des Kindes ; als Vertragshandlung zwischen Mensch und Gott definiert, komplementiert sie – üblicherweise ausgeführt durch den Kindsvater oder dessen Stellvertreter – die Gestaltungsleistung, mit der Gott den Menschen erzeugt hat, indem sie den solcherart von Gottes Seite aus gezeichneten Vertrag von der Seite des Menschen gegenzeichnet.197
Die Beschneidung als körperliches Zeichen zeigt also, wie bereits in Bezug auf das Kainsmal dargelegt wurde, das »Zugriffsprivileg« Gottes auf den Körper seiner Kreatur. Während sich Gott jedoch in dem Kainsmal durch ein Machtzeichen offenbart, besiegelt die Beschneidung den Bund zwischen Gott und sei194 1. Mose 17, 9. Vgl. auch 3. Mose 12, 3 und Apostelgeschichte 7, 8, hier wird ebenfalls die Beschneidung erwähnt. 195 Landfester : Stichworte, 37. 196 Ebd. 197 Ebd.
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nem auserwählten Volk.198 Das Zeichen des Bundes wird indes nicht von Gott gespendet, es muss vielmehr »vom Menschen selbst durchgeführt werden, weil sie [die Beschneidung] im Sinne einer Vertragsunterzeichnung den Handlungsspielraum repräsentiert, innerhalb dessen der Mensch sich eigenverantwortlich für oder gegen seinen Bund mit Gott entscheidet.«199 Die Beschneidung erfüllt also im Wesentlichen zwei Funktionen : Für die enge Gruppe, das auserwählte Volk, ist sie Zeichen der Erwählung und des Bundes200, bezogen auf die weite Gruppe, die das Gesinde miteinschließt, ist die Beschneidung ein Macht- und Unterwerfungszeichen. Und als solches wird es im Roman eindeutig von den Brüdern benutzt.201 Die Massenbeschneidung aller männlichen Einwohner Sichems dient der Unterwerfung, denn die Beschneidung macht die Männer wehrunfähig. Dass die Verletzung am männlichen Geschlecht, hier als Phallussymbol gelesen, erfolgt, deutet noch einmal darauf hin, dass ihnen vor allem männlich konnotierte Eigenschaften wie Stärke, und Kraft sowie sexuelle Potenz genommen werden. Sichem jedoch verkennt sowohl die religiöse als auch die machtpolitische Bedeutung der Beschneidung und gibt zu verstehen, dass diese ein leicht zu erbringendes Opfer für ihn sei : »Sichem lachte heraus und entschuldigte sich dann […]. ›Weiter nichts ?‹ rief er. ›das sei alles, was sie verlangten ? Aber meine Herren ! Ein Auge, seine rechte Hand sei er dahin- und dranzugeben bereit für Dina’s Besitz, – wieviel eher denn also einen so gleichgültigen Körperteil wie die Vorhaut seines Fleisches ?‹« (GW IV, 171 f.) Sichem willigt also ein, sich und die seinen ›schwächen‹ zu lassen. Dieser Umstand und die Imitations-Freude Jaakobs machen schließlich den Weg frei für die Gewalt – die Brüder sind an ihrem Ziel : Dank ihrer lästerlichen List hatten die Jaakobsleute, an Zahl den Städtern weit unterlegen, […] mit Schekem leichtes Spiel […]. Was Mannesnamen trug zu Schekem, alt und jung, fieberte, litt und ›band seine Wunden auf und zu‹, den größten Teil der militärischen Besatzung nicht ausgenommen. Die Ibrim dagegen, gesund am Leibe und moralisch einheitlich entflammt durch die Losung ›Dina !‹, die sie bei ihrem blu198 Vgl. ebd., 36 f. 199 Ebd., 40. 200 Psychoanalytisch gedeutet, wird durch die Beschneidung der Phallus beschnitten und somit der ›entmannte‹ Mann in eine weibliche Position, genauer in eine bräutliche Position zu Gott gesetzt. 201 In der Bibel richten die Söhne Jakobs zwar auch ein Blutbad an, während die männlichen Bewohner Sichems im Wundfieber liegen. Die listige Absicht hinter der Beschneidung wird jedoch nicht klar benannt. Auch wird den Bewohnern Sichems nicht vorgeworfen, die Beschneidung falsch durchgeführt zu haben.
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tigen Werk beständig ausstießen, wüteten wie Löwen, schienen überall zu sein und trugen von Anfang an in die Seelen der Städter die Vorstellung unabwendbar hereinbrechender Heimsuchung, so daß sie fast auf keinen Widerstand stießen. Namentlich Schimeon und Levi, die Anführer des Ganzen, erregten durch ihr Geschrei […] jenen Gottesschrecken, der seine Opfer allenfalls in wildem Reißaus, nie und nimmer aber im Kampf ein Mittel erblicken ließ, dem Tode zu entgehen. Man rief : ›Wehe ! Nicht Menschen sind das ! In unserer Mitte ist Sutech ! Der ruhmreiche Baal ist in all ihren Gliedern !‹ Und auf nackter Flucht wurde man mit der Keule erschlagen. Mit Feuer und Schwert, wörtlich verstanden, arbeiteten die Ebräer, Stadt, Burg und Tempel qualmten, Gassen und Häuser schwammen in Blut. Nur junge Leute von körperlichem Wert wurden zu Gefangenen gemacht, die übrigen erwürgt, und wenn es dabei über das bloße Töten hinaus grausam zuging, so ist den Würgern zugutezuhalten, daß sie bei ihrem Tun nicht minder in poetischen Vorstellungen befangen waren als jene Unglücklichen, denn sie erblickten darin einen Drachenkampf, den Sieg Mardugs über Tiâmat, den Chaoswurm, und damit hingen die vielen Verstümmelungen zusammen, das Abschneiden ›vorzuweisender‹ Glieder, worin sie sich beim Morden mythisch ergingen. (GW IV, 180 f.)202
Die Brüder legitimieren ihr Töten, indem sie ihre Taten – ebenso wie dies ihre Opfer tun – auf den Schöpfungsmythos um Tiâmat und Mardug zurückführen. Erneut wird hier das anfängliche Chaos, versinnbildlicht im »Chaoswurm«, heraufbeschworen. Das Zergliedern, das Zerreißen der Körper steht im Zentrum des Tötens. Die Plünderung Schekems, die eine erhebliche Bereicherung der Jaakobsleute bedeutet und auf die kein Racheakt folgt, fordert jedoch auch ihre Opfer in den eigenen Reihen : zwei Frauen, Rahel und Dina sind die Leidtrageden. Rahel, mit Benjamin hochschwanger, muss mit ihrer Familie fliehen, und diese Flucht wird die Rechte nicht überstehen, denn der überstürzte Aufbruch und die beschwerliche Reise schwächen sie erheblich, so dass sie schließlich bei Benjamins Geburt stirbt. Und auch Dina muss als Opfer für die Mordlust ihrer Brüder herhalten : Dina und Lea, ihre Mutter, ritten dasselbe kluge und starke Kamel. Zu beiden Seiten des Höckers hingen sie in geschmückten Körben unter dem Schattentuch, das über 202 Zu beachten ist hier der Wortlaut : Die Brüder flößen einen »Gottesschrecken« ein, nicht Gott selber flößt Schrecken ein. Darüber hinaus wird der Gewaltausbruch der Brüder hier ebenso archaisch dargestellt wie der spätere gegenüber Joseph. Gewalt bedeutet also immer auch ›Rückfall‹.
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ein Rohrgestänge gebreitet war und das Dina fast immer ganz über sich herabließ, so daß sie im Dunkeln saß. Sie war gesegneten Leibes. Das Kind, das sie zur Welt brachte, als ihre Stunde kam, wurde ausgesetzt nach der Männer Beschluß. Sie selbst kümmerte hin und verschrumpfte weit vor der Zeit. Mit fünfzehn Jahren glich ihr unseliges Frätzchen dem einer Alten. (GW IV, 184)
2.8 Die Ordnung der Familie. Von Einschaltung und Ausschaltung : Thamar Mit dem Überfall auf Schekem verwirken Schimeon und Levi jegliche Aussicht auf den Segen. Wie der Segen, trotz wenig geeigneter Söhne, dennoch innerhalb des Stammes weitergegeben werden kann, berichtet das Hauptstück Thamar. Warum Thomas Mann ein eigenes Thamar-Hauptstück, das einige der ausdrucksstärksten Sätze der Tetralogie enthält, in seinen vierten und letzten Josephband einschaltet und was dieses Hauptstück mit Rechtsetzung im engeren und der Schaffung von Ordnung im weiteren Sinne zu hat, soll im Folgenden beleuchtet werden. Martin Luther nannte die »Thamarsage«, die die Geschichte einer ungewöhnlichen Frau sowie die Geschichte Judas und seiner Nachkommen erzählt, eine »Novelle«203, und als solche ist das Thamar-Hauptstück auch in den Roman Joseph und seine Brüder eingeschaltet.204 Als Thomas Mann am 2. Dezember 1941 die ersten Zeilen seines Thamar- Hauptstücks schreibt, sieht er sich einer düsteren Weltlage gegenüber. Die deutschen Truppen stehen vor Moskau, und deren Afrikakorps kämpfen an der Front Nordafrikas. Am 6. Dezember tritt Japan mit dem Angriff auf Pearl Harbour in den Krieg ein. Ein Sieg der Achsenmächte scheint möglich. Thomas Mann wendet sich in dieser Zeit erzählerisch von der ägyptischen Sphäre und Joseph ab und taucht erneut in die Sphäre der Väter, in Jaakobs Sphäre, ein und erzählt eine in sich abgeschlossene Geschichte, die zunächst kaum in den Erzählkontext zu passen scheint und die zudem am deutlichsten einen utopischen und heilsgeschichtlichen Charakter aufweist. Ich wende mich zunächst der biblischen Thamar-Erzählung zu und frage nach ihrer Einordnung in den biblischen Kontext sowie nach ihrer möglichen
203 Benno Jacob : Das erste Buch der Tora, Genesis, Berlin 1934, 721, im Folgenden : Jacob : Das erste Buch. Auch Thomas Mann nannte dieses Hauptstück »Thamar-Novelle« (TB 18. Dez. 1941). 204 Vgl. Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag, 110.
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Bedeutung. Im Anschluss soll die Bedeutung der Thamar-Novelle für den Roman diskutiert werden. Über die biblische Thamarsage ist viel spekuliert worden, wobei es vor allem auch immer um die Frage geht, ob die Thamarsage mehr oder weniger bezugslos die Josephsgeschichte unterbricht und als eigenständige Erzählung zu sehen ist205. Ebenso ist über Sinn und Zweck der Thamarsage spekuliert worden, wobei vor allem Thamars Fremdsein sowie rechtliche Aspekte ihres Handelns im Vordergrund standen. Benno Jacob etwa meint, dass »[d]as Kapitel einen Einblick in die Religionsmengerei [hier sind wohl die Kanaanitischen Weiber, die in den Jaakobsstamm einheiraten, gemeint] der alten Zeit gewähren und wichtige Aufschlüsse über das Familienrecht geben [soll].«206 Thomas Mann hat den Midrasch-Kommentar von Jacob, wie An- und Unterstreichungen in seinem Exemplar belegen, gründlich gelesen. Die zahlreichen Anstreichungen in dem 1055 Seiten starken Midrasch-Kommentar beginnen jedoch erst auf Seite 711, ab dem Kapitel Juda, in dem Jacob die Thamar-Episode sehr ausführlich behandelt und aus dem Mann viele Einzelheiten für sein Thamar-Hauptstück entnommen hat.207 Thomas Mann widmet der Thamar-Geschichte im vierten Josephband ein eigenes etwa dreißig Seiten umfassendes Hauptstück, in dem er, anders als die Bibel, Thamars geistigen Werdegang beschreibt. Das Thamar-Hauptstück wird von Thomas Mann an anderer Stelle als in der Bibel eingeschaltet, und zwar zwischen das Hauptstück Die Zeit der Erlaubnisse, in dem Joseph in Ägypten Hochzeit hält und seine zwei Söhne Ephraim und Menasse geboren werden, also etwa Ende Gen 41, und das Hauptstück Das heilige Spiel, in welchem die Brüder wegen der Hungersnot nach Ägypten reisen und Joseph sich ihnen schließlich zu erkennen gibt. Zudem erfährt Jaakob in diesem Hauptstück durch das Lied seiner Enkelin Serach, dass sein geliebter Sohn noch lebt.208 In der Bibel ist die Thamar-Erzählung früher angesiedelt, nämlich in Gen 38. Diese knappen Informationen zur Orientierung, wo wir uns in Bibel und Roman befinden, vorweg, da die unterschiedliche kontextuelle Einbettung meines Erachtens sowohl darüber Auskunft gibt, warum Thomas Mann seine Thamar-Er205 Vgl. Golka : Joseph, 19–26. 206 Jacob : Das erste Buch, 721. Mit »Religionsmengerei« ist gemeint, dass Juda sich eine Fremde, eine Kanaaniterin zur Frau nimmt. (Vgl. Gen 38, 2) Auch Thamar ist eine Kanaaniterin. (Vgl. Jacob : Das erste Buch, 723). 207 Ich danke dem Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich für die Einsicht in Thomas Manns Leseexemplar. 208 Vgl. 1. Mose 45.
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zählung später als in der Bibel situiert, als auch darüber, warum er Thamar überhaupt eine so herausragende Rolle in seinem vierten Josephband zukommen lässt. Im Folgenden möchte ich mich zunächst dem Thamar-Kapitel der Bibel und dem Kommentar bei Benno Jacob widmen. Die Thamarsage in Gen 38 fällt vergleichsweise knapp aus, woher Thamar stammt, wird nicht explizit gesagt, da aber Juda die Tochter des Kanaaniters Shua209 heiratet, also eine Fremde und keine Frau aus dem Stamm Israel, ist es wahrscheinlich, dass auch Thamar eine Fremde ist. Jacob sieht den Sinn ihrer zweifelhaften Herkunft in der Steigerung der Wertschätzung ihrer Taten : Daß sie aber nur Tamar […] genannt wird, bedeutet, daß sie eine Persönlichkeit war, die nur in sich selbst ihren Wert hatte. Diesen Wert hat ihr ihre Empfänglichkeit für die erhabene Mission, die Stammutter des Messias zu werden, gegeben. Adliger Sinn löscht unedle Abkunft aus, und Tamars Gestalt ist Triumph des Geistes über das ›Blut‹ […].210
Juda hat drei Söhne mit Shuas Tochter : Er211, Onan und Schela. Die Ehe zwischen Thamar und seinem ältesten Sohn Er wird von Juda gestiftet, Er stirbt jedoch kurz nach der Hochzeit. Die Todesumstände werden nicht näher erläutert, es heißt lediglich knapp : »Aber was dieser [Er] tat, mißfiel dem Herrn, und er ließ ihn sterben.«212 Nach dem Tode Ers gibt Juda Thamar seinen zweiten Sohn zum Mann, mit der Weisung : »Du weißt, was deine Pflicht ist. Dein Bruder hat deine Schwägerin kinderlos hinterlassen. Du mußt sie heiraten und für deinen Bruder einen zeugen, damit sein Geschlecht nicht ausstirbt.«213 Was hier zur Anwendung kommt, ist die sogenannte Levirats- oder Schwagerehe : Der Bruder muss für seinen toten Bruder eintreten und durch Zeugung mit der Schwägerin die fami liäre Linie des Verstorbenen weiterführen. Das Kind, das gezeugt wird, ist also offiziell und rechtlich das Kind des Toten. Dieses ungewöhnliche Gesetz, das den Witwenstand übergeht, findet in der Bibel nur zweimal Anwendung, und
209 Vgl. 1. Mose 38, 2. 210 Jacob : Das erste Buch, 723. 211 Bei Luther auch »Ger« genannt ; hier heißt es : »Und Juda gab seinem ersten Sohn, Ger, ein Weib, die hieß Thamar. Aber Ger war böse vor dem Herrn ; darum tötete ihn der Herr.« (1. Mose 38, 7). 212 Ebd. 213 1. Mose 38, 8.
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zwar in Gen 38 und Rut 4. In Deut 25,5–10214 wird es dann erst kodifiziert und zum allgemeingültigen Gesetz erhoben. Thomas Mann konnte diese Bibelstelle215 sowie Einzelheiten zur Leviratsehe auch Benno Jacobs Kommentar entnehmen, der ausführt : Was Juda von Onan verlangt, ist die von dem späteren Gesetz Dt 255ff. verlangte Leviratsehe (von lateinisch levir Schwager) […] Als Zeck wird hier angegeben ; seinem Bruder einen Namen in Israel aufzurichten, ferner das Haus seines Bruders erbauen. Die Maßnahme setzt das sonstige Verbot, das Weib des Bruders zu heiraten (Lev 1816 2021), voraus […]. Der überlebende Bruder soll das durch Sitte und Gesetz erzeugte Widerstreben überwinden, weil die Liebespflicht, den Namen des Verstorbenen zu erhalten, höher steht. Konnte er sich hierzu nicht aufschwingen, so trat die für ihn schimpfliche Zeremonie des Schuhausziehens […] ein, die ihm für immer den herabsetzenden Namen ›der Schuhausgezogene‹ […] eintrug.216
Mann hat diese Textstelle ab »Bruder einen Namen in Israel aufrichten« in seinem Exemplar unterstrichen. Einzelheiten wie etwa die Geste des »Schuhausziehens«217 als Zeichen der Geringschätzung und des Stigmas konnte er bei Jacob, aber auch in 5. Mose 25, 5 finden, und baute sie in seinen Text ein. Auffällig ist hier, dass von einem »späteren Gesetz« die Rede ist, der Brauch also erst später kodifiziert wird. »Der hierbei im Munde Judas begegnende Rückgriff auf das Levirat geschieht bezeichnenderweise ohne Rekurs auf rechtliche Bestimmungen. Appelliert wird vielmehr ausschließlich an die brüderliche Solidarität, um so den Bestand der Familie sichern zu können.«218 Und Thamar fügt sich denn auch sofort und nimmt Onan zum Mann. Dieser soll nun also für seinen Bruder einstehen, und er ist auch durchaus gewillt, die Leviratsehe zu vollziehen, nur tut er dies mit Hilfe des coitus interruptus, denn »es [gefiel ihm] nicht, daß das Kind nicht ihm gehören sollte. Deshalb ließ er jedesmal, wenn er mit Tamar schlief, seinen Samen auf die Erde fallen.«219 Die Folgen sind bekannt, der Herr hat hieran Missfallen und lässt Onan ebenfalls sterben. Die Söhne Judas finden kein Gefallen vor Gott, er tilgt diese vielmehr vom Angesicht der Erde, und so 214 Vgl. Golka : Joseph, 23. 215 Und auch Rut 4 muss Thomas Mann sehr gut gekannt haben, wie später zu zeigen sein wird. 216 Jacob, Das erste Buch, 713. 217 Vgl. GW V, 1565 f. 218 Peter Weimar : Die doppelte Thamar. Neukirchen-Vluyn 2008, 56. Im Folgenden : Weimar : Die doppelte Thamar. 219 1. Mose 38, 9.
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wird deutlich, dass von diesen Nachkommen Judas keine Heilslinie zu erwarten gewesen wäre. Nun verspricht Juda seiner Schwiegertochter seinen jüngsten Sohn Schela, sie müsse nur warten, bis dieser reif genug für die Ehe sei. Bis hierher ist die Figur der Thamar eher Randfigur eines Geschehens, über ihr Schicksal bestimmt im Wesentlichen ihr Schwiegervater Juda. Doch als Juda, der inzwischen selbst zum Witwer geworden ist, sein Versprechen, Thamar seinem jüngsten Sohn zum Mann zu geben, nicht einhält, tritt Thamar auf den Plan und holt sich durch eine List ihr Recht. Sie legt ihre Witwenkleider ab und verhüllt sich mit einem Schleier, um als Hure am Wegesrand auf den reisenden Juda zu warten, denn »[s]ie hatte genau gemerkt, daß Schela inzwischen erwachsen war und man sie ihm doch nicht zur Frau gegeben hatte.«220 Juda erkennt seine Schwiegertochter nicht, hält sie für eine Prostituierte und schläft mit ihr. Als Preis für diese Dienstleistung verspricht Juda Thamar zuvor ein »Ziegenböckchen«, das er von seiner Herde aus später schicken will. Als Pfand für die noch ausstehende Bezahlung lässt Juda »[d]as Band mit dem Siegelring und de[n] geschnitzten Stock«221 zurück. Diese Utensilien sind keine belanglosen Gegenstände, »Siegel, Schnur und Stab [sind Gegenstände], durch die ein Mensch einwandfrei zu identifizieren ist.«222 Als ein Bote Thamar bezahlen und das Pfand wieder auslösen will, ist Thamar verschwunden. Ihr Beischlaf mit Juda ist jedoch nicht folgenlos geblieben, sie ist schwanger, und als sich dies nicht mehr verbergen lässt, soll sie zur Strafe für ihre Hurerei, schließlich ist sie Witwe, verbrannt werden. Doch nun zeigt Thamar das Pfand vor, das sie von Juda erhalten hat. Der Vater des ungeborenen Kindes – es zeigt sich schließlich, dass es zwei sind – ist identifiziert, Juda gesteht seine Schuld öffentlich ein, sein Versprechen nicht gehalten zu haben, woraufhin Thamar straffrei bleibt. Sie bringt die Zwillinge Perez und Serach zur Welt und scheidet erzählerisch wieder aus der Historie des Stammes Israel aus.223 Soweit die Geschichte der biblischen Thamar. Die Abgeschlossenheit der Erzählung und das erste und einmalige Auftreten Thamars in der Chronik der Stammväter als handelnde Figur, machen es 220 1. Mose 38, 14. 221 1. Mose 38, 17 f. 222 Golka : Joseph, 71 f. 223 Thamar wird in Bezug auf ihren Sohn Perez etwa noch einmal kurz in Rut 4, 12 erwähnt. Und, was bemerkenswert ist, Thamar wird im Neuen Testament im »Stammbaum Jesu« (Mt. 1, 3) erwähnt.
Die Ordnung der Familie. Von Einschaltung und Ausschaltung : Thamar
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zunächst schwer, einen Zusammenhang zwischen den Geschehnissen vor und nach Gen 38 herzustellen.224 Im Folgenden soll gezeigt werden, wie sich die Thamar-Episode bei genauerem Hinsehen jedoch sehr wohl thematisch in den Kontext einfügt. Dies ist von Interesse, da sich so später die Schwerpunktverlagerung der Version Thomas Manns besser zeigen lässt. Diese Schwerpunktverlagerung kann zudem besser nachvollzogen werden, wenn man Manns Anstreichungen in seinem Exemplar des Genesis-Kommentars von Benno Jacob miteinbezieht. Bis Gen 38 sind die Vätergeschichten so weit vorangeschritten, dass sich der Neid der Brüder gegen Josef entladen hat und dieser in Gen 37 in den Brunnen geworfen wurde. Sein vermeintlicher Tod wird dem Vater durch sein blutbeflecktes Gewand angezeigt : Die Brüder schlachteten einen Ziegenbock und tauchten Josefs Prachtgewand in das Blut. Dann schickten sie das blutbefleckte Gewand zu ihrem Vater und ließen ihm sagen : ›Das haben wir gefunden ! Ist es vielleicht das Gewand deines Sohnes ?‹ Als Jakob es genau untersucht hatte, schrie er auf : ›Es ist von meinem Sohn ! Ein Raubtier hat ihn gefressen. Josef ist tot !‹225
Jakob erkennt also anhand des Gewandes das Schicksal seines Sohnes, es gilt als Beweismittel für seinen Tod. In Gen 39, überschrieben mit Josef in Potifars Haus, wird die Geschichte Josefs nach der Juda-Thamar-Episode wieder aufgenommen und vom Begehren Mutem-Enets, die in der Bibel jedoch namenlos bleibt, erzählt. Auch hier ist es ein Gewand, das zu einer Szene des Erkennens führt : Tag für Tag redete sie [Potifars Frau] auf Josef ein, aber er gab ihr nicht nach. Einmal hatte Josef im Haus zu tun ; niemand von der Dienerschaft war gerade in der Nähe. Da hielt sie ihn an seinem Gewand fest und sagte : ›Schlaf jetzt mit mir !‹ Er riß sich los und lief hinaus ; das Gewand blieb in ihrer Hand zurück. Sofort rief sie die Dienerschaft herbei und sagte : ›Da schaut her ! Mein Mann hat uns diesen Hebräer ins Haus gebracht, der nun seinen Mutwillen mit uns treibt. Er drang bei mir ein und wollte 224 Vgl. hierzu etwa Gerhard von Rad : »Daß die Erzählung von Juda und Thamar ursprünglich mit der in sich so straff gefügten Josephgeschichte, in deren Anfang sie jetzt eingefügt ist, keinerlei Verbindung hatte, sieht jeder aufmerksame Leser.« Gerhard von Rad : Genesis, 291. Vgl. auch Weimar : Die doppelte Thamar, 31 und Golka : Joseph, 71. 225 1. Mose 37, 31–33.
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mich vergewaltigen. Als ich schrie, lief er schnell davon. Da ist sein Gewand, das er zurückgelassen hat.‹ Dann legte sie Josefs Gewand neben sich und wartete, bis ihr Mann nach Hause kam. Auch ihm berichtete sie, wie sein hebräischer Knecht zu ihr gekommen sei, um ihr Gewalt anzutun, und wie er auf ihr Geschrei hin sein Gewand zurückgelassen und die Flucht ergriffen habe. Als Potifar das hörte, packte ihn der Zorn. Er ließ Joseph festnehmen und in das königliche Gefängnis bringen.226
Potifar hält also aufgrund des Gewandes Gericht227 über Josef und spricht sein Urteil, das ihn in das Gefängnis, seine zweite Grube, befördert. Auch in Gen 38, also dem Thamar-Abschnitt, spielt ein Gewand eine entscheidende Rolle, Gen 37, 38 und 39 werden also motivisch über das Gewand miteinander verknüpft, wobei das Gewand in Gen 37 und 39 sehr vordergründig als Beweismittel jeweils dazu dient, dass ein Erkennen herbeigeführt und somit ein Sachverhalt aufgeklärt bzw. entschieden wird.228 In Gen 38 führt das Gewand ebenfalls dazu, dass ein ›Erkennen‹ stattfindet, hier geht es jedoch zunächst um ein Erkennen im übertragenen Sinne, nämlich um das sexuelle Erkennen, also um den Beischlaf.229 Thamars tatsächliche Identität wird durch den Schleier verhüllt, das sexuelle ›Erkennen‹ wird hierdurch erst möglich gemacht.230 Und ebenfalls eine »Gerichtsszene«231 lässt sich in Gen 38 finden, denn als sich Thamars Schwangerschaft nicht mehr verbergen lässt, kommt es auch hier zu einer Anklage und zur Vorlage von Beweismitteln, die schließlich zum Erkennen der Wahrheit, die durch den Schleier verborgen wurde, führen.232 Denn »[d]urch die Pfänder ist Judas Vaterschaft eindeutig bewiesen.«233 Nach etwa drei Monaten wurde Juda gemeldet : ›Deine Schwiegertochter Tamar hat sich mit einem Mann eingelassen und ist schwanger geworden !‹ – ›Führt sie vor das Dorf‹, befahl Juda. ›Sie muß verbrannt werden.‹ Als man sie hinausführen wollte, schickte Tamar ihrem Schwiegervater die Pfänder und ließ ihm sagen : ›Sieh dir ein226 1. Mose 39, 10–20. 227 Vgl. Golka : Joseph, 72. 228 Vgl. ebd. 229 Der in der Bibel bekanntlich »Erkennen« genannt wird. »Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger […].« (1. Mose 4,1). 230 »Da sah Jehuda sie und hielt sie für eine Dirne, denn sie hatte ihr Angesicht bedeckt.« Jacob : Das erste Buch, 716. (Das Wort »denn« ist in Manns Exemplar unterstrichen und mit einem Ausrufezeichen am Rand versehen). 231 Golka : Joseph, 71. 232 Vgl. ebd., 72. 233 Ebd.
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mal den Siegelring und den Stock da an ! Von dem Mann, dem das gehört, bin ich schwanger.‹ Juda sah sich die Sachen genau an und sagte : ›Sie ist im Recht, die Schuld liegt bei mir. Ich hätte sie meinem Sohn Schela zur Frau geben müssen.‹ Er nahm sie in sein Haus, schlief aber nicht wieder mit ihr.234
In Genesis 37, 38, 39 kommt es also zu Szenen des Erkennens. In Gen 38 und 39, die beide eine Verführungsszene enthalten, zusätzlich zu einer Gerichtsszene und zu einem Rechtsspruch. Die drei Abschnitte werden thematisch und motivisch eng miteinander verknüpft, wie auch Friedemann W. Golka betont.235 Die Verführung der Thamar und ihre »Motive […] sind ehrenhaft, und Juda ist willig, die der Frau des Potiphar sind unehrenhaft und Joseph ist unwillig.«236 Das Juda- und Thamar-Kapitel unterbricht also nicht einfach die Joseph-Handlung, sondern fungiert vielmehr als Bindeglied, um verschiedene Aspekte des Rechts deutlich zu machen. Ich werde später hierauf zurückkommen. Thomas Mann hat diese Zusammenhänge sicher erkannt und durch Hinzunahmen sowie Änderungen die enge Verbindung zwischen den Vätergeschichten sowie der Joseph- und der Thamar-Figur betont. Die Beziehung zwischen Thamar und Mut wird jedoch stärker aufgelöst, denn in Manns Mut-Episode ging es dem Dichter nicht, wie der Bibel, vordergründig darum, eine nicht rechtmäßige Verführung durch die Frau zu zeigen, sondern wohl eher darum, den Asketen Joseph, der ja in einem bräutlichen Verhältnis zu Gott steht, auf die Probe zu stellen, weshalb Muts Ansinnen bereits von Anfang an unter einem schlechten Stern steht. Die Verbindung der beiden Frauen über den Schleier, der einmal die rechtmäßige und einmal die unrechtmäßige Verschleierung markiert, wird zugunsten der Verbindung Joseph – Thamar über den Schleier aufgehoben, indem Thomas Mann die Thamar-Geschichte nicht in unmittelbarer Nähe zur Mut-Episode, sondern später positioniert. Bei Mann hat es Joseph bereits zum zweiten Mann in Ägypten gebracht und er hat sein Dasein in der Fremde an234 1. Mose 38, 24–26. 235 Vgl. Golka : Joseph, 71. 236 Ebd. Es geht hier also um eine rechtmäßige Verschleierung (Thamar), denn Juda ist dem Geschlechtlichen zugeneigt, und da er der Erbe ist, muss er schließlich zeugen ; und eine unrechtmäßige Verschleierung (Frau des Potiphar), da Mut ihr rein sexuelles (und kein auf das Zeugen gerichtetes) Ansinnen an Joseph richtet, der aber hierfür (noch) nicht bereit ist. Diese Verbindung der beiden Frauen über den Schleier erkennt Thomas Mann meines Erachtens, und da sie nicht in sein Konzept passt, hebt er sie zugunsten der Verbindung Joseph – Thamar über den Schleier auf, indem er die Thamar-Episode nicht in unmittelbarer Nähe zur Mut-Episode positioniert und wiederum Joseph und Thamar über den Schleier verbindet. Der Schleier ›verschleiert‹ die Wahrheit beide Male also zunächst.
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genommen. »Die Entrückung, Verpflanzung und Absonderung ins Weltliche« (GW V, 1534) hat stattgefunden, er ist verheiratet und hat mit der Ägypterin Asnath zwei Söhne. Es wird also deutlich, dass Joseph nun eine noch stärkere Sonderstellung in der Reihe der Brüder einnimmt, ein anderer geworden ist, ein halber Ägypter, der viele Sitten und Bräuche seines Exillandes angenommen hat und somit schwerlich noch für den geistigen Segen seiner Väter in Frage kommen kann. Zu erzählen bleibt nun, wie der Segen dennoch in der Welt bleibt. Hier setzt Thomas Mann nun die Thamar-Episode an, die den Leser aus Ägypten zurück in die Jaakobssphäre führt und alte schon bekannte Motive, etwa den Brunnen237 oder den »Unterweisungsbaum« (GW V, 1537)238, wieder aufnimmt und so auch atmosphärisch erneut in die Welt der Väter führt. Es folgt eine Leser- bzw. genauer Höreransprache, die auf das Missverhältnis von Thamars Bekanntheitsgrad und ihrer außerordentlichen Rolle aufmerksam macht : »Ihr wißt also wirklich nicht mehr, habt es eures Wissens niemals gewußt, wer Thamar war ?« (Ebd.) Kurz nach der Einführung Thamars in die Romanwelt gibt der Erzähler denn auch zügig preis, wem der zukünftige Jaakobssegen gehören wird : Dem »Vierte[n]« (GW V, 1545), also Juda. Thamars Schicksal wird also erzählerisch direkt mit Juda und seinem Segen verknüpft. Die Frage der Segenserbschaft, die, seitdem Ruben den Segen verspielt hat, im Raume steht, wird zu dieser Zeit immer drängender, da sich die Jaakobsfamilie immer mehr zum Volk bildet, das auch in einer Zeit ohne Jaakob nach einem geistigen Führer verlangt : Israel, so sollte nicht mehr nur er [ Jaakob] persönlich genannt sein, sondern alles, was zu ihm, dem Segensmanne, vom zweiten bis zum spätest-niemals spätesten Gliede noch in allen Verzweigungen und Seitenverwandtschaften gehörte, die Sippe, der Stamm, das Volk, dessen Zahl wie die Sterne Zahl sein sollte und wie des Sandes am Meer. […] Die Kinder, denen zuweil erlaubt war, um Jaakobs Knie zu spielen – sie waren Israel […] Aber ›Jisrael‹ waren auch diese Weiber, einschließlich der Moabiterin und der Sklavin aus Schekem ; und ›Jisrael‹ waren zunächst und vor allem einmal ihre Gatten, die Elfe […]. (GW V, 1544)
237 Vgl. GW IV, 62 : »Sie [die Augen] waren eines Jünglings [ Josephs], sitzend am Rande eines gemauerten Brunnens […].« 238 Vgl. auch GW IV, 59 : »Der schöne Baum war heilig : Unterweisung war in seinem Schatten verschiedentlich zu gewinnen […].«
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Diese Verheißung, die Gott Abraham einst gemacht hatte, nämlich seinen Samen zu mehren wie die Sterne am Himmel239, beginnt sich also zu dieser Zeit bereits zu erfüllen. Wer dieses Volk auch in Zukunft unter dem Segen eint, ist von höchster Bedeutung für den Zusammenhalt des wachsenden »Israel«, das durch die Heirat der Jaakobssöhne mit den Landeskindern nun verschiedene Ethnien vereint. Die Volkwerdung und die Frage nach dem Segen hängen hier also zusammen, die Segensfrage drängt sich mehr und mehr auf. Jaakob glaubt Joseph tot, der Leser weiß jedoch, dass Joseph zwar lebt, aber für den Segen nicht mehr ernstlich in Frage kommt. Und so geht Jaakob pragmatisch die Erbfolge seiner Söhne durch : Der Segensmann, bei dessen Bestimmung es nicht mehr nach der Liebeswahl ging – denn die Liebe war tot ? Nicht Ruben, der Älteste, der wie ein überkochend dahinschießendes Wasser war und hatte das Flußpferd gespielt. Nicht Schimeon und Levi, die persönlich nichts als geölte Flegel waren und ebenfalls Unvergeßbares auf dem Kerbholz hatten. Denn sie hatten sich aufgeführt zu Schekem wie wilde Heiden und sich benommen wie Feldteufel in Hemors Stadt. Diese drei waren verflucht, soweit eben Israel verflucht sein konnte ; sie kamen in Wegfall. Und also mußte der Vierte es sein, der nach ihnen kam, Juda – er war’s. (GW V, 1545)
Der rein subjektive Grund der Erberwählung, die Liebe, kann nicht mehr fortbestehen, es muss etwas anderes an die Stelle der Liebeserwählung treten, denn »wo die Liebe hinweggenommen, bleibt nichts als Gerechtigkeit. Gerechtigkeit war das Horn, aus dem das Öl der Erwählung träufeln mußte auf den Scheitel des Vierten.« (GW V, 1558) Durch den Juda-Segen wird etwas gänzlich Neues in die Welt kommen, denn der Segen wird nun nicht mehr auf die geliebten und bevorzugten »Sanften und Klugen« (GW IV, 118) übergehen, sondern auf einen, der durchaus fragwürdige Charakterzüge und eine starke Verbindung zu den unteren Mächten besitzt : Juda lebt in der »Geschlechtshölle«, sein »Geist lag mit seiner Lust in Widerstreit«. (GW V, 1548) Wir wissen also nun, wer am Ende der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern den Segen von Jaakob erhalten wird. Und auch Thamar, die zunächst als ein »kanaanitisch Weib, ein Landeskind« eingeführt wird und bald schon 239 Vgl. 1. Mose 15, 5. Der Bund Gottes mit Abraham gründet »auf Verheißung und nicht auf Gesetz« (Assmann : Exodus, 282), wie es später beim Bund mit dem auserwählten Volk der Fall sein wird.
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»Jaakobs Sohnes-Söhnin, Jehuda’s, seines Vierten, Schwiegertochter, des Gesegneten Groß-Schnur« sein wird, weiß es, kann es sich durch ihre Unterweisung durch Jaakob ausrechnen. (GW V, 1537) Doch auch Juda kennt sein Schicksal, »[e]r konnte es sich an den Fingern abzählen, und tat es buchstäblich öfters, aber nie ohne vor seiner Erberwählung zu erschrecken und schmerzlich zu zweifeln, ob er ihrer würdig sei, ja zu befürchten, sie möchte in ihm verderben.« (GW V, 1545 f.) Dass sie dies nicht tut, hat Juda am Ende Thamar zu verdanken, die ihm bedeutende Söhne schenken wird. Doch bevor sich Thamar in Judas Familie einschaltet, wird sie entscheidend durch Jaakob geprägt. Sie wird zu seiner »Verehrerin, […] seine[r] Schülerin in der Welt- und Gotteskunde«240 (GW V, 1537) und auch für Jaakob ist die Beziehung zu Thamar bereichernd, denn »das Herz des verwaisten Greises« (GW V, 1538) kann wieder fühlen, und Jaakob »verliebt« sich »sogar ein wenig« in sie. (GW V, 1538) Diese Schwäche, die Jaakob für Thamar hegt und die ein Symptom seiner zu Schwäche neigenden Gefühlsherrlichkeit ist, macht es Thamar schließlich möglich, stark und fordernd aufzutreten. Die enge Beziehung zwischen Jaakob und Thamar ist eine Zutat Thomas Manns gegenüber dem Buch Genesis, die Thamars Entschlossenheit psychologisch motiviert241 und sie stärker in Verbindung zu Joseph, Jaakobs verloren geglaubtem Sohn, setzt, denn Thamar fungiert für Jaakob gleichsam als Ersatz für den Geliebten.242 »Mit diesem erzählerischen Kunstgriff schafft sich der Erzähler die Möglichkeit, die ›Welt‹ Jaakobs in die Geschichte Thamars hereinzuholen und ihr damit eine neue Tiefendimension zu geben.«243 Das Leid, das Jaakob durch den Verlust seines geliebten Sohnes erfahren hat, und auch sein Rechten mit Gott, haben ihn in seiner Autorität und »Geschichtenschwere« noch gestärkt.
240 Vgl. hierzu auch Weimar : Thamar, 10 ff., der betont, dass Thamar, noch bevor ihr Name genannt wird, als Schülerin Jaakobs mit den Worten : »Ein Weib saß zu Jaakobs Füßen« (GW V, 1537) eingeführt wird. Zudem betont Weimar, dass das Wort »Weib« (meist mit unbestimmtem Artikel verwendet) das »Fremde, Rätselhafte, Unnahbare« unterstreichen soll (11). Zu ergänzen wäre hier noch, dass das Wort Weib auch auf ihre Geschlechtlichkeit verweist, denn die ihr zugedachte Rolle erfüllt sich ja in ihrem Dasein als Stammmutter. 241 S. auch den Erzählerkommentar : »Aber nicht bekannt, da die Chronik es übergeht, ist das Verhältnis Thamars zu Jaakob, obgleich es doch die unentbehrliche Voraussetzung zu der Episode und merkwürdigen Randhandlung unserer Geschichte ist, die wir hier einschalten […].« (GW V, 1539). 242 Vgl. Weimar : Thamar, 12. Jaakob nennt Thamar seine »Tochter« (GW V, 1563). Joseph und Thamar sitzen beide bei Jaakob »unter dem Unterweisungsbaum«. (GW V, 1566). 243 Weimar : Thamar, 12.
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Jaakobs persönliche Majestät hatte sich seit dem Tode Josephs, will sagen durch dies zerreißende und zunächst ganz unannehmbar scheinende Erlebnis nur noch erhöht. Sobald einmal Gewöhnung Platz gegriffen, sein Hadern mit Gott sich erschöpft, die grausame Verfügung dieses Gottes Eingang gefunden hatte in seine anfangs krampfhaft dagegen versperrte Natur, war sie zu einer Bereicherung seines Lebens, einem Beitrag zu dessen Geschichtenschwere geworden, der sein Sinnen […] noch ausdrucksvoller, noch malerisch-vollkommener zum Sinnen machte, als es schon immer gewesen war, sodaß es den Leuten heilig und scheu dabei zu Mute wurde und sie einander zuraunten : ›Seht, Israel besinnt seine Geschichten !‹ Ausdruck macht Eindruck, das ist nun so. (GW V, 1538)
Jaakob begreift sein Leiden in einem Akt der Sublimierung immer mehr als »heldische Opferkraft« (GW V, 1544) : »Glaubt es oder nicht, dies machte Jaakob sich vor und bezeugte es sich um seines Stolzes willen, daß er in der Stunde, als er Joseph nach Schekem entließ auf die Reise, das Isaakopfer vollbracht und freiwillig, aus Liebe zu Gott, den Allzugeliebten dahingegeben habe.« (GW V, 1543) Jaakob gibt also seinem Schicksal einen übergeordneten Sinn, indem er sich als Vollbringer des Isaakopfers stilisiert und seinen Verlust so hinnehmen kann. Seine hieraus resultierende »Gefühlsherrlichkeit« macht ihn empfänglich für Thamars Person und erweckt in ihm den Wunsch, erneut erzieherisch tätig zu werden. Und Thamars Wesen erweist sich hierfür als besonders geeignet. Sie ist geprägt durch »tiefen Ernst« (GW V, 1539), »Strenge und geistliche[ ] Strebsamkeit« (GW V, 1538), die sich in ihrem Gesicht durch die Furchen zwischen ihren Brauen ausdrückt, hinzu kommt eine »astartische[ ] Anziehungskraft« (ebd.), die sie »auf eine strenge und verbietende Art« (GW V, 1550) schön macht. Sie ist also, hierin mit Joseph vergleichbar, eine besondere Figur, die sich von ihrer Umwelt abhebt. Ihre »astartische Anziehungskraft« markiert sie zudem als Verführerin, ihre gleichzeitige düster wirkende Strenge lässt sie dämonisch erscheinen. Jaakob nimmt Thamars Bewunderung und ihre Wissbegier dankend an, und der »Feierliche[ ], Geschichtenschwere[ ] (GW V, 1551) pflanzt das unbändige Verlangen in Thamars junges Gemüt, Teil seiner Familie zu werden.« Dies erreicht Jaakob dadurch, dass er sie sowohl in theologischen Dingen als auch in der Genealogie der Ahnen unterweist, sie also am kulturellen Gedächtnis seines Stammes teilhaben lässt : [E]r erzählte ihr die Welt, das heißt seine Geschichten, die er in kühner Lehrhaftigkeit als die Geschichte der Welt darzustellen wußte, – eines Stammbaums verzweigtes Ge-
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breite, eine aus Gott erwachsene und von ihm betreute Familiengeschichte. Er lehrte sie den Anfang, Tohu und Bohu und ihre Entmischung durch Gottes Wort ; das Werk der sechs Tage und wie das Meer auf des Wortes Geheiß sich mit Fischen, der Raum danach unter der Feste des Himmels, wo die Lichter standen, mit vielem Gefieder, und die grünende Erde mit Vieh, Gewürm und allerlei Tieren füllte. (GW V, 1552)
Jaakob berichtet Thamar von der Erschaffung des Menschen, vom Garten Eden, dem Sündenfall, von Kain und Abel, von Seth, Noah und der Flut, von Abraham und seinem Bund mit Gott und wie dieser Abraham »das Recht der Erberwählung, Segens- und Fluchgewalt [verlieh], daß er segne das Gesegnete und Fluch spreche dem Verfluchten.« (GW V, 1553) Schließlich berichtet Jaakob von seinem eigenen entbehrungsreichen Leben. (Vgl. GW V, 1552 f.) Der Erzähler nutzt hier die Gelegenheit, »zum wiederholten Male die Geschichten Jaakobs, samt den Ideen des Vorspiels zu erinnern und daran […] die Verheißung der Zukunft zu binden.«244 Doch nicht nur von Vergangenem wird Thamar berichtet, Thamars lauschende Seele [wurde] im Lehrgang nicht nur mit geschichtlich-zeitbedecktem ›Einst‹, dem heiligen ›Es war einmal‹ gespeist […]. ›Einst‹ ist ein unumschränktes Wort und eines mit zwei Gesichtern ; es blickt zurück, weit zurück, in feierlich dämmernde Fernen, und es blickt vorwärts, weit vorwärts in Fernen, nicht minder feierlich durch ihr Kommen-Sollen, als jene anderen durch ihr Gewesen-Sein. (GW V, 1555)
Jaakob legt in »all[ ] seine[ ] Geschichten von Anbeginn ein Element der Verhei ßung« (GW V, 1556) und spricht vor ihr von »Shiloh«245, dem kommenden König, »des Sohnes der Erberwählung«, der für »Macht«, »Recht« und »Frieden« (GW V, 1557) stehen wird.246 Bei all dem sitzt247 Thamar still und völlig reg244 Weimar : Thamar, 13. 245 Shilo wird im Alten Testament nur bei der Segensvergabe Jaakobs an seine Söhne erwähnt. 246 S. zu »Shilo« auch Weimar : Thamar, 5, FN 16 : »Wenn im Blick auf den von Jaakob genannten Shiloh in einer Erzählereinlassung von einem Wort, das an ›Shilo, den Helden‹ [285] ergangen ist, gesprochen wird, dann ist ›der Held‹ deutlich Luthers Übersetzung des Wortes ›Shilo‹ aus Gen 49,10 entlehnt ; der doppelte Ausdruck selbst scheint Bezug zu nehmen auf die entsprechende Randglosse in Luthers Übersetzung (›Darumb nennen wir Shilo/ein Helt‹). 247 Auch Joseph sitzt konzentriert in seinem Unterricht und lauscht den Worten Eliezers. Er sitzt aber nicht nur, sondern schreibt auch (GW IV, 407). Thamar, die Frau, empfängt also lediglich, Joseph, der Mann, (re)produziert das Gehörte, überführt es also in das Medium Schrift. Hier werden demzufolge auch zwei Kulturstufen vorgeführt. (Zur Synchronität und Diachronität von Oralität und Literarität s. Ong : Oralität, 9 f.).
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los248 zu Jaakobs Füßen, dieser Umstand wird mehrmals erwähnt, der Akt des Empfangens wird so deutlich hervorgehoben, Jaakob lässt gleichsam seine Geschichten auf Thamar niedergehen und füllt sie mit diesen wie ein Gefäß an (vgl. GW V, 1558). Hier wird die große Bedeutung der oralen Tradierung sichtbar. Es sind die Geschichten, die Jaakob ihr erzählt, die in Thamar das Verlangen wecken, sich in die Geschichte einzuschalten. Thamar handelt also »aus mythischer Bildung, nicht aus dem Mythos selbst heraus.«249 Sie gehört nicht zum Typus des Erwählten, sondern muss sich mit enormer Entschlossenheit einschalten, muss sich ihren Platz in der Genealogie erkämpfen.250 Thamar, einmal durch die Geschichten Jaakobs der Bedeutung der Segensfamilie und der Macht ihres Gottes gewärtig geworden, war fest entschlossen, sich, koste es, was es wolle, mit Hilfe ihres Weibtums in die Geschichte der Welt einzuschalten. […] Thamar hatte über die Welt und ihre Zielstrebigkeit nur belehrt zu werden brauchen, um zu dem unbedingten Entschluß zu gelangen, ihr Weibtum mit dieser Zielstrebigkeit zu verbinden und weltgeschichtlich zu werden. (GW V, 1558)
Durch Jaakob in dieser Hinsicht belehrt (vgl. GW V, 1559), erkennt sie, dass es zwei Arten von Menschen gibt : die, die sich ohne viel zu bewirken einfach nur »in der Geschichte der Welt« befinden, und die, die an den »Hauptgeschehen« (GW V, 1558) teilnehmen und bedeutend sind. Und Thamar
248 Sie empfängt also das Wissen und ihren Glauben und setzt sich nicht mehr, wie die gottsuchenden Stammväter, allen voran Abraham, in Bewegung, um Weisheit zu empfangen : »Ihre Unruhe war nicht erster Ordnung, wie die des Wanderers von Ur, die ihn ins Leere trieb, wo nichts war, so daß er das Neue selber aus sich hervorbringen mußte.« (GW V, 1551) Nichtsdestotrotz ist auch sie von einer suchenden Unruhe, gleich derer der Stammväter, erfüllt. (Vgl. GW IV, 50 ; vgl. auch Weimar : Thamar, 28.). 249 Thomas Dürr : Mythische Identität in Thomas Manns Joseph und seine Brüder. In : Thomas-MannJahrbuch 19 (2006), 125–158, 147. Thamars Wissensaneignung vollzieht sich dabei, anders als die Josephs, rein kognitiv und geschieht konzentrierter in Form eines ›Frontalunterrichts‹ durch Jaakob. Anders als bei Joseph, der durch seine Sozialisation auch von fremden Mythen erfährt, ist Thamars Unterricht auf die Kultur Jaakobs beschränkt und damit fokussierter auf ein einziges Ziel. Sie erhält dadurch nicht den spielerischen Freiraum der Lebensgestaltung, den Joseph erfährt. 250 Unter diesem Gesichtspunkt wäre sie als eine weibliche Ausprägung des Thomas Mann’schen Leistungsethikers zu sehen.
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[w]ollte nicht abseits wimmeln. Recht auf die Bahn wollte dies Landmädchen sich bringen, die Bahn der Verheißung. Von der Familie wollte sie sein, sich einschalten mit ihrem Schoß in die Geschlechterreihe, die in die Zeiten führte zum Heil. Sie war das Weib, und Verkündigung war ihrem Samen geworden. Eine Vor-Mutter Shilohs wollte sie sein. (GW V, 1559)
Ihr »Weibtum« und, diesem zugeordnet, ihr »Schoß«, also ihre Fruchtbarkeit, sind es, die sie auf die Bahn bringen sollen, und so ist es konsequent, dass sie, von dem Gedanken der Verheißung erfüllt, all ihr Verlangen auf Juda, den »Erben« (GW V, 1559), richtet. Sie liebt Juda denn auch um der Verheißung willen auf eine noch nie dagewesene Art und Weise : Als solchen [als Erben] liebte sie Juda und begehrte sein – es war die Liebe des Ehrgeizes. Nie hat wohl – oder hatte bis dahin – ein Weib einen Mann so gar nicht um seiner selbst willen, vielmehr so ganz um einer Idee willen geliebt und begehrt, wie Thamar den Juda. Es ist die Liebe, die nicht aus dem Fleische kommt, sondern aus dem Gedanken, so daß man sie wohl dämonisch nennen mochte […]. (GW V, 1559)
Thamar liebt also aus dem Geiste heraus251 und ist auch dem Geiste, nicht dem Fleische (dem Blute) nach, zugehörig zu Israel252. Ihre Liebe ist entindividualisiert und somit der Eigenschaft beraubt, die die romantische Liebe ausmacht. Dies, sowie der Umstand, dass sie kein körperliches, sondern ein rein geistiges Verlangen nach dem Erben verspürt, lässt ihre Liebe seltsam kalt erscheinen. Ihre Liebe ist nicht auf ein Subjekt, sondern auf ein fernes Ziel gerichtet. Thamar liebt vom Telos her. Geist und Liebe sind also nicht mehr voneinander zu lösen. Ihr Wille zur Geistigkeit ist vollkommen, er bestimmt all ihr Tun und Handeln, wodurch sie sich als Teil des israelischen Kollektivs begreift.
251 Hier im starken Kontrast zu Mut-em-Enet, deren ganzer Körper sich unter der starken Leidenschaft für Joseph verändert und Mut schließlich zu einem reinen Liebeskörper macht, gegen den ihr Geist nicht mehr aufbegehren kann. Wenn es um Thamars Körperlichkeit geht, also in der Verführungsszene, spielt sie lediglich die Verführerin. Vgl. auch Weimar, 27, Anm. 51. 252 »Es kann aus deinem [ Jaakobs] Hause, mein Herr, wohl einer sich eine Tochter des Landes nehmen, wie ich [Thamar] es war [Hervorhebung M. A.], und sie zu Gott führen. Ich aber, wie ich nun bin, neugeboren und dein Gebild, kann nicht Ehemagd sein einem Unbelehrten und einem, der da zu Bildern betet aus Holz und Stein, von der Hand der Werkmeister, und die weder sehen, nicht hören, noch riechen können.« (GW V, 1562) Thamar sieht sich also durch die Annahme des Glaubens nicht mehr als Fremde an.
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Und so ist es denn auch Thamar selbst, die aus ganz strategischen Gründen, um die Heirat mit Er, Judas ältesten Sohn, bittet. Thamar ergreift also bei Thomas Mann die Initiative, auch wenn Er lediglich als Ersatz für Juda fungiert, der zu Thamars Leidwesen bereits an eine Kanaaniterin253, die Thamar zutiefst verachtet, vergeben ist. Folgerichtig ist es denn auch wieder Thamar, die bei Thomas Mann, nach dem Tode Ers, die Leviratsehe vorschlägt. Zunächst richtet sie sich an den Stammesältesten, Jaakob, denn sie weiß, dass dieser ihr kaum etwas abschlagen kann : ›Ich nehme es [den Tod Ers] hin‹, versetze sie, ›von wegen Gottes, aber nicht für mein Teil, denn meine Witwenschaft erkenn’ ich nicht an, ich kann’s und darf ’s nicht. Ist einer ausgefallen, so muß unmittelbar der Nächste eintreten für ihn, daß nicht mein [Hervorhebung M. A.] Funke auslösche, der noch übrig ist, und meinem Mann kein Namen und nichts Übriges bleibe auf Erden. Ich spreche nicht für mich allein und für den Getöteten, ich spreche allgemein und für ewig.‹ (GW V, 1565)
Thamar will hier also nicht nur ihr Recht durchsetzen, sondern sie installiert ein Gesetz, das Bestand haben soll, welches durch Jaakob verkündet werden und damit rechtens werden soll. ›Du mußt, Vater-Herr, dein Wort geltend machen in Israel und es zur Satzung erheben, daß, wo da Brüder sind und einer stirbt ohne Kinder, so soll sein Weib nicht einen fremden Mann draußen nehmen, sondern ihr Schwager soll einspringen und sie ehelichen. Den ersten Sohn aber, den sie gebiert, soll er bestätigen nach dem Namen seines verstorbenen Bruders, daß dessen Name nicht vertilgt werde aus Israel !‹ (GW V, 1565)
Thamar lässt Jaakob hier Recht sprechen, listig – und hierin Joseph sehr ähnlich – will sie, dass ein Umstand, der ihr zum Vorteil gereicht, zum Gesetz erhoben wird. In der biblischen Erzählung (Gen 38) wird die Institution der Leviratsehe als gegeben und bekannt vorausgesetzt. Nicht so bei Thomas Mann ; er ›montiert‹ an der entsprechenden Stelle fast wörtlich die ›Satzung‹ aus dem Deuteronomium in seine Thamar-Novelle ein […]. Thomas Mann wirft hier sowohl die historisch-reale als auch die biblische Chro253 Was für eine untergeordnete und unwürdige Rolle Judas Ehefrau spielt, macht der Umstand deutlich, dass sie namenlos bleibt : »Sein [ Judas] Weib, deren Name nicht überliefert ist, – vielleicht wurde sie wenig bei Namen genannt, sie war einfach Schua’s Tochter […].« (GW V, 1549).
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nologie und die Autorschaft kräftig durcheinander. So wird in der gewohnten biblischen Zeitrechnung das Recht erst wesentlich später, lange nach der Thamar- und Josephsgeschichte, geschrieben und kodifiziert – nämlich am Sinai –, und überdies wurde in der alten jüdischen und kirchlichen Tradition auch diese Rechtsform wie alle anderen Mose zugeschrieben (›mosaisches Gesetz‹). Indem nun Thomas Mann diese Norm Thamar nicht als offenes Zitat (etwa Berufung auf eine vorhandene Tradition wie in Gen 38) in den Mund legt, sondern er sie hier sogar Recht schöpfen läßt, stellt er sie mit Mose auf eine Stufe. […] Eine Frau als Schöpferin mosaischen Rechts – für altjüdisches und altkirchliches Denken ist dies mindestens ungewohnt, wenn nicht gar blasphemisch !254
Thomas Mann verpflanzt dieses Sittengesetz also von 5. Mose 25, 5 nach 1. Mose 38. Die Umstellung der Chronologie, die Jäger hier anführt, ist zwar richtig, ich stimme ihm jedoch nicht zu, dass Thamar Recht schöpft, also Recht setzt, sie lässt dieses durch den Stammvater setzen. Sie formuliert zwar das Gesetz, die juristisch verbindliche Setzung erfolgt jedoch durch Jaakob. Somit unterläuft sie zwar listig und klug die patriarchale Struktur, stellt sie aber nicht öffentlich in Frage und stört diese dadurch auch nicht. Der stolze Jaakob kann so, auch wenn er hier der Bitte einer Frau – und zudem noch einer ursprünglich Fremden – folgt, sein ›Stammvater-Gesicht‹ waren. Noch einmal zur Chronologie : Thomas Mann legt Thamar hier also nicht einfach die Worte Judas aus Gen 38 in den Mund, sondern lässt Thamar Dtn 25, 5–10 fast wörtlich zitieren, was ihrem Ausspruch direkt den Anschein eines Gesetzes verleiht. Und dieses Gesetz ist es denn auch, das Thamar die Einschaltung in die Genealogie ermöglicht. Während Thamar in der Bibel erst durch ihren mutigen Schritt, Juda zu verführen, als willensstarke Frau auftritt, überschreitet sie bei Mann bereits mit dem von ihr vorgebrachten Vorschlag zur Schwagerehe Grenzen und beweist ihren starken Willen. Da sie auf ihr Ziel konzentriert ist und kein Interesse an dem Individuum, sondern nur an der Rolle Ers hat, ist es ein Leichtes für sie, den nächsten Bruder anstelle des anderen zu verlangen. Thomas Mann nimmt also in Bezug auf die Schwager-Ehe zwei Änderungen gegenüber der Bibel vor : Er lässt Thamar und nicht Juda das Recht formulieren, zum anderen wird die Schwager-Ehe hier bereits als auch zukünftig geltendes Gesetz festgelegt, ein Umstand, der eigentlich eben erst durch Mose besiegelt wird. Und noch mehr : Als Juda das soeben durch Jaakob Verkündete kritisiert, 254 Christoph Jäger : Humanisierung des Mythos – Vergegenwärtigung der Tradition. Theologisch-hermeneutische Aspekte in den Josephromanen von Thomas Mann. Stuttgart 1992, 90 f.
Die Ordnung der Familie. Von Einschaltung und Ausschaltung : Thamar
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entgegnet Jaakob : »›Aus dieser Magd spricht Gott […] Er hat sie zu mir geführt, daß ich sie mit ihm bekannt mache und er aus ihr reden könne !‹« (GW V, 1566) Jaakob erhebt Thamar also gar zu »einer Prophetin«255 ; gegen dieses Argument ist Juda machtlos, er gibt Thamar seinen zweiten Sohn, Onan, zum Mann. Als auch diese Ehe nicht den erhofften Zweck erfüllt und ihr zweiter Mann stirbt, kommt es zu der oben beschriebenen Verführungsszene mit Juda. Es folgt die Erkennungsszene und das Schuldeingeständnis Judas : »Sie ist gerechter denn ich !« (GW V, 1575)256 Thamar schafft es also schließlich, durch einen Akt der Rechtsetzung sowie durch Täuschung ihre Gene in den Jaakobsstamm, die Segensfamilie, einzubringen. Durch die Zwillinge Perez und Serach komplettiert sie gleichzeitig die Dreizahl der Söhne Judas und stellt die ursprüngliche Ordnung wieder her, mehr noch, sie ersetzt sie durch eine bessere. Und diese Linie, die über König David zu Christus führt, betont Thomas Mann gegenüber der Bibel deutlich. Dies tut er zum einen dadurch, dass er bereits hier auf David anspielt, der ein Nachkomme von Thamars Sohn Perez sein wird : Der Erstgekommene, Perez, zumal war ein überaus weidlicher Mann und zeugte in Welt und Geschichte hinaus, daß es eine Art hatte. Denn noch im siebten Gliede zeugte er einen, der die Weidlichkeit selber war, Boas genannt, der Mann einer Lieblichen. Die wuchsen sehr in Ephrata und wurden gepriesen in Bethlehem, denn ihr Enkel war Isai, der Bethlehemiter, ein Vater von sieben Söhnen und einem kleinsten, der die Schafe hütete, bräunlich, mit schönen Augen. Er konnte es wohl auf dem Saitenspiel und mit der Schleuder und brachte den Riesen zu Fall, – da war er schon in der Stille zum König gesalbt. (GW V, 1575 f.)
Mit der »Lieblichen« ist hier, in Anlehnung an Rahel, Rut gemeint, die Urgroßmutter König Davids.257 Und hierin, in der sehr ausdrücklichen Bezugnahme auf Rut, liegt der zweite Aspekt, mit dem Thomas Mann so stark Thamars Linie zu David und somit zu Christus betont.258 Wie oben bereits erwähnt, kommt die 255 Weimar : Thamar, 106. 256 Vgl. auch 1. Mose 38, 26. 257 Vgl. Rut 4, 13–22. 258 Auch Jacob sieht bei Thamar diesen unbedingten Willen : »[…] [N]achdem Ruben (3522) und Simeon und Levi (c. 34) verworfen waren, hatte er [ Juda] als der Nächste Grund, die Verheißung : ›Könige werden aus deinem Leben hervorgehen‹ (3511 1716) auf sich zu beziehen. Und Tamar hat es begriffen, daß sie die Stammutter dieser Könige werden soll und will nur noch diesem Beruf leben.«( Jacob : Das erste Buch, 22).
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Schwagerehe auch im Buch Rut zur Anwendung, dies ist aber nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen Rut und Thamar, denn auch Rut ist ursprünglich eine Fremde, die sich aufgrund geistiger Gemeinsamkeiten zum Volk Israel zugehörig fühlt und nicht auf Grund verwandtschaftlicher Verhältnisse. Thomas Mann legt denn auch Thamar die Worte Ruts an ihre judäische Schwiegermutter in den Mund : »Dein [ Jaakobs] Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott.« (GW V, 1562)259 Und so endet das Thamar-Hauptstück mit verheißungsvollen Worten, die in ihrer Kraft und Pathetik an das Schlussbild des Zauberbergs und an Wagners Götterdämmerung260 erinnern : Das alles liegt weit dahinten in offener Zukunft und gehört der großen Geschichte an, von der die Geschichte Josephs nur eine Einschaltung ist. Aber in diese ist und bleibt die Geschichte des Weibes eingeschaltet, das sich um keinen Preis ausschalten ließ, sondern sich auf die Bahn brachte mit verblüffender Entschlossenheit. Da steht sie, hoch und fast finster, am Hang ihres Heimathügels und blickt, eine Hand auf ihrem Leibe und mit der anderen die Augen beschattend, ins urbane Land hinaus, über dessen Fernen das Licht sich in türmenden Wolken zu breit hinflutender Strahlenglorie bricht. (GW V, 1576)261
Die zu Jaakobs Füßen sitzende Thamar hat sich aufgerichtet und steht am Fuße ihres Heimathügels262, sie hat es geschafft und eine Dynastie errichtet. Durch diese Schlussszene erhält die Thamar-Novelle, wie oben bereits angemerkt, einen utopischen Charakter, der dem Roman völlig fehlt.263 Dieser endet mit den Worten : »Und so endet die schöne Geschichte und Gotteserfindung von Joseph und seinen Brüdern«. Josephs Geschichte ist also an ein Ende gekommen, es gibt nichts Weiteres zu berichten. 259 Vgl. auch Rut 2, 10 ; vgl. demgegenüber auch Judas religiöse Unsicherheit und Schwankungen. 260 Vgl. hierzu : Joachim Kaiser : Thomas Mann und der Ring des Nibelungen. In : Ders.: Leben mit Wagner. München 1992, 180–200, 193. 261 Thamars »Einschaltung« in die Segensgeschichte ist ebenso eingebettet und bezugsvoll wie die »Einschaltung« der Thamar-Novelle in den Roman. Vgl. auch Dietmar Mieth : Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns. Tübingen 1976, 131 f. 262 Zu Thamars Entwicklung, die, im Gegensatz zu der Josephs, als reine Erfolgsgeschichte gewertet werden kann, s. auch Weimar : Thamar, 13. 263 Vgl. Kerstin Schulz : Identitätsfindung, 154, die ebenfalls die Zukunftsträchtigkeit der Thamar betont : »Erst die Sicherung der Gegenwart [durch Joseph] kann die Perspektive ins Zukünftige [Thamar] offenhalten.«
Die Ordnung der Familie. Von Einschaltung und Ausschaltung : Thamar
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Thamar und Joseph
Zunächst wurde gezeigt, wie eng in der Bibel die Thamar-Episode motivisch und thematisch mit der Joseph-Geschichte verbunden ist, und im Anschluss wurde deutlich, wie Thomas Mann durch die geänderte Einbettung der Geschichte innerhalb seines Romans den Aspekt der Genealogie und der Segenserbschaft gegenüber der Verführung betont. Im Folgenden sollen diese Gedanken noch einmal enggeführt werden, um die Bedeutung Thamars hierdurch stärker zu akzentuieren. Zu diesem Zweck sollen Thamar und Joseph erneut betrachtet und die These entwickelt werden, dass Thomas Mann Thamar als direkten vormodernen Gegenentwurf zum modernen Joseph konzipiert hat, und in ihr vorgeführt wird, wie verletzte (patriarchale) Ordnungen durch sie korrigiert werden. Thamar dient Jaakob in gewisser Weise, wie erwähnt, als ›Joseph-Ersatz‹. Damit in Jaakobs Herzen Platz für Thamar ist, musste ihm der Sohn erst ›sterben‹. Das bunte Kleid, das Josephs Erwählung durch den Vater anzeigt und somit den Hass der Brüder auf Joseph weiter schürt, der sich denn auch schließlich gewaltsam gegen den Bruder entlädt, dient später als Beweismittel für den Tod des geliebten Sohnes. Das Motiv des Schleiers verbindet aber auch das Schicksal Josephs und Thamars : Für den einen bedeutet der Schleier Entrückung in die Ferne – im Glauben Jaakobs gar den Tod –, für die andere bedeutet der Schleier das Eingehen in die Segensfamilie. Thamars Einschaltung in die Genealogie beginnt genau an dem Ort, wo Josephs Ausschaltung begonnen hat : Thamar bittet Jaakob, ihr seinen Enkel Er zu freien264 »[a]m selben Platze […], im Zelt, wo Joseph den Alten einst ums bunte Kleid beschwatzt […].« (GW V, 1561) Durch Benzinger, bei dem, wie oben erwähnt, Thomas Mann systematisch Einzelheiten zur Kleidung und im speziellen zum Schleier nachgelesen hat, wurde Mann ebenfalls auf die Verbindung zwischen Thamar und Joseph durch das Schleiermotiv aufmerksam : »Diese Bezeichnung [kuttônet passîm] findet sich nur zweimal : in der Tamargeschichte (II Sam 13 18) und in der Josephgeschichte (Gen 37 3).«265 Dieser Satz ist in Manns Exemplar angestrichen. 264 Dies tut sie zu weiten Teilen mit den Worten Ruts (vgl. Rut 1 und 2) und mit Dtn 4, wie Peter Weimar in seiner synoptischen Aufstellung zeigt (94 f.). 265 Benzinger : Hebräische Archäologie, 77, Anm. 3. Bei der Tamar/Thamar, auf die Benzinger hier verweist, handelt es sich jedoch um die Tochter Davids, die von ihrem Bruder Amnon vergewaltigt wird, also um eine ›spätere‹ Thamar. Diese trägt ebenfalls einen »bunten Rock« (II Sam 13, 18) und wird von Benzinger als »Istar«-Figur bezeichnet. (77, Anm. 3.) Thomas Mann scheint also,
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In der Thamar-Episode ermöglicht der Schleier, der Thamar zuvorderst zu einer verlockenden Ischtar-Figur266 macht, eine Verführung und somit einen sexuellen Akt, der von der Genealogie her stattfinden muss, damit durch Thamar das Königsgeschlecht gezeugt werden kann. Aus der Verführung, dem sexuellen Begehren erwächst hier das Heil. Juda, dessen Söhne mit »Schua’s Tochter« keinen Gefallen vor Gott gefunden haben, bedarf Thamars, damit über ihn »die Messias-Linie zu David und zu Joseph laufen«267 kann. Und diese Zeugung kann nur stattfinden, weil Juda in dieser Hinsicht so berechenbar ist, weil er eben in seiner persönlichen »Geschlechtshölle« lebt und der Trieb stets gegen seinen Geist aufbegehrt ; »[e]r leidet unter der Geißel Ischtars«268. Und dies macht ihn, so paradox es zunächst klingen mag, in besonderer Weise für die Segenserbschaft geeignet, denn sein Trieb lässt ihn auch das Gegenteil spüren, die »Reinheitsliebe« (GW V, 1548)269 Mancher wird denken : das [die Geschlechtshölle] kann die schlimmste nicht sein. Aber wer so denkt, der kennt den Durst nach Reinheit nicht, ohne welchen es freilich gar keine Hölle gibt, weder diese noch sonst eine. Die Hölle ist für die Reinen ; das ist das Gesetz der moralischen Welt. Denn für die Sünder ist sie, und sündigen kann man nur gegen seine Reinheit. (GW V, 1548)270
eventuell durch Benzinger geleitet, für seine Thamar/Juda-Erzählung (1. Mose 38) Motive aus der späteren Thamar/Amnon-Erzählung übernommen zu haben. Warum Benzinger an dieser Stelle nicht auf den Schleier in 1. Mose 38 verweist, ist jedoch nicht ersichtlich. 266 Juda nennt Thamar eine »Ischtar, die ihre Liebsten tötet !« (GW V, 1568). 267 Kurzke : Mondwanderungen, 50. 268 Ebd., 71. Vgl. auch GW IV, 493 : »Der Umgang mit Kedeschen und Ischtar-Huren brachte ihn der Baal-Sphäre und ihren Greueln und Narrheiten nahe, der Sphäre Kanaans, des Schamlosen […].« 269 Hierin ist Juda in gewisser Weise ein ›Bruder‹ Moses, der nach dem Reinen und Geordneten strebt, weil er Chaos und Gewalt erfahren hat. 270 Dass die Sündigen die Moralischen sind, ist ein Grundgedanke in Thomas Manns Werk, der nicht erst im Erwählten bestimmend wird, sondern bereits im Zauberberg formuliert wird, und zwar von Madame Chauchat : »Nun, uns scheint, daß man die Moral nicht in der Tugend suchen darf, also in der Vernunft, der Zucht, den guten Sitten, dem Anstand, – sondern vielmehr in deren Gegenteil, ich meine : in der Sünde, in der Hingabe an die Gefahr, an das Schädliche und Verzehrende. Uns scheint, daß es moralischer ist, sich zu verlieren und selbst zu verderben, als sich zu bewahren.« (GkFA 5.1, 1093) Und weiterhin spitzt sie zu : »Die großen Moralisten waren nicht tugendhaft, sondern Abenteurer im Bösen, lasterhafte, große Sünder, die uns lehren, uns christlich vor dem Elend zu neigen.« (ebd.) Die sündigen Helden, das ist ganz das Personal Richard Wagners und steht ebenfalls in Übereinstimmung mit der Philosophie Friedrich Nietzsches.
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Die Sünde, die der Mythos nicht kennt, »gehört auf die Seite Gottes, der Zukunft, des Geistes, und nicht auf die Seite der Götter und Mythen.«271 Nur wenn man einen Sinn für die Zukunft hat, kann man sich an etwas versündigen, denn in der zeitlosen Sphäre des Mythos drohen keine Konsequenzen. Und so heißt es denn resümierend im Kapitel Von Josephs Keuschheit, das, angesichts des Fleisches, noch einmal die geistige Theologie des Vatergottes resümiert : »Zum Sündigen gehört Geist ; ja, recht betrachtet, ist aller Geist nichts anderes als Sinn für die Sünde.« (GW V, 1142)272 Juda nimmt also, wenn auch leidend, an beiden Sphären, der unteren und der oberen, teil, und dies ist wohl nur im Leid möglich. Somit besitzt Juda, der Sünder, eine wichtige Eigenschaft, die ihn, ebenso wie Jaakob, auszeichnet : »er war zum Leiden befähigt« (GW V, 1546)273. Früh, nämlich zu Beginn des zweiten Bandes, weist der Erzähler auf den außergewöhnlichen Charakter Judas hin, welcher ihn, neben dem »grundanständigen Ruben« (GW IV, 412) aus dem Kollektiv der Brüder hervorstechen lässt. »Jehuda […] [war] ein verwickelter und geplagter Charakter […].« (Ebd.) Die übrigen Lea-Söhne sowie die Kinder der Mägde werden hingegen eindimensional typenhaft gezeichnet und als »gewöhnliche Burschen« (ebd.) bezeichnet, der Gewöhnliche jedoch taugt nicht zum Segen. Unter diesem verwickelten Charakter, unter dem Widerstreit zwischen Geist und Lust, leidet Juda, jedoch geht ihm auch »die an Joseph und an dem Vater begangene Tat entsetzlich nach.« (GW V, 1546) Juda ist zweifellos Mittäter, er rettet jedoch auch den Bruder, indem er dessen Verkauf anregt und Joseph somit aus seinem Brunnengrab erlöst und vor dem sicheren Tod bewahrt. Juda ist also durchaus ein Mensch des Gefühls, keineswegs bar jeder Sittlichkeit, in ihm regt sich ein schlechtes Gewissen und Schuldbewusstsein – dies lässt ihn vor allen anderen Brüdern als geeignet für den Segen erscheinen. Vor dem Hintergrund der Zeugung des zukünftigen Königsgeschlechts wird noch einmal deutlich, dass auch Josephs Verschleierung nicht rechtens ist, da, wie oben bereits gezeigt wurde, durch die Verschleierung die familiäre sowie die Geschlechterordnung nicht beachtet werden.274 Joseph erhält durch die Ge271 Assmann : Gott-Mythologien, 20. 272 Vgl. auch GW 1546 »Das Böse ist für die Stumpfen.« 273 S. auch GW IV, 492 : Juda ist gekennzeichnet durch einen »Leidenszug um Nüstern und Lippen […] [und] [d]iese Lippen zeugten von Sinnlichkeit, aber die feingebaute, gebogene und dennoch flach darauf niedergehende Nase drückte eine witternde Geistigkeit aus, und in den großen, schwerlidrigen und spielend hervortretenden Hirschaugen lag Melancholie.« Auch Thamar zeichnet Ersthaftigkeit und sinnliche Anziehung zugleich aus. 274 Auf den Schleier als Bindeglied zwischen Joseph und Thamar weist auch Weimar, Die doppelte
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walt seiner Brüder gegen ihn hierfür die Strafe. Thamar rückt also wieder das zurecht, was Joseph durcheinander gebracht hat, und kann somit durchaus als Gegenentwurf zu Joseph gesehen werden. Zudem läuft von Joseph aus die Linie nicht weiter bis zum Königsgeschlecht und also auch nicht bis zu Christus. Wie wichtig Thamar für die Geschichte Israels ist, konnte Mann auch Jacobs Midrasch-Kommentar entnehmen : Aus alledem ergibt sich die Unentbehrlichkeit des Kapitels für die Genesis. Sie will die Ursprünge Israels erzählen, seine Geschichte aber gipfelt in dem Königstum. Nachdem es bereits den beiden Stammvätern des Volkes, Abraham und Jakob (denn Isaak ist nur Bindeglied), geweissagt war, mußte angedeutet werden, aus welchem Stamme der König sein werde, vor allem, was für eine Stammutter er gehabt hat.275
Aus diesem Grund, um den Aspekt der segenslosen auf der einen Seite und der segensreichen Genealogie auf der anderen Seite zu betonen, setzt Thomas Mann das Thamar-Hauptstück erst so spät an.276 Joseph musste erst weltlich werden und zwei Kinder zeugen, von denen ernstlich nichts mehr zu erwarten ist, bis endlich erzählt werden kann, wer dafür sorgt, dass der Segen im Stamme Israels bleibt. Josephs Söhne Menasse und Ephraim taugen denn auch ebenso wenig für die Heilsgeschichte277 wie Judas Söhne aus seiner Ehe mit »Schua’s Tochter«. Und so heißt es über die Söhne Josephs wenig schmeichelhaft : Thamar (12, Anm. 38) hin, jedoch ohne den Aspekt der unrechtmäßigen Verschleierung Josephs. 275 Jacob : Das erste Buch, 724, in Thomas Manns Exemplar ist die Textstelle komplett angestrichen. 276 In der Forschung wird der Aspekt, warum Thomas Mann Thamars Geschichte erst im vierten Band erzählt, breit diskutiert. Im Wesentlichen gibt es hierzu zwei Tendenzen : Thamar stehe für Manns amerikanische Mäzenin Agnes E. Meier (vor allem Hans Rudolf Vaget zuletzt in Thomas Mann, der Amerikaner, hier das Kap. Die Entschlossene : Thamar, 206–215 sowie Hermann Kurzke : Thomas Mann. Das Leben als Kunstwerk. München 1999, 425–428) und, stark durch Thomas Manns Selbstaussagen geleitet, Mann benötigte nach Rahel und Mut eine weitere auffällige Frauenfigur für seinen vierten Band. (Ebenso Vaget : Thomas Mann, der Amerikaner, 210 : »Wenn überhaupt, so konnte nur diese Figur [Thamar] die dominante Frauenfigur abgeben, nach der der Joseph-Autor Ausschau hielt.«) Beide Aspekte mögen durchaus zutreffend sein, jedoch denke ich nicht, dass diese ausreichend gewesen wären, vor allem der erste nicht, um Thamar ein eigenes Hauptstück zu widmen und sie auf diese Art und Weise darzustellen. Vielmehr glaube ich, dass der Grund für die späte und derartig gestaltete Aufnahme Thamars in den IV. Band durch Josephs nun deutliches Ausscheiden aus der Genealogie begründet ist. Siehe auch Thomas Mann : Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag) Auch Käte Hamburger ist zu widersprechen, wenn sie schreibt, dass »Thamars Geschichte […] um Judas, des Segensträgers, willen erzählt [wird].« (Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk, 85). 277 An dieser Stelle sei betont, dass hier durchaus der Aspekt gesehen wird, dass, wenn von »Segens-
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Sie selbst waren auch Stutzer und Kinder der Hochkultur, manikürt, coiffiert, parfümiert und gepinselt, mit Fußnägeln wie aus Perlmutter, gewickelten Taillen und wallenden Buntbändern vorn, seitlich und hinten den Schurz hinab. Schlimm waren sie beide nicht, und aus ihrem Stutzertum, das sich gesellschaftlich von selbst ergab, ist ihnen kein Vorwurf zu machen. Nur allerdings war Menasse, der Ältere, sehr hochnäsig, da er sich auf sein Sonnenpriester-Geblüt von seiten der Mutter noch mehr zugute tat als auf den Ruhm seines Vaters. Ephraim, den Jüngeren, dagegen, mit den Rahelsaugen, muß man sich harmlos lustig denken und eher bescheiden, soweit eben, als Bescheidenheit sich aus Lustigkeit ergibt ; denn Hochmut lacht ja nicht gern. (GW V, 1779 f.)
Ephraim und Menasse sind das Produkt einer dekadenten Welt, vom Geiste der Stammväter ist nicht mehr viel in ihnen, und nur der Jüngere trägt noch einen letzten Rest der Zarten und Schönen in sich, denen einst der Segen gehörte. Noch ungeeigneter für die Heilslinie sind die ›ersten‹ Söhne Judas : [D]ie Buben, die sie [Schua’s Tochter] dem Juda schenkte, waren nur anfangs nett, dann wurden sie übel : am wenigsten noch der Jüngste, Shelah, […] er war nur kränklich, aber die älteren, ’Er und Onan, waren zugleich auch übel, kränklich auf üble Art und übel auf kränkliche, dabei hübsch und dazu frech, kurzum ein Leidwesen in Israel. (GW V, 1549)
Ihre fehlende Vitalität macht die Söhne gänzlich ungeeignet zum Zeugen, hiergegen steht Perez mit seiner zeugenden Vitalität. Hinzu kommt, dass sie fehl am Platze sind und genealogisch nicht in diese Zeit und an diesen Ort gehören : Solche Buben, wie diese beiden, kränklich und ausgepicht, dabei aber nett, sind eine Zeitwidrigkeit an solcher Stelle und eine Voreiligkeit der Natur, die einen Augenblick nicht ganz bei sich ist und vergißt, wo sie hält. ’Er und Onan hätten ins Alte und Späte gehört, in eine Greisenwelt spöttischer Erben, sagen wir : ins äffische Ägypterland. So nahe dem Ursprung eines ins Weite gerichteten Werdens waren sie fehl am Ort, fehl in der Zeit und mußten vertilgt werden. (GW V, 1549)278
linie« die Rede ist, der Roman über die Geschehnisse des Alten Testaments hinaus auf das Neue Testament verweist, wodurch eine dezidiert christliche Heilslinie antizipiert wird. 278 Vgl. auch GW IV, 493 : »Die Söhne, die sie [Schua’s Tochter] ihm [ Juda] brachte, zwei vorderhand, unterwies er in der Vernunft Gottes. Sie aber schlugen der Mutter nach, […] und nicht dem Vater […].«
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Durch ihre Dekadenz und Spätzeitlichkeit werden die Söhne Judas und Josephs zueinander in Bezug gesetzt, es bedarf also mehr als der väterlichen Abstammung, es bedarf auch der richtigen Stammmutter.279 Und diese muss auch mit dem Richtigen, das heißt, mit der richtigen Generation zeugen : Mit ihrer [Thamars] Stellung in der Zeit schaltete sie frei. Sie war hinabgestiegen in ihr zu den Enkeln [Er und Onan], die sie verwünschte, da sie denen im Weg waren, die sie hätte hervorbringen wollen, – nun beschloß sie, aufs neue die Generation zu wechseln und wieder hinaufzusteigen, unter Umgehung des einen, der noch übrig war vom Enkelgeschlecht, und den man ihr nicht überlassen wollte, daß er sie entweder auf die Bahn brächte oder stürbe. (GW V, 1570 f.)280
Erneut wird hier die korrekte Chronologie – die Ordnung der Familie – betont, alles andere ist eine Versündigung an der Zeit, am Weltgeist und somit an Gott. Die Geschichte ist noch nicht bei den Enkeln angekommen, sondern ist noch Sohneszeit. Josephs Segenszeit erstreckt sich also rein auf die Gegenwart281 und ist an seine Person gebunden. Er muss durch sein weltliches Wirken vor allem auch sein Volk retten, allen voran Judas Familie, dessen Segenslinie durch die Söhne mit Thamar bereits auf den Weg gebracht wurde. Thamars und Judas Nachkommen werden in der Zukunft segensreich sein. Am Ende des Romans ist Josephs Geschichte in doppelter Hinsicht zu Ende ; Thamars Geschichte ragt über ihre eigene, persönliche hinaus, nicht sie ist das Heil, aus ihr wird aber das Heil kommen. Es geht also nicht, wie bei Joseph, um kreative Selbstverwirklichung, sondern um das genealogische Prinzip. Noch konkreter : Für Joseph steht die Gestaltung seiner Geschichte in narratologischer Hinsicht im Vordergrund und ist somit auf den Moment, auf den Zeitpunkt der Inszenierung ausgerichtet, für Thamar zählt die zukünftige Genealogie. Auch wenn ihr Wirken damit auf die Zukunft gerichtet ist, ist sie doch stärker dem mythischen Denken verhaftet, als es Joseph ist, bei dem das Individuelle wesentlich stärker im Fokus steht. Die überindividuelle Liebe Thamars zu Juda macht dies sehr deutlich.
279 Juda, als alleinige Linie zum Messias, wäre Thomas Mann wohl auch zu dürftig gewesen. Thamar gibt der Verheißungslinie den Glanz, der ihr ohne sie versagt geblieben wäre. 280 Mit diesem Aufstieg vollbringt Thamar auch einen ähnlichen Werdegang wie Joseph, der aus seinen Gruben wieder aufsteigt. 281 Vgl. Mieth : Epik, 39 und Weimar : Thamar, 13, Anm. 39.
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Den Ehrgeiz zu Höherem haben beide, Thamar und Joseph, und beide verstehen es, ihr Schicksal zu inszenieren. Beide tun dies durch List, Thamar aber vor allem mit Ernst und Strenge, Joseph mit Witz und Sympathie. 2.9 Die Segensszene : Die Ordnung wird befestigt »›Versammelt euch, ihr Kinder Jaakobs ! Kommet zuhauf und scharet euch um euren Vater Israel, daß er euch künde, wer ihr seid und was euch begegnen wird in zukünftigen Zeiten !‹« (GW V, 1787) Mit diesen Worten wird die »Sterbeversammlung« (ebd.) einberufen282, in welcher Jaakob seinen Söhnen den Segensträger verkünden wird. Vor diesem Moment haben sich die zehn Brüder, die Joseph einst in den Brunnen warfen, gefürchtet, denn sie erwarten eine ordentliche Abreibung vom scheidenden Vater. Die starken Gesichtsmuskeln Re’ubens, des achtundsiebzigjährigen Herdentums, waren bärbeißig angezogen. Er war mit Bilha dahingeschossen, das würde er bestimmt höchst ausdrucksvoll zu hören bekommen anläßlich der Feierlichkeit, und wappnete sich dagegen. Da waren Schimeon und Levi, die hatten als junge Leute Schekem barbarisch verwüstet um der Schwester willen, […] Da war Jehuda, der es versehentlich mit seiner Schnur getrieben – […]. Da waren sie alle und hatten, bis auf Benjamin, den Gegängelten, einst den Dumuzi verkauft. Jaakob würde im Stande sein, auch davon bei dieser Gelegenheit zu singen und zu sagen […]. Namentlich die Lea-Söhne verstockten sich, denn keiner von ihnen hatte es je dem Vater verziehen, daß er nach Rahels Tod nicht ihre Mutter, sondern Bilha, Rahels Magd, zur Liebsten und Rechten gemacht hatte. Er hatte auch seine Schwächen und hatte gefühlvolle Willkür geübt sein Leben lang. An der Geschichte mit Joseph, dachten sie trotzig, war er ebenso schuldig wie sie, das sollte er bedenken […]. (GW V, 1789)
Der Erzähler nimmt die Sterbeversammlung zum Anlass, noch einmal entscheidende Stationen der Familiengeschichte zu rekapitulieren. So werden jene 282 »Das war der Ruf, den Jaakob aus dem Zelte ergehen ließ an seine Söhne, als er die Stunde für gekommen erachtete, daß er seine Sterberede halte. […] Durch Eliezer, seinen Großknecht, den Alt-Jungen, ließ er den Ruf ergehen, ihm sagte er ihn vor und ließ ihn sich mehrmals wiederholen, damit Damasek ihn nicht nur ungefähr, sondern nach der genauen Wortfügung wüßte.« (GW V, 1787 f.) Hier wird noch einmal eine orale Mnemotechnik vorgeführt, Eliezer, der, wie gezeigt wurde, als kulturelles Gedächtnis des Stammes fungiert, übt die Worte Jaakobs ein, speichert sie gleichsam und verkündet sie.
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Geschehnisse noch einmal genannt, die alle dazu führen, dass Juda den Segen erhalten wird. Ruben hat sich den Segen durch seine Liaison mit Bilha verspielt. Schimeon und Levi als Anführer des Gemetzels in Schekem. Und für Juda ist die Thamar-Episode das, was schließlich über seine Zukunft entscheidet. Und so erhält Thamar auch noch einmal einen wirkmächtigen Auftritt im Roman : Da die Sonne sich neigte und diese äußere Gemeinde gegen einen orangefarbenen Abendhimmel stand, so wirkte sie schattenhaft, und nicht leicht war ein Einzel-Gesicht zu unterscheiden. Aber das Gegenlicht der beiden Öllampen, die auf hohen Ständern am Kopf- und Fußende des Sterbebettes loderten, erlaubt uns doch, eine prägnante [Hervorhebung M. A.] Gestalt dort draußen mit aller Bestimmtheit auszumachen : eine hagere Matrone in Schwarz, zwischen zwei auffallend breitschultrigen Männern, das graue Haar von einem Schleier bedeckt. Kein Zweifel, es war Thamar, die Entschlossene, mit ihren weidlichen Söhnen. Sie war nicht hereingekommen, sondern hielt sich draußen für den Fall, daß Jaakob bei seinen Sterbereden auf Juda’s Sünde mit ihr sollte zu sprechen kommen. Aber zur Stelle war sie – und ob sie zur Stelle war, da Jaakob den Segen vergeben sollte auf den, mit dem sie am Wege gebuhlt und sich auf den Weg gebracht ! Auch ohne das Lampenlicht von hier drinnen wäre ihr stolzer Schattenriß vor dem halb regnerisch farbigen Abendhimmel uns nicht entgangen. (GW V, 1790 f )
Und so beginnt die Segensszene, in der die Brüder, wie befürchtet, ihre Abreibung vom Vater erhalten, einer nach dem anderen. Zuerst ist Ruben an der Reihe, der nun von seinem Vater seine wenig schmeichelhaften Zeugungsbewandtnisse zu hören bekommt, die dem Vater einst Anup enthüllte : ›Ruben, mein größester Sohn‹, hob Jaakob an, ›du bist meine früheste Macht und meiner Mannheit Erstling, dein war das Vorrecht und ein mächtiger Vorzug, im Kreise warst du der Oberste, der Nächste zum Opfer und der Nächste zum Königstum. Es war ein Versehen. Ein Abgott zeigte mir’s an auf dem Felde im Traum [Hervorhebungen M. A.], ein beizendes Tier der Wüste, ein Hundsknabe mit schönem Bein, auf dem Steine sitzend, gezeugt aus Versehen, gezeugt mit der Unrechten in blinder Nacht, der alles gleich ist und die von Liebesunterscheidung nichts weiß. So zeugte ich dich, mein Oberster, in wehender Nacht mit der Falschen, der Tüchtigen, im Wahne zeugte ich dich und gab ihr die Blüte, denn es war Vertauschung, vertauscht war der Schleier, und mir zeigte der Tag, daß ich nur gezeugt hatte, wo ich lieben wähnte, – da kehrte sich Herz und Magen mir um, und ich verzweifelte an meiner Seele.‹ (GW V, 1793)
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Als sei dies nicht schon genug, selbst für einen »achtundsiebzigjährigen Herdenturm«, bewahrheitet sich die Befürchtung Rubens und ihm wird sein ›Vergehen‹ an Bilha vorgeworfen, er, »der Chaosdrache«, der »[s]eines Vaters Scham […] entblößt« und ihm mit der »Sichel […] genaht [ist] und hat starken Mutwillen geübt mit seiner Mutter.« (GW V, 1793)283 In ähnlicher Form ergeht es den übrigen Brüdern. Während allen Brüdern vergangene Taten in mythischer Identifikation vorgeworfen werden, erhält der Segen Judas nun etwas Verheißungsvoll-Zukünftiges. Und so rief Jaakob den Juda aus, – es war ein mächtiger Augenblick, und tiefe Stille herrschte sowohl draußen vorm Zelte wie bei uns drinnen. […] Der Uralte hob die bleiche Hand gegen den vierten Sohn, der, im voraus aufs Tiefste beschämt, das fünfundsiebzigjährige Haupt beugte, – den Finger hob er gegen ihn und wies auf ihn und sprach : ›Juda, du bist’s !‹ Ja, er war’s, der Geplagte, der seinem Gefühl nach gänzlich Unwürdige, der Knecht der Herrin, der keine Lust zur Lust hatte, aber sie zu ihm, der 283 Unschwer mag man hier Sigmund Freuds Theorie der Vatertötung in der Urhorde erkennen. Wenn sich die Söhne der »Urhorde« in einem Akt der »Brüderlichkeit« (Ralf Rother : Gewalt und Strafe. Dekonstruktionen zum Recht auf Gewalt. Würzburg 2007, 8. Im Folgenden : Rother : Gewalt und Strafe) zusammenschließen, um den (sexuell) dominanten Vater zu töten und somit der Gewalt, die von ihm ausgeht, ein Ende zu setzen, ist dies, laut Freud, nicht nur der Beginn der Familie, sondern zeigt auch Grundstrukturen der anfänglichen Gewalt. »Dieses Verbrechen wird zum initiatorischen Akt ›sozialer Organisation‹, von ›sittlicher Einschränkung‹ und von Religion. Denn Schuldbewußtsein und Gewissensbisse veranlassen die Urhorde zur Schaffung einer von wesentlichen ›Tabus‹ kontrollierten Regulierung der sozialen Beziehungen. Gewalt, die hier am Anfang von Gesellschaft und Gemeinwesen steht, ist damit gleichwohl nicht endgültig aus den sozialen Beziehungen verbannt, vielmehr schlummert sie verdrängt und unterdrückt in den Begierden des Kulturmenschen.« (Hirsch : Recht auf Gewalt ?, 14) Die »Sichel« kann zudem als Verweis auf die Entmannung des Uranos durch seinen Sohn Kronos (Saturn) gesehen werden. Des Weiteren wird durch die entblößte Scham auf Noah und seinen Sohn Cham, der im Roman in einem Wortspiel »Vaterschänder und Schamentblößte[r]« (GW V, 1140, hier im Sinne von : Cham ist von Scham entblößt, empfindet also keine Scham) genannt wird, angespielt : Als der betrunkene Noah mit aufgedeckter Scham in seinem Zelt liegt, schaut Cham hin und berichtet dies seinen Brüdern. Diese gehen rückwärts in das Zelt und bedecken die Blöße des Vaters. Die Sexualität des Vaters scheint etwas mit einem starken Tabu Behaftetes zu sein, ein Übertreten dieses Tabus hat, wie im Falle Chams, die Verfluchung des ganzen Stammes zur Folge und, im Falle Rubens, den Entzug des Segens. Jaakob kündet hier also ganz aus dem Mythos. Vgl. auch 1. Mose 9, 24 : »Als nun Noah erwachte von seinem Wein und erfuhr, was ihm sein jüngster Sohn getan hatte, sprach er : Verflucht sei Kanaan und sei ein Knecht aller Knechte unter seinen Brüdern ! und sprach weiter : Gelobt sei der Herr, der Gott Sem’s ; und Kanaan sei sein Knecht ! Gott breite Japheth aus, und lasse ihn wohnen in den Hütten des Sem ; und Kanaan sei sein Knecht !« Cham oder Ham wird als »Vater Kanaans« bezeichnet. (1. Mose 9, 18) Kanaan wird für die Juden der Inbegriff der Sünde bleiben.
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Sünder und der Gewissenhafte. Man denkt wohl : mit fünfundsiebzigjährig kann’s so schlimm nicht mehr sein mit der Hörigkeit und knechtischen Lust, aber da irrt man sich. Das hält bis zum letzten Seufzer. Ein wenig stumpfer mag ja der Speer geworden sein, aber daß je die Herrin den Knecht entließe, das gibt es gar nicht. (GW V, 1797 f.)
Die Gedanken Judas, an denen uns der Erzähler nun teilhaben lässt, identifizieren Juda als geistigen Bruder Moses : »Nun denn, trotzdem offenbar. Es war am Ende so schlimm nicht, und für den Segen war’s sichtlich kein Hindernis, vielleicht wird das nicht so schwergenommen, – die Reinheit, nach der ich lechzte, war, wie sich zeigt, nicht unerläßlich zum Heil, gewiß gehörte alles dazu, die ganze Hölle, wer hätt’ es gedacht, auf mein Haupt träufelt’s, Gott gnade mir, aber ich bin’s !« (GW V, 1798) Juda »lechzt« nach Reinheit, seine Leidenschaft richtet sich auf ihr Gegenteil, die Reinheit. Dadurch, dass Juda zwar in der »Geschlechtshölle« lebt, er aber nach dem Reinen strebt, wird er als moralischer, wenn auch sündiger Mensch gezeichnet.284 Judas Befürchtungen bewahrheiten sich denn auch nicht, der Gesegnete wird nicht getadelt, es gilt, die Zukunft zu beschwören : Und doch ging Jaakob beim Juda-Segen garnicht aufs Raub-Heldische aus. Der Held, auf den er abzielte und den er sich längst schon hervorgedacht, war nicht von der Art, an deren brüllende Pracht sich die Schwäche verliert, – Schilo war sein Name. Vom Löwen zu ihm war es weit ; darum machte der Segnende einen Übergang : er fügte das Gesicht eines großen Königs ein. Der König saß auf seinem Stuhl, und der Herrscherstab lehnte zwischen seinen Füßen, der sollte von dort nicht weichen, noch von ihm genommen sein, bis daß ›der Held‹ käme, bis daß Schilo erschiene. (GW V, 1799)
Wie im Alten Testament auch, hören die Söhne hier zum ersten Mal den Namen des Helden, der da kommen soll. Nur Thamar kennt bereits diesen Namen und
284 Franka Marquardt : Erzählte Juden, 186 bezeichnet die Segensvergabe an Juda schlicht als »senilen Irrtum« des greisen Vaters. Marquardts Irrtum hingegen ist, dass der Erzähler Joseph als ›höherwertige‹ Version seines Vaters gestaltet. Joseph ist ein moderneres Individuum als sein Vater, das steht außer Frage, und Jaakob ist klischeehaft stur (vgl. 261), auch das steht außer Frage, aber in die Zukunft reicht dennoch Judas und Thamars Vater-Erbe und nicht das Josephs, der aus der Familie ausscheidet, ohne jemals die leidenschaftliche Liebe erlebt zu haben, die das Leben Jaakobs mit Sinn angefüllt hat. (Vgl. das Kap. Von Liebe und Gehorsam : Jaakob und Joseph) Jean Finck sieht in Juda »wieder das ›problematische Ich‹ der frühen Helden« verkörpert. (Thomas Mann und die Psychoanalyse, 316).
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seine Bewandtnisse, und so erwähnt der Erzähler sie als stolze wissende Zeugin der Segnungsszene erneut : Für Juda, den König mit dem Befehlsgeber zwischen den Füßen, war dieser Verheißungsname ganz neu, – für die ganze Versammlung war er eine Überraschung, und erstaunt horchte sie auf. Nur eine von allen war’s, die ihn kannte und begierig auf ihn gewartet hatte. Unwillkürlich werfen wir einen Blick hinaus auf ihren Schattenriß, – hoch aufgerichtet stand sie, in dunklem Stolz, wie Jaakob den Samen des Weibes [Hervorhebung M. A.] verkündigte. (GW V, 1799)
Nach diesen Verweisen auf Schilo285, den kommenden Messias, folgt die Beschreibung der Segnungsszene, die sich zu einem brausenden, die Personen und Zeiten verwischenden Rausch steigert, dionysische und märchenhafte Bilder heraufbeschwört : Wie es herging über Juda’s beschämtes Haupt, das war über alles Erwarten. Seine Person – oder seine Stammesgestalt – vermischte sich, sei es mit Absicht oder nur aus Gedankenverwirrung, oder aus beidem, indem nämlich die Verwirrung absichtlich ausgenutzt wurde zu hochgehender Poesie, – sie vermischte sich und rann in einander in Schilo’s Gestalt, sodaß niemand wußte, ob von Juda die Rede war oder von dem Verheißenen bei den Gesichten der Segensfülle und der Begnadung, in denen sich Jaakob erging. Alles schwamm in Wein, – es wurde den Lauschenden rot vor den Augen vor Weingefunkel. Ein Land war das, dieses Königs Reich, ein Land solcher Art, daß einer sein Tier an den Weinstock band und an die Edelrebe sein Eselfüllen. Waren es die Weinberge von Hebron, die Rebenhügel von Engedi ? In seine Stadt ritt ›er‹ ein auf einem Esel und auf einem Füllen der lastbaren Eselin, – da war nichts als trunkene Lust wie von rotem Weine bei seinem Anblick, und er selber war einem trunkenen Weingott gleich, der die Kelter tritt, hoch geschürzt und begeistert : das Weinblut netzte seinen Schurz und der rote Rebensaft sein Gewand. Schön war er, wie er watend trat und den Tanz der Kelter vollführte, – schön über alle Menschen : so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie Ebenholz… (GW V, 1799 f.)286
285 Zu Thomas Manns Schilo-Quellen, s. Berger : Die mythologischen Motive, 174 ff. 286 Vgl. auch Marx : Christusfigurationen, 190 und Berger : Die mythologischen Motive, 175 f.: »›Silo, das ist der König Messias‹, wie die ›Sagen der Juden‹ ausdrücken. In diesem Sinne hat Thomas Mann das Motiv verwandt. Er hat zudem den messianischen Charakter des Spruches verstärkt, indem er ihn unmittelbar ans Neue Testament anknüpft.«
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Was hier in der Segensszene entfaltet wird, ist ein ›Ineinanderschwimmen‹ von biblischen, mythischen und märchenhaften Verweisen287, die verschiedene Kulturen verbinden. Die beschriebene Szene verweist auf Jesu Christi Einzug auf einem Esel in Jerusalem. Gleichzeitig ist er der griechische »Weingott« Dionysos.288 Der Wein wird metaphorisch mit dem Blut vermischt und verweist als »Weinblut« zum einen bereits auf die Kommunion, zum anderen nimmt das vom »Weinblut« benetzte Gewand die Seitenwunde Jesu vorweg und verweist somit auf seinen nahenden Tod, der jedoch wiederum in der Kommunion erinnert und aufgehoben wird, indem der Wein im rituellen Abendmahl Christi Blut ist und nicht bloß bedeutet. Die Vision schließt mit einem Verweis auf das Grimm’sche Märchen Schneewittchen.289 Jaakob kündet zum Ende seines Lebens aus dem Mythos und nimmt zugleich heilsgeschichtliche Motive in seine Segnung auf. Exkurs : Von Liebe und Gehorsam : Jaakob und Joseph
Josephs Segnung geht ein Gespräch mit dem Vater unter vier Augen voran, das Joseph im Kapitel Von absprechender Liebe aus dem Stammesverbund entlässt und so die zeitliche Begrenzung seines Wirkens in Ägypten verdeutlicht. Das Gespräch folgt auf die rührende Szene der Wiedervereinigung von Vater und Sohn. Zunächst wandelt Jaakob in den Spuren Isaaks, des Blinden, wenn er den herannahenden Sohn nicht zu erkennen scheint : »›Wer ist der Mann von mäßiger Leibesstärke‹, fragte Jaakob, ›gekleidet in die Vornehmheit dieser Welt, der eben herabtritt von seinem Wagen […], und sein Halsschmuck ist als wie der Regen287 Vgl. ebd.: »Schwarz, weiß und rot sind nach Jeremias, der sich dabei auf die Vorstellung des androgynen Adam in der jüdischen Sage (jer. Targum zu 1. Mos. 2,7) und auf Grimms ›Mondmotiv-Märchen‹ beruft, die Farben des ›geheimnisvollen Kindes‹, d. h. es sind die Symbolfarben des Retters.« 288 Vgl. zur Engführung Christus und Dionysos grundsätzlich : Frank : Der kommende Gott und Hörisch : Brot und Wein, Kap. 4 : Im Zeichen des Weinstocks : Dionysos und Christus, 57–70. Christus vermag es ebenso wie Dionysos, Wasser in Wein zu verwandeln. »[E]in dionysisches Wunder, das spätestens seit seiner Schilderung in den Bakchen des Euripides geradezu klassischen Signalwert hat. […] Nicht nur die Texte des Alten Testaments, sondern auch zentrale Passagen der griechischen Klassik sind offenbar – so das Pathos des Johannes – typologisch auf Christus zu beziehen.« (59) Als weitere Entsprechung von Christus und Dionysos führt Hörisch an, dass der Evangelist Johannes »mainadisch rasen‹« lässt. »Johannes läßt Jesus also eben das tun, was als prototypisch dionysisch gilt.« (59). 289 Zur Bedeutung der Märchen in Thomas Manns Werk vgl. Michael Maar : Geister und Kunst. Neuigkeiten aus dem Zauberberg. Ungekürzte, leicht rev. Ausg. Frankfurt a. M. 1997 [zugl. Bamberg, Univ., Diss., 1995] ; ders.: Geisterbeschwörung. Manns und Andersens Märchen. In : Merkur 49 (1995), 108–119.
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bogen und sein Kleid durchaus wie das Licht des Himmels ?‹« (GW V, 1739) In diesen Worten liegt Jaakobs väterlich-stolze Schelte der weltlichen Güter Ägyptens, aber auch eine Anspielung auf die Ketônet passim, die Joseph einst zum Verhängnis wurde und in welcher Jaakob den Sohn nun dennoch sehen will. Es folgt das Wiedererkennen des Sohnes. Die lächelnden Lippen des Mannes [ Josephs] bildeten das Wort ›Vater‹, und er hielt seine Arme offen ; Jaakob aber streckte die seinen geradeaus vor sich hin, wie wohl ein tastender Blinder tut, und bewegte die Hände wie in verlangendem Winken und doch wie in Abwehr auch wieder ; denn da sie zusammentrafen, ließ er es nicht geschehen, daß Joseph ihm um den Hals fiel und sein Gesicht an seiner Schulter barg, wie er wollte, sondern hielt ihn von sich ab bei den Schultern, und seine müden Augen forschten und suchten bei schräg zurückgelegtem Haupt lange und dringlich mit Leid und Liebe in dem Gesicht des Ägypters, und erkannten ihn nicht. Es geschah aber, daß dessen Augen sich bei dem Anschauen langsam und bis zum Überquellen mit Tränen füllten ; und wie ihre Schwärze in Feuchte schwamm, siehe, da waren es Rahels Augen, unter denen Jaakob in Traumfernen des Lebens die Tränen hinweggeküßt, und er erkannte ihn, ließ sein Haupt sinken an die Schulter des Verfremdeten und weinte bitterlich. (GW V, 1740)
Das Gespräch, das sich nun zwischen Vater und Sohn entspinnt, entfaltet die Quintessenz des Romans und schlägt den Bogen zurück zum Vorspiel Höllenfahrt, indem die Frage nach dem Doppelsegen noch einmal aufgenommen wird. Joseph selbst erkennt den Sinn seines Lebensweges, den er in der klugen Vorsehung Gottes wiedererkennt : ›Straft Er, so meint Er zwar Strafe, und ist diese ernstlicher Zweck ihrer selbst doch Mittel auch wieder zur Förderung größern Geschehens. Dich, mein Vater, und mich hat Er hart angefaßt und uns einander genommen, daß ich dir starb. […] Aber in einem damit meint Er, mich vor euch herzusenden um der Errettung willen, daß ich euch versorgte, dich und die Brüder und dein ganzes Haus in der Hungersnot […].‹ (GW VIII, 1742)
Der Zweck von Josephs ›Karriere‹ war also ein ganz weltlicher, den sein Himmelstraum mächtig befeuert hat, der sich diesem gegenüber jedoch als höchst profan ausnimmt. Die Bedingung für Josephs Karriere war hierbei stets die Bereitschaft, zu dienen, um so von einem Herrn zum nächsthöheren Herrn steigen zu können.
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Dieser Gehorsam290 aber steht im Gegensatz zur leidenschaftlichen Liebe, die Joseph niemals erfahren wird. Jaakob enthüllt ihm den Zusammenhang : ›[M]ein Herz hat dich geliebt und wird dich immer lieben, ob du nun tot seist oder am Leben, mehr denn deine Gesellen. Gott aber hat dir das Kleid zerrissen und meine Liebe zurechtgewiesen mit mächtiger Hand, gegen die kein Löcken ist. Er hat dich gesondert und dich abgetrennt von meinem Hause ; das Reis hat Er vom Stamm genommen und es in die Welt verpflanzt – da bleibt nur Gehorsam. Gehorsam des Handelns und der Beschlüsse, denn das Herz unterliegt nicht dem Gehorsam. Er kann mir mein Herz nicht nehmen und seine Vorliebe, ohne, Er nähme mein Leben. Wenn es nur nicht tut und beschließt, dies Herz, nach seiner Liebe, so ist’s Gehorsam. Verstehst du ?‹ (GW V, 1744)
Die abschließende Frage an Joseph wirkt hier wie an den Leser gerichtet, denn Jaakobs Ausführungen zu Gehorsam und Liebe wollen recht verstanden sein. Jaakob identifiziert Josephs Leben als ein Leben unter dem Primat des Gehorsams, während sein eigenes Leben eines der Liebe ist. Jaakob hat zweimal über die Maßen geliebt und hat damit den eifersüchtigen Gott in seinem Alleinheitsanspruch gekränkt, so dass dieser ihm Rahel291 und Joseph genommen hat. Joseph hingegen hat die, die ihn lieben, gekränkt, dafür aber sein Herz rein gehalten vor Gott und stets dessen Größe anerkannt.292 Er hat nicht, wie der Vater, mit Gott gerechtet (vgl. GW IV, 643 ff.)293 und er hat ihm keinen Anlass 290 Mit Jan Assmann könnte man hier auch von Treue sprechen. In der Treue sieht Assmann den zentralen Aspekt, der den jüdischen Monotheismus seit dem Exodus von allen anderen Religionen unterscheidet. Zudem betont er, dass »›Glaube‹ […] im Alten Testament dasselbe wie ›Treue‹ [heißt]«. Jan Assmann : Exodus. Die Revolution der Alten Welt. München 2015, 11. Im Folgenden : Assmann : Exodus. 291 »Wir haben uns in Frühzeiten an dem Phänomen der lebendigen Eifersucht Gottes versucht aus Anlaß der unzweideutig leidenschaftlichen Heimsuchungen, mit denen der ehemalige Wüstendämon noch bei weit vorgeschrittener Wechselheiligung im Bunde mit dem Menschengeist die Gegenstände zügelloser Gefühlsüppigkeit und der Abgötterei verfolgte, wovon Rahel ein Lied zu singen wußte [Herv. MA].« (GW V, 1135). 292 Und vor allem auch seine »lebendige[ ] Eifersucht«, auf die sich Joseph »besser versteh[t] […] [als] sein gefühlvoller Erzeuger« (GW V, 1135). 293 Die Art und Weise, in der Jaakob um Joseph trauert, kann Gott nicht gefallen, denn »Jaakobs Klage über den Tod von Joseph hebt Konventionen und Sittlichkeit auf, führt den Menschen auf das Animalische zurück. Am Umgang mit Sterben und Tod messen sich Humanität des Menschen und Höhe der Kultur.« Dietrich V. Engelhardt : Die Welt der Medizin im Werk von Thomas Mann. Patient – Arzt, Krankheit – Therapie. In : Arnaldo Benini/Arno Schneider (Hgg.) : Thomas Mann nella storia del suo tempo – in der Geschichte seiner Zeit. Firenze 2007, 71–104, 99 ;
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zur Eifersucht gegeben. In diesem Gehorsam ist er ganz dem Vater-Prinzip und somit dem Geist verpflichtet. Leidenschaft und Lust kennt sein Leben nicht294. Und so zeigt der Roman an Joseph eben nicht die »geglückte Geist-Trieb-Synthese«295, die noch im Roman der Seele entwickelt wurde. In seinem Essay Joseph und seine Brüder definiert Thomas Mann Religiosität ganz im Sinne Josephs : »Sollte ich bestimmen, was ich persönlich unter Religiosität versteh, so würde ich sagen : sie ist Aufmerksamkeit und Gehorsam [Hervorhebung M. A.] ; Aufmerksamkeit auf innere Veränderungen der Welt, und den Wechsel im Bilde der Wahrheit und des Rechten ; Gehorsam, der nicht säumt, Leben und Wirklichkeit diesen Veränderungen, diesem Wechsel anzupassen und so dem Geiste gerecht zu werden.«296 Wie eindeutig es die Sphäre des Vaters ist, die Joseph vor Mut rettet, zeigt sich daran, dass alle männlichen Figuren vor Joseph erscheinen, die für ihn in irgendeiner Weise eine Vaterrolle übernommen hatten.
im Folgenden : Engelhardt : Die Welt der Medizin. Jaakob zieht es nicht nur in Betracht, »in die Grube, das heißt zu den Toten hinabzusteigen und Joseph wiederzuholen« (GW IV, 649), er sitzt auch »nackend […] Haar, Bart und Schultern mit Asche betreut« und schneidet sich »mit einer aufgelesenen Scherbe [in] den Körper« (GW IV, 634). Vgl. hierzu auch : 3. Mose 19,18 : »Ihr sollt kein Mal um eines Toten willen an eurem Leibe reißen […], denn ich bin der Herr.« Auch hier unterscheidet sich Joseph von seinem Vater durch seine »Frömmigkeit zum Tode«, »[d]enn Sympathie ist eine Begegnung von Tod und Leben«. (GW V, 1508). 294 S. auch Rudloff : Pelzdamen, 134 : »[ Joseph] findet sein Glück nur in der Öffentlichkeit. Privates Glück, Liebeserfüllung, ist für ihn nicht vorgesehen.« Zudem wirft die verschmähte Mut-emenet Joseph gar seelische Grausamkeit vor : »›Wie wunderlich du sprichst, Osarsiph […] Grausam und falsch ist deine Rede, – so hält sie doch für Herz und Gemüt nicht im mindesten stand und ist für diese wahrhaftig nicht besser als eine klingende Schelle.« (GW V, 1130 f.) Schöll : »Verkleidet also war ich in jedem Fall«, 23, stellt fest, dass Joseph [und auch Felix Krull] jede Anlage zur Tragik [fehle], denn sie scheitern nicht […]«. Dem möchte ich widersprechen und auf das extrem entbehrungsreiche Leben Josephs verweisen. Der Erzähler selbst gibt in dem Kap. Von Josephs Keuschheit zu bedenken, dass Joseph durchaus Leid erfahren musste und zwar als Strafe Gottes für die übermäßige Liebe Jaakobs zu Rahel, die sich in der Liebe zu Joseph fortsetzt : »Natürlich hatte er [ Joseph] begriffen, daß sein Leiden und Sterben – was immer sonst noch Weittragendes damit bezweckt sein mochte – die Strafe gewesen war für Jaakobs stolzes Gefühl, die Nachahmung einer majestätischen Erwählungslust, die nicht geduldet worden war, – eine höchste Eifersuchtshandlung , die sich gegen den armen Alten gerichtet hatte.« (GW V, 1135 f.). 295 Reents : Schopenhauer-Rezeption, 195. 296 GW XI, 667. Zu Thomas Manns Verhältnis zur Religion s. Christoph Schwöbel : Ironie und Religion. Theologische Bemerkungen zu ihrem Verhältnis in Thomas Manns Werk. In : TMS 45, 167–189 und ders.: Die Religion des Zauberers.
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Was ihn aber vermochte, sich loszureißen und von ihr hinauszufliehen im letzten, äußersten Augenblick, war dies, daß Joseph das Vaterantlitz sah – alle genaueren Fassungen der Geschichte berichten es, und hier sei es als Wahrheit bestätigt. Es ist so : Als es, all seiner Redegewandtheit zum Trotz, beinahe schon mit ihm dahingehen wollte, erschien ihm das Bild des Vaters. Also Jaakobs Bild ? Gewiß, das seine. Aber es war kein Bild mit geschlossen-persönlichen Zügen, das er da oder dort gesehen hätte im Raum. Er sah es vielmehr in seinem Geiste und mit dem Geiste [Hervorhebung M. A.] : Ein Denk- und Mahnbild war es, das Bild des Vaters in weiterem und allgemeinerem Verstande, – Jaakobs Züge vermischten sich darin mit Potiphars Vaterzügen, Mont-kaw, dem bescheiden Verstorbenen, ähnelte es in einem damit, und viel gewaltigere Züge noch trug es alles in allem und über diese Ähnlichkeiten hinaus. (GW V, 1259)297
Deutlicher kann der Geist nicht über die Natur siegen : »Joseph [folgt] dem ›fremden Gott‹ der Heimsuchung nicht.«298 Der Vater-Geist verdrängt den Trieb, – und betrachtet man Josephs weitere Geschichte –, so scheint dies auch endgültig zu sein, denn von einer erotischen Versuchung oder gar Erfüllung ist nicht mehr die Rede, auch nicht in Bezug auf seine spätere Ehe. Was auffällt, ist, dass der Kaufmann, der Joseph nach Ägypten bringt und der Josephs Karriere somit erst durch den geschickten Verkauf an Potiphars Hof ins Rollen bringt, nicht in der Vater-Imago inbegriffen ist. Der Kaufmann, der zwar unzweifelhaft ebenfalls ein Mann und sogar Vater ist, übernimmt jedoch in Bezug auf Joseph eine stark weiblich-konnotierte, genauer, eine mütterliche Rolle, denn er zieht Joseph aus dem Brunnen, rettet somit sein Leben und gebiert Joseph symbolisch ein zweites Mal aus dem Schoß der Natur.299 Diese Rolle wirkt halb und halb wie eine Rollenzuweisung durch Joseph, der als erlösungsbedürftiger Sohn aus dem Brunnen ruft : »Mutter ! Erlöse den Sohn !« und bei seiner Labung zunächst absichtlich stumm bleibt : 297 Der Erzähler betont immer wieder, wie knapp Joseph jungfräulich davonkommt, so auch in einer Erzählervorausdeutung im Kap. Im Land der Enkel : »Welches Weinen sie ihm bereiten, in welche äußerste Gefahr seine Gottesbrautschaft und der Kranz seines Hauptes durch sie geraten und daß es ihrer Narrheit um ein Haar gelingen würde, ihn mit Gott auseinanderzubringen, – der Träumer ließ sich’s nicht träumen, obgleich der vom Lager hängende Lilienarm ihn hätte bedenklich stimmen dürfen.« (GW IV, 826) Die Metaphorik dieser Passage betont zudem noch einmal die weibliche Braut-Rolle, die Joseph gegenüber Gott einnimmt. 298 Rudloff : Pelzdamen, 132. 299 Mit der Errettung aus dem Brunnen und der Trennung von Jaakob beginnt »für Joseph [die] vaterlose Zeit«. In Ägypten sucht er sich »Ersatzväter« (Koopmann : Thomas Mann, 63), die seinen Weg durch das Land des Todes leiten.
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Joseph hätte allenfalls reden können, so hinfällig war er. Aber er wollte nicht […]. Darum sah er den Alten nur ersterbend an und lächelte hilflos, […] Er bekam Milch und trank sie aus einem Hafen, den ein Sklave ihm hielt, denn seine Arme waren lahm von der Fesselung. Er trank so gierig, daß ihm ein guter Teil der Milch […] ganz sanft wieder hervorlief, wie einem Säugling. (GW IV, 592 f.)
Der Kaufmann ist also in seiner Funktion zu stark mütterlich gezeichnet, als dass er als Warnung vor der Verführung durch die Frau dienen könnte. Und im Kapitel Von Josephs Keuschheit, das vom Widerstreit zwischen Körper Geist handelt, wird betont, wie sehr das Prinzip des Unteren der Zukunft und damit dem Geist entgegensteht : Der Gott der Väter Josephs war ein geistiger Gott, zum mindesten nach seinem Werdensziel, um dessentwillen er seinen Bund mit dem Menschen geschlossen ; und nie hatte er, in der Vereinigung seines Heiligungswillens mit dem des Menschen, etwas zu schaffen gehabt mit dem Unteren und dem Tode, mit irgendwelcher im Fruchtbarkeitsdunkel hausenden Unvernunft. (GW V, 1142)
Und mit diesem »Unteren« hat auch Joseph ernstlich nichts zu schaffen. Joseph partizipiert zwar am Mythos, der zum »Unteren« zu rechnen ist, diese Partizipation bleibt aber bewusste Anspielung, er spielt die mythischen Muster nicht komplett durch300. So ist er etwa der auferstandene Tammuz, aber keineswegs der liebende Tammuz. Die Aspekte des Mythos, deren sich Joseph bedient, können wiederum stärker der geistigen Sphäre zugerechnet werden. Würde Joseph vom Osiris-Mythos nicht nur seinen Namen für sich beansprucht haben, sondern Osiris als wahre Alternative und Identifikationsmöglichkeit für sich sehen, könnte er ohne Bedenken auf Mut-em-Enets Verführung eingehen, in dem Wissen, dass sie die Wiederverkörperung der Isis ist : ›Mit der Mutter schläft jeder – weißt du das nicht ? das Weib ist die Mutter der Welt ; ihr Sohn ist der Mann, und jeder Mann zeugt in der Mutter – muß ich dir das Anfänglichste sagen ? Isis bin ich, die große Mutter, und trage die Geierhaube ! Mut ist mein Muttername, und du sollst mir den deinen nennen, holder Sohn, in süßer zeugender Weltennacht …‹ (GW V, 1175).
300 Wie etwa sein Vater Jaakob, der sich schlafwandlerisch-wissend der falschen Braut leidenschaftlich (!) hingibt, um seine Rolle, das Muster zu erfüllen.
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Dass dies nicht Josephs Welt ist, er sich stattdessen ganz der Vatersphäre verschrieben hat, macht er unmissverständlich deutlich : ›Nicht so, nicht so !‹ sprach Joseph ihr eifrig entgegen. ›Es ist nicht richtig, wie du es meinst und verkündigst, – ich muß deine Ansicht verbessern. Der Vater der Welt ist kein Muttersohn, und nicht von einer Herrin wegen ist er der Herr. Ihm gehöre und vor ihm wandle ich, ein Vatersohn, und ein für alle mal sage ich dir : ich will nicht dergestalt sündigen wider Gott den Herrn, dem ich gehöre, daß ich den Vater schände und morde und mit der Mutter ein Paar mache als schamloses Flußpferd. […]‹ (GW V, 1175 f.)
Joseph bleibt so lange keusch und »hatte die Kunst zu warten, bis es gut war und nicht mehr böse.« (GW V, 1513) Hiermit ist Josephs Ehe mit Asnath, dem »Mädchen«, gemeint, die »unter königlichem Protektorat« (GW V, 1134) gestiftet wird, also »eine vom Vaterrecht gestiftete Pflichtehe«301 darstellt. Wieso ist aber nun das Böse gut ? Weil Joseph bis zum höchsten weltlichen Herrn, dem Pharao, vorgedrungen ist und somit sein Lebensweg, dem Höchsten zu dienen, beendet ist. Denn bis zu Gott kann er nicht vordringen oder kann es Zeit seines Lebens nur im Traume, der ihm zwar Stärkung gibt, der sich aber nur im übertragenen Sinne verwirklichen lässt. Das Resonanz- oder Adressatenproblem, dem der Gläubige sich durch den transzendenten Gott ausgesetzt sieht, hat Joseph klug dadurch gelöst, dass er sein Dienen für den Höchsten auf die weltlichen Herren überträgt302, und hierin dann rückblickend die Erfüllung seiner Träume sieht. Auch Josephs Keuschheit findet so zweierlei Begründung : eine transzendente und eine irdische. Dies war der erste Grund, weshalb Joseph sich der Lust verweigerte von Potiphars Weib : Er war gottverlobt, er übte kluge Rücksicht, er trug dem besonderem Schmerze Rechnung, den Treulosigkeit zufügt dem Einsamen. Das zweite Motiv war eng mit diesem ersten verbun301 Rudloff : Pelzdamen, 133. Rudloff betont weiter, dass »hier […] bürgerliche Pflichterfüllung [waltet], Liebe stellt sich bestenfalls als eine Anstrengung guten Willens ein : ›Selbstverständlich steht bei einer solchen von anderen beschlossenen Staatsheirat die Liebe nicht am Anfang der Dinge ; sie hat sich zu finden und findet sich mit der Zeit zwischen gut gearteten Wesen.‹« 302 Vgl. GW V, 1138 : »Die Gleichsetzung und spielerische Verwechselung des überhaupt Höchsten mit dem vergleichsweise und an seinem Orte Höchsten, die sich im Kopfe des Abrahamsenkels vollzog […]«. Dass Joseph auf diese Weise sein weltliches Streben mit göttlichem Sinn anreichern kann, resultiert aus seinem grundsätzlichen Hang zur spielerischen, mythischen Identifikation, die eng mit der Vorstellung der »rollenden Sphäre«, »daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können« (GW IV, 190), verbunden ist.
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den, es war nur das Spiegelbild davon und sozusagen dasselbe in irdisch-verbürgerlichter Form : Es war die im Bunde mit dem gen Westen gegangenen Mont-kaw befestigte Treue zu Potiphar, dem heiklen Herrn, dem Höchsten im nächsten Kreise. (GW V, 1138)
Weltliches Streben wird mit göttlichem Sinn verknüpft, der Josephs Werdegang erst möglich macht, da hierzu der Glaube an die eigenen Begabungen gehört. Das theologische Staatskonzept des Gott-Königs Pharao erweist sich in seiner Struktur dabei als äußerst förderlich für Josephs Dienst am Höchsten. So besitzt der Pharao gleichsam zwei ›Körper‹303, einen menschlichen und einen göttlichen. Stirbt der eine Pharao, rückt sein Sohn auf den Thron, der Posten des Pharaos ist also nie vakant. Das Prinzip des Pharaos ist demnach etwas Abstraktes, das auch ohne den konkreten, individualisierten Körper fortbesteht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass der Pharao, anders als Könige, der auf der Erde in Erscheinung tretende Gott ist. Der Pharao ist also nicht nur der Herrscher von Gottes Gnaden, sondern Gott selber. Dass die unterschiedlichen Herrscher alle im Grunde genommen immer den einen Gott vorstellen, wird bereits im Vorspiel Höllenfahrt thematisiert. Die Könige von Babel und beider Ägypten, jener bartlockige Kurigalzu sowohl wie der Horus im Palaste zu Theben, genannt Amun-ist-zufrieden, und alle ihre Vorgänger und Nachfolger waren Erscheinungen des Sonnengottes im Fleische – das heißt, der Mythus wurde in ihnen zum Mysterium, und zwischen Sein und Bedeuten fehlte es an jedem Unterscheidungsraum. (GW IV, 32)
Hinzu kommt, dass der Pharao, der Joseph zum zweiten Mann im Staat macht, nicht irgendein Pharao ist, sondern Amenhotep, der sich den Götternamen Echnatôn gegeben hat, und den Thomas Mann anachronistisch in die Väterzeit versetzt. Pharao wirkt wie eine zeitgenössische, moderne Figur, die in die Kulissen des alten Ägyptens versetzt wurde. Stark verfremdet, wird er als ein dekadenter, »verwöhnte[r]« (GW V, 1415) und »vornehme[r] Engländer[ ]« (GW V, 1414) beschrieben, als »überfeinerte[r] und zärtliche[r] Knabe«304. Echnatôn ist seiner Zeit weit voraus. Er will den monotheistischen Glauben an den Sonnengott Atôn durchsetzen und opponiert damit gegen die reaktionären Kräfte im Land, die an 303 Was in der Heroldsformel »Le roi est mort, vive le roi« (»Der König ist tot, es lebe der König !«) zum Ausdruck kommt und ursprünglich die Kontinuität der französischen Erbmonarchie anzeigen sollte. 304 GW XI, 662 (Joseph und seine Brüder. Ein Vortrag).
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der alten Staatsreligion des Amun-Kultes festhalten wollen. Amun ist ein Gott des Bewahrens, der alles Fremde und Neue ablehnt. Atôn hingegen ist ein Gott der Neuerung, seine Installierung ist gleichbedeutend mit einem Demokratisierungsprozess, der alle Menschen vor Gott gleichstellen soll. Dieser Sonnengott kommt der Gottesvorstellung Josephs bereits sehr nahe. Neben dem Verbot der Vielgötterei stimmen beide Religionen auch in ihrem strikten Bilderverbot überein. Hier hält sich Thomas Mann erneut nicht an die Daten der biblischen Geschichte und nimmt eine bedeutende Änderung vor. Während er den Pharao nur zeitlich versetzt, transferiert er das Bildverbot – ebenso wie das strikte Fremdgötterverbot – schon in den Anfangsbund zwischen Gott und Abraham. Die biblische Tradition hingegen schreibt beide Verbote erst dem Bundschluss zwischen Mose und Jahwe am Berg Sinai zu. Jan Assmann nennt diesen bewussten Anachronismus eine »Verschärfung oder normative Aufrüstung der vormosaischen Religion«.305 Im theologischen Disput zwischen Joseph und Echnatôn korrigiert Joseph dessen Gottesbild, indem er Echnatôn in der Deutung seiner eigenen Träume auf die Sprünge hilft. ›Hast Du das gehört, Mama ?‹ fragte Amenhotep […]. ›Hast du die Botschaft gehört, die mein himmlischer Vater mir sendet durch diesen Jüngling-Mann […], der mir meine Träume deutet ? Denn ich will es nur sagen, daß ich nicht alles gesagt habe, was mir gesagt wurde in der Ergriffenheit, sondern indem ich’s verschwieg, hab’ ich’s vergessen. Als ich aber hörte : ›Nicht den Atôn sollst du mich nennen, sondern den Herrn des Atôn‹, da vernahm ich auch dies noch : ›Rufe mich nicht an als deinen Vater am Himmel, es ist verbesserungsbedürftig. Deinen Vater im Himmel sollst du mich heißen !‹ […]‹ (GW V, 1468)
Damit erlangt der neue Gott der Ägypter die wichtigste Eigenschaft des Vater-Gottes : Transzendenz. Auch in Bezug auf das Gottesbild Echnatôns kommt es also auf die richtige Auslegung der Träume an und darauf, welchen Sinn man ihnen beimisst. Das Deuten liegt immer in der Hand der Menschen. Die historische Regentschaft dieses Pharaos umfasst jedoch nur eine sehr kurze Zeitspanne und weist nicht in die Zukunft. Dies zeigt allein der Umstand, dass aus der Ehe des Pharaos ausschließlich Töchter hervorgehen, ein männlicher Erbe zur Sicherung der Dynastie fehlt demnach. Und schon bald nach Josephs und Echnatôns Tod wird das jüdische Volk in Ägypten in den Frondienst treten. Auf diese düstere Zukunft des Volkes Israel weist der Roman bereits hin : 305 Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 85.
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Nun stellte sich heraus, daß die Verkündigung, die nicht umsonst mit Schrecken und großer Finsternis verbunden gewesen war, weiter reichte und offenbar auf das nun zu erwandernde Land zielte : Mizraim, das ägyptische Diensthaus. So hatte Jaakob das streng verwaltete Unterland mißbilligend immer genannt, nicht aber dabei vermeint, daß es seinem eigenen Samen zum Diensthaus werden sollte – wie ihm nun sorgenvoll klar wurde. (GW V, 1723)
Entsprechend hierzu heißt es in 1. Mose 1, 1 : Als nun Josef gestorben war und alle seine Brüder und alle, die zu der Zeit gelebt hatten, wuchsen die Nachkommen Israels und zeugten Kinder und mehrten sich und wurden überaus stark, so daß von ihnen das Land voll ward. Da kam ein neuer König auf in Ägypten, der wußte nichts von Josef und sprach zu seinem Volk : Siehe, das Volk Israel ist mehr und stärker als wir. Wohlan, wir wollen sie mit List niederhalten, daß sie nicht noch mehr werden.
Mit Josephs Tod und der Einsetzung eines neuen Pharaos ist die friedliche Koexistenz des Volkes Israel mit den Ägyptern beendet. Auch der Josephroman spielt, wie oben angeführt, auf diese Entwicklung an. Die errichtete Ordnung ist also wenig zukunftsträchtig. Kehren wir noch einmal zum Zwiegespräch zwischen Jaakob und Joseph zurück. Auch Jaakob kennt den Sinn von Josephs Träumen. Die Erfüllung der Träume bedeutet zugleich Josephs Ausschluss aus der Stammesgemeinschaft. ›Dich hat Er erhöht und verworfen, beides in einem ; ich sag’s dir’s ins Ohr, geliebtes Kind, und du bist klug genug, es hören zu können. Er hat dich erhöht über deine Brüder, wie du dir’s träumen ließest – ich habe, mein Liebling, deine Träume immer im Herzen bewahrt. Aber erhöht hat Er dich über sie auf weltliche Weise, nicht im Sinne des Heils und der Segenschaft – das Heil trägst du nicht, das Erbe ist dir verwehrt.‹ […] ›Du bist gesegnet, du Lieber‹, fuhr Jaakob fort, ›gesegnet vom Himmel herab und von der Tiefe, die unten liegt, gesegnet mit Heiterkeit und Schicksal, mit Witz und mit Träumen. Doch weltlicher Segen ist es, nicht geistlicher. Hast du je die Stimme absprechender Liebe vernommen ? So vernimmst du sie jetzt an deinem Ohre, nach dem Gehorsam. Auch Gott liebt dich, Kind, spricht Er dir gleich das Erbe ab und hat mich gestraft, weil ich’s heimlich dir zudachte. Der Erstgeborene bist du in irdischen Dingen und ein Wohltäter, wie den Fremden, so auch Vater und Brüdern. Aber das Heil soll nicht durch dich die Völker erreichen, und die Führerschaft ist dir versagt. […]‹ (GW V, 1744 f.)
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Textanalyse : Joseph und seine Brüder
Das Heil, das in der Zukunft liegt, kann nicht durch Joseph selbst in die Welt kommen, da sein Schaffen ganz auf die Gegenwart gerichtet ist. Denn es ist seine Person, seine ausgeprägte Individualität, um die es in der Geschichte von Joseph und seinen Brüdern geht. Es geht um das »Fest der Erzählung«, das Joseph veranstaltet. Dieses Fest ist einmalig in seiner Inszenierung. Um Joseph dennoch einen Platz zuzuweisen, verfährt Jaakob wie Gott, der »gönnte, indem Er […] verweigerte«. (GW V, 1745) ›Du bist der Gesonderte. Abgetrennt bist du vom Stamm und sollst kein Stamm sein. Ich aber will dich erhöhen in Väter-Rang, dadurch, daß deine Söhne, die Erstgeborenen, sein sollen wie meine Söhne. Die du noch erhältst, sollen dein sein, diese aber mein, denn ich will sie annehmen an Sohnes Statt. Du bist nicht gleich den Vätern, mein Kind, denn kein geistlicher Fürst bist du, sondern ein weltlicher. Sollst aber dennoch an meiner Seite sitzen, des Stammvaters, als ein Vater von Stämmen. […]‹ (Ebd.)
Das Kapitel endet mit den bedeutungsvollen Worten : »Da löste Israel die Umhalsung«. (Ebd.) Von diesem Zwiegespräch dringt nichts zu den übrigen Brüdern, sie hören erst in der Sterbeversammlung einige Worte Jaakobs an Joseph. Und dieser scheint, nach der mythisch-berauschten Verkündung von Dionysos/Christus, auch wieder im Hier und Jetzt zu sein. Unter der »bleiche[n] Segenshand« (GW V, 1802) des Vaters resümiert der Betagte abermals das Lebenswerk Josephs, dem etwas geglückt ist, »was wenigen glückt : Gunst zu finden vor Gott und den Menschen.« (GW V, 1804) Dies ist Josephs Segen, »es ist ein lieblicher Segen, aber der höchste und strengste nicht.« Auch nicht der Doppelsegen des Geistes und der liebenden Seele, wie er im Roman der Seele entworfen wird. Denn Josephs Leben war »Spiel und Anspiel […] vertraulich, freundliche Lieblingsschaft, anklingend ans Heil, doch nicht ganz im Ernste berufen und zugelassen.« (Ebd.) Der Segen geht also nicht an den Außergewöhnlichen über, der in seiner Schönheit und Klugheit, in seinem Witz und seiner Artistik alle überragt, sondern an den »Geplagte[n]«306 (GW V, 1798), an den Gewöhnlichen, der in seiner Zerrissenheit und seinem Durst nach Reinheit bereits auf Thomas Manns Mose-Figur verweist.
306 S. auch GW VIII, 855 : »Das sah der Geplagte [Mose] ein, nickte mit dem Kopf zu Jahwe’s Worten, während er auf dem Angesicht lag, und stand wieder auf zu seiner Plage.«
3. Textanalyse : Das Gesetz
Meine Freunde ! Beim Auszug aus Ägypten ist sowohl getötet wie auch gestohlen worden. Nach Mose’s festem Willen sollte es jedoch das letzte Mal gewesen sein. Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal noch gründlich dabei zu verunreinigen ?1
Das Buch Exodus enthält die wahrscheinlich grandioseste und folgenreichste Geschichte, die sich Menschen jemals erzählt haben.2 3.1 Sozialisation und Ausbildung Moses Mit seiner eigenwilligen Bearbeitung des Mose-Stoffs kehrt Thomas Mann erzählerisch nach Ägypten zurück und beginnt erneut, die Geschichte einer zentralen alttestamentarischen Figur so zu berichten, wie sie sich nach seiner Auffassung wirklich zugetragen habe. Auch Mose ist ein Ausgesonderter, der jedoch nicht stolz wie Joseph und seine Brüder auf eine lange Tradition der Stammväter zurückblicken kann, seine Herkunft ist äußerst heikel und bedeutet Makel und Auszeichnung zugleich. Doch gerade die heiklen Umstände seiner Herkunft machen es dem Thomas Mann’schen Mose möglich, zum göttlichen Gesetzgeber zu werden. Während Joseph durch seine Sozialisation, das artistische Spiel mit den Mythen und seine außergewöhnliche Bildung vor dem Frondienst bewahrt bleibt, ist es Moses »unordentlich[e]« (GW VIII, 838) Abstammung, die ihn vor dem Sklavendient bewahrt. Mose kann nicht, wie Joseph, auf eine lange Ahnentradition zurückblicken, denn er ist ein »Findling und Schilfknabe« (GW VIII, 812), wenn auch mit besonderen Bewandtnissen.
1 GW VIII, 829 2 Assmann : Exodus, 19.
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Textanalyse : Das Gesetz
Thomas Mann greift für die Gestaltung seiner Mose-Figur die These Sigmund Freuds auf, Mose, und damit die Identifikationsfigur des jüdischen Volkes3, sei ägyptischer Abstammung gewesen.4 Nun ist Mose bei Thomas Mann aber nicht Ägypter, sondern Halb-Ägypter5 : Seine leibliche Mutter ist die Tochter des Pharaos, die Mose mit einem hebräischen Sklaven zeugt. Ramessu’s, des Pharao’s, zweite Tochter ergötzte sich mit dienenden Gespielinnen und unterm Schutze Bewaffneter in dem königlichen Garten am Nil. Da wurde sie eines 3 »Einem Volkstum den Mann abzusprechen, den es als den größten unter seinen Söhnen rühmt, ist nichts, was man gern oder leichthin unternehmen wird, zumal wenn man selbst diesem Volke angehört.« (Freud : Der Mann Moses, 459). 4 Freud stützt seine These vor allem auf die ägyptische Herkunft des Namens ›Mose‹. Seine ägyptische Abstammung würde zudem auch Moses Sprachprobleme erklären, von denen die Bibel berichtet. (Vgl. 2. Mose 4 : »Mose aber sprach zu dem Herrn : Ach mein Herr, ich bin je und je nicht wohl beredt gewesen, auch nicht seit der Zeit, da du mit deinem Knecht geredet hast ; denn ich habe eine schwere Sprache und eine schwere Zunge. Der Herr sprach zu ihm : Wer hat dem Menschen den Mund geschaffen ? Oder wer hat den Stummen oder Tauben oder Sehenden oder Blinden gemacht ? Habe ich’s nicht getan, der Herr ? So geh nun hin : Ich will mit deinem Munde sein und dich lehren, was du sagen sollst. Mose sprach aber : Mein Herr, sende, welchen du senden willst. Da ward der Herr sehr zornig über Mose und sprach : Weiß ich denn nicht, daß dein Bruder Aaron aus dem Stamm Levi beredt ist ? Und siehe, er wird herausgehen dir entgegen ; und wenn er dich sieht, wird er sich von Herzen freuen. Du sollst zu ihm reden und die Worte in seinen Mund legen. Und ich will mit deinem und seinem Munde sein und euch lehren, was ihr tun sollt.«) Darüber hinaus führt Freud Moses Monotheismus auf den Echnatons zurück : »Wenn Moses ein Ägypter war und wenn er den Juden seine eigene Religion übermittelte, so war es die des Ikhnaton, die Atonreligion.« (Freud : Der Mann Moses, 475 ; vgl. auch Jan Assmann : Moses der Ägypter : Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frankfurt a. M. 62007 ; im Folgenden : Assmann : Moses der Ägypter) Während bei Freud Moses den Aton-Glauben dahingehend transzendiert, dass Gott nicht die Sonne ist, sondern der Herr der Sonne, so ist es bei Thomas Mann Joseph, der dies den jungen Echnaton lehrt. Auch Jan Assmann geht davon aus, dass der historische Moses ein Ägypter und der Begründer eines ersten reinen Monotheismus war. Die inzwischen viel aufgegriffene und kontrovers diskutierte Wendung »Mosaische Unterscheidung« geht auf Assmann zurück. (Assmann : Moses der Ägypter, 17) Zum historischen Moses äußert sich Assmann auch später in Exodus, 54–78. Freud geht zudem, ebenso wie Goethe, davon aus, dass Moses einer Revolte zum Opfer gefallen ist und von den Seinen ermordet wurde. (Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von : Israel in der Wüste. In : Goethes Werke, hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen, I. Abteilung, Bd. 7 : Noten und Abhandlungen zu besserem Verständniß des west-östlichen Divans. Weimar 1888, 156–182.). 5 »Jedenfalls bot sie [die hebräisch-ägyptische Abstammung Moses] mir die glückliche Möglichkeit, das zugleich distanzierte und leidenschaftliche Verhältnis des Mannes zu den in Ägypten lebenden hebräischen Stämmen psychologisch zu begründen.« (Brief Thomas Manns an Leon Rains vom 15.3.1944, zitiert bei Hansen : Das Gesetz und Heines Moses-Bild, 76).
Sozialisation und Ausbildung Moses
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ebräischen Knechts gewahr, der Wasser schöpfte, und fiel in Begierde um seinetwillen. Er hatte traurige Augen, ein Jugendbärtchen ums Kinn und starke Arme, wie man beim Schöpfen sah. Er werkte im Schweiß seines Angesichts und hatte seine Plage ; für Pharao’s Tochter aber war er ein Bild der Schönheit und des Verlangens, und sie befahl, daß man ihn zu ihr einlasse in einen Pavillon ; da fuhr sie ihm mit dem kostbaren Händchen ins schweißnasse Haar, küßte den Muskel seines Arms und neckte seine Mannheit auf, daß er sich ihrer bemächtigte, der Fremdsklave des Königskindes. Als sie’s gehabt, ließ sie ihn gehen, aber er ging nicht weit, nach dreißig Schritten ward er erschlagen und rasch begraben, so war nichts übrig von dem Vergnügen der Sonnentochter. (GW VIII, 811 f.)
Oder eben doch, denn Mose ist das Produkt dieses kurzen Vergnügens und entstammt somit einer kurzen Leidenschaft zwischen Sklave und Herrin, die tödlich für den Beherrschten endet. Nach seiner Geburt wird Mose in einem »verpichten Kästlein« »im Schilf« ausgesetzt, zum Schein sogleich als ›Findling‹ wiedergefunden und in die Obhut von Amram und Jochebed, einem »Mann[ ] aus Levi’s Samen«, gegeben. (GW VIII, 812) Mose wächst also bei Mitgliedern des Volkes seines Vaters auf. Und so heißt es schließlich über Moses heikle Herkunft : »Sein Vater war nicht sein Vater, und seine Mutter war seine Mutter nicht, – so unordentlich war seine Geburt.« (GW VIII, 811) Mose ist ein Kind der Unordnung, der ungezügelten Leidenschaft – und der Gewalt. Er gehört weder zu den Ägyptern, noch zu den Hebräern ; diesen defizitären Zustand zeigt auch sein ungewöhnlicher Name an : Sie [Amram und Jochebed] wußten aber nicht, wie sie das fragliche Knäblein nennen sollten ; darum gaben sie ihm einen halb ägyptischen Namen, will sagen : die Hälfte eines ägyptischen. Denn öfters hießen die Söhne des Landes Ptach-Mose, AmenMose oder Ra-Mose und waren als Söhne ihrer Götter genannt. Den Gottesnamen nun ließen Amram und Jochebed lieber aus und nannten den Knaben kurzweg Mose. So war er ein ›Sohn‹ ganz einfach. Fragt sich eben nur, wessen. (GW VIII, 812)6
Bereits der Name als das identitätsstiftende Signum7 schlechthin ist bei Mose unvollständig und zeigt zudem an, dass es noch eines Gottes bedarf, um ihn zu vervollständigen. 6 Vgl. auch Freud : Der Mann Moses, 460 f. 7 Um Unordnung zu überwinden, bedarf es der Differenzierung, und diese wird auch über den Namen geleistet : »In der Dimension der kognitiven und sprachlichen Welterschließung ist die Be-
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Doch seiner Herkunft, genauer gesagt der ägyptischen Hälfte, hat Mose auch seine außergewöhnliche Schullaufbahn zu verdanken : Mose nun, angeblich des Amram Sohn, hätte, als er dem Knabenalter entwuchs, wohl ebenfalls für Pharao Ziegel streichen müssen. Das geschah aber nicht, sondern der Jüngling wurde von seinen Eltern genommen und nach Ober-Ägypten in ein Schulhaus gebracht, so ein sehr feines Internat, wo die Söhne syrischer Stadtkönige zusammen mit einheimischen Adelssprossen erzogen wurden. Da wurde er hingetan ; denn seine leibliche Mutter, […] ein zwar lüsternes, aber nicht gemütloses Ding, hatte sein gedacht um seines verscharrten Vaters willen […] und wollte nicht, daß er bei den Wilden bleibe, sondern zum Ägypter gebildet werde und ein Hofamt erlange, in halber, verschwiegener Anerkennung seiner göttlichen Halbblütigkeit. So lernte denn Mose, gekleidet in weißes Leinen und eine Perücke auf dem Kopf, Stern- und Länderkunde, Schriftkunst und Recht […]. (GW VIII, 814)
Mose ist also durchaus ein gebildeter Mann. Dass er zum Gesetzgeber und Verfasser der Zehn Gebote werden kann, d. h., dass er hierzu schlicht das juristische Wissen und die schrifttechnischen Fähigkeiten besitzt, hat er seiner Schullaufbahn in Ägypten zu verdanken. Doch das Blut des Vaters wirkt stärker in ihm als das der Mutter, und so ist er nicht glücklich unter den Gecken des vornehmen Internats, sondern ein Einsamer unter ihnen, voller Abneigung gegen die ganze ägyptische Feinheit, aus deren Lust er entsprungen war. Das Blut des Verscharrten, der dieser Lust hatte dienen müssen, war stärker in ihm als sein ägyptischer Teil, und in seiner Seele hielt er es mit den armen Gestaltlosen daheim in Gosen, die nicht Mut hatten zu ihrem Ingrimm, hielt es mit ihnen gegen den lüsternen Dünkel des Mutterblutes. (Ebd.)
Seine »unordentliche« Herkunft und seine ›Halbblütigkeit‹ finden ihren Ausdruck in seiner Sprache, die er eben auch nur halb beherrscht : Denn er war stockend gestauten Wesens überhaupt und neigte in der Erregung zum Zungenschlag, war aber außerdem so recht in keiner Sprache zu Hause und suchte in dreien herum beim Reden. Das Syro-Chaldäisch, das sein Vaterblut sprach und das er nennung das erste : Die Benennung von Individuen, Arten, Eigenschaften nimmt Unterscheidungen vor, identifiziert das eine in Ablehnung vom anderen, bildet die Grundlage zur Formulierung von Relationen, Strukturen und Ganzheiten.« (Angehrn : Überwindung, 169).
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von seinen Eltern gelernt, war überdeckt worden vom Ägyptischen, das er sich in dem Schulhause hatte aneignen müssen, und dazu kam das midianitische Arabisch, das er solange in der Wüste gesprochen. So brachte er alles durcheinander. (GW VIII, 817)8
Während Sigmund Freud Josephs »Sprachhemmung« oder »Sprachfehler«9 auf sein Hebräisch bezieht und davon ausgeht, dass Mose hingegen des Ägyptischen sehr wohl mächtig war, weitet Thomas Mann Moses »Zungenschlag« zu einer generellen Sprachschwäche aus, wie auch die entsprechende Bibelstelle gedeutet werden könnte. Bei Freud ist Mose also ein »Anderssprachiger«10, bei Thomas Mann hingegen beherrscht Mose aufgrund seines ›brüchigen‹ Lebenslaufs keine Sprache hinreichend. Der Gegensatz zu Joseph könnte nicht größer sein : Während Joseph sein Ich spielerisch und äußerst erfolgreich unter Annahme fremden Kulturguts11 konstruieren kann, schlägt bei Mose eine Akkulturation völlig fehl. Er entbehrt einer identitätssichernden Rückbindung an eine traditionsreiche Ahnenfolge, und so weiß er nicht, wie Joseph, wer er ist12. Seine ›gemischte‹, unordentliche Herkunft lässt ihn zum radikalen Verfechter der Belange des ›Vaterbluts‹ werden, während er das »Mutterblut« in sich, aber auch in Form des ägyptischen Volkes, das ihm zum Feind wird, bekämpfen muss. Es geht also gleichsam ein Riss durch ihn, doch gerade dieser wird zum Motor seiner Gesetzgebung. 3.2 Die Voraussetzung : Leidenschaft »Seine Geburt war unordentlich, darum liebte er leidenschaftlich Ordnung, das Unverbrüchliche, Gebot und Verbot.« (GW VIII, 808) An dieser Stelle seien 8 Wolf-Daniel Hartwich : Prediger und Erzähler, 46, weist auf die unterschiedlichen Stati der verschiedenen Idiome hin : »So wird […] der Predigtstil Moses als eine Mischung verschiedener Idiome charakterisiert, die ungleiche soziale Kontexte und Stillagen indizieren. Die hebräische Sklavensprache entspricht dabei dem niederen Stil, die gelehrte Hieroglyphik Ägyptens der elaborierten mittleren Lage, während die arabische Wüstensprache traditionell mit dem poetisch Erhabenen assoziiert wird.« 9 Freud : Der Mann Moses, 482. 10 Ebd., 483. 11 Diese Annahme erfolgt sehr bewusst und zielgerichtet, nämlich in Hinblick darauf, gesellschaftlich erfolgreich zu sein und das Vertrauen des jeweiligen Herrn zu gewinnen. Es geht hier keinesfalls um eine vollständige Assimilation. 12 »›Wer bist du, daß du deine Ziegennase in Dinge steckst, die dich nichts angehen ? Aha, Moscheh bist du, des Amram Sohn, aber damit ist wenig gesagt, und weiß niemand recht, wer du bist, du selber auch nicht.‹« (GW VIII, 816).
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die ersten Worte der Novelle nachgereicht, die bereits Moses inneren Antrieb für seine Gesetzesinstallation nennen und damit die Dialektik jeder Ordnung enthüllen. Um Sinn für Ordnung zu empfinden, ist es offenbar notwendig, ihr Gegenteil, das Chaos, zu kennen.13 Aber es ist mehr als eine Kenntnis von etwas, die hier beschrieben wird, es geht um das leiblich erfahrene, das durchlebte Chaos. Thomas Mann betont dies zum einen mit der zu Beginn des ersten und des zweiten Kapitels wiederholten Wendung der »unordentlichen Geburt« Moses. Auffallend ist hier der Verweis auf die Geburt Moses, denn eigentlich ist es doch viel eher die Zeugung, die aus der Ordnung fällt und durch den Mord an dem hebräischen Sklaven vertuscht werden soll. Die Geburt eines Menschen verweist jedoch auf den Ursprung, auf den Beginn des Eintritts in die Welt, und dieser erste Kontakt mit der Welt ist hier Unordnung. Diese ist in Moses Körper eingeschrieben, die leitmotivisch verwendete Blutsmetaphorik betont immer wieder den körperlichen Aspekt als etwas, dem man sich nicht entwinden kann, als etwas, das in einem strömt und das sich nur schwer bändigen lässt. Zum anderen wird der Aspekt des durchlebten Chaos dadurch betont, dass Mose die Ordnung »leidenschaftlich« liebt. Mose verspürt also nicht einfach den Wunsch nach Ordnung, sondern liebt diese leidenschaftlich14, ist ihr verfallen. Sein Wille zur Ordnung ist Lust, ist Leidenschaft15 und 13 Hier lassen sich Bezüge zu Sigmund Freuds Theorie über die Entstehung der Kultur erkennen. »Sigmund Freud leitet das Über-Ich und ähnliche Funktionen wie das Gewissen, Kultur, Staat und Recht aus Aggressionen und Destruktionen ab. Über deren innewohnende und ausgeübte Gewalt machte er sich keine Illusionen. Für Sigmund Freud sind beide, der Einzelne wie die soziale Gemeinschaft (Staat, Kultur, Recht), Formen der Gewalt und der Grausamkeit.« (Ralf Rother : Gewalt und Strafe, 39) Vgl. auch Sigmund Freud : Das Unbehagen in der Kultur. In : Studienausgabe, Bd. 9 : Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion. Hrsg. v. Alexander Mitscherlich. Frankfurt a. M 1974, 191–271. 14 Auch der eifersüchtige (»eifernde«) Gott ist ein leidenschaftlicher Gott. Diese beiden Eigenschaften stehen im Zentrum seines Wesens : »Die Idee des eifersüchtigen Gottes ist sicher nicht irgendein marginales und längst überwundenes Zwischenstadium in der Geschichte des Monotheismus. Hier berühren wir vielmehr das Zentrum des monotheistischen Gottesgedankens. Es scheint mir auch vollkommen verfehlt, diese Gottesidee als spezifisch alttestamentarisch darzustellen und ihr den christlichen Gott der Liebe gegenüberzustellen. Die Eifersucht Gottes entspringt ja seiner Liebe und immer ist seine Gnade tausendmal größer als sein Zorn. Es ist ein liebender, der Welt und seinem Volk leidenschaftlich [Hervorhebung M. A.] zugewandter Gott, der zwischen Freund und Feind unterscheidet.« (Assmann : Monotheismus, 33). 15 Moses Hang zu Lust und Leidenschaft zeigt sich vor allem auch in seiner sexuellen Begierde nach der »bekannten Mohrin«, die er »um seiner Entspannung willen« (GW VIII, 855) benötigt. Hier wird nach Vaget »die gelegentliche Suspendierung der verbindlichen moralischen Ordnung« (Kommentar, 279) deutlich. Anstoß an der ganzen Sache nehmen aber vor allem seine eifersüchti-
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trägt somit sein Gegenteil, das Chaos als entgrenzende Macht bereits in sich.16 Moses Liebe zur Ordnung ist dabei auch ein Versuch, eine eigene Identität zu konstruieren, sich seiner in der Welt zu vergewissern, die durch die Umstände seiner Zeugung und seiner Sozialisation ein Hort der Verunsicherung ist. Bei dieser Identitätskonstruktion sind ihm Einteilungen und Unterscheidungen, die ihm das Chaos seiner Welt zu ordnen helfen, von Nutzen. »Das Chaos ist das Negative, das Nichtseiende und Nichtseinsollende. Als Negatives ist es zugleich das zu Negierende : Seinskonstitution ist Überwindung des Chaos, in elementarstem Sinn : Herauskommen aus der Ununterschiedenheit.«17 Zunächst gilt es also zu ordnen, um dann, in einem zweiten Schritt, Neues zu errichten. Der Impuls zur Chaosbewältigung findet seine wirkliche Erfüllung erst in der positiven Errichtung der Gegenwelt, in der Begründung einer ›Welt‹, deren beide Hauptpfeiler die Setzung von Identität […] und die Bildung von Ordnung […] sind. Erst im Medium dieser affirmativen Weltkonstitution gelingt es dem Menschen, der Bedrohung durch das Chaos zu entkommen und sich in seiner Selbständigkeit zu behaupten […].18
Thomas Mann führt dem Leser in seiner Mose-Gestalt also das ordnende Prinzip der Schöpfung an einem Menschen vor, Moses Taten sind somit in die Kreation von Welt eingeschlossen und verdeutlichen ganz immanent uranfängliche Prinzipien. Dabei ist das Überwundene stets zu fürchten : »Das Chaos bleibt als gen Geschwister Mirjam und Aaron, die »ihm sein nahes Verhältnis zu Gott, sein geistliches Meistertum, seine persönliche Erwähltheit zum Werk [neideten], die sie größten Teils für Einbildung hielten ; denn sie erachteten sich für ebenso gut, ja besser als ihn […]« (GW VIII, 856) Die moralische Entrüstung der Geschwister ist also nur Vorwand. Moses Anhänglichkeit an die Mohrin zeigt, dass Mose eben auch ein Sinnenmensch ist und nicht nur »Geist«, wie Kristiansen meint (vgl. Freiheit und Macht, 58, wobei sich Kristiansen damit behilft, Mose als »Natur-Geistige[n]« zu bezeichnen). Mose benötigt seine Leidenschaft, um sich von seiner Arbeit zu erholen, denn »[e] r war ein geplagter Mann […] als Bildner des Volks«. (GW VIII, 855) Der Antagonismus Volk = Natur, Mose = Geist lässt sich so nicht festmachen. 16 Leidenschaft und Lust hier im Sinne des dionysischen Rausches, wie er Thomas Manns Werk im Motiv der »Heimsuchung« durchzieht. »Dionysos ist der Gott, der keine hohe Meinung hat vom Individuationsprinzip, der alles in den Taumel zieht, der ›Weiber zu Hyänen‹ macht, die Grenzen der Geschlechter niederreißt und überhaupt die getrennten Seinsbereiche nach Belieben manipuliert, indem er sie bald als der befreiende, dem Fortschritt und der Evolution verschworene Gott aufs neue trennt und – im Wortsinn – differenziert.« (Frank : Der kommende Gott, 20). Vgl. auch Nietzsche : Geburt der Tragödie bes. Kap. 1 und 2, 25–34. 17 Angehrn : Überwindung, 160. 18 Ebd.
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Überwundenes erhalten, aber auch als Gegenwelt und fortwährende Bedrohung ; Ordnung und Gestalt müssen sich gegen ihre eigene Zerfallstendenz behaupten.«19 Es muss also eine Gewalt geschaffen werden, die die grundsätzliche Tendenz zum Chaos ›in Schach‹ hält, die über das bereits Erreichte wacht.20 Neben der Unordnung ist es eine weitere destruktive Kraft, die Mose bestimmt : die Gewalt. »Er tötete früh im Auflodern, darum wußte er besser als jeder Unerfahrene, daß Töten zwar köstlich, aber getötet zu haben höchst gräßlich ist, und daß du nicht töten sollst.« (GW VIII, 808) Was hier deutlich wird, ist die Zeitlichkeit, deren es bedarf, um Gesetze zu erlassen. Während der Moment des Tötens lustbesetzt ist21, zeitigt die Tat »gräßliche« Konsequenzen, die ein Verbot des Tötens nötig erscheinen lassen. Doch Mose ist nicht nur Täter, er ist auch Opfer von Gewalt, die bleibende Spuren an seinem Körper hinterlässt : Als er zwei Jahre unter den Stutzern gelebt hatte des thebanischen Schulhauses, hielt er es nicht mehr aus, entwich bei Nacht über die Mauer und wanderte heim nach Gosen zum Vatergeblüt. Unter dem strich er bitteren Angesichts herum und sah eines Tages, am Kanal, nahe den Neubauten von Ramses, wie ein ägyptischer Aufseher einen der Fronenden, der wohl lässig gewesen war oder widerspenstig, mit seinem Stock schlug. Erbleichend und mit lodernden Augen stellte er den Ägypter zur Rede, der ihm statt aller Antwort das Nasenbein einschlug, so daß Mose eine Nase mit gebrochenem, flach eingetriebenem Knochen hatte sein Leben lang. Er entriß aber dem Aufseher den Stock, holte fürchterlich aus und zertrümmerte dem Mann den Schädel, daß er tot war auf der Stelle. (GW VIII, 815)
Mose reagiert mit der Tötung des Aufsehers also auf erlittene Gewalt, dies aber höchst unverhältnismäßig. Gewalt potenziert sich hier gefährlich zu einem enormen Kraftakt, der dem Aufseher mit einem Hieb den Schädel zertrümmert. Auffällig ist an dieser Stelle der Satzbau : Die Inversion der Temporaladverbien »sein Leben lang« und »auf der Stelle« betonen beide das Ausmaß der Gewalt. Mose wird ein Leben lang ein durch Gewalt Gezeichneter sein, und für den Aufseher genügt ein heftiger Schlag, um sein Leben zu beenden. Mose emp19 Ebd., 171. 20 »[D]ie Wiederherstellung der Rechtsordnung durch einen Herrscher, das Heraufkommen des neuen Morgens [kann] als erneute Besiegung des Chaos, erneute Schöpfung der Welt begangen werden.« (Ebd., 172) Hier zeigt sich erneut das Prinzip, durch Setzungen, durch Gründungsakte an der Idee der Schöpfung teilzuhaben. 21 Zahlreiche Beispiele für das lustbesetzte Quälen und Töten bringt auch Sofsky : Traktat, Kap. Gewalt und Leidenschaft, 45–63.
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findet nach der Tat seinen Gewaltausbruch als Befriedigung eines natürlichen Bedürfnisses : »Nicht einmal umgeblickt hatte er sich, ob auch niemand es sah. Es war aber ein einsamer Ort und kein Mensch sonst in der Nähe. So verscharrte er den Erschlagenen ganz allein, denn den er verteidigt, der hatte das Weite gesucht ; und es war ihm, als sei ihm nach Erschlagen und Verscharren schon immer zu Sinne gewesen.« (GW VIII, 815f.)22 Mose ist also beherrscht von starken inneren Kräften, die eines Ausgleichs bedürfen, um Moses Triebstruktur zu dämpfen. Nach diesem Ausgleich verlangt es ihn ebenso leidenschaftlich, wie seine ›niederen‹ Triebe, seine Lust an Gewalt und Sinnlichkeit, ihr Recht beanspruchen.23 Aus der Lust am Töten leitet Mose dann das Tötungsverbot ab. Er empfängt das Gebot »Du sollst nicht töten !« also nicht von Gott, sondern leitet es aus dem bereits verübten Verbrechen ab. Die Verletzung des Gebots steht also vor seiner Installation, ja macht seine Installation erst nötig.24 So geschieht es auch mit jedem weiteren der Zehn Gebote. Mose formuliert diese nach ihrer Übertretung bereits mündlich gegenüber dem sündigen Volk, Thomas Mann hält sich hier also nicht an die Chronologie der biblischen Ereignisse.25 Die Gebote ergeben sich dabei aus den Implikationen Gottes : »Für ihn [Mose] war es eine der Implikationen der Unsichtbarkeit Gottes, daß man seines Nächsten Haus nicht begehren solle […].« (GW VIII, 837) 22 Auch in 2. Mose 2, 11–13 tötet Mose einen ägyptischen Aufseher. Wir erfahren jedoch nichts über seine Gedanken nach der Tat. Die Tat wird ebenfalls nicht von Gott geahndet, ganz im Gegenteil, Mose wird ja von Gott auserwählt, das versklavte Volk zu befreien. Moses Gewalt wird hier also legitimiert, denn sie scheint mit den Plänen Gottes in Einklang zu stehen. 23 Thomas Mann stattet Mose also – im Gegensatz zu Joseph – mit einer »sinnliche[n] Komponente« aus. (Gut : Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, 316). 24 Vgl. zu diesem Aspekt auch Benjamin : Zur Kritik der Gewalt, 200 f.: »Denn auf die Frage ›Darf ich töten ?‹ ergeht die unverrückbare Antwort als Gebot ›Du sollst nicht töten‹. Dieses Gebot steht vor der Tat wie Gott ›davor sei‹, daß sie geschehe. Aber es bleibt freilich, so wahr es nicht Furcht vor Strafe sein darf, die zu einer Befolgung anhält, unabwendbar, inkommensurabel gegenüber der vollbrachten Tat. Aus ihm folgt über diese kein Urteil. Und so ist denn im vorhinein weder das göttliche Urteil über sie abzusehen noch dessen Grund. Darum sind die nicht im Recht, welche die Verurteilung einer jeden gewaltsamen Tötung des Menschen durch den Mitmenschen aus dem Gebot begründen. Dieses steht nicht als Maßstab des Urteils, sondern als Richtschnur des Handelns für die handelnde Person oder Gemeinschaft, die mit ihm in ihrer Einsamkeit sich auseinandersetzen und in ungeheuren Fällen die Verantwortung von ihm abzusehen auf sich zu nehmen haben.« 25 Auch im Alten Testament ist vor der eigentlichen Verkündung der Gesetze Gottes (2. Mose 20) bereits die Rede davon, dass Gott seinem auserwählten Volk »Gesetz« und »Recht« (2. Mose 15, 25) mitteilt. Jan Assmann erklärt dieses Phänomen damit, dass man hier »die Spur einer alternativen, vermutlich älteren Version des Auszugsmythos erkennen [kann], die die ›Sinai-Periskope‹ nicht kennt.« (Exodus, 40).
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3.3 Das Mittel : Der unsichtbare Gott Unordnung und Gewalt als Mächte der Auflösung und Zerstörung sind es, die Mose zum Konstrukteur eines Volkes und zum Gesetzgeber werden lassen. Wie kommt aber nun Gott ins Spiel, unter dessen Namen er das Volk einen will ? Und wie ist dieser Gott beschaffen, um Moses Verlangen nach Ordnung zu entsprechen ? Der Drang zum Höchsten wird, wie sein Verlangen nach Ordnung, von Moses Persönlichkeit abgeleitet : »Er war sinnenheiß, darum verlangte es ihn nach dem Geistigen, Reinen und Heiligen, dem Unsichtbaren, denn dieses schien ihm geistlich, heilig und rein.« (GW VIII, 808) Dem inneren Drang nach Anbetung des Höchsten folgend, und hierin dem Stammvater Abraham ähnlich, erkennt Mose in Jahwe den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs26. Jahwe ist unter den »Midianitern, einem rührig ausgebreiteten Hirten- und Handelsvolk der Wüste, zu dem er aus Ägypten […] fliehen mußte, da er getötet hatte, […] ein Gott unter anderen.« (Ebd.) Jahwes Unsichtbarkeit macht keinen Eindruck auf die »Kinder[ ] Midians […] und sie opferten ihm nur, um nichts zu versäumen, niemanden zu kränken und sich von keiner möglichen Seite her Unannehmlichkeiten zuzuziehen.« (Ebd.) Ganz anders Mose : »[K]raft seiner Begierde nach dem Reinen und Heiligen[ ] war [Mose] tief beeindruckt von der Unsichtbarkeit Jahwe’s ; er fand, daß kein sichtbarer Gott es an Heiligkeit mit einem unsichtbaren aufnehmen könne, und staunte, daß die Kinder Midians fast gar kein Gewicht legten auf eine Eigenschaft, die ihm unermeßlicher Implikationen voll zu sein schien.« (Ebd.) Von diesen Implikationen wird noch die Rede sein, denn sie machen Moses Werk erst möglich. Mose muss aber erst erkennen, dass es sich bei Jahwe um einen Gott handelt, der bereits erkannt wurde, den er nun wiederentdecken muss : In langen, schweren und heftigen Überlegungen, […] erschüttert von Eingebungen und Offenbarungen, die in einem gewissen Fall sogar sein Inneres verließen und als flammendes Außen-Gesicht, als wörtlich einschärfende Kundgebung und unausweichlicher Auftrag seine Seele heimsuchten, gelangte er zu der Überzeugung, daß Jahwe kein anderer sei als El’eljon, der Einzig Höchste, El ro’i, der Gott, der mich sieht, – als Er, der schon ›El Schaddai‹, ›der Gott des Berges‹, geheißen, als El’olam, der Gott der Welt und der Ewigkeit, – mit einem Wort, kein anderer Als Abrahams, Jizchaks und Jakobs Gott, der Gott der Väter, will sagen : der Vater der armen, dunklen, in ihrer An26 Im Gesetz verwendet Thomas Mann diese Schreibweise und nicht Jaakob wie in den Josephromanen.
Das Mittel : Der unsichtbare Gott
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betung schon ganz konfusen, entwurzelten und versklavten Sippe zu Hause in Ägypten, deren Blut von Vaters Seite in seinen, des Mose, Adern floß. (GW VIII, 808 f.)
Es ist nicht Gott, der sich des Volkes, mit dem er einst einen Bund geschlossen hat, erinnert27, und er offenbart sich Mose auch nicht als Stimme aus dem brennenden Dornbusch.28 Es ergeht keine göttliche Weisung an Mose, das Volk aus Ägypten in die Freiheit zu führen, seine inneren Kräfte arbeiten vielmehr so stark, dass sie gleichsam als nach außen verlagert erscheinen, ihr innerer Ursprung steht jedoch außer Frage. Der biblische Gott erneuert, oder besser : befestigt den Bund mit Mose noch, indem er ihm seinen bisher verborgenen Namen nennt : Da sagte Mose zu Gott : Gut, ich werde also zu den Israeliten kommen und ihnen sagen : Der Gott eurer Väter hat mich zu euch gesandt. Da werden sie mich fragen : Wie heißt er ? Was soll ich ihnen darauf sagen ? Da antwortete Gott dem Mose : Ich bin der ›Ich-bin-da‹. Und er fuhr fort : So sollst du zu den Israeliten sagen : Der ›Ich-bin-da‹ hat mich zu euch gesandt. Weiter sprach Gott zu Mose : So sag zu den Israeliten : Jahwe, der Gott eurer Väter, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Jakobs, hat mich zu euch gesandt. Das ist mein Name für immer und so wird man mich nennen in allen Generationen.29
In 2. Mose 6 betont dann Gott noch einmal die Exklusivität seiner Namensnen nung gegenüber Mose : »Gott redete mit Mose und sprach zu ihm : Ich bin Jahwe. Ich bin Abraham, Isaak und Jakob als El-Schaddai (Gott, der Allmächtige) erschienen, aber unter meinem Namen Jahwe habe ich mich ihnen nicht zu erkennen gegeben.« Hier wird die Stellung Moses gegenüber den Stammvätern erheblich gestärkt. »Diese Selbstbenamung als sprachkonstitutive Gottesstiftung ist es auch, was den in der Tradition der Erzväter stehenden Moses von diesen unterscheidet. […] Erst im Namen Jahwes wird das Bundesversprechen semantisch als sprachkonstitutive Anwesenheit präsent.«30 Bei Thomas Mann hingegen
27 »Die Israeliten stöhnten noch unter der Sklavenarbeit ; sie klagten und ihr Hilferuf stieg aus ihrem Sklavendasein zu Gott empor. Gott hörte ihr Stöhnen und Gott gedachte seines Bundes mit Abraham, Isaak und Jakob. Gott blickte auf die Söhne Israels und gab sich ihnen zu erkennen.« (2. Mose 2, 23–25). 28 Vgl. 2. Mose 3. 29 2. Mose 3, 13–15. 30 Welbers : Religiöse Semantik, 124.
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ist Jahwe ein landläufig bekannter Name, der nur noch mit seinen Eigenschaften zusammengedacht, der also gleichsam mit Bedeutung angefüllt werden muss. 3.4 Das »gestaltlose« Volk Mose weiß also nun, wem er dienen will und wem ›sein‹ Volk ebenfalls dienen sollte, denn eines reinen, heiligen Gottes bedarf das Volk, da in ihm nur noch wenig von der Würde und Einigkeit der Stammväter übriggeblieben ist. Denn obwohl es in Unfreiheit lebt, begehrt das Volk nicht auf : Sich aber über ihren Mißmut zu verständigen und eines Sinnes darüber zu werden, waren diese Sippen zu locker verbunden und ihrer selbst nicht hinlänglich bewußt. Seit mehreren Geschlechtern in einem Übergangslande zeltend zwischen der Väterheimat und dem eigentlichen Ägypten, waren sie von gestaltloser Seele, ohne sichere Lehre und schwankenden Geistes ; hatten vieles vergessen, einiges halbwegs aufgenommen, und eines rechten Mittelpunktes ermangelnd trauten sie ihrem eigenen Gemüte nicht, auch nicht dem Ingrimm, der darin war, über die Fron, an dem Fisch, Bier und Rindfleisch sie irre machten. (GW VIII, 813 f.)31
Moses »Vaterblut« hat sich also mehr schlecht als recht mit seiner Situation arrangiert ; zwar unzufrieden, aber doch zu träge und zu uneins, verharren sie lieber bei reichlich Speis und Trank in Ägypten. Dieses Volk bietet Moses Gestaltungslust nun die besten Voraussetzungen, denn es ist »gestaltlos« und bedarf in seinen Augen eines einenden Anführers. Er will ein Gegen-Volk zu dem ägyptischen schaffen32, das einen Gegen-Gott, nämlich einen gestaltlosen verehrt, und damit auch sich selber eine Heimat schaffen, die ihn möglichst stark von dem
31 Der Erzähler kommentiert ironisch, dass der Frondienst, der stets mit dem »ägyptischen Stock« überwacht wird, so drückend gar nicht sei : »Dieser Stock war mehr nur das Abzeichen von Pharao’s Aufsehern, sie wurden nicht unnötig damit geschlagen. Auch hatten sie gut zu essen bei ihrer Fron : viel Fisch aus dem Nilarm, Brot, Bier und Rindfleisch recht wohl zur Genüge. Demungeachtet aber paßte und schmeckte die Fron ihnen wenig, denn sie waren Nomadenblut, mit der Überlieferung frei schweifenden Lebens, und stündlich geregelte Arbeit, bei der man schwitzte, war ihnen im Herzen fremd und kränkend.« (GW VIII, 813). 32 Vgl. hierzu Assmann : Das Kulturelle Gedächtnis, 205 : »Mit der Auswanderung aus Ägypten geht es um die Auswanderung aus jeder Art von profaner, unreiner, oppressiver, assimilatorischer, gottesvergessener Umwelt und damit : aus der ›Welt‹ überhaupt.«
Das »gestaltlose« Volk
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verhassten Mutterblut trennt. Hierzu bedarf es zunächst der »Absonderung« (GW VIII, 819) des Volkes, daß er all dies ratlose, zwischen den Gesittungen schwankende Fleisch, diese zeugen den Männer, milchenden Weiber, sich versuchenden Jünglinge, rotznäsigen Kinder, seines Vaters Blut, für sich habe irgendwo draußen im Freien, ihnen den heilig-unsichtbaren Gott, den reinen, geistigen, einprägen, ihnen denselben zum sammelnden, formenden Mittelpunkt setzen könne und sie bilden möge zu seinem Gebilde, zu einer von allen Völkern verschiedenen, Gott gehörigen, durch das Heilige und Geistige bestimmten Volksgestalt, ausgezeichnet vor allen anderen durch Scheu, Unterlassung, Gottesfurcht, das wollte sagen : Furcht vor dem Gedanken der Reinheit, zügelnde Satzung, welche, da der Unsichtbare eigentlich der Gott aller Welt war, zukünftig alle binden, aber für sie zuerst erlassen und ihr strenges Vorrecht sein sollte unter den Heiden. (GW VIII, 819)
Mit der Absonderung des Volkes, die für Mose höchste Priorität hat, begibt sich der Text in das Zentrum des jüdischen Selbstverständnisses : »Am Anfang sind Exil und Diaspora. […] Die Herausführung des Volkes aus Ägypten ist der Gründungsakt schlechthin, der nicht nur die Identität des Volkes, sondern vor allem auch des Gottes begründet.«33 Mose begreift das Volk als Rohmaterial34, als »heillose Masse, die er liebte« und aus der er »eine heilige Gottesgestalt zu metzen« wünschte. (GW VIII, 33 Assmann : Das Kulturelle Gedächtnis, 200/202. Weiter heißt es dort : »Die Herausführung des Volkes aus Ägypten ist der Gründungsakt schlechthin, der nicht nur die Identität des Volkes, sondern vor allem auch des Gottes begründet.« (Ebd., 202) Der »Identitätsstiftungsakt« beruht auf der »Exilbzw. Diasporasituation der Kinder Israels in Ägypten, d[er] Situation der Minorität, der Unterdrückung und des Widerstands gegen den Assimilationsdruck einer materiell überlegenen Kultur.« Ägypten bedeutet : »Bildkunst, Magie, Totenkult und Herrschervergottung« (ebd., 200 f.) – alles, was schon Jaakob im Roman verabscheut hat. Thomas Mann funktioniert den zentralen Gedanken der »Absonderung« dann insofern um, als Mose eine »Werkstatt« für sein Volk benötigt, einen Raum, in dem er in Ruhe an dem Volk arbeiten kann, und einen Ort, an dem sein Volk wachsen kann, und zwar im Wortsinne der Vermehrung. Dies ist auch für Joschua ein wichtiger Aspekt, der bereits eine Streitmacht anwachsen sieht. Im Alten Testament soll der Exodus dabei gerade von »politischer Unterdrückung« (ebd., 200) befreien ; bei Thomas Mann gerät das Volk jedoch in die Fänge Moses, der durch politisch-religiöse Mittel die Triebe des Volkes zu unterdrücken sucht. Von der zentralen »Erinnerungsfigur« (ebd.) ›Exodus‹ bleibt also bei Thomas Mann nicht mehr viel übrig. Vgl. zur Identitätsstiftung durch Abgrenzung auch Angehrn : Überwindung, 173 f.: »Seinskonstitution erfolgt als Begrenzung ; alles Sein als Bestimmtheit ist im Modus der Abgrenzung.« 34 S. auch Hamburger : Thomas Manns biblisches Werk, 243 : »Das Volk der Israeliten ist gleichsam zusammengefaßt zum Begriff der Materie als dem Gegensatz zum Geistigen.«
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835) Das Kreatürliche steht hier im Vordergrund, das der Bearbeitung bedarf und unter strenge Gesetze gestellt werden muss, die das »Pöbelvolk« (ebd.)35 aus Angst vor den Implikationen Gottes einhalten soll. Dies ist jedoch lediglich der erste Schritt, denn in seiner Nachfolge soll die ganze Menschheit diesem Gott gehorchen und sich unter sein Gesetz stellen. Das Volk soll sich, trotz der faktischen Beschneidung seiner Freiheit36, als auserwähltes, privilegiertes Volk begreifen, das zuerst das Vorrecht des Gesetzes erfährt.37 »Dies war Mose’s Lust zum Vaterblut, Bildnerlust, die ihm Eines war mit des Gottes Gnadenwahl und Bundesgewilltheit […].« (GW VIII, 819)38 Mose ist also ein Künstler, sein Rohstoff ist das Volk. Er will ein »Werk der Reinigung und Gestaltung im Zeichen des Unsichtbaren« vollführen, ein Werk des »Bohrens, Wegsprengens und Formens in Fleisch und Blut«.(GW VIII, 840) Als bildender Künstler39 fällt Mose 35 Den Ausdruck übernimmt Thomas Mann von Martin Luther (2. Mose 12, 38 und 4. Mose 11, 4). Dies stieß vor allem in der jüdischen Rezeption auf Empörung, s. hierzu : Vaget : Kommentar, 272 u. 277. In einem Brief vom 1.9.1945 an Otto Basler schreibt Thomas Mann : »Und ›Pöbelvolk‹ heißt einfach : Menschenvolk.« 36 Auch der biblische Text führt vor Augen, dass »[d]er Dienst an JHWH […] zwar die Befreiung aus dem Dienst an Pharao, dem ägyptischen Sklavenhaus […] [bedeutet], aber nicht schlechthin Freiheit, sondern weiterhin Dienst, wenn auch den wahren, von menschlicher Unterdrückung freimachenden Gottesdienst.« (Assmann : Exodus, 338) Durch den ausschließlichen Dienst an Gott entzieht sich der Mensch also dem menschlichen Machtbereich. 37 Die Erwählung des Volkes beruht auf – wie in Josephs Himmelstraum auch – »Gottes Gnadenwahl«. (GW VIII, 819). 38 Moses »eigene Lust [ist] von der des Gottes gar nicht zu unterscheiden«. (GW VIII, 824) Dass sich Gott als eigenes inneres Bedürfnis Moses nach Reinheit und Ordnung äußert, daran lässt der Text keinen Zweifel. Wenn es heißt »Gott tröstete ihn und strafte ihn aus seinem Inneren« (ebd.) und »erschüttert von Eingebungen und Offenbarungen, die in einem gewissen Fall sogar sein Inneres verließen und als flammendes Außen-Gesicht, als wörtlich einschärfende Kundgebung und unausweichlicher Auftrag seine Seele heimsuchten […]« (GW VIII, 809), so zeigt sich hier nach Vaget : Kommentar, 271 die »Umschreibung der in der Philosophie seit Ludwig Feuerbach und in der Religionswissenschaft seit S. Freud geläufige These, daß Gott als Projektion archaischer seelischer Konflikte zu deuten sei.« Zu Feuerbach-Bezügen im Joseph s. Schwöbel : Die Religion des Zauberers, Kap. IV : Feuerbach steht Kopf. Götterbilder und Menschenbilder in den ›Josephs‹-Romanen, 122–210. 39 »Wahrscheinlich unter dem unbewußten Einfluß von Heine’s Moses-Bild, gab ich meinem Helden die Züge – nicht etwa von Michelangelo’s Moses, sondern von Michelangelo selbst, um ihn als mühevollen, im widerspenstigen menschlichen Rohstoff schwer und unter entmutigenden Niederlagen arbeitenden Künstler zu kennzeichnen.« (GkFA 19.1, 419 ; Die Entstehung des Doktor Faustus) Vgl. Heinrich Heine : Geständnisse. In : Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke (DHA). Bd. 15, hrsg. v. Manfred Windfuhr. Düsseldorf 1978, 41 : »Welche Riesengestalt ! […] Ich sah nicht, daß Moses, trotz seiner Befeindung der Kunst, dennoch selber ein großer Künstler war und den wahren Künstlergeist besaß. […] [E]r nahm einen armen Hirtenstamm und schuf daraus ein Volk […].«
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aus der Riege der Künstlerfiguren in Thomas Manns Werk.40 Er ist nicht wie onio Kröger, Gustav von Aschenbach oder Gustav Spinell ein Künstler, der T dem Prinzip der Vitalität mit dekadenter Zartheit entgegensteht. Er strotzt vor Kraft und Vitalität, ist jedoch gleichzeitig ein Mann des Geistes, der sich sinnend an den Implikationen Gottes versucht : »Er war ein geistlicher Mann, und seine Männlichkeit, stämmig und stark wie sie war, mit Handgelenken, breit wie die eines Steinmetzen, war eine geistliche, in sich gewandte, von Gott gehemmte und heftig befeuerte Männlichkeit, den äußeren Dingen fremd, ums Heilige nur besorgt.« (GW VIII, 835) Gleichzeitig jedoch verweist das »Bohren« in »Fleisch und Blut« auf den archaischen, gewalttätigen Ritus des Blutopfers. 3.5 Auszug in die ›Freiheit‹ : Propaganda und Gewalt Da Mose weder ein Mann großer Worte ist, noch den Auszug aus Ägypten selbst strategisch zu planen vermag – da »[s]eine Männlichkeit […] nicht die des Krieges«41 (GW VIII, 838) ist, benötigt er Helfer, die mit ihm für seine Sache kämpfen und seine Defizite ausgleichen. Aaron, sein Halbbruder, wird für Mose zum Sprachrohr, [i]hn hatte er in alles eingeweiht, hatte ihn ganz für den Unsichtbaren und sämtliche Implikationen gewonnen, und da Aaron aus seinem Barte heraus salbungsvoll-fließend zu reden verstand, so begleitete er Mose meistens auf seinen Werbe-Wegen und sprach statt seiner, allerdings etwas gaumig und ölig und nicht hinreißend genug, sodaß Mose durch begleitendes Fäusteschütteln mehr Feuer hinter seine Worte zu bringen suchte und ihm auch holterdipolter auf aramäisch-ägyptisch-arabisch ins Wort fiel. (GW VIII, 817)
»[M]it vom Schwure und von der Propaganda« sind weiterhin Aarons »Weib« Eliseba und Moses und Aarons Schwester Mirjam, »ein begeistertes Weib, das singen und pauken konnte«42. (Ebd.) Komplettiert wird dieser Propagandatrupp 40 Diese sind in der Regel Schriftsteller (etwa Tonio Kröger, Gustav von Aschenbach, Detlef Spinell) oder Musiker (Adrian Leverkühn). 41 Auch Jaakob »war nicht kriegerisch.« Allerdings ist Jaakob im Gegensatz zu Mose grundsätzlich friedlicher Natur : »Denn diese Seele war weich und schreckhaft ; sie verabscheute es, Gewalt zuzufügen, sie zitterte davor, welche zu erleiden […].« (GW IV, 132 f.) Was ihn freilich nicht davon abhält, vor der Gewalt seiner Söhne in Schekem die Augen zu verschließen. 42 Frederick A. Lubich : »Fascinating Fascism«, 557 sieht hier »die Mann’sche Parodie auf das Pathos der NS-Trommler und ihrer Marschmusik.«
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durch die Kriegsstrategen Joschua43, einen »feldherrlichen Jüngling« (GW VIII, 838) »mit einem Krauskopf, vortretendem Adamsapfel und einem bestimmten Faltenpaar zwischen seinen Brauen«44 (GW VIII, 818), und Kaleb, »seinem Leutnant« (GW VIII, 838). Joschua hat bei der ganzen Sache seinen eigenen Gesichtspunkt […] : nicht so sehr den religiösen nämlich, als den militärischen ; denn für ihn war Jahwe, der Vätergott, vor allem der Gott der Heerscharen, und der an seinen Namen geknüpfte Gedanke des Entweichens aus diesem Diensthause fiel für ihn zusammen mit der Eroberung neuen und eigenen Siedelgrundes für die ebräische Sippen, – folgerichtiger Weise, denn irgendwo mußten sie wohnen, und kein Land, verheißen oder nicht, würde ihnen geschenkt werden. (GW VIII, 818)
Nicht erst die Landeroberung soll sich in einem gewalttätigen Kriegszug45 ereignen, auch der Auszug aus Ägypten ist erst durch die Ermordung der Erstgeburt der Ägypter möglich, so dass »die Auswanderung [mehr] die Gestalt der Austreibung an[nahm]« (GW VIII, 829), und »man die Gosen-Leute mehr aus dem Lande stieß und trieb, als daß man sie daraus entlassen hätte.« (GW VIII, 825) 43 Das enge Verhältnis Moses und Joschuas ist eine Zutat Thomas Manns und hat keine Entsprechung in der Bibel. 44 Hansen : ›Das Gesetz‹ und Heines Moses-Bild ; 80 sieht in Anlehnung an den Todesboten, dem Gustav von Aschenbach auf dem Münchner Friedhof im Tod in Venedig begegnet, in Joschua die Gestalt des Teufels. Die Beschreibung der beiden Figuren ist sehr ähnlich, vor allem haben beide den auffälligen Adamsapfel als Zeichen des Sündenfalls gemeinsam. (Hierzu kritisch : Vaget : Kommentar, 288) Weiterhin weist Hansen auf den wichtigen Umstand hin, dass Joschua seinen Namen von Mose erhält, der ihn nicht bei seinem richtigen Namen »Hosea« (= Fisch) nennt, sondern ihm den »Jahwe-Namen Jehoschua, auch kurzweg Joschua« (GW VIII, 817 f.) gibt. Ursprünglich ist der Name also ein anachronistischer Verweis auf Jesus, auf das Christentum. Dadurch, dass Mose Joschua einen »Jahwe-Namen« gibt, handelt er im Namen Moses/Jahwes, wird zu deren Werkzeug. Die Namensgebung erweist sich hier erneut als konstitutiv. Golka : Moses, 98 ff. weist zudem darauf hin, dass Joschua nach Michelangelos David gezeichnet ist. Golka sieht ebenfalls in Anlehnung an Lubich in dem Verhältnis Mose/Joschua eine homoerotische Komponente (vgl. Golka : Moses, 99 und Lubich : »Fascinating Fascism«). Vgl. auch Thomas Manns späten Essay Die Erotik Michelangelo’s (1950) (IX, 783–793) und exemplarisch hierzu : Anja Schonlau : Altersliebe im Alterswerk. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 20 (2007), 27–42. S. auch Michael Thimann : Thomas Mann und das Michelangelo-Bild der Deutschen. In : Thomas-Mann-Jahrbuch 26 (2013), 39–52, der Thomas Manns Michelangelo-Essay »als ein Monument der Michelangelo-Rezeption in seinem ideengeschichtlichen Kontext betrachtet«. (40). 45 Kristiansen : Freiheit und Macht, 59 f. weist darauf hin, dass hinter jeder Aktion Moses »Machtund Druckmittel« stehen. Kristiansen sieht diese Druckmittel als dem menschlichen Geist widerstrebende Mittel an (vgl. ebd., 60).
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Bevor der Erzähler zu dem »dunkle[n] Kapitel« (GW VIII, 827) des Würgengels, der die Erstgeborenen tötet, vordringt, wird er aufklärerisch tätig und führt die übrigen Plagen auf Naturphänomene zurück, wobei er zu dem Schluss gelangt, dass »etwas Ungewöhnliches […] an keiner von ihnen [ist]«. (GW VIII, 825) Anders die zehnte Plage, mit der es eine »undurchsichtige, nie wirklich aufgeklärte Bewandtnis hat« (ebd.). Was freilich nicht stimmt, denn der Erzähler lässt im Folgenden keinen Zweifel, wer für den Vorfall verantwortlich zu machen ist : Es kam ein Tag, besser gesagt : eine Nacht, eine arge Vesper, wo Jahwe umging, oder sein Würgengel, und die letzte zehnte Plage über die Kinder Ägyptens […] verhängte […] Was tat er ? Er stellte ein Sterben an, das Sterben der Erstgeborenen des ägyptischen Elements, womit er manchen heimlichen Wünschen entgegenkam und manchem Zweitgeborenen zu Rechten verhalf, die ihm sonst vorenthalten geblieben wären. Die Unterscheidung zwischen Jahwe und seinem Würgengel will wohl gemerkt sein : sie hält fest, daß nicht Jahwe selbst es war, der umging, sondern eben sein Würgengel, – richtiger gesagt wohl eine ganze, vorsorglich zusammengestellte Schar von solchen. Will man die vielen aber auf eine Einzelerscheinung zurückführen, so spricht vieles dafür, sich Jahwe’s Würgengel als eine stracke Jünglingsfigur mit Krauskopf, vortretendem Adamsapfel und bestimmt gefalteten Brauen vorzustellen, als einen Engelstyp jenes Schlages, der jederzeit froh ist, wenn es mit nutzlosen Verhandlungen ein Ende hat und zu Taten geschritten werden kann. (GW VIII, 827 f.)46
Joschua, »dessen Verhältnis zu Mose unverkennbar demjenigen des Würgengels zu Jahwe ähnelte«, und sein Kriegstrupp sind also verantwortlich für das Morden. Wie verhält sich Mose zu alldem ? Noch einmal : »Nach Mose’s festem Willen sollte es [das Töten] jedoch das letzte Mal gewesen sein. Wie soll sich der Mensch auch der Unreinheit entwinden, ohne ihr ein letztes Opfer zu bringen, sich einmal noch gründlich dabei zu verunreinigen ?« (GW VIII, 829) Der Gedanke, noch einmal eine Krise durchleben zu müssen, um zu einer heiligen Ordnung zu gelangen, verweist auf Freuds in Totem und Tabu ausgeführten zentralen Gedanken eines ›nachträglichen Gehorsams‹ : Die unbedingte Verehrung des übermächtigen Vaters wird erst durch dessen Tötung erreicht.47 Das hierdurch entstandene Tabu soll als wirkmächtigster Schutz vor weiterer Gewalt dienen. Der von Mose verfolgte Zweck, ein reines Volk im freien Raum zu kreieren, 46 Der Verweis auf die Rechte der Zweitgeborenen ist ein Verweis auf den Segensbetrug des Zweitgeborenen am Erstgeborenen unter den Erzvätern. 47 Vgl. Haas : … Und Freud hat doch Recht, 246.
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heiligt die kriegerischen Mittel. Das Ende der Gewalt ist jedoch noch nicht erreicht, und so wird es nicht das letzte Mal gewesen sein, dass Moses Volk unter der Führung Joschuas Blut vergießen wird, denn nach dem Auszug aus Ägypten erfolgt schon bald die gewaltsame Landnahme der Oase Kadesch, die von den Amalekitern bewohnt ist. »Die Schlacht fand statt, sie ist eine historische Tatsache.«48 (GW VIII, 838) leitet der Erzähler das Kapitel ein, in welchem das Volk unter dem neu verliehenen Namen »Israel« erneut mordet und raubt. Die gemeinsame Tat, verübt unter dem einenden Namen, stiftet die Volksidentität. Diesen Namen nämlich, Israel, das heißt : ›Gott führt Krieg‹, hatte Mose vor der Schlacht dem Geblüt zur Stärkung verliehen, mit der Erläuterung, es sei ein sehr alter, der nur in Vergessenheit geraten sei ; schon Jaakob, der Erzvater, habe ihn sich errungen und auch die Seinen damit genannt. Es tat dem Geblüt sehr wohl ; so lose seine Sippen zusammengehangen hatten, sie hießen nun alle Israel und kämpften vereint unter diesem geharnischten Namen, in Schlachtreihe gebracht und angeführt von Joschua […]. (GW VIII, 838)
Der Name eint, stiftet ein Gemeinschaftsgefühl und ordnet das »lose« Volk. Der Einzelne wird so in ein Kollektiv eingebunden. Nachdem die Gruppe erfolgreich den Ägyptern entkommen ist, und den Sieg über diese feiern will, spricht Mose überraschend das Kollektiv in der zweiten Person Singular an : ›Du sollst dich des Falles deines Feindes nicht freuen ; nicht sei dein Herz froh über sein Unglück.‹ Es war des erste Mal, daß er dergestalt das ganze Gehüdel, zwölftausend und einige hundert Köpfe, die dreitausend Waffenfähigen eingeschlossen, mit Du angesprochen wurde, dieser Redeform, die ihre Gesamtheit umfaßte und zugleich das Auge auf jeden einzelnen, Mann und Weib, Greis und Kind richtete, einen jeden wie mit dem Finger vor die Brust traf. (GW VIII, 832)
Diese Aufforderung empfindet das Volk als »hochgradig unnatürlich !« (GW VIII, 832) Und es ahnt bereits : auch »diese Unnatur [hing] mit der Unsichtbarkeit des Gottes Mose’s zusammen.« (GW VIII, 832) Sich nicht über die Besiegten zu 48 Interessant ist hier, dass gerade die Existenz des Volkes Amalek durch »keinen gesicherten außerbiblischen Beleg« (Benedict : Die dunkle Seite Gottes, 41) bewiesen ist. Auch in der Bibel wird der Angriff als sehr gewaltsam beschrieben. Dieser Umstand lässt vermuten, dass hier etwas Grundsätzliches an einem Exempel gezeigt werden sollte : »Amalek [stellt] weniger ein real existierendes Volk dar als den Prototyp des grundlosen Aggressors gegen Schwache und Wehrlose.« (Ebd.).
Auszug in die ›Freiheit‹ : Propaganda und Gewalt
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erheben, widerstrebt dem natürlichen Empfinden der Sieger. Jahwe, der durch seine Unsichtbarkeit der Inbegriff einer nicht zu durchschauenden, aber stets sehenden Macht ist, fordert von seinem Volk, gegen dessen triebhafte Empfindungen zu handeln. Zudem verweist das Distanz aufhebende »Du« auf die Installation der Zehn Gebote : Mit dieser Ansprache »bereitet [der Dichter] […] die Redeform der so genannten apodiktischen Gesetze vor.«49 Und noch ein drittes Mal wird Mose die Gewalt gutheißen, dann sogar gegen sein eigenes Volk, das, während er auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote verfasst, in »haarsträubender Rückfälligkeit« von Gott abfällt und dem Abgott, dem Goldenen Kalb, huldigt, indem es einen rauschhaften, archaischen »Singetanz« aufführt und so erneut der Wildheit und Sittenlosigkeit frönt. (GW VIII, 868) »Einige aßen Blindschleichen. Andere lagen bei ihrer Schwester, und das öffentlich, dem Kalbe zu Ehren. Wieder andere saßen da einfach und leerten sich aus […]. Man sah Männer dem Stier ihre Kraft verbrennen. Irgendwo tachelte einer seine leibliche Mutter rechts und links.« (GW VIII, 869) Die Sittenwidrigkeiten, die den Götzendienst begleiten und die Mose dem Volk bereits verboten hatte, sind eine Zutat Thomas Manns gegenüber der Bibel. Zwar feiert das Volk in der Bibel ebenfalls, doch von einem regressiv-dionysischen Gebaren50 ist hier nicht die Rede : »Und sie standen des Morgens früh auf und opferten Brandopfer und brachten dazu Dankopfer. Darnach setzte sich das Volk, zu essen und zu trinken, und standen auf zu spielen.«51 Im Alten Testament geht es also in erster Linie um den Verstoß gegen das erste und das zweite Gebot, also um das Gebot des alleinigen Gottes und um das Abbildungsverbot.52 Dies kann der eifernde Gott 49 Golka : Moses, 96. 50 Volkmar Hansen sieht in der Beschreibung des dionysischen Tanzes deutliche Anklänge an Heinrich Heines Gedicht Das goldene Kalb in den Historien des Romanzero (vgl. ›Das Gesetz‹ und Heines Moses-Bild, 77 f.). 51 2. Mose 32, 6. 52 Ulrich Welbers : Religiöse Semantik, stellt dieses 2. Gebot in das Zentrum seiner Untersuchung der religiösen Semantik Moses und erweitert es zu einem allumfassenden Repräsentationsverbot, dessen Sinn sich nicht in der Erläuterung des ersten Gebotes erschöpft. So sei »das zweite Gebot eines Bilderverbots in jedem Fall das sprachtheoretisch konsequenzenreichste […]. Hier wird nämlich jedwede Art von Repräsentation zunächst einmal schlichtweg verboten. […] Der Dekalog enthält an dieser Stelle einen Rekurs auf den sprachtheoretischen Verlust des Sündenfalls. Nur das, was konstituiert ist, ist wirklich ; das, was repräsentiert, ist Chimäre, bestenfalls kritisch zu verstehende Wirklichkeit zweiter Ordnung, in keinem Fall aber wahrheitsfähig.« (125 f.) Als Schlussfolgerung hieraus sieht Welbers dann in »Moses’ religiöser Semantik : das Anbetungsverbot der Welt.« (138) An dieser Stelle sei noch auf eine weitere Problematik des Abbildes hingewiesen : Das Abbild des Gottes – und damit Gott selber – kann zerstört werden : »Im Götterbild ist der Gott selbst gegenwärtig […]. In den Dingen erlangt das Unvorstellbare physische Gestalt, sie
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nicht dulden. Thomas Mann verknüpft den Abfall vom unsichtbaren Gott mit der Sittenlosigkeit, die Regression bedeutet und zum temporär überwundenen Chaos zurückführt. Es findet erneut wahllose Vermischung statt, längst in Gut und Böse Geschiedenes wird nicht mehr anerkannt. In der Erzählung erfolgt die gnadenlose Bestrafung des »Pöbelvolk[es]« auf dem Fuß, denn Gott ›läßt niemand ungestraft‹, donnerte er [Mose] plötzlich, indem ihm das Blut zu Kopfe schoß und die Ader ihm wieder zum Platzen schwoll, ›sondern heim suche ich, sagte er, die Missetat bis ins dritte und vierte Glied als der Eiferer, der ich bin. Hier wird ein Gericht gehalten werden‹, rief er, ›und eine blutige Reinigung verordnet sein […]. Ausgemacht sollen die Rädelsführer sein, die da zuerst nach güldenen Göttern schrien und frech behauptet haben, das Kalb habe euch aus Ägypten geführt, so ich allein es getan habe – spricht der Herr. Die sollen des Würgengels sein, und soll nicht die Person dabei angesehen werden. Zu Tode soll man sie steinigen und mit Geschoß erschießen, und wären’s dreihundert ! […]‹ (GW VIII, 872)
Obwohl die Vergehen des Volkes in 2. Mose 32 weniger drastisch geschildert werden, steht der biblische Text der Erzählung in der Absolutheit der Grausamkeit, die am eigenen Volk verübt werden soll, in nichts nach. Die Kinder Levi, die sich um Gott versammeln und weiterhin an dem Bund festhalten wollen, erhalten von diesem den Auftrag : »[E]rwürge ein jeglicher seinen Bruder, Freund und Nächsten«53. Jan Assmann hat das Phänomen der auffällig drastischen Gewalt gegen das eigene Volk als »Entschlossenheit, den Heiden in sich auszurotten«54 gedeutet : »Entscheidend sind die Worte ›seinen Bruder, seinen Freund, seinen Nächsten‹ : Die Gewalt wendet sich nicht nach außen, gegen Fremde, beziehungsweise ›Heiden‹, sondern nach innen, und zerschneidet die allerengsten menschlichen Bindungen. Die Entscheidung, die der monotheistische Gott fordert, der Bund, den er anbietet, überbietet und bricht alle menschlichen Bindungen und Verpflichtungen.«55
sind Ikonen dessen, was sie zeigen. Deshalb trifft ihre Destruktion das Bezeichnete unmittelbar. Die Zerstörung des Bildes verletzt den Körper des Gottes, sie erregt seinen Zorn, seine Rache.« (Sofsky : Traktat, 203). 53 2. Mose 32, 27. 54 Assmann : Monotheismus, 53. 55 Ebd., 26.
Das »Bündig-Bindende« : Gesetz und Schrift
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3.6 Das »Bündig-Bindende« : Gesetz und Schrift 3.6.1 Die Sittengesetze
Wie schwer es ist, gegen die Gelüste des Menschen, gegen seinen Drang zur Gewalt und seinen Wunsch nach Vermischung anzukommen, weiß auch Mose. Bevor er dem Volk die Zehn Gebote als kodifizierte Gesetze präsentieren kann, arbeitet er zunächst im Kleinen an ihrer Gesittung und greift massiv in ihr alltägliches Leben, in ihre Gewohnheiten und Vorlieben ein : »So machte er ihnen Speisevorschriften und schränkte sie ein in Dingen der Nahrung, aber nicht nur in diesen. Ebenso tat er es in Dingen der Lust und Liebe, denn auch darin ging es bei ihnen drunter und drüber nach rechter Pöbelart.« (GW VIII, 849) Im Folgenden werden die Sittengesetze, die Mose in seiner »Werkstatt« (GW VIII, 840), der Oase Kadesch, dem Volk beibringen will, genauer dargestellt. Als wichtigstes Prinzip der Gesetze ergibt sich hier das Gebot der Unterscheidung. Worin die Unterscheidung jedoch im Einzelnen besteht, enthüllt ein Grundprinzip des Gesetzes : die Willkür. »Lerne unterscheiden zwischen Reinheit und Unreinheit, sonst bestehst du nicht vor dem Unsichtbaren und bist nur Pöbel.« (GW VIII, 848) Dies ist die Botschaft, die Mose dem »ungestalteten Volksleib« (GW VIII, 846) mitteilt, der so langsam zu ahnen beginnt, dass es nicht leicht ist, das auserwählte Volk zu sein : »Das Geblüt merkte bald, was es heißen wollte, einem zornig-geduldigen, dem Unsichtbaren verantwortlichen Werkmann gleich Mosen in die Hände gefallen zu sein […].« (GW VIII, 847) Das Volk, das zur Reinheit und Heiligkeit erzogen werden soll, ist noch reines Naturvolk, dem sittliche Einschränkungen56 fremd sind. Wie es aussah in dem Gehudel, und wie sehr es ein bloßer Rohstoff war aus Fleisch und Blut, dem die Grundbegriffe der Reinheit und Heiligkeit abgingen ; wie sehr Mose von vorn anfangen und ihnen das Früheste beibringen mußte, das merkt man den notdürftigen Vorschriften an, mit denen er daran herumzuwerken, zu meißeln und zu sprengen begann – nicht zu ihrem Behagen ; der Klotz ist nicht auf des Meisters Seite, sondern gegen ihn, und gleich das Früheste, was zu seiner Formung geschieht, kommt ihm am allerunnatürlichsten vor. (GW VIII, 847)
56 Vgl. Freud : Der Mann Moses, 564 : »Ethik ist Triebeinschränkung«. Vgl. hierzu auch Pott : Kurze Geschichte, 21.
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Besonders die Hygiene- und Essensvorschriften, die in aller Ausführlichkeit beschrieben werden und ganz auf das Kreatürliche abzielen, werden mit deutlicher Ironie geschildert. Ein längeres Zitat der komplizierten Speisegebote und Verbote soll dies verdeutlichen : Unterscheide ! sage ich dir und sei heilig vor Gott, sonst kannst du nicht heilig sein, wie ich dich haben will. Du ißt ja alles durcheinander, ohne Wahl und Heiligkeit, wie ich sehen muß, das ist mir ein Greuel. Du sollst aber das eine essen und das andere nicht, und sollst deinen Stolz haben und deinen Ekel. Was da die Klauen spaltet und wiederkäut unter den Tieren, das magst du essen. was aber wiederkäut und hat Klauen, spaltet sie aber nicht, wie das Kamel, das sei euch unrein, und sollt’s nicht essen. Wohl gemerkt, das gute Kamel ist nicht unrein als Gottes lebendig Geschöpf, aber als Speise schickt es sich nicht, so wenig als wie das Schwein, das sollt ihr auch nicht essen, denn es spaltet die Klauen wohl, wiederkäut aber nicht. Darum unterscheidet ! Alles, was Flossen und Schuppen hat in den Wassern, das mögt ihr essen, aber was ohne solche darin herumschlüpft, das Molchgezücht, das ist zwar auch von Gott, aber als Speise soll es euch eine Scheu sein. Unter den Vögeln sollt ihr verschmähen den Adler, den Habicht, den Fischaar, den Geier und ihresgleichen. Dazu alle Raben, den Strauß, die Nachteule, den Kuckuck, das Käuzlein, den Schwan, den Uhu, die Fledermaus, die Rohrdommel, den Storch, den Reiher und Häher sowie die Schwalbe. Ich habe den Wiedehopf vergessen, den sollt ihr auch vermeiden. Wer wird das Wiesel essen, die Maus, die Kröte oder den Igel ? Wer ist so pöbelhaft, die Eidechse, den Maulwurf und die Blindschleiche zu verzehren oder sonst irgend etwas, was da auf Erden schleicht und auf seinem Bauche kreucht ? Ihr tut es aber und macht eure Seele zum Scheusal ! Wen ich noch einmal eine Blindschleiche essen sehe, mit dem will ich abfahren, daß er’s nicht wieder tut. Denn er stirbt zwar nicht dran, und es ist nicht schädlich, ist aber schimpflich, und euch soll vieles schimpflich sein. Darum sollt ihr kein Aas essen, das ist auch noch schädlich. So machte er ihnen Speisevorschriften und schränkte sie ein in Dingen der Nahrung […]. (GW VIII, 848 f.)
Thomas Mann übernimmt hier über weite Strecken wörtlich die Vorschriften aus 3. Mose 11 über die »reinen und unreinen Tiere« und aus 5. Mose 14 über die »reinen und unreinen Speisen«. Während der Erzähler zuvor für die b iblischen Wunder und Plagen Gottes naturwissenschaftliche Begründungen anführt57, 57 Hamburger vermutet, dass Thomas Mann hier auch durch Goethes »historisch rationalen, unreligiösen Geist« in Israel in der Wüste beeinflusst war. (Hamburger : Der Joseph-Roman, 168) Auch das ›Schlangenwunder‹, das Gott Mose in der Bibel lehrt (vgl. 2. Mose 4) und das im Roman säkula-
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unterlässt er es an dieser Stelle weitgehend, die Nahrungsverbote auf lebenspraktische und hygienische Überlegungen zurückzuführen, die vermutlich historisch zu vielen Speisevorschriften geführt haben.58 So wirken die strengen Vorschriften nur schwer nachvollziehbar, willkürlich und höchst artifiziell. Auf der anderen Seite spielt die Textstelle mit den sittlichen und ethischen Vorstellungen des zeitgenössischen Lesers, da viele Tiere hier genannt werden, etwa der Igel, verschiedene Vogelarten oder das Wiesel, die im westlichen Kulturkreis ganz selbstverständlich als Nahrungsmittel tabuisiert sind. Dadurch, dass diesen Tabus aber jegliche Plausibilität fehlt, sie dennoch dem heutigen Leser gleichwohl vertraut wirken, wird deutlich, wie wirkmächtig das reine Prinzip der Unterscheidung59 ist, das auch ohne Begründungen durch Erziehung und Gewöhnung »Ekel« schaffen kann. Das reine Essen soll dabei der angestrebten Reinheit des Volkes entsprechen. Durch die tägliche reine Nahrung, die zum Erhalt des Körpers beiträgt, verleibt der Mensch sich gleichsam Reinheit ein. So wird an dieser Stelle durch das Spiel mit begründungsloser Tabuisierung, die dem »Pöbelvolk« noch unnatürlich erscheint, dem zeitgenössischen Leser aber als selbstverständliche Essenstabus erscheinen müssen, die Notwendigkeit auch willkürlicher Gesetze verdeutlicht. Im Vordergrund steht hier, dass überhaupt Unterscheidungen getroffen werden, diese scheinen eine Weiterentwicklung risiert wird, zeigt, wie das Kainsmal und die Beschneidung, Gottes zeichenhafte Macht. »Mit dem Vermögen ausgestattet, durch Handbewegungen zeichenhafte Verwandlungen zu bewirken, scheint Mose nunmehr dem Auftrag gewachsen, dem ägyptischen Herrscher die Freiheit des Volkes Israel abzugewinnen.« (Landfester : Stichworte, 39) Landfester sieht zudem in dem Zeichenwunder Stab/ Schlange »phallische[ ] Bildlichkeit« : »Es versinnbildlicht die von Gott allein zu fällende Entscheidung darüber, ob Moses Manneskraft in Form der Schlange der Impotenz menschlicher Sündhaftigkeit verhaftet bleibt, oder ob sie in der Form des Stabs zum Symbol der Potenz eines Befreiers des Volkes Israel und damit zum Medium von Gottes eigener Schöpfungspotenz wird.« (Ebd., 40 f.) Zudem antizipiere die »subtile Verflechtung dieser Verwandlungsmacht mit dem durch die Bewegung der menschlichen Hand erzeugten magischen Zeichen den für das mosaische Werk zentralen Akt der Erinnerungsspeicherung : die Niederschrift der Zehn Gebote.« (Ebd., 42) In Thomas Manns Novelle wird Mose dann schließlich ganz zum Herrn der Zeichen, zu dessen Erfinder und Verwalter. 58 So etwa das Verbot des Verzehrs von Schweinefleisch, da dieses unter den klimatischen Bedingungen ein schlecht zu konservierendes Fleisch ist. Lediglich beim Aas weist Mose sein Volk darauf hin, dass es schädlich, also der Gesundheit nicht zuträglich ist. 59 Auf das Prinzip der Unterscheidung im Alten Testament in Bezug auf die Nahrung geht auch Wolfgang Herrmann : Gott – Reinheit – Gewalt. In : Düringer : Monotheismus, 10–29, ein. Nicht nur die Auswahl, auch die Zubereitung der Nahrung ist streng reglementiert. Die Essensvorschriften zeigen, dass eine Vermischung problematisch ist : »Du sollst das Böcklein nicht kochen in seiner Mutter Milch.« (2. Mose 34, 26) »Vermischung erzeugt Unreinheit ; erstrebt wird Makellosigkeit.« (Herrmann : Gott, 22).
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des Menschen anzuzeigen und zu seinem Gesittungsprozess beizutragen. Durch Unterscheidungen hebt sich die Gruppe von ihrer Umwelt ab, sie kann diejenigen, die diesen Unterscheidungen nicht Folge leisten, abwerten und ausschließen. Unterscheidungen schaffen somit eine Gemeinschaft von Eingeweihten, die unter demselben Gesetz leben, die sich erfolgreich gegen das Chaos zur Wehr gesetzt haben, und damit ein Stück in Richtung Fortschritt und Zukunft gegangen sind. Mose will das Volk durch »Identität und Ordnung positiv überformen, an die Stelle des Chaos Ordnung und Recht […] setzen.«60 Auf eine ähnliche Wirkung zielt auch die Textpassage ab, in der ein weiteres ureigenstes Bedürfnis der Menschen reglementiert wird : die Notdurft : Vorläufig waren sie nichts als Pöbelvolk, was sie schon dadurch bekundeten, daß sie ihre Leiber im Lager entleerten, wo es sich treffen wollte. Das war eine Schande und eine Pest. Du sollst außen vor dem Lager einen Ort haben, wohin du zur Not hinauswandelst, hast du mich verstanden ? Und sollst ein Schäuflein haben, womit du gräbst, ehe du dich setzest ; und wenn du gesessen hast, sollst du’s zuscharren, denn der Herr, dein Gott, wandelt in deinem Lager, das darum ein heilig Lager sein soll, nämlich ein sauberes, damit er sich nicht die Nase zuhalte und sich von dir wende. Denn die Heiligkeit fängt mit der Sauberkeit an, und ist diese Reinheit im Groben, aller Reinheit gröblicher Anbeginn. Hast du das aufgefaßt, Ahiman, und du Weib Naemi ? Das nächste Mal will ich bei jedem ein Schäuflein sehen, oder der Würgengel soll über euch kommen ! (GW VIII, 847 f.)
An dieser Stelle wird besonders deutlich, dass das »reinigen und heiligen« zunächst äußerst elementar zu verstehen ist und es noch lange nicht um komplexe moralische oder theologische Überlegungen geht. Der Naturzustand des Menschen ist ›unrein‹, ist kreatürlich und dem Tiere sehr verwandt. Jacques Darmaun erkennt in der Darstellung des Volkes Israel den Einfluss Goethes : »Bei Goethe wie bei Thomas Mann ist das Volk von unbeschreiblicher Grobheit, unvergleichlich roher und ungeschliffener als in der Bibel«.61 Zudem wird aber an obigem Zitat deutlich, dass selbst eine relativ simple Vorschrift unter Androhung von Gewalt und Strafe durchgesetzt werden muss. Neben Speise- und Hygienevorschriften schränkt Mose das Volk auch in »Dingen der Lust und Liebe« ein. Das siebte Gebot wird hier bereits vorweggenommen, und seine weitreichenden Konsequenzen werden dem Volk mitgeteilt. 60 Angehrn : Überwindung, 178. 61 Darmaun : Das Gesetz, 279.
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Du sollst die Ehe nicht brechen, sagte er ihnen, denn sie ist eine heilige Schranke. Weißt du aber auch, was das sagen will, die Ehe nicht brechen ? Hundert Einschränkungen bedeutet es mit Rücksicht auf Gottes Heiligkeit und nicht nur, daß du deines Nächsten Weib nicht begehren sollst, das ist das wenigste. Denn du lebst im Fleisch, bist aber dem Unsichtbaren verschworen, und die Ehe ist der Inbegriff aller Reinheit im Fleische vor Gottes Angesicht. Darum sollst du nicht ein Weib nehmen und die Mutter dazu, um nur ein Beispiel zu nennen. Das schickt sich nicht. Und sollst nie und nimmer bei deiner Schwester liegen, daß du ihre Scham siehst und sie deine, denn es ist eine Blutschande. Nicht einmal bei deiner Tante sollst du liegen, daß ist weder ihrer würdig noch deiner, und sollst davor zurückschrecken. […] Ich höre, du hältst deine Tochter zur Hurerei an und nimmst Hurengeld von ihr ? Tu das nicht mehr, denn beharrst du darauf, will ich dich steinigen lassen. Was fällt dir ein, beim Knaben zu schlafen wie beim Weibe ? Das ist ein Unding und Völkergreuel, und sollen beide des Todes sterben. Treibt aber einer es mit dem Vieh, sei es Mann oder Weib, die sollen nun vollends ausgerottet sein und erwürgt werden mitsamt dem Vieh. (GW VIII, 849 f.)
Bei diesen weitreichenden Implikationen, die alle das Gebot »Du sollst nicht ehebrechen« weiter spezifizieren, stehen die Würde und der Stolz des Menschen im Vordergrund. Vorerst ist das Volk jedoch erschüttert über das reine Leben, das es führen soll und das doch eher als ein freudloses anmutet. »Man stelle sich ihre Bestürzung vor über all die Einschränkungen ! Sie hatten zunächst das Gefühl, daß überhaupt vom lieben Leben beinahe nichts übrig bleibe, wenn man all dies befolgte.« (GW VIII, 850) Die Gebote kommen dem Volk so unnatürlich vor, dass es geneigt ist, Mose mit dem Herrn gleichzusetzen. Und »[d]as war im Grunde so lächerlich nicht, denn was er den Armseligen zuzumuten begann, ging über alles Menschengewöhnliche und konnte kaum im Kopf eines Sterblichen entstanden sein.« (GW VIII, 832) Die Zehn Gebote implizieren eine Reihe von weiteren sittlichen Vorstellungen, die Mose an dieser Stelle freilich nach Belieben behaupten kann, da er vorgibt, das einzige Sprachrohr des unsichtbaren Gottes zu sein. Während in der Bibel die moralischen Gesetze stärker von den alltäglichen Speise- und Hygienevorschriften separiert sind, werden beide bei Thomas Mann deutlicher als Einheit präsentiert. Und erneut wird betont, dass Mose mit demjenigen, der nicht gehorcht, wenig zimperlich umgeht. »Er sprengte mit dem Meißel an ihnen herum, daß die Stücke flogen, und das war wörtlich zu nehmen, denn mit den Ahndungen, die er auf die schlimmsten Überschreitungen der Schranken setzte, war kein Spaß, und hinter seinen Verboten standen der junge Joschua und seine Würgengel.« (GW VIII, 850)
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Der Preis für ein gesittetes Leben ist also die Beschneidung natürlicher Bedürfnisse und die Akzeptanz von zum Teil willkürlich und begründungslos gesetzten Vorschriften. Diese Vorschriften werden immer wieder »unnatürlich«62 genannt, was verdeutlicht, wie wenig der Mensch in seinem Naturzustand am Gesetz partizipiert. Das Unnatürliche ist so zunächst angewiesen auf die »natürliche Furcht vor Strafe, die einen Schein von Natürlichkeit warf auf Gebot und Verbot.« (GW VIII, 852) Dies stellt jedoch m. E. nicht eine Herabwürdigung des Naturzustandes dar, sondern zeigt außerdem, wie wackelig der Untergrund beschaffen ist, auf dem die Gesetze stehen, denn die Gesetze sind auf willkürliche Unterscheidungen, auf Strafe und Gewalt gegründet (und angewiesen), und sie arbeiten gegen die Natur des Menschen, was sie als stets gefährdet identifiziert. Dennoch sind sie unverzichtbar, wenn man eine Gemeinschaft schaffen will, die den Anforderungen eines transzendenten Gottes, der mit seiner körperlosen Reinheit als Vorbild dient, genügen will. Jan Assmann stellt fest, dass das biblische »Repertoire hochkomplexer priesterlicher Tabus und Reinheitsvorschriften« gegen das Vergessen arbeitet und Identität stiftet : »Wer nach diesen Gesetzen lebt, vergißt keinen Augenblick, wer er ist und wohin er gehört.«63 Damit stiften die Gesetze eine Gemeinschaft, die nicht mehr auf der Stammesgemeinschaft oder der Gemeinschaft des Blutes fußt. Doch es geht auch um Macht. Das Volk ist durch die ordnungsstiftenden Gesetze leichter zu kontrollieren und zu steuern. Ordnung : das heißt nicht nur Gewaltverzicht, Schlichtung bei Streitigkeiten, Entscheidung in Zweifelsfällen. Ordnung : das bedeutet nicht nur Koordination der Arbeit, Planung des sozialen Verkehrs, Verwaltung des Alltags. Vor allem ist Ordnung auf Konformität und Homogenität aus. Die Regeln sind einzuhalten, und die Einhaltung der Regeln muß überprüft und notfalls erzwungen werden. Für alle gelten die Regeln, ohne Ansehen der Person. Sie machen alle gleich, gleich vor dem Gesetz und gleich nach dem Gesetz. Ordnung : das heißt Definition von Normen und Normalität, Produktion von Gleichförmigkeit, Ausschluß und Unterdrückung jeglicher Andersartigkeit.64 62 »[D]ie so ausgegrenzte Lebensform muß sich gegen die selbstverständliche Alltagsroutine durchsetzen. Daher wird sie auf die Basis einer elaborierten Gesetzgebung gestellt, der jede Selbstverständlichkeit abgeht.« (Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 206). 63 Ebd. 64 Sofsky : Traktat, 16 f. Sofskys Ordnungskritik geht noch weiter : »Die Ordnung durchformt die Menschen und fördert ihre Fähigkeiten, sie belehrt, beschwichtigt, und sie indoktriniert. Gerechtfertigt wird dieser Zwang zur Erziehung durch die Annahme, Belehrung führe immer irgendwann
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Als Druckmittel dem Volk gegenüber wird immer wieder die Unsichtbarkeit Gottes angeführt, die für Mose voll »unermeßlicher Implikationen« ist. Welche sind dies genau ? Betrachtet man die Argumentation Moses dem Volk gegenüber, wird erneut schnell klar : Es geht um Kontrolle und Macht. Zum einen ist ein unsichtbarer Gott Projektionsfläche für Zuschreibungen aller Art ; wer zu diesem einen Gott exklusiven Zugang hat, so wie es Mose dem Volk gegenüber suggeriert, der kann im Namen Gottes ein weltlich-irdisches Verweisungssystem aufbauen, das unhintergehbar ist, weil es Gottes angeblichen Willen widerspiegele. Wenn dieser Gott dann auch noch ein ›Interesse‹ an Menschen oder besser : an einer bestimmten Gruppe zeigt und einen Bund mit dieser anbietet, entsteht eine Verpflichtung gegenüber dem einen Gott, die getragen ist von dem Bewusstsein, auserwählt zu sein. Über diesen Bund wacht der eifernde ›Gott‹ mit äußerster Strenge : ›Ich bin der Herr, euer Gott‹, sagte er [Mose] auf die Gefahr hin, daß sie ihn wirklich selbst dafür hielten, ›der euch abgesondert hat von den Völkern. Darum sollt ihr auch absondern das Reine vom Unreinen und nicht den Völkern nachhuren, sondern heilig sein. Denn ich, der Herr, bin heilig und habe euch abgesondert, daß ihr mein wäret. Das Allerunreinste ist, sich um irgendeinen Gott zu kümmern, außer um mich, denn ich heiße ein Eiferer. Das Aller-Unreinste ist, sich ein Bild zu machen, sehe es nun aus wie ein Mann oder Weib, ein Ochs oder Sperber, ein Fisch oder Wurm, denn damit ist man schon abtrünnig von mir, auch wenn das Bild mich vorstellen soll, und könnte ebenso gut mit seiner Schwester schlafen oder mit einem Vieh, das liegt ganz nahe dabei und ergibt sich gar bald daraus. […]‹ (GW VIII, 850)
einmal zu künftiger Einsicht. Ein jeder soll der Vernunft teilhaftig werden, sich die Maßstäbe einprägen, seine Pflichten als Nachbar und Untertan lernen. Jeder soll ein vollständiges Mitglied der Menschengemeinschaft werden, einer so wie der andere. Bis in die Bewegungen des Geistes, der Seele und des Körpers reicht die Macht der Disziplin. Die Menschen lernen, wie sie zu gehen, zu stehen und zu sitzen haben, sie lernen die Gesten der Darstellung und die Gebärden des Ausdrucks, sie lernen, welche Gefühle angebracht sind und welche nicht. Am Ende glaubt, denkt und sagt der eine dasselbe wie der andere. Keiner hält mehr eine Widerrede, keiner gerät mehr auf Abwege, keiner stört den innigen Zusammenhalt, nirgendwo Ungläubigkeit und Eigensinn. Die Ordnung biegt die Menschen zurecht, bis sie widerspruchslos die Gebote und Gebräuche befolgen. Die Herrschaft ist auch eine Zuchtmeisterin der Kultur. Sie erzeugt eine homogene Vorstellungswelt, in der die vorherrschenden Gedanken die Gedanken der Herrschaft sind. Nicht nur das Schwert, auch das Buch, die Fibel und der Priesterstab gehören zu den Werkzeugen der Ordnungsmacht.« (17 f.).
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Erneut werden hier die vorweggenommenen Gebote mit den Sittengesetzen verschränkt.65 Die Entstehung einer zivilisierten Gemeinschaft bedeutet ein Leben unter Gesetzen, »Gehorsam ist die erste Lektion der Zivilisation«66. Auffällig ist, dass jedes Gebot und Verbot auf die Unterscheidung von Reinheit und Unreinheit zurückgeführt wird. Reinheit, eine an sich verhandelbare Größe, wird hier zu einer nicht verhandelbaren. Es genügt Gottes Wort, was rein und unrein ist, und diese Dichotomie wird auf das gesamte Leben ausgedehnt. Dabei stellt Gott in seiner Eigenschaft als transzendenter, nicht gänzlich fassbarer Gesetzgeber sozusagen die Reinheit an sich, eine von der menschlichen Kreatur niemals zu erreichende Stufe der Reinheit dar. Gott kann somit stets Ansprüche an den Menschen stellen, die die Verbesserung und Arbeit am Selbst verlangen. Ob eine Bemühung von Erfolg gekrönt ist, und Gottes Beifall findet, kann dabei nie unmittelbar überprüft werden, denn Transzendenz bedeutet in erster Linie »Unbeobachtbarkeit«67. Der transzendente Gott macht die Kontingenz des Lebens mit aller Macht erfahrbar. Zum anderen greift der unsichtbare Gott, den man nicht sieht, der aber sieht68, in einem totalitären Maß in die Intim- und Privatsphäre des Menschen ein. »›Hütet euch ! Ich bin unter euch und sehe alles.‹« (GW VIII, 850 f.) Was dies in der Praxis bedeutet, wird durch Gottes Propheten, Mose, deutlich : Immer war er [Mose] unter ihnen, bald hier, bald da, bald in diesem und bald in jenem Dorflager, gedrungen, mit seinen weit stehenden Augen und seiner plattgetriebenen Nase, schüttelte die Fäuste an breiten Handgelenken und rüttelte, mäkelte, krittelte und regelte an ihrem Dasein, rügte, richtete und säuberte daran herum, indem er die Unsichtbarkeit Gottes dabei zum Prüfstein nahm […]. (GW VIII, 847)
65 Hieran lässt sich eine allgemeine Tendenz erkennen, die Hannah Arendt in Anlehnung an d’En trèves Ausspruch vom »imperativen Charakter des Gesetzes« kritisch für alle Gesetze feststellt, nämlich dass die »Definition des Gesetzes als ein Befehl, der Gehorsam verlangt, […] nicht erst die Erfindung der Realpolitiker [ist], sondern die selbstverständliche Konsequenz einer sehr viel früheren und nahezu automatischen Verallgemeinerung der ›Gebote‹ Gottes, die nun alle Gesetzesvorschriften umfaßte, als genüge das ›einfache Verhältnis von Gebot und Gehorsam‹, um das Wesen aller Gesetze und nicht nur das der Zehn Gebote zu bestimmen.« Arendt : Macht und Gewalt, 40. 66 Stuart Mill : Betrachtungen über die Repräsentativregierung. Zürich 1862, 49, vgl. auch Arendt : Macht und Gewalt, 40. 67 Sloterdijk : Gottes Eifer, 19. 68 Vgl. hierzu grundlegend : Luhmann : Die Religion der Gesellschaft, Kap. 4 : Kontingenzformel Gott, 147–186.
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Mose errichtet also einen totalitären Überwachungsstaat69, für den die Implikationen Gottes die Voraussetzungen sind. Wie schwer die Gesetze einzuhalten sind, zeigt das Murren70 des Volkes, das nicht länger isoliert sein will : »›Wir sind ein Volk wie ein anderes und wollen eine Ausgelassenheit haben vor Göttern, die wie anderer Leute Götter sind !‹« (GW VIII, 871) Auf diese Klage hin bildet Aaron für das Volk das Goldene Kalb. Sobald die strafende Exekutive außer Sicht- und Reichweite ist, fällt das Volk in alte Gewohnheiten zurück. Und auch diese werden, wie oben beschrieben, mit Gewalt geahndet. Ein weiterer Aspekt der Köperlosigkeit Gottes sei hier erwähnt, der diesen Gott signifikant von gestalthaften Gottheiten unterscheidet. An einem Gott ohne Leib kann der Antagonismus von Chaos und Ordnung nicht mehr leiblich vorgeführt und rituell nachvollzogen werden. Eine Zergliederung und anschließende Wiederkehr bzw. Auferstehung als unversehrter Körper, wie bei Osiris, Tammuz oder Dionysos, die das uranfängliche Chaos und seine Ordnung nachvollziehen und damit auch seinen Schrecken bannen, sieht der Glauben an einen transzendenten Gott nicht vor.71 Ein körperloser Gott bedeutet aber auch in diesem Sinne enorme Macht, denn er kann eben nicht zerstört, zergliedert werden, er befindet sich außerhalb der menschlichen Reichweite. Dennoch werden dem transzendenten Gott personale Eigenschaften zugesprochen, denn er hat starke Gefühle, hat »Lust« zum Volke und wacht eifersüchtig über seine Alleinherrschaft. »Was in theoretischer Sicht die kühne Schwierigkeit des Monotheismus ausmacht – seine Vorentscheidung, die Transzendenz als Person vorzustel69 »Ordnung kann Resultat von Herrschaft, auch von Unterdrückung sein […] Ordnung [ist] mit Gewalt und Unterdrückung liiert ; Der kollektiven Verdrängung fällt das Bewußtsein davon anheim, in welchem Maße die Stiftung von Institutionen auf Akten der Gewalt beruht, ja, in welchem Maße bestehende Ordnungen nicht nur Strukturierungen unseres Lebensraums, sondern Einengungen, Gefängnisse sind.« (Angehrn : Überwindung, 316 f.) Vgl. auch Sofsky : Traktat, 14, nach dem Herrschaft grundsätzlich nicht von Unterdrückung zu trennen ist : »Unterdrückung liegt im Wesen jeder Herrschaftsordnung. […] Alle Herrschaft beruht zuletzt auf Willkür und Todesangst.« 70 Das »Murren« des Volkes ist auch in der Bibel ein wichtiger Bestandteil der Exoduserzählung. Jan Assmann kommentiert hierzu : »In den Szenen des Murrens stellt sich die neue Religion, der von Mose verkündete Monotheismus des Bundes und der Treue, als unbequeme und unpopuläre, nur gegen größten Widerstand und zuweilen mit Gewalt durchzusetzende Idee dar.« (Assmann : Exodus, 338). 71 Das Christentum ›überbrückt‹ bekanntermaßen diese Gestaltlosigkeit Gottes durch den Leib gewordenen Sohn Gottes, Jesus Christus, an dessen Fleisch und Blut durch das Abendmahl in der Kirche erinnert wird.
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len –, ergibt auf der praktischen Seite seinen größten Vorzug […]. Wenn Gott Person ist, dann kann er wie eine solche erschaffen, zerstören, lieben, hassen, erlauben, verbieten, belohnen, strafen und vor allem : beobachten.«72 Dies ist jedoch wohlgemerkt ein einseitiges Beobachten, denn obwohl der transzendente Gott menschlich agiert, hat der Mensch keinen Zugriff auf ihn. Die Vergehen, die der transzendente Gott beobachtet, müssen jedoch, wie erwähnt, ganz handfest geahndet werden, damit die hart erarbeitete Ordnung Bestand haben kann, und diese Ahndung muss ebenfalls nach festgelegten Ordnungsprinzipien verlaufen : Ein Rechtsapparat entsteht. 3.6.2 Moses Rechtsapparat
So wie die Sittlichkeit ist auch »das Recht dem verlassenen und verlorenen Geblüt etwas ganz Neues« (GW VIII, 842).73 Doch auch dieses hängt »mit der 72 Sloterdijk : Gottes Eifer, 43 f. S. auch. Luhmann : Kontingenzformel Gott, 152 f.: »Solange Götter als Hausgötter in der Form des Ahnenkults verehrt wurden, wird es nicht schwierig gewesen sein, sie als (unsichtbare) Personen und damit als Beobachter der Lebenden aufzufassen. Wenn jedoch dieser Bezug zu den ehemals Lebenden abreißt, bedarf es besonderer Motive, um diese Vorstellung des Beobachtetwerdens durch (unsichtbare) Personen fortzuführen und sie schließlich sogar auf einen Weltgott zu übertragen. Die Personalisierung von Gottesvorstellungen muß ein schwieriger, geradezu kontraintuitiver Vorgang gewesen sein, besonders wenn zugleich damit die Vorstellung einer transzendenten Potenz erhalten und ausgebaut werden sollte. Das Risiko dieser Semantik, ihre Selbstgefährdung dürfte vor allem darin liegen, daß sie dazu zwingt, die guten und schlimmen Wirkungen, die anziehenden und erschreckenden Wesensmerkmale des Heiligen als Absicht einer Person zu denken. Die Griechen hatten sich mit Negationen wie ›unsterblich‹ und ›alterslos‹ geholfen und in diesem Rahmen ihren Göttern Entscheidungsfreiheiten, Präferenzen und Konfliktbereitschaften unterstellt. Damit blieb die Personalität an eine Mehrheit von Göttern gebunden, die sich in ihrer Handlungssphäre gleichsam wechselseitig personalisierten. Aber darin lag dann, für höhere Ansprüche an Religion, zu viel Kontingenz. Daß schließlich ein einziger, transzendenter, allzuständiger Gott als Person, wenngleich als Person ohne Namen, gedacht werden konnte, muß einem nicht ohne weiteres erkennbaren Bedarf entsprochen haben. Wir vermuten einen solchen Bedarf in einer sozialstrukturellen Entwicklung, die zugleich soziale Differenzierungen und Individualisierungen ausgelöst hatte und deshalb Einheit nur noch über das Konzept eines Beobachters begreifen konnte. Denn Personalität ist nichts anderes als eine Chiffre für Beobachten und Beobachtetwerden.« 73 Wie kann das »Geblüt«, das in geordneten, wenn auch unfreien, Verhältnissen in Ägypten gelebt hat, weder von Recht, noch von Sittlichkeit unberührt geblieben sein ? Es ist nicht davon auszugehen, dass die Hebräer in Ägypten etwa ihre Notdurft in die Lager entrichteten, und ihre Nahrung war bereits höchst kultiviert, dies zeigt etwa ihr Bierkonsum an. Auch von Unterscheidungen muss das Volk doch eine starke Ahnung gehabt haben, denn schließlich kennt es die Einteilung in Ägypter und Nicht-Ägypter sehr genau. Was zunächst nach einem logischen Fehlschluss im Text aussieht, übrigens von der Forschung bisher nicht bemerkt, möchte ich mit der ›Radikalität des
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Unsichtbarkeit Gottes und seiner Heiligkeit ganz unmittelbar zusammen[ ]« (ebd.). Und wer wäre besser berufen als Mose, das Recht nach Gottes Willen zu verkünden ? Und so »richtete Mose selbst, an Jahwe’s Statt in allerlei Streit- und Rechtsfragen, die sich unter den Leuten aufwarfen.« (Ebd.) Wie elementar die Rechtsprechung für das Zusammenleben und die Gesittung des Volkes für Mose ist, zeigt, dass es »sogar das Erste [war], was er zu Kadesch tat, daß er eine Gerichtsstelle einrichtete, wo er an bestimmten Tagen Streitfragen schlichtete und Recht sprach« (ebd.). Doch Mose spricht nicht nur Recht, er lehrt es auch und weiht dabei das Volk in die ganz eigene Bewandtnis und Ästhetik des Rechts ein, »denn das Recht sei gleich schön und würdevoll in seiner heiligen Unsichtbarkeit, ob es einem nun recht oder unrecht gäbe.« (GW VIII 843) Wo Recht gesprochen wird, wird auch immer (für die Gegenseite) Unrecht produziert, ein Umstand, den das ungelehrige Volk nur schwer einzusehen bereit ist, »[d]enn es [das Volk] dachte, wo Recht erflösse, da müsse jeder recht bekommen, und wollten anfangs nicht glauben, daß einer zu seinem Unrecht kam und mit langer Nase abziehen mußte.« (GW VIII, 842) So schwindet auch die anfängliche Begeisterung für das Recht schnell »da es [das Volk] denn nun erfuhr, […] daß es [das Recht] auch das Unrecht umfasse« (ebd.). Auf dem Gebiet der Rechtsprechung kann sich nun Moses schulische Bildung vollends bewähren, denn »[e]r hatte ja selbst im thebanischen Internat das Recht gelernt, die ägyptischen Gesetzrollen und den Codex Hammurapi’s, des Königs am Euphrat. Das half ihm zur Urteilklärung in vielen vorkommenden Fällen […] In allen diesen Fällen und hundert anderen fand Mose das Urteil, in Anlehnung an Hammurapi, gab recht und unrecht.« (GW VIII, 843)74 Mose Bruchs‹, den Thomas Mann hier zeigen will, zu beantworten versuchen. Das versklavte Volk, das nach strengen Vorgaben und Regeln gelebt hat, wird in dem Augenblick wieder in den Naturzustand versetzt, in dem es aus eben diesen Kontexten, in diesem Fall aus der Hochkultur (!) Ägypten, herausgenommen wird. Dies unterstreicht noch einmal die stets drohende Regression. Das Volk war in Ägypten eben noch kein Volk, es war fremdbestimmt und hatte keinerlei Gemeinschaftsgefühl. Ist es nun auf sich gestellt und wird aus der Kultur in die Wüste (im weitesten Wortsinne) verpflanzt, hat es sich damit auch dieser Kultur entledigt, die ja auch nicht die eigene gewesen ist und somit bezugslos zu ihm stand. Daher muss Mose das Volk aus Ägypten führen, damit er es in einen Zustand zurückversetzt vorfindet, an dem er ganz am Anfang ansetzen kann, es völlig neu erziehen und zu einer Einheit bilden kann. Das so befreite Volk wird nun dem Gesetz unterworfen. 74 »Hammurapi (1792–1750 v. Chr.) ist der bedeutendste Herrscher der ersten Dynastie von Babylon. Eine Stele mit seiner Gesetzessammlung wurde 1902 in Susa gefunden und wird heute im Louvre verwahrt. Es handelt sich nicht um neue Gesetze, sondern um eine Sammlung geltenden Rechts, die Hammurapi veranlasst hat. Mose urteilt also in hunderten von Fällen nach dem Codex
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spricht also – historisch korrekt – Recht in Anlehnung an das weltliche Königsrecht, wie zweimal deutlich betont wird. Göttliches Recht, wie Mose es dem Volk gegenüber vertritt75, hat seinen Ursprung also in der weltlichen Gerichtsbarkeit.76 Mose befestigt hier demnach eine »politische Theologie«77, in deren Zentrum nicht, wie es noch bei den Erzvätern der Fall gewesen war, die Arbeit an Gottes Wesen steht, sondern »die politische Ordnung, die Gesetzgebung, die Verfassung, das Bündnis«78. Und durch dieses Bündnis ist das Volk auch keinem Mittler, also keinem weltlichen oder geistlichen Herrscher gegenüber rechenschaftspflichtig. Der Bund wird zwischen dem Volk und Gott geschlossen, »[d] er Bundesgedanke macht das Königstum überflüssig. Das Volk tritt an die Stelle des Königs. […] [D]as fundiert einen neuen, besonderen, emphatischen und in gewissem Sinne ›demokratischen‹ Volksbegriff.«79 Mose wird jedoch so übermäßig stark von der Rechtsprechung und -lehre80 in Anspruch genommen, dass sein Schwiegervater Jethro ihm rät, wie in der Hammurapi.« (Golka : Moses, 108) Vgl. auch Assmann : Exodus, 286–290. Wie weitreichend der Codex das soziale Zusammenleben regelte, betont Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 100 : »Er [der Codex Hammurabi] hat Vorläufer gehabt, die bis ins dritte Jahrtausend zurückreichen, ist aber in seiner Präzision und Ausführlichkeit, mit der er in 282 Paragraphen Eigentumsverhältnisse und Leihgeschäfte, Heirat und Familie, Gesundheits- und Bauwesen, Ackerbau und Handwerk, Lohnarbeit und Sklaverei behandelt, ein singuläres Meisterstück.« 75 »Das Volk kommt zu mir, daß ich richte zwischen einem jeden und seinem Nächsten und zeige ihnen Gottes Recht und seine Gesetze.« (2. Mose 18, 15 f.). 76 Vgl. hierzu die Ausführungen zum assyrischen Königsrecht im Kap. Gewalt und Gesetz. 77 Pott : Kurze Geschichte, 15. 78 Ebd. 79 Assmann : Exodus, 250. Dies unterscheidet auch den Bundschluss mit einem ganzen Volk am Berg Sinai von dem anfänglichen Bund mit dem Individuum Abraham – auch wenn hier Verheißungen für das ganze Volk angekündigt werden. Aber auch von der ägyptischen Rechtspraxis, die die Rechtsautorität des Königs kannte, hebt sich dieses göttliche Recht entscheidend ab : »In Ägypten und im Alten Orient galt der König als Garant dieser Rechtssphäre im umfassenden Sinne. Eine Kodifizierung dieses Rechts hätte ihn seiner wichtigsten Aufgabe und Legitimationsgrundlage beraubt. Die Götter haben keine Gesetze erlassen, sondern sie haben für diese Aufgabe den König bzw. die Institution des Königtums geschaffen. Die Theologisierung des Rechts bedeutet also in politischer Hinsicht nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung der königlichen Rechtssouveränität. Die Tora ersetzt das Königtum, das allenfalls noch als ein Zugeständnis an die Unmündigkeit des Volkes geduldet wird.« (Ebd., 289). 80 Es existieren also – auch in der Bibel – vor der ›Sinai Periskope‹ bereits Gesetze, nach denen Recht gesprochen wird. Auch hier vermutet Assmann den Grund in der Entstehungsgeschichte des Buches Mose : »Das alles weist darauf hin, dass diese ›Sinai-Persikope‹ einen späteren Einschub darstellt um Gesetz und Verfassung Israels zu einem Teil, ja zur Krönung des Offenbarungsgeschehens zu machen, das mit der Szene am brennenden Dornbusch begann und sich in den ›Zeichen und Wundern‹ in Ägypten fortsetzte. Auch in der älteren Fassung gingen Recht und Gesetz von
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Bibel auch81, weitere Richter einzusetzen. Doch Mose befürchtet Korruption : »›Aber die Richter werden Geschenke nehmen […] und die Gottlosen recht haben lassen. Denn Geschenke machen die Sehenden blind und verkehren die Sachen der Gerechten.‹« (GW VIII, 845) Hierauf folgt eine Antwort Jethros, die erneut verdeutlicht, dass für Recht, Ordnung und Sittlichkeit stets ein hoher Preis zu zahlen ist : »›Weiß ich auch‹, erwiderte Jethro. ›Weiß ich ganz gut. Aber etwas davon muß man in Kauf nehmen, wenn nur Recht gesprochen wird überhaupt [Hervorhebung M. A.] und eine Ordnung ist, werde sie auch etwas verwickelter durch Geschenke, das macht nicht so viel.‹« (GW VIII, 845) Hier offenbart sich, dass Ordnung und Recht Sinnhaftigkeit ›an sich‹ bedeuten. Recht bleibt ein Wert an sich, auch wenn das Recht von Korruption durchzogen ist. Ebenso ist Ordnung, in welcher Form auch immer, der Unordnung vorzuziehen. Erneut erweist sich also der stets mögliche unmoralische Impetus von Recht und Ordnung. Mose folgt denn auch Jethros Rat, und so werden Rechtsinstanzen ins Leben gerufen, die das Unrecht der Korruption abfedern sollen. Der Erzähler bedient sich hierbei einer anachronistischen Rechtssprache, wenn er die Notwendigkeit einer Gerichtshierarchie betont : ›[…] Dazu aber, ist Einem seine Sache verkehrt worden vom Richter über zehn, weil der vom Gottlosen genommen hat, so soll er den Dienstweg einschlagen und den Rechtszug verfolgen ; er soll den Richter anrufen über fünfzig und den über hundert und schließlich den über tausend, – der bekommt am allermeisten Geschenke und
Gott aus, aber sie waren Teil dieser den Auszug begleitenden Reden zwischen Gott und Mose, in denen sich Gottes ›Da-Sein‹ erweist und bewährt, und bildeten keinen eigenen grandiosen Offenbarungsakt. Das ist erst das Werk derjenigen Kompositionsstufe, die die Erzählungen vom Exodus und von der Sinai-Gesetzgebung zu einem fortlaufenden, sich steigernden Offenbarungsgeschehen vereinigt hat und in der man wohl das Werk der Priesterschaft erkennen darf.« (Assmann : Exodus, 41). 81 S. 2. Mose 18, 17–23 : »Sein Schwiegervater sprach zu ihm : Es ist nicht gut, was du tust. Du machst dich zu müde, dazu das Volk auch, das mit dir ist. Das Geschäft ist dir zu schwer ; du kannst’s allein nicht ausrichten. Aber gehorche meiner Stimme ; ich will dir raten, und Gott wird mit dir sein. Pflege du des Volks vor Gott und bringe die Geschäfte vor Gott und stelle ihnen Rechte und Gesetze, daß du sie lehrst den Weg, darin sie wandeln, und die Werke, die sie tun sollen. Siehe dich aber um unter allem Volk nach redlichen Leuten, die Gott fürchten, wahrhaftig und dem Geiz feind sind ; die setze über sie, etliche über tausend, über hundert, über fünfzig und über zehn, daß sie das Volk allezeit richten ; wo aber eine große Sache ist, daß sie dieselbe an dich bringen, und sie alle geringen Sachen richten. So wird dir’s leichter werden, und sie werden mit dir tragen. Wirst du das tun, so kannst du ausrichten, was Gott dir gebietet, und all dies Volk kann mit Frieden an seinen Ort kommen.«
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hat darum einen freieren Blick, bei dem wird er schon Recht finden, wenn’s ihm nicht vorher zu langweilig geworden ist.‹ (GW VIII, 846)
Mose ist also bei seiner Arbeit, »ein außergewöhnliches und abgesondertes« (ebd.) Volk zu errichten, das »dem Unsichtbaren […] geheiligt« (ebd.) sein soll, auf weltliche Unterstützung und Maßnahmen angewiesen. So benötigt er einen Rechtsapparat, hinter dem die Streitmacht seines Bewunderers Joschua steht. Dass dieser Rechtsapparat von Korruption durchsetzt ist, muss billigend in Kauf genommen werden. Der Rechtsapparat ist ein erster Schritt, um das Volk weitere Implikationen des transzendenten Gottes lehren zu können. Die Gerichtsstelle wird errichtet, »um die Herstellung der Friedensordnung [zu sichern], in der individuelle Konflikte nicht mehr mit der Faust […] bereinigt werden. Hier geht es nicht um die Schaffung und Durchsetzung des Sittengesetzes, sondern um die Schaffung und Durchsetzung seiner Voraussetzungen.«82 Recht, Macht und Gewalt werden zum Zweck der Erziehung des Volkes somit eng verschränkt, wie dies bereits Walter Benjamin in aller Klarheit formuliert hat : »Rechtsetzung ist Machtsetzung und insofern ein Akt von unmittelbarer Manifestation der Gewalt.«83 3.6.3 Die Lautschrift
Zum Schluss meiner Betrachtung der Gesetzes-Novelle möchte ich mich nun der größten Leistung, die Mose vollbringt, zuwenden, der Installation der Zehn Gebote auf dem Berg Sinai. Der Auftrag, sich zu Gott zu begeben, um dort die Offenbarung zu empfangen, wird Mose nicht, wie in der Bibel84, von Gott erteilt. In der Novelle ist es schon länger Moses Plan, seine Lehre, die für das Volk mit der Lehre Gottes identisch ist, zu kodifizieren. ›[…] Denn längst schon weiß ich, daß Er alles, was ich sie gelehrt zu ihrer Heiligung vor ihm, dem Heiligen, ins Bündige bringen will und ins Ewig-Kurzgefaßte, damit ich’s niedertrage zu euch von Seinem Berge und das Volk es besitze im Stiftszelt, mit 82 Vormbaum : Recht und Staat, 120. 83 Benjamin : Zur Kritik der Gewalt, 198. 84 »Als nun der Herr herniedergekommen war auf den Berg Sinai, oben auf seine Spitze, forderte er Mose oben auf die Spitze des Berges, und Mose stieg hinauf.« (2. Mose 19, 20.) »Und der Herr sprach zu Mose : Komm herauf zu mir auf den Berg und bleib daselbst, daß ich dir gebe steinerne Tafeln und Gesetze und Gebote, die ich geschrieben habe, die du sie lehren sollst.« (2. Mose 24, 12).
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der Lade zusammen, dem Ephod und der Ehernen Schlange. Lebt wohl ! Ich kann auch verderben in Gottes Aufruhr und in den Feuern des Berges […]. Kehre ich aber wieder, so bringe ich euch aus Seinen Donnern das Ewig-Kurzgefaßte herab, Gottes Gesetz.‹ (GW VIII, 860)
Mose hofft, dass das Volk verschriftlichte Gesetze eher befolgen wird, als seine bloßen Worte. »Denn um das Gehudel, das halsstarrige, immer rückfällige, in Gottesgesinnung zu bannen und sie die Gebote fürchten zu lassen, war garnichts wirksamer, als daß er sich bar und allein in Jahwe’s Schrecken emportraute, auf den speienden Berg und ihnen von da das Diktat herniedertrüge, – dann, dachte er, würden sie’s halten.« (Ebd.)85 So steigt Mose auf den Berg Sinai, nur gelegentlich leiblich versorgt durch Joshua, was dem Volke verschwiegen wird, und beginnt sein Bildungswerk. Mose bleibt, wie in der biblischen Vorlage, vierzig Tage auf dem Berg. Der Erzähler begründet diese lange Zeitspanne mit der ungeheuren handwerklichen Tätigkeit, die Mose vollbringen muss. Betrachten wir zunächst die Gesetzgebung am Sinai in der Bibel. Diese erfolgt in zwei Schritten, die sich in der oralen Verkündung und der nachträglichen Sicherung des Verkündeten durch Verschriftlichung auf den Gesetzestafeln vollzieht. Anders als der Mose im Gesetz, der bereits zuvor, wie gezeigt worden ist, das Volk in die Gebote und deren Implikationen eingeweiht hat, findet in der Bibel ein exklusiver Verkündigungsakt durch Gott statt.86 Nach der Verkün digung der Zehn Gebote folgen von 2. Mose 20, 22 an die weiteren Gesetze, die rechtliche Bestimmungen, Regeln für den Gottesdienst und ethische Anweisungen enthalten. Am Ende der Bestimmungen erteilt Gott »Mahnungen und Verheißungen für die Zukunft«87, die einem Bruch der Gesetze und somit dem Abfall von Gott vorbeugen sollen. So wird dem Volk verheißen, dass es bei Befolgung der Gesetze einen starken und strafenden Gott zur Seite hat, der ebenfalls gewillt ist, seinen Teil des Bundes einzuhalten : »Wirst du aber seiner 85 Der rauchende Berg der Bibel wird in der Novelle als Vulkan entlarvt, der durch ein Erdbeben ausbricht. (Vgl. GW VIII, 859) Vgl. auch 2. Mose 19, 16–19 : »Als nun der dritte Tag kam und es Morgen war, da erhob sich ein Donnern und Blitzen und eine dicke Wolke auf dem Berge und ein Ton einer sehr starken Posaune ; das ganze Volk aber, das im Lager war, erschrak. Und Mose führte das Volk aus dem Lager Gott entgegen, und es trat unten an den Berg. Der ganze Berg Sinai aber rauchte, darum daß der Herr herab auf den Berg fuhr mit Feuer ; und sein Rauch ging auf wie ein Rauch vom Ofen, daß der ganze Berg sehr bebte. Und der Posaune Ton ward immer stärker. Mose redete, und Gott antwortete ihm laut.« 86 Vgl. 2. Mose 10, 1–17. 87 2. Mose 23.
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Stimme [der des Engels, den Gott dem auserwählten Volk sendet] hören und tun alles, was ich dir sagen werde, so will ich deiner Feinde Feind und deiner Widersacher Widersacher sein.«88 Als weitere Vorbedingung für die Kodifizierung der Gesetze erfolgt in 2. Mose 24 nun der Bundschluss zwischen Volk und Gott, der mit Blut besiegelt wird. Das Blut stammt von einem Opfertier ; Mose sprengt das Blut zur einen Hälfte auf den Altar und zur anderen Hälfte auf das Volk und spricht zu ihm : »Sehet, das ist das Blut des Bundes, den der Herr mit euch macht über allen diesen Worten.«89 Hiermit ist der Bund sozusagen rechtskräftig. In diesem blutigen Ritus sieht Christoph Türcke einen Rückbezug auf alte, überwundene Opferpraktiken, der Ritus hält erneut Einzug in die Schrift und legt somit ihren blutigen Ursprung im Kainszeichen offen, denn [h]ier wird die Schrift in kaum mehr verhohlener Weise über sich selbst geständig. Indem sie den Bund zwischen Gott und Israel beschreibt, legt sie zugleich den Bund offen, in dem sie seit Menschengedenken mit dem Opferritus steht. Die in Stein geritzten Zeichen auf den Bundestafeln werden erst verbindlich, indem das Blut geopferter Rinder auf sie tropft. Damit nicht genug. Mose besprengt auch das Volk mit Rinderblut. Er läßt es an den Menschen kleben, als ob es ihr Blut wäre – und erweist es damit als Ersatzblut. Das Rinderblut steht für das Blut, das anfangs aus menschlichen Körpern floß, wenn ihnen jene Zeichen eingeritzt wurden, die das ganze Kollektiv einer Gottheit verbanden. Das blutlose Einschreiben in tote Schreibflächen gibt sich als späte, hochkultivierte Ersatzhandlung zu erkennen, indem es die eigene archaische 88 2. Mose 23, 22. 89 2. Mose 24, 8. Der Bundschluss erinnert hier bereits an das christliche Sakrament des Abendmahls, in welchem Sein und Bedeuten aufgehoben sind : »Ich bin das Brot des Lebens. Eure Väter haben Manna gegessen in der Wüste und sind gestorben. Dies ist das Brot, das vom Himmel kommt, auf daß, wer davon isset, nicht sterbe. Ich bin das lebendige Brot, vom Himmel gekommen. Wer von diesem Brot essen wird, der wird leben in Ewigkeit. Und das Brot, daß ich geben werde, ist mein Fleisch, welches ich geben werde für das Leben der Welt. Da zankten die Juden untereinander und sprachen : Wie kann dieser uns sein Fleisch zu essen geben ? Jesus sprach zu ihnen : Wahrlich, wahrlich ich sage euch : Werdet ihr nicht essen das Fleisch des Menschensohnes und trinken sein Blut, so habt ihr kein Leben in euch. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der hat das ewige Leben, und ich werde ihn am Jüngsten Tage auferwecken. Denn mein Fleisch ist die rechte Speise, und mein Blut ist der rechte Trank. Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.« ( Joh. 6) Durch einen Sprechakt wird im Abendmahl erst Bedeutung geschaffen. Dadurch, dass das Brot zum Leib und der Wein zu Blut erklärt wird, sind diese es auch. Voraussetzung hierfür ist natürlich der Glaube. S. hierzu Hörisch : Brot und Wein, 57 : »Das Wort ward Fleisch, das Sein ward Sinn, soma und sema verschränken sich : so lautet die ebenso frohe wie esoterische Botschaft, die das Evangelium des Johannes ergehen lässt.«
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Vorzeit noch einmal aufscheinen läßt. Einerseits hebt es sich davon ab. Die Worte der Bundesschrift werden nicht mehr unmittelbar in Fleisch und Blut eingeschnitten wie einst das Kainszeichen. Ihre Einprägung in Stein, Ton, Gips, Papyros etc. ist nur noch das äußere Zeichen für ihre mentale Einprägung in lebendige Menschen. Andererseits aber, um klarzumachen, wie tief diese Einprägung gehen soll, muß die überwundene Vergangenheit noch einmal heraufbeschworen werden. Das zum Inkrafttreten der Bundesworte vergossene Blut gibt zu verstehen, daß sie nicht minder unauslöschlich in der Seele sitzen sollen als das Kainszeichen im Körper.90
Erst jetzt, nach Verkündigung, Drohung und Verheißung sowie dem endgültigen Bundschluss und abermaligen Vorgaben für den rechten Dienst an Gott, werden die Zehn Gebote kodifiziert. Gott sichert sich sozusagen sowohl rechtlich als auch durch Androhung von Strafe erheblich gegen den Rechtsbruch ab. Das Volk weiß bereits, wozu es sich verpflichtet, denn die Gesetze hatte es bereits durch Verkündigung empfangen und diesen zugestimmt. Die ausführliche und drastische Darstellung der Strafen, die die Feinde der Gläubigen zu erwarten haben, werden mit starken Bildern untermauert91, was ihren Mnemocharakter deutlich erhöht und die Angst des Volkes schürt. Die Bibel lässt keinen Zweifel, wer der Urheber der Zehn Gebote ist : »Und da der Herr ausgeredet hatte mit Mose auf dem Berge Sinai, gab er ihm zwei Tafeln des Zeugnisses ; die waren beschrieben mit dem Finger Gottes.«92 Mit diesen Tafeln steigt Mose nun zum Volk herab, das jedoch bereits jetzt schon von Gott abgefallen ist und dem Goldenen Kalb huldigt. Das Weitere ist bekannt, Mose zerschmettert die Tafeln, das Volk wird bestraft, und Mose begibt sich erneut auf den Berg Sinai zum neuerlichen Empfang der Gesetzestafeln.
90 Türcke : Vom Kainszeichen zum genetischen Code, 102 f. 91 »Ich will meinen Schrecken vor dir her senden und alles Volk verzagt machen, dahin du kommst, und will dir alle deine Feinde in die Flucht geben. Ich will Hornissen vor dir her senden, die vor dir her ausjagen die Heviter, Kanaaniter und Hethiter. Ich will sie nicht auf ein Jahr ausstoßen vor dir, auf daß nicht das Land wüst werde und sich wilde Tiere wider dich mehren ; einzeln nacheinander will ich sie vor dir her ausstoßen, bis du wächsest und das Land besitzest. Und will deine Grenze setzen von dem Schilfmeer bis an das Philistermeer und von der Wüste bis an den Strom. Denn ich will dir in deine Hand geben die Einwohner des Landes, daß du sie sollst ausstoßen vor dir her. Du sollst mit ihnen oder mit ihren Göttern keinen Bund machen ; sondern laß sie nicht wohnen in deinem Lande, daß sie dich nicht verführen wider mich. Denn wo du ihren Göttern dienst, wird dir’s zum Fall geraten.« (2. Mose 23, 27–33). 92 2. Mose 31, 18.
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Und der Herr sprach zu Mose : Haue dir zwei steinerne Tafeln, wie die ersten waren, daß ich die Worte darauf schreibe, die auf den ersten Tafeln waren, welche du zerbrochen hast. Und sei morgen bereit, daß du früh auf den Berg Sinai steigest und daselbst zu mir tretest auf des Berges Spitze. […] Und der Herr sprach zu Mose : Schreib diese Worte : denn nach diesen Worten habe ich mit dir und mit Israel einen Bund gemacht. Und er war allda bei dem Herrn vierzig Tage und vierzig Nächte und aß kein Brot und trank kein Wasser. Und er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die Zehn Worte.93
Während bei der ersten Verschriftlichung vom »Finger Gottes« die Rede ist und somit suggeriert wird, dass Gott die Worte selber in den Stein geschrieben hat, haben wir es bei den endgültigen Gesetzestafeln nur noch mit Gottes mittelbaren Zeichen zu tun, denn Mose schreibt nun eigenhändig die Worte Gottes nieder. Der Mensch erhält also durch seine Sündhaftigkeit nur die zweitbeste Version der Gesetze, ebenso wie er nach der Verbannung aus dem Paradies nur noch in einer zweitbesten Welt lebt, die nicht mehr an der Vollkommenheit des Paradieses partizipiert. Der gesamte biblische Text, der die zweimalige Niederschrift der Gebote berichtet, ist ein Text, der auf die Zukunft gerichtet ist und für alle weiteren Generationen als Drohung und Verheißung dienen soll. Er zeigt bereits, was geschieht, wenn die Gesetze auf den Tafeln – allen voran das erste und das zweite Gebot, denn gegen nichts anderes verstößt das Goldene Kalb – nicht eingehalten werden. Zugleich zeigt er, wie erstaunlich schnell das Volk trotz Strafandrohung wieder von Gott abfällt. Thomas Mann nimmt diesen Gedanken auf und potenziert ihn gleichsam noch, indem er zusätzlich zur Sündhaftigkeit des Menschen betont, wie widernatürlich die Befolgung der Gebote ist und dass eine Einhaltung der Gebote nur über eine strenge Erziehung zu erzielen ist, die Gerichtsbarkeit, Strafe und psychologische Maßnahmen der Tabuisierung einsetzt, so dass das Unnatürliche irgendwann als das Natürliche erscheint. Kommen wir aber nun zur Gesetzgebung durch Mose in der Novelle. Die Novelle kennt die Herabstufung Gottes unmittelbare Zeichen/Gottes mittelbare Zeichen nicht. Mose ist sowohl der Urheber des ersten als auch des zweiten Tafelsatzes. Es wurde bereits angedeutet, dass die lange Frist, die Mose auf dem Berg verbringt, vor allem mit der Schwierigkeit der Vermittlung der Gesetze zu tun hat. Der Erzähler macht noch einmal die Ausmaße des Geplanten deutlich : 93 2. Mose 34, 1–28.
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Warum aber so lange ? Müßige Frage ! Das Ewig-Kurzgefaßte, das Bündig-Bindende, Gottes gedrängtes Sittengesetz galt es zu befestigen und in den Stein Seines Berges zu graben, damit Mose es dem wankelnden Pöbelvolk, seines verscharrten Vaters Blut, herniedertrage in das Gehege, wo sie warteten, und es unter ihnen stehe, von Geschlecht zu Geschlecht, unverbrüchlich, eingegraben auch in ihre Gemüter und in ihr Fleisch und Blut, die Quintessenz des Menschenanstandes. Gott befahl ihm laut aus seiner Brust, zwei Tafeln zu hauen aus dem Berg und das Diktat hineinzuschreiben, fünf Worte auf die eine und fünf auf die andere, im ganzen zehn Worte. Die Tafeln zu schaffen, zu glätten und zu einigermaßen würdigen Trägern des Ewig-Kurzgefaßten zu machen, war keine Kleinigkeit ; für den einsamen Mann, mochte er auch die Milch einer Steinmetztochter getrunken und breite Handgelenke haben, war es ein vielem Mißlingen ausgesetztes Stück Arbeit, das von den vierzig Tagen allein ein Viertel in Anspruch nahm. Die Beschriftung aber war ein Problem, dessen Lösung die Zahl an Bergtage Mose’s leicht sogar auf über vierzig hätte bringen mögen. (GW VIII, 863)
Es spielen also von Anfang an ästhetische Überlegungen des Künstlers eine Rolle, wie er das Medium angemessen für die ›Message‹ gestalten kann. Dabei ergibt sich für Mose in Hinblick auf Verständnis, Verbindlichkeit und Universalität seiner Gebote schnell die Problematik der Schriftart. [W]ie sollte er schreiben ? Im thebanischen Internat hatte er sowohl die schmuckhafte Bildschrift Ägyptens nebst ihrer geläufigen Zurichtung, wie auch das keilig-heilige Dreiecksgedränge vom Euphrat erlernt […]. Er hatte dazu bei den Midianitern die Bekanntschaft eines dritten Bedeutungszaubers aus Augen, Kreuzen, Käfern, Bügeln und verschieden gestalteten Schlangenlinien gemacht, der, im Sinailande gebräuchlich, mit Wüsten-Ungeschick den Bildern Ägyptens abgesehen war, dessen Marken aber nicht ganze Worte und Ding-Ideen, sondern nur Teile von solchen, offene Silben bezeichneten, die zusammenzulesen waren. (GW VIII, 863 f.)
Thomas Manns Neuerung, Mose als ›Halb-Ägypter‹ zu gestalten und seine Schulausbildung zu betonen, ermöglicht ihm nun, Mose als explizit Schriftkundigen zu kennzeichnen, und so die Idee, eine neue Schrift zu entwerfen, glaubhaft zu machen. Was hier beschrieben wird, ist eine gedrängte Schriftgeschichte, die Hieroglyphen-, Keil- und Silbenschrift vorstellt, die alle in ihrem Abstraktionsgrad hinter der Lautschrift zurückstehen. Weiterhin wird deutlich, dass die Schrift hier volksabhängig ist : Die Ägypter, das Volk am Euphrat und die Midianiter haben ein unterschiedliches Schriftsystem. Und so muss sich Mose mit einer anderen Schrift behelfen.
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Keine dieser drei Methoden der Gedankenbefestigung wollte ihm passen, – aus dem einfachen Grunde nicht, weil eine jede an die Sprache gebunden war, die sie bedeutungsweise redete, und weil Mose sich vollkommen darüber im Klaren war, daß er unmöglich und nimmermehr das Zehn-Worte-Diktat auf babylonisch, ägyptisch oder im Sinai-Beduinen-Jargon würde zu Stein bringen können. Das konnte und durfte allein in der Sprache des Vatergeblütes, der Mundart geschehen, die es redete, und in der er es sittlich bearbeite, – ob sie’s nun würden ablesen können oder nicht. Und wie sollten sie’s ablesen, da man es schon gleich garnicht schreiben konnte und ein Bedeutungszauber für ihre Rede schlechterdings nicht zur Hand war ? (GW VIII, 864)
Mose beschließt eine Schrift94 zu erfinden, die die »Kinder […] in wenigen Tagen würden lernen können […].« (Ebd.) Der nun einsetzende Denkprozess wird als geradezu körperliche Anstrengung und Verausgabung geschildert. »Sein Kopf glühte und rauchte davon wie ein Ofen und wie die Gipfel des Berges, befeuert vom inbrünstig volkstümlichen Wunsche. Ihm war, als gingen Strahlen vom Kopf, als träten ihm Hörner oben aus der Stirn vor wünschender Anstrengung und einfacher Erleuchtung.« (Ebd.) Die Hörner95, die Mose hier Kraft seines Erkenntnisaktes vom Kopfe abstehen, erinnern an den Mose Michelangelos. Gehörnt macht sich Mose an die Arbeit und merkt schnell, dass er nicht Zeichen für alle Worte erfinden [konnte]. Darum machte er’s anders und Hörner standen ihm an von der Stirn vor Stolz auf den Gotteseinfall. Er sammelte die Laute der Sprache, die mit den Lippen, mit Zunge und Gaumen und mit der Kehle gebildet werden, indem er die wenigen leer tönenden davon absonderte, die, von jenen eingefaßt, abwechselnd in den Worten vorkamen und von ihnen erst zu Worten gemacht wurden. Auch der umgebenden Geräuschlaute waren es nicht übermäßig viele, kaum zwanzig ; und wenn man ihnen Zeichen verlieh, die, zum Hauchen und Fauchen, zum Mummeln und Rummeln, zum Platzen und Schmatzen nach Übereinkunft aufforderten, so konnte man sie, unter Aussparung der Grundlaute […] zu Worten und 94 In Bezug auf die Erfindung der Lautschrift durch Mose war Thomas Mann durch Elias Auerbach : Moses. Amsterdam 1953 beeinflusst, wie Golka : Moses, 152, darlegt. Vgl. auch Käser : Redaktor, 134. 95 Die gehörnte Darstellung Moses in einigen Kunstwerken, so etwa auch Michelangelos Moses, geht wohl auf einen Übersetzungsfehler in der Vulgata (Hieronymus) zurück. »Das hebräische qärän (Dual qarnayim) hat eine Doppelbedeutung, ›Strahl‹ und ›Horn‹. Vgl.: »Da nun Mose vom Berge Sinai ging, hatte er die zwei Tafeln des Zeugnisses in seiner Hand und wußte nicht, daß die Haut seines Angesichts glänzte davon, daß er mit ihm geredet hatte. Und da Aaron und alle Kinder Israel sahen, daß die Haut seines Angesichts glänzte, fürchteten sie sich, zu ihm zu nahen.« (2. Mose 34, 29 f.) Vgl. auch Vaget : Kommentar, 273.
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Dingbildern zusammenfügen, – zu jedem beliebigen, zu allen, die es gab, nicht nur in der Sprache des Vaterbluts, sondern in allen Sprachen. – man hätte sogar ägyptisch und babylonisch damit schreiben können. (GW VIII, 865)
An dieser Stelle wird der bereits im Kapitel Sprache und Schrift beschriebene Akt der »Zertrümmerung der Sprache durch das Alphabet« deutlich, der »eine Reorganisation von Elementen« erkennen lässt. Auch in der Erfindung der Lausprache wird so die Dialektik von Unordnung und Ordnung sichtbar. Die Lautschrift ist für Mose also auch eine Möglichkeit, das eigene sprachliche Chaos zu bändigen. Darüber hinaus wird deutlich, dass eine solche Schrift nicht nur verbindenden Charakter, sondern auch ein enormes Macht- und Unterwerfungspotenzial besitzt. Da »mit dieser Handvoll Zeichen notfalls die Worte aller Sprachen der Völker geschrieben werden konnten« (GW VIII, 865), können auch alle Völker der Welt diesem Gesetz unterworfen werden ; die Schrift kann für alle verbindlich sein. Eine universelle Schrift hat also auch eine dunkle Seite. Die Erfindung der Schrift, die das »Kurzgefaßte […] als Grundanweisung und Fels des Menschenanstandes […] allenthalben« festschreibt, wird denn auch als »[e]in Gotteseinfall. Eine Idee mit Hörnern« bezeichnet. (Ebd.) Viermal werden die Hörner in Bezug auf diesen »Gotteseinfall« genannt. Die Hörner sind aber eben auch Zeichen des Teufels, und so ist der Gotteseinfall auch ein teuflischer Einfall, weil er das Volk in das Gesetz bindet, ihm den Unterschied von Gut und Böse, von Tugend und Sünde für alle Zeiten schriftlich vor Augen führt, und somit im Namen der Sitte unfrei macht. Die Erfindung der Lautschrift hat hier auch messianischen Charakter, so sie zwar »zunächst gemünzt auf das Blut [war], das Mose aus Ägypten geführt« (ebd.), aber bald schon für alle Menschen bindend sein soll. Darüber hinaus entspricht die abstrakte Schrift viel eher dem transzendenten Gott : »[S]iehe, da konnte man die ganze Welt damit schreiben, das, was da Raum einnahm, und was keinen Raum einnahm, das Gemachte und das Gedachte, – reinweg alles.«96 Ein weiterer Verweis auf ein ›Teufelswerk‹, lässt sich in der Formulierung finden, dass Mose »sorglich im Kleinen schuftend seine Krähenfüße« (GW VIII, 866) schreibt. »[G]roße Krähenfüße« schreibt aber auch der »ziegen96 Hier sind bereits die Anfänge der Metaphysik erkennbar. Vgl. Assmann : Das kulturelle Gedächtnis, 259 : »Nicht bereits die Schrift als solche, sondern erst die Alphabetschrift bedeutet jene ›Disziplinierung‹ des Geistes, die Eric Havelock in sehr überzeugender Weise als die These von der ›Geburt der Philosophie aus dem Geiste der Schrift‹ darlegte.«
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bärtige Mann« im Tod in Venedig, »der mit grimassenhaft leichtem Geschäftsgebahren die Personalien der Reisenden aufnahm und ihnen die Fahrscheine ausstellte.«97 Diese Figur zählt zu den zahlreichen Todesboten und Teufelsfiguren in Der Tod in Venedig, mit ihr beginnt Aschenbachs Reise in die Unterwelt. Am Ende seines Bildungswerks malt Mose seine Buchstaben noch mit seinem Blut – mit Blut wird auch der Pakt mit dem Teufel besiegelt – aus, »damit sie sich besser hervorhöben.« (GW VIII, 867) Zudem wird im blutigen Ausmalen der in den Stein geritzten Schrift die Verletzung des mit Schrift bearbeiteten Körpers nachgeahmt. Wie Gott das Kainsmal in die Haut seines Geschöpfes zeichnet, zeichnet Mose die Worte Gottes in den Stein ; damit knüpfen seine Gebote an die »sakralen Anfänge« der Schrift an. Was geschieht, als er mit den Gesetzestafeln wieder hinabsteigt, wurde bereits beschrieben, er findet das Volk in »haarsträubender Rückfälligkeit« vor. Es erfolgt die »blutige Reinigung« des abermals sündigen Volkes und die erneute Kodifizierung des Gesetzes. Da aber »zu Moses’s Kummer« (GW VIII, 867) die ersten Tafeln nicht sehr sauber gearbeitet waren, hatte ihm das Goldene Kalb einen willkommenen Anlass geboten, die missratenen Tafeln zu zerschlagen. »›Laß mich nun die Tafeln erneuern‹, sagte er [Mose], ›daß ich den Menschen dein Kurzgefaßtes herniederbringe. Am Ende war es ganz gut, daß ich die ersten im Zorn zerschmetterte. Es waren ohnedies ein paar ungeratene Lettern darin. Ich will dir nur gestehen, daß ich unter der Hand daran dachte, als ich sie zerscheiterte.« (GW VIII, 874) Ebenso wie Mose die Gesetze in den Stein meißelt, hat er zuvor an dem Volkskörper herumgemeißelt. Die Wahrheit wird also gewaltsam in den Körper eingebracht, sie soll dem Volk im wahrsten Sinne des Wortes in »Fleisch und Blut« (GW VIII, 875) übergehen. Der Mnemocharakter des bearbeiteten Körpers wird hier betont.98 Am Ende der Novelle wird Mose dann ganz zum Propheten, der zum Volk spricht. Die letzten Zeilen der Novelle sind in der Forschung mitunter als Bruch gegenüber dem restlichen Text gewertet worden.99 In der Tat ist in ihnen nicht mehr der Humor spürbar, der den Text zuvor zweifelsohne durchzieht. Man hat dies als ›Zugeständnis‹ Thomas Manns an den Herausgeber gelesen.100 So habe 97 GkFA 2.1, 517. 98 Vgl. auch die Beschneidung am Fleische, die die Zugehörigkeit zu Gott ausdrückt und diese physisch erfahrbar macht. 99 Vgl. etwa Vaget : Kommentar, 275 : »Der Bezug auf Hitler am Ende des Textes geht nicht zwingend aus der Erzählung hervor […].« 100 »Das Gesetz verdankt sein Entstehen einem gescheiterten Filmprojekt von Armin L. Robinson
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Thomas Mann sein antifaschistisches Programm am Ende der Novelle als Zutat an seinen Text einfach mehr oder weniger bezugslos angefügt. Ich denke aber, dass der Schluss der Novelle sehr wohl bruchlos an den vorangegangenen Text anschließt und die Quintessenz der gesamten Novelle formuliert : »die Worte gelten«. ›In den Stein des Berges metzte ich das ABC des Menschenbenehmens, aber auch in dein Fleisch und Blut soll es gemetzt sein, Israel, sodaß jeder, der ein Wort bricht von den zehn Geboten, heimlich erschrecken soll vor sich selbst und vor Gott, und soll ihm kalt werden um’s Herz, weil es aus Gottes Schranken trat. Ich weiß wohl, und Gott weiß es im Voraus, daß seine Gebote nicht werden gehalten werden ; und wird verstoßen werden gegen die Worte immer und überall. Doch eiskalt ums Herz soll es wenigstens jedem werden, der eines bricht, weil sie doch auch in sein Fleisch und Blut geschrieben sind und er wohl weiß, die Worte gelten.‹ (GW VIII, 875) […] Robinsons Idee war es, zehn bekannte Autoren um eine Episode über die zehn Gebote und ihre Pervertierung durch Hitler zu bitten und daraus einen Film zu machen. Er trug diese Idee im Beisein von T[homas] M[ann] als dem prominentesten der zehn Autoren dem Metro-Goldwyn-Meyer-Studio vor. MGM erteilte Robinson jedoch einen abschlägigen Bescheid. Da aber Robinson seine Autoren schon beisammen hatte […] beschloß er kurzerhand, aus dem abgelehnten Filmprojekt ein gewinnträchtiges Buch zu machen.« (Vaget : Kommentar, 274. Die Texte erschienen schließlich 1943 unter dem Titel The Ten Commandments. Ten Short Novels of Hitler’s War Against the Moral Code. In Das Gesetz ist zweifelsfrei die ursprünglich geplante Entlarvung des Nazi-Regimes noch vorhanden, jedoch schließt sich der Text so nahtlos an die Josephtetralogie und ihre Ordnungs-, Gewalt- und Gesetzesthematik an, dass sich die Thematik nicht in zeitgeschichtlichen Reflexionen erschöpft. Vaget sieht darüber hinaus im Zentrum der Erzählung die Wiederaufnahme der Thomas Mann’schen Künstlerthematik : »Hier trat der in gewissem Sinne paradigmatische Fall ein, daß der ursprünglich zeitgeschichtlich und politisch motivierte Schaffensimpuls eingeholt und überlagert wurde von den älteren, werkinternen Interessen an einer Neugestaltung der Künstlerthematik ; diese angestammten Interessen zeitigten das Konzept : Moses als Michelangelo des israelischen Volkes.« (Kommentar, 275) Vaget gibt zudem zu bedenken, dass es möglich ist, dass Thomas Mann die Erzählung »auch ohne den Anstoß durch das Filmprojekt […] geschrieben hätte«, und begründet dies mit der veränderten politischen Lage, die sich 1943 abzeichnete : »Anfang 1943 begann sich für Thomas Mann endlich der Zusammenbruch des Dritten Reiches abzuzeichnen. Im Tagebuch wird die Entstehung des neuen Werks begleitet von Reflexionen über die Schlacht um Stalingrad und die Konferenz von Casablanca, auf der die bedingungslose Kapitulation Hitlerdeutschlands als Kriegsziel beschlossen wurde. Einer solchen Situation, in der das Ende des verbrecherischen Regimes bevorstand und somit die Möglichkeit einer moralisch-politischen Neubegründung Deutschlands, mochte die Rückbesinnung auf die jahrtausendealte Grundlage der westlichen Gesittung, den Dekalog, auch ohne jene Film-Idee geboten erscheinen.« (Vaget : Das Gesetz. In : Thomas-Mann-Handbuch, 605–610, 607).
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Besonders mit Blick auf die zuvor im Text verwendeten Anachronismen wie »Polizeiabteilung«, »Leutnant« (GW VIII, 861), »Propaganda«, etc. lässt sich hier ein historischer Bezug herstellen. So gelesen, erfolgt zum Schluss der Novelle ein Fluch auf Hitler, denn der verhasste »Bruder«101 hält die Menschen in Thomas Manns ferner Heimat dazu an, die Gebote zu brechen : ,Aber Fluch dem Menschen, der da aufsteht und spricht : ›Sie gelten nicht mehr.‹ […] Er wird sehr stark sein, auf goldenem Stuhl wird er sitzen und für den Weisesten gelten, weil er weiß : das Trachten des Menschenherzens ist böse von Jugend auf. […] Blut wird in Strömen fließen um seiner schwarzen Dummheit willen, Blut, daß die Röte weicht aus den Wangen der Menschheit […]. Und wer seinen Namen nennt, der soll nach allen vier Gegenden speien und sich den Mund wischen und sprechen : ›Behüte !‹ Daß die Erde wieder die Erde sei, ein Tal der Notdurft, aber doch keine Luderwiese.‹ (GW VIII, 875 f.)
Dieser Fluch102 gilt aber eben nicht nur Hitler, sondern ist universal zu verstehen und an jeden gerichtet, der das Volk erneut verführen und zum Bruch der Gesetze anhalten will. Aber der Bund wurde zwischen Volk und Gott geschlossen und sieht keinen irdischen Herrscher vor – weder als Mittler noch als verführenden Machthaber. So ist in Das Gesetz zwar ein Mensch, und dazu ein überaus streitbarer, Urheber der Gesetze, das Volk muss aber an ihren göttlichen Ursprung und damit an ihre unverbrüchliche Geltungsmacht glauben. Denn es »macht einen gewaltigen Unterschied, ob diese vertikale Achse [Volk/gesetzgebender Gott] durch einen König oder andere Organe weltlicher Herrschaft repräsentiert wird oder als göttlich geoffenbarte Urkunde jeder herrscherlichen Verfügbarkeit entzogen wird.«103 Das, was Mose geschaffen hat, sehr wohl auch mit Verführung, Gewalt und Strafe – also mit Mitteln, die auch der Faschismus kennt, und hierin ist Mose Hitler sehr ähnlich – ist unverbrüchlich. Wie das Gesetz zustande gekommen 101 S. Thomas Manns Essay Bruder Hitler (1938) in : Essays, Bd 4 : Achtung, Europa ! Essays 1933– 1938. Hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski. 102 Vgl. auch Vaget : Kommentar, 273 : »[D]ie Schlußrede Moses verwendet TM in seiner Radiosendung ›Deutsche Hörer‹ vom 25.4.1943« als »Anspielung auf Hitler«, der angeblich in einem Gespräch mit Hermann Rausching gesagt haben soll : »›Der Tag wird kommen, an dem ich gegen diese Gebote die Tafeln eines neuen Gesetzes aufrechten werde. Und die Geschichte wird unsere Bewegung als die große Schlacht für die Befreiung der Menschheit erkennen, Befreiung vom Fluche des Sinai.‹« 103 Assmann : Exodus, 254.
Das »Bündig-Bindende« : Gesetz und Schrift
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ist, bleibt sekundär, solange die Worte gelten. Und auch wenn der Weg zur Ordnung ein Weg ist, der all das übertritt, was das Gesetz eigentlich verbürgt, so muss es dennoch gelten. Auch wenn das Gesetz übertreten wird, was allezeit geschehen wird, muss es gelten, weil der Mensch nicht in ein Stadium vor dem Gesetz zurückfallen darf. Der Fluch soll nicht den Gesetzesübertreter treffen, sondern denjenigen, der die Gesetze in Frage stellt. Die Aufhebung des Gesetzes ist also ein gravierenderer Rückfall als der Rückfall in ein sittenloses Leben, das dann vom Gesetz geahndet werden kann. Denn mit dem Gesetz ist ein Rückfall überhaupt erst schändlich und wird bestraft, ohne Gesetz ist aber Sittenlosigkeit der menschliche Naturzustand, den der Mensch bereits überwunden hatte. Das Gesetz scheidet also die Menschheit in eine Ära vor und in eine Ära nach dem Gesetz. Die nach dem Gesetz ist im Grunde keine bessere, es werden immer noch dieselben Taten verübt. Aber sie ist in einer Hinsicht dennoch besser, moralisch besser, weil die Taten nun als Verbrechen gelten. Daher muss das Wort gelten, auch wenn es nicht befolgt wird.104 »Der Hitlerismus hat sich mit seiner Ablehnung des Dekalogs aus der Geschichte der zivilisierten Menschheit verabschiedet und seine Anhänger sind zu Unmenschen geworden.«105 Damit gehört Nazideutschland in die Ära vor dem Gesetz.106 Der Ausspruch »die Worte gelten« beantwortet auch meine eingangs gestellte Frage nach der Reichweite von Thomas Manns Gesetzesbegriff. Er erstreckt sich nicht auf eine aus dem Alten Testament zu kristallisierende Lehre, die der Auslegung bedarf, sondern auf die ganz und gar wörtlich zu nehmenden Zehn Gebote, die Gehorsam fordern. Dieses »ABC des Menschenbenehmens« bedarf in seiner 104 Dass das Gesetz nicht eingehalten wird, daran lässt die Novelle keinen Zweifel. Sie schließt mit den Worten »Und alles Volk sagte Amen.« (GW VIII, 876) »Amen« hatte das Volk aber schon einmal gesagt (vgl. GW VIII, 853), und zwar nachdem Mose ihm die Gesetze mündlich verkündet hatte, aber vor seinem Abfall von den Gesetzen in der Anbetung des Goldenen Kalbs. 105 Golka : Moses, 154 f. Vgl auch Thomas Mann in Sechzehn Jahre. Zur amerikanischen Ausgabe von ›Joseph und seine Brüder‹ in einem Bande, GW XI, 671 : »[ J]ene gegen das Nazitum gerichtete Verteidigung menschlicher Gesittung, genannt ›Das Gesetz‹.« 106 An dieser Stelle sei kurz auf eine Problematik hingewiesen, die ich nur anschneiden kann. Warum musste Thomas Mann noch einmal grundsätzlich die Dialektik von Unordnung/Gewalt und Ordnung/Gesetz durchdenken, um schließlich zu einer Verdammung Hitlers zu gelangen ? Hitlers Taten zu verurteilen sollte doch eigentlich ein Leichtes sein. Hierzu sei gesagt, dass Thomas Mann dieses Denkkonstrukt wohl benötigte, um zu rechtfertigen, warum der eine Gewalt ausüben darf und der andere nicht. Warum Töten nicht immer Töten ist und Reinheit eben nicht immer vernichtenden Rassenwahn bedeutet, sondern auch Heiligung. Thomas Mann legt hier eine so durchgreifende Dialektik der Kultur frei, die höchst modern und aktuell ist und so auch – bekanntermaßen – von Horkheimer/Adorno als Dialektik der Aufklärung beschrieben worden ist.
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Textanalyse : Das Gesetz
Schlichtheit nicht der Auslegung, es legt klar fest, was verboten ist und was nicht. Und wenn es auch allezeit verletzt wird, so soll sich wenigstens das Gewissen regen, und einem »eiskalt ums Herz« werden.
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Welch ein Buch ! groß und weit wie die Welt, wurzelnd in die Abgründe der Schöpfung und hinaufragend in die blauen Geheimnisse des Himmels. Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, Verheißung und Erfüllung, Geburt und Tod, das ganze Drama der Menschheit ist in diesem Buche … Es ist das Buch der Bücher, Biblia.1
Thomas Manns Josephroman steht, so bemerkt der Ägyptologe Jan Assmann im Vorwort zu seinem 2006 erschienenen Buch Thomas Mann und Ägypten, »was […] den Stoff und die Form seiner Behandlung betrifft, in der Literaturgeschichte ziemlich einzigartig dar [sic !].«2 So unternimmt der Roman den Versuch, anhand der biblischen Joseph-Geschichte den Prozess der Gesittung des Menschen aus seiner Verhaftung im Mythos und seinem Streben nach Geist und Individualität abzuleiten. In der Sprache des Romans ist der Mythos das archaische Erbe eines jeden Menschen, sein ihm aber ebenso eingeschriebener Drang zum Geistigen findet seine Ausprägung in der Suche nach einer höheren Macht. Diese Erkenntnis formuliert der Protagonist des Romans, Joseph, am Ende seiner Reise selber : ›Denn das musterhaft Überlieferte kommt aus der Tiefe, die unten liegt, und ist, was uns bindet. Aber das Ich ist von Gott und ist des Geistes, der ist frei. Dies aber ist gesittetes Leben, daß sich das Bindend-Musterhafte des Grundes mit der Gottesfreiheit des Ich erfülle, und ist keine Menschengesittung ohne das eine und ohne das andere.‹ (GW V, 1422)
In der im Anschluss an den letzten Josephband entstandenen Erzählung Das Gesetz geht es dann darum, wie eine einmal erreichte Gesittung zu befestigen ist, oder vielmehr : ob es überhaupt eine Möglichkeit gibt, diese zu bewahren. Damit stellt Manns ›alttestamentarisches Werk‹ die grundsätzliche Frage nach
1 Heinrich Heine : Ludwig Börne. Eine Denkschrift. In : DHA. Bd. 11, hrsg. v. Manfred Windfuhr Düsseldorf 1978, 38. 2 Assmann : Thomas Mann und Ägypten, 9.
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dem »Rätselwesen« Mensch – und nicht nach dem Wesen eines unergründlichen Gottes. Das Gesetz beginnt dort, wo der Josephroman endet : Im dekadenten Ägypten, das die Urväter und Joseph nicht mehr kennt. In der Novelle wird nun gezeigt, dass Ägypten für die Nachfahren des Stammes Israel kein Land des Bleibens mehr ist. Es scheint, so könnte man formulieren, dass mit dem Ägypten Josephs Thomas Manns Denkmodell über das Alte Testament – als Ort der Schöpfungsund Gründungmythen, die zeigen, wie sich der Mensch in der Welt orientiert, sie ordnet und mit Sinn anfüllt – noch nicht abgeschlossen ist. Es bleibt noch zu zeigen, wie jeder einzelne Mensch human in der Welt existieren kann, nämlich durch den Zwang des kodifizierten Gesetzes, das für jeden und für alle Zeiten gilt – denn »[e]inmal festgehalten, vermögen sich Ideen nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum zu verbreiten«3 – und das mit der Freiheit erkauft wurde und mit Gewalt verteidigt werden muss. Dass sich Thomas Mann die Frage nach der Möglichkeit einer dauerhaften Gesittung aufdrängt und nun im Gesetz gezeigt wird, dass diese nur durch Gewalt erreicht werden kann, ist sicher den zeithistorischen Umständen geschuldet. Kehren wir noch einmal zum Roman zurück. Was sein Protagonist, Joseph, begreift und was er aus der Geschichte über die Gottesentdeckung des Erzvaters Abraham gelernt hat, sei hier noch einmal wiederholt : »Um es vor Gott und den Menschen zu irgendwelcher Ansehnlichkeit und Bedeutung zu bringen, war es nötig, daß man die Dinge – oder wenigstens ein Ding – wichtig nahm.« Dieses eine Ding ist Joseph selbst, oder vielmehr seine Lebensgeschichte, sein Werk. Und zu diesem Werk gehört ein lebenslanges Spiel : Denn das Spielen konnte Jaakobs Sohn und der Rechten seiner Lebtage nicht lassen, als Mann so wenig, […] wie als unkluger Knabe. Die liebste und lieblichste Form des Spielens aber war ihm die Anspielung, und wenn es anspielungsreich zuging in seinem aufmerksam überwachten Leben und die Umstände sich durchsichtig erwiesen für höhere Stimmigkeit, so war er schon glücklich, da durchsichtige Umstände ja nie ganz düster sein können. (GW V, 1293)
Joseph fühlt sich berufen, er fühlt sich erwählt, eine ganz besondere Geschichte mit Leben zu füllen, und dies kann er nur, wenn er dem Höchsten, Gott, dient und diesem darin zu gefallen glaubt. Joseph ist der Homo Ludens, der in der Anspielung, im Gleichnis lebt, der eitle Schönling, der es im dekadenten Ägypten 3 Ebd.: Exodus, 26.
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weit bringt und sich berufen fühlt, seinen Stamm zu retten. Denn den Fortbestand seines Stammes kann der keusche Joseph nicht durch Zeugung sichern.4 Hierfür sind Thamar und Juda zuständig, die die Heilslinie bis hin zu Jesus Christus ermöglichen. Joseph ist kein Patriarch, wie sein Vater Jaakob, der zeugt, um die Zukunft des Stammes zu sichern, Josephs Schaffen ist auf die Gegenwart ausgerichtet, er fühlt sich für den Moment erwählt. Und zur Erwählung braucht es »Treue« und »Hochmut« (GW V, 1091), beides erlangt er durch seine Partizipation am Vergangenen (dem Mythos) und seinem gleichzeitigen Willen zur Zukunft (Gott). Die Sicherheit in Bezug auf ein solchermaßen erwähltes Leben erlangt er durch seine Träume, in denen er in höhere Sphären versetzt und seine weltliche Haupterhebung durch den Pharao vorweggenommen wird. Das Geheimnis von Traum und Deutung kannte Thomas Mann bereits aus Wagners Meistersingern, die auch Nietzsche in seiner Geburt der Tragödie zitiert : »Mein Freund, das grad’ ist Dichters Werk, dass er sein Träumen deut’ und merk’. Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn wird ihm im Traume aufgethan : all’ Dichtkunst und Poeterei ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.«5 In Josephs Träumen regiert also nicht das Freud’sche Unbewusste, Joseph träumt bereits aus der Deutung seines Schicksals heraus. Sein Glaube an seine Auserwählung ist dabei für seinen Lebensweg zentral, denn »[d]er religiöse Mensch erfährt das ihm Widerfahrene als sinnhaft, und im Zeichen des mythischen Bewußtseins ist das Sinnhafte das Wiederkehrende, das déjà vu.«6 Auch wenn Joseph auf seinem Lebensweg eine Entwicklung durchläuft, die ihn zum sorgenden Ernährer macht, so bleibt seine Ich-Bezogenheit doch stets erhalten : Sein eigentliches und allgemeinstes Vertrauen aber ging, wie dies bei Segensleuten zu sein pflegt, nicht von ihm hinaus in die Welt, sondern auf ihn selbst zurück und auf die glücklichen Geheimnisse seiner Natur. Nicht daß er noch auf der knabenhaften Stufe blinder Zumutung verharrt wäre, wo er geglaubt hatte, daß alle Menschen ihn mehr lieben müßten als sich selbst. Was er aber zu glauben fortfuhr, war, daß es ihm gegeben war, Welt und Menschen dazu anzuhalten, ihm ihre beste und lichteste Seite zuzukehren – was, wie man sieht, ein Vertrauen war mehr in sich selbst als in die Welt. Allerdings waren diese beiden, sein Ich und die Welt, nach seiner Einsicht aufeinan4 Ein ›Preis‹ für Josephs Karriere in Ägypten ist es, dass er dem Pharao zuliebe eine ägyptische Ehe eingehen muss. 5 Nietzsche : Geburt der Tragödie, 26. 6 Assmann : Zitathaftes Leben, 147.
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der zugeordnet und in gewissem Sinn eines, als daß jene nicht einfach die Welt war, ganz für sich, sondern eben seine Welt und dadurch einer Modelung zum Guten und Freundlichen unterlag. Die Umstände waren mächtig ; woran aber Joseph glaubte, war ihre Bildsamkeit durch das Persönliche, das Übergewicht der Einzelbestimmung über die allgemein bestimmende Macht der Umstände. (GW V, 1306 f.)
In diesem Zusammenhang ist auch noch einmal Thomas Manns oben zitierter Ausspruch, er habe den Mythos »dem Faschismus aus den Händen genommen und bis in den letzten Winkel der Sprache hinein humanisiert«, kritisch zu reflektieren. Denn an dem Helden Joseph wird ja gerade gezeigt, wie sich das Individuum dem Mythos entwindet, um als »Ernährer« sozial tätig zu sein.7 Am Ende steht also weniger ein »humanisierter« Mythos als vielmehr eine humane Emanzipation vom Mythos. Was alle zentralen Figuren in Roman und Erzählung verbindet und auch ihren Gott ausmacht, ist ihr Eifer. Es wird gezeigt, dass der Mensch sich für etwas ereifern muss, nach etwas streben muss, sonst, so lehrt das Werk, gibt es kein Fortkommen. Diesem Eifer aber wird die ihm verwandte Eifersucht zur Seite gestellt, denn der Mensch, und mit ihm Gott, wacht eifersüchtig über das Errungene und meldet seinen Platz in der Welt an. Eifer und Eifersucht sind nicht nur Dreh- und Angelpunkt von Roman und Novelle, sie haben initiatorischen Charakter und treiben die Handlung voran. Thomas Mann begibt sich mit dieser Thematik in das »Zentrum des monotheistischen Gottesgedankens«8. Diese Zusammenhänge begreift auch Joseph – besser als sein Vater Jaakob : Eifersucht hat doppelten Sinn, zweifache Möglichkeit des Bezuges. Man kann auf einen Gegenstand eifersüchtig sein, weil ein anderer, dessen ganzes Gefühl man beansprucht, ihn allzusehr liebt ; oder man kann diesen Gegenstand beeifern, weil man selber ihn ungeheuer erwählt hat und sein ganzes Gefühl für sich selber begehrt. Eine dritte Möglichkeit ist, daß dies beides zusammentrifft und sich zur vollkommenen Eifersucht vereinigt, – und Joseph tat grundsätzlich nicht so unrecht, in seinem Falle Vollkommenheit zu unterstellen. Nach seiner Meinung war er zerrissen und entrückt worden nicht nur und nicht einmal in erster Linie zur Züchtigung Jaakobs – oder doch vorwiegend darum zum Zwecke dieser Züchtigung, weil er selbst ein Gegenstand übergewaltiger Erwählerlust, großmächtigen Begehrens und eifersüchtiger Vorbehaltenheit war : und zwar in einem Sinn, über den Jaakob wohl manches sorgend vermu7 Vgl. auch Dörr : Mythomimesis, 267. 8 Assmann.: Monotheismus, 33, vgl. Anm. 300.
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tete, der aber seinem eigenen gesetzten und zu solcher Verschmitztheit noch nicht heraufgestuften Vätersinn ferne lag. (GW V, 1136)
Und nur der Besondere und außergewöhnlich Schöne, der sich absondert und seinem Glauben an die Erwählung durch sein außergewöhnliches Leben Ausdruck verleiht, kann die Eifersucht erregen, die durch Entsagung und Keuschheit entfacht wird, in der sich Hass, Liebe und Bewunderung die Hände reichen. Aus den Grundprinzipien Eifersucht und Eifer resultiert auch der dem Menschen inhärente Hang zur Gewalt. Die Gewalt wird in Roman und Erzählung als wirkungsvolles (Roman) und gar notwendiges (Erzählung) Mittel zum Zweck dargestellt. Mose weiß um die Gefahr, aber auch das Potenzial der Gewalt, weil er sie am eigenen Leib erfahren hat. Gewalt ist hierbei ein basaler, lustbringender Trieb im Menschen, der zerstören und ordnen kann, der aber hierfür kanalisiert werden muss. Diese Kanalisierung stellt das Gesetz mit seinem Rechtsapparat dar, beide sollen der Gewalt Einhalt gebieten. Doch durch das Gesetz wird gleichzeitig auch erst das Unrecht geschaffen : Die Erzählung zeigt, wie unnatürlich – aber doch notwendig – die Unterdrückung der gewaltsamen Triebe des Menschen ist. Anders ist eine (soziale) Ordnung nicht zu erlangen. Beide Werke kennen die Doppelnatur des Menschen, denn der Mensch steht zwischen dem ordnenden Prinzip des Geistes und dem leidenschaftlichen Streben der Seele. Eine gleichberechtigte Teilhabe an beiden Prinzipien kann es ohne Leid und Schmerz nicht geben. Die Teilhabe an der Lust wird gestört durch den Geist, der sich mahnend in Erinnerung bringt und nach Reinheit verlangt. Derlei »Geplagte« sind Juda und Mose, die durch die Teilhabe am »Unteren« eine ausgeprägte »Lust« zum Reinen empfinden. Es sind aber gerade diese ›fragwürdigen‹, heiklen Charaktere, die Thomas Mann zu Segensträgern und zu Gesetzgebern macht. Wer gerne lebt und zu einer seelischen Synthese findet, […] wird vielleicht zum ›Erstgeborenen in irdischen Dingen‹ und zum Wohltäter, am weitesten kommt aber der Sünder mit schlechtem Gewissen, der geplagte Triebmensch, der ›es‹ nicht lassen kann, aber dessen Zerknirschung und Anstrengung Gott gefälliger ist als die Lebensfreude und das menschliche, allzumenschliche Vergnügen des Glücklichen.9
Im heiklen Segensträger ( Juda) und Gesetzgeber (Mose) enthüllt Thomas Mann aber auch die heiklen Bedingungen und Implikationen jeder Ordnung. Da alles 9 Finck : Thomas Mann und die Psychoanalyse, 319.
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vom Menschen kommt, ist auch allem die Neigung zur Unordnung und Vermischung eingeschrieben. Unordnung und Vermischung, kurz das Chaos, wird als uranfängliches Prinzip begriffen, aus dem alles kommt und in das alles stets zurückfallen kann. Da der Mensch aber in seiner Entwicklung dazu fähig ist, einen transzendenten Gott zu entdecken, der auf die Zukunft gerichtet ist und somit auch sein ihm nacheifernder Entdecker sein Wesen und Wirken auf die Zukunft richtet, kann der Mensch sich dem Mythos entwinden. In Roman und Novelle wird nun von Gründungsakten berichtet, die zeigen, wie der Mensch sich in der Welt zurechtfindet, welche Ordnungen er gründet, welche Gesetze er befestigt. Vor allem die Erfindung der Schrift und des Gesetzes demonstrieren Weltgestaltung aus Ordnungsdrang. So kodifiziert die Schrift Gesetze und befestigt diese somit für die Ewigkeit. Um diese Gesetze durchzusetzen, bedarf es der Gewalt ; um sie zu erhalten, bedarf es ebenfalls der Gewalt. Doch diese darf nicht wild wuchern, sie muss als Kraft, die durch einen Rechtsapparat reglementiert wird, ausgeübt werden und steht somit der potenzierten (alttestamentarischen) Rache entgegen. Und so ergibt sich, dass der Mensch beides benötigt, Geist und Seele. Hätte nicht Friede und heiterer Sinn können herrschen im Jaakobsstamm und alles einen gelinden und gleichen Gang nehmen in ebener Verträglichkeit ? Leider nicht, wenn geschehen sollte, was geschah, und wenn die Tatsache, daß es geschah, auch zugleich der Beweis dafür ist, daß es geschehen sollte und mußte. Das Geschehen der Welt ist groß, und da wir nicht wünschen können, es möchte lieber friedlich unterbleiben, dürfen wir auch die Leidenschaften nicht verwünschen, die es bewerkstelligen ; denn ohne Schuld und Leidenschaft ginge nichts voran. (GW IV, 336)
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Thomas Mann - und sein Verhältnis zum Staat Lenins und Stalins
Alexej Baskakov „Ich bin kein Mitläufer“ Thomas Mann und die Sowjetunion 2018. 199 S., gebunden. € 25,– D | 26,– A ISBN 978-3-412-50000-9
Als prominenter politischer Immigrant wurde Thomas Mann seit der Übersiedlung in die USA im Jahre 1938 bis zu seinem Tode 1955 durch amerikanische Sicherheitsbehörden observiert. Aber schon lange vor seiner Exilzeit war er ins Visier der zuständigen Dienste der Sowjetunion geraten. Die Sowjets beobachteten seine vielseitigen Aktivitäten bereits in den Zwanzigerjahren und führten seit spätestens 1946 eine Personalakte über ihn. Das Interesse beruhte auf Gegenseitigkeit, denn Thomas Mann zeigte sich gegenüber der UdSSR keineswegs gleichgültig. Sein Verhältnis zum Staat Lenins und Stalins gestaltete sich als ein Prozess, der verschiedene Phasen – von Furcht und Misstrauen bis zur wohlwollenden Anerkennung – durchlebte. Das vorliegende Buch will diesem eigenartigen Verhältnis auf den Grund gehen. Es basiert im Wesentlichen auf bisher unveröffentlichten Dokumenten aus russischen Archiven.
MANN UND TOLSTOI – VERBUNDEN ÜBER DAS WERK
Alexej Baskakov »Ströme von Kraft« Thomas Mann und Tolstoi 2014. 272 S. mit 14 s/w- Abb., gebunden. € 28,– D | 29,– A ISBN 978-3-412-22413-4
Wie kaum ein anderer Autor hat Leo Tolstoi (1828-1910) Thomas Manns menschliches und künstlerisches Werden beeinflusst. Von den ersten Begegnungen mit dem Werk des russischen Dichters in der Zeit der »Buddenbrooks« bis zu seinen letzten Lebensjahren wurde Thomas Mann von Tolstoi begleitet. Unter anderem Thomas Manns Tagebücher bezeugen, dass er sich in beinahe allen Situationen seines Lebens – ob bei Schaffenskrisen oder in Perioden politischer Ratlosigkeit, ob bei Depressionen oder angesichts lebenswichtiger Entscheidungen – durch die Lektüre Tolstois ‚stärkte‘. Leider ist es zu keiner realen Begegnung beider Dichter gekommen, die Verbindung erfolgte lediglich über das Werk. Vielleicht spielte Tolstoi gerade aus diesem Grund für Thomas Mann eine nahezu ‚mythische‘ Rolle, die in diesem Buch analysiert und gewürdigt wird.