Thomas Manns philosophische Dichtung: Vom Grund und Zweck seines Projekts 9783495820353, 9783495490457


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German Pages [270] Year 2020

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Inhalt
Einleitung
Teil I: Philosophische Romane
I. »Sokratischer Dialog unserer Zeit«. Philosophengestalten in Manns Werk
1. Vom »absoluten Roman« als Erben Platons
2. Thomas Mann als Erbe des »absoluten Romans«
3. Inversion der Philosophie im Roman
4. Von Nietzsche zu Platon: Fiorenza
5. Castorps Bildung durch Liebe
II. Apokalypse der deutschen »Seele«? Doktor Faustus als »Zeitroman«
1. Die Zielvorgabe einer »allgemeinen Beglückung«: Königliche Hoheit
2. Der »Zeitroman« als Deutungskonzept
3. Revolution im Roman
4. Pariser Rechenschaft
5. Das »Menschheitslied« der Joseph-Tetralogie
6. Der Erlösungsgedanke des Doktor Faustus
7. Zum normativ-praktischen Sinn von Manns »apokalyptischem« Roman
Teil II: Philosophische Deutungen
III. Polemik mit System. Manns Betrachtungen eines Unpolitischen
1. Das Genre der Betrachtungen eines Unpolitischen
2. Aufbauanalyse: der Gedankengang der Schrift
3. Der staatstheoretische Kern: Unterscheidung von Staat und Verfassung
4. Staatsphilosophischer Grundgedanke: das Recht auf Selbstbehauptung
5. Kurzes Fazit
IV. Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt
1. Schmitts Polemik gegen Thomas Mann
2. Zeitgenössische Romantik: präsentistische Aktualisierungen
3. Manns »Überwindung« der Romantik
4. Schmitts Spiegel der Politischen Romantik
V. Der Zauberberg als Identifikationsmodell
1. Didaktisierung und Popularisierung
2. Heidegger als Leser des Zauberberg
3. Die Davoser Hochschulwochen
4. Mann in der Zeit der Zauberer
VI. Einsame Größe und Leid der Mitwelt: Ernst Cassirer über Lotte in Weimar
1. Cassirer als Repräsentant des liberalen Judentums
2. Zu Cassirers politischen Schriften
3. Zur Korrespondenz zwischen Mann und Cassirer
4. Goethe als Vermittler
5. Individuum ineffabile
6. Franz Blei als Quelle?
7. Tragische Wahlverwandtschaften
VII. Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«
1. Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »konservativen Revolution«
1.1. »Geheimes Deutschland« vs. »Konservative Revolution«
1.2. Hofmannsthal und Mann über »Konservative Revolution«
1.3. Apologetische Umdeutung durch Rauschning und Mohler
2. Siegfried Marck (1889–1957): Basisdaten
3. Manns Umgang mit Marck
4. Marcks Explikation: Neuhumanismus als konservativ-revolutionäre Synthese
VIII. Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese: Manns Antwort an Walter von Molo
1. Öffentliche Klarstellung
2. Die Unmöglichkeitsthese
3. Das Faustus-Narrativ als Grund der Unmöglichkeitsthese
4. Staat und Nation
Teil III: Werkvollendung und Werkabschluss
IX. Übermensch Andromache. Zu einer Zarathustra-Adaption im Circus-Kapitel des Felix Krull
1. Mythos des Spätwerks
2. Transposition philosophischer Anthropologie
3. Das Circus-Kapitel des Felix Krull
4. Zarathustras Vorrede als Quelle des Circus-Kapitels
X. Ehekomödie als Deutschlandplan? Manns letzte politische Dichtung
1. Schlusswerk als Deutschland-Roman?
2. Odysseus als Widerstandsheld
3. Das Luther-Projekt als politische Dichtung
4. Thomas Mann als Reformator: Reformation der Reformation
XI. »Meines Vaters Schwanengesang«. Manns letzte Ganzschrift
1. Ein letztes »Gnadenjahr«?
2. Jenseits der »Vollbringer«: Manns Spätwerk
3. Entstehungsgeschichte der Schiller-Rede
4. Essayistik als panegyrische »Huldigung«
5. Kontemplative Panegyrik: Versuch über den Versuch
6. Distanzbewusstsein: Hans Blumenbergs Mann-Glossen
XII. »Ein Stück verwirklichter Utopie«: Rekapitulation der Sammlung
Nachwort
Nachweise
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Thomas Manns philosophische Dichtung: Vom Grund und Zweck seines Projekts
 9783495820353, 9783495490457

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Reinhard Mehring

Thomas Manns philosophische Dichtung

Vom Grund und Zweck seines Projekts

VERLAG KARL ALBER

https://doi.org/10.5771/9783495820353

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B

Reinhard Mehring Thomas Manns philosophische Dichtung

VERLAG KARL ALBER

A

https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Reinhard Mehring

Thomas Manns philosophische Dichtung Vom Grund und Zweck seines Projekts

Verlag Karl Alber Freiburg / München

https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Reinhard Mehring Thomas Mann’s Philosophical Poetry On the Reason and the Purpose of his Project At present it seems that Thomas Mann is becoming the new national poet and puts Goethe out of his place. This may well be the case because his literary work represents the path through the crises of the 20th century and the liberal response to those crises. Mann did not merely want to entertain his audience. He rather wanted to »educate« them. It is fair to say that Mann stands in the Platonic tradition of the »artistic philosopher,« a concept that Mann took from Nietzsche. Mann explored a variety of paradigmatic forms of a successful life in their given contexts. Ultimately, Mann, not unlike Plato, aimed for the coincidence of the good and the just. The present collection traces this development and further explores earlier analyses that Mann sketched out for »Fiorenza« and his novels. Mehring’s book also reconstructs the systematic substance of the »Reflections of a Non-Political Man.« Another aspect of the book is the philosophical reception of Mann’s writings by Ernst Cassirer, Siegfried Marck, and Hans Blumenberg. By focussing on Mann’s later works Mehring convincingly shows Mann’s consistent systematic approach to his artistic philosophical questions even beyond »Doctor Faustus« and »Felix Krull.« In his work Mann explored the conditions and possibilities of a subjectively content and politically responsible life in Germany. What he saw as sceptical for his own lifetime, he affirmed in »Joseph and his Brothers« as a necessary vision for humanity.

The Author: Reinhard Mehring, Habilitation in Philosophy in 2000 at the Humboldt University of Berlin. Since 2007 Professor of Political Sciences at the Heidelberg University of Education. Mehring has published several monographs i.a. on Carl Schmitt, Martin Heidegger and Thomas Mann. Most recent publications: Carl Schmitt: Denker im Widerspruch. Werk – Wirkung – Aktualität, Freiburg/Munich 2017, Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, Freiburg/ Munich 2018.

https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Reinhard Mehring Thomas Manns philosophische Dichtung Vom Grund und Zweck seines Projekts Thomas Mann scheint Goethe heute als Nationalschriftsteller abzulösen, repräsentiert sein Werk doch den Krisenweg des 20. Jahrhunderts und die liberaldemokratische Antwort. Er wollte sein Publikum nicht nur unterhalten, sondern auch »erziehen«. Dabei steht er in der platonischen Tradition des »Künstlerphilosophen«, die er von Nietzsche her ergriff: Mann erkundete paradigmatische Gestalten gelingenden Lebens für die gegebenen Verhältnisse und zielte letztlich wie Platon auf die Koinzidenz des Guten und des Gerechten. Die vorliegende Sammlung skizziert dies, frühere Analysen weiterführend, für »Fiorenza« und das Romanwerk, rekonstruiert die systematische Substanz der »Betrachtungen eines Unpolitischen«, erörtert die philosophischen Rezeptionen Thomas Manns durch Ernst Cassirer, Siegfried Marck und Hans Blumenberg und zeigt dann insbesondere am Spätwerk, wie konsequent Mann seine künstlerphilosophische Problemfrage auch über den »Doktor Faustus« und »Felix Krull« hinaus bedachte. Mann explorierte mit seinem Werk die Bedingungen und Möglichkeiten eines subjektiv glückenden und politisch verantwortlichen Lebens in Deutschland. Was er für die Gegenwart eher skeptisch sah, bejahte er dabei mit »Joseph und seine Brüder« als Humanitätsvision.

Der Autor: Reinhard Mehring, 2000 im Fach Philosophie habilitiert (HU Berlin), ist seit 2007 Professor für Politikwissenschaft an der PH Heidelberg. Zahlreiche Monographien u. a. über Thomas Mann, Carl Schmitt, Martin Heidegger. Zuletzt im Verlag Karl Alber erschienen sind: Carl Schmitt: Denker im Widerstreit. Werk – Wirkung – Aktualität (2017), Martin Heidegger und die »konservative Revolution« (2018).

https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Originalausgabe © VERLAG KARL ALBER in der Verlag Herder GmbH, Freiburg / München 2019 Alle Rechte vorbehalten www.verlag-alber.de Coverbild: Thomas Mann, um 1939. ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_0501 Satz und PDF-E-Book: SatzWeise, Bad Wünnenberg Herstellung: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany ISBN (Buch) 978-3-495-49045-7 ISBN (PDF-E-Book) 978-3-495-82035-3

https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11

Teil I: Philosophische Romane I.

II.

»Sokratischer Dialog unserer Zeit«. Philosophengestalten in Manns Werk . . . . . . . . . 1. Vom »absoluten Roman« als Erbe Platons . . . 2. Thomas Mann als Erbe des »absoluten Romans« 3. Inversion der Philosophie im Roman . . . . . . 4. Von Nietzsche zu Platon: Fiorenza . . . . . . . 5. Castorps Bildung durch Liebe . . . . . . . . . .

. . . . . .

Apokalypse der deutschen »Seele«? Doktor Faustus als »Zeitroman« . . . . . . . . . . . . . 1. Die Zielvorgabe einer »allgemeinen Beglückung«: Königliche Hoheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der »Zeitroman« als Deutungskonzept . . . . . . 3. Revolution im Roman . . . . . . . . . . . . . . 4. Pariser Rechenschaft . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das »Menschheitslied« der Joseph-Tetralogie . . . 6. Der Erlösungsgedanke des Doktor Faustus . . . . 7. Zum normativ-praktischen Sinn von Manns »apokalyptischem« Roman . . . . . . . . . . . .

. . . . . .

21 22 32 38 41 53

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58

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58 62 64 68 72 76

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7 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Inhalt

Teil II: Philosophische Deutungen III.

IV.

Polemik mit System. Manns Betrachtungen eines Unpolitischen 1. Das Genre der Betrachtungen eines Unpolitischen . 2. Aufbauanalyse: der Gedankengang der Schrift . . . 3. Der staatstheoretische Kern: die Unterscheidung von Staat und Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Staatsphilosophischer Grundgedanke: das Recht auf Selbstbehauptung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Kurzes Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87 88 91 97 102 104

Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Schmitts Polemik gegen Thomas Mann . . . . . . 2. Zeitgenössische Romantik: präsentistische Aktualisierungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Manns »Überwindung« der Romantik . . . . . . 4. Schmitts Spiegel der Politischen Romantik . . . .

. 111 . 114 . 119

Der Zauberberg als Identifikationsmodell 1. Didaktisierung und Popularisierung 2. Heidegger als Leser des Zauberberg 3. Die Davoser Hochschulwochen . . 4. Mann in der Zeit der Zauberer . .

. . . . .

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126 126 128 130 132

VI. Einsame Größe und Leid der Mitwelt: Ernst Cassirer über Lotte in Weimar . . . . . . . . . . . 1. Cassirer als Repräsentant des liberalen Judentums 2. Zu Cassirers politischen Schriften . . . . . . . . 3. Zur Korrespondenz zwischen Mann und Cassirer . 4. Goethe als Vermittler . . . . . . . . . . . . . . . 5. Individuum ineffabile . . . . . . . . . . . . . . . 6. Franz Blei als Quelle? . . . . . . . . . . . . . . . 7. Tragische Wahlverwandtschaften . . . . . . . . .

. . . . . . . .

138 138 141 142 148 149 153 157

V.

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. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

8 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

. 107 . 108

Inhalt

VII. Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung« . . . 1. Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »Konservativen Revolution« . . . . . . . . . . . 1.1. »Geheimes Deutschland« vs. »Konservative Revolution« . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Hofmannsthal und Mann über »Konservative Revolution« . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Apologetische Umdeutung durch Rauschning und Mohler . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Siegfried Marck (1889–1957): Basisdaten . . . . . 3. Manns Umgang mit Marck . . . . . . . . . . . . 4. Marcks Explikation: Neuhumanismus als konservativ-revolutionäre Synthese . . . . . . . VIII. Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese: Manns Antwort an Walter von Molo . . . . . . . . . 1. Öffentliche Klarstellung . . . . . . . . . . . . 2. Die Unmöglichkeitsthese . . . . . . . . . . . . 3. Das Faustus-Narrativ als Grund der Unmöglichkeitsthese . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Staat und Nation . . . . . . . . . . . . . . . .

. 162 . 165 . 165 . 167 . 172 . 176 . 177 . 184

. . 189 . . 191 . . 191 . . 195 . . 198

Teil III: Werkvollendung und Werkabschluss IX. Übermensch Andromache. Zu einer Zarathustra-Adaption im Circus-Kapitel des Felix Krull . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Mythos des Spätwerks . . . . . . . . . . . . . . . 2. Transposition philosophischer Anthropologie . . . . 3. Das Circus-Kapitel des Felix Krull . . . . . . . . . 4. Zarathustras Vorrede als Quelle des Circus-Kapitels . X.

Ehekomödie als Deutschlandplan? Manns letzte politische Dichtung . . . . . . . . . . . . . 1. Schlusswerk als Deutschland-Roman? . . . . . . . 2. Odysseus als Widerstandsheld . . . . . . . . . . .

203 203 207 209 211

215 215 216

9 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Inhalt

3. 4.

Das Luther-Projekt als politische Dichtung . . . . . Thomas Mann als Reformator: Reformation der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI. »Meines Vaters Schwanengesang«. Manns letzte Ganzschrift . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ein letztes »Gnadenjahr«? . . . . . . . . . . . . . 2. Jenseits der »Vollbringer«: Manns Spätwerk . . . . 3. Entstehungsgeschichte der Schiller-Rede . . . . . . 4. Essayistik als panegyrische »Huldigung« . . . . . . 5. Kontemplative Panegyrik: Versuch über den Versuch 6. Distanzbewusstsein: Hans Blumenbergs MannGlossen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

221 229

235 235 237 241 246 249 254

XII. »Ein Stück verwirklichter Utopie«. Rekapitulation der Sammlung . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachweise

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10 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Einleitung

»Der hat als erster, wenn nicht als einziger Sterblicher deutlich gezeigt, durch sein eigenes Leben und in den Wegen seines Denkens, dass ein Mensch gut und glücklich zugleich werden kann.« Aristoteles über Platon 1

Thomas Mann scheint Goethe in neuerer Zeit als Nationalschriftsteller geradezu abzulösen, repräsentiert er doch den Krisenweg des 20. Jahrhunderts und die liberaldemokratische Antwort. Kontakte zur hohen Politik hat Mann – von Ebert und Stresemann bis Roosevelt und Heuss – oft gesucht und gefunden. In der bundesrepublikanischen Vergangenheitspolitik ist er inzwischen ziemlich unstrittig etabliert. 2016 kaufte die Bundesrepublik seine Villa in Pacific Palisades (Los Angeles) und baute sie zu einem kulturpolitischen Begegnungszentrum um, das Bundespräsident Steinmeier unlängst am 19. Juni 2018 persönlich eröffnete. Presseberichte profilierten die weiße Villa und Steinmeiers Reise als Parallelaktion und Gegenveranstaltung zu Trumps Aufkündigung der transatlantischen »Wertegemeinschaft«. In seiner Rede 2 zur Begleitkonferenz The Struggle for Democracy rekapitulierte Steinmeier Manns politische Biographie und demokratische Wendung: »Wohl erst in Amerika wird Thomas Mann vom Vernunft-Demokraten zum Herzens-Demokraten«, meinte er, beschwor mit Mann den Anteil der USA an der Demokratisierung Deutschlands und blickte über den gegenwärtigen Stand der transatlantischen Beziehungen hinaus: »Die Zukunft der Demokratie ist nicht zu gewinnen ohne eine Idee von der Demokratie der Zukunft.« Steinmeier betonte Manns »Aktualität« und stellte dessen Kampf gegen »Irrationalismus« und für »Vernunft« in den Kontext der europäischen Aufklärung. Seine Rede war weitgehend unstrittig und zustimmungsfähig. Die folgenden Studien vertreten aber eine

Zitiert nach Hellmut Flashar, Aristoteles. Denker des Abendlandes, München 2013, 35 2 Abrufbar: www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Frank-Walter-Stein meier/Reden/2018/06/180619-USA-Konferenz-Democracy.html (Zugriff 20. Juli 2018) 1

11 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Einleitung

noch stärkere Auffassung: Sie betrachten Mann nicht nur als engagierten Demokraten, sondern auch als bedeutenden politischen Philosophen. Damit antworten sie auch auf die Entwicklung der politischen Philosophie und Ideengeschichte in der Bundesrepublik. Wilhelm Hennis (1923–2012), einer der Gründer der bundesdeutschen Politikwissenschaft, mein Doktorvater, kritisierte in seiner einflussreichen Habilitationsschrift Politik und praktische Philosophie 3 1963 einst, auf den Spuren von Hannah Arendt und anderer älterer Autoren, eine neuzeitliche Identifikation von Praxis und Poesis und Reduktion der politischen Vernunft auf instrumentelles Denken und Herstellen. Er arbeitete deshalb auch keine politische Theorie aus und beschloss seine kritischen Meditationen des konstruktivistischen Rationalismus der Moderne mit einer kunstwissenschaftlichen Auslegung der »Vernunft Goyas«; 4 das berühmte Capricho 43 über den »Traum der Vernunft« deutete er mit Swift als ein Denkbild der Verzweiflung, das ganz konkret, auf die spanischen Verhältnisse gemünzt, gegen den Cagliostro-Typus der Projektemacher »am Übergang von der Alchemie zur modernen Technik« zielte. Hennis schlug hier, mit gewolltem Affront gegen die in der alten Bundesrepublik geläufige Frankfurter Rede vom »Projekt der Moderne« und der Aufklärung, eine Brücke zu Goethes Faust II und dem mephistophelischen Projekt der Einführung des Papiergeldes. Er liebte und zitierte die Verse Goethes, die das Volk den Pferdefuß ahnen und murren oder murmeln lassen: »Das ist ein Schalk – Der’s wohl versteht – Er lügt sich ein – So lang’ es geht – Ich weiß schon – Was dahinter steckt – Und was denn weiter? – Ein Projekt –« (HA III, 153)

Gibt es Autoren, die das neuzeitliche politische Denken – um von der Politik zu schweigen – wieder zur Vernunft bringen? Hennis selbst empfahl hier seit den 1980er Jahren vor allem Max Weber. 5 Damit Wilhelm Hennis, Politik und praktische Philosophie. Eine Studie zur Rekonstruktion der politischen Wissenschaft, Neuwied 1963; zum signifikanten Habilitationsverfahren vgl. Verf., Teleologie und Topik. Von der praktischen Philosophie zur politischen Wissenschaft, in: Andreas Anter (Hg.), Wilhelm Hennis’ Politische Wissenschaft, Tübingen 2013, 47–72 4 Wilhelm Hennis, Die Vernunft Goyas und das Projekt der Moderne (1993), in: ders., Politikwissenschaft und politisches Denken. Politikwissenschaftliche Abhandlungen II, Tübingen 2000, 350–368 5 Wilhelm Hennis, Max Webers Fragestellung. Studien zur Biographie des Werkes, 3

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Einleitung

schlug er eine Antwort vor, die einige kanonische Autoren der politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts eher als kritisches Symptom und Teil des Problems betrachtet hatten; sie lehnten den – von Jaspers 6 emphatisch gepriesenen – Existentialismus Webers ab und suchten stattdessen den neuerlichen Rückgang auf die Antike. Eric Voegelin, Leo Strauss und Hannah Arendt, aber auch Helmut Kuhn, Hans-Georg Gadamer und mancher andere ging für die »Rehabilitierung der praktischen Philosophie« (Manfred Riedel) erneut auf Sokrates, Platon oder Aristoteles zurück. Die neueren Debatten der alten Bundesrepublik fügten seit den 1970er Jahren dann verstärkt Kant und Hegel dazu und die kanonpolitischen Klassikerdebatten bewegten sich fortan gerne in polemischen Alternativen und Disjunktionen von Platon und Aristoteles oder Kant und Hegel. Der eine spielte Aristoteles gegen Platon aus, der andere Hegel gegen Kant. So begegnete mir, grob vereinfacht, das Diskursfeld, in dem ich Orientierung suchte. Ich warf mich hier erneut auf den Nationalschriftsteller Thomas Mann und versuchte ihn schon mit meiner Habilitationsschrift als veritablen Philosophen aufzufassen. Meine »Rehabilitierung der praktischen Philosophie« konzentrierte sich auf das – Germanisten wie Philosophen und Politikwissenschaftlern ziemlich aussichtslos und exzentrisch erscheinende –Projekt einer Rehabilitierung und Revindikation Thomas Manns als eines anspruchsvollen und klassischen Autors politischer Philosophie. Mann gehörte nicht zu den »Träumern« der Umbruchzeit beim Übergang zur Weimarer Republik, 7 die er als »Zivilisationsliteraten« kritisierte, sondern steht vielmehr in der platonischen Tradition des »Künstlerphilosophen«, die er von Nietzsche her ergriff. 8 Er wollte Tübingen 1987; Max Webers Wissenschaft vom Menschen. Neue Studien zur Biographie des Werkes, Tübingen 1996; Max Weber und Thukydides. Nachträge zur Biographie des Werkes, 2003; dazu meine Besprechung in: Philosophischer Literaturanzeiger 56 (2003), 150–153 6 Karl Jaspers, Max Weber. Eine Gedenkrede, Tübingen 1926; ders., Max Weber. Deutsches Wesen im politischen Denken, im Forschen und Philosophieren, Oldenburg 1932 7 Dazu Volker Weidermann, Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Köln 2017 8 Thomas Mann wird hier nach verbreiteten Ausgaben zitiert: (GW) Werke in dreizehn Bänden, Frankfurt 1974; Briefe 1889–1955, 3 Bde., hrsg. Erika u. Katia Mann, Frankfurt 1961/65; (GKFA) Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher, Frankfurt 2002 ff; die Tagebücher werden nach den von Peter de Mendelssohn und Inge Jens herausgegebenen Bänden meist nur mit Datumangabe

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Einleitung

paradigmatische Gestalten gelingenden Lebens für die gegebenen Verhältnisse erkunden und zielte letztlich wie Platon auf eine – erstmals mit Königliche Hoheit als Traumziel der »allgemeinen Beglückung« visionierte – Koinzidenz des Guten und des Gerechten. Die anthropologische Frage nach den Möglichkeiten eines subjektiv beglückenden, gelingenden Lebens stellte er dabei in die historisch-politische Bedingungsanalyse zurück. Können Menschen überhaupt glücklich leben? Das eruierte Mann vom kleinen Herrn Friedemann bis Felix Krull. Krull handelt aber objektiv kriminell. Konfligiert das Gute und das Gerechte? Ist soziale Verantwortlichkeit mit individuellem Glück vereinbar? Königliche Hoheit brachte es nur zum »strengen Glück« der »Versöhnung von Strenge und Glück« (XI, 575). Der Zauberberg problematisierte mit der Möglichkeit von Bildung die Chancen der Rettung aus der »großen Konfusion« der Zeit. Mann fragte dann weiter: Gehört Gerechtigkeit zu den Glücksbedingungen? Kann der Gerechte glücklich leben? Was Mann mit Joseph und seine Brüder als anfängliche Möglichkeit positiv beantwortete, sah er unter den Bedingungen der deutschen Nationalgeschichte mit dem Doktor Faustus pessimistisch. Seine dichterische Exploration des platonischen Problems, der Koinzidenz des Guten und des Gerechten, war damit an ein Ende gelangt. Auch deshalb nennt Mann sein Spätwerk nach dem Doktor Faustus mitunter »posthum«. Wenn dafür hier im Text von einem »Projekt« die Rede ist, ist also nicht die instrumentelle Vernunft des neuzeitlichen Konstruktivismus gemeint und es wäre mit Mann – oder Castorp – für die Anfänge auch eher von einem fast verschämten und geradezu unwahrscheinlichen »Traumgedicht« (III, 685 f) zu sprechen. Weniger ein fester Vorsatz und klarer Plan als eine Strebensrichtung ist gemeint, eine interne Reflexivität, Kohärenz und Finalität des Werkes. Die intertextuelle Verknüpfung des Gesamtwerks ist dabei zwar nicht so zitiert; ohne Kürzel ist immer GW gemeint; Nietzsche wird nach den von Colli / Montinari herausgegebenen Sämtlichen Werken der Kritischen Studienausgabe (KSA) zitiert; die Literatur ist uferlos, im germanistischen Mainstream aber oft erstaunlich ignorant gegenüber Manns Geltungsanspruch. Den Stand markieren die Thomas-Mann-Jahrbücher, die GKFA und etwa Andreas Blödorn / Friedhelm Marx (Hg.), Thomas Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart 2015; aus der neueren Sekundärliteratur waren mir insbesondere die Bücher von Vaget und Borchmeyer wichtig, deren neuhumanistische Gesamtauffassung und Nähe zu Manns Selbstverständnis ich teile.

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Einleitung

explizit wie etwa in Balzacs Comédie Humaine, 9 und doch ist sie sachlich strenger und dichter. Manns Traumkonzept ist zwar von Schopenhauer und Wagner initiiert, 10 betonte mit Joseph aber den kognitiven Gehalt der Träume: »Ich will euch das Geheimnis der Träumerei verraten: die Deutung ist früher als der Traum, und wir träumen schon aus der Deutung.« (V, 1351) Mann hatte narratologisch versierte Begriffe vom Werk, Autor und Erzähler. Einem naiven »Realismus« 11 hing er nicht an. Niemals hat er sein künstlerphilosophisches Gesamtvorhaben und Traumziel zwar scholastisch formuliert; die abstrakte Formel vom »intellektuellen Roman« erfasst aber die interne Logik und Verknüpfung der einzelnen Texte zum einigermaßen kohärenten, autorschaftlich geschlossenen Gesamtwerk nicht hinreichend. Mann nannte seine vier großen Romane gerne »kleine Vollbringer«. Wenn der Deminuitiv Sinn macht, mehr meint als einen Bescheidenheitstopos, impliziert er im hermeneutischen »Vorgriff der Vollkommenheit« (Gadamer) die Orientierung an einem relativ abgeschlossenen oder vollendeten Gesamtplan und Gesamtwerk. Mann blickte oft und gern auf sein Leben und Werk zurück. Vom Ende, von den letzten Plänen und Schriften her zeigt sich seine autorschaftliche Zielführung besonders deutlich. Zwar war ihm die Rede vom »Künstlerphilosophen« durch Nietzsche vertraut und er wurde schon von Zeitgenossen, etwa von Siegfried Marck, 12 gelegentlich so bezeichnet; dass er hier in den folgenden Studien aber eng in die Nachfolge Platons gestellt wird, hätte er sich nicht träumen lassen und als literaturkritische Einsicht nicht anerkannt. Dennoch scheint mir die Suche nach einer Koinzidenz des Guten und des Gerechten, wie sie Platons Politeia durchkonjugierte, die Problemstellung und Zielrichtung des Gesamtwerks ziemlich genau zu bezeichnen. Diese Formel idealisiert zwar die Finalität in starker Fremdzuschreibung; schon deshalb fügt sich ihr nicht alles; eine interne Kohärenz und Zielführung, spätestens seit dem Joseph-Projekt, lässt sich aber Dazu etwa Hugo Friedrich, Die Klassiker des französischen Romans, Leipzig 1939, 83 ff 10 Dazu vgl. Richard Wagner, Die Meistersinger von Nürnberg, in: ders., Gesammelte Werke und Dichtungen, hrsg. Wolfgang Golther, Berlin o. J., Bd. VII, 232: »Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn / wird ihm im Traume aufgetan: all Dichtkunst und Poeterei / ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.« (Hans Sachs) 11 Dagegen schon Theodor W. Adorno, Standort des Erzählers im zeitgenössischen Roman, in: ders., Noten zur Literatur, Frankfurt 1974, 41–48 12 Siegfried Marck, Thomas Mann als Denker, in: Kant-Studien 47 (1955), 225–233 9

15 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Einleitung

schwerlich bestreiten. Wer dafür eine bessere Formel findet, möge sie explizieren. Eine starke philosophische Deutung des »humanistischen« Geltungsanspruchs von Manns Werk ist heute literaturwissenschaftlich nach wie vor umstritten. Das liegt nicht zuletzt an der Trennung der modernen Geisteswissenschaften von der Philosophie und Entkoppelung von »Wahrheit« und »Sinn«, die Vittorio Hösle jüngst in seiner gewichtigen Kritik der verstehenden Vernunft, 13 gegen »Gadamers Epigonen« 14 gerichtet, systematisch streng kritisiert hat. Hösles philosophische Hermeneutik rehabilitiert den »noematischen« Wahrheitsanspruch der Kunst und erörtert über das Werkverständnis hinaus die Bedingungen der Möglichkeit des Verstehens überhaupt. Sie verteidigt den philosophischen Mentalismus und Intententionalismus und zielt mit einem »moderaten Intentionalismus« über die Autorintentionen hinaus auf das »Werkverständnis«. Einige längere Zitate seien zur philosophischen Rechtfertigung der starken MannDeutung hier vorausgeschickt: »Die erste Aufgabe bei der Interpretation eines fiktionalen Textes ist es, die mögliche Welt herauszuarbeiten, die durch den fiktionalen Text konstituiert wird, und zu bestimmen, was in dieser Welt wahr ist. Das beschränkt sich keineswegs auf das, was im Text explizit behauptet wird; denn kunstvoll ist der Text nur, wenn er manches insinuiert.« 15 »In den meisten Fällen bedeutender Literaturen will der Autor durchaus etwas sagen, ja, paradoxerweise gerade durch das Medium der Fiktion hindurch einen besonderen expressiven Wahrheitsanspruch erheben«. 16 »Bei ernstzunehmenden Schriftstellern unterstellen wir einen Wahrheitswillen, und daher versuchen wir auch bei ihnen, eine Kohärenz in der Entwicklung aufzudecken und etwa Selbstkorrekturen festzustellen und verständlich zu machen.« 17

2006 publizierte Hösle eine große Geschichte des philosophischen Kunstdialogs, 18 die in den folgenden Studien wiederholt zitiert wird. Beiläufig äußerte er sich auch immer wieder über Thomas Mann. Die spezifischen Voraussetzungen einer starken problemgeschichtlichen Vittorio Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft. Eine Grundlegung der Geisteswissenschaften, München 2018 14 Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 470 15 Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 231 16 Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 233 17 Hösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 234 18 Vittorio Hösle, Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München 2006 13

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Einleitung

und annähernd »holistischen« Deutung eines Gesamtwerks, wie sie im Folgenden entwickelt wird, erörterte er in seinen Ausführungen zum »noematischen« Werkverständnis nicht. Aus der Platonexegese ist sie ihm aber geläufig. Hösles »Wiederbelebung des Wahrheitsbegriffes« 19 rechnet selbstverständlich mit einem starken Werk- und Gesamtwerktelos und Kanon der »Klassiker«. Das sei hier ohne Weiteres vorausgeschickt, um den starken Geltungsanspruch der folgenden Deutung in der neueren Diskussion zu situieren. Mann war ein Erbe von Nietzsche und Platon. Die Kette seiner philosophischen Interpreten und Adoreten ist Legende. Von Georg Lukács, Ernst Cassirer, Theodor W. Adorno und Hans Blumenberg reicht sie bis in die Gegenwart. Adorno, beispielsweise, schrieb am 3. Juni 1945, wenige Wochen nach Kriegsende, an Mann: »Als ich Sie, hier an der entlegenen Westküste, treffen durfte, hatte ich das Gefühl, zum ersten und einzigen Mal jener deutschen Tradition leibhaftig zu begegnen, von der ich alles empfangen habe: noch die Kraft, der Tradition zu widerstehen. Dies Gefühl und das Glück, das es gewährt – Theologen würden von Segen sprechen – wird mich nie mehr verlassen. Im Sommer 1921 bin ich einmal, in Kampen, unbemerkt einen langen Spaziergang hinter Ihnen hergegangen und habe mir ausgedacht, wie es wäre, wenn Sie nun zu mir sprächen. Dass Sie zwanzig Jahre später wahrhaft zu mir gesprochen haben, das ist ein Stück verwirklichter Utopie, wie es einem kaum je zuteil wird.« 20

Auch wenn Adorno hier strategisch überspannt formuliert, ist seine hohe Wertschätzung doch ernst gemeint. Bis heute findet sie sich in der Zunft. Die folgenden – teils unveröffentlichten, teils stark überarbeiteten – Studien setzen frühere 21 fort: Im Januar 2000 habilitierte ich mich am Institut für Philosophie der HU-Berlin mit einer Arbeit über Thomas Mann als Künstler und Philosoph, die die sokratische Reflexivität des Werkes als politisch-philosophische Problemgeschichte detailliert rekonstruierte. Sie erschien 2001 in gekürzter Fassung. Eine weiterführende Aufsatzsammlung verdeutlichte 2003 den DeutungsHösle, Kritik der verstehenden Vernunft, 467 Theodor W. Adorno am 3. Juni 1945, in: Theodor W. Adorno / Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, hrsg. Christoph Gödde / Thomas Sprecher, Frankfurt 2002, 17 21 Dazu Reinhard Mehring, Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001; Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003; vgl. auch: Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, Freiburg 2018 19 20

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Einleitung

ansatz systematisch und wies auf die Kette philosophischer Weggefährten und Bewunderer hin. Die politisch-philosophische Lesart des Werkes halte ich weiter für fruchtbar und führe sie hier deshalb in einzelnen Studien neu und breiter aus. Sie erörtern den »sokratischen« und »zeithermeneutischen« Ansatz des Romanwerks, rekonstruieren die Betrachtungen eines Unpolitischen systematisch, skizzieren einige philosophische Mann-Deutungen (Cassirer, Marck, Blumenberg) und verdeutlichen die interne Logik und Problemfrage des Werkes am Spätwerk, letzten Werkplänen und am Werkabschluss.

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Teil I: Philosophische Romane

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I. »Sokratischer Dialog unserer Zeit«. Philosophengestalten in Manns Werk

Dichter müssen genau sein. Thomas Mann pflegte deshalb auch einen fröhlichen Positivismus der Tatsachen, der von der Forschung immer wieder aus diversen Fächerperspektiven »auf den neuesten Stand gebracht« wurde. 1 Er war aber kein Sklave der Tatsächlichkeiten, sondern ein philosophischer Kopf, der »intellektuelle Romane« schrieb. 2 Friedrich Nietzsche und Arthur Schopenhauer wurden ihm vor 1900 frühe philosophische Bildungserlebnisse. Mit Nietzsche und Schopenhauer trat er in den weiten Resonanzraum des Platonismus und Idealismus ein. Wie Nietzsche war er dabei ein ingeniöser Leser, der die Tradition nicht aus den primären Quellen studiert haben musste, um einigermaßen orientiert zu sein. An Hans Vaihinger, einem Schulphilosophen, der Kant mit Nietzsche verband, schrieb er 1919: »Ich darf nicht sagen, dass ich Ihre Philosophie des Alsob primär studiert habe. Aber ich glaube, es steht damit ein wenig wie mit Kant, den man nach Goethe’s Wort als Deutscher nicht gelesen zu haben braucht, um ihn dennoch zu besitzen.« 3

Mann war ein Erbe einer Tradition; er musste Platon nicht extensiv gelesen haben, um Platoniker zu sein. Schon deshalb interessierten sich bedeutende Philosophen für sein Werk. Als Künstler stellte er das »Problem der Humanität« 4 ins Zentrum seiner SelbstinterpretaSo Henning Genz / Ernst Peter Fischer, Was Professor Kuckuck noch nicht wusste. Naturwissenschaftliches in den Romanen Thomas Manns, ausgewählt, kommentiert und auf den neuesten Stand gebracht, Reinbek 2004; vgl. auch Malte Herwig, Bildungsbürger auf Abwegen. Naturwissenschaft im Werk Thomas Manns, Frankfurt 2004; »Was war das Leben? Man wusste es nicht!« Thomas Mann und die Wissenschaften vom Menschen, hrsg. Thomas Sprecher, Frankfurt 2008 2 Dazu schon Helmut Koopmann, Die Entwicklung des ›intellektuellen Romans‹ bei Thomas Mann, Bonn 1962 3 Mann am 29. März 1919 an Vaihinger, in: GKFA 22.1., 284 4 Thomas Mann, Adel des Geistes. Sechzehn Versuche zum Problem der Humanität, Stockholm 1945 1

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tion und vertrat in der Nachfolge von Nietzsche und Platon eine theoretisch wie praktisch anspruchsvolle Philosophie der Humanität. Seine Philosophen treten allerdings nicht als verbeamtete Universitätsphilosophen auf, sondern wie in Platons Kunstdialogen in paradigmatischen Gestalten. Schopenhauer hatte in seinem polemischen Essay Über Universitätsphilosophie eine scharfe Disjunktion des Fachbetriebs zum originären Denken aufgemacht, die über Nietzsche, Heidegger und Löwith bis in die Gegenwart wirkte. Mann übernahm vom 19. Jahrhundert darüber hinaus auch eine Engführung von Theologiegeschichte und Philosophiegeschichte. Campusromane aus dem philosophischen Seminar schrieb er nicht.

1.

Vom »absoluten Roman« als Erben Platons

Philosophie und Dichtung lassen sich nicht leicht trennen. Die philosophische Überlieferung ist als Text erhalten und zeigt eine Vielfalt literarischer Formen. Ihre frühen Texte wurden nicht in Prosa verfasst. Die antike Tragödie war zwar »die hohe Schule des philosophischen Dialogs«, 5 der Lehrdialog entstand aber erst mit der Sokratik. Sokrates wurde zum »Geburtshelfer des neuen Genre«. 6 Eric Voegelin 7 datierte den »Ausgangspunkt« mit dem delphischen Orakel und Vittorio Hösle, Der philosophische Dialog. Eine Poetik und Hermeneutik, München 2006, 82; vgl. auch Rudolf Hirzel, Der Dialog. Ein literaturhistorischer Versuch, Leipzig 1895; Albin Lesky, Geschichte der griechischen Literatur, 2. Aufl. Bern 1957/58, 537 ff; Albrecht Dihle, Griechische Literaturgeschichte. Von Homer bis zum Hellenismus, München 1991, 201 ff; zum Schritt vom »Mythos« zu Platon die Standardwerke von Werner Jaeger, Paideia. Die Formung des griechischen Menschen, 3 Bde., Berlin 1934/47; Wilhelm Nestle, Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, 1940, 2. Aufl. Stuttgart 1975; Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg 1946; Hermann Fränkel, Dichtung und Philosophie des frühen Griechentums, München 4. Aufl. 1993; zur »Musikmathematik« und altgriechischen Musik als Paradigma der Wissenschaft vgl. Erich Frank, Plato und die sogenannten Phytagoreer, Halle 1923; Friedrich Kittler, Musik und Mathematik I: Hellas 1: Aphrodite, München 2006 6 So Hösle, Der philosophische Dialog, 83; vgl. Alexander Demandt, Sokrates vor dem Volksgericht von Athen 399 v. Chr., in: ders. Hg., Macht und Recht. Große Prozesse in der Geschichte, München 1996, 9–33 7 Eric Voegelin am 9. Dezember 1942 an Leo Strauss, in: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Leo Strauss, hrsg. Peter J. Opitz, München 2010, hier: 30 5

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»Mythos vom Menschen« Sokrates und betrachtete den Dialog als »Fortsetzung des Sokratischen Prozesses«, »Seelendrama« und »mythisches Gericht«. 8 Sokrates gilt als Erfinder der praktischen Philosophie; er holte die Philosophie in die Stadt und entdeckte die dialektische Methode und den Anspruch des Begriffs. Viele seiner Schüler schrieben dann sokratische Dialoge. Ihre Unterredungsgespräche dienten »dem doppelten Zwecke, die Erinnerung an den Meister wachzuhalten bzw. mit eigenen Mitteln dessen Mission fortzusetzen«. 9 Der Lehrdialog ist zwar eine »kollektive Schöpfung der Sokratesschüler«, 10 aber nur die Schriften von Xenophon und Platon sind überliefert. Dabei hatte Xenophon »nur kurze Zeit mit Sokrates Umgang« und schrieb seine Dialoge mit zeitlichem Abstand als »Kompilation« 11 anderer sokratischer Autoren; Platon fand den sokratischen Dialog bereits als literarische »Konvention« 12 vor und erreichte eine einzigartige Balance dramatischer und philosophischer Anlage, indem er auf einen literarischen Auftritt in seinen Dialogen verzichtete und seine Positionen indirekt und vieldeutig durch die Maske des Sokrates und andere Personen hindurch sprechen ließ. Platon blieb in seinen Schriften strikt anonym. Sein Maskenspiel übernahm Züge der Komödie: Schon Sokrates spielte ironisch mit seinem Nichtwissen, suchte sein Orakel zu widerlegen und bewährte so das Fragen als »Frömmigkeit des Denkens« (Heidegger). In seiner Jugend schrieb Platon Lyrik und Komödien. Nach dem Tod des Sokrates vernichtete er aber seine Jugenddichtungen und verfasste – abgesehen von einigen erhaltenen Briefen – nur noch philosophische Dialoge. Er unterstellte sein Werk fortan der dialektischen Suche nach »Wahrheit« und limitierte es dabei durch seine Schriftkritik und scharfe Unterscheidung zwischen einführenden Werbungsschriften und der »ungeschriebenen« Lehre der Akademie. Gadamer schrieb dazu 1934: »Seine Dialoge sind nichts als leichte Anspielungen, wie sie nur dem etwas sagen, der mehr als das Wörtliche aus ihnen empfängt und in sich wirksam werden lässt. Eben das ist aber das ständig anklingende Motiv in Platos Kritik der Dichter, dass es ihnen Ernst ist mit etwas, was nicht allen Ernstes Voegelin am 22. April 1951 an Strauss, in: Glaube und Wissen. Der Briefwechsel, 94 ff 9 Hösle, Der philosophische Dialog, 85 10 So Herwig Görgemanns, Platon, Heidelberg 1994, 57 11 Dihle, Griechische Literaturgeschichte, 206 12 Dihle, Griechische Literaturgeschichte, 210 8

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wert ist. Plato selbst gibt gelegentlich Hinweise darauf, dass seine eigenen Schöpfungen, eben weil sie nur Scherz sind und Scherz sein wollen, die wahre Dichtung sind.« 13

Platons überscharfe Dichterkritik, der Konkurrenz im Erziehungsanspruch entsprungen, war inkohärent und selbstwidersprüchlich und wurde in der Nachfolge auch kaum je übernommen: von Aristoteles so wenig wie vom Neuplatonismus, der Renaissance-Philosophie oder der Romantik. 14 Der philosophische Kunstdialog formulierte das offene Projekt dialogischer und diskursiver Ermittlung bestimmter »Ideen« und Begriffe. Die weitere Philosophiegeschichte lässt sich bis ins 20. Jahrhundert hinein dann geradezu als »Fußnote zu Platon« 15 betrachten. Schon Nietzsche und Heidegger sahen es so. Die platonischen Dialoge blieben dabei als Muster unüberbietbar und die literarische Überlieferung und Literaturgeschichte der Philosophie stellte deshalb auch leicht resigniert von dramatischen Kunstdialogen auf hermeneutisch eindeutigere Prosa um. Bezeichnend ist hier, dass schon die zahlreichen verlorenen Dialoge des Aristoteles – Flashar berechnet ihren Umfang auf »über 1000 Seiten« – einen »Bruch« mit der platonischen »Anonymität« vollzogen, 16 indem Aristoteles selbst als Lehrer in seinen Kunstdialogen doktrinär und persönlich auftrat. Flashar schreibt, dass Aristoteles »von Anfang an eine Aufsehen erregende Neuerung« einführte: »Er hat sich selber zum Dialogpartner gemacht – ein Zeichen hohen Selbstbewusstseins, mit dem er in der Akademie allein stand. Niemand ist dieser Neuerung gefolgt; erst 400 Jahre später hat Cicero sie aufgegriffen, der sich dafür ausdrücklich auf Aristoteles beruft.« 17 Mit Platons Dialogen konnte Aristoteles aber künstlerisch wohl nicht konkurrieren, sodass das kanonische Qualitätsbewusstsein der Antike nur seine prosaischen Texte überlieHans-Georg Gadamer, Plato und die Dichter, 1934, in: ders., Gesammelte Werke Bd. V. Griechische Philosophie I, Tübingen 1985, 187–211, hier: 210 14 Dazu eindrucksvoll differenziert Frank F. Pauly, Die Wahrheit der Dichtung. P. B. Shelleys Defense of Poetry im Kontext der Tradition neuplatonischer Poetologien, Heidelberg 2018 15 Die »Fußnotenthese« Whiteheads weitgehend bestätigend vgl. Christoph Kann, Fußnoten zu Platon. Philosophiegeschichte bei A. N. Whitehead, Hamburg 2001; vgl. auch Werner Beierwaltes, Fußnoten zu Platon, Frankfurt 2010 16 Hösle, Der philosophische Dialog, 90 17 Hellmut Flashar, Aristoteles. Lehrer des Abendlandes, München 2013, 26, vgl. ff, 63 ff 13

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ferte. Nur wenige Fragmente seiner Dialoge sind erhalten. Zwar war die Gattung des Lehrdialogs damit noch lange nicht tot: Cicero, Lukian und Augustinus schrieben bedeutende Dialoge und auch in der Renaissance entstanden gelungene Lehrdialoge; Hume und Diderot folgten nach; Vittorio Hösle konstatiert dann aber einen auffälligen »Niedergang der Dialogform« 18 unter dem Druck des monologischen Cartesianismus. Symptomatisch ist hier der Trend zu »vorgelesenen Dialogen«, 19 so etwa in Schlegels Gespräch über die Poesie und Solgers Erwin. Selbst die Salonphilosophie der Romantik gelangte nicht zu einer nachhaltigen und polyperspektivischen Wiederbelebung der Gattung. Goethe und Schiller spotteten deshalb in ihren Xenien über Die philosophische Unterredung: »Einer, das höret man wohl, spricht nach dem andern, doch keiner / Mit dem andern, wer nennt zwey Monologen Gespräch?« 20 Die Romanform entstand in der Antike relativ unabhängig von den dramatischen Formen. Ihre ästhetische Schätzung litt in Deutschland lange unter einer strikten Disjunktion von Poesie und Prosa. Die ästhetische Nobilitierung erfolgte erst mit der Rezeption von Goethes Wilhelm Meister. Überhaupt trat der »deutsche Geist« erst nach 1750 in die Epoche seiner Weltwirkung ein. 21 Der erste philosophische »Kunstrichter« des Wilhelm Meister, Friedrich Schiller, erhob gegen die Romanform noch schwere ästhetische Bedenken. Nach Abschluss seines Essays Über naive und sentimentalische Dichtung setzte er sich intensiv mit dem Roman auseinander. Ausdrücklich strebte er dabei schon im Briefwechsel mit Goethe eine »neue Art von Kritik, nach genetischer Methode« 22 an. Schiller diskutierte den Wilhelm Meister detailliert und wollte Goethe vor allem zu einer Verdeutlichung seiner leitenden philosophischen Idee oder »Ökonomie des Ganzen« anregen. Seine wichtigste grundsätzliche Überlegung betraf hier das Verhältnis von Wilhelms Lehrjahren zur »Idee der Meisterschaft«. In einem großen Brief vom 8. Juli 1796 führte Schiller aus, dass Wilhelm die Idee der Meisterschaft nicht als innere Hösle, Der philosophische Dialog, 119 Hösle, Der philosophische Dialog, 120 20 Johann Wolfgang v. Goethe, Xenien 1796, hrsg. Erich Schmidt / Bernhard Suphan, Weimar 1893, 48 21 So Vittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München 2013, 16 22 Schiller am 16. Oktober 1795 an Goethe, in: Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Erster Theil, Stuttgart 1828, 107 18 19

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Form in sich trug, sondern der »geheimen Führung« durch seine Mitwelt bedarf. 23 Einen Tag später ergänzte er, dass Goethes Realismus ohne philosophische »Speculation« und Reflexion auf die leitende Idee der »Meisterschaft« oder des »tätigen Lebens« durch Protagonisten auskam. 24 Am 19. Oktober schrieb er rückblickend: »Meine Grille mit etwas deutlicherer Pronunciation der Hauptidee abgerechnet, wüsste ich nun in der That nichts mehr, was vermisst werden könnte.« 25 Schiller wünschte also bereits vor Abschluss des Romans eine philosophische Klärung und Profilierung der Romanidee und vermisste eine adäquate Selbstreflexion im Roman. Ein Jahr später schrieb er nach Relektüre apodiktisch: »Die Form des Meisters, wie überhaupt jede Romanform, ist schlechterdings nicht poetisch«. 26 Goethe störte das nicht; lässig gab er die »Unvollkommenheit« des Wilhelm Meister zu und versicherte: »Er mag indessen seyn was er ist, es wird mir nicht leicht wieder begegnen dass ich mich im Gegenstand und in der Form vergreife«. 27 Goethe betrachtete den Roman damals als »pseudo epos« 28 und arbeitete an Hermann und Dorothea, das er als »retardirende« Form vom Drama absetzte. 29 Im Briefwechsel findet sich keine eingehende Poetologie des Romans: vor allem kein formaler Bezug auf den Kunstdialog und eine philosophische oder gar geschichtsphilosophische Privilegierung der Romanform. Die alte Disjunktion von Poesie und Prosa ist noch nicht gänzlich verabschiedet. In ihren Xenien spotten Goethe und Schiller denn auch über die Form des Wilhelm Meister: »Philosoph’scher Roman, du Gliedermann, der so geduldig / Still hält, wenn die Natur gegen die Schneider sich wehrt.« 30 Goethe mied das philosophische Korsett. Freilich sah er, »dass wir Modernen die Genres so sehr zu vermischen Schiller am 8. Juli 1796 an Goethe, in: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe in den Jahren 1794 bis 1805. Zweyter Theil, Stuttgart 1828, 109 ff; dazu finden sich interessante Bemerkungen bei Eduard Spranger, Goethe. Seine geistige Welt, Tübingen 1967, 37 ff, 55 ff, 228 ff 24 Schiller am 9. Juli 1796 an Goethe, in: Briefwechsel. Zweyter Theil, 125 ff 25 Schiller am 19. Oktober 1796 an Goethe, in: Briefwechsel. Zweyter Theil, 227 26 Schiller am 20. Oktober 1797 an Goethe, in: Briefwechsel. Dritter Theil, Stuttgart 1829, 310 27 Goethe am 30. Oktober 1797 an Schiller, in: Briefwechsel. Dritter Theil, 320 28 Goethe am 27. November 1794 an Schiller, in: Briefwechsel. Erster Theil, Stuttgart 1828, 66 29 Goethe am 19. und 22. April 1797 an Schiller, in: Briefwechsel. Dritter Theil, 71, 74 30 Xenien 1796. Nach den Handschriften des Goethe- und Schiller-Archivs, hrsg. Erich Schmidt / Bernhard Suphan, Weimar 1893, 45 23

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geneigt sind«. 31 Er schätzte die Individualität seines Romans, ohne eine starke Gattungspoetik zu entwickeln und diese »Art von Experiment« 32 als Muster moderner Literatur zu empfehlen oder gar seinen anderen Publikationen ästhetisch vorzuziehen. Deshalb war es um 1800 schon ein revolutionärer Bruch und poetologischer Paradigmenwechsel, dass die Romantik den Roman gerade am Muster des Wilhelm Meister zur avancierten Kunstform erhob und sich dabei auch auf die Tradition des philosophischen Kunstdialogs bezog. Waren Platons Dialoge schon formal Synthesen und Summen antiker Dichtung, so erschien die offene Form des Meister nun als eine philosophische Form der Formen: als »progressive Universalpoesie«. Wenn Schlegel die modernen Romane als die »sokratischen Dialoge unserer Zeit« 33 bezeichnete, formulierte er also damals keinen historischen Befund, sondern ein normatives Postulat, das dem Roman eine philosophische Aufgabe zuwies. Ein Vorläufer war hier der Briefroman, der auch formal in den romantischen Roman einging. »Die Romane sind die sokratischen Dialoge unserer Zeit«, meinte Schlegel: »In diese liberale Form hat sich die Lebensweisheit vor der Schulweisheit geflüchtet.« 34 Wo die Universitätsphilosophie ihr Ziel über der Perfektion ihrer Methoden aus den Augen verliert, übernimmt die Kunst kompensatorisch die Aufgabe synthetischer Zusammenschau. Schlegel nennt den Roman deshalb auch ein »Kompendium« und eine »Enzyklopädie«. 35 Die Enzyklopädie trat damals aus dem »Reallexikon« 36 ins philosophische »System« über, wie es Hegels Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundriss zum Gebrauch für die Vorlesungen formulierte. Diesen hohen Anspruch sollte der romantische Roman als offenes Projekt einer literarischen Form der Formen einlösen. Im berühmten Athenäum-Fragment 116 schreibt Schlegel: Goethe am 23. Dezember 1797 an Schiller, in: Briefwechsel. Dritter Theil, 380 Schiller am 8. Juli 1796 an Goethe, in: Briefwechsel. Zweyter Theil, 110 33 Darstellung nach Viktor Zmegac, Der europäische Roman. Geschichte seiner Poetik, Tübingen 1990, 80 ff; Bruno Hillebrand, Theorie des Romans, München 1980, 125 ff 34 Friedrich Schlegel, Kritische Fragmente, in: Werke in zwei Bänden, Berlin (Ost) 1980, Bd. I, 167; zur These grundsätzlich Ursula Wolf, Kunst, Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt 1991, 109–132 35 Schlegel, Kritische Fragmente, in: Werke, Bd. I, 177 36 Dazu vgl. Ulrich Johannes Schneider, Die Erfindung des allgemeinen Wissens. Enzyklopädisches Schreiben im Zeitalter der Aufklärung, München 2012 31 32

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»Die romantische Poesie ist eine progressive Universalpoesie. Ihre Bestimmung ist nicht bloß, alle getrennten Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen und die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung zu setzen. Sie will und soll auch Poesie und Prosa, Genialität und Kritik, Kunstpoesie und Naturpoesie bald mischen, bald verschmelzen, die Poesie lebendig und gesellig und das Leben und die Gesellschaft poetisch machen, den Witz und die Formen der Kunst mit gediegnem Bildungsstoff jeder Art anfüllen und sättigen und durch die Schwingen des Humors beseelen.« 37

Das Wort »liberal« fällt bei Schlegel zwar beiläufig, doch nicht zufällig. An anderer Stelle schreibt er: »Liberal ist, wer von allen Seiten und nach allen Richtungen wie von selbst frei ist und in seiner ganzen Menschheit wirkt«. 38 Treffend nennt er die Sokratische Ironie einmal eine »besonnene Verstellung«. 39 Novalis schrieb damals in seinen Blütenstaub-Notizen: »Was Schlegel so scharf, als Ironie, charakterisiert, ist, meinem Bedünken nach, nichts anderes – als die Folge, der Charakter der echten Besonnenheit – der wahrhaften Gegenwart des Geistes. Der Geist erscheint immer nur in fremder, luftiger Gestalt.« 40

Novalis kritisierte Wilhelm Meisters Lehrjahre scharf als ein neues Evangelium der »Ökonomie« und Entsagung, das »die Poesie durch sich selbst« 41 vernichtet. Literarisch antwortete er mit Heinrich von Ofterdingen; er poetisierte die Romanform über den Wilhelm Meister hinaus, indem er sie ins philosophische Märchen verwandelte; Novalis vertrat die – von Walter Benjamin 42 erfasste – romantische Auffassung, dass ein Kunstwerk sich erst durch die Kunstkritik optimiert. In diesem Sinne notierte er: »Der wahre Leser muss der erweiterte Autor sein.« 43 Als »wahrer Leser« transformierte Novalis das Evangelium der »Ökonomie«, das er Wilhelm Meisters Lehrjahren entnahm, unter dem Eindruck der 1795 in den Horen publizierten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und des abschließenden Märchens. Dabei ist der Zusammenhang mit den Unterhaltungen zu Schlegel, Kritische Fragmente, in: Werke, Bd. I, 204 Schlegel, Kritische Fragmente, in: Werke, Bd. I, 257 39 Schlegel, Kritische Fragmente, in: Werke, Bd. I, 181 40 Novalis, Werke, hrsg. Gerhard Schulz, München 5. Aufl. 2013, 331 41 Novalis am 23. Februar 1800 an Tieck, in: Novalis, Schriften Bd. IV: Tagebücher, Briefwechsel, zeitgenössische Zeugnisse, 321–323, hier: 323 42 Dazu Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Bern 1920 43 Novalis, Werke, 352 37 38

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beachten: Goethe formulierte mitten in den Revolutionsexodus von 1795 hinein Diskursregeln eines zivilen Umgangs mit den Flüchtlingsschicksalen: Die gastgebende Baronesse dekretierte nach einem ersten Eklat das Gebot der »geselligen Schonung« (HA VI, 137) für die »gesittete Bildung« (HA VI, 136): »Lasst uns dahin übereinkommen, dass wir, wenn wir beisammen sind, gänzlich alle Unterhaltung über das Interesse des Tages verbannen!« (HA VI, 139) Die Unterhaltungen dokumentieren eine fortschreitende Entpolitisierung der exemplarischen Geschichten in Richtung auf die allegorische und symbolische Übersetzung. 44 Dieser Zug zur Entpolitisierung und Allegorisierung zeigt sich auch im Ofterdingen. Dort meint Heinrich eingangs zu einigen Kaufleuten: »Ich weiß nicht, aber mich dünkt, ich sähe zwei Wege um zur Wissenschaft der menschlichen Geschichte zu gelangen. Der eine, mühsam und unabsehbar, mit unzähligen Krümmungen, der Weg der Erfahrung; der andere, fast Ein Sprung nur, der Weg der innern Betrachtung.« 45

Man sollte die Romanfigur nicht mit Novalis identifizieren und Heinrich auf den »Weg der inneren Betrachtung« festlegen. Er wandert durch die Welt und poetisiert vor allem seine erotische Erfahrung. Auch Novalis war kein Einsiedler und Klosterbruder. Als Dichter beschwor er aber die Liebe als vereinigende Kraft. Politisch proklamierte er ein Friedensreich, auch wenn sein »Europa« im Ofterdingen vom Kreuzzug gegen das »Morgenland« und der Rückeroberung des »heiligen Grabes« lebt. Die Ritter singen: »Wir waschen bald in frohem Mute / Das Heilige Grab mit Heidenblute.« 46 Klingsohr erklärt Heinrich: »Der wahre Krieg ist der Religionskrieg«. 47 Das war um 1800 selbstverständlich eine Stellungnahme zu den Revolutionskriegen nach 1789. Das Romanfragment endet aber mit Ausführungen des Sylvester zur Souveränität des Gewissens: »Alle Bildung führt zu dem, was man nicht anders, wie Freiheit nennen kann, ohnerachtet damit nicht ein bloßer Begriff, sondern der schaffende Grund alles Daseins bezeichnet werden soll. Diese Freiheit ist Meisterschaft. Der Meister übt freie Gewalt nach Absicht und in bestimmter und überdachter Folge aus. Die Gegenstände seiner Kunst sind sein, und stehn Dazu Verf., Goethes Flüchtlinge. Poetisierung des Dramas, in: ZRGG 68 (2016), 313–333 45 Novalis, Werke, 144 46 Novalis, Werke, 170 47 Novalis, Werke, 226 44

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»Sokratischer Dialog unserer Zeit«

in seinem Belieben und er wird von ihnen nicht gefesselt oder gehemmt. Und gerade diese allumfassende Freiheit, Meisterschaft oder Herrschaft ist das Wesen, der Trieb des Gewissens.« 48 »Das Gewissen ist der Menschen eigenstes Wesen in voller Verklärung, der himmlische Urmensch.« 49

Schiller hatte im Gespräch mit Goethe über den Wilhelm Meister bereits moniert, die »Idee der Meisterschaft« sei in den Lehrjahren noch nicht ganz klar. Novalis sah es ähnlich, revidierte Goethes Roman aber mit seiner religiösen Auffassung von der Souveränität des Gewissens. Dieser starke Gewissensbegriff, für den Novalis auch von »Geist« und »Gemüt« sprach, ließe sich theologisch im freikirchlichen Protestantismus und mystischen Traditionen verorten; politisch war er tendenziell anarchistisch. Novalis träumte von freier politischer Selbstherrschaft, charismatischer Herrschaft der reinen Gewissen und einem Staat ohne Legalität. Dilthey analysierte die romantische Antwort als Konsequenz der von Goethe initiierten »ästhetischen Ansicht der moralischen Welt« und explorierte die romantische Idealisierung und Poetisierung des Daseins als »Revolution unserer moralischen Denkweise«. 50 Die Romantiker transzendierten die Prosa der Verhältnisse und explorierten innovative und alternative Formen des Lebensentwurfs. Sie iniitierten damit die kritische Funktion des Romans als Medium alternativer Daseinsgestaltung. Manche romantische Apotheosen der Romanform klingen Thomas Mann nicht fremd, der den Roman als Orientierungsmedium der »Rettung und Rechtfertigung« seines Lebens entwickelte. In der philosophischen Auffassung der Romanform stand er hier näher bei Schlegel als Novalis. Er zielte nicht auf das mystische »Märchen« und »Gemüt«, sondern auf die explizite kritische Formulierung der leitenden Gestaltungsideen. Schlegels romantische Ironie ist idealiter multiperspektivisch und polyzentrisch. »Es ist nicht einmal ein feiner, sondern eigentlich ein recht grober Kitzel des Egoismus,« schreibt Schlegel, »wenn alle Personen in einem Roman sich um einen bewegen wie Planeten um die Sonne, der dann gewöhnlich des Verfassers unartiges Schoßkind ist und der Spiegel und Schmeichler des entzückten Lesers wird.« 51 Einen solchen Kitzel der Sonne inszenierte Novalis, Werke, 274 Novalis, Werke, 275 50 Wilhelm Dilthey, Novalis, in: ders., Das Erlebnis und die Dichtung, 5. Aufl. Berlin 1916, 268–348, hier: 330 51 Schlegel, Kritische Fragmente, in: Werke, Bd. I, 206 48 49

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Vom »absoluten Roman« als Erben Platons

Mann aber mit seinen starken Identifikationsprotagonisten. Eine solche Sonne ist auch Platons Sokrates: Klare Standpunkte und Autorpositionen gehen hier nicht gänzlich in einem ironischen Perspektivismus unter. Insofern ließe sich für Mann, die doktrinäre Präsenz des Aristoteles im Kunstdialog aufnehmend, leicht ironisch auch von einem »aristotelischen Dialog unserer Zeit« sprechen. Im Gespräch über die Poesie lässt Schlegel auf einen »Brief über den Roman« abschließend einen »Versuch über den verschiedenen Stil« Goethes folgen. Schon im Essay Über Goethes ›Meister‹ betrachtet er den Roman als das hohe Muster für seine Utopie der Universalpoesie. In einer progressiven »Bildungslehre der Lebenskunst« erblickt er den »Genius des Ganzen« und preist den »Geist« der »Vereinigung des Antiken und des Modernen«. 52 Das ist Mann eigentlich aus dem Herzen gesprochen. Schlegel formuliert einige Kerngedanken des modernen Romans besonders scharf: die Idee einer reflexiven und offenen Form der Formen, die alle Gattungen integriert, den kritischen Anspruch auf Essayismus und das Stichwort von der »progressiven Universalpoesie«. Die Frühromantik konstitutierte um 1800 mit ihrer Unterscheidung von »Geist« und Buchstaben auch die modernen hermeneutischen »Geisteswissenschaften« und ein außeruniversitäres Lesepublikum, Autorschaft und Korrespondenzen zwischen Philosophie und Germanistik, die bis in die Form des Philosophicums und der Lehrerausbildung hinein institutionalisiert wurden und den modernen Roman intellektuell mit einer Geschichtsphilosophie des Ästhetischen aufluden. 53 Manche Überlegungen Schlegels sind Mann zwar schon terminologisch recht fremd; so vertrat Mann starke Begriffe vom »Werk« und vom »Autor« und unterschied deutlich zwischen seiner Dichtung und essayistischen »Einschaltungen«. Seine Essaypositionen nahm er aber auch immer wieder in seine Dichtung hinein und seine starken Begriffe von Werkherrschaft und Autorschaft relativierte er durch leitmotivische Verweisungen und die Betonung des Eigengeists der Epik.

Schlegel, Gespräch über die Poesie, in: Werke, Bd. II, 190 f; vgl. schon Werke Bd. I, 158 (Goethes »Meister« als »Lebenskunstlehre«) 53 Dazu Friedrich Kittler, Philosophien der Literatur. Berliner Vorlesung 2002, Berlin 2013, 150 ff, 185 ff 52

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2.

Thomas Mann als Erbe des »absoluten Romans«

Diese knappen Hinweise auf die Tradition des philosophischen Kunstdialogs und den Sokratismus des romantischen Romans sind nicht originell und klären die Traditionen von Manns Romanpoetik auch nicht hinreichend. Auf die romantischen Quellen seiner Kunst hat Mann selbst immer wieder hingewiesen; Käte Hamburger 54 hat sie früh weiter erforscht. Der Blick in die philosophische Vorgeschichte des Kunstdialogs mag Akzente setzen. Die philosophischen Fragen um Multiperspektivismus, Auktorialität und den Standort des Erzählers sind damit aber nur angerissen. Weder Platon noch Schlegel waren für Mann als Referenzautoren buchstäblich einschlägig. Novalis beispielsweise war ihm wichtiger. Er war aber natürlich tiefgreifend von Wagner und Nietzsche geprägt: so auch von Nietzsches Antwort auf Wagner und Suche nach einer »Wiedergeburt der Tragödie« in der Form eines »neuen Orpheus« und »musiktreibenden Sokrates«. Sicher kannte er die berühmten Formulierungen, mit denen Nietzsche in der Geburt der Tragödie Schlegels These wieder aufnahm, den platonischen Dialog als »Vorbild« des Romans bezeichnete und dabei vor einer doktrinären Instrumentalisierung der Poesie warnte. Nietzsche meinte: »Der platonische Dialog war gleichsam der Kahn, auf dem sich die schiffbrüchige ältere Poesie samt allen ihren Kindern rettete: auf einem engen Raum zusammengedrängt und dem einen Steuermann Sokrates ängstlich unterthänig, fuhren sie jetzt in eine neue Welt hinein, die an dem phantastischen Bilde dieses Aufzugs sich nie satt sehen konnte. Wirklich hat für die ganze Nachwelt Plato das Vorbild einer neuen Kunstform gegeben, das Vorbild des Roman’s, der als die unendlich gesteigerte aesopische Fabel zu bezeichnen ist, in der die Poesie in einer ähnlichen Rangordnung zur dialektischen Philosophie lebt, wie viele Jahrhunderte hindurch dieselbe Philosophie zur Theologie: nämlich als ancilla. Dies war die neue Stellung der Poesie, in die sie Plato unter dem Drucke des dämonischen Sokrates drängte. Hierdurch überwächst der philosophische Gedanke die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik.« (KSA I, 93 f)

Käte Hamburger, Thomas Mann und die Romantik, Berlin 1932; vgl. Käte Hamburger / Thomas Mann. Briefwechsel 1932–1955, hrsg. Hubert Brunträger, Frankfurt 1999

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Nietzsche verband diese Auffassung anfangs mit einer Distanzierung von der Weimarer Klassik und Form der Dichtung überhaupt und setzte Wagner gegen Goethe und Schiller: »Wenn es solchen Helden, wie Schiller und Goethe, nicht gelingen durfte, jene verzauberte Pforte zu erbrechen, die in den hellenischen Zauberberg führt, wenn es bei ihrem muthigsten Ringen nicht weiter gekommen ist als bis zu jenem sehnsüchtigen Blick, den die Goethesche Iphigenie vom barbarischen Tauris aus nach der Heimat über das Meer hin sendet, was bliebe den Epigonen solcher Helden zu hoffen, wenn sich ihnen nicht plötzlich, an einer ganz anderen, von allen Bemühungen der bisherigen Cultur unberührten Seite die Pforte von selbst auftäte – unter dem mystischen Klange der wiedererweckten Tragödienmusik.« (KSA I, 131)

Nach 1876, nach den ersten Bayreuther Festspielen, korrigierte Nietzsche diese Konfrontation und trat selbst als musizierender Sokrates contra Wagner auf; er fasste seine lyrische Sprache erneut als Musik auf, 55 wie einst die Griechen, und verwarf Wagners »Theatrokratie«. Diesen »ewigen Kampf zwischen der theoretischen und der tragischen Weltbetrachtung« (KSA I, 111) hat Thomas Mann in allen Varianten und Nuancen der Zeitgenossen gekannt und virtuos für sich entschieden, indem er sich auf die Seite Nietzsches stellte. Er sah selbstverständlich die Gefahr doktrinärer Erstickung der Kreativität, kannte die zeitgenössischen Bedenken, die nicht zuletzt aus dem George-Kreis hervorgingen, und las etwa auch das Werk des Nietzsche-Freundes Erwin Rohde 56 über die Anfänge der Romanform. Gewiss waren solche Anregungen für seine Wahl aber nicht entscheidend. Mann ging überhaupt nicht als Theoretiker an sein Prosawerk heran. Erst lange nach der Veröffentlichung seiner Buddenbrooks äußerte er sich poetologisch eingehender. Er fand als Leser zum Roman, und dessen Form war ihm als Erbe des 19. Jahrhunderts ästhetisch relativ unbedenklich und selbstverständlich. Manns Werk wird oft in die Tradition des Bildungsromans gestellt und vom modernen Roman und dessen »Fragmentästhetik« abgesetzt. 57 Mann nahm seine hohen intellektuellen Ansprüche aber Dazu etwa Manfred Riedel, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998 56 Erwin Rohde, Der griechische Roman und seine Vorläufer, 2. Aufl. Leipzig 1900; vgl. ders., Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen, Freiburg 1894 57 So Sabina Becker, Zwischen Klassizität und Moderne. Die Romanpoetik Thomas Manns, in: Michael Ansel / Hans-Edwin Friedrich / Gerhard Lauer (Hg.), Die Erfindung des Schriftstellers Thomas Mann, Berlin 2009, 96–121; Mann spielt deshalb 55

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mehr von Wagner als von der Frühromantik her auf. Schillers großer Essay Über naive und sentimentalische Dichtung hatte die geschichtsphilosophische Lesart der Dichtung populär gemacht. Hegel brachte die geschichtsphilosophische Betrachtung der Kunst in seiner Geschichte des »absoluten Geistes« in ein System und betrachtete den Roman hier beiläufig als einen Erben des abgelebten Epos: als »bürgerliche Epopoe«; Georg Lukács 58 machte daraus eine einflussreiche Theorie des Romans, die auch auf Mann wirkte. Hegel hatte die romantische Poesie zwar als Medium des »absoluten Geistes« für überholt erklärt und das »Ende der Kunst« ausgerufen. Der Junghegelianismus kehrte Hegels Philosophie des »absoluten Geistes« aber sogleich um; er negierte die Emanzipation der Philosophie von der Theologie und las den deutschen Idealismus als »deutsche Ideologie«. Wagner übersetzte die humanistischen Sinngehalte in das Gesamtkunstwerk der Oper und wurde so zu einem Erben der Romantik und Goethezeit. 59 Damit trat der alte Streit um die Rangordnung der Künste in eine neue Epoche. Schon Nietzsche vertrat hier gegen Wagner erneut den Vorrang des Worts. 60 Auch Mann sah das Romankunstwerk als eine philosophische Alternative zu Wagners Gesamtkunstwerk an. Wagner dichtete zwar im Leitmedium der Musik, seine Musik erschien aber als dionysischer Rausch. Hans Rudolf Vaget 61 zeigte unlängst, wie Mann sich nach seiner frühen Rezeption von Nietzsches Wagner-Kritik bei seinen epischen Transformationen von Wagners Stoffen – schon bei der Gestaltung des kleinen Herrn Friedemann, von Gerda Buddenbrook auch keine paradigmatische Rolle in dem bedeutenden Buch von Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im 20. Jahrhundert, München 2004; ders., Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918–1933, München 2017 58 Georg Lukács, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, 1916, Neuwied 1971 59 Dazu vgl. Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt 2002; ders., Weimarer Klassik. Portrait einer Epoche, Weinheim 1994 60 Zum Kampf mit Wagner vgl. Dieter Borchmeyer, Nietzsche, Cosima, Wagner. Portrait einer Freundschaft, Frankfurt 2008; vgl. auch Kurt Hildebrandt, Nietzsches Wettkampf mit Sokrates und Plato, Dresden 1923; ders., Wagner und Nietzsche im Kampf gegen das neunzehnte Jahrhundert, Breslau 1924 61 Hans Rudolf Vaget, »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt 2017, 351 ff; zu Manns mühsamer Distanzierung früher Stereotype und Mythen anregend auch Heinrich Detering, ›Juden, Frauen und Litteraten‹. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann, Frankfurt 2005; ders., Das Meer meiner Kindheit. Thomas Manns Lübecker Dämonen, Heide 2016

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und Detlev Spinell – von der sirenischen, dionysisch-destruktiven Macht der Musik distanzierte. Von Kai Graf Mölln bis Zeitblom bezog er zum Musiker stets die Gegenposition des Dichters. Schon 1894 nannte er die »Wortkunst« – fast wie Hegel – die »intellectuellste« der Künste. 62 Er experimentierte deshalb erneut mit einer Überwindung des Ästhetizismus und Erlösung durch »Erkenntnis«. Am 16. Mai 1934 schrieb er an René Schickele: »Ausgezeichnet – Ihr Wort vom Gesamtkunstwerk! Es ist eine alte Lieblingsidee von mir. Der Wagner’sche Begriff davon war lächerlich mechanisch.« 63 Solche Fragen nahm er zuletzt noch im Doktor Faustus ambitioniert auf und optierte dabei für Zeitblom und das humanistische Wort gegen Leverkühn und die dämonisch-dionysische Musik. Um 1900 betrachteten avancierte Intellektuelle – so der George-Kreis – zwar die Lyrik als das anspruchsvollste und differenzierteste Medium intellektueller Artikulation und »Paradigma der Moderne« (Gadamer). Mann setzte aber seinen frühen Lyrismus als Musik bei und verwies alle intellektuellen Ansprüche an den Roman. Lukács sah die Suche des Romans nach einem geschlossenen Weltbild und epischer »Totalität« im Bildungsgang der Suche des Helden verkörpert. Walter Benjamin 64 zeigte damals in seiner Dissertation zum Begriff der Kunstkritik, wie die reflexive Offenheit des Projekts eines »absoluten Romans« auf die vorläufige Vollendung in der Rezeption und »Kritik« zielte. Der intellektuelle Roman externalisiert und exploriert die reflexive Orientierung des Autors im Medium von Identifikationsprotagonisten. Es ist hier nicht weiter zu erörtern, ob und wie die Gattung als solche – der moderne Roman – seine philosophischen Möglichkeiten ergriff und die Spannung von Sokratismus und Platonismus, Dialogik und Dialektik löste. 65 Grundsätzlich lässt sich aber sagen, dass die Romantik die Romanform nobilitierte, indem sie ihr philosophische Aufgaben zuwies. Dieser deutsche Roman etablierte sich zwar als Mann am 27. September 1894 an Grautoff, in: ders., Briefe an Otto Grautoff 1894– 1901 und Ida Boy-Ed 1903–1928, hrsg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt 1975, 14 63 Mann am 16. Mai 1934 an Schickele, in: Jahre des Unmuts. Thomas Manns Briefwechsel mit René Schickele 1930–1940, hrsg. Hans Wysling, Frankfurt 1992; dazu vgl. Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 746 ff 64 Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Bern 1920 65 Anspruchsvolle Darstellung bei Richard Benz, Die deutsche Romantik. Geschichte einer geistigen Bewegung, Leipzig 1938 62

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»Bildungsroman«; seine initiale Bildungsidee geriet aber bald unter den Druck des Realismus und Naturalismus und verlor an Kontur. Der implizite Realismus der Romanform führte dazu, dass die Geschichte des Bildungsromans – von Goethe über Gottfried Keller bis hin zu Thomas Manns Zauberberg –, wie Jochen Hörisch 66 zeigte, auch als Geschichte der »Entbürgerlichung« (Thomas Mann) und des Scheiterns des bürgerlichen Bildungsprojekts an seinen familiaren Voraussetzungen betrachtet werden kann. Mann hatte, satirisch am Simplicissimus geschult, ein ironisches und parodisches Verhältnis zur Tradition. Er kehrte deshalb auch in die Tradition des Schelmenromans zurück, die Grimmelshausen in Deutschland mit seinem Simplicissimus begründet hatte. Wichtig ist hier nur, dass Mann die Idee eines »absoluten« oder philosophischen Romans seit der Romantik vorfand und mit Nietzsche ins 20. Jahrhundert übersetzte. Diese Linie von Platon über Schiller und Schlegel zu Nietzsche legt die These nahe, dass Manns Verhältnis zum Roman Platons Verhältnis zum philosophischen Kunstdialog ähnelt. Für Mann gilt Schlegels Diktum, dass der Roman der »sokratische Dialog unserer Zeit« ist. Wie Platon bleibt er in seinen Werken strikt »anonym« und lässt seine Positionen indirekt und ironisch durch Protagonisten diskutieren. Schon 1897 schreibt er an Otto Grautoff: »Seit dem ›Kleinen Herrn Friedemann‹ vermag ich plötzlich die diskreten Formen und Masken zu finden, in denen ich mit meinen Erlebnissen unter die Leute gehen kann.« 67

Dieses Maskenspiel ist am Felix Krull besonders gut erforscht. 68 Doch nicht nur Künstler und Hochstapler sind Schelme; Philosophen sind es in ihren Prätentionen auf universale Perspektivenübernahme und »absolutes Wissen« auch. Philosophische Maskenspiele sind deshalb auch von Sokrates bis Kierkegaard und Nietzsche gängig. 69 Zwar ist im ironischen Rollenspiel der Äußerungen vorsichtig zwischen dem

Jochen Hörisch, Gott, Geld, Glück. Zur Logik der Liebe in den Bildungsromanen Goethes, Kellers und Thomas Manns, Frankfurt 1983; vgl. Friedrich A. Kittler, Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, in: ders. / Gerhard Kaiser, Dichtung als Sozialisationsspiel, Göttingen 1978, 13–124; ders., Dichter, Mutter, Kind, München 1991 67 Mann am 6. April 1897 an Grautoff, in: Thomas Mann, Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed, hrsg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt 1975, 90, vgl. ebd. 97 68 Dazu etwa das Thomas Mann-Jahrbuch 18 (2005) 69 Dazu vgl. Dieter Thomä, Erzähle dich selbst. Lebensgeschichte als philosophisches Problem, München 1998 66

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Verfasser, Autor und Erzähler zu unterscheiden: Der Verfasser eines Textes muss nicht wirklich glauben, was er als Autor zu meinen behauptet, und Erzählperspektiven sind nicht mit Autorpositionen zu verwechseln: Thomas Mann war nicht Thomas Buddenbrook oder Hans Castorp. Selbst starke Autorisierungen bestimmter Protagonistenpositionen – etwa in brieflichen oder essayistischen Selbstaussagen – sind deshalb keine definitiven Schlüssel zu den Positionen. Der Verfasser des Werkes, die natürliche Person Thomas Mann, 1875 in Lübeck geboren, hatte in vielen Fragen wahrscheinlich überhaupt keine argumentativ konsistente, konstant vertretene Position; er explorierte Standpunkte im Werk vielleicht gerade deshalb erzählerisch, um durch die Konstellationen der Erzählwerke hindurch einigermaßen stabile Überzeugungen zu gewinnen. Das lässt sich für viele Grundpositionen feststellen: Die Werke demonstrieren nicht zuletzt einen Bildungsgang des Autors: Das Werk vertritt sachlich durchgängig bestimmte Doktrinen – so eine Verhältnisbestimmung von »Geist« und »Leben« –, die Mann als Autorüberzeugungen autobiographisch und essayistisch beglaubigte. Wie Platon wollte er mit seinem Leben auch für seine Lehren einstehen und ein »Repräsentant« des deutschen Neuhumanismus und politischer Humanität als »Lebensform« sein. Dafür hatte er ein anspruchsvolles Konzept vom »zitathaften Leben« in Traditionen und »Spuren«. Zwar äußerte er sich niemals ausführlicher zur Form des platonischen Dialogs. Durch Schopenhauer und Nietzsche war er aber auf Platon verwiesen. Zwar war Mann in postnietzscheanischer Stellung ein »Nostalgiker des Lebens«, wie Hösle 70 mit Grillparzer vergleichend meinte. Philosophische Diskussionen, Lehrgespräche und dialektische Scharmützel finden sich aber reichlich im Werk. So gibt der Künstlerdiskurs zwischen Tonio Kröger und Lisaweta Iwanowna, das »lyrisch-essayistische Mittelstück« (XI, 115), wie Mann sagt, dem Tonio Kröger insgesamt ein dramatisches Gepräge. Auch der Zauberberg erhält durch Naphta und Settembrini eine solche Spannung. Oft bediente Mann sich bei der Charakterisierung seiner Dichtung theatralischer Termini. So nannte er Königliche Hoheit den »Versuch eines Lustspiels in Romanform« (XI, 118), den Zauberberg ein »Satyrspiel zu der novellistischen Tragödie« (XI, 118) vom Tod in Vittorio Hösle, Der Geist als Nostalgiker des Lebens. Was verbindet und was unterscheidet Grillparzers ›Sappho‹ und Manns ›Tonio Kröger‹ ?, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 127 (2008), 177–198

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Venedig. Mit dem Fiorenza-Drama, zeitlich dicht auf Tonio Kröger folgend, stellte er sich explizit in die literarische Tradition des philosophischen Kunstdialogs. Obgleich er dies Stück gelegentlich für »verfehlt« (XI, 114) erklärte, glaubte er doch an sein Bühnenleben und verteidigte den »dialektischen Nerv, der mit dem Dramatischen so nahe verwandt, fast könnte man sagen: mit ihm identisch ist.« (XI, 564) Sachlich vertrat er eine Metaphysik des »Geistes«, die er im Josephroman auch religionsgeschichtlich explizierte. Diese Metaphysik kann hier nicht rekonstruiert werden. Auch seine Romanpoetik ist hier nicht weiter zu untersuchen. Bei Mann findet sich aber eine starke Identifikation von Autorintentionen und Protagonistendiskursen. Seine Romane entwickeln Autorüberzeugungen im Medium eines Helden. Mann identifiziert sich mit zentralen Protagonisten seines Romanwerks. Einige Grundgedanken des philosophischen Romans hat er immer wieder essayistisch autorisiert: so die Einheit von »Kunst und Kritik« und die Idee der Bildung durch Horizonterweiterung. Mann zielte auf eine externe Beobachterperspektive des absoluten Wissens; der Dichter realisierte sie als auktorialer Erzähler.

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Inversion der Philosophie im Roman

Einen einigermaßen präzisen Philosophiebegriff, der heute im Forum der Universitätsphilosophie Akzeptanz finden könnte, wird man in Manns Werk schwerlich finden. Buchstäblich müsste er sich vor allem in den zahlreichen Nietzsche-Äußerungen finden. Ein Fazit ist der Vortrag Nietzsche’s Philosophie im Lichte unserer Erfahrung von 1947. Mann beurteilt Nietzsches Philosophie hier praktisch im Licht der nationalsozialistischen Erfahrung. Einen solchen konsequentialistischen Standpunkt der Beurteilung einer Lehre aus den Folgen vertrat er stets; er entspricht auch sokratischen Grundsätzen und Nietzsches Philosophie. Mann vertrat eine Einheit von Denken und Leben und hielt es für ein relevantes Kriterium, ob sich mit einem Denken leben lässt. Der metaphysische Grundbegriff seiner praktischen Philosophie lautet dabei aber schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen auf »Ästhetizismus«: 71 Nietzsche heißt »der vollkommenste und rettungsloseste Ästhet, den die Geschichte des GeisÜbersicht bei Christoph Schmidt, »Erfurcht und Erbarmen«. Thomas Manns Nietzsche-Rezeption 1914 bis 1947, Trier 1997

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Inversion der Philosophie im Roman

tes kennt« (IX, 706). Sein »dionysischer Pessimismus« resultierte aus dem Glauben, dass »das Leben nur als ästhetisches Phänomen zu rechtfertigen sei« (IX, 706). Mann wirft dieser Position eine moralische und politische Beschränktheit vor, spricht von »Nachbarschaft […] von Ästhetizismus und Barbarei« (IX, 707) und nimmt eine »Gegen-Korrektur« (IX, 696) vor, die den »Geist« und die Moral als Funktion des Lebens gegen Nietzsches Lebensphilosophie rehabilitiert. »Ethik und Ästhetik« (IX, 696) sind für ihn keine Gegensätze. Diese Korrektur des Ästhetizismus formuliert er eigentlich schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen, weshalb er in der Geschichte des Nietzscheanismus auch zutreffend für sich in Anspruch nehmen konnte, dass er die polemische Gegensetzung von »Leben« und »Moral« früh schon als Inkonsequenz kritisiert und die »Moral« gegen Nietzsche rehabilitiert habe. Hösle schreibt dazu in seinem Rückblick auf den deutschen Geist treffend: »Thomas Mann ist der bedeutendste, wenn auch bei weitem nicht der einzige Rezipient von Nietzsches Einsichten, und er ist so bedeutsam, weil er mit Nietzsches Ethik brach und seine Einzeleinsichten in eine Weltanschauung integriert hat, die dem Deutschen Idealismus viel näher steht, als er selbst wusste.« 72

In seinem späten Nietzsche-Essay erörtert Mann zwar Nietzsches Opposition gegen Sokrates und den »theoretischen Menschen«, meint aber auch: Er selbst »ist dieser theoretische Mensch par excellence« (IX, 709). Durchgängig betont er Nietzsches »Selbstüberwindung« und »Selbstkreuzigung«. Er nennt ihn ein »Hamletschicksal« (IX, 701) und vergleicht seinen Lebensweg mit Zarathustra. Das »Sich-versteigen in tödliche Höhen« (IX, 677) wird ihm dabei zur Metapher für den philosophischen Aufstieg. Das Konzept der Horizonterweiterung und die Metapher vom »Aufstieg« stehen in platonischer Tradition. Von Byrons Manfred und Hölderlins Empedokles übernahm Nietzsche die tragische Identifizierung von Aufstieg und Absturz: Der Philosoph stürzt am hohen Punkt der Einsicht in göttlichen Wahnsinn. 73 Nach Manns Darstellung war Nietzsche in seiner Zarathustra-Welt zwar unterwegs zur Überwindung beschränkter Perspektiven; nur Goethe aber erreichte wirklich den hohen StandVittorio Hösle, Eine kurze Geschichte der deutschen Philosophie. Rückblick auf den deutschen Geist, München 2013, 187 73 Zu Nietzsches Zarathustra vgl. Verf, Heidegger und die Konservative Revolution, Freiburg 2018, 71–89 72

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punkt des »ironischen Nihilismus« (IX, 319) und tragisch-ironischer Überschau. Mann hat also ein metaphilosophisches Bild vom Philosophen: Im Rahmen Nietzsches ist es die Utopie der Transzendierung aller einseitigen Perspektiven in einem polyzentrisch-periskopischen Gottesstandpunkt. Poetologisch lässt sich hier von einer Utopie des auktorialen Standpunkts sprechen. Friedrich Schiller dichtete über den »Metaphysiker«: »›Wie tief liegt unter mir die Welt! Kaum seh ich noch die Menschlein unten wallen! Wie trägt mich meine Kunst, die höchste unter allen, So nahe an des Himmels Zelt!‹ So ruft von seines Turmes Dache Der Schieferdecker, so der kleine große Mann Hans Metaphysikus, in seinem Schreibgemache. Sag an, du kleiner großer Mann: Der Turm, von dem dein Blick so vornehm niederschauet, Wovon ist er – worauf ist er erbauet? Wie kamst du selbst hinauf – und seine kahlen Höhn, Wozu sind sie dir nütz, als in das Tal zu sehn?« 74

Mann reklamierte diesen Turm-Standpunkt niemals vorab für seinen Schreibprozess. Stets ließ er sich vom Eigenwillen der Erzählung überraschen und betrachtete sich – in Der Erwählte eingehend reflektiert – gleichsam als Werkzeug und Schreibfeder des »Geistes« der Erzählung. Knapp und klar ist seine Idee philosophischer Transzendierung aller einseitigen Standpunkte in der Ansprache im Goethejahr 1949 ausgesprochen. »Der hohe Standpunkt«, heißt es dort, »ist der des Schauens. Was in der Philosophie die Dialektik ist, das ist beim Dichter das Schauen« (XI, 494). Der Dichter »schaut« nicht undialektisch; er folgt seinen Protagonisten in deren dialektische Konstellation und beobachtet den Austrag ihrer Kontroversen. Stets vertrat Mann die Einheit von »Kunst und Kritik«. Im Vortrag nennt er Goethe den »Halbgott und das Ungeheuer« (XI, 492), dessen kontemplativer »Objektivismus« leicht als außermoralischer »Nihilismus« missverstanden wird. Mann erklärt die ästhetische Schau nicht zum Gegenspieler der Dialektik, sondern sucht sie durch die Dialektik seiner Werke hindurch. Deshalb lehnt er auch Nietzsches Opposition gegen Sokrates ab, zieht die sokratische Suche nach Friedrich Schiller, Der Metaphysiker, in: ders., Werke in zwei Bänden, München o. J., Bd. I, 70 f

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Von Nietzsche zu Platon: Fiorenza

dem »richtigen« Leben in seine Prosa hinein und lässt die Protagonisten ihre Standpunkte wie im platonischen Dialog erörtern. Dabei explorieren Identifikationsprotagonisten den Standort des Erzählers im Roman. Alle dichterischen Aussagen sind vorläufig und ironisch; es sind lebensdienlich begründete Erzählungen, wie der Schlussmythos von Platons Staat. Mann schreibt philosophische Prosa. In seinem Vortrag über Die Kunst des Romans spricht er den »ironischen Objektivismus« (X, 353) dem »Geist der Erzählung« oder apollinischen »Genius der Epik« (X, 352) zu und identifiziert ihn mit dem »Blick Goethe’s« (X, 353). Im Vortrag bezieht er sich auch auf Schiller, die Romantik und das moderne Projekt der »Verinnerlichung« des Romans. Er schreibt: »Der Roman repräsentiert als modernes Kunstwerk die Stufe der ›Kritik‹ nach derjenigen der ›Poesie‹. Sein Verhältnis zum Epos ist das Verhältnis des ›schöpferischen Bewusstseins‹ zum ›unbewussten Schaffen‹« (X, 360). Der Roman folgt dem »Geist« der Erzählung oder »Willen« des Werkes selbst. Immer wieder betonte Mann die geradezu übermenschliche Aufgabe, das »Meer« des epischen Pensums auszutrinken. Dieses »Meer« ist ein dialektischer Gang und polyzentrischer Erkenntnisprozess.

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Von Nietzsche zu Platon: Fiorenza

Mann verstand sich stets als »Dichter«. Seinen frühen Münchner Jahren und dem Geist des Simplicissimus blieb er dabei im ironischparodischen Verhältnis zur Tradition treu. Den »klassischen« Bildungsroman stellte er deshalb mit Felix Krull in die ältere »epische« Tradition des Abenteuer- und Schelmenromans zurück. Staatlich verbeamtete Universitätsphilosophen treten in seinem Werk nicht auf. Aus dem Kanon der Klassiker finden sich nur Angelo Poliziano, Pico della Mirandola und Marsilio Ficino im Frühwerk Fiorenza. Naptha und Leverkühn tragen bekanntlich einige Züge von Lukács und Nietzsche. Die Philosophiegeschichte unterscheidet zwischen dem historischen und dem platonischen Sokrates. Solche Fragen interessieren hier nicht weiter. Die Identifikation von Philosophengestalten ist eine Fremdzuschreibung, 75 der Mann wahrscheinlich nicht zuDazu Verf., Das ›Problem der Humanität‹. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 9 ff

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gestimmt hätte. Dennoch lassen sich Joseph und Leverkühn, Krull und Castorp nach Methode und Ziel ihres Denkens als Philosophen bezeichnen. Für Manns Josephgestalt ist das besonders deutlich: Joseph rationalisiert den Monotheismus; er entwickelt einen transkonfessionellen religionsphilosophischen Ansatz, der die positiven Leistungen der religiösen Rationalisierung und Universalisierung für die Entdeckung der Individualität und politischen Zentralisierung herausstellt. Joseph ist als »Herr des Überblicks« (V, 1474 f) und »Ernährer« eine glänzende Literarisierung von Platons Philosophenkönig. 76 Strittiger dürfte dagegen die Bezeichnung Leverkühns als Philosoph sein: Wo Joseph die »symbolische Form« der Religion rationalisiert, philosophiert Leverkühn nämlich im Medium der Musik. Sein großes Projekt ist hier die Beantwortung der politischen Krise durch ein Gesamtkunstwerk. Er scheitert aber an seinem Reflexionsmedium. Mann betrachtete die Musik (Wagners) stets als dionysisch-zerstörende Macht; im Medium der Musik gelingt Leverkühn letztlich nur die Artikulation der Krise als Klage und so scheitert er als Philosoph. Zeitblom dagegen vermag als Humanist die Krise auf den Begriff zu bringen und sprachlich zu distanzieren. Zwei andere Philosophenidentifikationen möchte ich aber nun näher erörtern: die Platoniker von Fiorenza und Hans Castorp: Mann hat Italien früh bereist und sich, dem eingehenden Kommentar von Elisabeth Galvan zur Fiorenza-Ausgabe folgend, ab Oktober 1900 mit Quellenstudien und Entwürfen zum Stück beschäftigt. Im Frühjahr 1901 hielt er sich etwa drei Wochen in Florenz auf. 1903, nach Abschluss des Tonio Kröger, der ein Künstlergespräch ins Zentrum stellt, in dem Kröger den Ästhetizismus der Malerin Lisaweta zurückweist, beginnt Mann mit der Niederschrift. Wenige Tage nach Abschluss des Stückes heiratet er seine »Prinzessin« Katia Pringsheim. Galvans Edition im Rahmen der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, eine Pionierleistung und Neuentdeckung des Stücks, betont die »Parallelkonstruktion München / Florenz«: »Der kulturelle Mikrokosmos des zeitgenössischen München der Prinzregentenzeit spiegelt sich in jenem des Renaissance-Florenz der Medici.« (GKFA 3.2., 12) 77 Dazu Verf., Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001, 140 ff Elisabeth Galvan, Kommentar zu: GKFA: Thomas Mann. Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe. Bd. 3.2, Frankfurt 2014, 12

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Mann distanzierte sich schon im Frühwerk vom Ästhetizismus der Jahrhundertwende. Vaget 78 weist darauf hin, dass Mann schon in seinen frühen Novellen Gladius Dei und Beim Propheten die asketische Opposition zunächst eher positiv sah und mit dem »Schwabinger Hieronymus« einen positiven Vorgänger zu Girolamo zeichnete, um dann später eine mittlere Position zwischen Ästhetizismus und Asketismus zu beziehen. Galvans Mikroanalyse der zeitgenössischen Quellen und Anspielungen zeigt, wie Mann sein München in Florenz reflektierte und »das Renaissance-Florenz und das München der Prinzregentenzeit« (GKFA 3.2., 48) miteinander verschmolz. Zentrale Quellen waren u. a. Pasquale Villaris Geschichte Savonarola’s und seiner Zeit (1868), Burckhardts Cultur der Renaissance in Italien und nicht zuletzt die Schilderungen der Stadt des Lebens von Isolde Kurz. 79 Mann las aber auch Aby Warburg. Galvan entdeckt den Brüderkonflikt schon in der Zeichnung des »Bruder Girolama« (GKFA 3.2., 72) und rekonstruiert die Bühnengeschichte des Stückes, an der Mann zeitlebens intensiven Anteil nahm, obgleich das Stück stets umstritten war und sich im Theater nicht durchsetzen konnte. Heute werden diverse Prosawerke gerne theatralisch inszeniert. 80 Thomas Buddenbrook und Hans Castorp treten in Bearbeitungen auf, Fiorenza aber ist kaum präsent. Das Stück weist mit dem Renaissance-Platonismus nicht nur über Heinrich Heine und Nietzsche hinaus in Richtung Platon, sondern es sprengt auch allzu enge Festlegungen des Künstlers auf den Romancier. Das Fiorenza-Stück experimentiert mit der Form des philosophischen Lehrdialogs. Ähnlich wie später Lotte in Weimar basiert es auf einer durch Poliziano überlieferten, historisch verbürgten Anekdote: auf der Begegnung des gichtgeplagten, sterbenden Lorenzo mit Savonarola. Mann greift die Legende auf, dass Savonarola einen Machtverzicht als Bedingung der Absolution forderte. 81 Historisch betrachtet hatte Savonarola den Medici einiges zu verdanken: Cosimo di Medici (1389–1464) erbaute S. Marco; sein Enkel Lorenzo (1449– 1492) berief den Prior nach Florenz. Der Historiker Volker Reinhardt Vaget, »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland, 351 ff Isolde Kurz, Die Stadt des Lebens. Schilderungen aus der Florentinischen Renaissance, Leipzig 1902 80 Dazu etwa Barbara Oberhäuser, Narrative Theatralität als Spiel-Raum. Thomas Manns Joseph-Tetralogie auf der Bühne, Würzburg 2018 81 Dazu vgl. Ingeborg Walter, Der Prächtige. Lorenzo de’ Medici und seine Zeit, München 2009, 281 ff 78 79

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schreibt: »Savonarola war tatsächlich an Lorenzos Totenbett, aber nicht als politischer Gegner, sondern als Beichtvater.« 82 Manns »dramatisches Gedicht« 83 erörtert eine fiktional zugespitzte und dramatisierte Entscheidungsfrage: Wer beherrscht Florenz: Kunst oder Religion? Lorenzo oder Savonarola? Manns Arbeitstitel »König von Florenz« muss deshalb eigentlich im Fragezeichen gelesen werden, obgleich er auf den historischen Savonarola anspielt, der Christus als König ausrief und ein »neues Jerusalem« stiften wollte (GKFA 3.2., 258). Wer wird König sein? Mann personifiziert diese Fragen, meint sie aber auch symbolisch. Lorenzo und Savonarola repräsentieren nicht nur Mächte und Akteure, sondern auch leitende Ideen: Kunst oder Religion? Das Leben als Askese oder als Fest? »Das Fest ist ein erhöhter Moment im Dasein des Volkes. Das ewige Fest. Der ewige Friede« (GKFA 3.2., 258), notiert Mann dazu in seinen Paralipomena. Im ersten Akt treten Hauptvertreter der platonischen Akademie von Florenz auf: Angelo Poliziano (1454–1494) und Pico della Mirandola (1463–1493). Man diskutiert über den populistischen Aufstieg des Priors und Bußpredigers Savonarola (1452–1498). Das Stück spielt vor der Machtergreifung Savonarolas und der Vertreibung der Medici. Mann kennzeichnet Savonarola vor allem mit Nietzsche als »asketischen Priester«. Die Quellenlage ist aber komplex. Galvan schreibt dazu: »Bruder Girolamo ist eine literarische Gestalt, in der sich Villaris Savonarola-Biographie, Schopenhauers Auffassung der ›Heiligkeit‹, Nietzsches dieser vollkommen entgegengesetzte Psychologie des asketischen Priesters sowie seine Wagner-Kritik, der späte Tolstoi und Mereschkowskis TolstoiGegenspieler Dostojewski überlagern, weshalb eine Festlegung auf den historischen Namen Savonarola eine Reduktion bedeutet hätte, die der künstlerischen Intention Thomas Manns nicht entsprechen konnte.« (GKFA 3.2., 74 f)

Dieser komplexe Quellenbefund wird in der folgenden Deutung ignoriert, um den Grundgedanken des Stückes zu verdeutlichen: Pico della Mirandola tritt auf und berichtet von einer Predikt Savonarolas im Dom von Florenz. 1478 war Lorenzos Bruder Giuliano (1453– 1478) dort ermordet worden und Lorenzo selbst entkam dem MordVolker Reinhardt, Die Medici. Florenz im Zeitalter der Renaissance, München 1998, 100 83 So Mann am 7. Oktober 1904 an Boy-Ed, in: Thomas Mann, Briefe an Otto Grautoff und Ida Boy-Ed, hrsg. Peter de Mendelssohn, Frankfurt 1975, 154 82

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komplott nur mit knapper Mühe mit Hilfe des Angelo Poliziano. Der Dom war ihm ein Schicksalsort. Die »göttliche Fiore«, die Geliebte Lorenzos und allegorische Verkörperung der Stadt Florenz, hält im Stück immer eine »kleine halbe Stunde zu spät« (VIII, 973) großen »Einzug«, ähnlich wie Madame Chaucat. Savonarola verflucht sie in seinen Predigten vor aller Öffentlichkeit als das »apokalyptische Weib« (VIII, 979) und hetzt so das Volk gegen Lorenzo auf. Pico sieht das in Kategorien Nietzsches, anders als der historische Pico, als ein interessantes Spektakel an; er ist ein Ästhet, wogegen Poliziano die Exorzierung der ästhetischen Kultur durch die religiöse »Moral« fürchtet. Eine fundamentalistische und rigoristische Überwindung des ästhetischen Stadiums droht. »Die Moral ist wieder möglich …«, stellt Pico neugierig fest. Die Florentiner Platoniker treten also in Kategorien von Nietzsche und Thomas Mann auf. Das Stück ist nicht streng historisch zu lesen: Philosophische Fragen des Florentiner Platonismus erörtert Mann nicht. Nur Platos »Gespräch über die Liebe« wird erwähnt. »Fiore« ist lateinisch gebildet, zitiert Vergil, Ovid, Horaz (VIII, 980) und liest Boccaccio. Pico erscheint als ein »theoretischer Mensch« und »Liebhaber der Wissenschaft«, der selbst nicht liebt, sondern den Machtkampf zwischen Savonarola und Lorenzo nur beobachtet. Die Liebe erscheint in Gestalt der Fiore nicht als aktiv bewegende Macht, sondern als ein schönes »Weib«, das sich dem jeweiligen Machthaber unterwirft. Sie ist als »Verkörperung von Venus Anadyomene« (GKFA 3.2., 51) auch eine erotische Prämie auf den Machtbesitz. Ganz wehrlos ist sie nicht: Mann erwägt »Lorenzos Verhältnis zu Fiore (Florenz). Sie ist eine Strozzi, eine Feindin, vielleicht erdolcht sie ihn in einer Liebesnacht« (GKFA 3.2., 320). Im episch retardierenden zweiten Akt ist eine Gruppe von Künstlern im Palast des Lorenzo bereits verunsichert: Die Herrschaft der Kunst scheint bedroht; Savonarola hat den Karneval verflucht und will die Bilder stürmen. Lorenzo ist rätselhaft erkrankt. Faktisch litt er wohl, wie sein Vater Piero (1416–1469), an Gicht, aber auch über eine Vergiftung wurde spekuliert. Sein Sohn Piero di Medici (1472–1503) will ihm die Macht und Geliebte nehmen. Nur kurz (1492–1494) wird er später nach Lorenzos Tod über Florenz herrschen. Fiore will »nur einem Helden gehören« (VIII, 1018) und wünscht eine Entscheidung zwischen Lorenzo und Savonarola. Im dritten Akt des Stückes erwacht Lorenzo eingangs aus seinem Fieberschlaf. Seine Freunde begrüßen ihn als »Dionysos« und »Herr[n] der Schönheit« (VIII, 1027) und ein Kaufmann berichtet 45 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

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vom populistischen Aufstieg des Predigers. Lorenzo erkennt nun die kritische Lage und Notwendigkeit einer »Entscheidung« (VIII, 1033) der Machtfrage in Florenz. Ein junger Maler berichtet, dass selbst Botticelli seine Kunst unter dem Eindruck des Savonarola verdammte und ein Gemälde zerstörte. 84 Lorenzo besinnt sich auf die Mittel seiner Herrschaft und erklärt seinem Sohn Piero – historisch zutreffend –, dass die Medici in Florenz nur »von Volkes wegen« (VIII, 1038) durch ihren Reichtum herrschen. Das Bankiersvermögen war damals noch christlich problematisch und nur die aufwändige Klientel- und Patronagepolitik und üppiges Mäzenatentum sicherte den Medici im formalen Rahmen der Republik ihre Prädominanz. Manns Verweis auf Piero ist eine historische Vorprojektion: Das Volk wird Piero 1494 aus der Stadt jagen, weil er Florenz unklug (gegen Mailand) positionierte und dem Einmarsch Frankreichs nicht genug Widerstand entgegenbrachte. 85 Im Stück kommt Fiore zu Lorenzo und fordert den Machtkampf und die Entscheidung gegen Savonarola; sie erklärt ihm, dass Savonarola sich mit seiner öffentlichen Verfluchung rächte, weil sie, Fiore, ihn einst verschmäht hatte. Savonarola trifft dann im Haus des Lorenzo ein, als einer der Künstler gerade eine frivole »Novelle« erzählt; Fiore begrüßt ihn als Künstler und zieht sich zurück. Es kommt also zu der gewünschten Konfrontation und dramatischen Entscheidung. Das Volk erscheint im Stück als eine erotisch abhängige Masse in den Händen berufener Politiker. Kunst und Religion sind Mittel zur Macht. Lorenzo, der säkulare Machtpolitiker und Ästhet, betrachtet auch die religiöse Predigt selbstverständlich als ein Mittel der Herrschaft. Deshalb spricht er Savonarola in der Begegnung zunächst als einen »außerordentlichen Mann« (VIII, 1057), »Künstler« und »Bruder« (VIII, 1059 f) an, der seine »Sehnsucht« und sein Pathos der Herrschaft teilt. Er gesteht ihm sogar seine eigene Vision und Utopie von der »Venus Fiorenza«, der er (historisch betrachtet 1490) in Gedichten zum Karneval huldigte: seine große Vision vom Leben als einem »ewigen Fest«. Dieser fraternisierende Versuch aber scheitert; Savonarola ist wirklich ein religiöser Fundamentalist, der als Künstler Mann ließ sich konzeptionell von Botticellis Bild »Die Verleumdung« anregen. Dazu vgl. Hans Christian Hagedorn, Ein neuer Bildfund zu Thomas Manns ›Fiorenza‹ : ›Die Verleumdung‹ von Sandro Botticelli, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 41 (1997), 369–382 85 Dazu vgl. Volker Reinhardt, Machiavelli oder Die Kunst der Macht. Eine Biographie, München 2012, 44 f 84

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»zugleich ein Heiliger« (VIII, 1060) und in einem asketischen Gottesstaat »Herr« über Florenz sein will. Der diplomatischen Anbiederung des Lorenzo setzt er deshalb seine apokalyptische Vision konfrontativ entgegen, über die er in Florenz 1490 schon öffentlich predigte: Er will dem »großen Vogel« seine »großen Flügel brechen« (VIII, 1061) und meint hier Fiore. Savonarola übersetzt seine frühe Zurückweisung und Demütigung durch Fiore in ein apokalyptisches Bild der Verfluchung. 86 Fiore figuriert im Stück als Metapher des Herrschaftstelos; sie repräsentiert die Vision von der Einheit von Staat und Kultur und vom Leben als Fest. Voller Ressentiment verflucht Savonarola diese Vision. Lorenzo erkennt nun: »Der Tod ist es, den du als Geist verkündigst, und alles Lebens Leben ist die Kunst« (VIII, 1066). Lorenzo verstirbt während der Begegnung. Mit seinen letzten Worten befiehlt er aber noch die Hinrichtung Savonarolas: »Man töte ihn, der alles töten will! Mein ist Florenz….Florenz….Florenz….!« (VIII, 1067) Die Stadt gerät damals in Aufruhr. Savonarola ist zwar zur Machtergreifung bereit, Fiore verkündigt ihm aber in historischer Vorprojektion bereits seinen kommenden Tod. »Lass von der Macht! Entsage! Sei ein Mönch!« (VIII, 1067) Savonarola übernimmt im Stück sein historisches »Schicksal«; 1498 wird er auf der Piazza Signora verbrannt werden. Damals wird Machiavelli zum Sekretär der florentinischen Regierung gewählt. Das Stück vertritt hier offenbar keine strikt platonische Konzeption von Macht und Eros, sondern Nietzsches Philosophie vom Willen zur Macht. Hans Blumenberg griff in nachgelassenen Aufzeichnungen Savonarolas »Inversion der Ordnung« des neuplatonischen Emanatismus auf: »Es schien mir, dass ich mehr sei als die Engel.« Blumenberg schließt: »Das ist nicht mehr Burckhardts Renaissance.« 87 Selbstdeutend hob Mann die »jugendliche Ruhmeslyrik« hervor und meinte: »Der Rest ist Nietzsche. Denn jene beiden Caesaren, und ›feindlichen Brüder‹, die den erotischen Besitz der symbolischen Stadt einander streitig machen, Lorenzo und der Prior, – sie sind nur allzusehr der Dithyrambiker und der Asketische Priester, wie beide im Buche [Nietzsches] standen« (XII, 94). Zur »magischen« Kraft der »Bildstrafen« und des »Schmähbildes« vgl. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Frankfurt 2010, 197 ff 87 Hans Blumenberg, Die Unwissenheit der Engel. ›Fiorenza‹ und ›Der Erwählte‹, in: DLA Marbach, Nachlass Hans Blumenberg, UNF Schuber 9, Mp 5, 3598–3599 86

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Schon 1901 nannte Mann das Stück seine »Bühne«, den »Schauplatz meiner Symbole«. 88 Ein besonderes historisierendes Interesse an den spezifischen Zügen des Renaissanceplatonismus findet sich im Stück schwerlich. Der Renaissanceplatonismus 89 der Florentiner Akademie hatte eine esoterisch-mystische, hermetische und neuplatonische Färbung; er ging hinter Proklos, Plotin und Platon bis auf den orphischen Mysterien- und Dionysoskult zurück und vertrat eine negative Theologie der Einheit, religiösen Synkretismus und eine enthusiastische Philosophie der Liebe. Die neuplatonische Auffassung des Dionysoskultes ist schon bei Nietzsche kaum zu finden, eher bei Erwin Rohde. 90 Der mystische Renaissanceplatonismus bewirkte eine starke Allegorisierung der Kunst und entschärfte so die von Mann nietzscheanisch dramatisierte Spannung zwischen Religion und Kunst. Die Frömmigkeits- und Mönchsbewegungen wurden ein Motor der Renaissancekunst, die teils aus den Klöstern heraus entstand. Künstler wie Fra Angelico und Filippo Lippi waren Mönche; Botticelli und Michelangelo sympathisierten mit Savonarola, der »vom mystischen Platonismus Ficinos und Picos« 91 beeindruckt war und nicht als simpler Tyrann und Bilderstürmer verstanden werden darf, wenn er auch mit dem Terror des Scheiterhaufens regierte. Trotz seiner eingehenden Quellenstudien vereinfacht und dramatisiert Mann die mit Nietzsche profilierte Spannung von Kunst und Religion am Machtkampf zwischen Lorenzo und Savonarola ohne historische Treue zur damaligen Konstellation. Er trifft die Faschings- und Kunststadt München um 1900 nicht weniger als das Renaissance-Florenz. Die – bei Ficino ausgeprägte – Unsterblichkeitslehre findet sich nicht und die platonische Erotik wird durch ihre nietzscheanische Auffassung eher konterkariert. Die Theologie und Religionsphilosophie von der »Würde« des Menschen fehlt. Das Stück macht nicht ganz plausibel, weshalb Pico della Mirandola die wichtigste Rolle erhält und Ficino eher blass gezeichnet wird. Pico vertrat zwar philosophisch klarere und modernere Positionen als

Mann am 6. November 1901 an Grautoff, in: Briefe an Otto Grautoff und Ida BoyEd, Frankfurt 1975, 137 89 Dazu eindrucksvoll Edgar Wind, Heidnische Mysterien in der Renaissance, Frankfurt 1981 90 Erwin Rohde, Psyche. Seelencult und Unsterblichkeitsglauben der Griechen, Freiburg 1894 91 Wind, Heidnische Mysterien, 215 88

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Ficino und stand Lorenzo persönlich näher. 92 Vielleicht war auch Picos Konflikt mit der kirchlichen Lehrmeinung, der 1488 zu seiner vorübergehenden Inhaftierung führte, 93 für Mann ein Aspekt. Nach 1486 war Pico aber mit seinem Lehrer Ficino verstritten 94 und sein religiös aufgeschlossener, ironischer und toleranter Umgang mit Savonarola disqualifizierte ihn eigentlich für das Stück. Ficino dagegen vertrat eine mystische und »ekstatische Philosophie der Liebe«, die man in den polemischen Widerspruch zu Savonarola oder auch Machiavelli setzen kann. 95 Es ist nicht davon auszugehen, dass solche historischen Detailfragen dem Dichter sonderlich wichtig waren; Mann schrieb nicht als Historiker, war nicht auf dem Stand der heutigen Forschung und nahm sich viele künstlerische Freiheiten für seine Darstellung heraus. Auch politisch ist das Stück nicht gänzlich durchreflektiert. Nicht der Eros, sondern der Wille zur Herrschaft ist im Stück Fiorenza die stärkste Macht. Der Eros fügt sich der Macht. Fiore belehrt die Männer nicht, wie Diotima, über das Wesen der Liebe; die Männer sind es, die hier den Eros erklären. Mann argumentiert nicht platonisch, fügt aber ein ethisches Kriterium in Nietzsches Philosophie ein: Lorenzo hat eine politische Vision vom Sinn und Zweck der Macht. Deren Aufgabe ist es, ein »schönes« Leben oder das Leben als Karneval und Fest zu ermöglichen. Die Macht soll dem »Leben« dienen. Lorenzo gebraucht dafür eine Formel von des »Lebens Leben«, die Thomas Mann immer wieder zitierte. Sie findet sich als Gedicht der Suleika schon in Goethes West-Östlichem Divan: »Ach! Wie schmeichelt’s meinem Triebe, / Wenn man meinen Dichter preist: / Denn das Leben ist die Liebe und des Lebens Leben Geist.« 96 Schon im Fiorenza-Stück assoziiert Mann Geist und Kunst eng miteinander. Dazu vgl. Ernst Cassirer, Giovanni Pico della Mirandola. A Study in the History of Renaissance Ideas (1942), in: ECW XXIV, 67–113 93 Dazu vgl. Paul O. Kristeller, Acht Philosophen der italienischen Renaissance, Weinheim 1986, 49; Die platonische Akademie von Florenz, in: ders., Humanismus und Renaissance II, München 1976, 101–114; plastische Darstellung bei Karl Brandi, Die Renaissance in Florenz und Rom, 2. Aufl. Leipzig 1903, 94 ff; Ingeborg Walter, Der Prächtige. Lorenzo de’ Medici und seine Zeit, München 2009, 281 ff, 39 f, 117, 270 ff 94 So Wind, Heidnische Mysterien, 81 ff 95 So noch Leonardo Olschki, Italiens Genius und Geschichte, Darmstadt 1958, 328 ff, hier: 331 96 Johann W. Goethe, West-östlicher Divan, in: Werke. Hamburger Ausgabe, hrsg. Erich Trunz, München 1982, Bd. II, 75 92

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»Sind Geist und Schönheit denn gegeneinander gesetzt?« (VIII, 1061), fragt Lorenzo verwundert den Prior. Anders als Lorenzo unterscheidet der asketische Priester den religiösen »Geist« streng von der Kunst. Es sei hier dahingestellt, ob Mann seine Philosophie vom »Geist« als beseelender Kraft des Lebens damals bereits, vom Platonismus angeregt, voll entwickelt hat. Bis zum Josephroman ist es noch weit. Im Fiorenza-Stück rezipiert er die platonische Akademie eher oberflächlich und nietzscheanisch. Auch politisch ist er im Rahmen der Florentiner Geschichte wenig konkret. Mann verteidigt Lorenzo gegen Savonarolas charismatisch-unmittelbare Predigertheokratie. Das kurze Interim des »unglücklichen« Piero deutet er durch seine negative Zeichnung der Figur an. Die bis ins 18. Jahrhundert reichende diktatorische Herrschaft der Medici zerschlug aber die republikanische Freiheit des »Bürgerhumanismus«. Mann begrüßte den mäzenatischen Kulturstadtstaat gegenüber dem Gottesstaat; die ältere Alternative der Republik aber, mit der Cosimo und Lorenzo formal nie brachen, erörterte er im Stück nicht. 97 Für die agonale Profilierung der Protagonisten, für Lorenzo als Gegenspieler von Savonarola, brauchte Mann eine gewisse Idealisierung. Dass er die Medici aber eigentlich auch als skrupellose Machtpolitiker betrachtete, zeigen schon seine Paralipomena. Dort heißt es u. a.: »Die Medici sind emporgekommen durch die Begünstigung der Bemühungen des benachtheiligten Volkes um Regierungsantheil u. Gerechtsame, zuletzt zu eigener persönlichster Macht. (Rivalität Sav.’s) Sie sind aus dem Bürgerstande, nicht aus dem Patrizieradel hervorgegangen.« (GKFA 3.2., 332) »Vom Oktober 1434 waren die Medici (Cosimo) entschieden an der Macht. Florenz dehnte sich in Toskana aus u. eroberte Stadt für Stadt, Gebiet für Gebiet, ›wie man eine Artischoke verspeist‹.« (GKFA 3.2., 333) »Die Parteien, die früher die Stadt in Aufruhr versetzt hatten, waren verschwunden. Die sich der Herrschaft der Mediceer nicht hatten beugen wollen, waren unschädlich gemacht u. schmachteten im Kerker oder im Exil. Und nun beglückte L. Florenz. Feste, Tänze, Turniere. Die geschlechtlichen Ausschweifungen, denen er sich trotz seiner schwachen Gesundheit gab. Die Carnevalsgesänge. Sein Raub am Staatseigenthum, um seine AusZur Krisenlage des Renaissance-Florenz vgl. Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt 1982; ders., Staatsraison und politische Klugheitslehren, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. Iring Fetscher / Herfried Münkler, Band III, München 1985, 23–72; vgl. auch ders., Florenz, in: Herfried Münkler / Marina Münkler, Lexikon der Renaissance, München 2000, 113–122

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gaben zu decken (das Volk wird damit amüsirt.) Er arbeitete mit aller Kraft und allen Fähigkeiten seines Geistes auf die Corruption des Volkes hin.« (GKFA 3.2., 337)

Volker Reinhardt schreibt lapidar: »Die Herrschaft der Medici war und blieb eine Tyrannis.« 98 Die Medici hatten mit ihrem wirtschaftlichen Aufstieg zunehmend politische Macht übernommen. Ähnlich wie die Buddenbrooks verschoben sie ihre Aktivitäten und ihren Ehrgeiz dabei in der Generationenabfolge von der Ökonomie über die Politik auf die Kultur. Cosimo und dann sein Enkel Lorenzo betrieben eine inneritalienische Gleichgewichtspolitik; außenpolitisch war Florenz aber von der gegenseitigen Machtblockade von England und Frankreich abhängig und wirtschaftlich zeichnete sich schon unter Lorenzo ein Niedergang ab. Mit einer Verfassungsänderung von 1480 beschnitt Lorenzo den republikanischen Einfluss zugunsten des »Rats der Siebzig«. Gleichzeitig zog er sich in die ländlichen Villen zurück, und der »Bürger-Humanismus« verengte sich auf einen eher unpolitischen »Literaten-Humanismus« 99 und »Kreis von Saturnkindern«. 100 Die Medici stützten ihre Herrschaft populistisch auf ihr Kulturmäzenatentum. Von Cosimo zu Lorenzo verlegten sie sich dabei von Sakralbauten mehr auf Poesie, Philosophie und populäre Festspektakel. 101 Es war eine schöne Variante des caesarischen Populismus: eine Strategie von Brot und Spielen. Platon hätte sie vielleicht als »Theatrokratie« bezeichnet: als »Entartung« der Politik zum Massenspektakel und Schauspiel. Nietzsche adaptierte das im Fall Wagner in seiner Wagner-Kritik; Wagner bezeichnete ihm »die Heraufkunft des Schauspielers in der Musik« (KSA VI, 37). Sowohl politisch Volker Reinhardt, Geld und Freunde. Wie die Medici die Macht in Florenz eroberten, Darmstadt 2009, 108; ders., Die Medici. Florenz im Zeitalter der Renaissance, München 1998; zur Verfassungsgeschichte des Untergangs des Republikanismus detailliert Daniel Höchli, Der Florentiner Republikanismus. Verfassungswirklichkeit und Verfassungsdenken zur Zeit der Republik, Bern 2005, dort zu Savonarolas »popularer« Anknüpfung an republikanische Florenz-Mythen S. 357–380 99 Dazu eingehend Herfried Münkler, Machiavelli. Die Begründung des politischen Denkens der Neuzeit aus der Krise der Republik Florenz, Frankfurt 1982, 196 ff, der sich dabei u. a. bezieht auf Hans Baron, The Crisis of the Early Italian Renaissance. Civic Humanism and Republican Liberty in the Age of Classicism and Tyranny, Princeton 1955 100 Dazu vgl. Raymond Klibansky / Erwin Panowski / Fritz Saxl, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt 1990, 393 101 Dazu Reinhardt, Die Medici, 92 ff 98

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wie philosophisch ist Manns Stück Fiorenza also mit der Vereinfachung der Alternativen noch etwas schlicht gedacht oder gestrickt. Die politische Zukunft gehörte auch weder Lorenzo noch Savonarola: weder dem mäzenatischen Kulturstaat noch dem religiösen Gottesstaat, sondern dem säkularen Flächenstaat. Die Florentiner Künstler wanderten ins päpstliche Rom ab und der patrizische Republikanismus der Renaissance verschwand von der weltpolitischen Bühne und Landkarte. Eine intensivere Rezeption des platonischen Eros findet sich bei Mann eigentlich erst einige Jahre nach Fiorenza im Tod in Venedig. Dort interpretiert Gustav v. Aschenbach seinen »Rausch«, seine Begegnung mit Tadzio, in den Kategorien von Platons Phaidros. Aschenbach versetzt sich literarisch in Sokrates, wie er mit Phaidros spricht; er träumt sich ein »Bild« (VIII, 491) von Sokrates’ Gespräch mit Phaidros: »Denn die Schönheit, mein Phaidros, nur sie, ist liebenswürdig und sichtbar zugleich«. (VIII, 491) Aschenbach nimmt dabei von Sokrates die Vorstellung auf, dass »der Liebende göttlicher sei als der Geliebte«. Der Eros gibt die Kraft zur Gestaltung; Aschenbach wünscht »in Tadzio’s Gegenwart zu arbeiten« (VIII, 492); wenn Tadzio ihm aber mit dem »Lächeln des Narziss« (VIII, 498) begegnet, ist die letzte Liebe des Künstlers vielleicht nur eine ekstatische Erinnerung an die eigene Jugend: ein Liebeswahn und eine Todeseuphorie, wie in Die Betrogene. Hier lässt sich von einer anspruchsvollen Adaption des platonischen Eros sprechen. Im Platen-Essay und später dann im Essay über Die Erotik Michelangelos nimmt Mann diese Fragen wieder auf. 102 Mit dem 102 Mit dem spontan geschriebenen Michelangelo-Essay spiegelt, reflektiert und bewältigt Mann im Juli 1950 seine späte Neigung zu dem Schweizer Kellner Franz Westermeier. Er verlässt am 16. Juli Sils-Maria, beginnt schon am nächsten Tag die Lektüre der Michelangelo-Gedichte und schreibt dann vom 21. bis 30. Juli seinen Text. Seine zentralen Überlegungen notiert er unmittelbar vor der Niederschrift am 18. Juli ins Tagebuch. Über seine Neigung zu dem Kellner bemerkt er: »Beeinflussung durch Michelangelos Platonismus. Aber ich glaube es nicht mehr.« (TB 19. 7. 1950). Er meint hier die christliche Entsinnlichung des Eros zur Gottesliebe. Er notiert weiter: »Michelangelos Gedichte beschäftigen mich nachhaltig. Ich möchte darüber schreiben. Diese sinnlich-übersinnliche Liebeskrankheit, diese platonische Aufgewühlt(heit), die immer das Verfallensein an das Schöne als Liebe zu Gott und zum Geistigen deutet, diese Krassheit in der Schilderung der eigenen Hässlichkeit, des eigenen Lebenselends halten mich gewaltig fest.« (TB 20. 7. 1950) Das »Franzl-Erlebnis wohl recht deutlich eingegangen« (TB 30. 7. 1950), bemerkt er nach Abschluss des Essays. Seine damaligen homophilen Verliebtheiten übersetzt er dann in den Felix Krull und

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Castorps Bildung durch Liebe

Michelangelo-Essay kehrt er dabei auch zeitlich wieder nach Florenz zurück; er liest Michelangelos Liebesklage nun als politische Klage über den Untergang der florentinischen Republik in der »Diktatur der Medici« (IX, 783), deutet Michelangelos Gedichte aber vor allem als ein platonisches Bekenntnis zur Liebe als des »Wesens Wesens« (IX, 792). Diese Variation auf Goethes Formel von des »Lebens Leben« ist bezeichnend: Die Liebe erscheint nun echt platonisch als das »Wesen« oder die bewegende Kraft des Lebens. Mann streicht den Platonismus deutlicher heraus und definiert ihn treffend als »Glauben an die Schönheit als Hülle des Göttlichen« (IX, 787): als »Zusammengehörigkeit von Verfallenheit an das Schöne, Verliebtheit und Produktivität« (IX, 793). Dabei bezweifelt er die Vereinbarkeit von Platonismus und Christentum: den Glauben an die Schönheit als »Gleichnis der Liebe Gottes« (IX, 787). »Beeinflussung durch Michelangelos Platonismus. Aber ich glaube es nicht mehr«, schreibt Mann damals im Juli 1950 ins Tagebuch über den biographischen Anlass seiner »letzten Liebe« und Sehnsucht nach dem »göttlichen Jüngling« in Gestalt eines Schweizer Kellners. Auch von jungen Mädchen lässt er sich damals noch bezaubern. 103 Er negiert die christliche Deutung des platonischen Eros und bestätigt die polemische Unterscheidung von Kunst und Religion, die das Fiorenza-Stück trug. Der späte Essay über Die Erotik Michelangelos kehrt nach Florenz zurück, um endlich ganz bei Platon anzukommen. Spätestens mit Fiorenza ist Manns Nietzscheanismus platonisiert. Nach Fiorenza arbeitet er sich immer deutlicher von Nietzsche zu Platon herauf.

5.

Castorps Bildung durch Liebe 104

Ausführlich durchdenkt Mann die Bildungsmacht der Liebe im Zauberberg. Die »philosophische« Rezeption des Romans konzentriert sich meist auf die politischen Diskurse und auf Settembrini und Naphta. Dagegen meine ich, dass Mann beide Gegenspieler als »Zivibestätigt dadurch erneut Platons Überlegungen zur »Zeugung im Schönen« und produktiven Verewigung der Liebe im Werk. 103 Dazu vgl. Elisabeth Galvan, Eleanor Twentyman – alias Cynthia Sperry – in Florenz, in: Thomas Mann-Jahrbuch 23 (2010), 159–168 104 Ich übernehme hier stark gekürzte Passagen aus: Verf., Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001, 83 ff; als neuere Quelle vgl. Inge Jens (Hg.), Katia Mann. »Liebes Rehherz«. Briefe an Thomas Mann 1920–1950, München 2008

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»Sokratischer Dialog unserer Zeit«

lisationsliteraten« ablehnte und Castorp in der Camouflage eines »einfachen jungen Mannes« von ehrenwerter Mittelmäßigkeit als Philosophen kennzeichnete. Der Dilettantismus gehört zur philosophischen Bildung. Die pädagogische Provinz des Zauberbergs ist ein Ort der Abstandnahme und Muße zur Selbstverständigung über das eigene Leben. In seinen frühen Selbstdeutungen Vom Geist der Medizin und Die Schule des Zauberbergs hebt Mann die erzieherische Bedeutung des ärztlichen Themas hervor: In der »hermetischen« Welt des Zauberbergs erfährt der »einfache junge Mensch« das Wesen der »Persönlichkeit« durch das Erlebnis der Liebe. Das Sanatorium ist eine »hermetische« Versuchsanordnung und »Lebensform« für sich. Seine unverantwortliche »Freiheit« schafft den experimentellen Raum einer unkonditionierten Ausgangslage. Da alle Beobachter zugleich Teilnehmer des Experiments sind, gibt es keine privilegierte Position. Der Zauberberg initiiert in den Eros. Er ist ein Ort der Bildung durch Liebe. Kein einziger Teilnehmer am pädagogischen Experiment begreift diese erotische Pädagogik aber adäquat. Castorp nimmt das humanistische »Interesse am Menschen« umfassend und eigenständig auf. Anders als Settembrini setzt er nicht »Geist« voraus, sondern fragt nach dem Wesen des »Lebens« (III, 383 ff) und gelangt zu einer philosophischen Lehre von den »Urzeugungen« des Lebens. Mann autorisierte diese spekulative Lebensphilosophie später im Felix Krull und im Essay Lob der Vergänglichkeit als Autorüberzeugung. Manfred Eigen würdigte sie aus biologischer Sicht zustimmend. 105 Castorp verbleibt im Zauberberg, weil er die durch Mde. Chauchat geweckte Erinnerung noch nicht identifiziert hat. Ist die Liebe ein Medium der Erinnerung, so ermöglicht sie die rekonstruktive Narration einer ganzen Lebensgeschichte und verweist mit der Zeitlichkeit des Daseins auf dessen Endlichkeit. Eros und Tod, »Walpurgisnacht« und »Totentanz«, sind in der Identitätserfahrung des Protagonisten miteinander verbunden. Castorps jahrelanges Warten hat einen anamnetischen Sinn: Mann ist nicht der Auffassung, dass Individuen frühkindliche Triebschicksale lebenslang zwanghaft reinszenieren; er meint, dass Individuen sich präsentistisch über lebensgeschichtliche Erzählungen verstehen. Bald nach Mde. Chauchat reist Ziemßen auf eigene Gefahr ab 105 Manfred Eigen, Thomas Mann, Erwin Schrödinger und die moderne Biologie, in: »Was war das Leben? Man wusste es nicht!« Thomas Mann und die Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt 2008, 13–29

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Castorps Bildung durch Liebe

und Settembrini zieht nach Davos-Dorf um. Naphta tritt nun als Settembrinis Nachbar und Gegenspieler auf. Die dialektische »Konfusion« spiegelt die »große Konfusion« der Gegenwart. Mann will keine bestimmten historischen Ereignisse – wie den Ausbruch des Ersten Weltkriegs – aus dem Handeln der Akteure verstehend erklären, sondern bezieht den historisch-politischen Deutungsanspruch seines »Zeitromans« nur auf eine symbolischen Korrelation der »Konfusion« (III, 536) der politischen Diskurse zur »großen Konfusion« (III, 646) der Zeit. Er deutet die politischen Ideen agonal als »Gedanken im Kriege«. Die engste Verknüpfung zwischen der historisch-politischen Ereigniskette und dem fiktiven Geschehen im Zauberberg ist deshalb das Duell zwischen Settembrini und Naphta. So radikal die beiden »Widersacher« ihre Ideen auch gegeneinander profilieren, kommen sie dabei in der Befürwortung des Krieges und der Praxis des Streites doch überein. Der »Zivilist« Castorp kann dieser Militanz nicht zustimmen. Auch er entrinnt am Ende aber der großen Konfusion nicht; er überwindet die »Sympathie mit dem Tode« letztlich nicht, sondern treibt, das Lindenbaumlied auf den Lippen, dahin. Als Geschichtsdeutung endet der Roman mit dem »großen Stumpfsinn«. Als Bildungsroman müsste er dagegen eigentlich mit der Humanitätsutopie des Schnee-Kapitels und dem »Traumgedicht vom Menschen« (III, 685 f) schließen. »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« (III, 686). Dieses Traumgedicht meint Castorp, wenn er vom »genialen Weg« spricht: »Zum Leben gibt es zwei Wege: Der eine ist der gewöhnliche, direkte und brave. Der andere ist schlimm, er führt über den Tod, und das ist der geniale Weg.« (III, 827) Diese Unterscheidung zweier Wege zum Leben nimmt Platons Bildungsphilosophie auf: Auch bei Platon führt der Weg zur philosophischen Existenz über die Erfahrung von Liebe und Tod. 106 Liest man die Rede vom »Tod« ontologisch im Sinne Platons, so ist das Tote eine Metapher für alles Endliche und Vergängliche. Platon zeigt – im Staat – auf, weshalb man um der »Güte und Liebe« willen – Platon würde sagen: um der Gerechtigkeit willen – dem Tod keine Herrschaft »über seine Gedanken« einräumen soll, und er verknüpft diesen »genialen Weg« mit der Bildung durch Wissenschaft und Philosophie. Die pla106 Dazu vgl. Heinrich Scholz, Der platonische Philosoph auf der Höhe des Lebens und im Anblick des Todes, Tübingen 1931

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»Sokratischer Dialog unserer Zeit«

tonische Auffassung des Bildungsproblems ist durch die makabre und frivole Fassade des Bildungsromans als Sanatoriums- und Tuberkuloseroman verdeckt. Diese Fassade ist aber auch eine Metapher für eine philosophische Idee von Genesung und Gesundheit. In seinem frühen Selbstkommentar Vom Geist der Medizin verteidigt Mann den humanistischen Sinn des »ärztlichen« Romans. Mann kennt die sokratische Metapher vom Philosophen als Arzt der Seele schon durch Nietzsche, sucht Nietzsches humanistische Vision für seine Zeit dichterisch zu gestalten und übersetzt die Frage nach dem »Übermenschen« in das – sich in Senator Buddenbrooks momentanen »Erhellungen« ankündigende – »Traumgedicht vom Menschen«. Dieses »Traumgedicht« bleibt die humanistische Gesamtperspektive seines Romanwerks. Mann nimmt es als Mythos von der Entwicklung des Menschen im »Vorspiel« des Joseph-Romans und dann als Faust-Stoff vom Teufelspakt wieder auf und enthüllt seine nietzscheanische Herkunft zuletzt im Felix Krull, indem er Nietzsches Gleichnis vom Seiltänzer in Krulls Liebe zur Seiltänzerin Andromache übersetzt. Castorp ist gewiss nicht die Erfüllung von Nietzsches Sehnsucht und keine platonische Idealgestalt vom Philosophen. So durchläuft er nicht den Bildungsgang, den Platon aus der Perspektive des Gesetzgebers entwarf. Doch dieses Bildungssystem war von antiken Voraussetzungen geprägt, die für Mann nicht mehr gültig waren. Seit seiner Schulzeit hatte er starke Vorbehalte gegen eine Verschulung von Lernen und Wissen. Der Glaube an die Möglichkeit einer fachphilosophisch-enzyklopädischen und systematischen Ordnung des Wissens war ihm fremd. Schon deshalb führt Castorps »genialer Weg« nicht auf den »dialektischen Weg« Platons. Castorp findet auch nicht konsequent von der liebenden Verehrung der schönen Gestalten zur Erörterung des Schönen, Guten und Wahren; er reift nicht zu einer selbständigen Persönlichkeit, die eine bürgerliche Rolle im »Flachland« übernehmen kann, löst sich aber immerhin aus der Agonie des Müßiggangs. Er bleibt ein »geopferter Vorläufer« 107 einer neuen Humanität. Ähnlich wie Platon fasst Mann das Bildungsproblem politisch auf. Während Platon sein Modell der Staatserziehung aber aus der Perspektive des Nomotheten entwirft, thematisiert er die staatliche Verantwortung aus der Sicht des Adressaten negativ und liberal 107 Interview v. 30. 10. 1925 mit dem Berliner Börsen-Courier, in: Frage und Antwort. Interviews mit Thomas Mann 1909–1955, hrsg. Volkmar Hansen, Hamburg 1983, 76

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Castorps Bildung durch Liebe

als Sorge um die Gefährdung des Bildungsprozesses durch politische Konfusion. Er erkundet die Möglichkeit von Bildung unter den experimentellen Bedingungen der pädagogischen Provinz. Sein Experiment zeigt die Verstrickung der Bildungsmächte Einsicht und Leidenschaft in die große Konfusion der Zwischenkriegszeit.

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II. Apokalypse der deutschen »Seele«? Doktor Faustus als »Zeitroman«

1.

Die Zielvorgabe einer »allgemeinen Beglückung«: Königliche Hoheit

Einleitend wurde vom »Traumgedicht« eines Gesamtwerks und der finalen Tendenz zur Koinzidenz des Guten und des Gerechten gesprochen. Eine erste Formulierung dieser Zielvision findet sich nach dem Roman vom »Verfall einer Familie« im »Märchen« und »Lustspiel in Romangestalt« (XI, 573) Königliche Hoheit von 1909. In einem frühen Selbstkommentar betonte Mann die realistische »Exaktheit« (XI, 569) der Darstellung der konstitutionellen Monarchie und des »fürstlichen Daseins«, aber auch die »allegorische« Stilisierung der »repräsentativen« Lebensform zum moralischen Exempel. Später meinte er: »Was mir künstlerisch am Herzen lag, war die geistige Auflockerung und Durchhellung eines vom neunzehnten Jahrhundert ererbten und in ›Buddenbrooks‹ treulich geübten massiven und durchaus lebensernsten Naturalismus, seine Erhöhung und Erheiterung zum symbolischen, für das Ideelle transparenten Kunstwerk. In diese Richtung war ›Königliche Hoheit‹ ein Fortschritt«. (XI, 574)

Man könnte von einer reflektierten politischen Romantik zweiter Stufe sprechen, einer idealen und utopischen Auslegung des Monarchismus, wie sie sich schon bei Novalis findet. Das fiktive Fürstentum, das der Roman zeigt, steht eingangs vor dem Staatsbankrott (vgl. II, 36 ff). Staatskanzler Knobelsdorff, Fürst Bülow nachgestaltet (XI, 575), bemerkt dazu eingangs gegenüber dem Finanzminister: »Ja, mein Gott, die Romantik ist ein Luxus, ein kostspieliger! Exzellenz, ich bin Ihrer Meinung, – selbstverständlich. Aber bedenken Sie, dass zuletzt der ganze Missstand fürstlicher Wirtschaft in diesem romantischen Luxus seinen Grund hat.« (II, 19)

Der regierende Großherzog hatte es einst versäumt, die »Verhältnisse durch eine Heirat« (II, 22) zu sanieren. Sein ältester Sohn und Thron58 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Die Zielvorgabe einer »allgemeinen Beglückung«: Königliche Hoheit

erbe Albrecht II. hängt dann noch am absolutistischen Selbstverständnis und scheut das Volk. Die Verhältnisse sind aber bereits stark konstitutionalisiert. Politische Romantik ist ein kompensativer Reflex der faktischen Abhängigkeit und Ohnmacht des Monarchen gegenüber dem Budgetrecht des Parlaments. Hegel hatte das in seiner Rechtsphilosophie 1821 bereits als positive Utopie und Zukunft der konstitutionellen Monarchie gepriesen. Seine Lehre von der Souveränität ersetzte die fürstliche Gewalt schon sehr weitgehend durch die »Souveränität des Staats« (VII, 442). Im mündlichen Zusatz erklärte Hegel dazu: »Es ist bei einer vollendeten Organisation nur um die Spitze formellen Entscheidens zu tun, und man braucht zu einem Monarchen nur einen Menschen, der ›Ja‹ sagt und den Punkt auf das I setzt; denn die Spitze soll so sein, dass die Besonderheit des Charakters nicht das Bedeutende ist. Was der Monarch noch über diese Entscheidung hat, ist etwas, das der Partikularität anheimfällt, auf die es nicht ankommen darf. Es kann wohl Zustände geben, in denen diese Partikularität allein auftritt, aber alsdann ist der Staat noch kein völlig ausgebildeter oder kein wohl konstruierter. In einer wohlgeordneten Monarchie kommt dem Gesetz allein die objektive Seite zu, welchem der Monarch nur das subjektive ›Ich will‹ hinzuzusetzen hat.« (VII, 451)

Hegel gab der formellen Entscheidung des Monarchen dennoch eine hohe symbolische Bedeutung: Sie garantierte die Souveränität des Menschen über der Maschine und somit die Humanität. Hegel glaubte, wie etwa Novalis, auch noch ernstlich an die symbolische Bedeutung der Erbmonarchie. Auch Mann vertritt im Roman noch die dynastische Legitimität. Albrecht II., bis zuletzt der formelle Regent, glaubt aber, wie schon sein Onkel Lambert (II, 42 f), nicht mehr an die spekulative Weihe und Funktion des Monarchen und vergleicht sich mit einem verrückten Narren: »Fimmelgottlieb bildet sich ein, dass der Zug auf sein Winken hin abgeht. Das bin ich. Ich winke, und der Zug geht ab. Aber er ginge auch ohne mich ab, und dass ich winke, ist nichts als Affentheater.« (II, 144)

Albrecht II. übergibt seine Repräsentationspflichten deshalb schon früh an den jüngeren Bruder Klaus Heinrich, der seine »formale Existenz« (II, 84) aus der Idee seiner Popularität und »Volkstümlichkeit« erneuert. Von der Repräsentation wird im Roman immer wieder gesprochen. Doktor Überbein erklärt es seinem Zögling: »Repräsentieren, für viele stehen, indem man sich darstellt, der erhöhte und zuchtvolle Ausdruck einer Menge sein, – Repräsentieren ist selbstver-

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

ständlich mehr und höher als einfach Sein, Klaus Heinrich, – darum nennt man Sie Hoheit …« (II, 88)

Immer wieder spricht der Roman vom »Idealismus des Volkes« (II, 22). Selbstverständlich setzt er dabei noch einen konservativen Dynastismus voraus: »Das Volk war fromm und treu, es liebte seinen Fürsten wie sich selbst, es war von der Erhabenheit der monarchischen Idee durchdrungen, es sah einen Gottesgedanken darin.« (II, 41)

Mann romantisiert die Verhältnisse als Märchen und rückt den Monarchismus sentimentalisch in die Nähe eines vorrevolutionären und traditionalen Gottesgnadentums. Es gibt wenige Hinweise darauf, dass er die Idee eines Volks- oder Bürgerkönigs damals nicht teilte. Mann betont aber den Abstand zwischen der Repräsentationsidee von Abrecht II. und dessen Bruder Klaus Heinrich: zwischen absolutistischer Selbstherrschaft und einem populären Bürgerkönigtum. Wenn er mit dem Roman für eine bürgerliche oder nationale Legitimität des konstitutionellen Monarchen optiert, entspricht dies ungefähr der Lage um 1900. Mann idealisiert diesen Monarchismus aber märchenhaft. Die Buddenbrooks beschrieben bereits eine Wendung von Geld und Macht zur Kunst des Daseins. Königliche Hoheit entdeckt die »formale« und ästhetische Existenz im repräsentativen »Schein« (II, 303) nun positiv als neue Attraktivitätsressource. Die Dämonie der Macht ist dabei von der politischen Herrschaft auf das Kapital übergegangen und vom alten Europa nach Amerika – Goethes und Hegels »Land der Zukunft« – ausgewandert. Nicht der Staat, sondern der Milliardär Spoelmann erscheint nun als »Leviathan« (II, 151 ff). Er ist aber kein raubtierkapitalistischer Tycoon, sondern ein amerikamüder (II, 192) 1 und mäzenatischer Erbe, ein Remigrant, der nicht zuletzt um seiner Tochter willen vor dem US-Rassismus flieht (II, 265 f). Die märchenhafte Lösung der Staatskrise durch die Heirat von Klaus Heinrich mit Imma Spoelmann wird vom Staatskanzler Knobelsdorff aus höherer Einsicht eingefädelt; der entscheidende Impuls geht nicht von der Dynastie aus, die – im Leibschaden symbolisiert – konstitutionell gehemmt handlungsuntüchtig ist. Knobelsdorff ist es, der die Entwicklungen »als erster Beamter des Landes« (II, 318) »auf den Boden der Wirklichkeit« (II, 309) stellt, indem er Klaus Heinrich erklärt: 1

Dazu vgl. Ferdinand Kürnberger, Der Amerika-Müde, Frankfurt 1855

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Die Zielvorgabe einer »allgemeinen Beglückung«: Königliche Hoheit

»Bei allem, was Euere Königliche Hoheit erwägen und tun, wollen Sie sich gegenwärtig halten, dass Euerer Königlicher Hof Glück durch Schicksalsfügung zur Bedingung der öffentlichen Wohlfahrt geworden ist, dass aber auch Euere Königliche Hoheit Ihrerseits in der Wohlfahrt des Landes die unerlässliche Bedingung und Rechtfertigung Ihres Glückes zu erkennen haben.« (II, 323)

Knobelsdorff übernimmt die Organisation der »allgemeinen Beglückung« (II, 336). Schon bei der Geburt von Klaus Heinrich hatte er an eine wundersame Prophezeiung erinnert (II, 34 f). Die romantischen »Träumereien« von der wundersamen Rettung des Staates durch eine Mitgift-Heirat und »Ehe zur Linken« (II, 346) fördert er dann in jeder Hinsicht. Die märchenhafte Lösung des »Hofromans«, als »Eheroman« kaum glaubhaft, verdankt sich also politischem Geschick. Knobelsdorffs Romantik ist gezielte Propaganda oder Marketing. In einer späten Selbstdeutung attestiert Mann dem Roman »wilhelminische Züge« (XI, 575). Nicht weniger präsent sind die bayerischen Anspielungen. Letztlich aber ist Manns Idylle eine Utopie. Dafür ließe sich etwa auf Novalis verweisen, den Mann Jahre später in seiner Rede Von deutscher Republik eingehend zitiert. Bei Novalis ist 1798 in den politischen Aphorismen von Glauben und Liebe zu lesen: »Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Konstitution für den bloßen Verstand ist. Man kann sich für eine Konstitution nur, wie für einen Buchstaben interessieren. […] Was ist ein Gesetz, wenn es nicht Ausdruck des Willens einer geliebten, achtungswerten Person ist? Bedarf der mystische Souverän nicht, wie jede Idee, eines Symbols, und welches Symbol ist würdiger und passender, als ein liebenswürdiger trefflicher Mensch?« 2 »Es wird eine Zeit kommen, und das bald, wo man allgemein überzeugt sein wird, dass kein König ohne Republik, und keine Republik ohne König bestehen könne, dass beide so unteilbar sind, wie Körper und Seele, und dass ein König ohne Republik, und eine Republik ohne König, nur Worte ohne Bedeutung sind. Daher entstand mit einer echten Republik immer ein König zugleich, und mit einem echten König eine Republik zugleich. Der echte König wird Republik, die echte Republik König sein.« 3

Novalis publizierte diese Aphorismen 1798 in den Jahrbüchern der preußischen Monarchie nach dem Thronwechsel zu Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise. Er richtete sich damit gegen die FranzöNovalis, Glauben und Liebe oder Der König und die Königin, in: Werke, hrsg. Gerhard Schulz, München 4. Aufl. 2001, 356 3 Novalis, Glauben und Liebe, 359 2

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

sische Revolution. Der genaue verfassungspolitische Ort dieser »republikanischen« Idealisierung der preußischen Monarchie ist hier nicht zu diskutieren. Wichtig ist aber, dass sich bei Novalis, anders als bei Hegel, schon eine moralistische und utopische Idealisierung des »mystischen Souveräns« zum moralischen Exempel findet, wie sie Mann später mit seinem Roman vertritt. Mann verklärt die konstitutionellen Verhältnisse 1909 zum »Märchen«. Die märchenhafte Lösung und »Erfüllung« der romantischen »Prophezeiung« wird am Ende nur durch den Suizid des Mentors Dr. Überbein gestört, der nach dem Entzug des »Ordinariats« zum »Aufwiegler der ihm anvertrauten Schüler« (II, 350) wurde und ein »Ehrengericht« als Demütigung empfand. Überbeins Ende ist ein Revolutionsfanal in der traditionalistischen Idylle. Mann selbst glaubt damals zwar nicht an ein wilhelminisches Volkskönigtum, formuliert aber dennoch mit Knobelsdorff, dem Namensvetter des Architekten von Friedrich II., auf den Spuren politischer Romantik die utopische Idee einer »allgemeinen Beglückung« und Fusion von »Hoheit und Liebe«: das Traumziel seines weiteren Romanwerks. Manns Romanwerk geht dabei von der Verfallsanalyse und utopischen Fassung zum »Zeitroman« über. Der »Zeitroman« stellt die humane Möglichkeit gelingenden Lebens in die historisch-politische Bedingungsanalyse zurück.

2.

Der »Zeitroman« als Deutungskonzept

Wiederholt nennt Mann den Zauberberg einen »Zeitroman«. Unausgesprochener Gegenbegriff ist der »historische Roman«, wie er in der Weimarer Republik Konjunktur hatte. Beim historischen Roman lassen sich wenigstens zwei Typen unterscheiden: Der eine wählt historische Sujets mit fiktiven Personen, der andere historische Sujets mit historischen Personen. Üblicherweise spricht man vom historischen Roman nur im starken Sinne der Berücksichtigung historischer Sujets und Protagonisten. Mann schrieb keine solchen Romane, erhob aber dennoch mit seinen »Zeitromanen« einen starken Deutungsanspruch. Mit den Buddenbrooks, dem Zauberberg und dem Doktor Faustus dichtete er an einer Nationalgeschichte und stellte sie mit der Joseph-Tetralogie in die abendländische Weichenstellung zum »ethischen Monotheismus« (Max Weber) zurück. Mann nennt den Zauberberg einen

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Der »Zeitroman« als Deutungskonzept

»Zeitroman in doppeltem Sinn: einmal historisch, indem er das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist […]. Das Buch ist selbst das, wovon es erzählt; denn indem es die hermetische Verzauberung seines jungen Helden ins Zeitlose schildert, strebt es selbst durch seine künstlerischen Mittel die Aufhebung der Zeit an« (XI, 611 f).

Vom »Zeitroman« spricht Mann also primär im Sinn ekstatischer Distanzierung von der Gegenwart und Entrückung in die ästhetische Erfahrung der eigenen Welt des Kunstwerks. Deshalb spricht er auch von einem »alchimistischen« und »hermetischen« Roman. Gleichzeitig beansprucht er aber, das »innere Bild« einer Epoche zu vermitteln. Er will nicht nur Erzählzeit beanspruchen und erzählte Zeit, die »imaginäre Zeit der Erzählung« (III, 749) schaffen, sondern im imaginären Medium der Literatur auch »von der Zeit erzählen« (III, 750). Er tut dies, indem er die Krise der Zeit in ihren politischen Diskursen spiegelt und verdichtet. Diskursgeschichte repräsentiert Nationalgeschichte; Naphta und Settembrini vertreten sie als Gegenspieler. Mit den Disputen wird die Politik thematisch. Mann hat aber nicht den Ehrgeiz, die politischen »Ideenkreise« (Hermann Heller) 4 seiner Zeit umfassend abzubilden; er bezieht den Deutungsanspruch seines »Zeitromans« vor allem auf eine symbolische Korrelation der »Konfusion« (III, 536) der politischen Diskurse zur »großen Konfusion« (III, 646) der Zeit. Schon Aristoteles schätzte diese Chance der Dichtung, Geschichte zu verdichten, und noch Reinhart Koselleck würdigte sie in seiner Geschichtstheorie. In einem späten Interview meinte er: »Ohne Zweifel sind die literarischen Verarbeitungen historischer, geschichtlicher Erfahrungen nicht nur ästhetisch spannender, als die meisten historischen Texte zu lesen sind, sondern sie haben den großen Vorteil, dass sie etwa Konfliktlagen symbolisch auf Situationen reduzieren, die in wenigen Seiten mehr sagen können als meterlange Quelleneditionen einem zu sagen erlauben.« 5

Thomas Mann fragt nicht, wie ein Historiker, ernsthaft nach dem analytischen und konstruktiven Gehalt der erörterten Ideen, sondern deutet sie agonal als »Gedanken im Kriege«. Die engste Verknüpfung

Hermann Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1926 Reinhart Koselleck / Carsten Dutt, Erfahrene Geschichte. Zwei Gespräche, Heidelberg 2013, 60

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

zur großen Politik des Weltkrieges liegt deshalb im Duell zwischen Settembrini und Naphta. Der Roman kritisiert die fahrlässige Selbstzerstörung des alten Europa in der »Urkatastrophe« des Ersten Weltkriegs. Dabei will er humane Möglichkeiten erkunden. Spätestens seit dem Zauberberg lässt sich sagen: Mann schreibt keine »realistischen« oder »naturalistischen« Gesellschaftsromane, die bestimmte Klassenlagen und Konflikte exemplifizierten; und er schreibt keine historischen Romane, die Geschichte aus der Sicht historischer Akteure historisierend und politisch intentional deuteten. Seinem Selbstverständnis folgend, schreibt er »Zeitromane« unter der Perspektive des »Bildungsromans«. Dafür ließe sich von »zeithermeneutischen« Romanen oder politischer Hermeneutik im Roman sprechen: Damit sind Romane gemeint, die National- und Zeitgeschichte unter der utopischen Perspektive einer Bildungs- bzw. Humanitätsidee auf politische Gründe zurückführen.

3.

Revolution im Roman

Seit Fiorenza und dem Friedrich-Essay vertrat Mann eine starke staatstheoretische Personalisierung und Personifikation von Staat und Politik. Die Betrachtungen eines Unpolitischen gingen mit ihrer autobiographischen Explikation des nationalen »Ethos« über die analytische Staatstheorie hinaus und entwickelten eine normativ-philosophische Verhältnisbestimmung von Moral und Politik. Indem Mann die Hegemonie der »zivilisationsliterarischen« Demokratisierungsparole bestritt: die dogmatische Identifikation von (»guter«) Politik und Demokratie, gewann er analytische Distanz zur Staatsformenfrage. Mann hatte keine starke dogmatische Präferenz für »Monarchie« oder »Demokratie«, zumal diese Grundformeln fast Leerformeln sind, und konnte deshalb nach 1918 auch seine Option für die konstitutionelle Monarchie des Spätwilhelminismus ohne große Mühen und Sinnesänderung begraben. Schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen meinte er zuletzt: »Konservativ? Natürlich bin ich es nicht; denn wollte ich es meinungsweise sein, so wäre ich es doch immer noch nicht meiner Natur nach, die schließlich das ist, was wirkt. In Fällen wie meinem begegnen sich destruktive und erhaltende Tendenzen, und soweit von Wirkung die Rede sein kann, ist es eben diese doppelte Wirkung, die statthat.« (XII, 585)

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Revolution im Roman

Die Betrachtungen eines Unpolitischen erschienen im Herbst 1918 mitten in die Kapitulationsphase und den Systemumbruch hinein. Nur kurz hatte Mann erwogen, die Schrift angesichts des Umsturzes zurückzuziehen. Damals beendete er Herr und Hund und begann im Dezember 1918 mit dem Gesang vom Kindchen. Seine beiden Idyllen spiegelten den politischen Umbruch im familiären Rahmen. Den revolutionären Entwicklungen begegnete er damals zunächst noch relativ zuversichtlich und offen, wie seine Tagebuchaufzeichnungen bezeugen. Mann wünschte eine »soziale Republik« jenseits von Bolschewismus und Bourgeoisie. Im Gesang vom Kindchen repräsentiert die Taufe, über die familiären und nationalpolitischen Hoffnungen hinaus, diesen »Traum vom Morgenland« (VIII, 1088) und Zukunft. Selbst der nationalistische Pastor, der im Krieg »für Deutschland« gekämpft hatte, wünscht ein »anderes Deutschland« (VIII, 1097) als das abgelebte wilhelminische Reich. Volker Weidermann 6 hat Mann unlängst leicht fiktionalisierend in den Umbruch der Ereignisse gestellt und dabei dessen bürgerliche und ästhetizistische Distanz zu den anarchistischen, bolschewistischen und bald gegenrevolutionären Entwicklungen betont: Mann begrüßt damals bereits die »Idee des Sozialismus« (TB 29. 11. 1918), liest Gustav Landauer zustimmend. Erst im Frühjahr 1919 spielt er unter dem Eindruck der jüngsten Entwicklungen – der Ermordung Eisners, kommunistischer Machtergreifung, Reichsexekution sowie dann der scharfen Versailler Friedensbestimmungen – mehr die nationalistische Karte. Ernst Bertram und der benachbarte Bismarck-Historiker Erich Marcks sind damals enge Gesprächspartner. Die Rezeption der Betrachtungen eines Unpolitischen bringt Mann damals auch in gelegentliche Korrespondenzbeziehungen mit radikalen Nationalisten und späteren Nationalsozialisten wie Ernst Krieck und Alfred Baeumler. Mann adaptiert nun sein polemisches Stereotyp vom »Zivilisationsliteraten« für das »radikale Literatentum« der Revolutionspolitiker und identifiziert die jüngsten Utopiker des »Gottesstaates«, wie schon Novalis, mit den chiliastischen Dogmatikern des MittelVolker Weidermann, Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Köln 2017; historisch präziser Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart 1978, 1113 ff; aus der reichen Memoirenliteratur vgl. Peter Landau / Rolf Rieß (Hg.), Die Erinnerungen von Philipp Löwenfeld, Ebelsbach 2004; zur nationalliberalen Krisenverarbeitung vgl. Wolfgang Hardtwig, Freiheitliches Bürgertum in Deutschland. Der Weimarer Demokrat Eduard Hamm zwischen Kaiserreich und Widerstand, Stuttgart 2018

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

alters. Just in der heißen Phase der Münchner Bürgerkriegslage vom April 1919 nimmt er die Arbeit am Zauberberg wieder auf. Am 17. April notiert er dazu sehr grundlegend und eindrucksvoll: »Unterdessen bedenke ich den Zbg., den wieder in Angriff zu nehmen jetzt wirklich erst der Zeitpunkt gekommen ist. Im Kriege war es zu früh, ich musste aufhören. Der Krieg musste erst als Anfang der Revolution deutlich werden, sein Ausgang nicht nur da sein, sondern auch als Schein-Ausgang erkannt sein. Der Konflikt von Reaktion (Mittelalter-Freundlichkeit) und humanistischer Aufklärung durchaus historisch-vorkriegerisch. Die Synthese scheint in der (kommunistischen) Zukunft zu liegen: Das Neue besteht im Wesentlichen in einer neuen Konzeption des Menschen als einer Geist-Leiblichkeit (Aufhebung des christlichen Dualismus von Seele und Körper, Kirche und Staat, Tod und Leben), einer übrigens auch schon vorkriegerischen Konzeption. Es handelt sich um die Perspektive auf die Erneuerung des christlichen Gottesstaates ins Humanistische gewendet, auf einen irgendwie transcendent erfüllten menschlichen Gottesstaat also, geistleiblich gerichtet; und Bunge sowohl wie Settembrini haben mit ihren Tendenzen beide so recht wie unrecht. Die Entlassung Hans Castorps in den Krieg also bedeutet seine Entlassung in den Beginn der Kämpfe um das Neue, nachdem er die Komponenten, Christlichkeit und Heidentum, erzieherisch durchkostet.« (TB 17. 4. 1919)

Es bedarf kaum der Erwähnung, dass diese Formulierungen nicht nur die Grundidee des Zauberberg betreffen, sondern auch auf den Joseph-Roman vorausweisen. In diesen Tagen ist die Bürgerkriegslage militärisch wie politisch noch nicht entschieden. Erst am 1. Mai notiert Mann: »Die Münchner kommunistische Episode ist vorüber; es wird wenig Lust vorhanden sein, sie zu erneuern. Eines Gefühls der Befreiung und Erheiterung entschlage auch ich mich nicht. Der Druck war abscheulich.« (TB 1. 5. 1919)

Mann klingt distanziert und gemäßigt. Mit den Nachrichten über »Geiselmorde« werden seine ablehnenden Formulierungen über den »Typus des russischen Juden, des Führers der Weltbewegung« (TB 2. 5. 1919), und den »expressionistischen Terror« aber schärfer. Mann begrüßt nun die Hinrichtung der »Verbrecherwirtschaft, die die Wirklichkeit der ›Idee‹ bildete« (TB 3. 5. 1919). Seine humanistische Umdeutung der Christologie ist damit beschlossen. Er nennt die Münchner Revolutionspolitiker, die er meint, auch beim Namen: vor allem Leviné und Axelrodt, aber auch Landauer und Toller, Eisner und den gegenrevolutionären Grafen Arco. Die politischen Morde 66 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Revolution im Roman

lehnt er ab. Mann spiegelt die Revolutionspolitiker in den chiliastischen Utopikern des Spätmittelalters; er spricht von einem »radikalen Literatentum«, wo zwei andere Münchner Zeugen – Max Weber und Carl Schmitt – polemisch von »Gesinnungsethikern« und »politischer Romantik« sprachen. Schmitt spiegelte die Revolutionäre in Bakunin als Prototypus. 7 Es muss hier nicht ausgeführt werden, welche zeitgenössische Modelle in die Konstellationen des Zauberberg eingingen. Der Idealtyp des Revolutionspolitikers ist jedenfalls nicht nur Georg Lukács nachempfunden. Manns Grundgedanke steht mit den Münchner Revolutionserfahrungen vom Frühjahr 1919. In den folgenden Monaten liest er zeitdiagnostische Geschichtsphilosophen mit Interesse und Zustimmung: u. a. Spengler, Keyserling und Rathenau, über die er auch schreibt. Nach der Unterzeichnung der harten Versailler Friedensvereinbarungen, die er strategisch für richtig hält, ist damals über die Zukunft Weimars noch nicht entschieden. So gibt es starke separatistische Kräfte im Rheinland und auch in Bayern. In München stellt sich die »großdeutsche« Frage weiter energisch. Dazu notiert Mann im März 1920 ins Tagebuch: »Man wird um die Auflösung des Reiches nicht herumkommen, der Weg zu Großdeutschland führt über sie. Die Franzosen wären von ihrem Alp entlastet, Verständigung möglich, ein neuer Friede mit den einzelnen Allmagnes, unter Annulierung des Versailler Instruments, könnte geschlossen werden. Anschluss Deutsch-Österrreichs und Tyrols an Süddeutschland. Selbständige Entwicklung Preußens nach seinem Charakter und Geschmack. Das ›Reich‹ wieder Idee, Traum, Hoffnung. Großdeutsch-kaiserliche Möglichkeiten in der Zeiten Hintergrunde.« (TB 16. 3. 1920)

Die Reichsidee und ein nationalistischer Revisionismus haben damals für Mann noch einige Bedeutung. Eine disjunktive Auffassung von Literatur und Politik klingt hier nicht an, das »Dritte Reich« der Dazu Verf., Politische Theologie des Anarchismus. Fritz Mauthner und Gustav Landauer im Visier Carl Schmitts, in: Gerald Hartung (Hg.), An den Grenzen der Sprachkritik. Fritz Mauthners Beiträge zur Sprach- und Kulturtheorie, Würzburg 2013, 85–111; eindrucksvolle Memoiren Peter Landau / Rolf Rieß (Hg.), Recht und Politik in Bayern zwischen Prinzregentenzeit und Nationalsozialismus. Die Erinnerungen von Philipp Löwenfeld, Ebelsbach 2004; eingehende verfassungshistorische Darstellung bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789 Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart 1978; aus der neueren Literatur etwa Volker Weidermann, Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Köln 2017; Bernhard Grau, Kurt Eisner 1867–1919, München 2017

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

Kunst hat vielmehr visionäre politische Gestaltungskraft. Wenn Mann sich damals erneut der »heiligen russischen Literatur« zuwendet, markiert dies einen dritten kulturpolitischen Weg jenseits der Francophilie des – vom Bruder Heinrich Mann repräsentierten – »Zivilisationsliteraten« und des Bolschewismus. Im Januar 1921 schreibt Mann kurz entschlossen sein Geleitwort Russische Anthologie zu einer Sammlung russischer Erzählliteratur. Dazu erklärt er, »zwei Erlebnisse« (X, 597) hätten seine »synthetische Idee« der Suche nach einem »neuen Menschentum« und einer »neuen Religiosität« des »Dritten Reiches« (X, 598) geprägt: Nietzsche und das »russische Wesen«, wie es seine modernen Erzähler fassten. Was Mann selbst damals mit Nietzsche erdichtet, findet er russisch präludiert und präfiguriert. Zu dieser »synthetischen Idee« schreibt er: »Seine Synthese ist die von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, ›Gott‹ und ›Welt‹. Es ist, künstlerisch ausgedrückt, die von Sinnlichkeit und Kritizismus, politisch ausgedrückt, die von Konservatismus und Revolution. Denn Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch-liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war nichts anderes als konservative Revolution.« (X, 598)

Mann prägte die Formel von der »konservativen Revolution« also auf Nietzsche bezogen zunächst etwas beiläufig, bezog sie aber von Anfang an auf eine programmatische Rede vom »Dritten Reich«, einer »neuen Religiosität« und »neuem Menschentum«. Seine damalige Wendung vom Wilhelminismus zur Weimarer Republik ist höchst umstritten und kleinteilig erforscht. Hier sollte nur rekapituliert werden, dass die Grundidee des Zauberberg, die in Castorps »Ergebnissatz« und »Traumgedicht vom Menschen« mündete, eine sehr direkte Antwort auf die Münchner Revolutionserfahrung war.

4.

Pariser Rechenschaft

Nach dem Zauberberg spricht Mann zwar nicht weiter vom »Zeitroman«. Seinen historisch-politischen Deutungsanspruch hält er aber fest. Direkt anknüpfend an den Zauberberg baut er seine Konzeption schon in seiner Pariser Rechenschaft von 1926 aus. 8 Sie reflektiert Auch die Literatur ist hier spärlich. Dazu etwa vgl. Kurt Sontheimer, Thomas und Heinrich Mann, in: Auf der Suche nach Frankreich, hrsg. Horst Lehner, Herrenalb

8

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Pariser Rechenschaft

eine Reise nach Paris vom Januar 1926 9 und ist Manns bis dahin umfangreichster autobiographischer Text. Mann veröffentlichte sie als kartoniertes Büchlein von immerhin 121 Seiten Umfang. Später erschien sie infolge des gewandelten politischen Kontextes nicht mehr. Sachlich behinderte die flüchtige Aktualität der Schrift die Rezeption; formal behinderte sie die kontextgebundene Ausarbeitung als geringfügig überarbeitetes Reisetagebuch. Die Form der Schrift fand Mann aber – für die beiläufigen Aufgaben autobiographischer Rechenschaft – gleichwohl derart vorbildlich, dass er sie festhielt. Sie ist nicht nur ein Modell 10 für spätere Schriften wie Leiden an Deutschland, Meerfahrt mit ›Don Quijotte‹ und den »Roman« über Die Entstehung des ›Doktor Faustus‹, sondern verantwortet auch die politische Wendung zur Republik vor dem französischen Publikum. Wenn irgendwo Mann die Rolle des Repräsentanten und Nationalschriftstellers einnimmt, so in der Pariser Rechenschaft. Kurz nach Erscheinen des Zauberbergs verfasst und vielfältig auf ihn bezogen, ist sie die Antrittserklärung des Nationalschriftstellers als Repräsentant der Weimarer Republik und Diplomat der Verständigung. Unter dem Eindruck der französischen Ruhrbesetzung 11 hielt Mann damals noch recht lange an der eher negativen Sicht Frankreichs fest, die die Betrachtungen eines Unpolitischen 12 entwickelten. 1963, 141–158; Ernest Bisdorff, Thomas Mann und Frankreich. Ein Essay, Luxembourg 1980, bes. 67 ff; Ruth Beuter, Thomas Manns ›Pariser Rechenschaft‹ und die Metaphorik der deutsch-französischen Beziehungen. Zu Thomas Manns FrankreichDiskurs als Teil einer sprachlichen Selbstinszenierung, Freiburg 1995; Beuter liest Manns Sterotype als »Metaphorik« und »Teil einer sprachlichen Selbstinszenierung« und analysiert die Umsetzung von Politik über Autobiographie in Kunst. Dabei erörtert sie auch ausführlich das Fortleben von Manns Ansatz in späteren autobiographischen Schriften und den Romanen. Für die Autorisierungsfunktion des autobiographischen Textes ist noch geradezu blind: Simone Costagli, Französische Zustände. Das Tagebuch als Form der ideologischen Standortbestimmung in Pariser Rechenschaft, in: Thomas Mann-Jahrbuch 30 (2017), 47–59 9 Ein Jahr zuvor, 1925, hatte Mann in dem kürzeren Text Unterwegs (XI, 355–365) ähnliche autobiographische Rechenschaft von einer Kreuzfahrt durchs Mittelmeer und seinem ersten Ägypten-Besuch gegeben und dabei den kommenden Joseph-Roman angekündigt. 10 So Rolf Günter Renner, Autobiographische Essayistik, in: Thomas-Mann-Handbuch, hrsg. Helmut Koopmann, 3. Aufl. Stuttgart 2001, 653–665, hier: 657 f. 11 Dazu vgl. Thomas Mann, Der »autonome« Rheinstaat des Herrn Barrès (XII, 624– 626) 12 Dazu vgl. Roger Bauer, Zum Frankreichbild Thomas Manns in den ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹, in: Thomas Mann 1875–1975, hrsg. Beatrix Bludau u. a., Frank-

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

Noch 1922 schrieb er einen Aufsatz Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen, der die Stereotype der Betrachtungen durch die französische Rezeption noch bestätigt fand. Die »Frankreichkunde« und deutsch-französische Verständigung wurde damals – wie nach 1945 – eine zentrale Aufgabe und Rechtfertigung der deutschen Romanistik. Ein Hauptvertreter war hier Ernst Robert Curtius, 13 der Anfang der 1930er Jahre dann von der mangelnden Verständigungsbereitschaft der französischen Kollegen enttäuscht war. Mann entwickelte dagegen zunehmende Konzilianz und verteidigte 1925 in Deutschland und die Demokratie die »Notwendigkeit der Verständigung mit dem Westen« emphatischer. Die Möglichkeit einer »Erneuerung der Welt und der Seele« (XII, 624) knüpfte er dabei, mit Nietzsche, an ein Verhältnis zum »Orientalismus« und »Asiatismus«. Das Verhältnis zum Osten beschrieb er als kritischen Lernprozess, der es erlaube, einen verdrängten Grund zu erschließen. Nur so könnten sich Deutschland und Frankreich als feindliche Brüder versöhnen. Deutschland und Frankreich könnten sich als europäische Kernmächte nur einigen, indem sie sich vom Osten anregen und begrenzen lassen. Der Westen werde vom Osten her möglich, meint Mann und zählt dazu auch Asien. Er spricht deshalb nicht nur von Deutschland und Frankreich, sondern auch vom Orient und der russischen Revolution als Ermöglichungsbedingungen europäischer Verständigung. Die Pariser Rechenschaft beginnt mit einer kurzen Einleitung, die auf die nachträgliche Überarbeitung (vom Februar bis April 1926) hinweist. Mann betont, er habe die Rechenschaft im »Krankenzimmer« und »Bett« (XI, 10) geschrieben. Damit knüpft er eine Parallele zum Zauberberg: Was dort die Tuberkulose, ist hier die »Grippe«. Die Pariser Rechenschaft beglaubigt den Zauberberg autobiographisch. Die europäischen Verständigungsdiskurse treten erneut umfassend auf. Mann beginnt mit politischen Kontakten und endet mit Begegnungen mit russischen Emigranten. Von Anfang an übernimmt Mann die Rolle des Botschafters, tritt als Sprecher auf (XI, 22: »Deutschland durch mich sprechen hören«) und beantwortet hochpolitische Fragen, wie das Verhältnis zum Völkerbund. Die Gespräche

furt 1977, 107–119; vgl. jetzt Ann-Cathrin Oelkers, »Ein Schicksal, dass der Rhein zwei ungleiche Ufer hat.« Heinrich und Thomas Mann zwischen Frankreich und Deutschland, Norderstedt 2013 13 Dazu vgl. Verf., Die Erfindung der Freiheit. Vom Aufstieg und Fall der Philosophischen Pädagogik, Würzburg 2018, 209 ff

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Pariser Rechenschaft

gehen dann vom »Problem der deutsch-französischen Verständigung« zu deren exzentrischen Voraussetzungen im Osten über. Das Modell des Zauberbergs, des europäischen Diskurslaboratoriums, findet seine Lösung in der Auseinandersetzung mit dem Osten. Institutionelle Alternativen erwägt Mann kaum, er verlagert die Fragen europäischer Einigung auf den kulturellen Hintergrundkonsens. Sein zentraler Gedanke ist hier die »Revision« (XI, 37) der nationalen Stereotype vom deutsch-romantischen und französisch-klassischen »Geist«. Zunächst erläutert er die Forderung einer deutschen Selbstkritik des romantischen Sonderwegs (XI, 20 f), 14 dann notiert er Gespräche über die Romantik und eine gewisse »Germanisierung des französischen Geistes« (XI, 78). 15 Stets verweist er auf Nietzsche als Autor des neuen Humanismus. In der Pariser Rechenschaft erläutert er dies in der Auseinandersetzung mit Baeumlers Bachofen-Einleitung 16 und deren Antithese von Nietzsche und Bachofen, Psychologie und Mythos. Diese Auseinandersetzung ist ein Zentrum der Rechenschaft, die Mitte und Achse der Schrift. Mann fügte sie ein, um »der Sache mehr Substanz zu geben« 17. Anders als Castorp, Manns Protagonist im Zauberberg, verfügt er in der Rechenschaft schon von vornherein über eine Antwort, die ihm die scharfe Abgrenzung von Baeumler und dem anti-aufklärerischen Nationalismus ermöglicht: »Nicht an Bachofen und seine Grabessymbolik knüpft das wahrhaft Neue an, das jetzt werden will, sondern an das heroisch-bewundernswürdigste Ereignis und Schauspiel der deutschen Geistesgeschichte, an die Selbstüberwindung der Romantik in Nietzsche und durch ihn; und nichts ist gewisser, als dass in der Humanität von morgen, die nicht nur ein Jenseits der Demokratie, sondern auch ein Jenseits des Faschismus wird sein müssen, Elemen-

Dazu vgl. Thomas Mann, Die geistigen Tendenzen des heutigen Deutschlands (XIII, 581–593) 15 In den nächsten Jahren überprüft Mann seine Diagnose wechselseitiger Annäherung noch in einigen ausführlichen Vorwörtern und Rezensionen: Vorwort zu Ludwig Lewisohns Roman ›Der Fall Herbert Crump‹ (X, 700–703); Vorwort zu Edmond Jaloux’ Roman ›Die Tiefen des Meeres‹ (X, 704–711); Jungfranzösische Anthologie (X, 746–749) 16 Alfred Baeumler, Einleitung zu J. J. Bachofen, Der Mythus von Orient und Occident, München 1926 17 Mann am 2. April 1925 an Philipp Wittkopp, in: Marianne Baeumler / Hubert Brunträger / Helmut Kurzke (Hg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989, 151 14

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

te eines Neu-Idealismus eingehen werden, stark genug, um dem Ingrediens romantischer Nationalität die Waage zu halten.« (XI, 51)

Weil Mann diesen Grundgedanken der Schrift auch als Abgrenzung vom Osten entwickelt, sind seine wiederholten Begegnungen mit russischen Exilschriftstellern wichtig. Mann akzeptiert zwar deren Erzählungen vom »proletarischen Blutkonto«, 18 stellt ihnen aber das bürgerliche entgegen. Mann begrenzt Europa geschichtlich und sucht die Antwort auf die gegenwärtigen Auseinandersetzungen von Ost und West in der anfänglichen Auseinandersetzung mit dem Orient. Ein russisches Buch über Nietzsche und Dostojewski 19 überbietet er dabei durch seine Ägypten-Pläne. Die Pariser Rechenschaft bleibt zwar noch schuldig, wie der Joseph-Roman Antwort geben soll; sie zeigt aber, dass Mann politische Systemfragen unterläuft und eine Ursprungsgeschichte Europas aufsucht. Ihre zentrale Aussage lautet, dass europäische Verständigung gegenwärtig nur in der Auseinandersetzung mit den Anfängen im Orient möglich sei. In diesem Rückgang auf die anfängliche europäische Weichenstellung ist die Schrift subversiv. Sie vertritt einen Ansatz konservativer Revolution, des Rückgangs hinter aktuelle Krisenlagen auf historische Wurzeln, den Mann in seinen weiteren zeithermeneutischen Romanen festhält. Seine konservativ-revolutionäre Grundauffassung ist es, eine gegenwärtige Krisenlage im Rückgang auf ihre anfängliche Weichenstellung und Fehlleitung zu lösen. Dieser Gedanke wird in der JosephTetralogie weiter durchdacht und bestimmt noch den Doktor Faustus.

5.

Das »Menschheitslied« der Joseph-Tetralogie

Die gewaltige Joseph-Tetralogie soll hier nicht erneut als »Roman der Antwort« 20 ausgedeutet werden. Wichtig ist aber, dass Manns Rückgang in den »Brunnen der Vergangenheit« eine utopische Humanitätsvision entwickelt. Wie dies genau erfolgte, zeigt jetzt der Kommentar zur Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, den Jan Assmann und Dieter Borchmeyer in der Zusammenarbeit mit Stephan Stachorski und Peter Huber entwickelten. Die starke »theologische« Auffassung wurde dabei insbesondere durch die bedeutenden 18 19 20

Dazu plastisch Peter Sloterdijk, Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Berlin 2014 Leo Schestow, Dostojewski und Nietzsche. Philosophie der Tragödie, Köln 1924 Verf., Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001, 126 ff

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Das »Menschheitslied« der Joseph-Tetralogie

Arbeiten von Jan Assmann zur »Sinngeschichte« Ägyptens, »mosaischen Unterscheidung«, Ethogenese Israels und »Politischen Theologie« des Monotheismus vorbereitet. 21 2006 publizierte Assmann ein Buch über Thomas Mann und Ägypten, das Mann als einen der »bedeutendsten Religions- und Mythostheoretiker seiner Zeit« profiliert. 22 Es findet bei Mann eine humane Vermittlung von »Mythos und Monotheismus«, »jenes Dritte neben wahr und falsch, das Thomas Mann mit dem Begriff der Verschonung verbindet«: 23 die heute vertretbare Antwort auf die abgelebten Alternativen von altägyptischem Kosmostheismus und der harten »mosaischen« und monotheistischen Unterscheidung zwischen »wahren« und »falschen« Religionen, die oft nur als Politische Theologie der Gewalt realisiert wurde. Erst mit dem genauen Nachweis der Quellen ist nun aber Manns dichterische Eigenleistung klar benennbar. Die Herausgeber des kritischen Kommentars setzten sich das ehrgeizige Ziel, Manns »Hauptwerk« und »Opus magnum«, wie sie es nennen, endlich als solches in Deutschland durchzusetzen. Dafür arbeiteten sie den »Sonderfall« der Wirkungsgeschichte eingehend auf: Zwar konnten die ersten beiden Bände der Tetralogie 1933/34 noch in Deutschland erscheinen; sie wurden aber bereits nationalsozialistisch verrissen und verfemt. Der dritte Band konnte 1936 kaum noch risikolos ausgeliefert werden und ein nationalsozialistisches »Schlusswort« von Ernst Krieck markierte 1937 dann eine »nationale Exkommunikation« (GKFA 7.2., 353), die auch nach 1945 noch, nach den Auseinandersetzungen um Manns »Rückkehr« nach Deutschland, bis in die 1950er Jahre anhielt. Der Josephroman fand in Deutschland deshalb nur eine sehr »verspätete Rezeption« (GKFA 7.2., 217) und ist bis heute nicht als »Hauptwerk« präsent: Aus der Fülle der Publikationen hier besonders: Jan Assmann, Ägypten. Eine Sinngeschichte, München 1996; Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1998; Herrschaft und Heil. Politische Theologie in Altägypten, Israel und Europa, München 2000; Die Zauberflöte. Oper und Mysterium, München 2005; Religio duplex. Ägyptische Mysterien und europäische Aufklärung, Berlin 2010; Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München 2015; Totale Religion. Ursprünge und Formen puritanischer Verschärfung, Wien 2016; dazu meine Besprechungen in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 53 (2001), 375–379; Philosophischer Literaturanzeiger 63 (2010), 316–318; Philosophischer Literaturanzeiger 68 (2015), 105–107; Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 69 (2017), 290–294 22 Jan Assmann, Thomas Mann und Ägypten. Mythos und Monotheismus in den Josephsromanen, München 2006, 10 23 Assmann, Thomas Mann und Ägypten, 216 21

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

»Und so ereignet sich der paradoxe Fall, dass das Hauptwerk des in aller Welt als bedeutendsten deutschen Romanciers der Gegenwart angesehenen Autors für die deutsche Öffentlichkeit nicht existiert oder existieren darf«. (GKFA 7.2., 353)

Der Kommentar konstatiert das hier zwar nur für die nationalsozialistische Zeit, markiert aber auch den langen Schatten der NS-Diffamierung in Deutschland. Auf über 200 Seiten geht er die vielsprachigen zeitgenössischen Rezensionen eingehend durch und arbeitet die schreiende Diskrepanz zwischen der nationalsozialistischen Verfemung und internationalen »Success Story« differenziert heraus. Es gab zwar auch christlich-theologischen Einspruch; gerade bei den jüdischen Rezensenten und in den USA überwog aber enthusiastische Zustimmung. Die Entstehungsgeschichte betont die »langen Wurzeln« des Hauptwerks seit der Schulzeit und erste Anregungen und Quellenstudien seit 1922: Mit Wilhelm Spiegelberg (GKFA 7.2., 30 ff) fand Mann dabei 1930 einen wichtigen ägyptologischen »Mentor«. Der genaue Fortgang der Niederschrift ist dann durch die seit 1933 erhaltenen Tagebücher detailliert nachweisbar und zeigt mancherlei Unterbrechungen, Einschaltungen und auch »Schreibkrisen« über die Jahre. In diesen Tagebüchern erscheint der Entstehungsweg »überwiegend als Leidensweg« (GKFA 7.2., 54). Der Kommentar entwickelt eine starke Deutung des »Menschheitsliedes«: Mann zielte auf die »Rettung des Mythos« (GKFA 7.2., 58) durch Psychologisierung und Humanisierung. Er grenzte sich dabei von diversen neo-nationalistischen Autoren ab, schrieb aber auch »in deutlicher Opposition zu Sigmund Freud« (GKFA 7.2., 73): »Manns Joseph ist ein wahrer Anti-Ödipus« (GKFA 7.2., 155), der die »Vaterbindung« positiv als Überlieferung und Individualisierung lebte. Die Herausgeber betrachten die Tetralogie als »religiösen« Roman: In klarer Analyse von Manns Umgang mit den Quellen arbeiten sie heraus, dass das Religionsgespräch zwischen Joseph und Echnaton der originäre und kreative »Zielpunkt« (GKFA 7.2., 82, vgl. 52, 194 ff) des ganzen Werkes und Projektes war; sie zeigen detailliert, wie souverän Mann den positivistischen Stand der Forschung (Erman, Breasted) verarbeitete und in ingeniöser Umdeutung von zeitgenössischer – teils hochspekulativer – Deutungsliteratur (u. a. Bachofen, Baeumler, Mereschkowski, Scheler, Goldberg, Freud) eine eigene Fortschreibung der »mystischen und romantischen Idee des werdenden Gottes« (GKFA 7.2., 171) entwickelte.

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Das »Menschheitslied« der Joseph-Tetralogie

Der Kommentar analysiert auch den Umgang mit der biblischen Vorlage und anderen antiken Quellen und deutet die strittige These an, dass Mann seine homoerotische Askese und Keuschheit (GKFA 7.2., 14 f) in eine eigenständige theologische Konzeption übersetzt habe (GKFA 7.2., 128 ff). Solche psychologische Aspekte sind zwar fragwürdig, schwächen aber den theologischen Geltungsanspruch nicht, der das humane Selbstverständnis artikuliert. Manns »Rettung des Mythos« (GKFA 7.2., 58) durch produktive Fortbildung im Religionsgespräch zielte auf die Weiterentwicklung des jüdisch-christlichen Monotheismus. Das neue »Menschheitslied« führte theologisch über die gewesene Religionsgeschichte hinaus. Der Kommentar entwickelt hier die These, dass Manns »Menschheitslied« eine neue und religiöse Mystik begründete, buchstabiert sie aber nicht aus, sondern konstatiert politisch-theologisch nur den »Gegensatz von geistlicher und weltlicher Erwählung« (GKFA 7.2., 86, vgl. 391): Joseph ist »kein Heilsträger«. Wenn der Kommentar von einer jüngsten und »interpretativen« Phase in der Geschichte der Ägyptologie spricht (GKFA 7.2., 179 f), wird man Jan Assmanns Autorschaft herauslesen. Dessen bedeutende Arbeiten zur Lage des Monotheismus und der »mosaischen Unterscheidung« ließen sich zur Verdeutlichung berücksichtigen, aber auch Borchmeyers Geschichte des neuhumanistischen Erbes der Goethezeit bis auf die Gegenwart. 24 Jede kurzschlüssige Mann-Nachfolge ist im Kommentar gemieden. Die Herausgeber trennen zwischen den Quellen und der konzeptionellen Eigenleistung von Manns Dichtung und profilieren so Manns »Arbeit am Mythos«: Systematisch entscheidend ist die religionsphilosophische, universalistische und utopische Umdeutung des europäischen Mythos zur konstruktiven Humanitätsvision und zum »Menschheitslied«. Nirgendwo sonst hat Mann die »konservative Revolution« der Erneuerung aus dem Anfang philosophisch so durchdacht und durchgestaltet.

Dieter Borchmeyer, Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt 2002; Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

6.

Der Erlösungsgedanke des Doktor Faustus

Säkularisierte Apokalypsen blühten in Deutschland nach 1900. 25 Sozialgeschichtlich und politisch betrachtet antworteten sie auf den Epochenumbruch zur Industriegesellschaft. Theologiegeschichtlich hingen sie mit der Abkehr von der »liberalen« Theologie des 19. Jahrhunderts, der Betonung eschatologischer Motive im Christentum und erneuten Unterscheidung von Religion und Moral zusammen. 26 Hans Urs von Balthasar publizierte unter dem Titel Apokalypse der deutschen Seele eine deutsche Geistesgeschichte im expressionistischen Ton. Der erste Band erschien 1937 und wurde 1947, in zeitlicher Nähe zum Doktor Faustus, unter dem Titel Prometheus neu aufgelegt. Balthasar rechtfertigte dies in einer Vorbemerkung damit, dass »die Zeitlage eine Veränderung des Titels nahe legte«. 27 Prometheus hieß damals ein »Schicksalsmythos« (Hans-Georg Gadamer) 28 des Abendlandes, nachdem »das Faustische« als Selbstauslegung des nationalen Mythos politisch diskreditiert schien und, mit Käte Hamburger 29 zu sprechen, »anachronistisch« geworden war. Gerade das reizte Mann aber: der Höllenritt parodistisch-kritischer Erneuerung des Faust-Mythos als nationale Selbstauslegung. Der Faust-Mythos schien ihm nicht diskreditiert, sondern, im Gegenteil, durch den Nationalsozialismus bestätigt, weil er die Nation für die Verbrechen Hitlers und des Nationalsozialismus verantwortlich machte. Seine Formulierungen sind bekannt:

Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988 Dazu Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert, 2. Aufl., Zollikon 1947; Hans G. Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997; Volkhard Krech, Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933, Tübingen 2002 27 Hans Urs von Balthasar, Prometheus. Studien zur Geschichte des deutschen Idealismus, Heidelberg 1947, V 28 Hans-Georg Gadamer, Vom geistigen Lauf des Menschen. Studien zu unvollendeten Dichtungen Goethes, Godesberg 1949; vgl. Günter Peters, Prometheus und die ›Tragödie der Kultur‹. Goethe – Simmel – Cassirer, in: Barabara Naumann / Birgit Recki (Hg.), Cassirer und Goethe. Neue Aspekte einer philosophisch-literarischen Wahlverwandtschaft, Berlin 2002, 113–136 29 Dazu vgl. Käte Hamburger, Anachronistische Symbolik. Fragen an Thomas Manns Faustus-Roman, in: Helmut Koopmann (Hg.), Thomas Mann, Darmstadt 1975, 384– 413 25 26

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Der Erlösungsgedanke des Doktor Faustus

»Eines mag diese Geschichte uns zu Gemüte führen: dass es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang.« (XI, 1146).

»Apokalypse« meint eine Enthüllung oder Offenbarung. Theologisch meint es eine literarische Abschiedsrede über das Weltende. Ihr exemplarisches Buch ist die Offenbarung des Johannes im Neuen Testament. Ist der Doktor Faustus eine solche Abschiedsrede? Historisch-politisch profan genommen erzählt er vom Anfang und Ende der deutschen »Welteinsamkeit«. Solche Sonderwegskonzepte waren nach 1945 verbreitet, Historiker erklärten die »deutsche Frage« mit ihrer Europäisierung und »Verwestlichung« dann für gelöst. 30 Der Roman erzählt aber nicht nur profan vom Ende des deutschen Sonderwegs, sondern sucht auch den mit dem Faust-Mythos gegebenen religiösen Sinn neu zu erfüllen. Von der Lösung dieser Aufgabe hängt die ästhetische Wertung ab: Wer die »Symbolik« missglückt findet, kritisiert die Gesamtanlage des Romans. Deshalb war Mann über Hamburgers Kritik enttäuscht und erbost. 31 Rezeptionsästhetisch ist das apokalyptische Pathos des Romans zwar durch die dramatische Wirkung gerechtfertigt: Mann lässt den Leser an der Erfahrung der Katastrophe teilnehmen, und emotional erleben wir den Untergang des Helden als Untergang einer Welt. 32 Doch diese ästhetizistische Rechtfertigung des apokalyptischen Tons bedarf ihrerseits einer moralisch-praktischen Rechtfertigung. Weshalb sollte der Leser sich identifizieren? Mann entwickelt einen Begriff vom Bösen, der den Untergang als solchen moralisch rechtfertigt, und setzt einen Begriff von der »Rettung« der deutschen »Seele« dagegen. Das unterscheidet seinen Roman von professioneller Geschichtsschreibung und rechtfertigt die religiöse Semantik. Mann akzeptierte Nietzsches Religionskritik weitgehend und entschied sich gegen die akademische Theologie und Philosophie für die Literatur als Form der Verständigung und »ästhetischen ErzieHeinrich A. Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 2000, Bd. II, 112; Ideologiegeschichte der Sonderwegsthese bei Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 1980 31 Dazu Manns Brief vom 2. Februar 1948 an Hamburger, in: Thomas Mann / Käte Hamburger, Briefwechsel 1932–1955, hrsg. H. Brunträger, Frankfurt 1999, 98 32 Dazu grundsätzlich Hans Blumenberg, Lebenszeit und Weltzeit, Frankfurt 1986 30

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

hung« des Publikums. Er knüpfte nicht ungebrochen an die literarische Tradition der Apokalyptik an, sondern erneuerte den FaustMythos in der Idee der »Rettung« einer »Seele« nur, soweit es ihm philosophisch möglich schien. Er verknüpfte seine Idee der »Rettung« dabei mit seinem Konzept konservativer Revolution: Mann zielte auf eine Revision der deutschen Nationalgeschichte in normativ-praktischer Absicht; er wollte die Nation an ihre »guten« geschichtlichen Möglichkeiten erinnern, indem er ihren ideologischen Irrweg kritisierte. Der Doktor Faustus überbietet die Korrelation von Nationalgeschichte und Geistesgeschichte, die schon der Zauberberg knüpfte, durch wenigstens zwei Innovationen: Erstens erzählt er die deutsche National- und Geistesgeschichte, speziell die Theologie- und die Musikgeschichte, weit ausführlicher und personell zurechenbarer als der Zauberberg; zweitens spiegelt er diese Geschichte im kompositorischen Schaffen Leverkühns. Mann charakterisiert Deutschland primär nicht durch seine »Dichter und Denker«, sondern als »Land der Musik«. Der Repräsentant der Nation ist deshalb ein Musiker. Mann nimmt eine »Geburt« der Nation aus dem »Geist« der Musik an; Musik ist die »Seele« des deutschen Dichtens und Denkens. Einen Aspekt dieses – vom Wagner-Kult geprägten – Mythos betont Mann besonders: die Affinität von Musik und Tod. Die musikalische »Seele« Deutschlands möchte sterben, zielt auf Untergang. Musik ist eine dionysische Macht: Der kleine Herr Friedemann ist durch sie gezeichnet, Hanno Buddenbrook verfällt ihr, Castorp kommt uns mit dem Lindenbaumlied auf den Lippen »aus den Augen« (III, 994). Mann bejaht diese Zerstörungskraft der Musik nicht; er zielt nicht auf das reine Pathos der Musik: die Klage, sondern auf einen neuen Ausgleich von Ton und Wort. Im Roman zeigt sich das in der Polarität von Leverkühn und Zeitblom einerseits und im Streben Leverkühns nach einer neuen Oratorik und Balance von Wort und Ton andererseits. Musikgeschichtlich stehen hier der romantische Streit um die »absolute« Musik und Richard Wagner Pate. Diese Fragen erneuerte Richard Strauss damals noch in seiner späten Oper Capriccio. Mann stellt der »absoluten« Musik, der reinen Instrumentalmusik, einen »absoluten Roman« entgegen, der die Kunst, mit Benjamin 33 gesprochen, Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I.1, 7–122

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Der Erlösungsgedanke des Doktor Faustus

als »Reflexionsmedium« betrachtet und eine »Selbstreflexion im Kunstwerk« 34 inszeniert, die auf die ironische »Zerstörung der Form« 35 und Selbstüberschreitung des Werkes in Richtung auf seine »Vollendung« 36 in der begrifflichen »Kritik« abzielt. Immer wieder bejaht Mann Nietzsches »Selbstüberwindung« der Romantik und wünscht einen Ausgleich von »Geist« und »Leben« nach dem Vorbild Goethes. Gegenüber dem zeitgenössischen »Irrationalismus« erneuerte er den »ästhetischen Humanismus« der Goethezeit: die »GoetheForm«, die die pessimistische Kritik Schopenhauers und Nietzsches vorweggenommen und beantwortet habe. Der Roman reflektiert diese Überwindung der destruktiven Macht der Musik in der Werkgeschichte Leverkühns und in Zeitbloms biographischer Erfassung des Freundes. Die kompositorische Entwicklung Leverkühns folgt Manns Konzept konservativer Revolution: Leverkühn ist ein konservativer Revolutionär; unstrittig ist er zwar musikalischer Avantgardist, andererseits erneuert er aber mit der Oratorik auch eine alte Form in ihrem religiösen Sinn; er erneuert das reformatorische Pathos auf der Spitze der Avantgarde und sucht die alte Ritualfunktion der Kunst zu restaurieren. Der Roman lässt keinen Zweifel daran, dass Leverkühn dies im engen Kontakt mit den zeitgenössischen Diskursivierungen der nationalen Problematik tut und sich intensiv um eine politische Artikulation der Krisis als »Klage« bemüht. Die Große Frankfurter Ausgabe dokumentiert hier die Quellen: so auch instruktive Briefe des Sohnes und Musikers Michael Mann. Thomas Mann komponierte Leverkühns Antwort aber bis ins Detail vor allem in der Kooperation mit Adorno aus. Anders als Adorno wollte er dabei eine positive Antwort auf die Krise der Zeit geben. Daran lässt er Leverkühn scheitern. Denn Leverkühn vollendet seine Klagekantate nicht, sondern agiert die Klage zuletzt nur im Untergang. Er gelangt nicht zu einer kritischen Distanzierung von Leben und Werk. Wie Castorp scheitert er an der Aufgabe einer dialektischen Lösung der »großen Konfusion« und vermag sich nicht im Medium des Begriffs von den zeitgenössischen Diskursen und Vorurteilen zu befreien. Mann sucht ein Grundproblem der deutschen Geschichte, die »Welteinsamkeit«, in der Auseinandersetzung um die Macht der 34 35 36

Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, 67 Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, 85 Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik, 78

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Apokalypse der deutschen »Seele«?

Musik zu reflektieren und zu lösen. Er optiert für eine »Kunst der Heiterkeit«, 37 die er mehr in der Dichtung als einer »alternativen Musik« 38 findet. Seine Antwort liegt im Rückgang auf die Reformationszeit als Weichenstellung und Anfang der deutschen Nationalgeschichte. Leverkühn reflektiert diese Entwicklung in der Musik, kann die Krise aber nicht so thematisieren, dass seine »Klage« befreiend wirkt. Deshalb optiert Mann gegen Leverkühn für den Humanisten und das dichterische Wort als Bildungsform. Nicht der Protestantismus, sondern der Protest entspricht nach Mann der deutschen Mentalität. Den Protestantismus versteht er politisch als »nationalistische Freiheitsbewegung« (XI, 1136). Der deutsche Protest, das deutsche Freiheitsstreben, artikuliert sich zwar im Protestantismus als »Reformation«: als Versuch einer Wiederentdeckung und Restituierung reiner Prinzipien. Doch noch gegen diese Prinzipien richtet sich der Protest. Die deutsche Nation ist nicht besonders gläubig. Sie hat kein festes Sein und keine klaren Werte, sondern gewinnt ihre geschichtliche Dynamik aus der reflexiven Infragestellung aller vorgefundenen Prinzipien und Formen der Freiheit. Der deutsche Radikalismus zerstört sich selbst im Bürgerkrieg konfligierender Überzeugungen. 39 Es ist der stete Prozess radikaler Kritik und Selbstkritik, der ihn kennzeichnet. Resultat ist die deutsche »Welteinsamkeit«. Manns Begriff der »Welteinsamkeit« hat zwar eine theologische Note, denn die Religion, namentlich der Protestantismus, trennt zwischen Gott und Welt und definiert die »Freiheit des Christenmenschen« durch die Freiheit von der Welt im Glauben an Gott. Mann wertet diese »Welteinsamkeit« aber um. Was religiös gewollt ist, wird ihm – mit Nietzsche – zu einem »Verrat« an der Erde. Er gibt der »Welt« gegenüber einseitigen Rationalisierungen recht, kritisiert den deutschen Radikalismus und spricht in Übereinstimmung mit

Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 841; vgl. auch eine subtile Adorno-Identifikation bei Dieter Borchmeyer, Warum stottert Wendell Kretzschmar?, in: Thomas Manns Doktor Faustus – Neue Ansichten, neue Einsichten, hrsg. Heinrich Detering / Friedhelm Marx / Thomas Sprecher, Frankfurt 2013, 153–157; zur literarischen Reflexion der Musik vgl. auch Thorsten Valk, Literarische Musikästhetik. Eine Diskursgeschichte von 1800 bis 1950, Frankfurt 2008 38 Borchmeyer, Was ist deutsch?, 838 39 Dies die These von Stefan Breuer, Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001 37

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Zum normativ-praktischen Sinn von Manns »apokalyptischem« Roman

der zeitgenössischen Kulturphilosophie (Simmel, Weber, Cassirer) von einer Art »Tragödie der Kultur«, beschränkte Rationalisierungen gegen die Vieldeutigkeit und Komplexität des »Lebens« auszuspielen. Mann lehnt den Radikalismus des deutschen »Geistes«, Nietzsches »aktiven Nihilismus«, als einen naiven »Idealismus« ab, der die pragmatische Wahrheit aller Ideologien, der Lebensführung als Orientierungssysteme zu dienen, nicht erkennt und anerkennt. Seine Kritik der deutschen »Welteinsamkeit« ist also politisch und philosophisch gemeint. Mann kritisiert die Mentalität des radikalen Protests als Hang zum Bösen. Diese Charakterisierung ist ihrerseits von nationalem Hochmut nicht frei: Denn Mann zeichnet den deutsche »Geist« durch seine rationale Konsequenz aus und bestätigt damit gängige Vorurteile über deutschen »Tiefsinn« und deutsche »Gründlichkeit«. Er kennzeichnet die Deutschen durch die besondere Fähigkeit, ihre Wege der Lebensführung konsequent zu rationalisieren. Dieser Rationalismus sei aber noch nicht zur Selbstkritik seiner praktischen Folgen und konsequentialistischen Einsicht gelangt, die Folgeverantwortung zum Ausgangspunkt der Ethik zu nehmen. Der gegenwärtig gebotene Ausgangspunkt einer solchen Selbstkritik ist die Erfahrung der »deutschen Katastrophe«; sie biete positiv die Chance einer Überwindung des deutschen Sonderwegs. Weil Mann diese Umkehr nach 1945 vermisste, war er über die Deutschen erneut entsetzt. Seine früheren Zweifel an der Möglichkeit einer Unterscheidung zwischen den Nationalsozialisten und dem deutschen Volk fand er vollauf bestätigt. Nach 1945 war ihm klar, dass dieses Volk an seiner Aufgabe moralisch-politischer Selbstkritik gescheitert war. Auch deshalb kehrte er nicht mehr nach Deutschland zurück.

7.

Zum normativ-praktischen Sinn von Manns »apokalyptischem« Roman

Was geschehen ist, ist geschehen. Der Rückgang auf eine anfängliche Weichenstellung betrifft nur den Vergleich der anfänglichen Möglichkeiten mit dem realisierten Pfad und eine eventuelle Pfadumstellung. Der Doktor Faustus erzählt nicht religiös und eschatologisch vom Ende der Nationalgeschichte als Untergang der Welt. Er behauptet auch nicht, dass Deutschland als völkerrechtliches oder politisches Subjekt erloschen oder untergegangen sei. Solche Übertreibungen 81 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Apokalypse der deutschen »Seele«?

kritisierte Mann einst an Oswald Spengler schon. 40 Der apokalyptische Ton hat jenseits ästhetischer Effekte vor allem einen appellativen moralisch-politischen Sinn: Mann ruft das deutsche Publikum zur Einkehr und Abkehr vom eigensinnigen deutschen Radikalismus auf und fordert eine Europäisierung und Internationalisierung von Staat und Nation. An die moralische Besinnung bindet er die politische Verantwortung und den Fortbestand Deutschlands als handlungsfähigen Staat, der eine nationale Zukunft und somit weiter Geschichte haben könnte. Diese moralisch-politische Einsicht und Umkehr hat nach Mann eine religiöse Voraussetzung: die Kontingenzerfahrung vom Tod als Übel. In seinem Fragment über das Religiöse bezeichnete Mann den »Gedanke[n] an den Tod« (XI, 423) als »das Religiöse«. Diese »religiöse« Sorge um die Endlichkeit und Sterblichkeit fundiert schon die Ethik des Zauberberg, wie sie dort im »Ergebnissatz« (XI, 423) ausgesprochen ist: »Der Mensch soll um der Güte und Liebe willen dem Tode keine Herrschaft einräumen über seine Gedanken.« (III, 685 f) Mann folgend bedarf die moralische Besinnung einer solchen religiösen Erfahrung des Lebens als Wert. Diese Erfahrung leitet den Friedensgedanken seines Romanwerks. Mann entwickelt ein normatives Konzept vom Bösen, als protestantische Besonderung und »Welteinsamkeit«, und situiert es in der Nationalgeschichte. Er vertritt nicht nur eine starke Sonderwegsthese, sondern reflektiert auch auf deren moralisch-politischen Sinn. Das unterscheidet sein Geschichtsbild von der akademischen Geschichtsschreibung, die eine neutrale Beobachterperspektive anstrebte und sich von normativen Wertungen frei zu machen suchte. Die deutsche Geschichtsschreibung etablierte sich Anfang des 19. Jahrhunderts in der Abgrenzung von der Philosophie. Manns Roman lässt sich als Antwort auf diese Ausdifferenzierung lesen. Seine Dichtung übernahm das Pensum normativ-praktischer Geschichtsdeutung und kompensierte die Abkehr der professionellen Geschichtsschreibung von normativen Fragen. Gleiches gilt für Manns moralisch-politische Fragen nach einem möglichen gelingenden Leben in Deutschland: Sie wurden damals von der akademischen Philosophie als unbeantwortbar zurückgewiesen; deshalb übernahm die Literatur das Pensum der

Dazu vgl. Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin 2002

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Zum normativ-praktischen Sinn von Manns »apokalyptischem« Roman

großen Sinnfragen 41 und intendierte als »absoluter Roman« gar eine Diskursivierung und reflexive Selbstbegründung der Voraussetzungen des Romangeschehens. Manns Überlegungen stecken voller Voraussetzungen, die sich nur schwer nachvollziehen und teilen lassen. Wer ist heute noch ernsthaft der Überzeugung, dass die Überwindung der deutschen Problematik von der Entwicklung der Musik und harmonischen Stimmung der deutschen »Seele« abhängt? Man müsste schon antike Überzeugungen von der elementaren Bedeutung musikalischer Erziehung teilen, wie sie Mann durch den Weimarer Neuhumanismus und Nietzsche allerdings vermittelt wurden. Vollends merkwürdig mag die Wiederaufnahme des romantischen Streites um das Verhältnis von Wort und Ton erscheinen: Ist es wirklich eine historisch-politisch relevante Antwort, der Bildungsmacht der Musik die humane Bedeutung des lösenden Wortes entgegenzuhalten? Was hier nur zu entschlüsseln war, ist die konstruktive Anlage des Romans. Mann bestand emphatisch auf der Kategorie des Werkes. Ein Werk war ihm ein Gefüge voller sinnvoller Bezüge und »Beziehungszauber«. Als »absoluter Roman« ist es selbstbegründend und -interpretativ. Der Doktor Faustus entwickelt die Kategorien, mit denen er immanent kritisiert werden will. Man mag zwar bezweifeln, ob es ihm gelang, die »deutsche Katastrophe« dramatisch zur Sprache zu bringen und den Faust-Mythos als narratives Deutungsmuster der Nationalgeschichte in normativ-praktischer Absicht zu aktualisieren. Man kann also bezweifeln, ob der Faustus als »Zeitroman« gelungen ist. Dann muss man aber auch die Konsequenzen für die literarische Wertung ziehen und sagen, dass Mann an seinem Anspruch scheiterte. Dann kann man im Detail noch vieles preisen: die kunstgerechte Hinrichtung Echos etwa. Sie wäre nach Mann aber nur durch die Gesamtaussage des Romans gerechtfertigt. Eine moralisch gänzlich unverantwortliche Artistik lehnte er ab. Schon künstlerisch erschien es ihm falsch, die Aufgabe literarischer Gestaltung moralisch-politischer Aussagen zurückzuweisen. Denn Künstler sollten sich höchstmögliche Aufgaben stellen.

Dazu vgl. Ursula Wolf, Kunst, Philosophie und die Frage nach dem guten Leben, in: Franz Koppe (Hg.), Perspektiven der Kunstphilosophie, Frankfurt 1991, 109–132

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Teil II: Philosophische Deutungen

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III. Polemik mit System. Manns Betrachtungen eines Unpolitischen

Manns frühes nationalistisches Engagement für die deutsche Kriegsführung im Weltkrieg ist im Tenor und in vielen – auch rassistischen – Untertönen peinlich und fatal. Seine Gedanken im Kriege sind keine gute Feldpost! Will man sie »ästhetizistisch« rechtfertigen, so war es die Friedrich-Parallele, die Gelegenheit, alte Friedrich-Pläne endlich zu realisieren, die Mann die Feder ins Kraut schießen ließ. Der Weltöffentlichkeit erklärte er 1915 in einer Stockholmer Tageszeitung: »Wer die Geschichte Friedrichs des Großen kennt und liebt, ist erschüttert und fast entzückt über die erstaunliche Ähnlichkeit der inneren Sachlage vom Hochsommer 1914 mit der vom Hochsommer 1756.« (XIII, 547)

Es ist nicht auszuschließen, dass dieses Entzücken über den eigenen Einfall die nationalistische Empörung überwog. In den letzten Kriegswochen zerfällt die Idee aber: »Las in Carlyles Friedrich über die Zeit von Kunersdorf, mit Gedanken an die heutige Lage und mit Zweifeln, ob man das eine auf das andere anwenden dürfe.« (TB 29. 11. 1918) »Es hat wenig Sinn, sich auf Friedrich im 4. Jahre [zu] berufen. Der Krieg ist heute etwas anderes.« (TB 16. 10. 1918)

1914 verführte ihn die Parallele zur Publikation. 1 Ohne diese These von Friedrich und die große Koalition hätte sich Mann vielleicht niemals im Weltkrieg publizistisch engagiert, was psychologisch aber nicht entscheidbar ist. Zweifellos empörte er sich in den ersten Kriegsjahren unmäßig. Seine Gedanken zum Kriege beschloss er mit der apodiktischen Behauptung: »Das Recht ist bei Deutschland.« (XIII, 558) Er vertrat allerdings stets ein lebensphilosophisches Gerechtigkeitskonzept, das Recht transpersonal als kollektives Geschehen und Pathos fasste. Deshalb betrachtete Mann seine polemische Historische Kritik bei Johannes Kunisch, Thomas Manns Friedrich-Essay von 1915, in: Historische Zeitschrift 283 (2006), 79–101

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Polemik mit System

Aktion im »Bedürfnis nach Gleichgewicht« (XII, 11) auch als konservative Replik. Er sprach von der »Zukunft«, vom kommenden »Dritten Reich« der »Synthese von Macht und Geist« (XIII, 551) und Weltfrieden als kollektiver »Erneuerung der Welt und Seele« (XIII, 561; vgl. XII, 331, 487) und verstand seine Gedanken als »metaphysische« und »moralistische« Intervention. Mann war dabei niemals der Überzeugung, dass Gerechtigkeitsfragen begrifflich eindeutig zu klären sind und die individuelle Vernunft das »Leben« adäquat erfasst. Er glaubte vielmehr mit Nietzsche, dass individuelle Standpunkte und perspektivische »Wahrheiten« in einem transpersonalen Diskurs zu relativieren sind und das »Leben« sich letztlich nicht vollkommen versteht. 2 Deshalb betrachtete er seine Sichtweise auch ganz grundsätzlich als polemische Antwort, »Gedanken im Kriege« und Explikation eines Pathos. An die Redaktion der Frankfurter Zeitung schrieb er 1917: »Zu sagen, warum man den Sieg Deutschlands wünscht und glaubt, ist mit zwei Worten, und auch mit tausend, nicht möglich. Es handelt sich da um letzte Gebundenheiten des Fühlens und Denkens, die der Explikation widerstreben.« (XIII, 558)

Mann beließ es nicht bei tausend Worten. Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind weit umfänglicher und der systematische Gehalt und Geltungsanspruch dieser Pathos- oder Erlebnisaussprache ist höchst umstritten. Jede starke Deutung von Manns Gesamtwerk steht vor der Herausforderung, das ungetüme Kolossalwerk irgendwie zu erklären oder zu entschuldigen. Wer dieses wilde und wirre Buch geschrieben hat, lautet der Verdacht, kann schwerlich ein klarer Denker und also kein Philosoph sein. Dagegen soll hier erneut gezeigt werden, 3 dass die Betrachtungen trotz mancher Ausschweifungen klar konzipiert sind und einige grundlegende Einsichten entwickeln.

1.

Das Genre der Betrachtungen eines Unpolitischen

Es bedarf kaum der Erwähnung, dass die Betrachtungen auf die literarische Form des Essays und näherhin Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen antworten. Nietzsche publizierte vier »unzeitgemäße So auch Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik, Tübingen 1960 3 Dazu Verf., Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001, 162 ff 2

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Das Genre der Betrachtungen eines Unpolitischen

Betrachtungen«. Die erste kritisierte den Typus des »Bildungsphilisters« am Bespiel von David Friedrich Strauss und die zweite den zeitgenössischen Historismus, wogegen die dritte und die vierte sich positiv auf Schopenhauer und Wagner als Erzieher bezogen. Schopenhauer und Wagner nennt Mann neben Nietzsche in den Betrachtungen dann seine prägenden Bildungserlebnisse und das »Dreigestirn« (XII, 72) seiner Jugend. Man könnte also eine Brücke vom »Bildungsphilister« zum »Zivilisationsliteraten« schlagen: Nietzsche kritisierte gerade das Spätwerk von Strauss, das Bekenntnis zum »neuen Glauben«; 4 Manns »Zivilisationsliterat« vertrat ebenfalls einen neuen Dogmatismus. Nietzsche hatte mit seinen Schriften bei Lebzeiten keinen publizistischen Erfolg. Er adressierte sie aber nach dem Misserfolg seiner Tragödien-Schrift und Bruch mit dem professionellen Universitätsdiskurs an ein weiteres Publikum, beschränkte sich als »Antichrist« nicht auf das deutsche oder deutschsprachige Publikum, sondern zielte mit dem »antichristlichen Evangelium« (Karl Löwith) seines Zarathustra über Deutschland hinaus auf die ganze – erst mit dem religiösen Universalismus erschlossene – »Menschheit« (KSA VI, 256, 259). Mann dagegen richtete sich gerade mit seinen Betrachtungen primär an ein nationales und genuin »deutsches« Publikum. Sein mit Zitaten überfrachtetes Buch könnte auf den ersten Blick als formloses Machwerk eines »Bildungsphilisters« erscheinen. Mann selbst würde den Unterschied wahrscheinlich in die Ironie und ausgebreiteten Selbstzweifel setzen. Das Werk versteht sich buchstäblich nicht als Doktrin, sondern als »Analyse des Neuen Pathos« (XII, 28) und Explikation des eigenen »persönlichen Ethos« (XII, 26, 527 u. ö.). Wichtig ist hier zunächst, dass dieses ungetüme Werk die Durchsetzung eines Typus von Popularphilosophie und Weltanschauungsliteratur zur Voraussetzung hatte, wie er erst nach Nietzsche und unter den publizistischen Rahmenbedingungen des Wilhelminismus möglich war. 5 Erst seit dieser Zeit gab es für solche umfängliche, anspruchsvolle und auch prätentiöse Schriften ein Publikum. Mann schrieb nicht als Akademiker für den Universitätsbetrieb, sondern für eine »gebildete« nationale Öffentlichkeit. Er rezipierte für die Betrachtungen eines Unpolitischen gerade solche David Friedrich Strauss, Der alte und der neue Glaube. Ein Bekenntnis, Leipzig 1872 Zum literarischen Genre der »Phänomenologie des Deutschen« vgl. Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 157 ff

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Polemik mit System

kulturkritische Schriften und interessierte sich weiter für zeitdiagnostische Popularphilosophen wie Rathenau, Keyserling oder Spengler. Obgleich er mit vielen bedeutenden Wissenschaftlern in Berührung kam und auch anspruchsvolle akademische Schriften las, äußerte er sich publizistisch gerne im Genre des kulturphilosophischen und kulturkritischen Essays. Die Kulturphilosophie kennzeichnet über die bloße Kritik hinaus die philosophische Zentrierung auf letzte normative Grundlegungsfragen. Mann gebrauchte immer wieder metaphysische und ethische Letztbegriffe – wie »Geist«, »Seele« oder »Leben« – und verstand sich als »Humanist«, der ein »Traumgedicht vom Leben« entwickelt. Philosophiegeschichtlich ist er in erster Annäherung als Nietzscheaner zu bezeichnen: als Vertreter einer »Lebensphilosophie«, die den Erlebnisbegriff ins Zentrum stellt. Die Betrachtungen bezeichnen die eigene Grundstellung explizit als »Ästhetizismus«. Man könnte von einer ethischen Wendung zur Selbstbetrachtung und zum Genre der philosophischen Autobiographie sprechen. Die Schrift ist zwischen Kulturkritik und Selbstanalyse situiert und von Nietzsches Muster durch eine ethisch-autobiographische Wendung unterschieden. Sie geht hinter Nietzsche gleichsam auf Rousseau und Augustinus als den Begründern der autobiographischen Beichte zurück und hat einen starken Zug zur Selbstanalyse und Konfession. Das Credo des autobiographischen Geständnisses scheint die diskursethische Voraussetzung des Geltungsanspruchs auf Authentizität und Wahrhaftigkeit zu erfüllen, die im philosophischen Diskurs häufig erwartet wird. Geltungsansprüche auf Wahrheit setzen demnach konsistente Positionsnahmen voraus. Weite Teile des philosophischen Klassikerkanons erfüllen dieses Kriterium allerdings teils schon formal nicht, wenn sie etwa anonym oder pseudonym verfasst sind. Jürgen Habermas relativierte die diskursethischen Erwartungen durch den Hinweis auf ideale »herrschaftsfreie« Kommunikationsverhältnisse. Akademische Kommunikation erfolgt aber grundsätzlich in einer – mit Nietzsche zu sprechen: »agonalen« – strategischen Arena. Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind überaus ironisch und vorbehaltlich geschrieben und legen keine starken Überzeugungen und Autorkonfessionen eindeutig offen. Die Stimme des Verfassers verflüchtigt sich vielmehr im ironischen Spiel, Bruderzwist und Spiegelgefecht mit dem »Zivilisationsliteraten«. Der Text ist mit seinen diversen »Eideshelfern« derart polyphon und kakophonisch über90 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Aufbauanalyse: der Gedankengang der Schrift

laden, dass die Konfession Züge eines geradezu paranoischen Selbstgesprächs trägt. Es spricht kein souveränes Individuum, auch kein auktorialer Erzähler, sondern eine Stimme auf der Suche nach dem Autor und Werk. Für diese – vielleicht romantisch zu nennende – Suchbewegung spricht Mann auch von einer »erotischen Ironie des Geistes« (XII, 569). Dieser »Geist« ist das transpersonale Elixier des Gedankens, den Mann, gerade in Der Erwählte, gelegentlich als »Geist der Erzählung« bezeichnet. Es ließe sich deshalb auch leicht paradox von Konfessionen eines ekstatischen Ich sprechen, das sich im platonischen Medium des vom Eros der Beziehungen getragenen Gesprächs sucht. Die Dogmatik ist also ironisch zurückgenommen.

2.

Aufbauanalyse: der Gedankengang der Schrift

Durch die Frankfurter kommentierte Ausgabe sind die »Eideshelfer« und Quellen weitgehend erschlossen. Natürlich ist es interessant, was Mann alles aus der zeitgenössischen Literatur aufgenommen oder abgeschrieben hat. Mann selbst ist aber der erste »Eideshelfer« für kritische Bemerkungen zur ausufernden Länge und Unförmigkeit des »Künstlerwerkes« (XII, 10 f). Es wäre darüber nachzudenken, woher sie kommt. Stets hatte Mann einen hohen Werkbegriff. Aber sind die Betrachtungen ein einigermaßen rundes und abgeschlossenes Werk? Offenbar sind sie polemisch gebaut. Nach der langen, die Längen des Werkes präludierenden Vorrede wird der »Protest« des »unliterarischen Landes« eingangs gegen den »Zivilisationsliteraten« gestellt. Mann polemisiert gegen dessen Demokratisierungsparole. 6 In Von der idealtypischen Argumentation ist die historische Frage nach Manns Quellen zu unterscheiden. Die idealtypische Methode suspendierte Mann von historischpolitisch strikter Argumentation. Zur zeitgenössischen Durchsetzung des demokratischen »Arguments« am Ende des Ersten Weltkriegs vgl. Marcus Llanque, Demokratisches Denken im Krieg. Die deutsche Debatte im Ersten Weltkrieg, Berlin 2000; zur weiteren Debatte vgl. Christoph Gusy (Hg.), Demokratisches Denken in der Weimarer Republik, Baden-Baden 2000; Kathrin Groh, Demokratische Staatsrechtler in der Weimarer Republik, Tübingen 2010; Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018; aus der Literatur zum »antidemokratischen Denken« vgl. Fritz Stern, Kulturpessimismus als politische Gefahr. Eine Analyse nationaler Ideologie in Deutschland, Bern 1963; Hermann Lübbe, Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel 1963; Kurt Flasch, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000; Ulrich Sieg, Geist und Gewalt. Deutsche Philosophie

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Polemik mit System

erster Instanz attackiert er so die vorherrschende politische Semantik: eine Deutungshegemonie oder Herrschaft der political correctness, in heutiger Phrase zu sprechen. Der Zivilisationsliterat ist ein Idealtypus (vgl. XII, 56). Mann zielt gegen seinen Bruder, die Francophilie, den französischen Nationaltypus und nicht zuletzt gegen eigene Neigungen. Über den Bruderkonflikt und die nationale Stereotypisierung hinaus wird das Schattenboxen gegen den Zivilisationsliteraten damit zu einer allgemeinen Modernitätskritik. Wenn Mann die vorherrschende Semantik kritisiert, ist weniger von der Staatsform der Demokratie als von der Demokratisierung und Politisierung der öffentlichen Meinung die Rede. Die »ästhetizistische Politik« oder polemische Explikation des »Ästhetizismus« schließt am Ende mit der Konfrontation von »Ironie und Radikalismus«. In sechs Kapiteln zeigt sich die polemische Exposition des Werkes also am Anfang und Ende des Werkes sehr deutlich. Der Gegensatz, den Mann aus der Haltung der Defensive, des »Protestes« und der »aussichtslosen Verteidigung« (XII, 67) entwickelt, ist die gegensätzliche Auslegung der »brüderlichen Möglichkeiten« (XII, 25) des »Ästhetizismus« in die Pole Ironie und Radikalismus. Dabei reklamiert Mann die Rolle der Ironie für sich und grenzt sich vom politisierenden Radikalismus und »ästhetizistischen Renaissance-Nietzscheanismus« (vgl. XII, 539 ff, 346 f) des Zivilisationsliteraten ab, dem er auf Bruder Heinrich gemünzt einen Verrat (vgl. XII, 203) am Künstlertum, an der Ironie und am ironischen Nietzscheanismus vorwirft. Diesen Radikalismus bringt er auf den zeitgenössischen Stilbegriff des »Expressionismus« (vgl. XII, 564 ff). Bruder Heinrich gilt als Stammvater des »Expressionismus«, den Thomas als Missverständnis und Fehlentwicklung betrachtet. Der philosophische Auslegungsstreit kreist also um das Erbe Nietzsches, das beide Brüder konträr für sich behaupten. Die Auslegungspole der Ironie und des Radikalismus zielen auf das Verhältnis zur Form, Kunst und Politik: Der Ironiker trennt zwischen Kunst und Leben und wahrt die Form, während der expressionistische Radikalist die destruktiven Energien der Politik in Formlosigkeiten übersetzt. Für das genuin künstlerische und ironische Verhältnis zur Form reklamiert Mann auch das Erbe Goethes (so XII, 46), das er aber von Nietzzwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, München 2013; zu Manns Übergang in eine politische Akteursrolle vgl. Sebastian Hansen, Betrachtungen eines Politischen. Thomas Mann und die deutsche Politik 1914–1933, Düsseldorf 2013

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Aufbauanalyse: der Gedankengang der Schrift

sche her begreift. Im Verhältnis zum Bruder ist der Streit um Nietzsche und den recht verstandenen Ästhetizismus also grundlegend, die Goethe-Referenz stützt nur die eigene Inanspruchnahme Nietzsches. Das sind zentrale Themen und antithetische Behauptungen der ersten und letzten Kapitel. So betrachtet ist die Schrift ein klar disponierter und luzide auf den Punkt gebrachter Deutungsstreit um die Auslegung von Nietzsches Ästhetizismus. Wagen wir das Gedankenspiel, Mann hätte nur die philosophisch-ästhetische Kontroverse mit seinem Bruder austragen wollen: Die Schrift hätte sich dann auf die Eingangskapitel weitgehend beschränken können, hätte einen Umfang von wenig mehr als 100 Seiten gehabt und wäre für die Zeitgenossen recht klar verständlich gewesen. Grundlegend sind die Begriffe »Ästhetizismus« und »Expressionismus«. Begriffsgeschichtlich ließen sich die Verständnisprobleme klären: Heinrich Mann wurde von Zeitgenossen – wie Gottfried Benn – als ein Vater des »Expressionismus« betrachtet; der Expressionismus galt nicht nur als Stilbegriff, sondern auch als zeitgebundene Lebensform, wie etwa beim Ästhetiker und Charakterologen Emil Utitz in dessen Buch Die Überwindung des Expressionismus nachzulesen. 7 Manns Rede von »Ästhetizismus« darf nicht von polaren Entgegensetzungen wie »Ethik und Ästhetik« her verstanden werden, wie es Mann selbst in seinem späten Essay über Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung tat. In den Betrachtungen eines Unpolitischen ist der »Ästhetizismus« ein lebensphilosophisches Credo und metaphysischer Letztbegriff: Am Anfang ist das Pathos; Leben heißt Erleben; normative Argumentation erfolgt deshalb als Erlebnisexplikation. Das Pathos, das am Anfang der Betrachtungen steht, ist das Ressentiment oder die Rache für die Verletzungen, die der Zola-Essay 8 des Bruders ihm zugefügt hatte. Leben ist Leiden und Kampf um Selbstbehauptung! Am Anfang aller Erlebnisaussprache steht die Sensitivität, »Irritabilität« (XII, 10 f), der Schmerz und das Leiden. So erläuterte Mann es schon in seinem grundlegenden Essay Bilse und ich, der ebenfalls eine polemische Anlage hat. 9 Emil Utitz, Die Überwindung des Expressionismus. Charakterologische Studien zur Kultur der Gegenwart, Stuttgart 1927 8 Heinrich Mann, Zola, in: Die Weißen Blätter. Eine Monatsschrift 2 (1915), Heft 11, 1312–1382 9 Dazu vgl. Verf., Artisten-Metaphysik in praktischer Absicht: zum philosophischen Sinn von Thomas Manns »Ästhetizismus«, in: ders., Das »Problem der Humanität«, Paderborn 2003, 41–54 7

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Polemik mit System

Die Betrachtungen eines Unpolitischen sind in der Exposition des Gedankenansatzes also eigentlich knapp und klar verständlich. Es sind vor allem die mittleren Kapitel, in denen der Text ausufert. Dabei sind hier die ersten beiden Kapitel »Einkehr« und »Bürgerlichkeit« noch gut nachvollziehbar und autobiographisch interessant. Mann reflektiert auf die eigene bürgerliche Prägung: sein »persönliches Ethos« und seine Sozialisation, die er in seinen Werken exemplarisch gestaltete und normativ zum Typus stilisierte. Er spricht von einer Erfahrung der »Entbürgerlichung« (XII, 144) und »Wiederherstellung des [normativen] Begriffs ›Bürger‹« (XII, 135). Die Proportionen und Konzentration auf klare Thesen verliert die Schrift eigentlich erst mit den nachfolgenden beiden Hauptkapiteln »›Gegen Recht und Wahrheit‹« und »Politik«, die für die staatstheoretische Anlage der Schrift aber grundlegend sind. Diese beiden Kapitel allein füllen annähernd 300 Seiten und also den halben Umfang des Buches. Hier hätte Mann gründlich kürzen sollen, wie er es später für die zweite Auflage oder Fassung ja aus anderen Gründen auch tat. Bekanntlich entschärfte er da die Polemik gegen den Bruder. Viele Leser beklagten immer wieder die Länge und Unklarheiten gerade dieser beiden Kapitel. Wenn vielen offensichtlich ist, was Mann letztlich nicht wollte, ist nach den Gründen zu fragen, weshalb er auf Kürzungen verzichtete, obgleich er die Einwände nicht bestritten hätte. Ökonomische Motive konnten es nicht gewesen sein. Deutliche Kürzungen hätten die Rezeption und den Vertrieb der Schrift vielmehr erleichtert. Mann rechtfertigt die Längen mit seiner dialektischen Suche nach seinem »Standpunkt« (XII, 229). Wie im philosophischen Kunstdialog spielte er demnach diverse Gesichtspunkte experimentalphilosophisch durch. Ein anderer Grund ist aber das ästhetizistische Selbstverständnis der Explikation und Konfession eines »Erlebnisses«: Mann suchte nicht die stärkste einmalige Formulierung, die durch Paraphrasen nur geschwächt würde, sondern führte die zeitgenössischen Diskurse und Semantiken, die er für charakteristisch hielt, in extenso vor. Im Schlüsselkapitel »Politik« findet sich dazu eine signifikante Stelle; Mann setzt hier eingangs definitorisch an und definiert polemisch durch Gegenbegriffe; er schreibt: »Die wahrhafte Definition des Begriffes ›Politik‹ ist nur mit Hilfe seines Gegenbegriffs möglich; sie lautet: ›Politik ist das Gegenteil von Ästhetizismus‹. Oder: ›Politik ist die Rettung vor dem Ästhetizismus.‹ Oder, ganz streng gesprochen: ›Politiker zu sein, ist die einzige Möglichkeit, kein Ästhet zu sein.‹« (XII, 222)

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Aufbauanalyse: der Gedankengang der Schrift

Manns »Definition« wird man fast als ironische Parodie bezeichnen können. Die »ganz strenge« Definition scheint das Thema zu wechseln, wenn plötzlich vom Politiker die Rede ist. Wieso sollte der Wechsel von der »Politik« zum »Politiker« das definitorische Geschäft präzisieren? Mann mischt hier eine neue Voraussetzung ein: seine starke Personifikation von Politik und Staat, seine lebensphilosophische Neigung, Sachfragen zu personalisieren, um sie auf »Erlebnisse« zurückzuführen und psychologisch-charakterologisch zu verstehen. Die definitorische Arbeit wechselt reichlich assoziativ von der Politik und dem Politiker zum Ästhetizismus und Ästheten über. Mann fragt dann sogleich: »Was ist Ästhetizismus? Was ist ein Ästhet?« (XII, 222) Diesen zweiten definitorischen Ansatz bricht er aber mit dem nächsten Absatz ab, der mit einem signifikanten Methodenwechsel endet. Mann schreibt: »Ästhetizismus ist vielmehr … Aber lassen wir Beispiele reden!« (XII, 223) Er wechselt also von der definitorischen in die exemplarische Argumentation über. Eine rhetorikanalytisch versierte Argumentationslehre 10 könnte diesen demonstrativen Argumentationstypus in seinen Möglichkeiten und Grenzen näher bestimmen. Der sachliche Erkenntnisanspruch ist hier jedenfalls der rhetorischen Wirkung beim Adressaten untergeordnet. Die demonstrative Argumentation will persuasiv prägnant wirken und bietet eine Fülle von Beispielen gleichsam zur freien Auswahl des Adressaten an. Dafür sei hier nur noch auf die Autorität von Manns oberstem Eideshelfer verwiesen: Goethes kritische Wissenschaftsgeschichte erklärte den Triumph Newtons in der Farbenlehre, den Goethe geradezu für »Wahnsinn« hielt, mit institutionellen Verzerrungen des Forschungsprozesses infolge traditionaler Schul- und Akademiepolitik: Die Institutionen verdunkeln die offenbaren Einsichten! In seiner Abhandlung Principes de Philosophie Zoologique erörterte Goethe das 1830 erneut: Er unterschied dabei zwischen dem analytischen und synthetischen Denktypus und betonte – als ein Gadamer avant la lettre – die hermeneutische Voraussetzung einer »Voranschauung, Vorahnung des Einzelnen im Ganzen« (HA XIII, 220). Fast unvermittelt beschloss er den ersten Abschnitt seiner längeren Abhandlung dann mit einem Montaigne-Zitat: »Ich lehre nicht, ich erzähle.« (HA XIII, 228)

10

Dazu etwa Clemens Ottmers, Rhetorik, Stuttgart 1996

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Polemik mit System

Dieses Plädoyer für ein »nichtdoktrinales« Argumentieren 11 ähnelt Manns Ausführungen: »Ästhetizismus ist vielmehr … Aber lassen wir Beispiele reden!« (XII, 223) Die Stelle öffnet gleichsam das Fass ohne Boden oder den Fluss ohne Ufer, in dem Mann sich mit dem Politik-Kapitel auf 150 Seiten durch diverse Lesefrüchte treiben lässt. Das dokumentarische Anliegen extensiver Veranschaulichung der zeitgenössischen Semantik wird dabei durch das Parlando der Meditation und die freund-feindliche, brüderliche Zwiesprache weiter in subjektive Assoziationen zerfasert. Auch diese ausufernden Umschreibungen entwickeln aber systematisch wichtige und richtige Überlegungen. Bevor sie diskutiert werden, sei die Aufbauanalyse der Schrift aber rekapituliert. Bisher wurde gesagt: Anfang und Ende sind klar: Mann entwickelt einen Auslegungsstreit um den »Ästhetizismus«. Mit den mittleren Kapiteln wendet er den philosophischen Grundansatz ethisch und politisch: In den Kapiteln »Einkehr« und »Bürgerlich« expliziert er sein Ethos in autobiographischer oder – mit Nietzsche zu sprechen – genealogischer Form: Er stilisiert sein Ethos und macht es als bürgerliches Ethos normativ verbindlich. Die folgenden ausufernden Kapitel ziehen politische und staatstheoretische Konsequenzen. Es folgt dann noch ein Überleitungsteil in drei Kapiteln, der den ethischen Ansatz abstrakt und polemisch reformuliert. Die Kapitel heißen: »Von der Tugend«, »Einiges über Menschlichkeit« und »Vom Glauben«. Mann nimmt hier offenbar den Tugenddiskurs nach Nietzsche neu auf und wendet ihn gegen den universalistischen »Humanitarismus«. Auch diese Kapitel sind unnötig lang, polemisch und problematisch, was hier aber nicht ausgeführt werden muss. Wichtig ist hier nur die Funktion der Überleitung vom mittleren Hauptstück zum bündigen Schluss. Das Fazit der Aufbauanalyse lässt sich leicht ironisch in die Redaktionsvorschläge eines Lektors kleiden: Ein Lektor hätte einem jüngeren Autor namens Kleinmann, der als Schriftsteller gerade bekannt wird, vielleicht sagen sollen: »Lieber Kleinmann, so geht es nicht! Das Buch ist interessant, aber viel zu polemisch, ausufernd und unklar. Es ist unverkäuflich! Weil wir Sie als Autor aber weiter fördern wollen, nehmen wir es dennoch, aber nur unter folgender Auflage: Die politiktheoretischen Ausführungen in den beiden Hauptkapiteln kürzen Dafür plädiert seinerseits sehr doktrinär Michael Hampe, Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik, Berlin 2014

11

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Der staatstheoretische Kern: Unterscheidung von Staat und Verfassung

Sie bitte gefälligst radikal zusammen! Von den 300 Seiten lassen Sie allenfalls 100 stehen! Die folgenden drei Tugend-Kapitel können gänzlich entfallen. Packen Sie davon ein paar Absätze zur Überleitung ans Ende der Politikkapitel! Was Sie zur Tugendlehre und EthosEthik sagen, steht aber eigentlich bereits in der »Bürgerlichkeit«! Haben Sie das nicht bemerkt? Wenn Sie das Buch auf den halben Umfang heruntergebracht haben, nehmen wir es, um Ihrer Autorschaft und Verbundenheit mit dem Verlag wegen, in Gottes Namen! Aber wundern Sie sich nicht, wenn es in der Literaturkritik – Sie wissen, Sie haben mächtige Feinde im Feuilleton! – polemischen Widerstand, Ignoranz und Irritationen hagelt!« Thomas Mann hätte vielleicht geantwortet: »Lieber Lektor, wie gut verstehen Sie doch Ihr Handwerk! Sie haben recht, aber es muss, um Gottes Willen, in diesen schweren Zeiten sein: Que diable allait-il faire dans cette galère?«

3.

Der staatstheoretische Kern: die Unterscheidung von Staat und Verfassung

Damit sind wir beim systematischen Kern von Manns Ausführungen. Hier lässt sich zwischen einem staatstheoretischen und einem staatsphilosophischen Kern unterscheiden. Die Staatstheorie analysiert aus der Beobachterperspektive und die Staatsphilosophie zielt darüber hinaus auf die normative Rechtfertigung. Manns einschlägige Kapitel interessieren hier nur in wenigen Thesen. Viele problematische Äußerungen zum nationalistischen Diskurs nach Kleist, Dostojewski und Lagarde, sein Bismarck-Bild oder zur nationalstaatlichen Auffassung des Wilhelminismus seien damit ignoriert. Lassen wir auch die polemische Fassung von Manns Sonderwegthese beiseite: die Unterscheidung von deutscher »Kultur« und französischer »Zivilisation«, und konzentrieren uns pragmatisch auf die Erläuterung von nur zwei Kernthesen: auf Manns Zurückweisung einer »Identität von Politik und Demokratie« (XII, 121) oder »Bedeutungseinheit von ›Politisierung‹ und ›Demokratisierung‹« (XII, 235) und auf die These von der Staatspersönlichkeit oder »Persönlichkeit« des Staates. Letztere führt Mann im Kapitel »Politik« leicht ironisch als infantile Personifikationen ein. Er schreibt: »Als Kind personifizierte ich mir den Staat gern in meiner Einbildung […] als General Dr. von Staat.« (XII, 247) Diese Ironisierung der Personifikation lenkt davon 97 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Polemik mit System

ab, dass Mann die These von der Persönlichkeit des Staates systematisch stets vertreten hat. Durchgängig personifizierte er den Staat zu literarischen und charakterologischen Zwecken. So allegorisierte er im Fiorenza-Drama die Stadt Florenz in der schönen Fiore. Fiore steht für das Volk überhaupt, aber auch für den Staat, um dessen Herrschaft Lorenzo di Medici und Savonarola konkurrieren. Auch aus dem Roman Königliche Hoheit lässt sich eine Identifikation des Staates mit der Herrschaft des Fürsten herauslesen. Noch deutlicher ist Manns Personifikation politischer Einheiten aber im Friedrich-Essay. In den einleitenden Gedanken im Kriege heißt es explizit: »Und Deutschland ist heute Friedrich der Große.« (XIII, 533) Der Satz dient zunächst der moralpsychologischen Deutung von Friedrichs Politik und Rechtfertigung der deutschen Kriegsführung in der historischen Parallele, zielt aber darüber hinaus auf die Persönlichkeit des Staates. Erneut ist also zwischen der psychologisch-charakterologischen und der staatstheoretisch-systematischen Bedeutungsschicht der Personifikation zu unterscheiden. Mann vertritt durchgängig beide Thesen: Er betrachtet Staaten analog menschlicher Personen und meint, dass das Staatshandeln unter der Voraussetzung starker Regenten oder Führer von der Psychologie der Führer her verstanden werden kann. So deutet er Friedrichs Haltung im Siebenjährigen Krieg von der negativen Anthropologie und konstitutionellen Aggressivität des Monarchen her, die Mann recht gewagt auf gestörte Sexualität und latente Homosexualität zurückführt. Seine moralpsychologischen Deutungen des politischen Handelns erörtern unter lebensphilosophischen Voraussetzungen stets das Verhältnis von Politik und Sexualität. Das ist insbesondere in der Rede Von deutscher Republik deutlich. Ist die sexualpsychologische Deutung des politischen Handelns auch überaus problematisch und Manns starke Psychologisierung keineswegs befriedigend, so ist die systematische These der Analogie von Mensch und Staat doch der staatsphilosophischen Tradition geradezu selbstverständlich. Platon und Hobbes haben sie grundlegend ausgeführt. »Organische« Staatslehren 12 sind bis heute verbreitet und auch die kritische Betrachtungsweise der analytischen Rechtstheorie Kelsens rekonstruiert Staaten als systemische Einheiten, die Dazu vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der Staat als Organismus. Zur staatstheoretisch-verfassungspolitischen Diskussion im frühen Konstitutionalismus, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Erweiterte Ausgabe, Frankfurt 1991, 263–272

12

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Der staatstheoretische Kern: Unterscheidung von Staat und Verfassung

von einer »Grundnorm« als Kopf des Ganzen her gesteuert sind. Die These ist systematisch schlicht richtig: Staaten lassen sich wie Organismen betrachten. Sie brauchen einen Kopf und eine exekutive Regierung, die auf einem komplexen Bedingungsgefüge aufbaut und den Organismus zur Handlungsfähigkeit integriert. Wenn Mann vom »General Dr. von Staat« spricht, deutet er staatssoziologisch eine ständische Ordnung an und spricht von tragenden Schichten und einem Klassenkompromiss zwischen Adel und Bürgertum. Sein feudaler General von Staat braucht eine promovierte bildungsbürgerliche Elite. In starker Lesart steht der Doktortitel – den Mann für seine Betrachtungen bald aus Bonn erhielt – dann nicht nur für das Bürgertum, sondern auch für Wissenschaft und also eine Modernisierung und Technisierung des General von Staat. Von Klerus, Bauern und Arbeiterschaft ist hier offenbar nicht die Rede. Der Blick auf die tragenden Eliten ließe sich aber in soziologischer Perspektive erweitern: etwa um den Kardinalshut, Sense und Schaufel. Treffender wäre etwa die Formel: »General Dr. Maloche von Staat«! Diese Überlegungen wollen nur verdeutlichen, dass die Ausbuchstabierung des ständischen Gefüges oder Staatsorganismus ein zentrales Thema der Staatsphilosophie seit Platon ist. Mann bekennt sich in den Betrachtungen eines Unpolitischen unmissverständlich zur konstitutionellen Monarchie des Wilhelminismus. Zweifellos vertritt er dabei eine liberale rechts- und sozialstaatliche Auffassung. Dass seine Monarchie ein Rechts- und Sozialstaat ist, mit romantisch-patriarchalischen Zügen, zeigt der Roman Königliche Hoheit schon sehr deutlich. Mann nimmt hier idyllische Lübecker Erfahrungen in seine Apologie der konstitutionellen Monarchie auf. Mann war ein Kind des Wilhelminismus. Mehr als sein halbes Leben verbrachte er in diesem System. Er wurde hineingeboren und war bereits 43 Jahre alt, als der Kaiser und die Könige abdankten. In diesem System war er als Künstler aufgewachsen, berühmt geworden und lebte dort jahrzehntelang in Wohlstand und Glück. Sein später autobiographischer Rückblick Meine Zeit von 1950 ist eine nostalgische Liebeserklärung an die »Welt von gestern« (Stefan Zweig). Die konstitutionelle Monarchie war ein funktionierender Rechts- und Verfassungsstaat, mit parlamentarischer Kultur und Ansätzen zum Ausbau der Sozialstaatlichkeit. Sie wurde von der Bevölkerung mehrheitlich als Nationalstaat aufgefasst und im Weltkrieg vehement verteidigt. Manns Apologie des Wilhelminismus ist nachvollziehbar, 99 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Polemik mit System

auch wenn er natürlich nicht als Verfassungshistoriker agierte und sein Bild von der konstitutionellen Monarchie vielfach idealisiert und verzerrt ist. Für die systematische Betrachtung ist aber ein anderer Aspekt weitaus interessanter: die mit der Zurückweisung der Demokratisierungsdoktrin gegebene Unterscheidung von Staat und Verfassung. Mann sagt: Jeder funktionierende Staat ist eine Person; er muss seine Persönlichkeit aber nicht in der Form der Demokratie konstitutionalisieren. Es gibt noch andere Staatsformen, die als Organismen funktionieren können und auch ohne den Legitimationsmodus der Demokratie akzeptiert und legitimiert sind! Eine konstitutionelle Monarchie kann als Verfassungsstaat sogar höhere Legitimität und Effizienz haben als eine defekte Demokratie, die die Exekutive formal demokratisiert. Mann bejaht eine »starke monarchische Regierung« als »notwendiges Korrektiv« (XII, 260) gegen die »Parlaments- und Parteiwirtschaft« (XII, 261). Er wünscht eine Entpolitisierung der exekutiven Spitze des Staates, fasst den Raum der Verwaltung also weit und möchte die oberen Etagen der »bürokratischen Herrschaft« nicht der Ämterpatronage der Parteien überlassen. Solche Überlegungen lassen sich nicht doktrinär zurückweisen. Für die bürokratisch-rechtstaatliche Effizienz des wilhelminischen Verwaltungsstaates ließe sich etwa auf Max Weber 13 verweisen. Das Hohelied auf den Beamtenstaat wurde aber immer wieder gesungen. Besonders volltönend erklingt es bei – dem Schmitt-Schüler 14 – Ernst Rudolf Huber in dessen monumentaler Verfassungsgeschichte. Huber schwärmt geradezu vom wilhelminischen Reichsbeamtentum als »staatstragendem Stand«. So schreibt er: »Das in der Reichsbürokratie entwickelte Ethos des Reichsdienstes war eine der Kräfte der nationalstaatlichen Integration, die im Zusammenbruch die Reichseinheit zu bewähren und in die neue Staatsordnung überzuleiten vermochte. Zu dieser verfassungspolitischen Repräsentation und Integration des Reichs war die Reichsbeamtenschaft vor allem vermöge ihrer Neutralität gegenüber den gesellschaftlichen Interessen und Konflikten imstande. Als pouvoir neutre stand die Reichsbürokratie über den Konfessionen, über Max Weber, Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland (1918), in: ders., Gesammelte Politische Schriften, 4. Aufl. Tübingen 1980, 306–443; vgl. etwa auch Ulrich Scheuner, Die Parteien und die Auswahl der politischen Leitung im demokratischen Staat (1958), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht. Gesammelte Schriften, Berlin 1978, 347–359 14 Dazu bes. Carl Schmitt, Der Hüter der Verfassung, Tübingen 1931 13

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Der staatstheoretische Kern: Unterscheidung von Staat und Verfassung

den Parteien und über den Ideen- und Interessensgruppen der pluralistischen Gesellschaft.« 15

Für das Berufsbeamtentum der Weimarer Republik kommt Huber zu einem negativeren Urteil. Zwar betont er die Umbildung der Eidesformel, 16 den Übergang vom persönlichen Treueid auf den Monarchen zum Verfassungseid, sieht aber auch einen negativen Einfluss der parteipolitischen Ämterpatronage. »Es lag […] in der Natur der gegebenen parteienstaatlichen Verhältnisse der Weimarer Republik, dass Parteien, die unter ihren Anhängern kein hinreichendes Reservoir an fachlich vorgebildeten und laufbahnerprobten Beamten hatten, den Nachweis von Befähigung und Leistung auch durch Tätigkeiten außerhalb des öffentlichen Dienstes, insbesondere durch eine parteipolitische, gewerkschaftliche, parlamentarische oder journalistische Wirksamkeit erbracht wissen wollten. So kam es in der Praxis der Weimarer Zeit unter der Parole der ›Demokratisierung‹ des Beamtenkörpers zur verbreiteten Verdrängung der Fachbeamten durch ›politische Außenseiter‹.« 17

Solche Befürchtungen und Beobachtungen stehen hinter Manns Option für das wilhelminische System der Exekutive und Verwaltungsstaatlichkeit. Die neuere Verwaltungsgeschichtsschreibung hat an der Neutralität der wilhelminischen Beamtenschaft vielfach Zweifel angemeldet. Dass die Personalrekrutierung aber nicht rein politisch motiviert war, sondern Fachkompetenz forderte und berücksichtigte, dürfte unstrittig sein. Die Idealisierung des preußischen Staats- und Dienstethos bestimmt auch heute noch nationale Stereotype im Ausland. Max Weber forderte eine klare funktionale Differenzierung zwischen politischer Führung und Verwaltung und profilierte die »bürokratische Herrschaft« gegen die Führung. Auch Mann wollte politische Führung nicht durch Verwaltung ersetzen. Stets wünschte er starke Führer und konzentrierte sich in seinem Engagement auf die personale Spitze. Das zeigt sein Friedrich- oder Bismarck-Bild ebenso wie seine Verehrung für Ebert, Stresemann oder Roosevelt. Er meinte Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. III: Bismarck und das Reich, Stuttgart 1963, 969; im Ersten Weltkrieg galt freilich ein Kriegszustandsrecht, das das Verhältnis von Politik und Verwaltung veränderte und den politischen Durchgriff erleichterte. Umfassende Beschreibung bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart 1978 16 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. VI: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, 512 ff 17 Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. VI, 520, vgl. 762 ff 15

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Polemik mit System

aber, dass die bürokratisierte Personalrekrutierung des Verwaltungsstaates professioneller und gerechter ist als ein politisierender Durchgriff der Parteien auf die Ämterbesetzung. Er idealisierte die demokratische oder parlamentarische »Führerauslese« nicht und schätzte das alternative Modell der Fürstenerziehung, wie es etwa in Königliche Hoheit dargestellt ist. Die monarchische Spitze und Regierungsbildung hat zwar Gefahren und Probleme. So gab es in fester Erbfolge oft unfähige, gefährliche oder auch überalterte Monarchen. Die demokratische und parlamentarische Regierungsbildung ist aber auch riskant. Dass diese Führerauslese dem dynastischen System der Fürstenerziehung grundsätzlich überlegen sei, ist durch viele Gegenbeispiele widerlegt: von Hitler bis Donald Trump. Auch braucht man nicht erst auf den gerade amtierenden türkischen Präsidenten Erdogan zu verweisen, um die formale demokratische Wahl nicht zum einzigen Kriterium legitimer Herrschaft zu erheben. Eine Herrschaft ist nicht schon deshalb legitim, weil sie demokratisch korrekt gewählt wurde. Wir brauchen einen materialen Demokratiebegriff und komplexe Legitimitätskriterien, um die Vorzugswürdigkeit eines bestimmten Systems zu vertreten. Politik und Demokratie sind nicht identisch. Legitime Politik und Demokratie sind ebenfalls nicht identisch: Es gibt verfassungsstaatliche Herrschaft, die anerkennungswürdig ist, obgleich sie nicht demokratisch konstituiert wurde. Es gibt auch Staaten, deren Regierungen demokratisch korrekt gewählt wurden und andere elementare Legitimitätskriterien nicht erfüllen. Die formale Demokratie ist heute ein Spielball in der populistischen Herrschaftstechnik moderner Staaten. Wir leben in postdemokratischen Zeiten! Demokratie ist heute vielfach eine Fassade für bürokratische Exekutivregimes. Die Legitimität von Verfassungsstaaten hängt aber nicht einzig am Kriterium demokratischer Regierungsbildung.

4.

Staatsphilosophischer Grundgedanke: das Recht auf Selbstbehauptung

Bisher wurde die staatstheoretische Unterscheidung von Staat und Verfassung hervorgehoben: Mann begreift Staaten systemisch analog menschlicher Personen und unterscheidet zwischen der Staatspersönlichkeit und der Verfassung. Das ist systematisch richtig. Zwischen Staat und Verfassung ist zu trennen! Sonst hätte die Bundesrepublik 102 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Staatsphilosophischer Grundgedanke: das Recht auf Selbstbehauptung

sich auch nicht in die Nachfolge des deutschen Staates stellen und die Staatskontinuität über die Verfassungsumbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg behaupten können. Manns Betrachtungen eines Unpolitischen gehen in ihrem systematischen Gehalt aber über diese staatstheoretische These noch hinaus. Schon im Friedrich-Essay setzt Mann mit der Personifikation des Staates auch ein Existenzrecht und Recht auf (militärische) Selbstbehauptung voraus: Er proklamiert ein Recht auf Selbstbehauptung und Selbstbestimmung der politischen Einheit über ihre Lebensform! Mit dieser Überlegung rechtfertigt Mann das deutsche Engagement im Ersten Weltkrieg. Durch die Zurückweisung der Demokratisierungsparole gewinnt er einen rechtsphilosophischen Zugang zur Fundamentalfunktion politischer Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. Manns Souveränitätslehre war zeitgenössisch weder ungewöhnlich noch unvertretbar. Seine rechtsphilosophische These zur rechtsschöpfenden Kraft der politischen Selbstbehauptung erscheint uns heute zwar als problematisch. Die rechtspositivistische Staatslehre des Wilhelminismus hatte aber bereits die »normative Kraft des Faktischen« vertreten und Macht und Recht eng miteinander verbunden. 18 Sie akzeptierte deshalb auch den revolutionären Verfassungswandel und Systemwechsel von der konstitutionellen Monarchie zur Weimarer Republik. Die nachfolgende antipositivistische Verfassungstheorie, für die insbesondere Schmitts Souveränitätslehre steht, relativierte das Revolutionsrecht der »normativen Kraft des Faktischen« dann aber und formulierte stärkere Legitimitätskriterien. Schmitts Souveränitätsbegriff band das Recht der Macht an eine Ordnungsstiftung und Friedensfunktion: »Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.« 19 In seiner Verfassungslehre schrieb er zum »positiven Verfassungsbegriff«, der die Verfassung als »Gesamt-Entscheidung über Art und Form der politischen Einheit« auffasst, aber noch: »Jede existierende politische Einheit hat ihren Wert und ihre ›Existenzberechtigung‹ nicht in der Richtigkeit und Brauchbarkeit von Normen, sondern in ihrer Existenz. Was als politische Größe existiert, ist, juristisch be-

Ich folge hier Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. VI: Die Weimarer Reichsverfassung, Stuttgart 1981, 5 ff 19 Carl Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, 3. Aufl. Berlin 1979, 11 18

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Polemik mit System

trachtet, wert, dass es existiert. Daher ist ihr ›Recht auf Selbsterhaltung‹ die Voraussetzung aller weiteren Erörterungen«. 20

Vermutlich hätte Mann diese Reklamation eines Rechts auf Selbstbehauptung, einschließlich der militärischen Konsequenzen 1918 noch unterschrieben. Nach 1918 entwickelte auch er stärkere Legitimitätskriterien und forderte eine nationale, demokratische und sozialstaatliche Integration. Die rechtsphilosophischen Voraussetzungen seines Ansatzes sind hier aber nicht weiter zu diskutieren und sollten auch nicht voreilig mit der zeitgenössischen Staatslehre harmonisiert werden. Manns Rechtfertigung der deutschen Kriegsbeteiligung ist hier auch nicht zu verteidigen. Es sollte nur betont werden, dass Mann als Nietzscheaner und Lebensphilosoph über essayistische Beobachtungen hinaus dezidiert philosophische Grundlegungs- und Begründungsargumente vertrat und seine Positionen nicht so abwegig und ungewöhnlich waren, wie die Rezeption bisweilen meinte.

5.

Kurzes Fazit

Manns »Zivilisationsliterat« ist ein idealtypischer Sparringspartner. Auch wenn die Polemik Züge einer Don Quichotterie trägt, ist sie doch gegen dieses Phantom schlicht im Recht: Staat und Verfassung sind nicht identisch und das Legitimitätsproblem moderner Verfassungsstaaten ist nicht auf den formalen demokratischen Legitimationsmodus zu reduzieren! Dass starke Ideologien den Alltag unnötig politisieren und die Freiheit der Kunst gefährden, ist ebenfalls zuzugeben. Vieles, was Mann schreibt, war überaus problematisch; das »Künstlerwerk« der Betrachtungen eines Unpolitischen will aber nicht am Maßstab akademischer Fachprosa beurteilt werden. Als verfassungspolitische Studie zum deutschen konstitutionellen Sonderweg muss man es nicht lesen. 21 Als Apologie des Wilhelminismus Carl Schmitt, Verfassungslehre, München 1928, 22 Verfassungshistorische Debatten um den deutschen Sonderweg der konstitutionellen Monarchie und die nationale Legitimität des Wilhelminismus wurden in der alten Bundesrepublik insbesondere zwischen Ernst Rudolf Huber und Ernst-Wolfgang Böckenförde prominent geführt. Dazu u. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie im 19. Jahrhundert, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt 1991, 273–305; die konstitutionelle Sonderwegsthese argumentierte nach 1945 mit einem Normmodell von Demokratisierung, das die neuere historische Forschung mit dem Verweis auf die Pluralität diverser Konstitutionalisierungspfade

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Kurzes Fazit

setzt es ein starkes Interesse an der autobiographischen Selbstbeschreibung Thomas Manns voraus. Wer sich für Manns Kunstwerke und die polemische »Enthüllung der geistigen Fundamente« (XII, 18) seiner Bildung nicht interessiert, muss sich mit diesem »Künstlerwerk« nicht befassen. Es ist vor allem eine eigenwillige autobiographische Rechtfertigung im »Bruderkrieg«. Systematisch aber ist die Schrift keineswegs unsinnig: Sie verteidigt die konstitutionelle Monarchie, wie gezeigt, durch die Unterscheidung von Staat und Verfassung und ein weites Legitimitätsverständnis. Viele Staaten sind keine Demokratien, obgleich sie völkerrechtlich anerkannt sind. Starke Demokratisierungsprojekte sind im 20. Jahrhundert auch immer wieder grandios gescheitert. Imperiale Demokratisierungspolitik ist keine erfolgversprechende Strategie, weil viele Kulturen und Gesellschaften offenbar nicht sonderlich demokratisierungsfähig und demokratisierungswillig sind. Es wäre aber normativ borniert und herrschaftssoziologisch blind, ihnen deshalb die Legitimität gänzlich abzusprechen. Die Zukunft der Demokratie ist heute erneut fraglich. Hoffen wir hier weiter auf die »offene« Form und Krisenbewältigungskraft des liberalen Verfassungsstaates. 22 Man muss Manns Überlegungen aber nicht forciert aktualisieren, um die Unterscheidung von Staat und Verfassung und das komplexe Legitimitätsverständnis positiv zu würdigen. Dass Mann über ein weites und begrifflich differenziertes Politikverständnis verfügte, das Verfassungsfragen ziemlich komplex und realistisch zu erfassen vermochte, zeigt schon die weitere Entwicklung seines politischen Denkens. Schon mit dem Erscheinen der Betrachtungen im Herbst 1918 stellte Mann im Systemumbruch auf ein Recht der Revolution und einen fundamentalen Verfassungswandel um. Im Frühjahr 1919 äußerte er sich über die diktatorische und militante Entwicklung der Räterevolution zwar deutlich negativ und wünschte ein Ende der Revolution; er öffnete sich aber bald erneut für die Konsolidierung der Weimarer Republik und wurde zu einem Vordenker der »wehrhaften Demokratie«. 23 Ohne die Betrachtungen eines Unpolitischen wäre inzwischen zurückgewiesen hat. Starke Sonderwegsthesen, wie auch Mann sie vertrat, werden von individualisierenden Historikern heute kaum noch vertreten. 22 Dazu aus neuerer juristischer Sicht vgl. Horst Dreier, Idee und Gestalt des freiheitlichen Verfassungsstaates, Tübingen 2014; Thomas Vesting, Staatstheorie. Ein Studienbuch, München 2018 23 Dazu vgl. Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018

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Polemik mit System

nicht nur der Zauberberg gescheitert, Mann hätte sich auch nicht zu dem engagierten Vordenker und Vorkämpfer der Weimarer Republik entwickeln können, der er wurde.

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IV. Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

Der Systemumbruch vom Wilhelminismus zur Weimarer Republik faszinierte die Forschung immer wieder gerade für die revolutionäre Phase des Umbruchs und Aufbruchs von 1918/19. In München schlug hier für wenige Wochen und Monate die Stunde des »dritten Wegs« und anarchistischen Experiments mit der Idee der unmittelbaren und »permanenten Demokratie«. In Memoiren wurde sie verspottet und verklärt und die Forschung idealisierte sie nach 1968 gerne demokratietheoretisch. Der Literaturkritiker Volker Weidermann 1 dramatisierte die Ereignisse jüngst leicht fiktionalisierend und charakterisierte einige der Akteure – u. a. Eisner und Landauer, Toller und Oskar Maria Graf – als politische »Träumer«, die in der zweiten Phase der Revolution, nach Eisners Ermordung, von den Kommunisten und Bolschewisten gestürzt und dann nach der Reichsexekution von der Gegenrevolution ermordet, hingerichtet oder ins Gefängnis gebracht wurden. Weidermann betont Manns bürgerliche Distanz und künstlerische Übersetzung in den Zauberberg 2 und lässt Hitler als »Ersatzbataillonsrat« 3 und Erbe der Revolution auftreten, der zwar »nicht offen gegen die Räteregierung opponiert« 4 hatte, sich dann aber im Dunstkreis der Thule-Gesellschaft antisemitisch radikalisierte. Weidermann bedient einige Vorurteile über Mann, sieht aber auch die romantischen Solidaritäten zwischen dem »unpolitischen« Ästheten und dem zeitgenössischen Anarchismus. Für die gegenrevolutionäre Wendung des Münchner Gefreiten Hitler hätte er auch auf Carl Schmitt verweisen können, wie dies Nicolaus Sombart 5 schon vor Jahrzehnten tat: Auch Schmitt war damals in München als Volker Weidermann, Träumer. Als die Dichter die Macht übernahmen, Köln 2017 Weidermann, Träumer, 225 ff 3 Weidermann, Träumer, 229 4 Weidermann, Träumer, 228 5 Nicolaus Sombart, Gruppenbild mit zwei Damen. Zum Verhältnis von Wissenschaft, Politik und Eros im wilhelminischen Zeitalter, in: Merkur (1977), 972–990; 1 2

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

Soldat vor Ort nachhaltig von den Erfahrungen des Systemumbruchs, Revolution und Gegenrevolution geprägt. Nur auf den ersten Blick klingt der Vergleich zwischen Mann und Schmitt also grell dissonant: zwischen dem »Großschriftsteller« und dem Verfassungslehrer, dem »Kronjuristen« und dem Repräsentanten des »anderen Deutschland«. Beide erlebten den Ersten Weltkrieg, Umbruch und die Anfangsjahre der Republik in München. Beide äußerten sich gerne polemisch, lehnten die Räterepublik ab und bejahten die kämpferische Selbstbehauptung. Hermann Kurzke erörterte beide als Wegbereiter der neueren »konservativen« Auslegung der Romantik. 6 Grundsätzlich dachten sie freilich sehr anders. Während Mann eine liberalkonservative Affirmation der Romantik vertrat, zog Schmitt einen scharfen Trennungsstrich zwischen Romantik und Gegenrevolution. Während Mann sich mit Goethe als »Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters« identifizierte, war Schmitt ein Hauptvertreter des antibürgerlichen Weimarer Radikalismus. Diese divergierenden Lebensentscheidungen sollen hier an der RomantikRezeption aufgezeigt werden.

1.

Schmitts Polemik gegen Thomas Mann

Carl Schmitt, 7 1888 geboren, lebte jahrelang in München. 1910 hatte er sein Jurastudium in Straßburg abgeschlossen und danach in Düsseldorf das fünfjährige Referendariat mit dem 2. Staatsexamen als Volljurist beendet. Von 1915 bis 1919 arbeitete er in München als Heeresjurist in der Verwaltung des Stellvertretenden Generalkommandos und von 1919 bis 1921 lehrte er dann als hauptamtlicher Dozent an der Handelshochschule, bevor er zum WS 1921/22 auf ein Ordinariat nach Greifswald berufen wurde und bald nach Bonn, später Berlin wechselte. Stets war Schmitt literarisch interessiert. In München führte er ein Doppelleben zwischen Kaserne und Schwabinger Bohème. So war er mit dem expressionistischen Dichter Theo-

Die deutschen Männer und ihre Feinde. Carl Schmitt – ein deutsches Schicksal zwischen Männerbund und Matriarchatsmythos, München 1991 6 Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983 7 Dazu Verf., Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009; Carl Schmitt zur Einführung, 1992, 5. Aufl. Hamburg 2017

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Schmitts Polemik gegen Thomas Mann

dor Däubler und ab 1917 mit dem bedeutenden Literaturkritiker Franz Blei eng befreundet. Schmitt kannte die literarische Moderne und las gerne französische Literatur. Ästhetisch neigte er eigentlich nicht einem »bürgerlichen« Epiker wie Thomas Mann zu, sondern gehörte mehr zur expressionistischen Hölderlin-Generation, die das 19. Jahrhundert ad acta legte. Mit elitärem und esoterischem Selbstbewusstsein entwickelte er aber seit seiner Jugend einen ganz eigenen politischen und literarischen Gegenkanon, den er lebenslang ausfeilte. Um es drastisch zu sagen: Selbst Thomas Mann oder Heidegger erschienen ihm politisch naiv und intellektuell kaum satisfaktionsfähig. Immerhin empfahl er seiner Schwester aber schon 1911 die Lektüre eines Vorabdrucks aus Felix Krull. 8 Es ist nicht belegt, aber nicht unwahrscheinlich, dass Schmitt in seinen Münchner Jahren öffentliche Auftritte Manns sah. Eine persönliche Begegnung hat es zwar niemals gegeben, aber eine Reihe indirekter Kontakte, die kaum erschlossen sind. So kannte Schmitt einen Bruder von Katia Mann, den Rechtshistoriker Fritz Pringsheim, 9 den er 1933 nationalsozialistisch diskriminierte. Golo Mann 10 schrieb später eine kritische Besprechung von Schmitts Spätwerk Der Nomos der Erde. Viele weitere Querverbindungen wären möglich, die das Ressentiment gegen Mann schürten. Im Nachkriegstagebuch Glossarium, das Schmitt wahrscheinlich irgendwie zur Veröffentlichung vorgesehen hatte, findet sich eine Reihe höchst polemischer Eintragungen. Da heißt es etwa 1948: »Mendelssohn-Aufführungen, Heine-Verehrung und Thomas Mann-Bewunderung: drei Kultformen der Subjugation«. 11 1949: »Wunder der D-Mark: Thomas Mann erscheint wieder in Deutschland!« 12 Später notierte er: »In Deutschland würde es keiner begreifen, wenn ich antwortete: Der größte moderne deutsche Dichter ist Theodor Däubler, hélas. In Deutschland werden mir Georgeaner, Rilkeaner, sogar Wiechertjaken und Thomas

Schmitt am 28. 11. 1911 an Auguste Schmitt, in: Jugendbriefe, hrsg. Ernst Hüsmert, Berlin 2000, 110 9 Dazu vgl. Fritz Pringsheim, Die Haltung der Freiburger Studenten in den Jahren 1933–1935, in: Die Sammlung 15 (1960), 532–538 10 Golo Mann, Carl Schmitt und die schlechte Juristerei, in: Der Monat 5 (1952), Heft 10, 89–92 11 Carl Schmitt, Glossarium. Aufzeichnungen aus den Jahren 1947 bis 1958. Neuausgabe, hrsg. Gerd Giesler / Martin Tielke, Berlin 2015, 78 12 Schmitt, Glossarium, 183 8

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

Mann-Gepäckträger ins Gesicht springen und mir entgegenbrüllen: Trauriges Nazi-Schwein, lass dich erst einmal entnazifizieren.« 13

1951 schrieb Schmitt: »Wichtiger noch als die Fragebogen-Fragen sind die großen Kern-Fragen, vor die man (d. h. Roosevelt und Stalin als eine koalierte Einheit!!) den Deutschen 1945 gestellt hat. Beantworten Sie also z. B. die Frage: Halten Sie Thomas oder Heinrich Mann für den größten deutschen Dichter? Halten Sie Heinrich Heine oder Zuckmayer für den echten Wortführer Ihrer Generation? Halten Sie Robert Kempner oder Erich Kaufmann für die wahren Repräsentanten deutschen Rechtsempfindens? Auf alle solche Fragen antworte ich mit einem entschiedenen: Ohne mich!« 14

Die antisemitische Zuspitzung dieser »Kern-Fragen« ist unüberhörbar. Schmitt bestritt die Alternativen des Kalten Krieges und deutete sie antisemitisch in eine »koalierte Einheit« um. Am Ostersonntag 1955 notierte er: »Heute ist Thomas Mann ein Geßler-Hut, vor dem sich alle verbeugen müssen, um nicht als Neo-Nazisten verfolgt zu werden.« 15 Am 14. August 1955 ergänzte er: »Also Thomas Mann ist gestorben. Ein Geßler-Hut fällt von der Stange. Eine Wolke verwehende Drucker-Schwärze und Radio-Schallgas legt sich auf beide Welten, Ost und West, Knechtschaft und Freiheit. Offenbar war dieser strebsame Groß-Verwerter mit Bezug auf beide Welten der höhere Dritte und die Erfüllung ihres Ideals vom geistig gehobenen Komfort.« 16

Schmitt wendet hier Manns Anspruch auf gesamtdeutsche Repräsentanz ironisch. Er interessierte sich nach 1945 vor allem für die Reinszenierung des bürgerlichen Neuhumanismus von Goethe bis Mann, die er politisch als »Subjugation« betrachtete: Maske der Unterwerfung unter die Reeducation. In den Zitaten klang bereits an, dass er Mann antisemitisch angriff. Seine letzte Eintragung vom 31. Dezember 1958 fragt hier, womit das Glossarium schließen soll: »Mit der Feststellung, dass Gottfried Benns Rede über Else Lasker-Schüler (von 1952) und Thomas Manns Erzählung Wälsungenblut (von 1906) nebeneinandergestellt und miteinander verglichen werden müssen? Das Problem der Jahre 1832–1933, die Verschmelzung deutschen und jüdischen Geistes? Auch das sei ferne! Absit!« 17 13 14 15 16 17

Schmitt, Glossarium, 195 Schmitt, Glossarium, 240 Schmitt, Glossarium, 312 f Schmitt, Glossarium, 318 Schmitt, Glossarium, 379

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Zeitgenössische Romantik: präsentistische Aktualisierungen

Den Vergleich erlaubte sich Schmitt erst Jahre später, 1975, als intime Schwarze Messe anlässlich von Manns 100. Geburtstag. Im Nachlass ist die Mappe mit Aufzeichnungen erhalten, »Wälsungenblut« überschrieben, 18 die Manns Werk einen verschwiegenen Antisemitismus unterstellt. Schmitt ging der Forschung damit voraus: Heute wird eingehender über Ambivalenzen in Manns literarischen Darstellungen jüdischer Gestalten geschrieben. Von dieser Literatur unterscheiden sich Schmitts Notate durch die offen antisemitische und diskriminierende Absicht. Solche Deutungen des Autors von Joseph und seine Brüder sind einigermaßen absurd.

2.

Zeitgenössische Romantik: präsentistische Aktualisierungen

Kommen wir damit zu den Romantik-Aktualisierungen, für die ich mich auf die einschlägigen Kernschriften konzentriere: Manns Betrachtungen eines Unpolitischen und Carl Schmitts 1919 erschienenes Buch Politische Romantik, 19 sowie die Anfangsjahre der Weimarer Republik, die beide in München erlebten. Manns – bereits näher erörterte – Roman Königliche Hoheit markierte den Abstand zum 19. Jahrhunderts, indem er die politische Romantik der »allgemeinen Beglückung« als »Märchen« erneuerte. Manns idyllisches Konzept eines »volkstümlichen« konstitutionellen Fürstentums ähnelt dabei der »mystischen« Vision einer republikanischen Monarchie, wie sie Novalis einst formulierte. Auf Novalis wird sich Mann erst in seiner Rede Von deutscher Republik näher beziehen. 1911 publizierte er aber bereits einen Chamisso-Essay und in den Betrachtungen eines Unpolitischen erörterte er eingehend Eichendorffs »Taugenichts«. Manns spätromantische Neigungen und Präferenzen gerieten 1914 aber unter den Druck der nationalistischen Mobilisierung. Mann bezeichnete seine Kriegspublizistik als »Gedankendienst mit der Waffe« (XII, 9). Er war ein Hauptautor der sog. »Ideen von 1914«, die die deutsche Kriegsbeteiligung euphorisch rechtfertigten; Schmitt dagegen war von 1915 bis 1919 tatsächlich Soldat, verklärte

Dazu Reinhard Mehring, Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 119–130 19 Carl Schmitt, Politische Romantik, 1919, 2. erw. Aufl. München 1925 (Kürzel: PR) 18

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

das Kriegsgeschehen aber nicht, sondern lehnte den deutschen »Militarismus« ab, neigte einer religiösen und apokalyptischen Sichtweise zu, die er 1916 mit seinem Buch über Theodor Däublers ›Nordlicht‹-Dichtung 20 auch publizierte, und drückte sich erfolgreich vor der Versetzung an die Front. Im Münchner Generalkommando war er u. a. für Pressezensur zuständig und begann 1915 schon im Auftrag seiner Abteilung, die vom späteren Bayerischen Justizminister Christian Roth geleitet wurde, mit Studien zum Belagerungszustand und zur Diktatur. Schmitt hatte also doppelte intime Innensichten auf die pazifistische und anarchistische Intellektuellenszene: Einerseits verkehrte er privat in der Bohème und andererseits beobachtete er sie aus der gegenrevolutionären Perspektive des Militärs. Seine »Bewusstseinslage« kennzeichnete er seit 1915 deshalb auch durch das »Gegensatzpaar Autorität gegen Anarchie« 21 und stellte sich publizistisch spätestens 1922, mit seiner Programmschrift Politische Theologie, 22 in die Linie der Gegenrevolution. Anders als Mann war er kein liberaler Vermittlungsdenker, sondern ein gegenrevolutionärer Anwalt der Autorität, polemischen Polarisierung und Dezision. Das prägte auch den begriffspolitischen Umgang mit der Romantik. Wichtig ist hier zu beachten, dass Mann und Schmitt beide nicht an strikter Historisierung interessiert waren, sondern einen eminent politischen und aktualistischen Umgang mit Geistesgeschichte hatten. Wenn sie die Romantik der Goethezeit zitierten, meinten sie immer auch die zeitgenössischen Romantiker: die Schwabinger Bohème und Revolutionspolitiker der Münchner Umbrüche von 1918/19. Die Gründe für diesen präsentistischen Blick sind allerdings etwas unterschiedlich: Bei Mann ist es vor allem die autobiographische Manier, die Erlebnisaussprache, die er lebensphilosophisch begründete; Schmitts präsentistischer Umgang mit Geistesgeschichte resultiert dagegen primär aus seinen politischen Absichten und seiner juristischen Manier, die eigenen Positionsnahmen hinter geistesgeschichtlichen Masken zu verstecken. Dabei spricht auch bei ihm eine autobiographische Attitüde und Identifikations-

Carl Schmitt, Theodor Däublers »Nordlicht«. Drei Studien über die Elemente, den Geist und die Aktualität des Werkes, 1916, Berlin 1991 21 Carl Schmitt, Donoso Cortés in gesamteuropäischer Sicht, Köln 1950, 9 22 Carl Schmitt, Politische Kapitel. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, 1922, 3. Aufl. Berlin 1979 20

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Zeitgenössische Romantik: präsentistische Aktualisierungen

sucht mit. Schmitt dachte verfassungspolitisch aber stets in historischen Konstellationen und Parallelen. So spiegelte er die Gegenwart geistesgeschichtlich mit Thomas Hobbes in der frühen Neuzeit und den Autoren des Vormärz um 1848. Die Autorenmasken, die er sich über die Jahrzehnte aufsetzte, sind hier kaum zu zählen. Bekannte Masken sind etwa Donoso Cortés und Thomas Hobbes sowie die literarischen Figuren Benito Cereno und Hamlet. Aber auch Othello und Bruno Bauer, Eusebius und Raoul Salan gehörten dazu. Die Goethe-Maske oder Mann-Maske lehnte Schmitt explizit ab. Er erwähnte auch Nietzsche nur selten und schloss ihn aus seinem Kanon aus, obgleich ihn manches mit ihm verband. Seine Bruno Bauer-Rezeption 23 ist auch eine esoterische Alternative zur Nietzsche-Rezeption, die Schmitt als »Gemeingut der Gebildeten« für sich ablehnte. Sein kanonpolitischer Umgang mit der Geistesgeschichte war letztlich aber verfassungsgeschichtlich begründet: Schmitt äußerte sich über Autoren nicht deshalb, weil sie ihn intellektuell ansprachen, sondern weil sie ihm eine individuelle Perspektive auf eine verfassungspolitische Konstellation artikulierten. Seine Geistesgeschichte geht also von den verfassungspolitischen Konstellationen aus. Und hier interessierte Schmitt sich, wie angedeutet, vor allem für die Weichenstellungen der frühen Neuzeit und des Jahres 1848. Seine Verfassungsgeschichte verbindet Hobbes dabei mit der Entstehung des säkularen Staates und das Jahr 1848 mit dem Scheitern des liberalen Ansatzes zur Nationalstaatsgründung. Schmitt zentrierte seinen Kanon nicht um 1789 und die Goethezeit. Er beschrieb die Geschichte der Französischen Revolution zwar schon in seinen Studien zur Diktatur, betrachtete die gegenrevolutionären deutschen Antworten aber eigentlich nur von den Folgen von 1806 und 1815 her. Die politische Antwort der Frühromantik, etwa des Novalis, hat er deshalb kaum zur Kenntnis genommen und die Romantik von der Epoche der Restauration und Reaktion her gelesen. Eine kleinteilige Geschichte der deutschen Antwort auf 1789 hat er nie publiziert. Er sah die deutsche Verfassungsgeschichte von 1815 und 1848 her. Nach Abschluss des Frühwerks mit der Politischen Romantik und der großen begriffsgeschichtlichen Studien über Die Dik-

Dazu Verf., »Autor vor allem der ›Judenfrage‹ von 1843«. Carl Schmitts Bruno Bauer, in: Klaus-Michael Kodalle / Tilman Reitz (Hg.), Bruno Bauer. Ein ›Partisan des Weltgeistes‹ ?, Würzburg 2010, 335–350

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

tatur 24 hat er sich deshalb über die Goethezeit auch nur noch selten geäußert. Er schrieb stets für die Mitwelt in aktueller Absicht und betrachtete sich nicht als Historiker. Das erklärt, weshalb er nach 1925, nach der erweiterten Neuauflage seiner Politischen Romantik, über die Romantik kaum noch schrieb.

3.

Manns »Überwindung« der Romantik

Manns »Gedankendienst mit der Waffe« ist vielfältig problematisch und ärgerlich. In Friedrich und die große Koalition und den Betrachtungen eines Unpolitischen stehen merkwürdige, peinliche und absurde Dinge. Mann vertrat aber immer eine Analogie von Mensch und Staat und betrachtete Staaten analog menschlicher Individuen als komplexe Schicksals- und Handlungseinheiten. Die Betrachtungen eines Unpolitischen schließen vom »persönlichen Ethos« des bürgerlichen Künstlers auf die staatliche Verfassung und formulieren die liberale Erwartung, dass der deutsche Staat das Grundrecht der Kunstfreiheit garantieren soll. Mann argumentiert im lebensphilosophischen Rahmen Nietzsches und rechtfertigt den autobiographischen Ansatz seiner Erlebnisaussprache als Streit um die Deutungshegemonie und philosophische Auslegung Nietzsches. Es gibt zwei Auslegungen von Nietzsches »Ästhetizismus«, meint er. Mit dem Schlusskapitel der Betrachtungen eines Unpolitischen heißen sie »Ironie und Radikalismus«. Während der Ironiker auf der Unterscheidung von Kunst und Politik besteht, kassiert der »Zivilisationsliterat« diese Unterscheidung und politisiert die Kunst. Er folgt der Demokratisierungsparole und vertritt eine »Identität von Politik und Demokratie« (XII, 121). Diese Demokratisierungsparole weist Mann auf breiter Front zurück. Er richtet sich, neudeutsch gesprochen, gegen eine Deutungshegemonie und Herrschaft der political correctness, die das Leben und die politischen Realitäten normativ verkennt. Systematisch zutreffend besteht Mann dagegen auf der Einsicht, dass zwischen Staaten und Verfassungen zu unterscheiden ist und die Legitimitätsfrage nicht auf den formalen Demokratisierungsmodus verengt werden darf. Es gibt defekte Demokratien und legitime konstitutionelle Monarchien. Carl Schmitt, Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, 1921, 2. Aufl. München 1928

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Manns »Überwindung« der Romantik

Das für das Romantikbild besonders einschlägige Kapitel »Von der Tugend« verteidigt die romantische »Menschlichkeit« gegen das »Moralbonzentum« des Jakobiners (XII, 382). 25 Mann rehabilitiert hier den Tugendbegriff und Tugenddiskurs, 26 indem er seine These vom brüderlichen Auslegungsstreit wieder aufnimmt. Er umklammert dabei seine Polemik gegen den »Jakobiner« durch längere Ausführungen zu Eichendorff und Hans Pfitzner. Es ist beachtlich, dass er sich hier nicht nur auf Eichendorffs Novelle, sondern auch auf die Neuausgabe 27 bezieht, die Emil Preetorius illustriert hatte. Preetorius gehörte zum engeren Münchner Freundeskreis und illustrierte damals Herr und Hund. Pfitzner gehörte ebenfalls zum Münchner Bekanntenkreis, und die Oper Palestrina interessierte Mann nicht zuletzt autobiographisch, hatte er doch einst im gleichnamigen italienischen Städtchen längere Zeit an den Buddenbrooks geschrieben. Mann rezipierte die Romantik des »Taugenichts« und von Palestrina also nicht zuletzt autobiographisch. Es ist signifikant und tragisch, dass Preetorius und Pfitzner sich 1933 beide gegen Mann entschieden. Einige schwierige Abrechnungen nach 1945 erfolgten gerade mit Weggefährten der Betrachtungen eines Unpolitischen – so auch im Falle Ernst Bertrams, der für die Betrachtungen der engste Gesprächspartner war. Mann nennt Eichendorffs Taugenichts den »deutschen Menschen«, das »Symbol reiner Menschlichkeit, human-romantischer Menschlichkeit« (XII, 382). Bei Pfitzner hebt er den »Konservatismus« hervor und ergreift im Streit mit Busoni für Pfitzner Partei. 28 Mann schreibt: »Wirklich ist der ›Palestrina‹ eine Dichtung, die obwohl ethisch noch höher stehend als künstlerisch, des fortschrittlichen Optimismus, der politischen Tugend also, völlig entbehrt. Sie ist Romantik nicht nur als Künstlerbekenntnis, sie ist es viel tiefer hinab, ihrer seelischen Neigung, ihrer geistigen Stimmung nach; ihre Sympathie gilt nicht dem Neuen, sondern dem Aus der Literatur Jens Ewen / Tim Lörke / Regine Zeller (Hg.), Im Schatten des Lindenbaums. Thomas Mann und die Romantik, Würzburg 2016 26 Dazu Herfried Münkler, Politische Tugend. Bedarf die Demokratie einer soziomoralischen Grundlegung?, in: ders. Hg., Die Chancen der Freiheit, München 1992, 25–46 27 Joseph von Eichendorff, Aus dem Leben eines Taugenichts, München 1914 28 Zum Streit Tim Lörke, Die Verteidigung der Kultur. Mythos und Musik als Medien der Gegenmoderne. Thomas Mann – Fredericco Busoni – Hans Pfitzner – Hanns Eisler, Würzburg 2010; Hans Rudolf Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt 2006; Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 774 ff, 796 ff 25

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

Alten, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit, nicht dem Leben, sondern –« (XII, 421)

Mann bricht seine Ausführungen ab und schiebt erst zwei Seiten später seine Formel von der »Sympathie mit dem Tode« (XII, 423) als »Schlusswort der Romantik« (XII, 425) nach. Wenn er darauf besteht, die Formel geprägt zu haben, rechnet er den »kleinen Roman« (XII, 424), an dem er längst schreibt und um der Betrachtungen eines Unpolitischen willen unterbrach, als Schlusswort der Romantik hinzu. Mann bezieht sich also auf die Spätromantik und stellt Religion und Musik gegen die Demokratisierungspolitik des Zivilisationsliteraten. Weidermann hat jüngst betont, dass Mann sich als Bürger zwar in der Revolution nicht politisch engagierte, die Zeitfragen aber umgehend in den Zauberberg übersetzte. Mann betrachtete die Münchner Revolutionspolitiker als Romantiker, knüpfte an die Betrachtungen eines Unpolitischen an und ging mit der romantischen Mittelalter-Rezeption auf vorneuzeitliche Träume vom »Gottesstaat« zurück. Chiliastische Träume vom »Gottesstaat«, wie sie das Spätmittelalter träumte, waren für einige anarchistische Revolutionspolitiker von 1918/19 wichtig. So publizierte Ernst Bloch 1921 in München, durch Schmitts Verleger und Freund Ludwig Feuchtwanger, sein Buch Thomas Münzer als Theologe der Revolution. 29 Nur eine Eintragung aus Manns Revolutionstagebuch vom 17. April 1919 sei aber für den Rückgang hinter die zeitgenössischen Chiliasten auf das Mittelalter zitiert. Mitten in die radikalste Phase der Münchner Rätediktatur hinein schreibt Mann: »Unterdessen bedenke ich den Zbg., den wieder in Angriff zu nehmen jetzt wirklich erst der Zeitpunkt gekommen ist. Im Kriege war es zu früh, ich musste aufhören. Der Krieg musste erst als Anfang der Revolution deutlich werden, sein Ausgang nicht nur da sein, sondern auch als Schein-Ausgang erkannt sein. Der Konflikt von Reaktion (Mittelalter-Freundlichkeit) und humanistischer Aufklärung durchaus historisch-vorkriegerisch. Die Synthese scheint in der (kommunistischen) Zukunft zu liegen: Das Neue besteht im Wesentlichen in einer neuen Konzeption des Menschen als einer Geist-Leiblichkeit (Aufhebung des christlichen Dualismus von Seele und Körper, Kirche und Staat, Tod und Leben), einer übrigens auch schon vor-

Ernst Bloch, Thomas Münzer als Theologe der Revolution, München 1921; vgl. Edgar Salin, Civitas Dei, Tübingen 1926; Jacob Taubes, Abendländische Eschatologie, Bern 1947

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Manns »Überwindung« der Romantik

kriegerischen Konzeption. Es handelt sich um die Perspektive auf die Erneuerung des christlichen Gottesstaates ins Humanistische gewendet, auf einen irgendwie transcendent erfüllten menschlichen Gottesstaat also, geistleiblich gerichtet; und Bunge [Naptha] sowohl wie Settembrini haben mit ihren Tendenzen beide so recht wie unrecht. Die Entlassung Hans Castorps in den Krieg also bedeutet seine Entlassung in den Beginn der Kämpfe um das Neue, nachdem er die Komponenten, Christlichkeit und Heidentum, erzieherisch durchkostet.« (TB 17. 4. 1919)

Manns publizistische Lage in München nach dem Erscheinen der Betrachtungen eines Unpolitischen ist hier nicht auszuloten. Berge von Büchern sind darüber geschrieben worden. Die Beziehungen zu Bertram, Preetorius oder Pfitzner sind monographische Themen. Gleiches gilt für die früheren Distanzierungen von Alfred Baeumler 30 und andere Autoren des Weimarer Nationalismus. Der Übergang zur Pariser Rechenschaft und die späteren Interventionen für die Weimarer Republik sind kleinteilig erforscht. Hier sind nur noch die NovalisReferenzen 31 der Rede Von deutscher Republik zu erwähnen, die für das Publikum fast noch überraschender kamen als die Wendung zur Republik selbst und nach 1922 im weiteren Weg auch keine größere Rolle mehr spielten. Kurzke 32 führte aus, dass Mann mit Novalis eine konservative Deutung der Romantik renovierte, die wirksam wurde. Der Griff nach Novalis war für den Übergang zum demokratischen Bekenntnis eine gute Wahl. Mann vergleicht die kritische Lage von 1922, kurz vor der Hyperinflation, zwar nicht mit der Lage um 1800 beim Zerfall des alten Reiches und Übergang zur nationalistischen Mobilisierung gegen Frankreich. Er entdeckt mit Novalis aber einen »katholisierenden Romantiker« und bekennenden »Royalisten« (XI, 835), der die republikanische Gesinnung der Jugend ansprach und einen »religiösen« und »divinatorischen« Sinn für die »Zukunft« hatte. Novalis war ein Chiliast des »tausendjährigen Reiches«. Seitenlang geht Marianne Baeumler (Hg.), Thomas Mann und Alfred Baeumler. Eine Dokumentation, Würzburg 1989 31 Dazu etwa Hans Wisskirchen, Die romantische Republik. Thomas Mann und die Demokratie von Weimar, in: Heinrich Oberreuther / Ruprecht Wimmer (Hg.), Thomas Mann, die Deutschen und die Politik, München 2008, 25–39; Heinrich Siefken, Thomas Mann. Novalis und die Folgen, in: Hanne Castein / Alexander Stillmark (Hg.), Deutsche Romantik und das 20. Jahrhundert, Stuttgart 1986, 121–140 32 Hermann Kurzke, Romantik und Konservatismus. Das »politische« Werk Friedrich von Hardenbergs (Novalis) im Horizont seiner Wirkungsgeschichte, München 1983, 36 ff 30

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

Mann in seiner Rede auf ihn ein. Er zitiert ihn für seine humanistische, universalistische und utopische Auffassung der »Republik« und propagiert mit Novalis die »Einheit von Staat und Kultur« (XI, 827) und »Einerleiheit von Humanität und Demokratie« (XI, 831). Mann grenzt sich von Nietzsche (XI, 836) und Spengler (XI, 841) ab und schließt Novalis forciert mit Walt Whitman kurz, der ihm damals durch Hans Reisiger nahegebracht wurde, um enthusiastische Überlegungen zum »Eros als Staatsmann, als Staatsschöpfer sogar« (XI, 848) anzuschließen und die frühere Rede von der »Sympathie mit dem Tode« in eine »Sympathie mit dem Organischen« (XI, 849) und ein »Erlebnis des Lebens« (XI, 851) umzudeuten. Mann spricht in seiner Rede Von deutscher Republik nicht von der Staatsform der Demokratie, oder gar verfassungsrechtlichen Fragen der Weimarer Republik, sondern von der positiven Möglichkeit, die Republik als politische Form von den Ressourcen der deutschen Nationalkultur her zu bejahen. Seiner früheren Rezeption der Spätromantik stellt er nun einen frühromantischen Autor zur Seite und deutet mit dem selektiven Zugriff an, dass die nationalkulturelle Identifikation nicht von Deutungskämpfen um eine positive und universalistische Auslegung des nationalen Erbes zu trennen ist. Mann wird hier in den folgenden Jahren verstärkt ins Vokabular von Fortschritt und Reaktion greifen und anti-universalistische und nationalistische Auslegungen der Romantik zurückweisen. In der Pariser Rechenschaft grenzt er sich von Baeumler ab, der einst die Betrachtungen eines Unpolitischen positiv aufgenommen hatte, und stellt später Sigmund Freud 33 in eine fortschrittliche und aufklärerische Rezeptionslinie der Romantik. Seine Joseph-Tetralogie ist dann ein großer und großartiger Ansatz zur utopischen und universalistischen Umdeutung und Humanisierung des Mythos. Wichtig ist hier, dass mit der vollmundigen Reklamation des Novalis die starken identifikatorischen Bezugnahmen auf die Romantik im engeren Sinne eigentlich verstummen. Der große Essay über Goethe und Tolstoi markiert diese strategische Umstellung der Kanonpolitik; er folgt in der Anlage Schillers Essay Über naive und sentimentalische Dichtung und revidiert und überbietet sie durch das komplexere Doppelgefüge von Goethe und Tolstoi, Schiller und Dostojewski. In den späten 1920er Jahren schreibt Mann zwar noch einen Essay zu Kleist. Die Dazu die Edition: Thomas Mann, Freud und die Psychoanalyse. Reden, Briefe, Notizen, Betrachtungen, Frankfurt 1991

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Schmitts Spiegel der Politischen Romantik

Romantik im engeren Sinne hat in seinem Werk aber nun ausgesungen; nietzscheanisch revidierte Weimarer Klassik ist angesagt.

4.

Schmitts Spiegel der Politischen Romantik

Es wurde bereits gesagt, dass Carl Schmitt ein intimer Kenner der Münchner Bohème und anarchistischen Szene war und seine Lage in historischen Parallelen spiegelte. Das wird 1922 im letzten Kapitel der Programmschrift Politischen Theologie deutlich, das eine Linie von de Maistre über Bonald zu Donoso Cortés zieht. Den zeitgenössischen Anarchismus spiegelte Schmitt durch Ausführungen zu Bakunin. 34 Buchstäblich schwieg er von den Zeitgenossen sehr weitgehend. Es ist deshalb nicht genau geklärt, wem er damals persönlich begegnete. Während Ernst Toller sich Mann als Verehrer näherte, lernte Schmitt später über Ernst Jünger sicher Ernst Niekisch näher kennen, der ihm seit 1933 dann ein erbitterter Gegner wurde. Im publizierten Materialienband über die Münchner Militärzeit 35 sind einige dienstliche Schriften und pseudonyme Zeitungstexte publiziert, in denen Namen fallen. Die gefährlichste Phase der Münchner Räterevolution nach der Ermordung Eisners, die kommunistische Rätediktatur (Leviné, Levien, Axelrod) von Mitte bis Ende April 1919, 36 erlebte Schmitt in der Münchner Stadtkommandantur. Er soll damals in persönliche Lebensgefahr geraten sein, hat sich darüber aber niemals schriftlich geäußert. Als Jurist hatte er selbstverständlich juristische Bedenken gegen Selbstjustiz. In seinem Buch über Die Diktatur erklärte er, dass »das Wesen des Notwehrrechtes darin besteht, dass durch die Tat selbst über seine Voraussetzungen entschieden wird«. 37 Nur in einer Fußnote zitiert Schmitt hier einen »Aufruf der kommunistischen Revolutionsleitung in Duisburg« von 1920 zum Standrecht und eine Bemerkung des Reichswehrministers: »›Da finden Sie das neue Staatsrecht‹. ›Da kommt das Erschießen fast vor dem Urteil, möchte

Dazu Carl Schmitt, Politische Theologie, 1922, Berlin 3. Aufl. 1979, 81 f Carl Schmitt, Die Militärzeit 1915 bis 1919, hrsg. Gerd Giesler / Ernst Hüsmert, Berlin 2005 36 Darstellung bei Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. V: Weltkrieg, Revolution und Reichserneuerung 1914–1919, Stuttgart 1978, 1113 ff 37 Schmitt, Die Diktatur, 1928, 179 34 35

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

man meinen.‹« 38 Schmitt formuliert hier zwar rechtstaatliche Bedenken gegen das kommunistische Standrecht, verteidigt aber grundsätzlich doch die Niederschlagung und Aburteilung der Münchner Rätediktatur. Schmitt hatte 1919/20 in München persönliche Kontakte zu Max Weber. 39 Er hörte Vorlesungen und Vorträge und saß in Webers Dozentenseminar. Der genaue Umfang dieser Kontakte ist nicht ermittelt. Auch erschien die – wahrscheinlich vor Kriegsende abgeschlossene – Politische Romantik Anfang 1919 einige Wochen nach Manns Betrachtungen, aber Monate vor Webers Münchner Rede über Politik als Beruf im Druck. In erster Annäherung lässt sich Schmitts Absage an die zeitgenössischen politischen Romantiker aber mit Webers Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungspolitikern vergleichen. Schmitt wirft den politischen Romantikern eine ideologische Orientierung und mangelnden Realismus vor. Wo er die »Romantik« exorziert, spricht Weber später, auch unter dem Eindruck des Toller-Prozesses, ambivalenter von verantwortungsloser »Gesinnung«. Weber lehnte »Gesinnungen« zwar nicht pauschal ab, kritisierte die reine Gesinnungsethik aber konsequentialistisch. Von Webers Rede unterscheidet Schmitts Kritik schon das geistesgeschichtliche Gewand. Die Monographie Politische Romantik gehört in die katholische oder katholisierende Phase, die spätestens 1925 mit der Publikation der zweiten Fassung des Essays Römischer Katholizismus und politische Form endete. Während dieser Katholizismus-Essay sich aber nicht theologisch auf die Kirche bezieht, sondern lediglich die autoritäre Form preist, befasste sich Schmitt in den Münchner Jahren, auch im Gespräch mit Franz Blei, mit einer theologischen Rechtfertigung der Kirche. 40 Unter dem Eindruck des Weltkriegs neigte er damals religiöser Apokalyptik zu. Das ist für seine Politische Romantik wichtig, die zwischen Gegenrevolution und ästhetisierender Ro-

Schmitt, Die Diktatur, 1928, 177 Fn. Zur Kritik von Webers »Machtstaatsgedanken« geradezu klassisch schon Wolfgang J. Mommsen, Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1959; zurecht machte Friedrich Ebert nicht Weber, sondern den liberaleren Hugo Preuß zum Staatssekretär und »Vater« der Weimarer Reichsverfassung. Das zeigt eindrucksvoll Michael Dreyer, Hugo Preuß. Biographie eines Demokraten, Stuttgart 2018 40 Carl Schmitt, Die Sichtbarkeit der Kirche. Eine scholastische Erwägung, 1917, Wiederabdruck in: Schmitt, Die Militärzeit, 2005, 445–452 38 39

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Schmitts Spiegel der Politischen Romantik

mantik strikt unterscheidet und nicht zuletzt gegen modernistische Romantisierungen der Kirche zielt. Diese »katholische« Kritik der Romantik ist neben der starken Rezeption der französischen Literatur eine Eigenart von Schmitts Schrift. Sie richtet sich gegen die Romantisierung des Katholizismus und romantische Auffassungen der »organischen« Staatslehre. Schmitt steht also in anderen Rezeptionslinien und polemischen Fronten als Mann oder etwa ein zeitgenössischer Germanist und adressierte sich mehr an die innerkatholische Debatte. Während er Othmar Spann und verwandte katholische Kreise hier früh schon erbittert ablehnte, trennte er sich von Ernst Robert Curtius, Hugo Ball und Waldemar Gurian erst nach intensiven Auseinandersetzungen im Verlauf der 1920er Jahre. Von Anfang an vertrat Schmitt eine genuin juristische und antiindividualistische Rechts- und Staatstheorie. Das Buch Politische Romantik schrieb er 1917/18 und korrigierte in die Umbruchzeit hinein die Fahnen. Anfang 1919 erschien das Buch, dessen Entstehung in die biographisch dunkelste Zeit fällt. Weshalb Schmitt dieses Buch, zwischen Münchner Heeresverwaltung und Straßburger Universität pendelnd, eigentlich schrieb, ist unklar. Den gängigen Erwartungen an einen werdenden Staatsrechtslehrer war es exzentrisch. Zwar arbeitete Schmitt damals bereits an seiner Begriffsgeschichte der Diktatur; er wollte aber auch seine Individualismuskritik zu einem geistesgeschichtlichen Abschluss bringen. Weder Hegel noch Kierkegaard werden im Buch als romantikkritische Vorgänger eingehender dargestellt; Schmitt bezieht sich mehr auf die französische Romantikforschung; die Anregung durch Hegel und hegelianisierende Autoren wie Ruge und Haym ist aber unübersehbar. 41 Schmitt kritisiert die politische Romantik exemplarisch am »Typus« (PR 27) und Beispiel Adam Müllers. Novalis und Friedrich Schlegel zieht er nur ergänzend heran. Zwei Müller-Kapitel umklammern zwei Kapitel zur »Struktur des romantischen Geistes«. Schmitt übernimmt zwar polemische Topoi von Hegels Romantikkritik; Hegel konzentrierte sich aber auf Friedrich Schlegel und führte die romantische Auslegung moderner Subjektivität philosophiegeschichtlich auf den »subjektiven Idealismus« seines Berliner Vorgängers Johann Gottlieb Fichte zurück; Schmitt verlagert die philosophiegeschicht-

Das sah schon Karl-Heinz Bohrer, Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne, Frankfurt 1989, 284–311

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Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

liche Herleitung dagegen von Kant und Fichte auf Descartes und Malebranche und definiert die Romantik eigenwillig als »subjektiven Occasionalismus« (PR 23 f, 140 f, 147). Wo Hegel von einer »Säkularisierung« und Subjektivierung des transzendentalen Idealismus spricht, konstatiert Schmitt eine Subjektivierung des Okkasionalismus. Während Hegels Ansatz als philosophiegeschichtlicher Befund nicht unzutreffend ist, dürfte die Wendung zu Malebranche eine historisch merkwürdige Fremdzuschreibung sein: Die Romantiker haben Kant und Fichte gelesen; Malebranche aber haben sie kaum gekannt. Methodisch wechselt Schmitt damit aus der philosophiehistorischen Studie in einen Essay über. Dem Essay ist externe Fremdzuschreibung erlaubt; er darf eine Definition vorgeben, die nicht mit den Selbstbeschreibungen der Romantiker identisch ist. Schmitt übernimmt zwar fast alle Aspekte von Hegels Romantikkritik; er kritisiert den Typus des Romantikers moralistisch wie Hegel als eitlen, ästhetizistischen Bourgeois, der sich an die Stelle Gottes setzt, betrachtet die Romantik aber darüber hinaus auch als pseudokonservative »Reaktion gegen den modernen Rationalismus«, die die »höchste Realität« der alten Metaphysik, das vorreflexive Sein Gottes, durch moderne Ideen von »Volk« und »Geschichte« ersetzte (PR 86 ff). Mit der Formel vom »subjektiven Okkasionalismus« streicht er die Epigonalität der Romantik als »Reaktionsform« (PR 84) heraus. Er profiliert die katholische Kirche, Ontologie und Theologie gegen die Romantik und trennt geistesgeschichtlich zwischen Gegenrevolution und Romantik. Burke, Bonald und de Maistre, Gentz, Haller (PR 47) und auch Stahl (PR 95) schichtet er von der Romantik ab. Schmitt kritisiert, dass die Romantik vor der normativen Entscheidung über »Recht und Unrecht« (PR 161, 205), der Parteinahme und politischen Aktion in ein passives Vertrauen auf die »organische« Entwicklung (PR 80 ff) und sentimentalische Betrachtungen und »Begleitaffekte« auswich. Am Ende unterscheidet er zwischen politischer Romantik, die keine echten Entscheidungen kenne, und romantisierender Politik, die unter den Zeitgeist geraten ist. Das Buch schließt mit einem eigenartigen Exkurs zu David Friedrich Strauss und dessen Verzeichnung der heidnischen Religionspolitik des spätrömischen Kaisers Julian. Schmitt endet mit liberalen und romantischen Verfremdungen von Politik. Was er dagegen selbst vertritt, wird zwar nicht explizit, die Politische Romantik weist mit ihrer Disjunktion von Gegenrevolution und Romantik aber zweifellos auf die 122 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Schmitts Spiegel der Politischen Romantik

Programmschrift Politische Theologie und Option für die Gegenrevolution voraus. Dabei ist beachtlich, dass Schmitt Anfang 1919 noch den okkasionalistischen Gottesbegriff und Katholizismus gegen die Romantik ausspielt und Gentz, Haller und die Restauration nicht zur Romantik zählt. Donoso Cortés ist noch nicht erwähnt und es gibt noch keine klare Absage an die dynastische Legitimität und Restauration. Ausdrücklich sagt Schmitt vielmehr: »Legitimität aber ist eine unromantische Kategorie.« (PR 171) Wenn er über die romantische Mobilisierung der »Gefühle von Liebe und Treue« (PR 158 ff) gegenüber dem Staat eingehend spottet, könnte das 1918, als Schmitt die Politische Romantik abschloss, noch auf eine Verteidigung des militanten Wilhelminismus gegen das Bürgertum zielen. Eine starke Absage an den Monarchismus ist jedenfalls nicht herauszulesen, eher Spott auf die bürgerliche Verklärung und Ästhetisierung des Staates. Damit erscheint die Schrift als ein letztes Abwehrgefecht in der Option für die Gegenrevolution. Viele Eigenheiten, Fehler und Verzerrungen ließen sich monieren: Das Adam Müller-Bild ist offenbar ungerecht. Wichtige Romantiker wie Franz von Baader und Joseph Görres kommen kaum vor. Schmitt diskutiert Müllers freundschaftliche Zusammenarbeit mit Kleist nicht und ignoriert so das Verhältnis von Preußentum und Romantik. Er kritisiert die Modernität der Romantik einseitig und verbucht die konservativen Motive und Bemühungen auf das Konto des politischen Opportunismus. Den offenkundigen Beitrag der Romantik zur Nationalisierung des Verfassungsdenkens erörtert er nicht und geht so an der romantischen Entdeckung des Nationalstaats vorbei. Wenn er dagegen die Romantiker als politische Opportunisten entlarvt, liest sich das Buch wie eine vorweggenommene Selbstinquisition. Wie eine Selbstbeschreibung liest sich Schmitts seitenlange Abrechnung mit Müllers »Argumentationssystem« (PR 144 ff) und »oratorischem Talent« (PR 182 ff). »Nur als oratorische Leistung darf man Müllers Argumentation beurteilen« (PR 191), schreibt Schmitt. Polare Begriffsbildungen kennzeichneten aber auch seine »Lehre vom Gegensatz«. Schmitt musste sich mit seiner Romantikkritik zur Option für die Gegenrevolution selbst überreden. Der Name Adams Müllers ließe sich im Buch deshalb auch durch »Carl Schmitt« ersetzen. Als eine solche Selbstentlarvung und Selbstinquisition des politischen Romantikers haben frühe Kritiker das Buch sogleich gelesen: Sie richteten das Charakterbild vom politischen Opportunisten gegen 123 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Romantik-Aktualisierungen bei Thomas Mann und Carl Schmitt

Schmitt selbst. 42 Schmitts Polemik war demnach ein Schattengefecht, wie Manns Betrachtungen es waren. Was Mann aber ironisch sah, oder zu betrachten versuchte, schien Schmitt bitter ernst zu nehmen. Ironie verbindet man nicht mit seinem Werk. Im Spiegelgefecht zeigt sich eine Familienähnlichkeit zwischen Müller und Schmitt. Später wird Schmitt sagen: Der Feind ist die »eigne Frage als Gestalt«. Die Literatur hat den Sachgehalt von Schmitts Polemik vielfältig bestritten. Ich kann das nicht entscheiden. Was aber für Mann bereits bemerkt wurde, gilt jedenfalls auch für Schmitt: Mitte der 1920er Jahre verabschiedete er die Romantik ziemlich plötzlich und vollständig aus seinem Referenzkanon. Nach Erscheinen seiner Monographie über Die Diktatur nahm er zwar Anfang der 1920er Jahre seine Romantikstudien beiläufig wieder auf; er schrieb eine kritische Rezension, 43 interessierte sich verstärkt für die europäische Dimension der Romantik und schrieb intensiv an der – bei Ernst Robert Curtius eingereichten – Dissertation seiner irisch-australischen Geliebten Kathleen Murry über Taine und die englische Romantik 44 mit. Er erweiterte seine Politische Romantik 45 und ergänzte sie für die zweite Auflage von 1925 um ein Vorwort. 46 Eine gekürzte französische Übersetzung wurde dann zu seiner ersten größeren fremdsprachlichen Publikation. Schmitt orientierte sich damals aber kanonpolitisch um. Er verlegte sich dabei jedoch nicht, wie Mann, auf die WeiJohannes Kirschweng, Der Romantiker Carl Schmitt, in: Rhein-Mainische Volkszeitung Nr. 16 vom 21. Januar 1926; Wiederabdruck in: Schmittiana I N.F. (2011), 108–110; Waldemar Gurian (Paul Müller), Entscheidung und Ordnung. Zu den Schriften von Carl Schmitt, in: Schweizerische Rundschau 34 (1934/35), 566–576; Karl Löwith, Politischer Dezisionismus, in: Internationale Zeitschrift für Theorie des Rechts 9 (1935), 101–123; Gottfried Salomon, Staatsrecht in Deutschland, in: Emil J. Gumbel (Hrsg.), Freie Wissenschaft. Ein Sammelbuch aus der deutschen Emigration, Strasbourg 1938, 174–189 43 Zur damaligen Debatte vgl. Ellen Thümmler u. Reinhard Mehring (Hg.), »Und erwähnen Sie die Negerplastik«. Waldemar Gurian / Carl Schmitt. Briefwechsel 1924–1932, in: Schmittiana I N.F. (2011), 59–111; Carl Schmitt, Rezension von Paul Kluckhohn, Persönlichkeit und Gemeinschaft. Studien zur Staatsauffassung der deutschen Romantik, Halle 1925, in: Deutsche Literaturzeitung 22 (1926), Sp. 1061–1063 44 Kathleen Murry, Taine und die englische Romantik, München 1924; dazu auch die Materialien in Verf., ›… mit symbolischer Bedeutung in der Bahnhofstraße‹. Carl Schmitts Greifswalder Intermezzo, in: Joachim Lege (Hg.), Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815 bis 1945, München 2009, 323–354 45 Dazu auch Carl Schmitt, Politische Theorie und Romantik, in: Historische Zeitschrift 123 (1921), 377–397 46 Separatveröffentlichung Carl Schmitt, Romantik, in: Hochland 22 (1924), 157–171 42

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Schmitts Spiegel der Politischen Romantik

marer Klassik, sondern auf die Konstellation um 1848. Seine alternative Auffassung des Katholizismus legte er 1926 ad acta und optierte nach seinem Wechsel nach Berlin bald für den autoritären Umbau des Präsidialsystems und später den Nationalsozialismus. Die romantische Antwort auf 1789 interessierte ihn nicht weiter. Manns Werk ist durch Schmitts Politische Romantik fraglos getroffen. Das zeigt sich schon im Vergleich der Novalis-Bilder: Mann wählte Novalis als Romantiker und Utopiker des Übergangs zur bürgerlichen Republik, als divinatorischen »Seher« der »Zukunft«, während Schmitt Novalis als politischen Denker von den Resultaten von 1815 her ignorierte. Mann argumentierte vielfach etwa so, wie Schmitt es dem romantischen Typus unterstellte. Er relativierte normative Geltungsansprüche im »Bedürfnis nach Gleichgewicht«, ging hinter die Staatsformenfrage auf die Nationalkultur zurück, setzte auf Ironie und »organische« Entwicklung, »Menschheit« und »Geschichte«. Es wurde gezeigt, dass die Auseinandersetzung mit der Romantik je am Anfang der politischen Entwicklung stand. Mann und Schmitt wandten sich beide in den 1920er Jahren dann anderen kanonpolitischen Referenzen zu und kehrten nicht wieder zu den Autoren der politischen Romantik zurück. Liberalismus, Demokratie und neuhumanistischer Universalismus wurden für Mann grundlegend, Schmitt buchstabierte dagegen den Pfad der Diktatur verstärkt aus. Die Romantikdiskurse des Umbruchs von 1918/19 waren vielleicht überhaupt passager. Die Weimarer Verfassung war damals noch nicht in Kraft. Mit der Formierung der Republik änderte sich der Rahmen und der Nationsdiskurs konnte bald durch sachhaltigere Debatten um Liberalismus, Parlamentarismus und Demokratie ergänzt und abgelöst werden. Die Diskurse differenzierten sich neu aus. Der Staatsrechtslehrer trat in juristische Debatten ein und der Großschriftsteller ging auf lange Fahrt nach Ägypten und übersetzte den Romantikdiskurs in einen Orientalismus, der eine positive Humanitätsvision utopisch fasste. Mann und Schmitt bezogen sich beide gerade in der Umbruchzeit 1918/19 in München auf die Romantik. Während Mann die Romantik aber liberalkonservativ rezipierte und rettete, exorzierte Schmitt sie irgendwie katholisch und gegenrevolutionär.

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V. Der Zauberberg als Identifikationsmodell

Vielleicht war die Philosophiegeschichte lange wirklich eine Serie von »Fußnoten zu Platon«. Jedenfalls hat Platon sie in weiten Teilen mehr oder weniger vorgezeichnet. Auch Goethe oder Wagner wurden aber später zu Diskursbegründern. Das lässt sich für Thomas Mann zwar nicht in der gleichen Weise sagen, aber auch sein Werk wirkte vielfältig und stark. Legionen von Wissenschaftlern erwiesen ihm ihre Referenz. So wirkten etwa die Buddenbrooks als Muster und Interpretament für die Bürgertumsforschung, Firmen- und Familiengeschichtsschreibung. Jüngst wurde Der Zauberberg erneut als narratives Modell für die Philosophiegeschichtsschreibung der Zwischenkriegszeit adaptiert. Eine solche Literarisierung, Pädagogisierung, Didaktisierung und Popularisierung war im Fachdiskurs lange verpönt und wurde erst seit den 1980er Jahren möglich. Nach Vorbemerkungen zu dieser Reliterarisierung des Fachdiskurses werden hier drei Formen der Adaption des Zauberberg-Narrativs skizziert: Heideggers identifikatorische Lektüre, die institutionelle Adaption durch die Davoser Hochschulwochen und Wolfram Eilenbergers Übernahme des Modells für die Philosophiegeschichtsschreibung.

1.

Didaktisierung und Popularisierung

Die Philosophiegeschichtsschreibung rekonstruiert den Schritt »vom Mythos zum Logos« spätestens seit Hegel philologisch differenziert. Man könnte aber auch sagen: Ohne Logos ist der Mythos kein Mythos. Erst mit Platons Ausdifferenzierung begrifflicher Ansprüche und Argumentationsstandards gibt es eine Limitation des Geltungsanspruchs philosophischer Erzählungen. Platon trennte zwischen Philosophie und Literatur und schuf Mythen mit literarischen Mitteln zum philosophischen Zweck. Aristoteles entpoetisierte dann den philosophischen Diskurs und rationalisierte mit seinem Organon die 126 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Didaktisierung und Popularisierung

Standards der Wissenschaftsprosa. Seitdem gibt es diskursethische Regeln idealer Wissenschaftssprache. Das Modell des »herrschaftsfreien« Diskurses, der nur dem »zwanglosen Zwang« der besseren Argumente folgt, ist freilich utopisch; faktisch sind Diskurse immer strategisch und agonal. Nietzsche zeigte gerade an Sokrates, dass auch die philosophische »Vernunft« und der Furor der Verbegrifflichung ein Mittel der Herrschaft ist; er betrachtete die Diskursherrschaft als Waffe der Schwachen und Ausdruck des Ressentiments. Eine scharfe Trennung zwischen den akademisch-philosophischen und den politischen Schriften, wie sie Habermas mit seiner Reihe »kleiner politischer Schriften« markierte, ist sachlich demnach schwerlich möglich. Auch bei Habermas lassen sich philosophische Theorie und politische Praxis nicht strikt trennen; auch er betrieb Schulpolitik und Schulbildung. Gerade die Universität ist ein strategischer Raum mit knappen Ressourcen und hohem Qualifizierungs- und Karrieredruck. Es ist eine sehr optimistische und idealistische Erwartung, dass natürliche Personen in solchen Kontexten tatsächlich als Verfasser und Autoren wahrhaftig meinen, was sie schreiben oder sagen. Oft wissen sie ohnehin selbst nicht genau, was sie eigentlich meinen und für welche Positionen sie stehen. Diesen Einwand gegen das Meinungswissen hat Platon schon formuliert. Der diskursethischen Idealisierung des akademischen Diskurses, wie sie Habermas entwickelte, traten seit den 1980er Jahren im Zeichen der »Postmoderne« und des medialen Strukturwandelns der Öffentlichkeiten deshalb auch neue Formen der Literatisierung des philosophischen Diskurses entgegen. Richard Rorty 1 proklamierte Ironie und Kontingenz. Der fachsprachlichen Professionalisierung und Spezialisierung der Diskurse begegnete man mit gegenläufigen Didaktisierungen und Dogmatisierungen, Simplifizierungen und Trivialisierungen. Mit dem Ausbau von Philosophie und »Ethik« als Schulfach, parallel zum Niedergang christlich-konfessioneller Bindungen, wurde Philosophiedidaktik lehrstuhlfähig. »Philosophie für Kinder« und Jugendliche etablierte sich. Die Einführungsliteratur schreckte nicht mehr davor zurück, ihre Initiationsfunktion zu familiarisieren und Doxographie in den Gestus des Märchenonkels zu kleiden. Sofies Welt (1991) übernahm das popularphilosophische Er-

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Richard Rorty, Kontingenz, Ironie und Solidarität, Frankfurt 1989

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Der Zauberberg als Identifikationsmodell

be von Gustav Schwabs Sagenerzählungen. 2 Die Philosophie tritt heute in neuen Medien und Formaten auf den Markt.

2.

Heidegger als Leser des Zauberberg

Mann hatte seinen Zauberberg als Laboratorium der europäischen Auseinandersetzungen aufgefasst und mit der Pariser Rechenschaft autobiographisch beglaubigt. Der Bezug auf den Zauberberg ist dort überall explizit: »Sind wir einig? Ich höre Sie sagen, dass diese Settembrini, Naphta, Peeperkorn, Chauchat nicht Puppen und Doktrinen sind, sondern Arten zu sein, nicht nur individuelle, sondern die ganzer Völker. Ich höre Sie hinzufügen, dass man in Frankreich die ›Betrachtungen eines Unpolitischen‹ besser versteht, seit man den ›Zauberberg‹ kennt, und ich bin glücklich, weil ich dem Gefühl unterliege, das vielleicht eine Täuschung ist, dass, wo die Künstler sich verstehen, auch die Völker einander verstehen müssen.« (XI, 35)

Das Credo des Zauberberg war eigentlich nicht sonderlich optimistisch. Der Roman zeigte Gedanken im Krieg und endete mit dem »Donnerschlag« des Kriegsbeginns. Dieser Zauberberg war mehr Grand Hotel Abgrund als Aussicht auf die »große Gesundheit« (Nietzsche) und Genesung. Wie das Schiff ist das Hotel eine Daseinsmetapher. Luxusliner und Grand Hotels waren Eventräume des Ancient Regime vor 1914. 3 Mann hätte seinen Zauberberg auch auf der Titanic situieren können; er folgte aber eigenen Anschauungen und Erfahrungen: Katia Mann lebte einige Zeit in Sanatorien; 4 Mann besuchte sie und hätte selbst dort verbleiben sollen (XI, 604 f). Seine Modellierung des Laboratoriums hat sogleich intensiv gewirkt. Hans Jonas, ein Marburger Studienfreund Hannah Arendts, erinnert sich: »Wir alle aus meinem zionistischen oder philosophisch-akademischen Freundeskreis hatten natürlich Thomas Manns Zauberberg gelesen; jeder Gustav Schwab, Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, 3 Bde., Stuttgart 1838/40 3 Dazu vgl. Habbo Knoch, Grandhotels. Luxusräume und Gesellschaftswandel in New York, London und Berlin um 1900, Göttingen 2016 4 Dazu vgl. Katia Mann, »Liebes Rehherz«. Briefe an Thomas Mann 1920–1950, Würzburg 2016 2

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Heidegger als Leser des Zauberberg

konnte bei irgendwelchen Gelegenheiten daraus zitieren oder Anspielungen machen, die sofort verstanden wurden. Hier und in Joseph und seine Brüder steckt oft mehr als in der ganzen phänomenologischen Schule, von Husserl selbst einmal abgesehen – eine Seite Thomas Mann enthält tiefere Einsichten als ganze Abhandlungen über die Konstitution der Gegenstandswelt in intentionalen Akten des Bewusstseins. Ein großer Dichter!« 5

Jonas berichtet, wie Arendt ihm als »Confident« in Marburg vom Beginn ihrer Liebesbeziehung im Wintersemester 1924/25 erzählte: Heidegger sei einfach vor sie auf die Knie gefallen und habe sie angefleht! 6 Im Sommer 1925 lieh sie Heidegger dann den Zauberberg als Beziehungsspiegel. Ihre Beziehung verlief zwar nicht so platonisch wie Castorps Liebe zu Clawdia Chauchat; sie wurde sogleich intim. Heideggers frühe Briefe vom Sommer 1925 sind dennoch autobiographisch aufschlussreich. 7 Heidegger reflektiert hier identifikatorisch auf sein Verhältnis mit Arendt: Seit einiger Zeit plagt ihn, den »das Dämonische« getroffen hat, 8 eine »rätselhafte Erkältung«. 9 Da die »Infektion« ihn im Juli noch quält, liest er den Roman, dem »ärztlichen« Sinn des Romans getreu, zur Erholung von der Krankheit. Gegenüber Arendt hebt er vor allem zwei Aspekte hervor: Zunächst bemerkt er das experimentalpädagogische Motiv der Prägung einer Lebensform durch die Lebenswelt: »Aber dass das Phänomen wie das Dasein von seiner Umwelt gelebt wird und nur vermeintlich selbst lebt, das ist mit einer Meisterschaft angesetzt, dass ich vorläufig einzig darauf konzentriert bleibe.« 10

Dann liest er den Roman – gegenüber Arendt – vor allem als Liebesroman. Nach Abschluss der Lektüre meint er: »Den Zauberberg habe ich zu Ende gelesen. Eigentlich ist mir der Anfang des II. Bandes etwas schwach und unsicher – der Schluss entsprechend aufgemacht. Solche Szenen wie das nächtliche Gelage, das Peeperkorn veranstaltet, vermag nicht jeder zu gestalten. Diese Figur hat wirklich ›Rasse‹, und die Geschichte der Madame Chauchat ist glänzend geführt – weil es ein Ende ohne Ende ist, und so denke ich mir, dass Hans Castorp, wenn er später im Felde im nassen Graben mit seinem Gewehr lag, an sie ›denken‹ musste, Hans Jonas, Erinnerungen, Frankfurt 2003, 101 f Jonas, Erinnerungen, 114 ff 7 Hannah Arendt / Martin Heidegger, Briefe 1925 bis 1975 und andere Zeugnisse, hrsg. Ursula Ludz, Frankfurt 1998 8 Arendt/Heidegger, Briefe, 14 9 Arendt/Heidegger, Briefe, 32 10 Arendt/Heidegger, Briefe, 40 5 6

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Der Zauberberg als Identifikationsmodell

und dass irgendwo – sie an ihn ›dachte‹, und dass sie das heute noch tun. Was so unausgesprochen im Ganzen steht, ist wirklich das Positivste. Das Kriterium für das Werk liegt für mich darin, dass ich es bald wieder lesen werde – wenn auch nur in einzelnen Partien. Und diese muss man studieren. Die ›Zeit‹ wird man nicht allzu hoch in Rechnung stellen. Aber vielleicht ist Kritik hier überhaupt sinnlos.« 11

Damit ist einiges über die Beziehung zu Arendt gesagt. Die dionysische Szene des Gelages, das philosophische Symposion, wendet Heidegger hier gegenüber Arendt mit der Rede vom »nassen Graben« und »Gewehr« zwar leicht anzüglich und erotisch; er sieht sich damals aber bereits nicht mehr in der Lage des Genesenden, sondern des standhaften Soldaten, dem nur die Erinnerung an die Affäre bleibt. Dem Krankenbett entstiegen, entsagt er (als Familienvater) der Liebeskrankheit um seines philosophischen Werkes willen 12 und schreibt Sein und Zeit. Er versichert Arendt jedoch weiter seiner Liebe und übersetzt die erotische Inspiration ins Werk: »Zerrissenheit und Verzweiflung vermag nie so etwas zu zeitigen wie Deine dienende Liebe in meiner Arbeit«, schreibt Heidegger schon wenige Wochen nach Beginn des Verhältnisses. 13

3.

Die Davoser Hochschulwochen

Der Systemumbruch vom Wilhelminismus zur Weimarer Republik war eine Zeit pädagogischer und bildungspolitischer Reformen. 14 Auch die »Idee der Universität« wurde – nicht nur von Jaspers und Heidegger – neu verhandelt. Mit der Arbeiterbewegung entstand eine Volkshochschulbewegung. Den Technischen Universitäten folgten Kunsthochschulen und pädagogische Akademien als alternative Formen der Akademisierung von Ausbildungsgängen. Aber auch die Rollenverteilung zwischen den Akademien und Universitäten wurde neu debattiert. Die universitäre »Einheit von Forschung und Lehre« geriet unter Druck und mit der Professionalisierung des »Fachbetriebs« brach eine Kluft zwischen »Bildung« und »Ausbildung«

Arendt/Heidegger, Briefe, 45 Arendt/Heidegger, Briefe, 54 13 Arendt/Heidegger, Briefe, 26 14 Dazu zeitgenössisch etwa Hermann Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 1933, 3. Aufl. Frankfurt 1949 11 12

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Die Davoser Hochschulwochen

auf, die Max Weber in Wissenschaft als Beruf prägnant und wirkmächtig formulierte. Wenn der Fachbetrieb den alten Traum von der philosophischen »Muße« und kontemplativen Lebensform kassiert, sucht man neue Räume und Formen der »Bildung«. Sommerakademien wurden nach 1918 zu Laboratorien der internationalen Begegnung und Verständigung. Kurorte haben stets ein kulturelles Begleitprogramm; ein Luxuskurort wie Davos hat bis heute größte Anziehungskraft für Gipfeldiplomatie und Weltkongresse. Die philosophische Hochstilisierung eines solchen Kongresses zur Avantgarde des Weltgeistes hätten die Davoser Hochschulwochen der 1920er Jahre schwerlich ohne Manns Zauberberg erfahren. Mann urbanisierte mit dem Roman den Höhenrausch von Nietzsches Also sprach Zarathustra. Zarathustras »Höhle« mutierte hier gleichsam zum Grand Hotel und statt des »Eselfestes«, das die ersten Jünger in der Abwesenheit ihres Moses feierten, gab es eine »Walpurgisnacht«. Der Roman wurde 1925 sofort ein literarischer Welterfolg. Es ist kaum denkbar, dass die Initiatoren und Organisatoren der Davoser Hochschulwochen bei ihren Planungen nicht auch an dieses Modell gedacht haben. Gut möglich, dass Mann in der einen oder anderen Weise eingeladen wurde. Er hätte das gewiss gelassen hingenommen. Vielleicht hätte er 1929 dann seine Rede über Lessing variiert und wäre in der Auseinandersetzung mit Heidegger an die Seite Cassirers getreten. Ein Spiritus Rector und Initiator der Davoser Hochschulwochen war Gottfried Salomon (1892–1964), 15 ein Simmel-Schüler und bedeutender Soziologe, der sich 1921 in Frankfurt habilitiert hatte und sich insbesondere für den deutsch-französischen Wissenschaftsaustausch als Verständigungsprojekt engagierte. 1925 wurde er unbesoldeter Extraordinarius in Frankfurt. Er lebte dann einige Zeit in Paris und wurde 1928 ein Mitarbeiter Karl Mannheims. Als Jude verlor er 1933 seine Venia und emigrierte zunächst nach Paris, später in die USA. 1958 kehrte er nach Frankfurt zurück. Salomon organisierte die Davoser Tagungen ausdrücklich als europäisches Verständigungsprojekt. 16 Seine Absichten gingen weit über ein philosophisches Gipfelgespräch zweier Meisterdenker hinaus. Die Davoser Hochschulwochen sind heute zwar vor allem durch die Auseinandersetzungen Dazu vgl. Gottfried Salomon, Schriften, hrsg. Christoph Henning, Wiesbaden 2011 Dazu vgl. Gottfried Salomon, Eröffnungsansprache, in: Davoser Revue 3 (1928), Nr. 7 vom 15. April 1928, 6–9

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Der Zauberberg als Identifikationsmodell

zwischen Heidegger und Cassirer bekannt; es gab in den Jahren 1928 bis 1931 aber vier Hochschulwochen und alle waren prominent, international und interdisziplinär besetzt. 17 Auf der ersten sprach u. a. Carl Schmitt über »moderne Verfassungslehre«, und seine Tagebücher 18 geben einen Eindruck vom geselligen Treiben. Schmitt sprach mit diversen Teilnehmern, assoziierte sich aber auch amourös mit einer Tänzerin namens Georgette. Tagungen dienen stets der Bekanntschaft und Begegnung. Heidegger beruhigte seine Gattin, dass ihn vor allem die Skitouren interessierten. Die Kontroverse zwischen Cassirer und Heidegger war nur ein Event von vielen. Eine breite historische Analyse des Ablaufs und Projekts in seiner prototypischen hochschulpolitischen Bedeutung wäre eine reizvolle Aufgabe.

4.

Mann in der Zeit der Zauberer

Wer die philosophischen Innovationen des 20. Jahrhunderts nicht von Nietzsche her schreibt und etwa Löwiths 19 prägnanter Markierung eines »revolutionären Bruchs« zwischen Hegel und Nietzsche folgt, betrachtet die »Lebensphilosophie« der Jahrhundertwende als Vorgänger der paradigmatischen Innovationen nach 1918. Die Meisterdenker der Zwischenkriegszeit gelten lange schon als »Klassiker«. Norbert Bolz 20 konstellierte sie als Antwort auf Max Weber; Bolz sprach von einem Auszug aus der entzauberten Welt und »ExodusImpuls« der philosophischen Charismatiker. Konvergenzen wurden immer wieder beobachtet; Heidegger und Wittgenstein etwa wurden in der Wendung zur Sprachphilosophie verglichen. 21 Die philosophische Biographik hat ihre Rechtfertigung im sokratischen Konnex von Theorie und Praxis, Leben und Werk. Popularisierende Philosophiegeschichten personalisieren häufig klassikerzentriert. Manfred Teilnehmerliste aller Tagungen in: wikipedia.org/wiki/Davoser_Hochschulkurse (Zugriff 23. 3. 2018) 18 Carl Schmitt, Tagebücher 1925 bis 1929, Berlin 2018, 216 ff; zur Korrespondenz mit Salomon: Schmittiana III N.F. (2016), 86 ff 19 Karl Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, Zürich 1941 (die Rede vom »revolutionären Bruch« findet sich im Untertitel erst in späteren Auflagen) 20 Norbert Bolz, Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen, München 1989 21 Thomas Rentsch, Heidegger und Wittgenstein. Existential- und Sprachanalysen zu den Grundlagen philosophischer Anthropologie, Stuttgart 2003 17

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Mann in der Zeit der Zauberer

Geier 22 parallelisierte Heidegger und Wittgenstein unlängst in einer anregenden Doppelbiographie als letzte Metaphysiker. Wolfram Eilenberger adaptierte Manns Zauberberg-Narrativ für das »große Jahrzehnt der Philosophie« 1919–1929, sprach von einer Zeit der Zauberer und betrachtete die Davoser »Disputation« zwischen Cassirer und Heidegger als »einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Denkens«: 23 »Hätte Davos nicht tatsächlich stattgefunden, zukünftige Ideenhistoriker hätten es im Nachhinein erfinden müssen.« 24 Eilenbergs Adaption des Davos-Mythos konzentriert sich ganz auf dieses »Ereignis«. Dabei folgt sie der Dramaturgie Manns: »Die traumgleiche, insulare Atmosphäre eines Davoser Kurhotels war es ja auch, die Thomas Mann zu seinem 1924 erschienenen Roman ›Der Zauberberg‹ inspiriert hatte. Die Davoser Disputation von 1929 mochte den Teilnehmern deshalb gar als konkrete Umsetzung einer fiktionalen Vorlage erscheinen. Mit einer gerade unheimlichen Passgenauigkeit fügen sich Cassirer und Heidegger in die ideologischen Schablonen eines Lodovico Settembrini und eines Leo Naphta, die Thomas Manns Roman für die gesamte Epoche erstellt hatte.«

Zweifellos war vielen Teilnehmern Manns paradigmatische »Vorlage« geläufig. Es ist nur zu ergänzen, dass dies auch für die Initiatoren und Organisatoren zutrifft und näher zu untersuchen wäre. Die Mann-Forschung hat die historischen Vorbilder für Settembrini und Naphta aus den Quellen vielfach erforscht. Mann selbst betrachtete seine Protagonisten aber als idealtypische Modelle und wäre einverstanden gewesen, für Naphta statt Lukács etwa Heidegger einzusetzen. Ernst Cassirer (1874–1945) hätte es allerdings kaum gefallen, mit dem dogmatischen Freimaurer Settembrini identifiziert zu werden; er verstand seine Philosophie der symbolischen Formen zutreffend als wesentlichen Schritt über die Philosophie der Aufklärung und Kant hinaus, die er vielfach dargestellt hatte. Eilenberger folgt Manns Drehbuch nicht strikt. So verteilt er die Gewichte zwischen »Flachland« und »Hochgebirge« anders und lässt nur finale Teile seiner biographisch getreuen, nur gelegentlich fiktionalisierenden Philosophiegeschichte in Davos spielen. Er fügt Wittgenstein und BenjaManfred Geier, Wittgenstein und Heidegger. Die letzten Philosophen, Reinbek 2017 23 Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrhundert der Philosophie 1919–1929, Stuttgart 2018, 24 24 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 25 22

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Der Zauberberg als Identifikationsmodell

min als »Zauberer« hinzu und spielt mit dem Gedanken, dass Benjamin etwa als Korrespondent der Frankfurter Zeitung Teilnehmer und Zeuge gewesen wäre. 25 Wittgenstein verknüpft er nicht eng mit Davos, findet am Ende aber in dessen Wendung zur Sprachanalyse eine philosophische Lösung. Sein Showdown zwischen Aufklärung und Gegenaufklärung ist deshalb kein suizidales Duell, sondern eher ein Schaukampf zwischen Sparringspartnern, die sich schon deshalb nicht wirklich stellten, weil die Kontroverse auf die Kantinterpretation verschoben war und die direkte Auseinandersetzung mit den eigenen publizierten Hauptwerken unterblieb. Eilenbergers komplexe biographische Verknüpfung der Parallelbiographien ist virtuos und erhellend im Detail. Sie literarisiert Philosophie und didaktisiert sie nicht doktrinär belehrend. Die Dramaturgie beginnt dort, wo Mann endet: beim »Donnerschlag« (Thomas Mann) der traumatischen »Kriegserfahrung«, die neue Antworten erzwang. Wittgenstein suchte als Kriegsteilnehmer die radikalsten Antworten; er überschrieb sein enormes Vermögen – »nach heutigem Gegenwert Hunderte Millionen Euro« 26 – seinen Geschwistern und zog sich jahrelang als Volksschullehrer in die österreichische Provinz zurück, strebte niemals eine ordentliche Professur an und war – wie seine Brüder – suizidal stark gefährdet. Benjamin war ebenfalls ein »autodestruktiver Charakter«, 27 der es mit großer intellektueller Arroganz auf sein persönliches wie akademisches Scheitern angelegt hatte und bald ohne Geld und feste Wohnung dastand. Heidegger führte ein prekäres Doppelleben als Hochschullehrer und Familienvater mit ständigen Affären und antibürgerlichem polemischem Habitus. Nur Cassirer repräsentierte, von Hause aus wie Wittgenstein sehr wohlhabend, »ein philosophisches Leben im Status seiner Lösung«, das das Versprechen der Philosophie »tatsächlich einlöst«. 28 Eilenberger nennt ihn den »Luxusliner unter den Hochseephilosophen«; 29 sein »Traumort« 30 oder Zauberberg war aber eigentlich die Warburg-Bibliothek. Er brachte sein Leben derart in eine philosophische Form, dass die Mitwelt auch bei jahrelangem Umgang, wie die Gattin meinte, mitunter gar nicht merkte, »dass Ernst eigentlich Phi25 26 27 28 29 30

Eilenberger, Zeit der Zauberer, 32, 379 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 54 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 381 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 127 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 331 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 55

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Mann in der Zeit der Zauberer

losoph war«. 31 Während Heidegger stets als großer Denker posierte, suchte Cassirer, fast wie Castorp, die zivile Camouflage. Die Dramaturgie von Manns Zauberberg zielte auf den Krieg. Eilenberger möchte beim Leser dagegen die Begeisterung für »große« Philosophie und dialektische Zauberer wecken. Goethe gibt ihm dafür das Motto: »Das Beste, was wir von der Geschichte haben, ist der Enthusiasmus, den sie erregt.« Es ist bedauerlich, dass er Mann nicht als Teilnehmer oder Zeugen hineinschrieb. Eine stärkere Fiktionalisierung hätte innovative Möglichkeiten geboten. 32 Ein fiktives Davoser Gespräch etwa zwischen Thomas Mann und Ernst Cassirer, das im wirklichen Leben nie zustande kam, hätte die Weimarer Konstellation über sich selbst hinausgeführt. Eilenberger verbleibt aber im biographischen Rahmen der historisch bezeugten Möglichkeiten und macht damit Konzessionen ans Genre und Publikum. Seine Parallelbiographie sucht nicht den kühnen Sprung in die philosophische Spekulation. Ein Davoser Auftritt Manns hätte der »Vorlage« entsprochen, ist Castorp doch als Identifikationsprotagonist ein Stellvertreter im Roman. Bekanntlich hieß »Tommi« in der Familie »der Zauberer«. Eilenberger lässt sich aber nicht nur den Auftritt Manns entgehen, und damit die ernste Frage nach der »dilettantischen« Bildung und außeruniversitären Herkunft des »großen Philosophen«, sondern er versäumt auch jede religionshistorische und soziologische Überlegung zur historischen Rolle der »Zauberer« und dem Erbe der Priester und Schamanen in der säkularen Prägung des Philosophentypus. Dabei ist der Schamane in der »charismatischen« Performanz mancher Fachvertreter und popularphilosophischer Medienstars heute noch mitunter geradezu aufdringlich sichtbar. Wenn die Zeit der Zauberer konzeptionell überzeugend ist, muss Eilenberger selbst wenigstens Zauberlehrling oder gar Zauberer sein. Hat er eine These oder Gesamtauffassung, die diesen Zeitgeistroman zum Zeitroman im philosophischen Sinne erhebt? Es wurde angedeutet, dass Eilenberger um der antipodischen Zuspitzung willen der polemischen Verwerfung durch Heidegger und dessen Jünger ein Stück weit folgt, obgleich er selbst betont, 33 dass Cassirers Philosophie der symbolischen Formen die Wendung zur Eilenberger, Zeit der Zauberer, 126 So sehr anregend Andreas Urs Sommer, Lexikon der imaginären philosophischen Werke, Berlin 2012 33 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 128 ff 31 32

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Der Zauberberg als Identifikationsmodell

Sprachanalytik eigentlich vorwegnahm und kongenial begründete. »Sind wir einig?«, fragte Mann in der Pariser Rechenschaft und unterstellte es optimistisch. Eilenberger übernimmt von Heidegger dagegen die starke Problematisierung der »fundamentalen Grundlosigkeit« und Abgründigkeit des Daseins 34 und schätzt Wittgenstein und Benjamin für die radikale Konsequenz, mit der sie sich in die Endlichkeit und Kontingenz des Daseins warfen. Er macht dies vor allem an den destruktiven und suizidalen Energien und der »dämonischen« Wahrnehmung der Liebe als Passion und – von Benjamin im Wahlverwandtschafts-Essay reflektiertes 35 – »Schicksal« fest. Aby Warburg steht im Buch als psychiatrischer Fall für den Kampf mit den »Dämonen«. 36 Während Heidegger der Passion für Arendt gerade noch um der bürgerlichen Karriere willen entsagte und sich in Davos skitechnisch auf den »Pistensturz« 37 verlegte, verlor Benjamin mit der russischen Revolutionärin Asja Lacis die letzten bürgerliche Rücksichten, verprasste den Scheck für das Hebräischstudium und verprellte die freundschaftlich organisierte Rettung nach Palästina. Eilenberger entdeckt den »Enthusiasmus« im Sprung in den momentanen »Rausch«. Benjamin suchte ihn im Nachtleben, beim Glücksspiel, Prostituierten, in der Liebespassion und immer mehr bei Drogen. Heidegger, Wittgenstein und Benjamin revolutionierten damals allesamt die literarischen Formen und den Stil des Philosophierens, während Cassirer, etwa fünfzehn Jahre älter, am überlieferten akademischen Stil und Habitus festhielt. Benjamin verschrieb sich am Ende dem »Surrealismus« und den »Spiegelgängen« der Pariser Passagen als Schattenwelt von »Platons Höhle«. 38 Eilenberger unterscheidet in biographischer Absicht nicht weiter zwischen den verschiedenen Formen des Rausches. Benjamins exzessive Selbstzerstörung steht so neben der Lösung Cassirers, der den philosophischen Enthusiasmus in der diskursiven Meditation der Formenwelt des »Kosmos« 39 fand. Eilenberger entdeckt den »Enthusiasmus« in der existentiellen Dimension des Sturzes in den »AugenEilenberger, Zeit der Zauberer, 348 ff Eilenberger, Zeit der Zauberer, 169 ff 36 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 205 ff 37 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 379 38 Eilenberger, Zeit der Zauberer, 381 39 Dazu etwa Ernst Cassirer, Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie, Göteborg 1941; vgl. schon ders., Die Philosophie von ihren Anfängen bis Platon, in: Max Dessoir (Hg.), Lehrbuch der Philosophie, Berlin 1925, 7–139 34 35

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Mann in der Zeit der Zauberer

blick« und »Abgrund« des Rausches. Gerade bei Benjamin ist dieser Rausch von Selbstzerstörung kaum zu unterscheiden. Doch die philosophische Tradition kennt den Enthusiasmus seit Platon als positive Kraft des Aufstiegs von den schönen Gestalten zur Schau der Ideen und Formen selbst. Heideggers beste Schüler rehabilitierten Platon und den philosophischen Enthusiasmus 40 deshalb auch gegen ihren Lehrer. Der Davoser Disput über Kant war dagegen bereits eine exoterische Themenverfehlung: Cassirer war damals längst ein Platoniker, 41 der hinter die Renaissance auf die Antike zurückging. Nach Heideggers respektvoll-kritischer Rezension von dessen Buch Das mythische Denken, dem zweiten Band der Philosophie der symbolischen Formen, 42 hätten beide besser über Mythos und mythisches Denken gesprochen. Es ist nicht überliefert, ob das in Davos am Rande geschah. Cassirer war dort lange erkrankt und Heidegger mied das direkte Gespräch. Eilenberger entscheidet sich am Ende nicht deutlich, den wahrhaft philosophischen Enthusiasmus von den radikalen Eskapisten und Bruchpiloten des Rausches zu unterscheiden. Dann hätte er die Choreographie vielleicht verändert und Cassirer über die Bankrotteure der Akademie triumphieren lassen. Manns platonische Auffassung des Laboratoriums der Zauberer wäre dann wahrscheinlich deutlicher geworden. Eilenberger hat die »Vorlage« zwar virtuos adaptiert, die platonische Anlage des Romans aber kaum beachtet. Cassirer wird sie nicht entgangen sein.

Dazu Gerhard Krüger, Einsicht und Leidenschaft. Das Wesen des platonischen Denkens, Frankfurt 1939; Eugen Fink, Vom Wesen des Enthusiasmus, Essen 1947 41 Zu Cassirers Platonismus im Kontext der Davoser Kontroverse vgl. Dirk Lüddecke, Staat – Mythos – Politik. Überlegungen zum politischen Denken bei Ernst Cassirer, Würzburg 2003 42 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen Bd. II: Das mythische Denken, Berlin 1925; dazu Heideggers Rezension in: Deutsche Literaturzeitung 49 (1928), Sp. 1000–1012 40

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VI. Einsame Größe und Leid der Mitwelt: Ernst Cassirer über Lotte in Weimar

1.

Cassirer als Repräsentant des liberalen Judentums

Im März 1929 berichtet Heidegger seiner Frau Elfride 1 ausführlicher von den Vorlesungen und der Disputation. »Davos selbst ist furchtbar«, schreibt er. »Skitechnisch« sei es nicht sehr anspruchsvoll, und Cassirer sei erkrankt. Am 26. März kann er aber vermelden: »Eben habe ich eine zweistündige öffentliche Auseinandersetzung mit Cassirer hinter mir, die sehr schön verlief u. auf die Studenten vom Inhaltlichen abgesehen – einen großen Eindruck machte«. 2 Ein ausführlicherer Brief an Elisabeth Blochmann vom 12. April 1929 macht deutlich, wie sehr er sich damals als Sprecher des jugendbewegten Angriffs auf das akademische Establishment verstand und wie sehr er den 15 Jahre älteren Cassirer als Repräsentanten des akademischen Mandarinentums betrachtete. »Cassirer war in der Diskussion äußerst vornehm u. fast zu verbindlich«, schreibt Heidegger: »So fand ich zu wenig Widerstand, was verhinderte, den Problemen die nötige Schärfe der Formulierung zu geben. Im Grunde waren die Fragen für eine öffentliche Erörterung viel zu schwierig. Wesentlich blieb nur, dass die Form u. Führung der Diskussion durch das bloße Beispiel wirken konnte. Meine Hoffnung auf die neuen Kräfte der ganz Jungen ist sicherer geworden.«

Und er schließt:

Gertrud Heidegger (Hg.), ›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride 1915–1970, München 2005, 169 ff. zur Kontroverse vgl. Dominic Kaegi / Enno Rudolph (Hg.), Cassirer – Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation, Hamburg 2002; Wolfram Eilenberger, Zeit der Zauberer. Das große Jahrhundert der Philosophie 1919–1929, Stuttgart 2018, 355 ff 2 ›Mein liebes Seelchen!‹ Briefe Martin Heideggers an seine Frau Elfride, 162 1

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Cassirer als Repräsentant des liberalen Judentums

»Diese unmittelbare Einheit von sach[lich] forschender Arbeit u. völlig gelockertem u. freudigem Skilauf war für die meisten der Dozenten u. Hörer etwas Unerhörtes.« 3

Es gibt zahlreiche Anekdoten über die legendäre Tagung. Eine hat Jacob Taubes ausgestreut. Sie ist historisch nicht ganz verlässlich, schon weil sie die Tagung auf das Jahr 1931 datiert, was die symbolische Aussagekraft einer guten Anekdote jedoch kaum schmälert. Mit Taubes spricht zwar kein Zeuge, aber ein Nachhall der damaligen Debatten und Atmosphäre: »Es war ein Fest, das die Studenten bestritten, und Herr Emmanuel Lévinas, der sehr dickes, schwarzes Haar hatte, was man aber weiß pudern konnte, trat auf als Cassirer. Sein Deutsch war ja ziemlich schwach, und er ging über die Bühne und sagte nur zwei Worte, immer wiederholend: ›HumboldtKultur‹. Und ein Gejohle ging los, das schon göringsche Züge hatte (›wenn ich ›Kultur‹ höre, entsichere ich meinen Revolver‹). 4 Das war Emmanuel Lévinas. Das ist die Atmosphäre von ’31, so hat das ausgesehen.« 5

Lévinas zieht hier Cassirers Verhältnis zum Neuhumanismus auf die Ebene der Schulmeisterei herab und begegnet ihm auf dem Niveau eines Pänälerstreiches. Die Anekdote macht deutlich, wie selbstverständlich Cassirers Philosophie und Habitus damals schon mit einer Epoche und Bildungswelt verbunden wurde, die nach 1918 vergangen schien. Lévinas inszenierte einen Aufstand der Jugend gegen einen akademischen »Mandarin« und orientierte sich dabei an Heidegger, der sich damals noch als »Stoßtruppführer« gerierte und den »Bonzen« des wilhelminischen Betriebs die »Hölle heiß« machen wollte. Vielleicht klingt bei Lévinas außer dem antibürgerlichen Aufstand noch etwas anderes an: Distanz zum liberalen, assimilierten Judentum.

Martin Heidegger / Elisabeth Blochmann, Briefwechsel 1918–1969, hrsg. Joachim Storck, Marbach 1990, 30 4 Das Zitat stammt aus dem nationalsozialistischen Heldendrama von Hanns Johst, Schlageter. Schauspiel, München 1933, S. 26 (I. Akt, 1. Szene): »Wenn ich Kultur höre … entsichere ich meinen Browning.« 5 Jacob Taubes, Die politische Theologie des Paulus, hrsg. Aleida und Jan Assmann, München 1993, 141; eingehender Karlfried Gründer, Cassirer und Heidegger in Davos 1929, in: Hans-Jürg Braun / Helmut Hozhey / Ernst W. Orth, Frankfurt 1989, 290–302; zu Cassirer in Davos vgl. Thomas Meyer, Ernst Cassirer, Hamburg 2006, 165 ff, 180 ff 3

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

Ulrich Sieg 6 hat eingehend gezeigt, wie sehr der Erste Weltkrieg dem deutschen Judentum ein Ende seiner Assimilierungshoffnungen markierte. Begeistert zog es für Kaiser und Reich in den Krieg und versprach sich davon einen Abschluss seiner über 100-jährigen Assimilierungsanstrengungen: die endliche, volle Anerkennung als deutsche Patrioten und Teil der Nation. Doch selbst im Feld noch wurde es ungleich behandelt und diskriminiert. Sieg schildert das bis in die Praxis der Militärgeistlichkeit und Feldpostkarten hinein. Auf Feldpostkarten schrieb Franz Rosenzweig damals seine Antwort: den Stern der Erlösung. Im Weltkrieg erfolgte ein Stimmungswandel: eine Abkehr vom liberalen Judentum und Übernahme der Deutungsmacht durch postassimilatorische Autoren wie Martin Buber und Franz Rosenzweig. Gershom Scholem, 7 Hans Jonas und Leo Strauss, Ludwig Feuchtwanger und andere wären auch zu nennen. Cassirer war zwar kein unkritischer Verfechter der Assimilierung; niemals legte er sein Judentum ab; 8 die postassimilatorischen Intellektuellen sahen in dem Schüler Cohens dennoch den Vertreter des liberalen Judentums, das die »Kultursynthese« zwischen Deutschtum und Judentum bei Lessing, Kant und Goethe aufsuchte und eine ethischUlrich Sieg, Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001 7 Dazu Gershom Scholem, Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt 1982; Hans Jonas, Erinnerungen, Frankfurt 2003 8 Cassirer wird hier ohne Weiteres nach der Hamburger Ausgabe der Schriften (ECW, hrsg. Birgit Recki) und darüber hinaus nach den Nachgelassenen Manuskripte und Texten (ECN, hrsg. Klaus Christian Köhnke / John Krois / Oswald Schwemmer) zitiert. Cassirer äußerte sich wiederholt über seinen Lehrer Cohen. 1912 publizierte er einen ersten Aufsatz über Hermann Cohen und die Erneuerung der Kantischen Philosophie (ECW IX, 119–138). Nach Cohens Tod sprach er dann »Worte« an seinem Grabe (ECW IX, 487–493) und publizierte einen kurzen Zeitungsartikel Zur Lehre Hermann Cohens (ECW IX, 494–497). 1920 hielt er über Hermann Cohen einen Vortrag in der Akademie für die Wissenschaft des Judentums (ECW IX, 498–509). 1924 betonte er die Schlüsselbedeutung Cohens für den Neukantianismus (ECW XXIV, 645–649). 1926 erinnerte er an den gerade verstorbenen Natorp im Zusammenhang von »Hermann Cohens geistigem Erbe« (ECW XVI, 480–486). 1928 publizierte er seine Gedenkworte auch als Einleitung zu den von Cassirer und Albert Görland herausgegebenen Schriften Cohens zur Philosophie und Zeitgeschichte (ECW IX, 487–509). 1933 veröffentlichte er seinen vielleicht wichtigsten kurzen Rückblick auf Hermann Cohens Philosophie der Religion und ihr Verhältnis zum Judentum (ECW XVIII, 255–264). Die damalige Publikation im Gemeindeblatt der jüdischen Gemeinde zu Berlin war 1933 auch ein Bekenntnis zum eigenen Judentum und dessen philosophischer Auffassung. 1943 erinnert Cassirer das amerikanische Publikum an Cohen (ECW XXIV, 161–173). 6

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Zu Cassirers politischen Schriften

universalistische Interpretation des prophetischen und messianischen Monotheismus vertrat. So stand er als Vermittlungsdenker zwischen den Fronten.

2.

Zu Cassirers politischen Schriften

Das Bild vom unpolitischen Cassirer ist eine Legende. Freiheit und Form erinnerte das »deutsche Volk« mitten im Krieg an seine »weltgeschichtliche Bestimmung«. 9 Schon diese Darstellung endete mit dem Zusammenhang von »Freiheitsidee und Staatsidee«. Cassirer geriet damals über den Nationsbegriff in eine Kontroverse mit dem radikalen Nationalisten Bruno Bauch. Seitdem war er als politischer Autor in die Debatten involviert. Er zeigte republikanische Flagge und argumentierte gegen nationalistische Vereinnahmungen. 10 Immer wieder stellte er das liberale und weltbürgerliche Profil der »klassischen« deutschen Nationalkultur und Traditionen heraus. Er wollte zeigen, »dass die Idee der republikanischen Verfassung keineswegs ein Fremdling, geschweige ein äußerer Eindringling ist, dass sie vielmehr auf deren eigenem Boden erwachsen und durch ihre ureigensten Kräfte, durch die Kräfte der idealistischen Philosophie, genährt worden ist.« 11

Dafür bezog er sich auch auf die völkerrechtlichen Traditionen des »profanen« Naturrechts der frühen Neuzeit 12 und ergriff in den – von Georg Jellinek angestoßenen – Debatten um die philosophischen oder christlichen Wurzeln der Menschenrechtserklärungen, des modernen »Naturrechts« und der »Grundrechte« vehement für die Stoa und die »Autonomie« der menschlichen »Vernunft« Partei. Die StelDazu vgl. nur Cassirers Vorwort zur ersten Auflage von: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte, Berlin 1916, in: ECW VII, 388–394. Das Vorwort ist heute im Anhang abgedruckt. Ab der dritten Auflage 1922 entfiel das Vorwort, vielleicht wegen seiner Zeitgebundenheit. 10 Einschlägig sind hier u. a. folgende kleinere Publikationen Cassirers: Die Idee der republikanischen Verfassung. Rede zur Verfassungsfeier am 11. August 1928, in: ECW XVII, 291–307; Deutschland und Westeuropa im Spiegel der Geistesgeschichte, 1931, in: ECW XVII, 207–219; Vom Wesen und Werden des Naturrechts, 1932, in: ECW XVIII, 203–227; Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, 313 ff 11 Ernst Cassirer, Die Idee der republikanischen Verfassung (ECW XVII, 307) 12 Dazu vgl. Erik Wolf, Grotius, Pufendorf, Thomasius, Heidelberg 1927; dazu vgl. Hans Welzel, Naturrecht und menschliche Würde, Göttingen 1951 9

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

lung der Grundrechte im Weimarer Staatsrecht war damals noch heftig umstritten. Die Grundrechte waren dem Staatsorganisationsrecht nicht vorgelagert, sondern nachgestellt. 13 Der Vorrang des Menschen vor dem Staat und der naturrechtliche Ansatz bei der »Autonomie« und »Würde« des Menschen waren juristisch nicht etabliert. Die Philosophie konnte hier zu den staats- und völkerrechtlichen Debatten etwas Eigenes beitragen. Cassirer sprach von einer Wiederentdeckung des Naturrechts gegenüber dem Rechtspositivismus 14 und vertrat die »Autonomie« der Vernunft. Auch deshalb bezog er sich argumentationsstrategisch auf die neuzeitliche Tradition des Naturund Vernunftrechts: auf Hugo Grotius, Leibniz, Kant, Fichte und andere. Dabei kritisierte er verschärft Hegels »Machtstaatsgedanken« 15. Später profilierte er Platons »Gerechtigkeitsstaat« gegen den christlichen Mythos (Augustinus) von der Unmittelbarkeit des Menschen zu Gott, 16 was in den Weimarer Debatten damals weniger geeignet gewesen wäre, der nationalistischen Auslegung ihre Berufung auf deutsche Traditionen zu bestreiten. Dort stand Cassirer aber auch schon mit seiner naturrechtlichen Grundauffassung ziemlich allein.

3.

Zur Korrespondenz zwischen Mann und Cassirer

Ähnlich wie Cassirer sondierte Mann damals die deutsche Geistesgeschichte in der politischen Absicht, den Nationalismus im »Rückschlag gegen den Rückschlag« zu bekämpfen und an die »klassischen« Traditionen des Weimarer Neuhumanismus zu erinnern. Nach dem Zauberberg begann er die Arbeit an seinem Joseph-Roman. Seine aufklärerischen Motive formulierte er 1929 beispielsweise in seiner Rede über Lessing. Cassirers 1930 in der Neuen Rundschau erschienene Abhandlung über ›Geist‹ und ›Leben‹ in der Philosophie der Knapper Überblick bei Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, München 1999, 109–114; selbst bei Rudolf Smend dienten sie primär der »Stärkung der Staatsgewalt«: so Horst Dreier, Integration durch Verfassung. Rudolf Smend und die Grundrechtsdemokratie, in: Verfassungen. Zwischen Recht und Politik. Festschrift zum 70. Geburtstag für Hans-Peter Schneider, BadenBaden 2008, 70–96, hier: 87 14 Ernst Cassirer, Vom Wesen und Werden des Naturrechts (ECW XVIII, 22 ff) 15 Dazu vgl. Hermann Heller, Hegel und der nationale Machtstaatsgedanke in Deutschland, Stuttgart 1921 16 Dazu nur die Kurzfassung von Ernst Cassirer, The Myth of the State (ECW XXIV, 251–265) 13

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Zur Korrespondenz zwischen Mann und Cassirer

Gegenwart las er aufmerksam. Für die religionsphilosophische Anlage seines Romans berief er sich damals auf Max Scheler. Die Humanitätsvision des Romans formulierte er im »Jakobssegen« als »stille Hoffnung Gottes« auf ein »Eingehen des Geistes in die Welt der Seele«, auf die »Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe« (IV, 48 f). Diese Humanitätsvision war vom Neuhumanismus intensiv durchdrungen, nicht zuletzt von Schillers Idee einer ästhetischen Erziehung; philosophisch reflektierte sie originär auf die postnietzscheanische Revision des Verhältnisses von »›Geist‹ und ›Leben‹«, die in Cassirer einen ihrer bedeutendsten Vertreter hatte. Auch wenn Mann keinen »Judenroman« schreiben wollte, richtete er sich doch von Anfang an gegen den nationalistischen und antisemitischen Zug der Zeit. Als der erste Band Ende 1933 erschien, war er eine deutliche Stellungnahme für eine liberale und universalistische Rezeption des »ethischen Monotheismus« (Max Weber). Näher betrachtet war er eine große religionsphilosophische und politisch-theologische Vision von der Einheit der Menschheit, die Mann in der Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Literatur deutlich formulierte. Mann und Cassirer zogen verwandte religionsphilosophische Konsequenzen aus ihrem neuhumanistischen Projekt. Beide gehörten zu den wichtigsten Vertretern eines postnietzscheanischen liberalen Neuhumanismus. Mann übernahm von Schopenhauer und Nietzsche zwar die Kritik der »Universitätsphilosophie« und schätzte die zeitgenössischen Universitätsphilosophen nicht sonderlich; Cassirer aber wusste genau, wer Mann war und was er seiner Zeit zu geben hatte. »Cassirer besaß die Joseph-Romane alle und hat sie auch gewiss gelesen«, schrieb mir vor Jahren der Cassirer-Herausgeber John Krois. 17 Die ersten drei Bände erschienen zwischen 1933 und 1936, der vierte folgte 1943; dazwischen lag Lotte in Weimar. Vom November 1936 bis Oktober 1939 schrieb Mann am LotteRoman. Im Mai 1938 erreichte ihn die Einladung, für ein Jahr als Gastdozent nach Princeton zu gehen. Er musste nur vier Vorträge halten. Ab dem 15. August arbeitete er in der Schweiz, auf der Überfahrt und in New York und Princeton dafür am Vortrag Über Goethe’s ›Faust‹, den er im Oktober beendete und am 26. April 1939 vortrug. Nach Abschluss von Lotte in Weimar schrieb er dann den Freundliche briefliche Mitteilung von John Michael Krois vom 3. Januar 2002 an Verf.

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

Vortrag über Goethe’s Werther (TB 28. 10.–17. 11. 1939), den er am 14. November in Princeton hielt. Damals korrespondierte er mit Cassirer und las »Cassirer über Goethe« (TB 30. 10. 1939). So gab es eine kleine Parallelaktion: Cassirer regte Manns Vortrag etwas an; der Lotte-Roman wurde Cassirer dann zum Thema. Er schrieb seine Studie über Thomas Manns Goethe-Bild direkt nach Erscheinen des Romans im ersten Kriegswinter 1939/40. Wenn man sich fragt, warum Cassirer diese Studie überhaupt verfasste, lässt sich nicht von Manns politischer Haltung, seinem Rang als Schriftsteller, dem Projekt des Joseph-Romans und den vielfältigen Auseinandersetzungen mit Goethe absehen. Ausdrücklich schrieb Cassirer nur über Thomas Manns Goethe-Bild. Er zielte nicht auf eine umfassende Analyse des Romans, sondern nur auf Manns Verdichtung seiner Auseinandersetzung in der literarischen Gestalt Goethes. Man könnte aber sagen, dass diese kleinere Studie an der Stelle einer Auseinandersetzung mit dem Joseph-Roman steht. Dessen geschichtsphilosophisches Anliegen hatte große Nähen zu Cassirers damaliger Arbeit an einer Kultur- und Geschichtsphilosophie, wie sie 1944 mit dem Essay on Man hervortrat. Man könnte zeigen, dass es gewichtige Nähen zwischen Manns Philosophie und Cassirer gibt. Eine enge Schülerin und Vertraute, Käte Hamburger, zeigte dies 1945 schon in einer Monographie. 18 Dass Hamburger damals in Schweden in bedrängter Lage an ihrer Einführung in den Roman arbeitete und mit Cassirer Umgang hatte, dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Cassirer nur über den kleineren Lotte-Roman schrieb. 19 Er überließ ihr das größere Projekt. Cassirer führte philosophisch aus, was Mann damals auch beZu Käte Hamburgers Deutung vgl. Verf., Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003, 84–88; vgl. Käte Hamburger, Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, Stockholm 1945; dies., Thomas Manns biblisches Werk, München 1981; Thomas Mann / Käte Hamburger, Briefwechsel 1932–1955, Frankfurt 1999 19 In der Lotte-Abhandlung finden sich nur wenige Bemerkungen über die JosephDichtung. Cassirer erwähnt nur »Vergleichspunkte«: »Nur die ›Joseph‹-Dichtung Thomas Manns bietet bestimmte Vergleichspunkte; aber sie ist schon durch ihren Gegenstand und durch ihre Atmosphäre so weit von dem gegenwärtigen Werk getrennt …« (ECW XXIV, 269) Eine weitere Erwähnung betont die Überwindung des »Naturalismus«: »Er dringt, in der ›Joseph‹-Dichtung, in die Welt des Mythos ein, um sie nicht als eine entlegene und versunkene, sondern als eine noch mitten unter uns seiende und für uns nachfühlbare Welt darzustellen.« (ECW XXIV, 287) In den Goethe-Vorlesungen erwähnt Cassirer Goethes frühe Joseph-Dichtung und meint: »Auf 18

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Zur Korrespondenz zwischen Mann und Cassirer

dachte: den Beitrag der »symbolischen Form« des Mythos zur »Befreiung« der Menschheit und die Bedeutung Goethes als Chiffre und »Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters« (Thomas Mann). Sein Descartes-Buch war 1939 bei Fischer erschienen; Mann las es (TB 31. 7. 1939; 3. 8. 1939), hatte in Princeton auch Umgang mit Cassirers Tochter Anne und deren Gatten, dem Pianisten Kurt Appelbaum. Das Ehepaar Appelbaum »hausmeisterte« 20 bei Manns. So kam es zu einem brieflichen Kontakt. Drei lange Briefe an Cassirer sind bekannt und im Briefwechsel-Band der Nachlassausgabe von John Krois publiziert. Im ersten Brief vom 25. September 1939 bedauert Mann, 21 »dass mir Ihre Goethe-Werke nicht vor Beginn des Romans bekannt geworden sind«; er entschuldigt sich dafür, dass es bei seinem Besuch in Göteborg nicht zur Begegnung kam, weil er den Rückreiseplan für die »abenteuerliche Überfahrt« kriegsbedingt ändern musste, und er schimpft auf das »unmögliche Volk« und die »schändliche Missgeburt« Hitler. Der Zweite Weltkrieg war gerade wenige Wochen zuvor ausgebrochen. Nach seinem Brief notiert Mann am 30. Oktober 1939 ins Tagebuch: »Gelesen Cassirer über Goethe«. Er besaß 22 dessen einschlägige Goethe-Publikationen Freiheit und Form, Idee und Gestalt und Goethe und die geschichtliche Welt. Mit dem nächsten erhaltenen Brief vom 10. Januar 1940 bestätigt er die intensive Lektüre dieser Buchgeschenke und merkt an: »Sie haben sich unterdessen mit den Josephsgeschichten beschäftigt und sagen mir Freundliches darüber. Nun, wenn diese Spiele vor Ihnen bestanden haben und Ihnen in dieser Zeit, der sie abgewonnen wurden, eine nicht unwürdige Zerstreuung gewähren konnten, so ist damit allerlei für das Unternehmen bewiesen, und ich sollte mich dadurch anspornen lassen, es bald zu dem gesteckten Ziel, dem Tode des alten ›Israel‹ in Aegyptenland, weiterzuführen. Es wird gar nicht leicht sein, nach der unerwartet langen Unterbrechung durch den Goethe-Mythos, mich zurückzufinden und die thematischen Fäden wiederaufzunehmen. Das Studium der ›Philosophie der symbolischen Formen‹ würde sich wahrscheinlich, nach allem, was Sie sagen, daher als starkes Tonicum bewähren. Andererseits, man soll vorsichtig diesem Weg ist dem Knaben Goethe erst einer der größten modernen Erzähler, erst Thomas Mann in seiner Joseph-Dichtung wieder gefolgt.« (ECN XI, 54) 20 So die Auskunft von Monika Mann, Anmerkung zum Tagebucheintrag vom 20. Dezember 1944, 546 21 Mann am 25. September 1939 an Cassirer, in: Ernst Cassirer, Ausgewählter wissenschaftlicher Briefwechsel, hrsg. John Michael Krois, Hamburg 2009, (ECN) XVIII, 205 22 Mann, Tagebücher, Anmerkungen zum 30. Oktober 1939, 844

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

sein. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich Ihre Goethe-Schriften erst nach Beendigung von ›Lotte in Weimar‹ kennen gelernt habe«. 23

Cassirer wies Mann offenbar auf Nähen seiner Philosophie der symbolischen Formen zu dessen Auffassung hin. Eine produktive Anregung durch dieses Werk mied Mann aber schon deshalb, weil sein Ansatz mit den ersten drei Bänden längst entfaltet war. Seine Formulierung, dass die Tetralogie den »Tode des alten ›Israel‹ in Aegyptenland« zum Ziel habe, verwundert gegenüber dem exilierten jüdischen Philosophen und könnte sich auf eine briefliche Äußerung Cassirers beziehen: vermutlich auf die universalistische Umdeutung der »alten« Religiosität, die Joseph als Menschheitsutopie im Roman entwickelt. Eine solche universalistische Botschaft vertrat selbstverständlich auch der Schüler Cohens. In diesen Wochen, bald nach Erscheinen des Romans, schrieb Cassirer seine Studie über Thomas Manns Goethe-Bild in einer publikationsfähigen Erstfassung und dazu auch einen »wohltuenden Brief«, den Mann gegenüber Käte Hamburger am 7. März dankend erwähnt, nicht ohne hinzuzufügen: »Ihr Aufsatz wird wohl das bedeutendste Dokument bleiben in der kleinen Sammlung von privaten und oeffentlichen Aeußerungen über ›Lotte‹, die ich mir angelegt, – das bedeutendste und interessanteste.« 24

Mann bezieht sich hier auf Käte Hamburgers Rezension des Romans vom 13. Februar. Cassirers Abhandlung hat er damals wohl noch nicht erhalten und es ist möglich, dass Cassirer sie gerade in diesen Wochen schrieb. Er vermeldete den Abschluss in einem Brief (TB 20. 3. 1940), der wahrscheinlich nicht mit dem erwähnten »wohltuenden Brief« identisch war, und leitete das Manuskript im März 1940 über Appelbaums zu (TB 28. 3. 1940); Mann nahm es aber nur mäßig begeistert auf (TB 30./31. 3. 1940). Eine Biographin vermutet, dass eine negative Begegnung Golo Manns mit Cassirer hier nachwirkte: Golo lotete 1932 in Hamburg Habilitationsperspektiven aus und scheiterte an Cassirer. 25 Jaspers hatte ihm damals nur die Note cum laude gegeben und sich dafür bei Thomas Mann brieflich geradezu entschuldigt. Mann nahm den »kleinen Choc« 26 aber brieflich geMann am 10. Januar 1940 an Cassirer (ECN XVIII, 208) Mann am 3. März 1940 an Hamburger (ECN XVIII, 62) 25 Sigrid Bauschinger, Die Cassirers. Unternehmer, Kunsthändler, Philosophen. Biographie einer Familie, München 2015, 253 f 26 Mann am 17. Mai 1932 an Jaspers, in: Karl Jaspers, Korrespondenzen: Politik, Universität, hrsg. Carsten Dutt / Eike Wolgast, Göttingen 2016, 402 23 24

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Zur Korrespondenz zwischen Mann und Cassirer

lassen auf und rechnete nicht mit einer schnellen Karriere Golos. Eine nachhaltige Verstimmung über Cassirer ist deshalb kaum anzunehmen. Dennoch kam es damals, 1940, nicht zur umgehenden Publikation der Abhandlung und zu einem vertieften Kontakt. Später meldete Cassirer seinen Wechsel aus Schweden in die USA. Über Käte Hamburger ließ er grüßen und bedauerte den Verlust eines Antwortbriefes. Mann schreibt dazu am 19. April 1941 an Hamburger: »Bestens erwidere ich die Grüße Professor Cassirers. Natürlich habe ich ihm ausführlich für seine Lotte-Studie gedankt, durch [die] ich mich nicht wenig geehrt fühle. Erst jetzt höre ich, dass es verlorene Liebesmüh’ war. Gut nur, dass er wenigstens von dem Brief erfahren hat.« 27

Mann bestätigt also einen verlorenen Dankesbrief. Er schrieb aber nicht umgehend, sondern erst am 14. Juni 1941 an Cassirer anlässlich von dessen Ankunft in den USA, erklärte sich »wahrhaft erleichtert« und ging noch einmal auf die Goethe-Abhandlung ein: »Dass ich Ihnen ausführlich für Ihre bedeutende Arbeit über ›Lotte in Weimar‹ gedankt habe, ist richtig. Wie gerade dieser Brief in Verlust geraten konnte, weiss ich nicht; der Verkehr mit Schweden, wie auch der mit der Schweiz, war bisher ja fast überraschend ungestört. Zu wiederholen, was ich Ihnen damals sagte, fiele mir heute schwer; was hat es aber auch anders sein können, als der Ausdruck meiner Dankbarkeit für die grosse Ehre, die Sie meinem Buch mit Ihrer gedankenvollen Studie erwiesen haben, die höchst erklärlicher Weise das Bedeutendste, und philosophisch Gewichtigste war, was ich darüber zu lesen bekommen habe.« 28

Mann erwähnt im Brief noch das herzliche »Verhältnis zu Ihren Kindern« und deutet die Möglichkeit einer Begegnung in Yale an. Dazu ist es aber offenbar nicht gekommen. Diesen letzten Brief hatte Cassirer Mann durch Kontaktnahmen auch geradezu abgenötigt. Es ist auffällig, dass Hamburger im Briefwechsel mit Mann Cassirer nicht weiter erwähnt, während sie ihren akademisch unbedeutenderen Lehrer Paul Hofmann fast aufdringlich und ständig empfiehlt. Insgesamt ist anzunehmen, dass Mann an einem Kontakt mit Cassirer nicht sonderlich interessiert war, dem bedeutendsten Philosophen, der ihm Avancen machte. Appelbaums spätere briefliche Bitte um einen Festschriftbeitrag lehnte er ziemlich schroff ab (TB 3. 6. 1943 und 27. 6. 1943). Er verfasste keine solche Beiträge und sah sich in 27 28

Mann am 19. April 1941 an Hamburger (ECN XVIII, 64) Mann am 14. Juni 1941 an Cassirer (ECN XVIII, 220)

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keiner Dankesschuld. Dass ihn viele politische und philosophische Wurzeln mit Cassirer verbanden, war ihm nicht besonders wichtig. Auch andere große Philosophen, so Lukács und Adorno, behandelte er mit kühler Distanz. Das ist schade, weil ein engerer Kontakt mit Cassirer weitere Stellungnahmen hätte provozieren und vielleicht auch die Arbeit am Doktor Faustus beeinflussen können.

4.

Goethe als Vermittler

Die »Analyse von Goethes Weltanschauung« bildete für Cassirer 1916 schon den »ideellen Mittelpunkt« von Freiheit und Form. 29 In Goethe fand er die gelungene Vermittlung von Freiheits- und Formdenken. Ähnlich fand Mann in Goethe die schöne »Mitte« zwischen den Extremen der deutschen Geistesgeschichte. 30 Immer wieder äußerte Cassirer sich zu Goethe. Doch selbst im Goethejahr 1932 trat er noch nicht mit der großen Goethe-Monographie hervor, die auf seinem Weg lag und die er plante, 31 sondern er publizierte im Umkreis der Philosophie der Aufklärung nur das schmale Büchlein Goethe und die geschichtliche Welt, das Goethe über das 18. Jahrhundert in die Antike zurückstellte. Cassirers Rückgang hinter den deutschen Idealismus auf Platon deutet sich hier an. Seit 1933 hielt Cassirer in England und Schweden zahlreiche Goethe-Vorträge, die thematisch vor allem um die Idee der »inneren Form« kreisten. Die Studie über Thomas Manns Goethe-Bild steht in zeitlicher Nähe zu den GoetheVorlesungen, die Cassirer 1940 bis 1941 in Schweden hielt. Ein solcher »Zyklus von Goethe-Vorträgen« gehörte zu seinen lange gehegten »akademischen Lieblingsplänen« (ECN XI, 5). Erst die Emigration gab ihm die Gelegenheit, entfiel hier doch der Verstoß gegen die akademischen »Gebräuche« (ECN XI, 5) beim »Übergriff« ins germanistische Fachgebiet. Was lag damals für Cassirer näher, als die Einstimmung in diesen Zyklus über die Auseinandersetzung mit Manns gerade erschienenem Goethe-Roman zu suchen?

29 30 31

Ernst Cassirer, Freiheit und Form, Berlin 1916, X Dazu nur Thomas Mann, Die drei Gewaltigen (Bd. X, 374–383) Dazu Thomas Meyer, Ernst Cassirer, Hamburg 2006, 189 f

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Individuum ineffabile

5.

Individuum ineffabile

Ende März 1940 schickte Cassirer seine fertige Studie, wie erwähnt, an Mann und im Oktober 1940 begann er mit seinem Goethe-Zyklus in Göteborg, wo Käte Hamburger damals lebte. Die Auseinandersetzung mit Mann brachte den Goethe-Zyklus also mit auf den Weg. Freilich hatten beide, Cassirer wie Mann, ihr Goethe-Bild längst unabhängig voneinander ausgearbeitet. Dennoch liegt die Frage nahe, ob Manns »Goethe« Cassirers Vorlesungen beeinflusst hat. Sie sind so etwas wie ein Vermächtnis. Die Mann-Studie erschien im Germanic Review kurz nach Cassirers Tod. Cassirer schloss die erste Fassung nicht selbst ab (ECW XXIV, 267); 32 er wollte sie aber anlässlich von Manns 70. Geburtstag im Juni 1945 noch an der Columbia Universität vortragen. »Am Mittwoch vor seinem Tod« lud er deshalb im April 1945 die Tochter Monika Mann und Pamela Wedekind zum Probevortrag. 33 Die Mann-Studie wurde also einer der letzten Texte, mit denen Cassirer sich befasste. Erst posthum wurde sie publiziert. Eine redaktionelle Bemerkung spricht davon, die Studie sei »Thomas Mann zum 65. Geburtstag« überreicht worden. Mann erhielt sie allerdings Ende März 1940, über zwei Monate vor dem 65. Geburtstag. Cassirer mag zwar an den Geburtstag gedacht haben; eng an ihn gebunden war die Studie aber nicht. Liest man sie heute erneut, so sind einige Bedenken nachvollziehbar: So gründlich Cassirer die Zielsetzung und Eigenart des Romans nämlich auch analysiert, so verwickelt sind doch die Wege, mit denen er sich dem Roman nähert. Dabei scheint er geradezu unter dem Formgesetz zu stehen, das er bei Mann feststellt: der Problematik der Erfassung der inkommensurablen Größe und Individualität. Cassirer betont die große »Aufgabe«, nicht nur einen »Umriss von Goethes Dasein«, sondern auch eine echte »Vergegenwärtigung« der »Gestalt« zu geben. Und er entdeckt die Größe des Romans in der Kunst, diese Aufgabe mit einer eigenen Formidee zu beantworten. Cassirer meint: Man »muss sich in das Werk selbst versetzen und ihm die Normen zu entnehmen suchen, nach denen es beurteilt werden will« (269). Hier findet er zunächst eine Erneuerung des anAlle weiteren Zitate ohne Bandangabe nach: Ernst Cassirer, Thomas Manns Goethe-Bild. Eine Studie über »Lotte in Weimar«, in: ders., Aufsätze und kleine Schriften 1941–1946: ECW XXIV, 267–298 33 Das überliefert Toni Cassirer, Mein Leben mit Ernst Cassirer, Hildesheim 1981, 330 32

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tiken Botenberichts: eine Annäherung an die Gestalt über die »Berichte über Goethe«. Dann verdeutlicht er dieses Verfahren durch einen Exkurs zu Goethes Farbenlehre, dem er die Idee der »wiederholten Spiegelung« abliest: Mann überbot demnach die antike Form des Botenberichts durch Goethes Gedanken der »wiederholten Spiegelung«. Eingehender führt Cassirer aus, dass der Gedanke der »Polarität und Steigerung« nicht nur im Reigen der Gespräche über Goethe feststellbar sei, bei denen immer kompetentere Berichterstatter auftreten, sondern auch bei der Darstellung Goethes, die vom »Rahmen des Alltags« ausgeht und sich über die diversen Arbeitsund Pflichtenkreise und den »Verkehr mit der Natur« (278) dem inneren poetischen »Schaffensprozess« und »Zwiegespräch« mit anderen Größen nähert. Diese »wiederholten Spiegelungen« bezeichnet Cassirer als »die ›innere Form‹ des Romans« (281 f). Der Leser glaubt sich bereits am Ziel der Studie, da setzt Cassirer erneut an. Er rechtfertigt diesen zweiten Kursus zunächst mit einer lapidaren Feststellung: »Das Werk macht uns das Eindringen keineswegs leicht« (283). Erneut prüft er dann die »innere Form« des Romans. Dabei legt er Goethes Unterscheidung zwischen »einfacher Nachahmung«, »Manier« und »Stil« an den Roman an, um Mann vom Vorwurf des »Naturalismus« einerseits und überspannter »Heroenverehrung« (288) – im Stile des George-Kreises – andererseits freizusprechen. Cassirer findet alle drei Weisen der künstlerischen Darstellung im Roman wieder: Mann biete »Analyse und Synthese«, rücke Goethe menschlich-allzumenschlich nahe und ironisiere alles im »Fluidum« seiner »Manier«; er ziele aber doch auf die »Synthese« und echte »Erkenntnis« von Goethes »Wesen« in »symbolischer« Bedeutung. Dieses Ziel konnte er nur durch die langjährige Auseinandersetzung und »Liebe zu Goethe« realisieren. Auch für die Liebe als Erkenntnismedium beruft Cassirer sich auf Goethe. Auch damit ist Cassirer aber noch nicht am Ende: In einem dritten Ansatz konzentriert er sich auf die künstlerische Gestaltung von Goethes Verhältnis zu Lotte und beruft sich für Manns Verflechtung von Tragik und Komik auf Platon: Lotte repräsentiere den verständigen Leser; in Lottes Zwiegespräch mit Goethe gestalte Mann zuletzt »das Gefühl für das Ganze von Goethes Dasein« (294): den Künstler »in tragischer Größe und Einsamkeit«. Der Künstler entrinne dem Zwang zur »Wiederholung«, zur Alltäglichkeit, weil er einen ständigen dichterischen »Gestaltenwandel« erlebe und so eine »Lebenswiederholung« im kreativen Schaffen kenne. Ein Dichter lebe 150 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

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poetisch mit seinen Gestalten. Der Preis für dieses »dichterische Lebens- und Zeitgefühl« sei aber die Vereinsamung gegenüber der Mitwelt. Diese Tragik mache Mann seiner Lotte und damit auch dem Leser einsichtig: »Was uns geschildert wird, ist die große Wandlung, die seelische Peripetie, die in Lottes Geist eintritt. Wir sollen diese Peripetie nicht nur nachfühlen; wir sollen sie mit ihr vollziehen. In dem letzten Zwiegespräch, das Lotte mit Goethe führt, beginnt sie ihn zum ersten Mal zu verstehen.« (295)

Am Ende klingen Cassirers Ausführungen zur Einsamkeit des Künstlers wie ein Selbstportrait, wenn von einer »Gottesgabe« und tragischen »Notwendigkeit« die Rede ist. Auch der Philosoph lebt in der allgemeinen Anschauung der Lebenserneuerung. Cassirer explizierte dieses philosophische Pathos der »Überschau« und »Zusammenschau« damals in seiner Studie über Logos, Dike, Kosmos besonders eindringlich. 34 Die Mann-Studie ist ein goetheanisches Bekenntnis; sie folgt dem verwickelten Formprinzip der »wiederholten Spiegelung«, entnimmt ihre Bewertungsnormen nicht vordergründig dem Lotte-Roman, sondern klärt Manns Formprinzip mit Goethe. Erkennbar dient dieses Vorgehen dem Bemühen, die Größe des Romans herauszustellen und Manns Goethe-Bild vom Naturalismus einerseits und falschen Heroismus andererseits freizusprechen. Wenn Cassirer den Gedanken der »wiederholten Spiegelung« als Formprinzip herausstellt und die Absicht auf eine pädagogische »Goethe-Erkenntnis« betont, trifft dies zweifellos Manns Anliegen. Wenn er am Ende seine platonische Auffassung der »Lebenswiederholung« herausstreicht, erfasst er Manns Verständnis der »Metamorphose« als »Lebenserneuerung aus dem Geist«. Cassirer rückübersetzt Mann aber in die klassischen Quellen Goethes. Zwar hat Mann verwandt gedacht; er sah Goethe aber nicht so gelehrt in der platonischen Tradition, sondern hatte seine Einsichten eher aus zweiter Hand. Das mag neben dem verwickelten Aufbau der Studie ein Grund gewesen sein, dass Mann die Bedeutung von Cassirers Studie nicht recht zu würdigen wusste. An philosophischer Einsicht in den Aufbau und die Absichten von Lotte in Weimar dürfte sie heute noch ihresgleichen suchen. Der

Ernst Cassirer, Logos, Dike, Kosmos in der Entwicklung der griechischen Philosophie, Göteborg 1941

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

Kommentar der Großen Frankfurter Ausgabe nennt sie einen »Meilenstein« (GKFA 9.1., 160) akademischer Analyse. Wie Mann war Cassirer davon überzeugt, dass Goethe auch dem 20. Jahrhundert noch ein »klassisches« Beispiel der Humanität sein sollte. Nach seiner Mann-Studie hielt er in Schweden einen Zyklus von Vorträgen, 35 die den letzten Stand seiner Goethe-Forschungen markieren. Wie die Mann-Studie sind sie durch den Begriff der »inneren Form« organisiert. Auch diese Vorlesungen wollen über die »Goethe-Philologie« (ECN XI, 6) hinausgehen und Goethe in »Liebe zu Goethes Werk« als »Gesamterscheinung« (14) und »Gestalt« sehen und als »Befreier« (21) preisen. Dafür folgt Cassirer nicht dem dialektischen »Wandel des Goethe-Bildes« (41), sondern »mit Goethes eigenen Augen« der Werkgeschichte des jungen Goethe, die er als Bildungsgeschichte des Autors liest, um »den Sinn dieses Lebens sichtbar [zu] machen« (47). Cassirer geht Goethes Jugenddichtung unter dem Gesichtspunkt der »Selbstbefreiung« und »Selbstgestaltung« (209) durch; er endet mit dem »Problem von Freiheit und Notwendigkeit« und erläutert Goethes »Begründung einer reinen Menschheitsreligion« (226) dabei als dramatischen Kampf »zwischen Licht und Finsternis« (230). Diese Goethe-Vorlesungen verdeutlichen, wie nah Cassirer mit seinem Goethe-Bild Mann stand. Das Formgesetz der »wiederholten Spiegelung« fand er in Manns Roman wie in Goethes Leben. Wie Mann betrachtete er Goethes Werk als ein Mittel exemplarischer Selbstgestaltung des eigenen »Lebens«. Auch seine Goethe-Vorlesungen tragen Züge eines verdeckten Selbstportraits: Verweist Cassirer in der Mann-Studie aber auf die tragische Einsamkeit des Künstlers und Philosophen, deutet er in seinen Vorlesungen einige biographische Parallelen im Verhältnis zur Politik an. Auch bei Cassirer findet sich eine »Goethe-Imitatio« als Kehrseite der exemplarischen Auffassung. Auch Cassirer verleugnete dabei die dunklen Seiten und tragischen Züge nicht. Schaut man näher hin, so finden sich selbst hier große Übereinstimmungen, die auch zu ähnlichen Konsequenzen führten. Diese »Persönlichkeits-Ethik« war weit entfernt vom Zerrbild des Liberalismus, von dem sich der Weimarer Radikalismus distanzierte.

Ernst Cassirer, Goethe-Vorlesungen (1940–1941), in: ECN XI, hrsg. John Michael Krois, Hamburg 2003 (alle folgenden Zitate ohne Bandangabe nach dieser Ausgabe)

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Franz Blei als Quelle?

Cassirer hatte sich allerdings ganz auf das »Goethe-Bild« konzentriert und die tragische Einsamkeit herausgestellt, die nur Dichtung zu gestalten vermöge. Zügig war er über Manns dialektische Portraits der Gestalten um Goethe hinweggeschritten. Hier aber liegen noch eigene Motive des Romans, die Cassirer nicht würdigte und die Mann wichtig waren: Mann schloss mit Lotte in Weimar seinen Familienroman vom Künstler im Kreis seiner Familie ab, den er in Weimar begann. Er gestaltete neben der tragischen Größe und Einsamkeit auch die künstlerische Egozentrik im Spiegel des Leidens der Familie: Mann bat damit seine eigene Familie um Verzeihung; er fragte, ob sein Glück als Künstler mit dem Unglück der Mitwelt erkauft war. Diese »intellektuelle Komödie« (Thomas Mann) war nicht nur ein Goethe-Portrait, sondern auch ein tragisch-ironischer Roman von der Wirkung des Künstlers auf seine Mitwelt.

6.

Franz Blei als Quelle?

Der Roman basiert bekanntlich auf einer historischen Anekdote: der späten Wiederbegegnung Goethes mit Charlotte Buff, verheiratete und verwitwete Kästner, 1816 in Weimar. Im gleichen Jahr las Goethe erstmals die »Brandraketen« seines Werther wieder. Das Wiedersehen ist nur durch eine lapidare Eintragung Goethes und harsche Bemerkungen Lottes bezeugt. Es ist nicht durch starke Selbstaussagen autoritativ geklärt, wie Thomas Mann die Anekdote begegnete und er den Entschluss zum Roman fand. Der Kommentar zur Großen Frankfurter Ausgabe datiert die »Bekanntschaft mit der Episode« auf das Jahr 1931/32 und eine psychoanalytische Studie (GKFA 9.2., 9 ff, 119 ff). 36 Dafür gibt es in den Tagebüchern aber nur einen Beleg aus dem Jahre 1935: »Ging abends wieder dem Arbeitsplan Goethe – Lotte Kestner nach und fand nach einschl. Lektüre die Geschichte des leicht grotesken späten Wiedersehens in dem Buch von Teilhaber auf.« (TB 23. 3. 1935, 64)

Der »Arbeitsplan« liegt offenbar früher und die Verknüpfung mit Theilhabers Goethe-Buch ist keineswegs eng. Eine frühere Quelle scheint mir deshalb weitaus wahrscheinlicher: Der bedeutende Literaturkritiker Franz Blei (1871–1942), ein Münchener Bekannter 36

Felix Aaron Theilhaber, Goethe. Sexus und Eros, Berlin 1929

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

Manns und enger Freund Carl Schmitts, explizierte die Anekdote 1928 in einem bei Rowolt publizierten, verbreiteten Buch über Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen unter der Rubrik »Wiedersehen«. 37 Schon diese Überschrift ist ein starker Hinweis auf Blei als Quelle. Die kommentierte Frankfurter Ausgabe schreibt: »Lotte in Weimar sollte das Unternehmen nämlich nicht von Anfang an heißen, sondern ›Wiedersehen‹.« (GKFA 9.1., 28) Die englische Übersetzung von Lotte in Weimar lautet auch: The beloved returns (TB 15. 12. 1939). Weil diese Quellenfrage von erheblicher Bedeutung ist, sei Bleis Version ausführlicher erörtert: Franz Blei hatte die erotische Kultur des 18. Jahrhunderts in zahlreichen literarischen und essayistischen Schriften vielfach gepriesen. Er publizierte erotische Literatur in den 1920er Jahren dabei nicht zuletzt um ihrer Verkäuflichkeit willen. Aus dem unmittelbaren zeitlichen Umkreis nenne ich nur: Lehrbücher der Liebe (1923), Die Frivolitäten des Herrn von Disenberg (1925), Das persische Decamerone (1926), Frauen und Männer der Renaissance (1927), Lehrbuch der Liebe und Ehe (1928), Ungewöhnliche Menschen und Schicksale (1929), Die göttliche Garbo (1930), Formen der Liebe (1930). Blei war ein exzentrischer Autor von außergewöhnlichem Rang, kein Unterhaltungsschriftsteller, sondern ein Kritiker auf Augenhöhe Manns oder Carl Schmitts. Als Lektor des Langen-Verlages, Übersetzer und Herausgeber diverser Zeitschriften hatte er die literarische Avantgarde mitgestaltet und französische und englische Literatur in Deutschland eingeführt. In seinem Bestiarium der modernen Literatur nannte Blei sich einen »Trüffelfisch«, »wegen seiner Fähigkeit, Leckerbissen aufzuspüren«. 38 Schmitt nannte ihn 1931 in der Frankfurter Zeitung einen »Gnostiker«, der »zu keiner einzigen der säkularisierten Ersatzkirchen gegangen« ist: »Wirklich ein individuum ineffabile.« 39 Schmitt prognostizierte damals: »Es wird ihm nicht Franz Blei, Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen, Berlin 1928, 187– 190; Mann las 1916 den Roman Die Opferschale (1916) von Ida Boy-Ed, der von der Liebe Charlotte von Steins zu Goethe handelt, und dankte der Autorin am 22. Dezember 1916 für die »schwesterliche Tat«. Franz Werfel publizierte 1924 seinen berühmten, von Mann bewunderten Verdi-Roman, der die historische Anekdote einer singulären Begegnung von Verdi mit Wagner in Venedig ausfabuliert. 38 Franz Blei, Das große Bestiarium der modernen Literatur, Berlin 1922, 21 39 Carl Schmitt, Franz Blei, in: Frankfurter Zeitung vom 22. März 1931, hier zitiert nach: ders., Tagebücher 1930–1934, hrsg. Wolfgang Schuller, Berlin 2010, 471–473, hier: 473 37

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Franz Blei als Quelle?

wohlergehen auf Erden«. 40 An Bleis Emigrationselend dachte er damals – wie 1933 bei seiner Verfluchung der »Intellektuellen« 41 – noch nicht. Blei wurde dann einer der schärfsten Kritiker des »Falls« Carl Schmitt und verwunderte sich noch in seinem letzten Buch Zeitgenössische Bildnisse 42 über dessen Flucht in eine der »säkularisierten Ersatzkirchen«. Dieses Buch las Mann unmittelbar nach Erscheinen (TB 5. 12. 1939; 19. 12. 1939), vielleicht von Blei zugesandt. Das Buch über Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen schreitet 1928 den ganzen Höllenkreis des Themas in zahlreichen historischen Portraits aus. Der Bogen reicht von antiken Heroinen über Heloise und Katherina von Siena bis zu Jane Carlyle und einer chinesischen Kaiserin. Blei charakterisiert »die beiden Frauen« von Heinrich IV. und Danton ebenso wie Stendhals Frauen und gruppiert je drei Malerinnen und Tänzerinnen. Mann konnte schon am Kapitel über Maria Mancini Interesse finden, einer Mätresse Ludwigs XIV., hieß so doch seine im Zauberberg verewigte Lieblingszigarre. Unter der Überschrift Das Wiedersehen erörtert Blei in kurzen, je für sich stehenden Charakterisierungen vier Wiederbegegnungen; er portraitiert vier Frauen, die im Alter frühe Jugendlieben wiedersahen. Neben Goethe werden Begegnungen mit Voltaire, Casanova und Rousseau erörtert. Die Goethe-Anekdote eröffnet den Reigen. Es ist nicht unwichtig, dieses Buff-Kapitel in seiner Verknüpfung mit den anderen Wiedersehen-Episoden zu sehen: Blei umklammert nämlich zwei wehmütig-schmerzliche Erinnerungen: zwei Geschichten der Persistenz der Liebe, durch zwei Kapitel abgelebter bzw. verkannter Liebe. Während Blei bei Voltaire die »letzte Erschütterung« 43 herausstreicht, betont er beim Goethe-Buff-Wiedersehen die Diskrepanz zwischen biographischem Vergessen und literarischer Verewigung. Blei eröffnet dieses »Wiedersehen« folgendermaßen: »Welche Namen und Titel auch immer die kleinen Freundinnen des jungen Dichters getragen haben, ob sie Friederike oder Lili, Anette oder Lotte hießen, – es waren kleine liebe Mädchen, die gaben was sie hatten oder geben durften. Dass aus dem Blondhaar Gold wurde und aus dem Herzen die Schmitt, Franz Blei, 471 Carl Schmitt, Die deutschen Intellektuellen, in: Westdeutscher Beobachter 9 (1933), Nr. 126, vom 1. Juni 1933, 1–2 42 Franz Blei, Carl Schmitt, in: Zeitgenössische Bildnisse, Amsterdam 1940, 21–29; vgl. ders., Der Fall Carl Schmitt. Von einem, der ihn kannte, in: Der christliche Ständestaat, vom 25. Dezember 1936, 1217–1220 43 Franz Blei, Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen, Berlin 1928, 194 40 41

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

Flammen schlugen, das geschah nur in der verzauberten Welt des jungen Dichters und ist im Biographischen dieser harmlos heiteren Geschöpfe nicht zu suchen und nicht zu finden. Im Jahre 1816 empfing Goethe den Besuch einer sechzigjährigen, ziemlich hässlichen, aber freundlich gutmütig blickenden Frau. Sie erbat sich die Protektion Seiner Exzellenz des Herrn Staatsministers für ihre beiden Söhne, den einen besonders, der das naturwissenschaftliche Fach lernen wollte. Die Situation war etwas peinlich, weil die Worte fehlten, und so zeigte Goethe der alten Frau sein Herbarium und bot ihr, um einen Abgang zu schaffen, seine Theaterloge an, mit dem Bedauern, sie dahin wegen anderweitiger Geschäfte nicht begleiten zu können. Vielleicht erinnerte die alte Dame ihn an seine Wetzlaer Jugend, gewiss aber nicht mehr an ihre eigene. Die alte Frau dachte sicher an ihre junge Zeit, als sie, die damals Charlotte Buff hieß, die Braut des so gesetzten Herrn Kestner war, Sekretär der hannoverschen Delegation, aber in dem kühl-höflichen alten Herrn undurchdringlichen Gesichtes suchte sie vergebens den jungen Kammergerichtsreferendar, der ihr ein einzigesmal einen Kuss raubte, was sie, so erfreut sie auch war, dem feurigen und interessanten Doktor zu gefallen, ihrem Kestner dann beichtete, wie es sich für eine Braut gehört.« 44

Blei erklärt das Scheitern der Wiederbegegnung durch eine relativ nüchterne Deutung der Jugendliebe; sein junger Goethe war niemals wirklich interessiert gewesen, Kestners Versprechen einzulösen. Blei deutet dies auch aus den Reaktionen Kestners auf das Erscheinen des Romans: Demnach hatte Goethe seinen Werther-Roman auch deshalb nach Wetzlar geschickt, weil die Fiktion längst vom Erleben abgetrennt war. Kestners Zorn über die »Umdichtung ihrer einfachen Geschichte in ein tragisches Abenteuer« konnte er nicht nachvollziehen. Blei schließt mit den Worten: »Goethe konnte das alles nicht begreifen. Gab ein paar Antworten. Nahm Lottes Verzeihung hin. Und ließ das Paar in seinem kleinen Leben und vergaß es.« 45

Blei gewinnt seine Pointe aus der Enttäuschung der Lesererwartung, dass die »Brandraketen« der Jugend bei der Wiederbegegnung noch zündeten. Er profiliert dieses Wiedersehen so gegen Voltaire und Casanova, denen der Leser ein indifferentes Vergessen eher zutraute. Mann antwortet nun in Lotte in Weimar auf diese Erwartungsenttäu-

44 45

Blei, Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen, 187 f Blei, Himmlische und irdische Liebe in Frauenschicksalen, 190

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Tragische Wahlverwandtschaften

schung und wendet Goethes indulgierte Indifferenz mit Goethes Idee der »Metamorphose« in eine Persistenz der Liebe in verjüngten Gestalten und Formen der Erinnerung. Er rettet den Eros als hermeneutische Erinnerung und gibt eine anspruchsvolle Deutung, die Bleis Frage nach den vielfältigen Verwicklungen und enharmonischen Verwechselungen der »himmlischen und irdischen Liebe« festhält. Mann konnte bei Blei nicht nur den anekdotischen Stoff finden, sondern auch das Thema der erotischen Verwandlungen und vielfältigen Möglichkeiten biographischer und literarischer Realisation. Deshalb kommt Bleis Buch als initiale Quelle des Romans ernstlich in Betracht.

7.

Tragische Wahlverwandtschaften

Vielleicht wurde Mann also durch Blei auf die Anekdote aufmerksam. 46 Er macht aus der Anekdote jedenfalls eine großartige Reihe von Lebensabrechnungen. Dabei setzt er Lotte einigem Spott aus. Manns Lotte aspiriert letztlich auf Heirat: Ihr Wille zum Wiedersehen zielt über die Wiedergutmachung des Leides und Wiederholung gewesenen Glücks hinaus auf die Ehe. Dabei misst sie sich nur an ihren Vorgängerinnen, nicht aber an den Nachfolgerinnen. Das »Urbild« (II, 374, 377) fürchtet nur, nicht als »die Eigentliche« (II, 761) erinnert zu werden. Manns Goethe weiß dagegen um eine andere Möglichkeit der Wiederholung von Glück. Erst im abschließenden »Geistergespräch« fällt dafür Goethes Begriff der »Metamorphose« (II, 763). Er meint im Lotte-Roman die schöpferische Fähigkeit des Künstlers, erlebtes Glück zu reinszenieren. Manns Goethe sucht nicht das – in Königliche Hoheit schon gestaltete – »strenge Glück« (II, 363) der Ehe; sein Konzept der Wiederholung führt zur »Ehebruchsdichtung« (II, 554). Während der Arbeit am Tod in Venedig las Mann Goethes Wahlverwandtschaften, wie er berichtete, etwa fünf Mal. 47 Ursprünglich wollte er statt des Tod in Venedig unter dem Titel Goethe in Marienbad eine Novelle über Goethes letzte Liebe zu Ulrike von Levetzow

Blei starb 1942 im US-Exil. Mann am 4. Juli 1920 an Carl Maria Weber, in: Briefe 1889–1936, Frankfurt 1961, 176

46 47

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

erdichten. 48 1925 schrieb er für eine Neuausgabe von Goethes Roman ein Nachwort Zu Goethe’s Wahlverwandtschaften, etwa gleichzeitig mit Benjamins berühmtem Essay Goethes Wahlverwandtschaften, der 1924/25 in der Zeitschrift Neue Deutsche Beiträge erschien. Mann entschied für die Aufnahme gerade dieses Goethe-Romans ins »epische Pantheon« (IX, 9174) einer Roman-Reihe, weil er dem Publikum zugänglicher sei als der Wilhelm Meister; ursprünglich war er als »novellistische Einschaltung« (IX, 174) in die Wanderjahre gedacht, wie später Lotte in Weimar eine »Einschaltung« in die Joseph-Tetralogie war. Im Essay betont Mann unter Verweis auf »Schillers unsterbliche Abhandlung« Über naive und sentimentalische Dichtung die »hohe Ausgewogenheit« (IX, 177) des Romans, »hohe Begegnung von Natur und Geist« (IX, 178) und »Einheit von Gestalt und Gedanke« (IX, 186); er erfasst das Symbol der Wahlverwandtschaften, die »Naturmystik« und »chemischen Affinitäten ins Menschlich-Soziale zu übertragen« (IX, 184), grenzt den Roman aber vom Spinozismus ab und nennt ihn Goethes »ideellstes« (IX, 177) und »allerchristlichstes Werk« (IX, 182). Hier bezieht er sich vor allem auf die Gestalt der Ottilie und das »Entsagungspathos« (IX, 180): Der Roman demonstriere aber letztlich »die Freiheit des Menschen« (IX, 184), »Naturgebundenheit« (IX, 184) in »Naturvergeistigung« aufzuheben. Mann richtet sich deshalb auch mit Nachwort und Neuausgabe an die »Jugend«. Benjamin dagegen liest dem Roman keine Freiheitsbotschaft ab. Er reflektiert mit seinem Essay autobiographisch eine eigene »vertrackte Viererkonstellation« und greift die Institution der bürgerlichen Ehe frontal an, indem er eine Paradoxie von Liebe und Ehe, Freiheit und Schicksal herausarbeitet: Mit der Liebe kann Ehe nicht auf Freiheit gegründet sein, Liebe und Freiheit konfligieren! Benjamin adressiert seinen eingehenden Essay an ein akademisches Publikum und widerspricht dem »Schein der Versöhnung« der »allerchristlichsten« Lösung, obgleich er sie als »Haus der äußersten Hoffnung« lizensiert. 49 Benjamin begreift die christliche Entsagung als mythisches »Opfer«, Untergang der Helden und Heiligen und lehnt das christliche Gewand ab: Gerade um der Hoffnung willen seiDazu vgl. Thomas Sprecher, Altersliebe als Entwürdigung und Größe. Thomas Mann in Marienbad, in: Thomas Mann-Jahrbuch 22 (2009), 23–44 49 Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. I.1, Frankfurt 1978, 123–201, hier: 200 48

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Tragische Wahlverwandtschaften

en die »christlich-mystischen Momente fehl am Ort«. 50 Benjamin kämpft mit seiner Deutung gegen Gundolf und schließt mit Versen Georges. Schon vor seiner Begegnung mit Adorno dürfte Mann dem Namen Benjamins zwar gelegentlich bei Zeitschriftenlektüren – der Frankfurter Zeitung oder auch Zeitschrift für Sozialforschung – begegnet sein. Eine Wirkung des Wahlverwandtschaften-Essays auf Lotte in Weimar ist aber auszuschließen. Erst im Juni 1946 erhält Mann Benjamins Trauerspiel-Buch von Adorno als Geschenk (TB 4. 6. 1946, 7) und liest in den nächsten Wochen gelegentlich darin herum, ohne einen starken Eindruck mitzunehmen. Adorno adaptierte später Benjamins Kategorien für Mann. 1950 schrieb er ihm: »Wer heute im Ernst die Verantwortung auf sich nimmt, über Sie zu schreiben, müsste es schon so tun, dass er sich nicht damit begnügt, plump herauszuholen, was Sie mit tiefsinniger Zartheit in Ihrem Werk versteckt haben, sondern stattdessen was das Werk selber versteckt. Es müsste Interpretation im philosophischen Sinn, kein Kommentar des philosophischen Inhalts sein.« 51

Es wäre eingehender zu fragen, ob und wie Lotte in Weimar Manns frühem Essay noch folgte: Demonstriert der Roman Goethes sittliches Streben nach Befreiung von der »dämonischen« Liebe zu Lotte? Zeigt er die »Unschuld und Schuldhaftigkeit« der Natur und Größe Goethes? Das dämonische Schicksal der Mitwelt, mit Goethes Größe leben zu müssen? Jedenfalls ist der Roman als Wahlverwandtschafts-Novelle aufgebaut; er zielt nicht nur auf Goethe und das siebte und letzte Kapitel; vielmehr bildet Adele Schopenhauers »Novelle« einer wahlverwandtschaftlichen Liebe die Mitte des Romans. Damit ist die tragische Gesamtaussage formal exponiert: Der Roman interpretiert sich selber als Wahlverwandtschafts-Novelle. Er kennt nicht nur das Formprinzip der »wiederholten Spiegelung«, das Cassirer hervorhob, sondern auch die wahlverwandtschaftliche Verstrickung; er stellt nicht nur die Einsamkeit des Philosophen heraus, die Cassirer betonte, sondern auch die erotische Verfehlung in der wahlverwandtschaftlichen Konstellation. Die Naturdämonie der Wahlverwandtschaft gestaltete Mann anschließend dann ganz anti-idealistisch in

Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, 200 Adorno am 1. August 1950 an Mann, in: Theodor W. Adorno / Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, Frankfurt 2002, 81 f

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Einsame Größe und Leid der Mitwelt

seiner indischen Novelle Die vertauschten Köpfe, die auch auf Goethe-Gedichte (Der Gott und die Bajadere, Paria) antwortete. Erzählte Mann früher vom Leiden des Meisters an seiner Größe, so gestaltete er mit dem Lotte-Roman das Leiden der Mitwelt an der Größe des »Meisters«. Offenbar hatte dieses Thema einen autobiographischen Aspekt: Das Leiden der Kinder am Vater ist nicht nur durch Klaus und Golo bezeugt. Mann hat es deutlich gesehen. Die ältere Forschung sprach hier gerne vom »Narzissmuss«; besser wäre wohl von Egozentrik zu sprechen. Wer jedoch etwa Tilmann Lahmes 52 Familienbiographie gelesen hat, wird Manns Verhalten als Familienvater nicht leichtfertig beckmessern. Mann hat sich seinen Pflichten und tätiger Hilfe nicht entzogen. Was billig zu erwarten war, hat er gegeben. Freilich stand er in einem weiten Pflichtenkreis und musste seiner Berufung folgen. Hugo Friedrich attestierte Montaigne eine »kühne Eigentoleranz«. 53 Das ließe sich adaptieren und trifft besser. Agnes Meyer gegenüber bestritt Mann seine Erziehbarkeit: »Immer wollten Sie mich anders, als ich bin. […] Vergebens habe ich Sie in aller Güte und Zartheit gewarnt, dass das ein Versuch am untauglichen Objekt« 54 oder Individuum sei. Diese »Tragik« hat Mann im Roman gestaltet. Es gibt die Leiden der Mitwelt: Die allgemeine Stimmung bezeichnet Goethes Ausspruch am Tisch: »Der große Mann ist ein öffentliches Unglück.« (II, 734) Mann schließt seine Künstlerspiegelungen mit einem Begriff vom Künstler als »öffentliches Unglück«. Der tragische Tenor seiner »intellektuellen Komödie« ist kaum zu überhören. Indem Manns Lotte aber versteht und verzeiht, bestätigt sie am Ende die eigene Moralität des Künstlers. Das individuelle Gesetz der Größe ist letztlich anerkannt, die »Güte« Goethes unbestritten. Mann zweifelt nicht an Goethe; er würdigt ihn als Ironiker, spricht gar vom »ironischen Nihilismus« (IX, 319), sieht aber einen Primat des Guten. Die »intellektuelle Komödie« seines Goethe-Romans hebt so den Gesellschaftsroman in den Tilmann Lahme, Die Manns. Geschichte einer Familie, Frankfurt 2015; vgl. auch Andrea Wüstner, ›Ich war immer verärgert, wenn ich ein Mädchen bekam‹. Thomas und Katia Mann als Eltern, München 2010; Inge Jens, Frau Thomas Mann, Reinbek 2003; zur Exilerfahrung der Mann-Kinder jetzt Anna-Lena Markus, Die Heimat und die Fremde. Flucht und Exil der Familie Mann, in: Pädagogische Rundschau 72 (2018), 207–224 53 Hugo Friedrich, Montaigne, Bern 1949, 284 54 Thomas Mann am 26. Mai 1943 an Agnes Meyer, in: Briefe 1937–1947, Frankfurt 1963, 317 52

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Tragische Wahlverwandtschaften

philosophischen Roman. Analog hob Platon die antike Tragödie und Komödie in den Kunstdialog. Für diese ironische Dialektik war Cassirer nicht taub: Er zitierte in der Lotte-Abhandlung aus Platons Symposion, dass es »›desselben Mannes Sache‹ sei, Komödien und Tragödien zu schreiben« (ECW XXIV, 243); dieses Wort Platons habe »erst in der modernen Literatur« seine eigentliche Lösung gefunden. Erst hier sei das Leben zugleich als Tragödie und Komödie erfasst.

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VII. Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

In den politischen Ideenkreisen seiner Zeit ist Thomas Mann nicht leicht als Parteigänger einzuordnen. Zweifellos aber gehörte er spätestens seit seiner Deutschen Ansprache vom Oktober 1930 zu den Verteidigern einer »wehrhaften« liberalen und sozialen Demokratie. 1 Seine politische Biographie vor und nach 1933 wirft viele Fragen auf, die hier nicht zu beantworten sind. Manns Wagner-Vortrag war 1933 in München auf scharfen Protest gestoßen. Hans Knappertsbusch, der dortige Generalmusikdirektor und Initiator des Protestes, zielte mit seiner Aktion nicht zuletzt auf eine »Berufung nach Bayreuth«. 2 Mann geriet dadurch in persönliche Gefahr. Für eine Rückkehr nach Deutschland lag ein Schutzhaftbefehl bereit; Mann wäre umgehend verhaftet worden. Schon die Familie – vor allem Klaus und Erika – wunderte sich deshalb über Manns zögerliche Bereitschaft, sich als Emigrant zu bezeichnen und zur Emigration zu bekennen. Bis 1936 hielt er sich zurück, konnte das aber auch tun, weil seine frühe Ablehnung des Nationalismus und Nationalsozialismus, seine Gefährdungslage, der Streit um den Wagner-Vortrag 3 und der frühe Umzug in die Schweiz bekannt waren. Manns Haltung war nicht missverständlich. 4 1936 schrieb er dann sein Bekenntnis zur Emigration und 1937 erklärte er im Briefwechsel mit der Bonner Universität, anlässZur Weiterentwicklung der liberalen Demokratie in der Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Totalitarismus vgl. Jens Hacke, Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus der Zwischenkriegszeit, Berlin 2018 2 So Hans Rudolf Vaget, »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt 2017, 305 3 Dazu vgl. Dirk Heißerer / Egon Voss (Hg.), Richard Wagner. Vortrag (1933). Edition und Dokumentation, Würzburg 2017; Hans Rudolf Vaget, »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland: Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt 2017 4 Zu seinem unsteten Leben seit 1933 prägnant Dirk Heißerer, »Nach Hause?« Die Exil-Orte Thomas Manns, in: Thomas Mann und das »Herzasthma des Exils«, hrsg. Thomas Sprecher, Frankfurt 2010, 153–169; dass Manns Rückkehr in die Schweiz ihrerseits politisch bedingt keine Heimkehr war, zeigt Andreas Tönnesmann, Alte 1

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lich der Aberkennung seiner Ehrenpromotion, den »Krieg« zum einzigen »Sinn« des Nationalsozialismus. Auch danach wollte er sich aber nicht ganz in die politischen Fronten und Verbitterungen der Emigration einspannen, sondern suchte eine möglichst positive und geradezu utopische Auffassung. An Karl Kerényi, der ihm besonders nahestand, schrieb er 1941: »Das ›Exil‹ ist etwas ganz anderes geworden, als es früher war; es ist kein Warte-Zustand mehr, auf Heimkehr abgestellt, sondern spielt schon auf eine Auflösung der Nationen an und auf eine Vereinheitlichung der Welt.« 5

Ähnlich äußerte er sich damals in einem Bekenntnis zu Deutschland: »Wir warten nicht auf Heimkehr – offen gestanden graut uns sogar vor dem Gedanken. Wir warten auf die Zukunft, und die gehört einem neuen Weltzustande der Vereinheitlichung und des Erlöschens nationaler Souveränitäten und Autonomien, zu welchem unsere Emigration, diese Diaspora der Kulturen, das Vorspiel ist.« (XII, 904 f)

Hier soll nur Manns eigenartige Rede von »konservativer Revolution« durch die fast vergessene Auslegung Siegfried Marcks verdeutlicht werden. Mann hatte das Stichwort früh, noch im Umkreis und Bann der Betrachtungen eines Unpolitischen, in die Weimarer Debatten geworfen und dann im Exil überraschend erneuert und bekräftigt. In Henning Ottmanns 6 großer Geschichte des politischen Denkens wird er deshalb auch selbstverständlich zwischen Arthur Moeller van den Bruck, Oswald Spengler und Ernst Jünger erörtert. Die neuere Forschung – so Sebastian Hansen und Hans Rudolf Vaget – 7 hat Manns politisches Denken dagegen inzwischen enger in den Kontext der Demokratiegeschichte gestellt, und die Formel von der »konservativen Revolution« wurde vielfältig ausgeleuchtet 8 und durch den Erde, neues Exil? Thomas Mann, Paul Hindemith, Carl Zuckmayer zurück in der Schweiz, in: Thomas Mann und das »Herzasthma des Exils«, 171–193 5 Mann am 18. Februar 1941 an Kerényi, in: Thomas Mann / Karl Kerényi. Gespräch in Briefen, Zürich 1960, 99 6 Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens. Bd. IV: Das 20. Jahrhundert. Teilband 1: Der Totalitarismus und seine Überwindung, Stuttgart 2010, 150–166 7 Sebastian Hansen, Betrachtungen eines Politischen. Thomas Mann und die deutsche Politik 1914–1933, Düsseldorf 2013; Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, Frankfurt 2011; beide Bücher habe ich rezensiert: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 62 (2014), 764–766; Zeitschrift für Ideengeschichte 6 (2012), Heft 2, 120–122 8 Dazu jetzt Sebastian Kaufmann / Andreas Urs Sommer (Hg.), Nietzsche und die konservative Revolution, Berlin 2018

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

Neo-Nationalismus auch unserer Tage instrumentalisiert. Man bringt Mann heute deshalb kaum noch mit der »konservativen Revolution« in Verbindung. Dabei wird sein »Weltdeutschtum« auch heute noch gelegentlich explizit als »Summe des Deutschtums« (Dieter Borchmeyer) verstanden. 9 Im Exil scharte sich eine ganze Kohorte vertriebener Wissenschaftler um Mann als Repräsentant des »anderen Deutschland«. Manche publizistische Äußerung mag zwar nur strategischen Absichten geschuldet sein. Die starke Wirkung von Manns Werk, insbesondere dem Joseph-Roman und Doktor Faustus, ist damit aber nicht erklärt. Gewichtige philosophische Interpretationen von Wegund Schicksalsgefährten finden sich damals etwa bei Georg Lukács, Ernst Cassirer, Siegfried Marck, Fritz Kaufmann, 10 Käte Hamburger und Theodor W. Adorno. Die stärksten Anregungen fand Mann wohl bei Karl Kerényi und Adorno. Marcks Deutungen der dichterischen Werke waren ihm dagegen nicht sonderlich beachtlich. Von den damaligen fachphilosophischen Weggefährten hat aber nur Marck das Stichwort der »konservativen Revolution« ernst genommen und Mann dezidiert als Philosophen betrachtet. In seinem Buch Der Neuhumanismus als politische Philosophie schrieb er Mann sogar eine »philosophisch-politische Sendung« zu. Meine problemgeschichtliche Gesamtdeutung Thomas Mann. Künstler und Philosoph eröffnete ich deshalb 2001 bereits mit einem Verweis auf Marck. In einem neueren Buch über Heidegger und die Konservative Revolution exkludierte ich Heidegger aus der Bewegung und exponierte Mann als Vordenker eines liberalen Konservatismus. 11 Bevor ich Marcks Mann-Auffassung hier näher darstelle, skizziere ich einen Bedeutungswandel des Labels.

Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017; vgl. schon ders., Richard Wagner. Ahasvers Wandlungen, Frankfurt 2002, 489 ff 10 Dazu u. a. Fritz Kaufmann, The World as Will and Repräsentation: Thomas Mann’s philosophical Novel’s, in: Philosophy and Phaenomenological Research 4 (1953), 1–35 u. 287–315; Thomas Mann und Nietzsche, in: Monatshefte für deutschen Unterricht, deutsche Sprache und Literatur 36 (1944), 345–350; Dr. Fausti Weheklag, in: Archiv für Philosophie 3 (1949), 5–28; Thomas Manns Weg durch die Ewigkeit in die Zeit, in: Die neue Rundschau 67 (1956), 564–581; Thomas Mann. The World as Will and Repräsentation, Boston 1957 11 Verf., Heidegger und die Konservative Revolution, Freiburg 2018 9

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Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »konservativen Revolution«

1.

Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »konservativen Revolution«

1.1. »Geheimes Deutschland« vs. »Konservative Revolution« Hermann Heller unterschied in den 1920er Jahren idealtypisch verschiedene politische »Ideenkreise«. 12 Sie profilierten sich nicht nur agonal in der Absetzung von Gegenkonzepten, sondern waren auch in sich fraktioniert. Auch innerhalb des nationalstaatlichen und nationalistischen Denkens gab es verschiedene Positionen und Begriffe, Konzepte und Formeln, Parolen und Losungsworte. Mit dem Untergang des »klassischen« 1848er Paulskirchen-Nationalliberalismus und Aufstieg Bismarcks polarisierte sich das Terrain. Nietzsches Kritik des Wilhelminismus wurde dann für die Artikulation eines esoterischen Oppositions-Nationalismus wirksam. Stefan George entwickelte in der nachfolgenden Generation eine Praxis elitärer Vergemeinschaftung über avantgardistische Kunst und Dichtung. George erklärte seine Gemeinschaftsbildung zum »Staat«, integrierte Nietzsche und Hölderlin in den nationalen Kanon und revolutionierte durch seine »Jünger« die Geisteswissenschaften der Zwischenkriegszeit. Nietzsches »aktiven Nihilismus« der Entideologisierung und »Götzen-Dämmerung« lehnte er ab und sakralisierte im »pontifikalen« Gestus (Bertolt Brecht) wieder die literarische Performanz. »Erlöser du! selbst der unseligste […] Erschufst du götter nur um sie zu stürzen«?, dichtete er gegen Nietzsche: »Dort ist kein weg mehr über eisige felsen / Und horste grauser vögel […] so klagt:« – spricht George sein Publikum an – »sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!« 13 Der George-Kreis propagierte – leicht paradox – das Losungswort vom »geheimen Deutschland«. Georges getreuer Karl Wolfskehl, der später ans Ende der Welt nach Neuseeland emigrierte, schrieb 1910 im ersten Heft der Blätter für die Kunst: »Denn was heute unter dem wüsten oberflächenschorf noch halb im traume sich zu regen beginnt, das geheime deutschland, das einzig lebendige in dieser zeit, das ist hier, nur hier zu wort gekommen.« 14

Hermann Heller, Die politischen Ideenkreise der Gegenwart, Breslau 1926 Stefan George, Nietzsche, in: ders., Geheimes Deutschland. Gedichte, hrsg. Helmuth Kiesel, München 2018, 38 f 14 Zitiert nach Helmuth Kiesel, Nachwort, in: Stefan George, Geheimes Deutschland. Gedichte, 122 12 13

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

Georges Staat erklärte sich damit zur eigentlichen Nation. Wie Helmuth Kiesel in seinem Nachwort zu den Deutschland-Gedichten Georges ausführt, griff der George-Kreis dabei u. a. die KyffhäuserSage von Kaiser Friedrich Barbarossa auf und spielte das erste Reich gegen das zweite aus. George war aber alles andere als ein stumpfer Nationalist. Kiesel schreibt: »Um 1890 stand noch keineswegs fest, dass Etienne George ein Deutsch schreibender Dichter werden würde. […] Erst im Frühjahr 1893 entschied George sich, den Versuch, französische Gedichte in größerem Umfang zu schreiben, aufzugeben und sich auf das Dichten in deutscher Sprache zu konzentrieren. Allerdings verband er damit den Anspruch, die deutsche Sprache als Dichtersprache zu erneuern«. 15

Georges Dichterstaat war eine Oppositionsgründung. Nach 1918 publizierte George selbst nicht mehr viel. Sein Gedicht Geheimes Deutschland, dessen Entstehungsdatum nicht geklärt ist, erschien 1928 in der letzten Sammlung Das Neue Reich. George überließ es damals bereits weitgehend seinen Jüngern, den Dichterstaat zu propagieren und kanonpolitisch durchzusetzen. Sein ästhetizistischer Oppositionsstaat wirkte noch im deutschen Widerstand gegen Hitler bei Stauffenberg. 16 Thomas Mann und Hugo von Hofmannsthal, die Stichwortgeber der Formel von der »konservativen Revolution«, distanzierten sich beide aber von diesem »ästhetischen Fundamentalismus«. 17 Mann grenzte sich schon in frühen Novellen und seinem Fiorenza-Stück vom Schwabinger Treiben und der kathedralen Resakralisierung der Lyrik ab, hatte aber vielfältige Begegnungen und Kontakte und pflegte gerade zur Zeit der Betrachtungen engen Umgang mit dem George-Jünger Ernst Bertram. Hofmannsthal war George schon früh begegnet. Der Bruch mit George gehört zu den zentralen Entscheidungen seines Lebens und markierte eine Bruchlinie, die auch für andere wegweisend wurde. Die Losungsworte des »geheimen Deutschland« und der »konservativen Revolution« sind

Kiesel, Nachwort, in: Stefan George, Geheimes Deutschland. Gedichte, 128 f Zur politischen Wirkungsgeschichte vgl. u. a. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charismas, München 2007; Ulrich Raulff, Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009; Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauffenberg, Köln 2006; ders., Im Zwiegespräch mit Nietzsche und Goethe. Weimarer Klassik und klassische Moderne, Tübingen 2009 17 Stefan Breuer, Stefan George und der deutsche Antimodernismus, Darmstadt 1995 15 16

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Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »konservativen Revolution«

also, begriffsgeschichtlich betrachtet, ihrer Herkunft nach voneinander unterschieden, obgleich manche sachliche Affinitäten bestehen.

1.2. Hofmannsthal und Mann über »Konservative Revolution« Die Rede von einer »konservativen Revolution« wurde in den 1920er Jahren von Mann und Hofmannsthal eingeführt. Mann gebraucht das Schlagwort erstmals 1921 in seinem Geleitwort Russische Anthologie zu einer Sammlung russischer Erzählliteratur. Er evozierte damit seine »synthetische Idee« und Suche nach einem »neuen Menschentum« und einer »neuen Religiosität« des »Dritten Reiches« (X, 598) und delegierte hier, lange vor dem Abschluss des Zauberberg, sein »Traumgedicht« an die russischen Erzähler. Mann schreibt zur »synthetischen Idee« der »neuen Religiosität«: »Seine Synthese ist die von Aufklärung und Glauben, von Freiheit und Gebundenheit, von Geist und Fleisch, ›Gott‹ und ›Welt‹. Es ist, künstlerisch ausgedrückt, die von Sinnlichkeit und Kritizismus, politisch ausgedrückt, die von Konservatismus und Revolution. Denn Konservatismus braucht nur Geist zu haben, um revolutionärer zu sein als irgendwelche positivistisch-liberalistische Aufklärung, und Nietzsche selbst war nichts anderes als konservative Revolution.« (X, 598)

Mann prägte die Formel also im Zusammenhang mit seiner programmatischen Rede vom »Dritten Reich« und »neuer Religiosität«; Hofmannsthal exponierte die Formel dann 1927 programmatisch in seiner Münchner Rede über Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation. Er sprach hier von der Aufgabe der Literatur, an der »Bildung einer wahren Nation« mitzuwirken, grenzte den literarischen »Geist der Nation« von Frankreich ab, sprach mit Nietzsche von »Suchenden«, unterschied die »produktive Anarchie« der Gegenwartsliteratur von anderen Epochen und forderte »Bindung« und »synthesesuchenden Geist«. Abschließend fasste er diese literarische Suchbewegung als »innere Gegenbewegung gegen jene Geisteskräfte des siebzehnten Jahrhunderts, die wir in ihren zwei Aspekten Renaissance und Reformation zu nennen pflegen.« 18 Hofmannsthal wies ambitionierter Dichtung eine eminente Rolle für die Formulierung des kulturellen

Hugo v. Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, in: Ausgewählte Werke in zwei Bänden. Bd. II, 724–740, hier: 740

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

Kanons zu und richtete sich gegen jede organisatorische Verfestigung. Sein Münchner Schlusssatz lautete: »Der Prozess, von dem ich rede, ist nichts anderes als eine konservative Revolution von einem Umfange, wie die europäische Geschichte ihn nicht kennt. Ihr Ziel ist Form, eine neue deutsche Wirklichkeit, an der die ganze Nation teilnehmen könnte.« 19

Hofmannsthal betrieb eine Erneuerung und Neuschöpfung des »metaphysischen Dramas« und einer »zeitlosen europäischen Mythologie« in Anknüpfung an den Jedermann-Totentanz des Mittelalters und an Calderón. Seine Dichtung propagierte ein »Welttheater« und »geistliches Schauspiel«, das den mittelalterlichen »Schatz der Mythen und Allegorien« 20 transhistorisch aktualisieren wollte. Dieses Konzept war exklusiv: Kultur und nicht Politik, »schöne« Literatur und nicht Theologie oder säkulare Wissenschaft, gesamtdeutsche Nation und nicht Versailler Zersplitterung. Hofmannsthal war damals alles andere als der geborene Repräsentant einer politischen Bewegung. Fast nichts verband ihn mit den Populisten seiner Zeit. 1929 verstorben, musste er den Missbrauch seiner Rede auch nicht mehr erleben. Publizisten wie Wilhelm Stapel, Hans Zehrer und Edgar Jung übersetzten die Formel von der »konservativen Revolution« im Weimarer Präsidialsystem in ein »autoritäres« Programm. Sie begrüßten das Ende des Weimarer Parlamentarismus und zielten auf einen antiliberalen und antidemokratischen Umbau der Weimarer Verfassung. Ihre Hoffnungen ruhten dabei weniger auf dem Zentrumspolitiker Heinrich Brüning, dem ersten Reichskanzler des Weimarer Präsidialsystems, der bis zum Sommer 1932 regierte, als auf den folgenden Kanzlern Franz von Papen und Kurt von Schleicher. Schleicher regierte als Kanzler nur wenige Wochen; Papen bejahte im Januar 1933 die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler und trug die Machtergreifung dann als Vizekanzler mit. Seinen Übergang zum Nationalsozialismus musste er den Zeitgenossen erklären. Dafür gebrauchte er die Formel von der »konservativen Revolution« als Vizekanzler unter Hitler 1933/34 gleich mehrfach. Er bekannte sich 1933 zur antidemokratischen und antipluralistischen »Entpolitisierung des deutschen Volkes« 21 und sagte am 17. März 1933 in Breslau: 19 20 21

Hofmannsthal, Das Schrifttum als geistiger Raum der Nation, 740 Hugo v. Hofmannsthal, Das Salzburger Große Welttheater, Leipzig 1922, Vorwort Franz von Papen, Appell an das deutsche Gewissen. Reden zur nationalen Revolu-

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Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »konservativen Revolution«

»Der Unterschied zwischen der konservativ-revolutionären und der national-sozialistischen Bewegung lag entscheidend in der Taktik. Die erste lehnte folgerichtig jede weitere Demokratisierung des Volkes ab und glaubte, mit den pluralistischen Kräften, die sich des Staates bemächtigt hatten, dadurch fertig zu werden, dass ein präsidentielles System allmählich ihre Ausschaltung vollziehen würde. […] Als die präsidentielle Politik an den Grenzen der Verfassung und der Volksabstimmung zum Stillstand gekommen war, blieb nur der Rückgriff auf die nationalsozialistische Taktik übrig, die sich vielleicht in die Formel pressen lässt: die Demokratie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen.« 22

Die »konservative Revolution« war demnach, in Papens Fassung, ein antiliberales und antidemokratisches Projekt. Die Ziellinie war ein populistisch getragenes Exekutivregime und ein dritter Weg zwischen Demokratie und Diktatur. Diese Richtung träumte vom »autoritären Staat«. In seiner Marburger Rede 23 vom 17. Juni 1934 bezog Papen sich erneut auf seine früheren Sätze und forderte ein Ende der revolutionären Dynamik ein. Wenige Tage später wurde sein Ghostwriter, Edgar Julius Jung, dann am 30. Juni – parallel zu den SA-Spitzen der »zweiten Revolution« – im Auftrag Hitlers ermordet. Thomas Mann reagierte damals im Schweizer Exil auf die Umdeutung und antiliberale Verwertung des Schlagworts. Seine eindringlichen Tagebuch-Notizen vom Sommer 1934 zeigen seine genaue Beobachtung und Ablehnung der Entwicklungen. Am 20. Juni notierte er zwar ins Tagebuch: »Freche Rede des Papen, um nicht mutig zu sagen.« (TB 20. 6. 1934) Einen Tag später aber distanzierte er sich bereits: »Die Zeitungen reden von der Oppositionsrede Papens. Dieser agile kleine Reaktionär hat sich zwar allerlei erlaubt; von den Juden aber und den elenden Rache-Prozessen und den fortwährenden Kommunisten-Hinrichtungen hat er kein Wort gesagt.« (TB 21. 6. 1934)

Seit dem 30. Juni registrierte Mann das »Präventiv-Blutbad rechts und links« (TB 4. 7. 1934) nicht ohne Genugtuung: »Die Spott- und Schandgeburt von ›Revolution‹ beginnt sich selbst mit Blut zu besudeln« (TB 30. 6. 1934). Er differenzierte sehr genau zwischen den

tion, Oldenburg 1933, 103; Bekenntnis zum »Kreis« der »konservativen Revolution« hier: 10 22 Papen, Appell an das deutsche Gewissen, 98 f 23 Franz v. Papen, Rede vor dem Universitätsbund Marburg am 17. Juni 1934, Berlin 1934

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

Opfern und meinte ausdrücklich: »Ich bemitleide diese Schrittmacher des Elends nicht« (TB 4. 7. 1934). Seine Aufzeichnungen schließen am 8. Juli 1934 mit einem starken Fazit: »Nun, immerhin, nach wenig mehr als einem Jahr, beginnt sich der Hitlerismus als das zu erweisen, als was man ihn von jeher sah, erkannte, durchdringend empfand: als das Letzte an Niedrigkeit, entarteter Dummheit und blutiger Schmach – es wird klar, dass er sicher und unfehlbar fortfahren wird, sich so zu bewähren«.

Mann versagte den Papen-Kreisen und Propagandisten der Konservativen Revolution als »Schrittmachern des Elends« sein Mitleid. Es kann also keine Rede davon sein, dass seine programmatische Wiederaufnahme der Formel an den autoritären Kurs der Papen-Linie anknüpfen wollte. Im Vorwort zum ersten Jahrgang der Emigrationszeitschrift Maß und Wert distanzierte Mann sich 1937 vielmehr vom Missbrauch des Schlagworts: »Konservative Revolution. Was haben Dummheit, Renitenz und böser Wille, was hat die belesene Roheit gemacht aus dieser Parole, die von Geistigen und Künstlermenschen einst ausgegeben wurde! Welchen Jugendverderb, welchen weltverdunkelnden Unfug und Freiheitsmord! Welch ein verbrecherisches Banausentum!« (XII, 801)

Mann betonte dagegen die »Sendung der Kunst«, der »Einheit von Überlieferung und Erneuerung«: »Das Neue, das sich aus den erweiterten Elementen des Vergangenen gestaltet; es ist immer überlieferungsbewusst und zukunftswillig, aristokratisch und revolutionär in einem; es ist seinem Wesen nach das, womit es der Zeit und dem Leben ein Vorbild sein kann: konservative Revolution […] Die Wiederherstellung des Begriffes aus Verdrehung und Verderbnis liegt uns am Herzen.« (XII, 801) »Es wiederherstellen aber heißt nicht, sich nach Vergangenem sehnen, sondern es neu herstellen, es aus den Bedingungen, die wir heute vorfinden, frisch erarbeiten und einsetzen.« (XII, 802)

Mann hat die Formel später zwar gemieden, sachlich aber weiter verwandte Positionen vertreten. Eine distanzierende Äußerung findet sich etwa im Brief vom 23. Februar 1944 an den Philosophen Fritz Kaufmann. Mann geht hier auf ein Manuskript Kaufmanns ein und stellt im Umkreis des Faustus-Romans klar: »Calvin war mir immer eine eher schreckhafte Figur, und in Luther sah ich mehr den mittelalterlichen, als den Renaissance-Menschen (er hatte es beständig mit dem Teufel zu tun und glaubte fest an Wechselbälge und Kiel-

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kröpfe 24 als Erzeugnisse der Dämonen), besonders aber den ›grossen Mann Deutscher Nation‹, d. h. mehr ein Verhängnis im grossartig unbewertbaren Sinn, als ein Glück – für Deutschland und die Welt. Die Revolution ›hasste er wie die Pest‹, wie sein Verhalten gegen die Bauern zeigt. Deren 12 Punkte waren zwar ohne seine Thesen nicht denkbar, aber sie waren besser, als diese, weil sich auf sie eine Reichsreform hätte gründen lassen, die der ganzen deutschen Geschichte eine Wendung und Richtung zum Glücklicheren hätte geben können. Ach, ja.«

Mann schließt daran unmittelbar an: »Für ›konservative Revolution‹ ist Luther vielleicht das beste Beispiel. Sonst wusste ich immer wenig mit dem Begriff anzufangen, der in München sehr bald zur feinen Formel für faschistische Tendenzen wurde. Hofmannsthal liebte ihn, hätte aber wohl bald davon geschwiegen, wenn er länger gelebt und mehr mitangesehen hätte.« 25

Die briefliche Äußerung ist für Manns Verwendung sehr aufschlussreich: Mann verdeutlicht hier die Abgrenzung vom politischen Missbrauch und den engen Bezug auf die Reformation. Diese Briefstelle weist bereits auf seinen letzten Werkplan vom Frühjahr 1955 voraus, der später noch näher erörtert wird. Dass Mann sachlich an seinen Überlegungen festhielt, belegen etwa Formulierungen von 1944 in Schicksal und Aufgabe, dem Text, in dem der Antikommunismus als »Grundtorheit unserer Epoche« (XII, 934) bezeichnet ist: »Nie ist der Künstler nur der Fürsprecher und Ankündiger des Neuen, sondern auch Erbe und Vertrauter des Alten. Immer bringt er aus der Tradition das Neue hervor. Wie ich weit entfernt bin, die Werte der bürgerlichen Epoche zu verleugnen, der ja der größte Teil meines persönlichen Lebens angehört, so weiß ich auch, dass die Forderungen der Zeit und die Aufgaben des kommenden Friedens nicht nur revolutionärer, sondern auch rekonstruktiver, ja restaurativer Art sind. Noch immer ist auf einen historischen Tumult, wie wir ihn jetzt erleben, eine restaurative Bewegung gefolgt. Wiederherstellung ist auch ein Gebot der Stunde, das an Dringlichkeit nicht hinter dem der Erneuerung zurücksteht.« (XII, 937)

Ähnlich wie Hofmannsthal betrachtete Mann die »konservative Revolution« also als eine Intellektuellenstrategie, die aktuellen politi-

Altgermanisches dämonische Mischwesen Fotokopie des Briefes im Thomas Mann-Archiv der HHU-Düsseldorf. Der Verweis auf die Äußerung über die »konservative Revolution« fehlt im Regesteneintrag in: Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register Bd. III: Die Briefe von 1944 bis 1950, Frankfurt 1982, 16

24 25

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

schen Differenzen auf den verbindenden kulturellen Herkunfts- und Hintergrundkonsens zu verweisen. Wo Hofmannsthal aber das katholische »Welttheater« erneuerte, arbeitete Mann mit seiner Joseph-Tetralogie an einer humanistischen Auffassung des jüdischen Vermächtnisses der mosaischen Unterscheidung und monotheistischen Weichenstellung. Dass seine Wiederaufnahme des Stichwortes sich gegen die Instrumentalisierung in den Papen-Kreisen richtete, dürfte unstrittig sein. Weniger eindeutig ist es, wie sich Mann genau innerhalb der Emigration positionierte und was er sich vom Stichwort als Sammlungsparole eigentlich versprach. Vom »geheimen Deutschland« sprach er nicht. Ganz bewusst repräsentierte er im Exil aber das »andere Deutschland«. Manns letzte Formel für die dialektischen und politischen Verwirrungen des Nationskonzepts ist dann das FaustusTheorem. In seiner Rede Deutschland und die Deutschen formulierte er dazu im Juni 1945 in Washington abschließend: »Was ich Ihnen in abgerissener Kürze erzählte, meine Damen und Herren, ist die Geschichte der deutschen ›Innerlichkeit‹. Es ist eine melancholische Geschichte – ich nenne sie so und spreche nicht von ›Tragik‹, weil das Unglück nicht prahlen soll. Eines mag diese Geschichte uns zu Gemüte führen: dass es nicht zwei Deutschland gibt, ein böses und ein gutes, sondern nur eines, dem sein Bestes durch Teufelslist zum Bösen ausschlug. Das böse Deutschland, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang. Darum ist es für einen deutsch geborenen Geist auch so unmöglich, das böse, schuldbeladene Deutschland ganz zu verleugnen«. (XI, 1146)

Diese Worte sind unzählige Mal in allen Nuancen interpretiert worden. Sie waren nicht nur eine Rekapitulation der Deutschland-Erfahrungen, sondern auch eine Ankündigung des Doktor Faustus. Das Faustus-Theorem beerbte die Rede von »konservativer Revolution«. Als Mann 1937 seine Formel erneut in die Debatte warf und Siegfried Marck sie zustimmend systematisierte, war der »Untergang« aber noch kaum zu erahnen, wenn »Unglück« und »Schuld« auch längst wirkten.

1.3. Apologetische Umdeutung durch Rauschning und Mohler Manns »humanistische« Sinnbestimmung konnte sich nicht durchsetzen. Im Kampf gegen Hitler spielte das Schlagwort keine konstruktive Rolle. Für die Nachkriegskarriere des Schlagworts wurde 172 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Begriffsgeschichte und Bedeutungswandel der »konservativen Revolution«

vielmehr eine andere begriffspolitische Auffassung folgenreich, die ein heute weniger bekannter Renegat des Nationalsozialismus entwickelte, mit dem Mann damals auch im Gespräch stand: Hermann Rauschning (1887–1982) war 1932 in die NSDAP eingetreten und 1933/34 Regierungschef der Freien Stadt Danzig gewesen, die als auslandsdeutscher Freistaat von der nationalsozialistischen Propaganda heftig indoktriniert und umworben wurde. Ende 1934 trat er als Regierungschef zurück und emigrierte in die Schweiz, wo er mit Mann ins Gespräch kam; später wechselte er in die USA. Rauschning wurde als nationalsozialistischer Renegat zu einem starken Gegner Hitlers. Seine 1940 publizierten Gespräche mit Hitler sind heute zwar als weitgehend fiktive Erfindungen erwiesen und als historische Quelle diskreditiert; das trifft aber ihre damalige Wirkung nicht. Sehr wirkungsvoll, heute noch lesenswert, war damals auch Rauschnings 1938 erschienenes Buch Die Revolution des Nihilismus. Kulisse und Wirklichkeit im Dritten Reich. Mann las es mit starkem Interesse und Zustimmung im Dezember 1938. Er erwähnte Rauschning in seinem Werk auch gelegentlich, weil dessen Schriften im Kampf gegen Hitler wirksam waren, während er Marck nicht öffentlich nannte. 1941 publizierte Rauschning ein autobiographisch geprägtes Buch Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler. 26 Er stellte sich damit autobiographisch und apologetisch in eine »konservative Revolution«, die er als Antithese und Gegenrevolution zur nationalsozialistischen »Revolution des Nihilismus« propagierte. Die rechtfertigende Absicht dieser überscharfen Unterscheidung ist offenbar: Rauschning schuf eine Legende von den strategischen Zwängen und Notwendigkeiten der Kollaboration und begründete eine Art Märtyrergeschichte der internen Konkurrenzen und Bestrebungen innerhalb der nationalistischen Bewegung, die in den Nationalsozialismus mündete. Diese Kollaborations- und Märtyrerlegende machte die Formel von der »konservativen Revolution« als Gegenformel zum Nationalsozialismus für den Rechtsintellektualismus der deutschen Nachkriegszeit attraktiv. Sie verbindet sich heute vor allem mit dem Namen Armin Mohlers. Mohler ist gleichsam der Erfinder der Kon-

Hermann Rauschning, Die konservative Revolution. Versuch und Bruch mit Hitler, New York 1941; dazu vgl. Albrecht Hagemann, Hermann Rauschning. Ein deutsches Leben zwischen Ruhm und Exil, Köln 2018

26

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servativen Revolution als neo-nationalistische und publizistische Sammlungsbewegung. Wikipedia schreibt: »Armin Mohler (* 12. April 1920 in Basel; † 4. Juli 2003 in München; Pseudonyme: Nepomuk Vogel, Michael Hintermwald) war ein Schweizer Publizist, Schriftsteller und Journalist. Mohler gilt als Apologet der ›konservativen Revolution‹ sowie als einer der Vordenker der Neuen Rechten.« Mohler war vor 1945 als gebürtiger Schweizer ein bekennender Faschist gewesen, der 1942 aus der Schweizer Armee desertierte, um sich der Waffen-SS anzuschließen. Nach wenigen Monaten und kurzem Studium in Berlin kehrte er aber in die Schweiz zurück. Er promovierte 1949 in Basel mit einer Arbeit über Die Konservative Revolution in Deutschland, die im Untertitel den Grundriss einer Weltanschauung verhieß und die nationalistische Bewegung also erneut zur »Weltanschauung« erhob. Einleitend bezog Mohler sich auf Hofmannsthal und Rauschning und unterschied die Konservative Revolution, wie schon Rauschning, vom Nationalsozialismus. Er betonte aber, dass »der Nationalsozialismus nicht am 30. Januar 1933 fertig ausgebildet« 27 war, und schrieb im ersten Absatz des Vorworts: »Vor allem die anderthalb Jahre von der Übergabe des Reichskanzleramtes an die Nationalsozialisten im Januar 1933 bis zum Tode Hindenburgs im August 1934 sind von einer dichten Tabu-Schicht überdeckt.« 28

Mohler proklamierte also einen historischen Revisionismus, der gegen monolithische Pauschalverwerfungen argumentierte und gleichsam gute Revolutionäre, als konservative Kollaborateure, von der nationalsozialistischen Orthodoxie unterschied. Er nannte die Kreise der Konservativen Revolution, vom Nationalsozialismus absetzend, die »›Trotzkisten‹ des Nationalsozialismus« und sprach von Häresien, »Ketzergruppen« und »Ketzerverfolgungen«. Hier bezog er sich insbesondere auf Hans Zehrer und den Tatkreis sowie auf Schleicher 29 und schwieg von Papen. Das ist interessant, weil Schleicher ein Gegner des Nationalsozialismus war und eine Machtübernahme Hitlers durch Spaltungs- und Querfrontbestrebungen verhindern wollte, während Papen mit Hitler kollaborierte. Schleicher wurde deshalb Armin Mohler, Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 1950, 9; vgl. ders., Die Konservative Revolution in Deutschland 1918–1932. Ein Handbuch, 2. Aufl. Darmstadt 1972, XXVIII-XXIX 28 Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 1950, 7, vgl. 66 29 Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 1950, 69 27

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auch am 30. Juni 1934 ermordet und Papen nicht. Jedenfalls zielte Mohler mit seiner Abgrenzung vom Nationalsozialismus insgesamt auf eine Rehabilitierung des deutschen Nationalismus gegen die scharfe Nationalismuskritik nach 1945. Das treffende Wort von den »›Trotzkisten‹ des Nationalsozialismus« ist dabei leicht abgründig, war Trotzki doch als Kriegs- und Volkskommissar seinerseits alles andere als harmlos und unschuldig. Zwar verhieß die typologische Analyse den Grundriss einer »Weltanschauung«. Starke weltanschauliche Identifikationskriterien formulierte Mohler aber eigentlich nicht, betrachtete er Konservatismus doch primär als »Haltung« 30 und nicht als Doktrin. Er markierte mit dem Label dennoch einen weltanschaulichen Bruch innerhalb des Konservatismus, indem er die Rolle Nietzsches betonte und die »allgemeine geistige Lage« postchristlich durch den Mythos der »ewigen Wiederkehr« charakterisierte. 31 Diese Disjunktion von Christentum und Konservativer Revolution wurde Mohler immer wieder verübelt. Mit dem »weltanschaulichen« Identifikationskriterium relativierte er aber den politischen Charakter seiner publizistischen Bewegung. Indem er Anspruchskriterien einer fachphilosophischen Dissertation erfüllte, neutralisierte er die politische Anstößigkeit seiner philosophischen Nobilitierung des Weimarer Rechtsintellektualismus und seines historischen Revisionsversuches. Später baute er die analytische Sondierung des rechtsintellektuellen Autorenspektrums zu einem enzyklopädischen Who is Who des Rechtsintellektualismus aus. Heute findet sich im Handbuch eine Reihe von Autoren, die man lieber in Schmuddelkisten beisetzte. Die »Neue Rechte« 32 knüpft heute immer wieder bei zumeist weiter abgesunkenem Niveau ausdrücklich an diese Konservative Revolution an. Die kleine Geschichte des Schlagworts und Labels zeigt, dass ein ursprünglich liberales und kulturpolitisches Schlagwort, das politischen Dissens auf einen verbindenden kulturellen Hintergrundkonsens verwies, in das Schlagwort eines antiliberalen, antidemokratischen und autoritären Projekts umgedeutet wurde, das Rauschning und Mohler dann zur ideologischen und politischen Abgrenzung vom Nationalsozialismus benutzten. Es gab also gleichsam drei EtapMohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 1950, 163 Mohler, Die konservative Revolution in Deutschland 1918–1932, 1950, 229 ff 32 Zur Übersicht etwa Klaus Ahlheim / Christoph Kopke (Hg.), Handlexikon Rechter Radikalismus, Ulm 2017 30 31

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pen in der Karriere des Labels: die kulturpolitische Verwendung von Mann und Hofmannsthal, die Umdeutung zum »autoritären« Projekt (Papen) und die spätere Abgrenzung (Rauschning) vom totalitären und eliminatorischen nationalsozialistischen Projekt. Die spätere neo-nationalistische und revisionistische Vereinnahmung (Mohler) pervertierte Manns kulturpolitische und verständigungsorientierte Auffassung dabei geradezu. Weil Mohlers Umdeutung aber, ihrerseits umgedeutet, stark in die »Neue Rechte« wirkte, ist Manns begriffspolitisches Schlagwort heute hoffnungslos diskreditiert. Das belastet auch die Rezeption von Marcks Konzeptualisierung.

2.

Siegfried Marck (1889–1957): Basisdaten

Siegfried Marck gehört nicht in die erste Reihe der deutschen Universitätsphilosophie. Wie Cassirer wurde er in Breslau geboren und wuchs dort auf. 33 Er studierte und promovierte 1911 in Breslau, bei Eugen Kühnemann, und habilitierte sich dort 1917, nach einer nationalistischen Eloge auf die Deutsche Staatsgesinnung, mit einer Arbeit über Kant und Hegel. Er wurde in den Militärdienst eingezogen und bekehrte sich an der Westfront zum Pazifismus 34 und zur Sozialdemokratie. 1924 wurde er Extraordinarius in Breslau und 1930 als Nachfolger Richard Hönigswalds Ordinarius in der Philosophie, nachdem er 1929 seine grundlegende Dialektik veröffentlicht hatte. 35 Marck gehörte zu den ethischen Sozialisten der Weimarer Republik, die durch den Neukantianismus geprägt waren, sich dem Hegelianismus und Marxismus öffneten und deshalb auch ein weites und großflächiges Konzept von Dialektik vertraten. Man könnte ihn in seinem philosophischen Profil und politischen Engagement etwa mit Karl Vorländer (1860–1928) oder Arthur Angaben nach Helmut Hirsch, Siegfried Marck. Biographisches zur Wiederentdeckung des Philosophen, Soziologen und Sozialisten, in: Ordnung und Theorie, hrsg. Sven Papcke, Darmstadt 1986, 368–385; ders., Thomas Mann und Siegfried Marck im US-Exil, in: Hefte der Deutschen Thomas-Mann-Gesellschaft Heft 6/7 (1987), 70–86; Stichwortartikel von Hans-Holger Paul in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), 120– 122 34 Siegfried Marck, Imperialismus und Pazifismus als Weltanschauungen, Tübingen 1918 35 Siegfried Marck, Die Dialektik in der Philosophie der Gegenwart, 2 Bde., Tübingen 1929/1931; vgl. auch ders., Hegelianismus und Marxismus, Berlin 1922 33

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Manns Umgang mit Marck

Liebert (1878–1946) vergleichen. Liebert widmete sich im Exil der humanistischen »Bewegung« und »Renaissance« des Humanismus. 36 In Lieberts Emigrationszeitschrift Philosophia publizierte Marck 1937 seinen Aufsatz über Thomas Mann als Dialektiker, wie Liebert proklamierte er sein Denken nach 1933 als Philosophie des Neuhumanismus. Der Humanismusbegriff bot sich damals als relativ unpolitischer und überpolitischer Sammlungsbegriff jenseits der radikalen Parteiungen an. 37 Die ganze Weimarer Zeit hindurch hatte Marck sich aktiv für die Sozialdemokratie engagiert. Die Richtungsfragen innerhalb der Sozialdemokratie erörterte er 1927 schon in einem Buch Reformismus und Radikalismus in der deutschen Sozialdemokratie. Marck wurde 1933 dann als Jude und Sozialdemokrat sofort entlassen und 1935 ausgebürgert. Er emigrierte schon im Frühjahr 1933 nach Paris, erhielt ein Rockefeller-Stipendium und lehrte seit dem November 1934 an der Universität Dijon. 1939 emigrierte er in die USA und lehrte dort in New York und Chicago. Dabei engagierte er sich weiter vielfältig im Kampf gegen Hitler und den Nationalsozialismus. 1955 kehrte er als Gastdozent an die Universität Bonn zurück.

3.

Manns Umgang mit Marck

Marck lebt heute in der Mann-Forschung allenfalls in Fußnoten. Keine seiner Mann-Deutungen hat nachhaltige Wirkung gezeitigt. Rekonstruiert man aber die Kontakte anhand der Tagebücher, so ist man geradezu frappiert: Seit 1933 begegnet Marcks Name nahezu durchgängig. Wohl mit keinem zweiten deutschen Universitätsphilosophen korrespondierte Mann über einen derart langen Zeitraum auch so konstant. Über 40 Briefe an Marck seit dem Januar 1936 waren 1987 nachweisbar, 38 immerhin vier sind auch in die dreibändige Briefauswahl von Erika Mann aufgenommen. Gewiss haben Lukács

Dazu Verf., Philosophie im Exil. Emil Utitz, Arthur Liebert und die Zeitschrift Philosophia, Würzburg 2018 37 Dazu vgl. Matthias Löwe / Gregor Streim (Hg.), ›Humanismus‹ in der Krise. Debatten und Diskurse zwischen Weimarer Republik und geteiltem Deutschland, Berlin 2017 38 Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. V: Empfängerverzeichnis und Gesamtregister, Frankfurt 1987, 170 36

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und Adorno stärker beeindruckt; kein zweiter Fachphilosoph stand Mann als Kampfgefährte der Emigration aber politisch so nahe. Viele Briefe betrafen die politische Publizistik und pragmatische Hilfeleistungen in der Emigration. Der Umgang entwickelte sich freundschaftlich, mit aufmerksamer Pflege durch Geburtstagsbriefe, publizistische Zuwendungen und kleinen Präsenten von Seiten Marcks, sodass der Kontakt auch nach 1945 bei räumlicher Trennung anhielt. Wahrscheinlich beginnt die Beziehung 1933 mit einer Begegnung in Lugano. Am 26. April 1933 notiert Mann ins Tagebuch: »Gespräch mit dem Breslauer Professor Marck in Sachen einer Emigrations-Universität.« Marck ist damals als Ordinarius beurlaubt und schon emigriert. Als Philosophen bezeichnet Mann ihn hier nicht. Es geht um organisatorische Fragen der Emigration und es ist beachtlich, dass Mann sich hier bereits Jahre vor seinem öffentlichen Bekenntnis zur Emigration mit Marck vernetzt. Die Kontakte verdichten sich aber erst 1936. Erst nach Manns Emigrationserklärung reklamiert Marck Manns neuhumanistische »Sendung« auch publizistisch. Mann notiert dazu am 3. September 1936 ins Tagebuch: »Zu notieren: Lektüre eines Aufsatzes ›Th. M. als Dialektiker‹ von Siegfr. Marck (Dijon), kluge, eindrucksvolle und erinnernde Arbeit.« Umgehend dankt er brieflich und hebt die Formel vom »kritischen Nietzscheanismus« zustimmend hervor. Am 13. Oktober 1936 ist Marck dann in Zürich zu einem längeren Gespräch in Manns Haus eingeladen; zur Jahreswende schickt er einen emphatischen Dankesbrief, der auch den dritten Band des Joseph-Romans betrifft (vgl. TB 31. 12. 1936; TB 2. 1. 1937). Damals arbeitet er vermutlich bereits am Neuhumanismus-Buch. In seinem Buch verzichtet Marck zwar auf eine nähere Analyse des Romanwerks, zumal Joseph und seine Brüder noch nicht abgeschlossen ist; wie für Cassirer und später Fritz Kaufmann ist es aber damals gerade der Joseph-Roman, der die »neuhumanistische« Sendung kreditiert. »Humanismus« war ein neutralisierender, Politik in Moral verschiebender Kampfbegriff der Emigration. Liebert exponierte ihn als Sammlungsbegriff durch seine Zeitschrift Philosophia und seine philosophische Gesellschaft. Er schrieb dazu auch mehrere Monographien und publizierte über die Pflicht der Philosophie in unserer Zeit. 39 In einem Brief vom März 1937 an Liebert befürchtete Marck

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Arthur Liebert, Von der Pflicht der Philosophie in unserer Zeit, Zürich 1938

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Manns Umgang mit Marck

eine mögliche »Kollision« ihrer Titel bei sachlicher »Ergänzung«, 40 begrüßte aber die Vernetzung der Exilphilosophie. Liebert bat damals auch Mann um einen Beitrag für seine Zeitschrift. Der antwortete so höflich, dass zwischen Zusage und Absage kaum zu entscheiden ist. Sein Brief an Liebert 41 lautet: »Sehr verehrter Herr Professor, Haben Sie recht vielen Dank für Ihren interessanten Brief! Ich habe grosse Freude an der Gründung dieser Zeitschrift und der grossen internationalen geistigen Organisation, von der Sie mir Nachricht geben. Ihre Einladung, einen Beitrag für die »Philosophia« zu schreiben, ehrt mich sehr und beschämt mich auch, da ich zweifeln muss, ob ich der Aufgabe gewachsen bin und mich in einem solchen Kreise hören lassen darf. Anziehend genug ist mir der Gedanke, das brauche ich nicht zu sagen und ich bewahre jedenfalls Ihren Brief für den Augenblick auf, wo ich eine Möglichkeit sehen werde, Ihrem Ruf zu folgen. Zur Zeit müssen meine ganzen Kräfte der Beendigung des biblischen Romanes gelten, der mich schon so lange beschäftigt. Sie dürfen es leider nicht einmal, da allerlei Reiseverpflichtungen nächstens zu absolvieren sind, die wieder Zeit und Kräfte kosten werden. Um so weniger kann ich im Augenblick neue Arbeitsverpflichtungen übernehmen und Versprechungen abgeben, aber, noch einmal, ich behalte Ihre Aufforderung fest im Gedächtnis, und wenn ein halbwegs philosophischer Aufsatz sich wieder einmal ergibt, soll er Ihnen gehören. Mit verbindlichen Grüssen Ihr sehr ergebener Thomas Mann«

Deutlicher hat Mann sich gegenüber einem Philosophen mit dem Versprechen eines einschlägigen Textes kaum je aus dem Fenster gelehnt. Immerhin räumte er ein, dass er jemals einen »halbwegs philosophischen Aufsatz« geschrieben habe. Manns Reden über Freud oder auch Wagners Nibelungenring hätte Liebert gewiss gerne publiziert. So dürfte die aufgeschobene Zusage wenig mehr als eine höfliche Absage gewesen sein. Überdies gab Mann bald selbst Maß und Wert heraus, sodass alle passenden Beiträge eigentlich absorbiert waren. Dennoch ist Manns – entlegen publizierter Brief – für seine Kontakte zu Exilphilosophen nicht unbeachtlich. Am 16. August 1937 notiert Mann aus einer Pariser Tageszeitung einen Bericht über einen Vortrag, in dem Marck von einer poliMarck am 9. März 1937 an Liebert, Abdruck faksimiliert bei Zdarvko Kučinar, Arthur Liebert. Leben und Werke, Belgrad 2015, 183 41 Mann am 4. März 1936 an Liebert, in: Kučinar, Arthur Liebert, 182 40

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tisch-philosophischen Botschaft sprach. Am 28. Oktober notiert er dann: »Zum Thee Prof. S. Marck (Dijon). Über die mir in Paris zugedachten Ehrungen, die für Mai 38 in Aussicht genommen. Sein Manuskript ›Humanismus als pol. Philosophie‹.« Der Kommentar entschlüsselt diese geplanten »Ehrungen« nicht näher; Marck möchte Mann aber offenbar für eine politische Aktion einspannen, ihn öffentlichkeitswirksam vorspannen, wie es das Manuskript unternimmt. Am 4. November dankt Mann brieflich für Marcks »verdienstliches, klärendes und förderliches Gedankenwerk«. 42 Am 6. Januar kommt Marck erneut zum Tee. Bald registriert Mann das Erscheinen des Aufsatzes über Mann als Dialektiker, der dem Buch vorausgeht. Später verwundert er sich über eine Parallelveröffentlichung, in der er als »Genie« bezeichnet wird (TB 10. 7. 1936). Er unterstützt zwar ein Erscheinen des Neuhumanismus-Buchs im Verlag Oprecht, dem Mann eng verbunden ist, ärgert sich aber über »beständige Bitten um Hilfeleistungen« (TB 12. 11. 1938) und notiert dann zum Erscheinen des Buches (in einem anderen Verlag) und ersten Reaktionen: »Lektüre: Zeitschrift für Sozialforschung. Horkheimer gegen den allerdings schwachen Marck, nimmt mit Recht an, dass ich mich bei der mir zugesprochenen philosophisch-politischen Botschaft nicht wohl fühle. Spricht von der Lasurfarbe der Ironie, 43 die der Erfahrene noch über meinen politischen Kompositionen entdeckt …« (TB 16. 2. 1939)

Mann distanziert sich von Marcks Festschreibung auf eine Botschaft durch die Betonung seiner Ironie und verdeutlicht dies durch die Bezeichnung seiner Politik als musikalische »Kompositionen«. Er stimmt Horkheimers Verriss zu, deutet aber andere Gründe an. Horkheimers längere Besprechung setzte den marxistischen Standpunkt gegen Marcks idealistischen »Kultursozialismus«; Philosophie sei »längst in Kritik der politischen Ökonomie umgeschlagen«. 44 Zur Orientierung an Mann schreibt Horkheimer abschätzig: »Wir wollen den sachlichen Gründen dieser Krönung Thomas Manns zum summus philosophus nicht weiter nachgehen. Sie sind im wesentlichen auf Die Briefe Thomas Manns. Regesten und Register. Bd. II: Die Briefe von 1934 bis 1943, Frankfurt 1980, 181 43 Mann variiert hier Formulierungen Horkheimers in ders., Die Philosophie der absoluten Konzentration, in: ders., Kritische Theorie. Eine Dokumentation, hrsg. Alfred Schmidt, Frankfurt 1968, Bd. II, 260–272, hier: 266 44 Horkheimer, Die Philosophie der absoluten Konzentration, 270 42

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Manns Umgang mit Marck

einen Satz auf dem Zauberberg aufgebaut: ›Der Mensch ist der Herr der Gegensätze.‹« 45

Horkheimer deutet an, dass er auf kritische Bemerkungen von Marck antwortet. Diese Auseinandersetzungen um das Sozialismus-Verständnis sind hier nicht zu klären. Eine eingehende Reaktion Manns auf Marcks Buch ist auch nicht bekannt. Nach Horkheimers kritischer Besprechung und Manns negativen Bemerkungen sah sich die Forschung selten veranlasst, das Buch näher zur Kenntnis zu nehmen. Bei flüchtiger Lektüre verwundert Manns exponierte Rolle im Buch auch. Mann konnte schon deshalb, nach dem positiven Eindruck vom Aufsatz, vom Buch enttäuscht gewesen sein, weil sein literarisches Werk in der Programmschrift, wie Horkheimer bemerkt, nicht näher gedeutet ist. Marck erwähnt zwar den Joseph-Roman und Zauberberg, berücksichtig aber nur Manns Essay Goethe und Tolstoi eingehender, der damals bereits über 15 Jahre alt war. Eine doppelte Inkongruenz könnte Mann also empfunden haben: die knappe Erörterung seines Werkes im Buch und die Diskrepanz zwischen der starken These und »schwachen« literaturkritischen Ausführung. Trotz dieser Enttäuschung bleibt er mit Marck weiter im Kontakt. So trifft er ihn am 7. Mai und 17. November 1939 privat im kleinen Kreis zum Lunch und Tee. Ein Jahr später, am 18. November 1940, spricht er ihn erneut in Chicago. Auch für 1941 registriert er Korrespondenz, 1942 freut er sich über einen »enthusiastischen« Brief zur Publikation der Radiovorträge Deutsche Hörer!. Damit hatte Mann die ihm zugeschriebene »Sendung« ja sehr buchstäblich erfüllt! Die später von Marck angetragene Präsidentschaft in der Emigrantenorganisation Freies Deutschland lehnte er ab; er betrachtete Marck damals als einen Hauptvertreter der Emigrationsorganisationen, der politischen Linken, von der er nicht allzu eng vereinnahmt werden wollte. Am 27. Oktober 1943 schlägt Mann ein Treffen in Chicago vor. Am 28. Januar 1944 dankt er für die Widmung des Buches Germany, to be or not to be und spricht vom Doktor Faustus als deutsche Antwort. Am 1. April 1944 trifft er Marck erneut in Chicago zum Tee: »Gespräch über das Tillich-Komitee und die deutsche Frage.« Das genaue Verhältnis zu den Emigrationsorganisationen und die Rolle von Marck in diesen Netzwerken sei aber dahingestellt. Hier geht es vor allem um die philosophische Deutung. 45

Horkheimer, Die Philosophie der absoluten Konzentration, 266

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

Marck bleibt Manns literarischem Werk weiter verbunden. Er rezensiert Joseph the Provider in der Neuen Volkszeitung, wofür Mann brieflich dankt. Auch nach Kriegsende bleibt die Korrespondenz dicht. Eine Einladung in Marcks Chicagoer Roosevelt-College lehnt Mann allerdings im März 1947 ab. Marck schickt einen Brief über den Doktor Faustus, den Mann »bedeutend« (TB 7. 2. 1948) nennt, der ein Treffen in Pacific Palisades anvisiert. Wenige Tage später, am 18. Februar 1948, kommt es zu einem Wiedersehen nach längerer Zeit: »Zum Lunch Prof. Marck aus Chicago mit Frau. Übergabe eines sehr philosophischen Aufsatzes über Faustus.« Die Betonung des »philosophischen« Charakters ist leicht distanzierend gemeint. Für die (unveröffentlichte) Studie bedankt sich Mann aber umgehend. Am 20. Mai 1948 lehnt er erneut eine Einladung ans RooseveltCollege ab. Es folgen weitere Briefe aus konkreten Anlässen: Mann gratuliert Marck verspätet zum 60. Geburtstag; am 17. März 1949 erklärt er seine Bereitschaft, im Roosevelt College zu lesen. Zum Jahresbeginn 1950 beklagt er sich über seine Verunglimpfung als »Kommunist«. Marck schreibt daraufhin ein Manuskript Der Kampf um Thomas Mann als patriotische Persönlichkeit, für das Mann umgehend dankt. Marck möchte ihm nun sein Buch über Große Menschen unserer Zeit widmen (TB 28. 11. 1950). Mann nimmt die Widmung auch förmlich an, gibt aber zu bedenken, dass die Hervorhebung als »ungerechte Verengung« aufgefasst werden könne. Ähnlich wie im Neuhumanismus-Buch wollte Marck Mann unter den »großen Menschen« gleichsam als primus inter pares hervorheben. Das Buch erscheint erst Jahre später, 1954, in der Bundesrepublik; Mann hat es noch erhalten und dazu am 21. Mai 1954 ins Tagebuch notiert: »Gelesen in S. Marcks von Druckfehlern wimmelndem Buch ›Große Menschen unserer Zeit‹. Gerührt von einigem, was er sagt über mich oder Joseph.« Das schreibt er am 23. Mai auch in einem langen Brief: »Sie haben mir ein schönes, weites, reiches Buch von ›Grossen Menschen in unserer Zeit‹ schicken lassen; herzlichen Dank dafür! Es hat mich gefesselt und gerührt – auch dies; denn wie sollte mich nicht rühren, was Sie darin über ›mich‹ zu sagen wissen, über Joseph besonders und die letzte Melancholie, die seine Gestalt umgibt. Er ist doch wohl mein Lieblingssohn […] Ihr Buch ist ausgezeichnet, ob es nun von Dewey spricht oder Roosevelt (da besonders) oder Niebuhr oder über die Franzosen. Aber es ist ja entsetzlich, wie es von Druckfehlern wimmelt und zwar solchen, die geradezu den Sinn verdunkeln. Die Errata geben die wenigsten an. Man liest unkorrigierte

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Manns Umgang mit Marck

Bögen, wenigstens streckenweise. Sie hätten sich’s das Luft-Porto kosten lassen sollen, um die Korrektur selbst zu besorgen. Auf Verlagskorrektoren ist kein Verlass.« 46

Mann degradiert hier den alten Philosophieprofessor, der ihm einst eine »Sendung« zusprach, zum akademischen Anfänger. Leicht ironisch liest sich auch ein älterer Brief, den Erika Mann ebenfalls in die Auswahlbände aufnahm. Dort heißt es: »Lieber Herr Professor Marck, / haben Sie recht vielen Dank für Ihr ernstes und ausführliches Eingehen auf den Deutschland-Artikel, der zuerst auf Englisch unter dem Titel »Germany’s Guilt and Mission« in meines Sohnes ›Decision‹ erschien. Ihre Äußerungen erinnern mich nun freilich etwas an den Vorwurf, den man mir während der letzten Jahre in Deutschland machte, nämlich dass ich offenbar gänzlich zur Partei des Herrn Settembrini übergegangen sei. Das bin ich nicht. Ich habe entschieden Sinn für seine Komik, wenn ich sie auch dem boshaften Dunkelmännertum seiner Gegenfigur vorziehe. Vor allem aber bin ich ein Mann des Gleichgewichts, der im schief laufenden Boot sich instinktiv auf die hochliegende Bank setzt. Sie dürfen nicht vergessen, dass meine politischen Exkurse nicht, wie Ihre Schriften, unter dem Gesichtspunkt absoluter Philosophie verfasst sind, sondern dass sie eine höhere Art von Propaganda darstellen und einen polemisch-pädagogischen Charakter haben.« 47

Ironisch ist dieser Brief, weil es für Mann keineswegs ausgemacht war, wer der Propagandist ist. Mann distanzierte sich von Marcks erneuten Festlegungen auf eine Position und spielte auf dessen Einsatz und Eifer an. Rekapituliert man derart die Beziehung, so lässt sich von einem vertrauten strategischen Kontakt sprechen, der mehr von den politischen Übereinstimmungen als vom intellektuellen Interesse getragen war. Mann schätzte weder die politische noch die »philosophische« Vereinnahmung und bedurfte des publizistischen Einsatzes von Marck für sein Werk auch nicht. Keine seiner literaturkritischen Äußerungen hat ihn wirklich beeindruckt. Zweifellos aber hat er Marck persönlich geachtet und gemocht.

Mann am 23. Mai 1954 an Marck, in: Briefe 1948–1955, Frankfurt 1965, 342 Mann am 19. September 1941 an Marck, in: Briefe 1937–1949, Frankfurt 1963, 207 f

46 47

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

4.

Marcks Explikation: Neuhumanismus als konservativrevolutionäre Synthese

Marck schrieb diverse Rezensionen und Artikel über Manns Werk 48 und wies ihm in seinen letzten größeren Monographien eine zentrale Stellung zu. Er ließ sich aber nicht detailliert philologisch auf das literarische Werk ein. Marck hatte Horkheimers Projekt einer marxistischen Philosophie zurückgewiesen und einen »Primat der Philosophie« eingefordert; er erneuerte eine Unterscheidung von »Idee und Ideologie« und meinte: »Die Ideologien sind Rezeptionsformen der Ideen.« 49 Er revidierte den marxistischen Konnex von Partei und Bewegung, Klassenbewusstsein und Avantgarde, den Lukács dogmatisiert hatte, und sprach erneut von »schöpferischen Menschen« als »Trägern der Idee«. 50 Die Kontroverse zwischen Marck und Horkheimer ist ein Beispiel für den – bis heute virulenten – Richtungsstreit zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie. Marck argumentierte sozialdemokratisch gegen die Restriktion der »Idee« auf »Ideologie«, gegen die propagandistische Instrumentalisierung der Philosophie zur »Waffe« im Klassenkampf und Ablehnung des reformistischen und liberaldemokratischen Wegs zur Humanisierung der Gesellschaft. Marcks Sendungsbuch arbeitet ältere Weimarer Debatten ab und will die Emigration unter der Flagge des Neuhumanismus neu versammeln. Es stellt sich dafür jenseits von Faschismus und Kommunismus und erneuert die »konservative Revolution« in einer tiefdringenden Auseinandersetzung mit den radikalen Auslegungen des Konservatismus einerseits und der Revolution andererseits. Durch die Kritik diverser Auslegungen hindurch möchte es eine neuhumanistische Synthese ermöglichen. Das verstand Marck als philosophische Explikation von Manns Emigrationsprogramm, wie es im Vorwort von Maß und Wert formuliert war. Er schrieb sein Buch im Kern 1937 und korrigierte im April 1938 die Fahnen. Es dürfte dann im Dazu Siegfried Marck, Thomas Mann, in: Pariser Tageszeitung v. 13. August 1937; Reflections on The Beloved Returns, in: Roosevelt Quaterly 1 (1941), 27–34; Thomas Mann im Jahre 1950. Versuch einer Wertung seines Lebens und seines Werkes, in: Der neue Vorwärts Nr. 22 vom 2. Juni 1950; Thomas Mann. Dichter, Denker und politischer Menschen, in: Die andere Zeitung 1 (1955), Nr. 4, 14; Thomas Mann als Denker, in: Kant-Studien 47 (1956), 225–233 49 Siegfried Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, Zürich 1938 50 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 87 48

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Marcks Explikation: Neuhumanismus als konservativ-revolutionäre Synthese

Sommer 1938 erschienen sein, sodass Horkheimers Verriss noch 1938 erfolgte. Marck möchte damals als Hermeneut an Manns Seite treten und ihn als Repräsentanten des exilierten Neuhumanismus exponieren. Seine Explikation ist keineswegs »schwach«, sondern vielmehr originell und prägnant. Das Buch gliedert sich in drei Kapitel: 1. Der Faschismus als Sophistik der konservativen Revolution; 2. Die marxistische Philosophie der Weltveränderung; 3. Der Neuhumanismus als Philosophie der Zukunft. Marck unterscheidet zwischen einem kritischen und einem aufbauenden Teil. Die ersten beiden Kapitel sind destruktiv im Sinne des Abbaus einer »Sophistik« und der aufbauende Teil sucht eine Synthese: »Wenn wir im aufbauenden Teile unserer Arbeit fragen wollen: Wie ist politischer Neuhumanismus möglich?, so ist damit zugleich die Frage nach neuen Formen der Beziehung zwischen Konservatismus, Liberalismus und Sozialismus gestellt.« 51

Eingangs preist Marck Manns Joseph-Roman als kritischen »Ursprungs-Mythos« und wahre »Wiederherstellung« des Konservatismus 52 und kritisiert dann den Aktivismus, futuristischen »Erwartungs-Mythos« und »Gesinnungsmilitarismus« des Faschismus, den er von Mussolini und Moeller van den Bruck her beschreibt. Er erörtert Othmar Spann, Ernst Jünger und Carl Schmitt 53 als Autoren der »sophistischen« Perversion und propagandistischen Instrumentalisierung des Konservatismus und rechnet Ernst Bloch in einem polemischen Exkurs dem »sophistischen« Missbrauch der Tradition zu. 54 Marck folgt mit seiner Streitschrift, seiner Absicht und Anlage nach, Manns Programm einer »Wiederherstellung« der Überlieferung und versteht seine hermeneutische Destruktion als Rekonstruktion ursprünglich schöpferischer Impulse. So will er die »Idee« des Sozialismus aus den Fängen der marxistischen Dialektik befreien und setzt sich dafür mit Karl Korsch, Lukács und Horkheimer auseinander. »Philosophische und kapitalistische Selbstentfremdung sind aber doch offenbar zweierlei«, 55 stellt Marck klar und spricht von »Selbstentfremdung«, nicht von »Entfremdung«, um die Perspektive der Humanisierung auf die »Transzendenz« der idealistischen Selbst51 52 53 54 55

Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 7 f Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 17 f Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 50 ff Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 66 ff Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 92

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

auffassung zu verweisen. Marck kritisiert, dass der marxistische »Realismus« in den ungeschichtlichen »Utopismus eines starken Eindrucks umschlägt«; 56 er lehnt den »messianischen Zug des Marxismus« 57 ab und bemängelt, dass der »Begriff einer bürgerlichen Kultur« 58 und reformistische »Staatsbejahung« 59 vom Marxismus negiert wurde. Marxistische Kritiker sehen Marck damals selbstverständlich als typischen Vertreter eines sozialdemokratischen Kulturidealismus an. Marck deutet die Problematik an, dass der Gegensatz sich verschleift und der alte Streit zwischen Sozialdemokratie und Bolschewismus in der »Volksfront« der »Gläubigen des Antifaschismus« 60 untergeht. Am Ende des Buchs bekennt er sich emphatisch zum »sozialistischen Humanismus«. Systematisch beruft er sich auf einen »integralen Personalismus«, 61 der im anthropologischen Diskurs der Zwischenkriegszeit vielfältig vertreten wurde und den Mann im Joseph-Roman religionsphilosophisch ausformulierte. Marck deutet den Neuhumanismus theomorph aus dem religiösen Gedanken der »Ebenbildlichkeit«; ihn interessiert die »Gottesidee um des Menschen willen«. 62 Neben Mann zitiert er hier einige Autoren der Emigration, u. a. Paul Tillich, Paul Ludwig Landsberg und Felix Welsch. Wie Mann reklamiert er Goethe als Modell; er nimmt einen späteren Aufsatz Thomas Manns – Die drei Gewaltigen – geradezu vorweg, wenn er schreibt: »Die Goethe-Gestalt war schon im 19. Jahrhundert überschattet worden von den drei Gewaltigen, die das definitive Ende der Bürgerlichen Epoche und mit ihr der gesamten Neuzeit anzukündigen schienen: Marx, Nietzsche und Kierkegaard.« 63

Marck ruft aber nicht einfach zu Goethe zurück, sondern geht abschließend noch einige Gegenwartsideen als aufbauende »Elemente der humanistischen Konzentration« durch: den christlichen Beitrag, das ethische »Erbe des Liberalismus« und den »Kultur-Sozialismus«, den er als »zeitlosen Kern« betrachtet. Dabei meint er: »Der konkrete

56 57 58 59 60 61 62 63

Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 98 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 107 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 108 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 114 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 118 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 132 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 146 Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 153

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Marcks Explikation: Neuhumanismus als konservativ-revolutionäre Synthese

Sozialismus ist auch der wahre Liberalismus.« 64 Marck zielt auf die Wiederherstellung der sozialistischen »Idee« als Sendungsbewegung und betrachtet Mann als wichtigsten Repräsentanten und Vordenker der Bewegung. Es wurde bereits erwähnt, dass Mann nicht derart strikt und buchstäblich auf einen doktrinären und propagandistischen Sinn seiner Programmatik festgelegt werden wollte. Den Streit von Politik und Kunst hatte er früh erfahren und sich im Exil längere Zeit politische Zurückhaltung auferlegt, um primär über seine literarische Werke zu wirken und nicht als Emigrationspolitiker und Parteisoldat abgestempelt zu werden. Nun erlebte er beinahe umgehend, 1937/38, mit Marcks doktrinärer Fassung den Eigensinn der Rezeption. Sein Unbehagen an Marcks Explikation resultierte schon aus dem Primat der Doktrin oder »Idee« über die Ironie und künstlerische Gestaltung. Marck verzichtete im Buch auf die literaturkritische Auslegung des Werkes, die Mann allenfalls interessierte. Dabei hatte er in seinem Aufsatz Thomas Mann als Dialektiker das literarische Werk noch eingehend gewürdigt und die »platonischen Dialoge« des »KünstlerDialektikers« am Zauberberg herausgestellt. 65 Er betonte im Aufsatz, dass der Roman die agonalen Spannungen und antithetische Kontroversen der Zeit mit Castorps »Traumgedicht« in eine »überdialektische« »Lebensbürgerlichkeit« aufheben wollte und die Romantik in einen neuen Humanismus überführte. Treffend schrieb er: »Kritischer Nietzscheanismus – das wäre vielleicht die knappste Formel, mit der man Thomas Manns Philosophie charakterisieren könnte.« 66

Marck berief sich 1937 für die Mann-Forschung auf Käte Hamburger und schloss mit Manns Erneuerung des Mythos als dionysisches »Fest«. Das alles war anregend und einsichtig. Mann konnte also schon deshalb 1938 enttäuscht gewesen sein, weil Marcks Buch auf solche literaturkritische Ausführungen verzichtete; es stellte Manns Position nicht eingehend dar, sondern setzte deren Kenntnis voraus, deutete sie als ein Fazit der »humanistischen Konzentration« und betrachtete Manns Werk als philosophische Synthese diverser Tendenzen und Strömungen. An einer solchen explikativen Identifikation war Mann offenbar nicht sonderlich interessiert, zumal er mit seinem 64 65 66

Marck, Der Neuhumanismus als politische Philosophie, 186 Siegfried Marck, Thomas Mann als Dialektiker, in: Philosophia 2 (1937), 112–138 Marck, Thomas Mann als Dialektiker, 133 f

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Siegfried Marcks Explikation von Manns »Sendung«

autobiographischen Begleitwerk selbst die Deutungshoheit über seine Quellen beanspruchte. »Schwach« war Marcks Buch gewiss nicht. Marcks weitere Auseinandersetzung mit Manns Schriften zeigt sich abschließend in dem Buch Große Menschen unserer Zeit, 67 einem Gegenstück zu Der Neuhumanismus als politische Philosophie, das ohne Tiefgang und Anspruch zwar den idealistischen Glauben an »schöpferische Menschen« erneuert, aber nicht weiter systematisch sondiert, sondern einige exemplarische Vertreter aus »drei Kulturkreisen« nebeneinander versammelt: aus den USA, Deutschland und Frankreich. Das Mann-Kapitel schließt hier an Ausführungen über Kurt Schumacher und Konrad Adenauer an, Manns Lebenswerk wird lediglich als »Spiegel« der deutschen und europäischen Krise betrachtet. Die drei großen Deutschland-Romane – Buddenbrooks, Der Zauberberg und Doktor Faustus – firmieren als eine »Trilogie des Pessimismus«, und als literarische »Gottsucher« marschieren anschließend u. a. Gertrud von Le Fort und Ernst Wiechert auf. Aus der exponierten Stellung von 1938 ist Mann hier entthront und in eine Reihe und Umgebung zurückgestutzt, die seinem Rangbewusstsein schwerlich gefallen hätte; von dem hohen idealistischen Credo und der neuhumanistischen Sendung des Werkes ist nicht weiter die Rede. Marck hat seinen Namen in der Mann-Forschung am Ende selbst geschwächt, weil er sein klares Konzept von Manns Rolle und »Sendung« und seine privilegierte Vertrautheit mit Mensch und Werk nicht in eindrucksvolle Nahaufnahmen umzusetzen vermochte. Er markiert dennoch eine wichtige Station in der politisch-philosophischen Mann-Apologetik, hat er Manns programmatische Revokation der »konservativen Revolution«, Antwort auf den nationalistischen Missbrauch der Formel, doch als konstruktive Traditionskritik ernst genommen und aktualisiert. Ich knüpfe daran an, wenn ich »Konservative Revolution« positiv als Erneuerung aus dem Anfang verstehe, in Manns Romanwerk – insbesondere seit dem Joseph-Roman – realisiert finde und positiv gegen den Weimarer Radikalismus ausspiele. 68

Siegfried Marck, Große Menschen unserer Zeit. Portraits aus drei Kulturkreisen, Meisenheim 1954 68 Dazu vgl. Reinhard Mehring, Martin Heidegger und die »konservative Revolution«, Freiburg 2018 67

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VIII. Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese: Manns Antwort an Walter von Molo

Manns Lage in der Emigration unterschied sich stark von den meisten anderen deutschen Emigranten. Spätestens seit dem Nobelpreis von 1929 war er als Schriftsteller in der Welt willkommen. Durch sein Engagement für die Weimarer Republik, sein Bekenntnis zu einem – eigenwillig interpretierten – »Sozialismus« und sein frühes und energisches Eintreten gegen den deutschen Nationalismus und Nationalsozialismus stand er 1933 weit oben auf der Liste erklärter Feinde. Mann verließ Deutschland schon im Februar 1933 vor dem Ermächtigungsgesetz; einige Monate lebte er in Sanary-sur-Mer, 1 einer Sammlungsoase der Emigration, dann zog er nach Zürich. 1936 wurde er ausgebürgert; die Universität Bonn entzog ihm seine Ehrenpromotion. 1938 siedelte er aus der Schweiz in die USA über, wo ihm akademische Kreise, publizistische Foren und eine breite Vortragstätigkeit offen standen. Bald galt er als ein »König« der Emigration. Mann hatte sich schon vor 1933 politisch exponiert und verstand sich auch nach 1933 und 1945 weiter als deutscher Schriftsteller, der ausschließlich in deutscher Sprache schrieb und primär die deutsche Öffentlichkeit und die Zukunft der Nation ansprach. Es wurde gezeigt, dass Mann für die Zeitschrift Maß und Wert die Sammlungsparole von der »konservativen Revolution« als Stichwort erneuerte und dies von Siegfried Marck sozialdemokratisch aufgenommen wurde. Er wies starke doktrinäre Festlegungen zwar immer wieder zurück, entwickelte im propagandistischen Kampf gegen Hitler aber auch seine politischen Kategorien weiter. Zwar spielte Joseph der Ernährer auf Sozialstaatspolitik und Roosevelt als »Politiker des Guten« an; zwar schloss Mann die Novelle Das Gesetz appellativ an; eine große Dichtung, die den Weltkrieg spiegelte, schrieb er aber vor dem Doktor Faustus nicht. Ein – auf die Moses-Novelle vorausweisendes – Dazu vgl. Magali Nieradka-Steiner, Exil unter Palmen. Deutsche Emigranten in Sanary-sur-Mer, Darmstadt 2018

1

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Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese

Filmprojekt über Odysseus als Partisanenheros hätte, wie noch zu zeigen, ein solches Epos werden können: Es hätte die diversen Haltungen zur faschistischen Repression durchgespielt und Odysseus wie Moses Gericht halten lassen. Mann schrieb aber lieber die politisch zurückhaltendere Moses-Novelle. Stets unterschied er zwischen dem »verteufelten« und dem »anderen« Deutschland, auch unter dem Eindruck von Sebastian Haffners Deutschlandbild. 2 Er reduzierte die innere Fraktionierung der »Nation« im Doktor Faustus dabei mehr um der propagandistischen Vereinfachung willen. Seine – auch über große Vortragsreisen in den USA wirksame 3 – Kriegspublizistik mündete aber zunächst nur in die eindrucksvollen Radioansprachen Deutsche Hörer!, mit denen Mann den Faustus vorab autobiographisch autorisierte. 4 Diese bedeutenden Texte und Interventionen sind hier nicht weiter Thema. Hier wird nur gezeigt, wie sich erste Kontakte mit dem verwüsteten Nachkriegsdeutschland mit »ersten Briefen« (David Kettler) 5 erneut knüpften oder vielmehr scheiterten. Aus mancherlei Gründen wählte Mann damals für seinen »Deutschland-Roman« die »anachronistische Symbolik« (Käte Hamburger) des Faust-Motivs. Ein starkes Motiv war die Goethe-Imitatio und -Nachfolge. Ein anderes war die überscharfe Konstruktion eines verteufelten deutschen Sonderwegs. Die »innere Emigration« bestätigte und bestärkte zwar das Narrativ von der deutschen »Welteinsamkeit« durch ihre verkapselte Egozentrik und Empathielosigkeit; mit der politischen Aktualisierung des Faustus-Theorems für den Faustus-

Dazu vgl. Hans Rudolf Vaget, Germany: Jekyll and Hyde. Sebastian Haffners Deutschlandbild und die Genese von Doktor Faustus, in: Thomas Mann und seine Quellen. Festschrift für Hans Wysling, Frankfurt 1991, 249–271 3 Dazu und zu Manns politischem Engagement in den USA Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner, Frankfurt 2011, 219 ff; zum »Vansittarismus« und Manns offenem Brief als »Mutter aller Deutschlanddebatten« ebd. 415 ff, 484 ff; Manns umstrittene und leicht distanzierte Stellung zu weniger erfolgreichen und integrierten Emigranten verdeutlicht Borchmeyer am Beispiel von Brechts antipodischem Hass auf Mann; dazu Dieter Borchmeyer, Was ist deutsch? Die Suche einer Nation nach sich selbst, Berlin 2017, 871 ff; vgl. auch Thomas Sprecher (Hg.), Thomas Mann und das ›Herzasthma des Exils‹, Frankfurt 2010 4 Dazu Bernd Hamacher, Die Poesie im Krieg. Manns Radiosendungen »Deutsche Hörer!« als »Ernstfall« der Literatur«, in: Thomas Mann-Jahrbuch 13 (2000), 57–74; jetzt Sonja Valentin, »Steine in Hitlers Fenster«. Thomas Manns Radiosendungen Deutsche Hörer! 1940–1945, Göttingen 2015 5 David Kettler, ›Erste Briefe‹ nach Deutschland. Zwischen Exil und Rückkehr, in: Idee. Zeitschrift für Ideengeschichte 2 (2008), Heft 2, 80–108. 2

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Öffentliche Klarstellung

Roman neigte Mann aber auch zur kritischen Betonung von Wahrnehmungsschranken der »inneren Emigration«.

1.

Öffentliche Klarstellung

Am 10. August 1945 erfährt Mann erstmals von Walter von Molos offenem Brief, der zunächst in der Hessischen Post und dann am 13. August auch in der Münchner Zeitung erschien. Am 22. August trifft der Artikel in den USA ein. Bald folgt verspätet der erste, persönliche Geburtstagsbrief »von W. v. Molo aus Murnau mit erneuter Aufforderung zu ›kommen‹«. »Was fang ich an mit Preetorius und ihm?«, bemerkt Mann dazu ins Tagebuch (TB 30. 8. 1945). Umgehend beginnt er mit einer Antwort, schreibt sie relativ langsam und konzentriert vom 2. bis 10. September und verwirft den »zur Hälfte verfehlten Brief nach Deutschland« (TB 8. 9. 1945) wiederholt. Am 17. September schickt er ihn an die New Yorker Zeitschrift Aufbau und richtet sich damit zunächst an ein jüdisch-deutsch-amerikanisches Publikum, obgleich er damals mit der Neuen Rundschau bereits wieder über ein Organ verfügt, das im Nachkriegsdeutschland erscheint. Dieser Artikel ist ein Stellvertreterbrief. Molo ist eine funktionale Deckadresse für eine ganze Reihe heikler Briefe an einstige Freunde (wie Emil Preetorius und Ernst Bertram), denen Mann noch nicht schreiben möchte. Mit seinem offenen Brief nennt er seine Kommunikationsbedingungen. Im Sinne von Immanuel Kants Friedensschrift dekretiert er vorab seine »Präliminarartikel«, nach deren Anerkennung er mit seinen in Deutschland verbliebenen Bekannten und Freunden in individualisierende Beziehungsverhandlungen einzutreten bereit wäre. Er stellt die Basis klar, von der her er spricht. Molo erhält den Brief als Leerstelle. Mann schreibt ihm gerade deshalb, weil er keine nähere Beziehung hat. Molo ist kaum mehr als der Verteiler eines Serienmails vor jeder individualisierenden Kommunikation.

2.

Die Unmöglichkeitsthese

Walter von Molo bezieht sich in seinem offenen Brief auf den kurzen Artikel Die Lager vom Mai 1945. Darin übernimmt Mann eine poli191 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese

tische Mitverantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen. Er spricht als Deutscher von »unserer Schmach« und lehnt eine Unterscheidung zwischen Deutschland und dem Nationalsozialismus ab. »Die Befreier mussten von außen kommen« (XII, 953), schreibt er. Molo knüpft an diesen Beitrag an und lobt Manns »treues Festhalten an unserem gemeinsamen Vaterlande«. 6 Er schreibt in stehender Formel: »Bitte, kommen Sie bald«. »Kommen Sie bald wie ein guter Arzt«. 7 Molo spricht von einer Erkrankung des »deutschen Volkes«, weist die Identifizierung Deutschlands mit dem Nationalsozialismus aber zurück und meint, das deutsche Volk habe »im innersten Kern nichts gemein mit den Missetaten und Verbrechen, den schmachvollen Greueln und Lügen, den furchtbaren Verirrungen Kranker«. 8 Er vertritt damit zwar eine grundsätzlich andere Position, anerkennt aber Manns Rolle als »guter Arzt«. Mann antwortet nicht auf das private Schreiben, sondern nur auf den offenen Brief und stellt schon im ersten Absatz klar, dass er Molo als Repräsentant oder eher zufälliges Beispiel für einen vielfach geäußerten Wunsch antwortet (»Sie sind nicht der einzige, der diesen Wunsch …«). Zwar spricht er Molo persönlich an (»Lieber Herr von Molo!«). Ansonsten aber fehlt jeder Hinweis auf eine individuelle Beziehung. Manns Antwort lässt sich einigermaßen zwanglos in drei quantitativ relativ gleich gewichtete Teile gliedern: Zunächst skizziert Mann die Geschichte seiner Emigration; dann formuliert er seine Kritik an Molos Position; zuletzt bekennt er sich unter Hinweis auf seinen Vortrag Deutschland und die Deutschen zu Deutschlands Zukunft. Für die Auseinandersetzung mit Manns zentralem Argument vernachlässige ich den ersten Teil der Antwort. Der zweite erörtert die Unmöglichkeit, im Nationalsozialismus »›Kultur‹ zu machen« Walter von Molo, Offener Brief an Thomas Mann. Münchner Zeitung, 13. August 1945, in: Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955, Hamburg 1969, 334; Dokumentation der Kontroverse bei Johannes Franz Gottlieb Grosser (Hg.), Die große Kontroverse. Ein Briefwechsel um Deutschland, Hamburg 1963; vgl. schon Kurt Sontheimer, Thomas Mann und die Deutschen, München 1961; Stephan Stachorski (Hg.), Fragile Republik. Thomas Mann und Nachkriegsdeutschland, Frankfurt 1999; ferner Philipp Gut, Thomas Manns Idee einer deutschen Kultur, Frankfurt 2006; zur Rezeptionsgeschichte etwa Thomas Goll, Die Deutschen und Thomas Mann. Die Rezeption des Dichters in Abhängigkeit von der politischen Kultur Deutschlands 1898–1955, Baden-Baden 2000. 7 Klaus Schröter (Hg.), Thomas Mann im Urteil seiner Zeit. Dokumente 1891–1955, Hamburg 1969, 335 8 Schröter, Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, 335 6

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Die Unmöglichkeitsthese

(XII, 957), und der dritte spricht mit Rekurs auf das Narrativ des Teufelspakts von der eigenen Anteilnahme am deutschen Schicksal. Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Faustus-Narrativ und der Unmöglichkeitsthese: Manns Narrativ vom Teufelspakt führt zur überzogenen Fassung der »Unmöglichkeitsthese«, zur These von der grundsätzlichen Unmöglichkeit kultureller Produktivität unter den Bedingungen des Nationalsozialismus. Die Unmöglichkeitsthese gibt der alten, von Burckhardt und Nietzsche überkommenen Antithese von Kultur und Politik eine scharfe Auslegung. Die Opposition von Kultur und Politik hatte Mann in Essays der 1930er Jahre eigentlich zugunsten der Formel von der Politik als »Teil des humanen Problems« revidiert. Für den Nationalsozialismus erneuert er diese Antithese nun aber. Unter Diktaturbedingungen sei Kultur unmöglich; ein »Geruch von Blut und Schande« (XII, 957) hafte an allen im nationalsozialistischen Deutschland publizierten Büchern. »Kulturpropaganda« im Namen des Nationalsozialismus sei ein Widerspruch in sich. Eine Fidelio-Aufführung beispielsweise sei für sich genommen ein »Skandal« (XII, 958) gewesen. Mann spielt auf Furtwängler an, 9 erwähnt den nationalsozialistischen Rektor und Pädagogen Ernst Krieck. Seine Formulierungen sind nicht unproblematisch. Streng genommen müssten ja beispielsweise auch die jüdische Publizistik oder die eigenen Publikationen seit 1933 unter das Verdikt von »Blut und Schande« fallen. Die ersten beiden Bände des Josephromans und die Essaysammlung Leiden und Größe der Meister erschienen noch in Berlin. So meint Mann es aber nicht. Seine These von der »obszönen Lüge« bzw. vom Widersinn nationalsozialistischer Kultur gilt offenbar nur einem hohen Grad nationalsozialistischer Politisierung. Sie scheint darüber hinaus eine qualitative These zu enthalten: Nicht Kunst überhaupt, sondern nur »große« Kunst war im Nationalsozialismus unmöglich! Es lässt sich eine politische und eine moralische Fassung des Unmöglichkeitsarguments unterscheiden. Die politische zielt auf die Kunstfreiheit als Ermöglichungsbedingung: Der NS-Diktatur fehlten die notwendigen freiheitlichen Voraussetzungen von Kunst. Das Argument ist problematisch: Politische Repression kann zwar die künstDazu vgl. Hans Rudolf Vaget, Seelenzauber. Thomas Mann und die Musik, Frankfurt 2006; »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland: Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt 2017; Andreas Kuhlmann, Zweimal ›Deutsche Kultur‹. Über Wilhelm Furtwängler und Thomas Mann, in: Merkur 82 (2008), 307–317.

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Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese

lerischen Ausdrucksmöglichkeiten einschränken; es lassen sich aber leicht unstrittige Gegenbeispiele nennen. Auch unter Bedingungen politischer Unfreiheit wurde große Kunst geschaffen. Beispiele sind etwa Sergej Eisenstein, Sergej Prokofiev oder Dimitri Schostakowitsch. Vielleicht hätten diese Künstler unter freiheitlichen Bedingungen noch bedeutendere Kunstwerke geschaffen. Repression kann aber auch esoterische und subversive Aussagen steigern. Politische Restriktionen sind nicht selten ein produktiver Stachel und eine Ermöglichungsbedingung. Wichtiger ist Mann der moralische Gehalt seiner Unmöglichkeitsthese. Seine Überlegungen sind aber voraussetzungsvoll. Eine erste betrifft die Relation von Politik und Humanität: Nur in einem guten Staat ist demnach eine volle Entwicklung von Humanität möglich. Politische Defizite haben Humanitätskosten. Diese These zur politischen Charakterologie, seit Platons geläufig, mag typischerweise zutreffen, lässt sich aber ebenfalls nicht grundsätzlich vertreten. Individuen können sich auch in der Opposition oder Nische gegen den Staat moralisch kultivieren und perfektionieren. Mann verknüpft diese These mit einer weiteren voraussetzungsvollen These: Kunst ist ein »Symbol« der Sittlichkeit bzw. Humanität! Durch das Kunstwerk hindurch beurteilen wir die moralische Qualität des Künstlers. Das Geschmacksurteil zielt über das Kunstwerk hinaus auf die »Tugend« des Künstlers. Auch das ist fraglich. Insgesamt gelangt Mann jedenfalls zu einer starken moralischen Disqualifikation der Kunst unter Diktaturbedingungen: Die Kunst der Diktatur ist ästhetisch ungenügend und der Rückzug auf Kunst als Asyl »innerer Emigration« ist keine moralisch-politisch legitime Haltung. Selbst die Rückzugs- und Oppositionskunst war letztlich nur nationalsozialistische Hof- und Staatskunst, meint Mann polemisch, so sehr sie sich darüber auch täuschte und selbst als Widerstandsleistung verstand. Mann lehnt den Verweis auf die Kunst als Asyl im Nationalsozialismus moralisch, politisch und ästhetisch sehr weitreichend und grundsätzlich ab. Seine Überlegungen sind in der prinzipiellen Zuspitzung zwar zweifellos überzogen und manchen Oppositionskünstlern gegenüber ungerecht, treffen aber viele prominente Fälle. Mann denkt an Exponenten wie Hauptmann und Furtwängler, Preetorius und Pfitzner, Strauss und Gründgens, die er näher kannte. Trotz solcher Beispiele ist die Unmöglichkeitsthese überzogen. Praktisch hat Mann sie auch gar nicht konsequent vertreten: Er lehnte nicht alle im Nationalsozia194 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Das Faustus-Narrativ als Grund der Unmöglichkeitsthese

lismus entstandene Kunst als nationalsozialistische Kunst ab, war aber der Auffassung, dass die Kunst des Exils weitaus produktiver war. Damit wird deutlicher, wie die Erklärung die Intellektuellen in Deutschland brüskierte: Mann bezweifelte 1945 nicht nur die politische Integrität der »inneren Emigration«, sondern diffamierte eigentlich alles Kulturschaffen im Nationalsozialismus. Er rächte sich für die »Verleugnung der Solidarität« (XII, 955), die er 1933 erlebt hatte, und erkannte Leute wie Molo eigentlich nicht mehr ernstlich als seine Kollegen an. Seine Antwort lautete demnach indirekt: Ich kehre nicht nach Deutschland zurück, weil es dort keine mir vertrauten und kongenial verwandten Schriftsteller mehr gibt! Von daher erhalten Manns abschließende Ausführungen ihre brüskierende Schärfe. Mann versichert im Schlussteil seine Antwort, dass er ein »deutscher Schriftsteller« geblieben sei. Genau das aber bestreitet er den in Deutschland verbliebenen Intellektuellen eigentlich. Seine Antwort basiert demnach auf einer starken Disjunktion von Staat und Kultur bzw. Nation. Heute, meint Mann, 1945, sind Staat und Nation getrennt. Die deutsche Kultur lebt im Exil! In fernerer Zukunft mag es wieder anders sein, aktuell aber ist eine Rückkehr nach Deutschland nicht sinnvoll, weil jede Verständigungsbasis fehlt! So etwa argumentierte Mann 1945 in seiner Antwort. Er ignorierte dabei die besondere Situation von Walter von Molo und bestritt ihm ohne individualisierende Note die eigene Identität als deutscher Schriftsteller. Abschließend räumte er das etwas entschuldigend ein: »Ich habe mich weit führen lassen, in meiner Erwiderung, lieber Herr von Molo. Verzeihen Sie! In einem Brief nach Deutschland wollte allerlei untergebracht sein.« (XII, 962) Eine solche Fundamentalverwerfung war Mann nur möglich, weil er keine nähere Beziehung zu Molo hatte. Alten Freunden wie Emil Preetorius gegenüber bemühte er sich bald um eine versöhnlichere Individualisierung seiner Sicht.

3.

Das Faustus-Narrativ als Grund der Unmöglichkeitsthese

Weshalb überzog Mann seine Argumentation so polemisch? Stets hatte er im Rahmen seiner nietzscheanischen Artistenmetaphysik zu korrektiven Übertreibungen geneigt; er vertrat eine starke totalisierende Faschismusthese und personalisierte politische Fragen. Manns offener Brief antwortet im dritten Teil aber vor allem mit dem Nar195 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese

rativ vom Teufelspakt. Es erzwingt die dogmatisierende Zuspitzung und pauschale Ablehnung der ästhetischen Produktivität im Nationalsozialismus geradezu. Mann zitiert im Kontext des Doktor Faustus auch ausführlich aus seinem Vortrag über Deutschland und die Deutschen vom Mai 1945 und begründet seine Unmöglichkeitsthese so intern durch das Faustus-Theorem. Das Faustus-Narrativ war als hermeneutischer Schlüssel zum Verständnis der »Dämonie« des Nationalsozialismus damals ebenso verbreitet wie umstritten. 10 Seine Anwendung auf die Deutung des Nationalsozialismus wurde – zu Manns Empörung – in der MannRezeption bald auch – etwa von Käte Hamburger 11 – angezweifelt. Nüchtern lässt sich hier zunächst feststellen, dass das Teufelsnarrativ politische Systemfragen personalisierte. Eine solche Auffassung des Nationalsozialismus als »Führerstaat« und System personaler (oder gar »charismatischer«) Herrschaft entsprach gängigen Selbstbeschreibungen und ist auch heute in der historischen Forschung noch geläufig. Mann personalisierte und personifizierte politische Systeme stets. Die personalistische Zuspitzung neigte aber zu einer Reduktion von Nationalsozialismus auf »Hitlerismus« und die Dämonisierung Hitlers führte zu einer irrationalistischen und »genialistischen« Überspannung der Betrachtungsweise, 12 die von anderen elementaren Aspekten – wie dem »Elitenwechsel«, Karrieresprungbrett und Bereicherungssystem 13 – ablenkte. Die Dämonisierung und Verteufelung des Nationalsozialismus verlagerte die Auseinandersetzung von der nüchternen Beschreibung auf die Ebene normativer Wertung und Ablehnung, die sich eigentlich von selbst verstand und die normative Kritik durch die religiöse Dämonisierung doch aus den moralischen und rechtlichen Kategorien ins Unfassliche und Irrationale verschob. Hitler erscheint dann als säkularisierter, abgründig unfassbarer »Willkürgott«, der alles und nichts zu verantworten hat. 14 Dazu Willi Jasper, Faust und die Deutschen, Berlin 1998; Herfried Münkler, Die Deutschen und ihre Mythen, Reinbek 2009, 109 ff 11 Dazu vgl. Käte Hamburger, Anachronistische Symbolik. Fragen an Thomas Manns Faustus-Roman, in: dies., Kleine Schriften, 2. Aufl. Stuttgart 1986, 309–333. 12 Zur Rolle des Geniediskurses und der »Genialisierung« Hitlers Wolfram Pyta, Hitler. Der Künstler als Politiker und Feldherr. Eine Herrschaftsanalyse, München 2015; Gesamtdarstellung bei Peter Longerich, Hitler. Biographie, München 2015 13 Dazu etwa Götz Aly, Hitlers Volksstaat. Raub, Rassenkrieg und nationaler Sozialismus, Frankfurt 2005 14 Zur Legende vom Willkürgott vgl. Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 10

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Das Faustus-Narrativ als Grund der Unmöglichkeitsthese

Thomas Mann dachte eigentlich grundsätzlich säkular. Er glaubte nicht an die christliche Dogmatik von Gott und Teufel und betrachtete Hitler nicht ernstlich als einen dämonisch besessenen »Unmenschen«. Mit seiner dämonisierenden Rede vom »Unmenschen« 15 wollte er, alltagssprachlich noch heute geläufig, prägnante negativierende Formulierungen für das exorbitante Ausmaß der Untaten und Verbrechen finden. Eine religiöse Auffassung der Geschichte lehnte er ab. Grundsätzlich wusste er, dass die deutsche Zukunft an der Selbstorganisationskraft der Bürger als politischer Subjekte hängt. Grundsätzlich bestritt er nicht die Möglichkeit einer politischen Selbstbefreiung und »Rettung« Deutschlands als Kulturnation aus der nationalsozialistischen Diktatur. Der deutsche Widerstand gegen Hitler hatte seiner Auffassung nach aber faktisch versagt. »Die Rettung musste von außen kommen«, sagte Mann immer wieder: insbesondere durch Roosevelt und die USA. Diese Diagnose versäumter Selbstbefreiung und gelungener Rettung durch die Alliierten erzwang die Unmöglichkeitsthese geradezu. Denn eine Anerkennung künstlerischer Produktivität einer »inneren Emigration« hätte das Faustus-Theorem von der exzentrischen »Gnade« und Rettung gefährdet. Das Faustus- bzw. Teufelsnarrativ sorgte als Begründungsmodell also für die letzte Zuspitzung. Es schloss die Möglichkeit der Selbstbefreiung bzw. -rettung zugunsten einer Dialektik von Untergang und »Gnade« aus. Im Kontext des Doktor Faustus radikalisierte Mann sein Totalitarismustheorem religiös. Er identifizierte die individuelle Identität mit einem kollektiven Schicksal und übersetzte die politische »Befreiung« durch die Alliierten in eine religiöse »Rettung«. Der »totale« politische und militärische Untergang erscheint so als eine notwendige Bedingung für eine andere Zukunft. Das Teufelsnarrativ knüpft die Möglichkeit kultureller Produktion bzw. »Gnade« an den vorgängigen Untergang. Erst nach existententieller Vernichtung der teuflischen Verführer und nach der bedingungslosen Kapitulation sieht Mann die freiheitlichen Rahmenbedingungen gegeben, die Kulturschaffen wieder möglich machen. Erst nach einem

Frankfurt 1966; zur scholastikgeschichtlichen Kritik eindringlich Kurt Flasch, Hans Blumenberg. Philosoph in Deutschland: Die Jahre 1945–1966, Frankfurt 2017 15 Zur Diskriminierungslogik vgl. Reinhard Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders., Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1979, 211–259

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Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese

kompletten Macht- und Systemwechsel, so Manns Überzeugung, ist freiheitliche Kultur möglich. »Wenn zwischen 1933 und 1939 bei euch die rettende Revolution ausgebrochen wäre«, schreibt er auch: »Glaubt ihr, ich hätte den übernächsten Zug abgewartet? Und nicht den nächsten genommen, um heimzukommen? Es sollte und konnte nicht sein. Es war unmöglich.« (XIII, 745) Mann bejahte schon 1918/ 19 und 1933/1934 revolutionäre Umwälzungen als positive Zukunftschance und vertrat eine starke Revolutionsoption. Diese Auffassung erneuerte er nun mit dem Faustus-Theorem als politische Rettung von außen. Bedenkt man den Zusammenhang zwischen dem Faustus-Narrativ und der Unmöglichkeitsthese – also die Begründung durch das Faust-Narrativ – und berücksichtigt auch den Faustus-Roman, so wären Differenzierungen und Einschränkungen nötig. Unter Verweis auf seinen Vortrag über Deutschland und die Deutschen weist Mann auch einfache Wertungen zurück: »Das böse Deutschland, erklärte ich, das ist das fehlgegangene gute, das gute im Unglück, in Schuld und Untergang.« (XII, 960) Der Faustus-Roman führt das an Leverkühn durch. Die ganze Dialektik von Gut und Böse wird dort im kompositorischen Schaffen verhandelt. Leverkühn sucht sich zwar durch seine Kunst zu retten, gelangt aber nur zur mimetischen Artikulation der Krise als Klage, nicht zur humanen Antwort und Lösung der Krise durch das befreiende Wort. Nicht der Musiker, sondern sein Narrator und Freund Zeitblom, der Humanist, findet als Idealgestalt einer wahren »inneren Emigration« das rettende Wort. Hätte es diesen Zeitblom im nationalsozialistischen Deutschland wirklich gegeben, so hätte Mann seine These schwerlich vertreten können.

4.

Staat und Nation

Walter von Molo konnte mit Manns Antwort nicht einverstanden sein. Er antwortete damals aber nur mit einer sehr allgemein gehaltenen mündlichen Erklärung gegen die »Überheblichkeit«. Frank Thieß spitzte die Auseinandersetzung in einem Artikel Die innere Emigration in der Münchner Zeitung vom 18. August 1945 grundsätzlich zu. Zu diesem Zeitpunkt hatte Mann seine Antwort auf Molo zwar noch nicht veröffentlicht, Thieß erahnte aber bereits Manns grundsätzliche Ablehnung. An Molos Brief anknüpfend rechnete er sich der »inneren Emigration« zu, unterschied sich von den »Mit198 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Staat und Nation

läufern« und reklamierte eine überlegene »geistige und menschliche Entwicklung« und ein besonderes »Wissen und Erleben« für sich. 16 Ausdrücklich formulierte Thieß das gegen Manns Option. Er betrachtete die »innere Emigration« als privilegierte Teilnahme, Anteilnahme und Zeugenschaft und spitzte die Kontroverse auf eine Antithese »innerer« und »äußerer« Emigration und die Frage privilegierter Anteilnahme zu. Mann wies diese überspitzte These mit guten Gründen zurück. Einerseits legte er die These von der privilegierten Teilnehmerposition als politische Mitverantwortlichkeit und korrumpierende Mittäterschaft aus; andererseits nahm er mit seinen vielfältigen Verweisen auf das eigene »Leiden an Deutschland« – bald auch durch die Publikation seiner Tagebuchblätter Leiden an Deutschland (1946) – selbst erneut die Rolle des nationalen Teilnehmers und Zeugen für sich in Anspruch. Er griff dabei auch die märtyrologischen Identifikationen der »inneren Emigration« auf und stilisierte seine Anteilnahme – 1949 in seinem »Roman« über Die Entstehung des Doktor Faustus – bis hin zur Christusidentifikation. 17 Abschließend betonte Mann, dass er »kein Nationalist« sei. Das Exil sei »kein Wartezustand« mehr. Staat und Nation hätten sich auseinanderentwickelt. Oft verglich Mann seine Kulturmission mit der jüdischen Diaspora. Er sprach von einer »Fahrt aus dem Provinziellen in die Welt« (XI, 1129) und setzte sein »Weltdeutschtum« von der Provinzialisierung des okkupierten Nachkriegsdeutschland ab. Weiterhin adressierte er sich aber primär an die deutsche Nation. Manns Haltung wurde damals nicht nur von verstockten Nationalisten abgelehnt. So schrieb Ernst Beutler, der Direktor des Freien Deutschen Hochschulstifts und Goethe-Museums, an Karl Jaspers, den Preisträger von 1947: »Th. Mann hat uns zu sehr en canaille behandelt, ohne zu wissen, wie und was wir gelebt haben in diesen zehn Jahren.« 18 Als Mann 1949 dann den Preis erhielt, schrieb er: »Die jetzige Preisentscheidung ist mir ein Kummer, ist gegen meine Stimme gefallen! Ich kann weder die Lotte in Weimar noch den Faustus lieben. Das erstere ist eine Verzerrung Goethes im Zauberspiegel Thomas Manns,

Schröter, Thomas Mann im Urteil seiner Zeit, 337 Dazu vgl. Friedhelm Marx, ›Ich aber sage Ihnen …‹ Christusfigurationen im Werk Thomas Manns, Frankfurt 2002 18 Beutler am 23. August 1948 an Jaspers, in: Karl Jaspers, Korrespondenzen. Philosophie, Göttingen 2016, 129 16 17

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Faustus-Narrativ und Unmöglichkeitsthese

das zweite ein missglückter Roman nach Form und Inhalt. Und wie kann ein Autor glauben, man könne an seinen Teufel glauben, wenn es keinen Gott gibt. Das Eine ist nicht ohne das Andere! Und die Fülle der Indiskretionen des Schlüsselromans! Gern las ich nur das letzte Buch: Die Entstehung des Doktor Faustus. Das ist ein Zeit- und Lebensdokument und als solches echt, ja mit der Fülle der Ichverzücktheit einfach entwaffnend. Ein narzisstisches Buch, wie ich keines kenne. Nur Hitler schrieb noch das ›Ich‹ so gross!« 19

Schärfer ließ sich die Ablehnung kaum formulieren. Beutler ist nur eine Stimme in einem großen Konzert. Sie benennt auch dogmatische Voraussetzungen, von denen her Thomas Mann urteilte und aburteilte: das Faustus-Theorem. Fassen wir zusammen: Manns Antwort vom September 1945 ist eigentlich gar kein persönlicher Brief, sondern eine autoritative Erklärung. Molo erhält sie als Repräsentant deutscher Schriftsteller. Mann vertritt eine starke Disjunktion von Staat und Nation, reserviert die deutsche Kultur seinem Exil und spricht die künstlerische Produktivität der »inneren Emigration« ab. Seine Antwort negiert den Bestand kollegialer Solidarität und nationaler Gemeinsamkeit. Den Versuch von Frank Thieß, Manns Trennung von Staat und Nation durch eine Privilegierung der Teilnehmerperspektive wieder zurückzunehmen, lehnt er ab. Manns überzogene und polemische Zuspitzung seiner Unmöglichkeitsthese resultiert nicht zuletzt aus der religiösen Überhöhung des politischen Systemwechselpostulats durch das Deutungsnarrativ des Doktor Faustus.

Beutler am 26. Juni 1949 an Jaspers, in: Karl Jaspers, Korrespondenzen. Philosophie, Göttingen 2016, 131

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Teil III: Werkvollendung und Werkabschluss

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IX. Übermensch Andromache. Zu einer Zarathustra-Adaption im Circus-Kapitel des Felix Krull 1

1.

Mythos des Spätwerks

Späte Schaffensphasen und letzte Werke werden oft legendär verklärt. Geniemythos und teleologische Bildungskonzepte erzwingen geradezu die Vorstellung, dass ein Leben als künstlerischer Schaffensprozess zur letzten Vollendung findet. Die Kunstgeschichte bietet auch ein reiches Arsenal frappierender Beispielen von Spätwerken, die finale Meisterwerke und Höhepunkte des Schaffens sind; die Forschungsliteratur wirkt oft an solchen Vollendungsgeschichten mit, mag man doch gerne hören, dass ein Leben als Werk gelingen kann. Die Forschung hat den Mythos vom genialen Schlusswerk jedoch längst historisiert und eine »Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs« und Spätstils geschrieben. Sandro Zanetti betont in seiner Poetik des Spätwerks 2 die exemplarische Bedeutung Goethes für die ästhetische Analyse typischer Merkmale eines Spätstils. Ernst Lewy 3 publizierte 1913 einen »Versuch« über die Sprache des alten Goethe; Georg Simmel und Theodor W. Adorno 4 entwickelten dann grundsätzliche Überlegungen zum Spätstil, die auch auf Thomas Mann wirkten. Hans Blumenberg erwähnt den »Hochstaplerroman« in

Der ursprüngliche Text aus der Nietzscheforschung 2015 wurde etwas überarbeitet bereits in das Buch Heidegger und die »konservative Revolution« aufgenommen, das den Variationen des »Übermenschen« in der Konservativen Revolution nachging. Er ist auch für das vorliegende Buch unverzichtbar, wurde hier aber um den ersten Abschnitt erweitert und im Darstellungsteil stark gekürzt. 2 Sandro Zanetti, Avantgardismus der Greise. Spätwerke und ihre Poetik, München 2012 3 Ernst Lewy, Zur Sprache des alten Goethe. Ein Versuch über die Sprache des Einzelnen, Berlin 1913 4 Theodor W. Adorno, Spätstil Beethovens (1937), in: ders., Gesammelte Schriften Bd. XVII, Frankfurt 1982, 13–17 1

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Übermensch Andromache

Notizen über Letzte Bücher. 5 Zanetti schließt mit »skizzenhaft angedeuteten Überlegungen« zu Mann, Dürrenmatt und Heiner Müller. Für das Faustus-Projekt spricht er von »Variation und Reanimation«, von einem »Kumulationsprinzip als Arbeitsmodus« des Spätwerks »im Gestus der Ironie«. 6 Alexander Schwieren 7 geht in seiner anschließenden »Kulturgeschichte des Alterswerkbegriffs« historisch vor und beschreibt einen langsamen Abschied von der Genieästhetik des Alterswerks; er spricht von einer »Geburt« der Idee des Alterswerks »aus dem Geist der Genie-Ästhetik«, beobachtet für die »lebensphilosophische« Epoche von 1880 bis 1945 eine »gerontologische« Naturalisierung des Alterskonzeptes und konstatiert für die neuere Zeit einen neuen Altersbegriff und Altersstil, der das Alterswerk als »Spätwerk« und reflexive »Wiederholung« oder – mit Zanetti zu sprechen – virtuose »Variation« fasst. Auch Schwieren erörtert Mann am Ende als dezidierten Vertreter eines Alterswerks. Anders als Zanetti geht er dabei ausführlich auf das Faustus-Projekt ein; 8 er analysiert die Korrespondenz zwischen Adorno und Mann für die Konstruktion des Spätwerks und betrachtet den »Roman« über Die Entstehung des Doktor Faustus als Variation auf die Konstruktion des Faustus-Projektes als Werkabschluss. Zanetti und Schwieren sind in ihren anregenden Untersuchungen beide von Manns Spät- und Letztwerkbegriff angeregt, nicht zuletzt vom Entstehungs-Roman und Gespräch mit Adorno. Vielleicht war es wirklich dem Einfluss Adornos zu danken, dass Mann seinen Begriff von literarischer »Ironie« im Spätwerk geschichtsphilosophisch zuspitzte und als eine Form von »Avantgardismus« und eine »novel to end all novels« proklamierte, mit der er sich neben Joyce (XI, 180, 205) stellte. 9 Dass er sich damit romantischen IroniekonzepHans Blumenberg, Letzte Bücher, in: DLA Marbach. Nachlass Hans Blumenberg (UNF 434–439b) 6 Zanetti, Avantgardismus der Greise, 407 7 Alexander Schwieren, Gerontographien. Eine Kulturgeschichte des Altersbegriffs, Berlin 2014 8 Schwieren, Gerontographien, 281 ff; breiter noch zur »Abendstimmung« Manns die sehr lesenswerte Darstellung von Rüdiger Görner, Thomas Mann. Der Zauber des Letzten, Düsseldorf 2005; gegen eine zu enge Anlehnung von Manns Spätstilkonzept an Adorno vgl. Hans-Rudolf Vaget, »Greisen-Avantgardismus«. Zur Thematik des Alterswerks bei Thomas Mann, in: Igor Strawinsky und Ernst Kreneks Spätwerke, hrsg. Claudia Maurer Zenck, Schliengen 2014, 279–291 9 Dazu vgl. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann und James Joyce. Zur Frage des Modernismus im Doktor Faustus, in: Thomas Mann-Jahrbuch 2 (1989), 121–150; zu 5

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Mythos des Spätwerks

tionen annäherte, zeigt sich schon in der internen Reflexion und Spiegelung des Romans Doktor Faustus im Werkschaffen Leverkühns. Die Konstruktion von Leverkühns Werken als eine »Art von Résumé aller Verkündigungen des Endes« (XI, 248) ist ein Schlüssel zur autorschaftlichen Spätwerkstrategie insgesamt; dabei ist das dionysisch-apokalyptische Pathos des Musikers nicht mit der literarischen Selbstbehauptung des Humanisten gleichzusetzen. Die germanistische Forschung hat jedenfalls realisiert, dass Mann sein »Endwerk« (XI, 243) und »Vermächtnis« (XI, 273) von einem starken Werkbegriff und Konzept des Endwerks her als Selbstkonstruktion des »Klassikers« für die Nachwelt schuf. Manns Werk- und Spätwerkbewusstsein schärfte sich zwar im Gespräch mit Adorno, findet sich aber eigentlich schon früher. Mann vertrat den Mythos vom Spätwerk schon in seinen Essays über den »alten Fontane«, die er 1910 und 1954 an den Anfang und das Ende seiner literaturkritischen »Versuche« stellte. Sein früher Fontane-Essay entwickelt dabei bereits eine eigene Idee vom »klassischen Greis«: »Wie es geborene Jünglinge gibt, die sich früh erfüllen, so gibt es offenbar Naturen, denen das Greisenalter das einzig gemäße ist, klassische Greise sozusagen, berufen, die idealen Vorzüge dieser Lebensstufe, als Milde, Güte, Gerechtigkeit, Humor und verschlagene Weisheit, kurz, jene höhere Wiedergeburt kindlicher Ungebundenheit und Unschuld der Menschheit auf vollkommenste vor Augen zu führen.« (IX, 9) »Das Schauspiel, das der alte Fontane bietet, dies Schauspiel einer Vergreisung, die künstlerisch, geistig, menschlich eine Verjüngung ist, einer zweiten und eigentlichen Jugend und Reife im hohen Alter, besitzt in der Geistesgeschichte nicht leicht ein Gegenstück.« (IX, 34)

Als Mann Jahrzehnte später, 1954, anlässlich einer Briefausgabe erneut über den »alten Fontane« schreibt, betont er aber vor allem die »Enttäuschung« (IX, 821) und »Resignation« (IX, 822) gegenüber der mangelnden Resonanz beim Publikum. Mann hat sich selbst im Alter nicht als »klassischer Greis« betrachtet, sondern vielmehr immer wieder über künstlerische Erschöpfung, mangelnde Inspiration und eine fehlende Werkidee geklagt. So schrieb er 1954 an seinem 79. Geburtstag nüchtern ins Tagebuch:

Manns ironischer Distanzierung der Modernitätsusurpation Adornos vgl. Matthias Löwe, »Freund, es geht nicht mehr«. Thomas Mann und die Normativität der ästhetischen Moderne, in: Thomas Mann-Jahrbuch 29 (2016), 9–29

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Übermensch Andromache

»Wie werde ich das anbrechende Jahr einigermaßen produktiv verbringen? Wie raffe ich mich noch einmal zu künstlerischem Unternehmen auf? Es droht das ›And my ending is despair.‹« (TB 6. 6. 1954)

Dem »klassischen Greis« stellte Mann 1910 im Essay den »geborenen Jüngling« zur Seite, der frühvollendet stirbt. In seiner frühen Mozart-Novelle von 1903 betrachtete er zwar Das Wunderkind mit psychologischer Skepsis; gerade Mozart steht aber mit seinem Requiem für die Korrelation von Geniekult, Frühvollendung und Letztwerkmythos: Das ewig junge Genie stirbt vor der Zeit in der schöpferischen Ahnung des eigenen Todes, indem es sich am eigenen Totenbett noch ein Requiem schafft. Mann redete im Spätwerk zwar verstärkt religiös von der »Gnade«, verstand darunter aber eigentlich nur eine ästhetische Theodizee des Lebens im Werk. Er grenzte sich weiter vom dogmatischen Christentum ab und antwortete auf die Gretchenfrage 1953 noch ungehalten: »Glaube: Sie möchten wissen, was für ein Glaube ›in meinem Schrank verstaut‹ ist, können aber nichts sehen. Wenn ich mich examiniere, so ist das höchst triviale Ergebnis: Ich glaube an das Gute und Geistige, das Wahre, Freie, Kühne, Schöne und Rechte, mit einem Wort an die souveräne Heiterkeit der Kunst, dieses große Lösungsmittel für Hass und Dummheit. Das ist wohl nicht genug. Man muss vielleicht außerdem an den lieben Gott oder an den Atlantic Pact glauben. Aber mir genügt das andere.« 10

Im postnietzscheanischen Diskurs des frühen 20. Jahrhunderts war Mann zweifellos einer der wichtigsten und wirkmächtigsten Autoren. Das »Dreigestirn« (XII, 79) Schopenhauer, Wagner und Nietzsche bildete, neben Schiller und Goethe, den »Fixsternhimmel« seiner Jugend. In den Betrachtungen eines Unpolitischen hebt Mann die Bedeutung Nietzsches für seinen Bildungsgang dabei besonders hervor. Im Kapitel »Einkehr«, das eine intellektuelle Autobiographie seines Frühwerks schreibt, meint er: »Nietzsche hat seinen Künstler nicht, oder noch nicht, wie Schopenhauer [gemeint ist hier Wagner, RM] gefunden. Wenn aber ich auf eine Formel, ein Wort bringen sollte, was ich ihm geistig zu danken habe, – ich fände kein anderes als eben dies: die Idee des Lebens – welche man, wie gesagt, von Goethe empfangen mag, wenn man sie nicht von Nietzsche empfängt« (XII, 84, vgl. 586).

10

Mann am 21. November 1953 an R. J. Humm, in: Briefe 1948–1955, 314 f

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Transposition philosophischer Anthropologie

Mann präsentiert sich hier als Künstler Nietzsches und spricht von der Verbindung von »Kunst und Kritik« (XII, 87) und einem »dithyrambisch-konservativen Lebensbegriff« (XII, 91), wonach »auch das Leben nach dem Geist verlangt« (XII, 91). Dabei distanziert er sich vom »späten, grotesk und fanatisch gewordenen Nietzsche« (XII, 346) und fragt: »Ist nicht das Beste im ›Zarathustra‹ Satire?« (XII, 347) In den Betrachtungen eines Unpolitischen schreibt er: »Ich gehöre geistig jenem über ganz Europa verbreiteten Geschlecht von Schriftstellern an, die, aus der décadence kommend, zu Chronisten und Analytikern der décadence bestellt, gleichzeitig den emanzipatorischen Willen zur Absage an sie – sagen wir pessimistisch: die Velleität dieser Absage im Herzen tragen und mit der Überwindung von Dekadenz und Nihilismus wenigstens experimentieren.« (XII, 201)

Ein gläubiger Nietzscheaner war Mann nicht. Schon mit den Betrachtungen eines Unpolitischen formulierte er seine Ethisierung (vgl. XII, 146) und Rechristianisierung Nietzsches deutlich. Hier soll nur ein spätes Kapitel vom Frühjahr 1951 aus Felix Krull als Literarisierung Nietzsches erläutert werden. Es ist eine letzte Variation auf Übermensch-Adaptionen und Zarathustra-Gestalten, die sich nach dem Zauberberg häufiger im Werk finden.

2.

Transposition philosophischer Anthropologie

Die erste und wichtigste Fortsetzung des »Traumgedichts vom Menschen« nach dem Zauberberg ist die Josephsgestalt mit dem doppelten Segen »oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe« (IV, 48 f). Das Vorspiel zum ersten Band übersetzt diesen Segen und diese »stille Hoffnung Gottes« in einen ironischen Rückgang auf die christliche Mythologie von Gott und Teufel. Die Rechristianisierung der Anthropologie überrascht und verwundert den Leser zunächst. Mann explorierte seine Humanitätsvision von der Nietzsche-Nachfolge her. Dabei war er auch von der Religiosität der russischen Erzähler beeindruckt. Die Fassung des Joseph-Romans, mit der er in die Retheologisierung einschwenkt, ist aber offenbar stark von Goethe und Wagner beeinflusst. Genauer ist wohl zu sagen, dass Mann hinter Nietzsches Konzept vom »Übermenschen« auf Wagners initiale Mythisierung des »wahren Menschen« und »freien Helden« zurückgeht, wie sie Der Ring des Nibelungen vertrat, und dann in einem zweiten Schritt 207 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Übermensch Andromache

Wagners Mythisierung mit Goethes Faust-Mythos retheologisiert. Mann kehrt mit Nietzsche und Wagner also zu Goethes ironischer Theologisierung des Faust-Mythos zurück. Die Entwicklung des Menschen wird ihm so erneut zum Streit zwischen Gott und Teufel. Das »Engeltier« konzipiert er von einer philosophischen Anthropologie und Religionsphilosophie her, die zahlreiche postnietzscheanische Konzepte originär und synthetisch reflektiert. Mann semantisierte seinen neuen Humanismus religiös. 11 Dabei nahm er Tendenzen der zeitgenössischen Anthropologie auf. Auch den philosophischen Diskurs seiner Zeit kannte er aus ersten Quellen, besser als gemeinhin bekannt. Die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe weist sie jetzt detailliert nach und arbeitet scharf heraus, wie Mann ein originäres »Menschheitslied« in der Linie der »mystischen und romantischen Idee des werdenden Gottes« (GKFA 7.2., 171) entwickelte. Als eine Quelle zum Josephroman nennt Mann beispielsweise Max Scheler und dessen Programmschrift über Die Stellung des Menschen im Kosmos. Er »glaube mit Scheler, dass Geist und Leben ›aufeinander hingeordnet‹ sind und dass es ein Grundirrtum ist, sie in ursprünglicher Feindschaft oder in einem Kampfzustande zu denken.« (XII, 659) Bei Scheler findet sich schon eine religionsphilosophische Transformation der Frage nach dem Menschen. Später stand Mann mit Paul Ludwig Landsberg im Kontakt, dessen Einführung in die philosophische Anthropologie von 1934 12 die Perspektive der Humanisierung und Individualisierung des Mythos wohl am deutlichsten erläutert, die den Josephroman trägt. Manns Remythisierung des Humanismus, an ältere Diskurse um Mythos und »Gestalt« anknüpfend, folgt also einer Tendenz der zeitgenössischen philosophischen Anthropologie, wenn sie den Menschen vom Tier distanziert und ironisch auf Engel bezieht. Das tut Mann schon im Josephroman. Im Doktor Faustus lässt er die Engelsgestalt des »Elfenprinzchen« (VI, 611), »kleinen Gesandten aus Kinder- und Elfenland« (VI, 618), das »Gotteskindlein« (VI, 615) Nepomuk (Echo), Leverkühns Hoffnung, dann satanisch sterben. Auch der Doktor Faustus kennt also das »Traumgedicht vom Menschen« und

Zur religiösen Praxis vgl. Heinrich Detering, Thomas Manns amerikanische Religion, Fischer 2012; Niklaus Peter (Hg.), Der ungläubige Thomas. Zur Religion in Thomas Manns Romanen, Frankfurt 2012 12 Paul Ludwig Landsberg, Einführung in die philosophische Anthropologie, Frankfurt 1934 11

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Das Circus-Kapitel des Felix Krull

eine humanistische Hoffnungsgestalt, gibt ihr aber im Kriegsgeschehen keine Zukunft mehr. Manns Doktor Faustus, der deutsche Tonsetzer, reagiert auf die teuflische Tat mit einer verzweifelten Entscheidung: »›Ich habe gefunden‹, sagte er, ›es soll nicht sein‹. ›Was, Adrian, soll nicht sein?‹ ›Das Gute und Edle‹, antwortete er mir [Zeitblom], ›was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. […] Ich will es zurücknehmen.‹« (VI, 634) Leverkühns Antwort war aber nicht Manns letztes Wort.

3.

Das Circus-Kapitel des Felix Krull

Der Roman Felix Krull entstand als work in progress über Jahrzehnte und blieb unabgeschlossen. 13 Mann begann ihn nach Königliche Hoheit und unterbrach ihn 1913 zugunsten des Zauberberg. Erst ab 1950 schrieb er weiter am Fragment. 1922 veröffentlichte er das Buch der Kindheit, 1937 publizierte er bei Querido eine weitere Fassung bis zur Ausmusterung Krulls Mitte des zweiten Buches. Einige Kapitel hielt er als Bravourstücke in seinem Vorlesungsprogramm. Immer wieder stellte er die Weiterführung des Krull zugunsten anderer Werke zurück und veröffentlichte 1954 nur Der Memoiren erster Teil. Dieser Teil gliedert sich in drei Bücher. Das zweite endet mit dem »Liebeskapitel« der »Apotheose des Jünglings« durch die liebende Dichterin Madame Houpfé. 14 »Aber was noch? Der Roman kann es kaum weiter bringen. Mir hat er eigentlich damit Genüge getan«, notiert Mann am 2. April 1951 dazu ins Tagebuch. Das letzte Kapitel des zweiten Buches zeigt Krull als liebenden Hoteldieb. Das erste Buch des dritten Teiles initiiert dann eine Schicksalswende, die von der ordinären kriminellen Laufbahn des Spießgesellen Stanko wegführt. Am Beginn des Kapitels verhökert Krull bei einem Hehler noch schnell das gestohlene »Liebes-Diebesgut«. Auch als »Inhaber eines Scheckbuches« aber bleibt er weiter als Liftboy im »Dienst«. Mit Stanko zusammen besucht er in seiner Freizeit Cabarets, »Zerstreuungslokale« und Cafés. Ein Besuch im Cirkus Dazu vgl. Holger Pils, Thomas Manns »geneigte Leser«. Die Publikationsgeschichte und populäre Rezeption der Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 1911–1955, Heidelberg 2011 14 Mann bezog sich auf Georges Manolescu, Ein Fürst der Diebe. Memoiren, Berlin 1905; lohnend wäre auch ein Vergleich der Hotelkapitel mit Vicki Baum, Menschen im Hotel. Kolportageroman mit Hintergründen, Berlin 1929 13

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Übermensch Andromache

Stoudebecker wird ihm dann zum »Erlebnis« (VII, 455). Die Darbietungen führen an die »Grenze des Menschenmöglichen« (VII, 455). »Grundmodell« ist der Salto mortale, »denn mit dem Tode, dem Genickbruch spielen sie alle« (VII, 455). Mann beschreibt die emotionale Erregung des Publikum und erwähnt eine »Truppe von Springern und Equilibristen« (VII, 456): »Was für Menschen, diese Artisten! Sind es denn welche?« (VII, 457) Damit gelangt er zur HochtrapezKünstlerin Andromache: »War Andromache etwa menschlich, ›La fille de l’air‹, wie sie auf dem langen Programmzettel hieß?« (VII, 458) Sie fliegt als Trapezkünstlerin in Engelsgestalt durch die Lüfte und beherrscht den Salto mortale. Fünf Seiten des Romankapitels widmet Mann ihrer näheren Beschreibung und Krulls staunenden Reflexionen. Krull gerät in generalisierende Betrachtungen: »Herrliche Tierleiber, und zwischen Tier und Engel, so sann ich, stehet der Mensch. Näher zum Tier stehet er, das wollen wir einräumen. Sie aber, meine Angebetete, obgleich Leib ganz und gar, aber keuscher, vom Menschlichen ausgeschlossener Leib, stand viel weiter hin zu den Engeln.« (VII, 465)

Krull identifiziert sich mit den Artisten: »Die Menge rings um mich her gor in Lust und Begeisterung, – ich aber, gewissermaßen, schloss mich aus von ihrem Gären und Gieren, kühl wie einer, der sich vom ›Bau‹, vom Fach fühlt. Nicht vom circensischen Fach, vom Salto-mortale-Fach, natürlich konnte ich mich fühlen, aber vom Fache im allgemeineren, vom Fach der Wirkung, der Menschenbeglückung und -bezauberung.« (VII, 463)

Es bedarf kaum des Nachweises, dass Mann mit seinem Circus-Kapitel die Vorrede aus Nietzsches Also sprach Zarathustra herbeizitiert. Auch die Große kommentierte Frankfurter Ausgabe verweist darauf (GKFA 12.2., 464), nicht aber auf Andromache, die Gattin Hektors aus Homers Illias. In der Ilias kommt es nur einmal, im sechsten Buch, zu einer Begegnung zwischen Hektor und seiner Gattin: Andromache hat Vater und Mutter sowie ihre sieben Brüder im Krieg (durch Achilles) verloren; sie fleht ihren Gatten deshalb an, um der Kinder willen in den Mauern der Stadt zu bleiben. Das »männliche Heldenwesen« und »Heldenungestüm« aber, die Ehre, treibt Hektor, so Schadewaldt, 15 hinaus. Hektor muss sich Achilles stellen. Durch die Ilias wurde Andromache zu einer zentralen Frauenfigur der Welt15

Wolfgang Schadewaldt, Hektor und Andromache (1935), in: ders., Von Homers

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Zarathustras Vorrede als Quelle des Circus-Kapitels

literatur, Sophokles und Vergil greifen sie auf, in zahllosen Kunstwerken lebt sie seither fort. Sie repräsentiert die schicksalsgeschlagene Frau; sie verliert nicht nur Eltern, Geschwister und Gatten, sondern wird nach dem Fall Trojas auch versklavt und erlebt in Vergils Aeneis weitere äußerste Erniedrigung. Zahllose Schicksalsschläge hat die Weltliteratur ihr seitdem angedichtet. Mann gibt ihr eine andere Wendung, indem er sie gleichsam vermännlicht und als »Amazone« mit Attributen Hektors ausstattet. Krull dagegen ist in seiner »Empfänglichkeit« feminisiert. Das dritte Buch endet nach dem erotisch aufreizenden Stierkampf-Kapitel mit der Ersetzung der Tochter durch die Mutter: Krull landet im »Reich der Wonne« (VII, 661) am »königlichen Busen« der Madame Kuckuck. Stierkampf und Salto mortale sind im »Stiersprung« 16 schon seit minoischen Zeiten, kulturgeschichtlich betrachtet, miteinander verbunden. Im Stiersprung triumphiert der Mensch über die überlegene Kraft des Tieres, indem er seine Todesangst – das Thema von Heideggers Sein und Zeit – überwindet. Was Mann angelologisch erdichtet, ist wohl bedacht und übersetzbar. Er denaturalisiert den Menschen nicht zum Engel, sondern formuliert Möglichkeiten kultureller Evolution und Entwicklung. Dafür zitiert er Nietzsche: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch« (KSA IV, 16). Nietzsches Vergleich mit dem Seiltänzer ist literarisch nicht weniger gesucht und riskant als die alte Metapher vom Engel.

4.

Zarathustras Vorrede als Quelle des Circus-Kapitels

Nietzsches Zarathustra beginnt mit Zarathustras »Untergang« und Abstieg aus dem Gebirge zu den Menschen. Auf dem Weg begegnet er im Wald einem seltsamen oder seltenen »Heiligen«, der »noch Nichts davon gehört« hat, »dass Gott toth ist!« (KSA IV, 14) Zarathustra kommt in der nächsten Stadt auf dem Marktplatz an. Dieser Platz entspricht Manns Circus. Das Volk ist versammelt, um einen Seiltänzer zu sehen, der Manns Trapezkünstlerin korrespondiert. Zarathustra spricht zum Volk: »Ich lehre euch den Übermenschen. Welt und Werk. Aufsätze und Auslegungen zur homerischen Frage, Leipzig 1944, 135–161, hier: 146 16 Dazu vgl. Neil MacGregor, Minoischer Stierspringer, in: ders., Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten, München 2011, 151 ff

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Übermensch Andromache

Der Mensch ist Etwas, das überwunden werden soll.« (KSA IV, 14) »Und alles Volk lachte über Zarathustra. Der Seiltänzer aber […] machte sich an sein Werk.« (KSA IV, 16) Zarathustra nimmt das auf, integriert den Seiltänzer rhetorisch geschickt in seine Ansprache und sagt: »Der Mensch ist ein Seil, geknüpft zwischen Thier und Übermensch – ein Seil über einem Abgrunde.« (KSA IV, 16) Andromache fliegt ohne Rettungsnetz. Zarathustra schließt seine »erste Rede« an, spricht vom »letzten Menschen«, doch die Menge höhnt: »›Gieb uns diesen letzten Menschen, oh Zarathustra‹, […] so schenken wir dir den Übermenschen!‹« (KSA IV, 20) Ein »bunter Gesell, einem Possenreißer gleich« (KSA IV, 21), »wie ein Teufel«, springt in einer Art Salto mortale über den Seiltänzer hinweg. Der Seiltänzer aber, »als er seinen Nebenbuhler siegen sah, verlor dabei den Kopf und das Seil« (KSA IV, 21) und stürzte in die Tiefe. Zarathustra spricht mit dem Zerschmetterten letzte Worte. Der Seiltänzer meint: »›Ich bin nicht viel mehr als ein Thier, das man tanzen gelehrt hat, durch Schläge und schmale Bissen.‹ ›Nicht doch‹, sprach Zarathustra; ›du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist Nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen begraben.‹« (KSA IV, 22)

Zarathustra verlässt das Volk, das seine Lehre nicht annimmt. »Eine Mitte bin ich noch den Menschen zwischen einem Narren und einem Leichnam« (KSA IV, 23), meint er und verlässt die Stadt, den Leichnam des Seiltänzers schulternd, um »lebendige Gefährten« (KSA IV, 25) zu suchen. Das alles ist bekannt und vielfach kommentiert worden. Einige Parallelen wurden angedeutet: Mann ersetzt den Markplatz durch den Circus, die Menge durchs Publikum, den Seiltänzer durch die Trapezkünstlerin, den Teufel durch Engel. Zarathustra selbst betont den metaphorischen Sinn: Der Seiltänzer repräsentiert die Aufgabe der Entwicklung des »Menschenmöglichen«. Der Teufel erscheint als »Possenreißer«; Mann sprach vom Clown. Der Teufel repräsentiert den agonalen Stachel des Wagnisses und der Herausforderung durch einen »Nebenbuhler«. Der Seiltänzer hat seine Aufgabe ergriffen und seinen »Beruf« gefunden; er ist deshalb »viel mehr als ein Tier« und erlangt die humane Auszeichnung und Ehre eines Begräbnisses. Ähnlich wie Zarathustra hat Krull die Trapezkünstlerin als Vision erkannt und wird sie nicht vergessen. Manns erstes Kapitel des dritten Buches endet mit der Trennung 212 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Zarathustras Vorrede als Quelle des Circus-Kapitels

von Stanko, der die allzumenschliche Menge repräsentiert. Schon im nächsten Kapitel findet Krull dann als Kellner durch den »Magnetismus« seiner »Menschenbeglückung« neue »lebendige Gefährten«, wie Zarathustra sie jenseits der »Menge« suchte. Mit Nietzsche wechselt Mann von der Lehre zum Beispiel über. Das Circus-Kapitel scheint den Übermenschen zwar in Richtung der Engel zu suchen, die Gesamtbewegung und Zielrichtung des Krull führt aber nicht zu einer caritativ entsinnlichten Auslegung der »Menschenbeglückung«. Krull hält seine Liebeserfahrungen fest und antwortet auf die naturgeschichtliche Betrachtung des Menschen durch den Paläoanthropologen Professor Kuckuck mit interessierter Beschwörung der Liebe und praktischem Beispiel. Am Ende bleibt er aus der »Güte der Reife« auch erotisch »nicht ungetröstet« (VII, 661). Manns Übermensch zielt, dem Konzept des Josephromans folgend, auf eine Vermittlung und Versöhnung von Leib und Seele oder »Geist«. Zur weiteren Fortsetzung des Krull hat Mann nichts hinterlassen; es fanden sich keine Kapitel in der Schublade. Die 2012 erschienene Große kommentierte Frankfurter Ausgabe des Felix Krull verdeutlicht, wie sehr Mann die Wiederaufnahme und Weiterführung des Hochstapler-Romans fragwürdig wurde, weil die Krull-Figur, als Schelm- und Hermes-Gestalt vielfältig an Joseph anknüpfend und von der Joseph-Gestalt überboten, ihrem Autor letztlich »überaltert und überholt« (GKFA 12.2., 24) 17 erschien. Die Herausgeber schreiben in ihrem Kommentar: »Episch war die Vollendung der Weltreise nicht mehr nötig. Das Zuchthaus-Kapitel war vielleicht sogar ganz unmöglich geworden: Ein Krull, der in den Spuren Josephs ging, musste zum Götterkind ›gesteigert‹ werden und konnte – auch wenn das Hermes-Mythologem das Stehlen sogar vorsah – kaum mehr als gemeiner Betrüger im Zuchthaus landen.« (GKFA 12.2., 56)

Die Platonisierung Krulls in Richtung auf eine Konvergenz des Guten mit dem Gerechten bricht in Lissabon an der Schwelle zum neuen Kontinent ab. Es lässt darüber nachdenken, welche Möglichkeiten der Krull jenseits von Lissabon einem vierten Buch oder zweiten Teil südamerikanischer Abenteuer in Richtung des Traumgedichts und der Humanitätsvision noch bieten konnte. Den diversen unberufenen Material zur Weiterführung gab u. a. das spektakuläre Bankrotteursende von Katias Manns ältestem Bruder; dazu vgl. Juan Delius / Julia Delius, Erik Pringsheims Tod in Argentinien, in: Thomas Mann-Jahrbuch 25 (2012), 297–331

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Übermensch Andromache

Fortsetzungen des Felix Krulls ist hier aber keine anzufügen. Es sollte nur gezeigt werden, dass Mann sein »Traumgedicht vom Menschen« mit Nietzsches Zarathustra noch bis in seine letzte publizierte Dichtung bedeutsam fortsetzte.

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X. Ehekomödie als Deutschlandplan? Manns letzte politische Dichtung

1.

Schlusswerk als Deutschland-Roman?

Mann steht in der Tradition der »Künstlerphilosophen« nach Platon und Nietzsche: Er war ein Sokratiker, Erotiker und Ironiker, der die Möglichkeiten und Bedingungen gemeinschaftlich guten Lebens in Deutschland dichterisch erkundete und philosophisch reflektierte. Vom kleinen Herrn Friedemann bis Felix Krull dichtete Mann sich von Sorgenkindern zu Glückskindern des Lebens hinauf. Von den Buddenbrooks bis zum Doktor Faustus stellte er die Frage nach der Möglichkeit gelingenden Lebens in die historisch-politischen Bedingungen der Nationalgeschichte zurück. Kann man in Deutschland gut leben? Ist es möglich, im deutschen Sonderweg, der teuflisch-einsamen, protestantisch-deutschen Geschichte ein guter Mensch zu sein? Mann verneinte diese Frage. Er folgte dabei einem Konzept »konservativer Revolution«: dem Rückgang auf anfängliche Weichenstellungen, um die Probleme politischer Geschichte anamnetisch im Anfang von Grund auf zu lösen. Mann berief sich – so 1937 im programmatischen Vorwort zur Zeitschrift Maß und Wert – auch positiv auf den Begriff der »konservativen Revolution« (vgl. XII, 801). Und er schrieb: »Für ›konservative Revolution‹ ist Luther vielleicht das beste Beispiel.« 1 Die Reformationszeit markierte im Doktor Faustus die anfängliche Fehlleitung der deutschen Nationalgeschichte. Der Roman gibt eine negative Antwort auf die Frage nach den Möglichkeiten gelingenden Lebens. Gab es alternative Möglichkeiten? Wäre eine andere Weichenstellung möglich gewesen? Hätte eine Pfadumstellung vielleicht sogar aktuelle Bedeutung? Brief vom 23. Februar 1944 an Felix Kaufmann, zitiert nach Bernd Hamacher, Thomas Manns letzter Werkplan ›Luthers Hochzeit‹. Edition, Vorgeschichte und Kontexte, Frankfurt 1996; vgl. ders., Zurück in die Zukunft. Thomas Manns Lutherbild und die Modernität des Mittelalters, in: Thomas Mann-Jahrbuch 25 (2012), 115–127

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

Notizen zu einer Reformationsnovelle durchziehen die Tagebücher seit den 1940er Jahren. Sie war ein wichtiges Arbeitsvorhaben und Anschlussprojekt zum Doktor Faustus. Bernd Hamacher 2 hat diesen »letzten Werkplan« eingehend rekonstruiert: Er ist Manns Vision eines Nachkriegsromans. Aus naheliegenden und einsichtigen Gründen gelangte er über das Stadium erster Vorüberlegungen nicht hinaus und ist dennoch von Manns Konzept vom Zeitroman oder zeithermeneutischen Roman her im Anliegen nachvollziehbar. Erörtern wir aber zunächst einen anderen gescheiterten Werkplan als »Zeitroman«:

2.

Odysseus als Widerstandsheld

Vor dem Abschluss des letzten Joseph-Bandes und Beginn des Doktor Faustus beschäftigte sich Mann Mitte August 1942 gut eine Woche mit einem Filmprojekt, das er in einem »Staatsschreiben« an den Regisseur Reinhold Schünzel fest zusagte. Elisabeth Galvan 3 hat diesen »Staatsbrief« ediert und die Hintergründe geklärt: Am 10. August macht ein Filmagent »skurrile Filmvorschläge«. Am nächsten Tag spricht Mann den Agenten zusammen mit dem Regisseur und es folgen weitere geschäftliche Besprechungen auch mit Direktoren der FOX-Filmanstalten. Es geht um die Verfilmung der Odyssee bzw. um Odysseus als griechischen Partisanen- und Freiheitskämpfer. Mann liest dafür in der Odyssee und schreibt dann laut Tagebuch (16./17. August) an zwei Vormittagen konzentriert am »Staatsbrief« als Exposé oder Synopsis des Films. Er bespricht den Brief mit der Familie und berichtet Agnes Meyer eingehend davon. Im Brief an Meyer deutet er den finanziellen Aspekt an, eine »politische lecture Tour abzuschütteln und statt des zweiten Vortrags – wie viel lieber! – die Rückkehr des Odysseus zu modernisieren.« 4 Dieser Hinweis auf ökonomische Zwänge war vielleicht – gleichsam als Running Gag –

Bernd Hamacher, Thomas Manns letzter Werkplan ›Luthers Hochzeit‹. Edition, Vorgeschichte und Kontexte, Frankfurt 1996 3 Mann am 17. August 1942 an Reinhold Schünzel, in: Elisabeth Galvan, Kommentar GKFA 3.2, 436–440; Hans Rudolf Vaget (Thomas Mann, der Amerikaner, Frankfurt 2011, 372 ff) referiert bereits das Projekt, ohne es allerdings mit Manns Konzept vom »Zeitroman« zu deuten und auf Das Gesetz zu beziehen. 4 Mann am 18. August 1942 an Agnes E. Meyer, in: Briefe 1937–1947, 273 f 2

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Odysseus als Widerstandsheld

nur an die Mäzenin adressiert; dass Mann aber Dichtung politischer Propaganda eigentlich vorzog, ist klar. Manns Exposé, so beiläufig und strategisch es auch gewesen sein mag, ist als Werkplan hochinteressant. Schillers Wilhelm Tell und Kleists Hermannsschlacht klingen an, auch Kleists Erdbeben in Chili. Mann wäre in die Reihe der Partisanendichter eingetreten, für die Carl Schmitt 5 sich in seiner Theorie des Partisanen im Horizont des Zweiten Weltkriegs interessierte. Man könnte weiter ausholen und an Lord Byron oder den Philhellenismus der Goethezeit erinnern, der auf den zeitgenössischen griechischen Unabhängigkeitskampf gegen die Osmanen reagierte, wie in Hölderlins Hyperion deutlich. Das Exposé transponiert Odysseus aber in die Gegenwart: Griechenland ist gerade von Mussolinis Truppen besetzt und Odysseus hat sich für den »Guerillakrieg« in die Berge zurückgezogen. Seine Helena wird auf ihrer »homerischen Farm« von den italienischen Offizieren belagert und bedrängt. Die deutsche SS tritt dazu, weil sie nach Odysseus fahndet; es gibt »Misshelligkeiten« zwischen den italienischen und deutschen Besatzern. Manns Plot entwickelt nun die Idee, dass Odysseus die falsche Nachricht von einem erfolgreichen Anschlag als trojanisches Attentat auf Hitler erfolgreich lanciert. Mann imaginiert das fast zwei Jahre vor der Tat in der Wolfsschanze! Das Attentat auf Heydrich war allerdings gerade erfolgt und Mann stellte es im Juni 1942 ins Zentrum seiner Radioansprache an die Deutschen Hörer (XI, 1042 f). Der Filmentwurf zeigt nun die »entschleiernde« Wirkung der Fake News, den »Triumph der Wahrheit durch den Trug«: 6 Alle »Masken fallen«, bei den Besatzern und »Schergen des Unrechts« wie beim Volk. Es ist ein chiliastischer Moment, wie nach Kleists Erdbeben, eine erlösende Befreiung »in wildem Jubel«. Odysseus kehrt nun für »einige Stunden« zurück, um den Moment für das Gericht zu nutzen, »als wäre der Tag der Freiheit und Sühne« (GKFA 3.2., 439) da. Das Filmexposé antizipiert 1942 die kommenden Abrechnungen: Das Gericht trifft nicht nur die Besatzer, Italiener wie Deutsche, sondern auch die eigenen Leute: die Kollaborateure und alle Formen der Anpassung und Unterwerfung. Diese Rückkehr des Odysseus aus den Carl Schmitt, Theorie des Partisanen. Zwischenbemerkung zum Begriff des Politischen, Berlin 1963 6 Elisabeth Galvan, Kommentar zu: Thomas Mann. Fiorenza, Gedichte, Filmentwürfe. GKFA 3.2., Frankfurt 2014, 438 f 5

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

Bergen für das Gericht erinnert an die spätere Lösung der MosesNovelle. 7 Schon das zeigt, dass Mann bei seinem »Kampf um die Ehre der Menschheit« gewiss nicht nur an die faschistischen Täter dachte. Mann formuliert im »Staatsbrief« sein grundsätzliches ästhetisches Interesse: Der »Nazi-Film« sei bisher »fast ohne Ausnahme eine politisierende Unterart der Gangster-Story« gewesen; er wolle »den politischen Zeitfilm dagegen auf ein reineres und bedeutenderes Niveau heben« (GKFA 3.2., 440). Mann spricht hier vom »Zeitfilm« in starker Analogie zum »Zeitroman« und streicht die politischen Absichten seiner Hermeneutik heraus. Wie im Joseph-Roman und bald Doktor Faustus spiegelt er Anfänge und Enden in mythischen Texten. Nicht nur strategisch betont er im »Staatsbrief« die großen Möglichkeiten des Stoffes. Seine Antizipation des »Triumphs der Wahrheit durch den Trug« ist ein ureigenes Motiv seiner Dichtung, das er von Schopenhauer und Nietzsche her aufnahm und noch für Die Betrogene adaptierte. Die chiliastische Psychologie des Befreiungsgeschehens und Rückkehr des Odysseus als Rächer, die Gerichtsund Gerechtigkeitsfragen des Stoffes boten vielleicht sogar vielfältigere individualisierende Möglichkeiten als das Faustus-Theorem. Ein militärisches und nationalistisches Heldenepos hätte sich mit dem Hollywood-Genre des Gerichtsfilms großartig verknüpfen lassen, und es ist durchaus glaubhaft, dass Mann dem Regisseur emphatisch versicherte, die »Gestalten« bereits cineastisch »zu sehen«. Wir wissen zwar nicht, woran das Projekt umgehend scheiterte; das ließe sich aus den Akten der Filmgesellschaft vielleicht weiter klären; am finanziellen Aspekt allein lag es aber sicher nicht, dass Mann die Idee als Drehbuch oder Novelle nicht weiter verfolgte. Einige Gründe lagen aus seiner Sicht nahe: Der Wechsel ins Drehbuchgenre, wie manche Exilschriftsteller – selbst Brecht – ihn aus finanziellen Nöten suchten, war für Mann ökonomisch nicht zwingend und ästhetisch riskant; es forderte mehr den Dramatiker als den Novellisten. Die Abhängigkeit von Studios und aufwändigen Produktionen war seine Sache nicht. Er hätte das Drehbuch allerdings als Novelle realisieren können, wie er es anschließend tat: Auch Das Gesetz sollte zunächst als Filmdrehbuch entstehen. Es gab aber starke politische Gründe für den Verzicht auf das Projekt: Eine ästhetische Verklärung des Guerillakrieges lag Dazu vgl. Jan Assmann, Mose gegen Hitler. Die Zehn Gebote als antifaschistisches Manifest, in: Thomas Mann-Jahrbuch 28 (2015), 47–61

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Odysseus als Widerstandsheld

Mann grundsätzlich nicht nahe. Ein deutschnationalistischer Sinn, wie die anti-napoleonischen Stücke von Schiller und Kleist ihn propagierten, entsprach auch nicht der damaligen Lage des deutschen Widerstands. Mann hätte mit einer solchen Dichtung überdies seine »nationale« Repräsentanz gefährdet und aufgekündigt; er hätte die Nation zur internen Abrechnung und zum Gericht aufgerufen, was er zwar gelegentlich wünschte, letztlich aber nicht bejahen konnte: Mann suchte Gerechtigkeit und nicht Rache. Weitere Gründe für die Abkehr vom Projekt ließen sich finden: Schon in seiner Radioansprache Deutsche Hörer! vom August 1941 verkündigte Mann zwar: »Es wird für die Zukunft ein ungeheurer Unterschied sein, ob ihr Deutsche selbst den Mann des Schreckens, diesen Hitler, beseitigt oder ob es von außen geschehen muss.« (XI, 1010 f) Er glaubte aber nicht wirklich an die Selbstbefreiung durch deutschen Widerstand. Im Vorwort zur Publikation seiner Radioansprachen schrieb er im September 1942, wenige Wochen nach dem Filmplan: »Wie kann ein Volk, von dem psychologisch feststeht, dass es sogar gegen ihn [Hitler] niemals revoltieren wird, eine Herrenrasse sein?« (XI, 985) Es gab für Mann also mancherlei Gründe, auf das Projekt zu verzichten. Man muss hier aber keine komplexen Überlegungen bemühen: Der einfachste, stärkste und naheliegendste Grund war der Kriegsverlauf selbst! Eine paradigmatische Verklärung des griechischen Freiheitskampfes war Ende 1942 einfach nicht glaubwürdig: Italien hatte Griechenland im Oktober 1940 überfallen; es gab eine griechische Gegenoffensive und durch den Eintritt Deutschlands wurde der Krieg im April 1941 in wenigen Tagen entschieden. Griechenland kapitulierte förmlich. Es gab zwar griechische Partisanen (Andarten), die in den Bergen kämpften; Mann erwähnt das auch in seiner Radioansprache vom Mai 1941: »Ein Grieche steht gegen sechs oder sieben von euch.« (XI, 1003) Die griechischen Partisanen waren aber nicht annähernd so stark und erfolgreich wie etwa die jugoslawischen unter Tito. Auch ein solches Partisanenheldenepos, mit einem Tito-Odysseus, war aber für Mann im Herbst 1942 nicht sonderlich attraktiv. Der Stand des Krieges machte ein Partisanenepos damals überflüssig, das – frühestens 1943 in den Kinos – durch den Kriegsverlauf bereits überholt und also propagandistisch verfehlt war. In den Augusttagen des Filmprojekts registrierte Mann im Tagebuch die Kriegswende vor Stalingrad. Die Generalstrategie verlagerte sich damit vom Guerillakrieg zur Entscheidungsschlacht. Es zeichnete sich deutlich ab, dass die 219 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Ehekomödie als Deutschlandplan?

Alliierten Nazideutschland primär in der Form eines »klassischen« Staatenkrieges besiegen würden. Stets unterschied Mann zwischen Hitler und dem deutschen Volk. Die Gleichsetzung kritisierte er als Propagandalüge der »apokalyptischen Lausbuben« (XI, 1064). Im Juni 1943 sprach er zwar vom Widerstand in den besetzten Gebieten, vom »Guerilla-Kriege« und den »Vorgängen an der Münchner Universität« (XI, 1076 f, vgl. 1082 ff), von der Weißen Rose. Die Konferenz von Jalta bewies ihm aber erneut, »dass man den Krieg militärisch zu beenden wünscht« (XI, 1087): in Form des klassischen Staatenkrieges. Im Mai 1945 stellte er abschließend klar: »Die Befreiung musste von außen kommen. […] Deutschland ist wahrlich, wenn auch unter ungeheuren Opfern, nach allen Regeln der Kunst geschlagen worden« (XI, 1122). Ein Partisanenepos, moralisch-politisch für Mann ohnehin nicht wünschenswert, hatte schon Ende 1942 allenfalls sekundäre Bedeutung. Bald – am 21. September 1942 – notiert Mann damals auch die Verlagsentscheidung für seine Sammlung Deutsche Hörer! Damit bündelte er seine Kriegspublizistik in eine rhetorisch gesteigerte, dramaturgische Form, die auf die Rollenprosa des Doktor Faustus vorauswies. Ende März 1943 begann Mann mit der Arbeit am Doktor Faustus, der seine Kriegsdichtung wurde. Der Entstehungs-Roman beginnt seine Chronik mit dem November 1942 und überschlägt also das – bald verworfene – Zwischenspiel der Partisanendichtung. Der Odysseus-Plan war für Mann als »Zeitfilm« oder »Zeitroman« zwar grundsätzlich attraktiv; Ende 1942 war er aber bereits durch die Ereignisse überholt. Mann schrieb damals stattdessen seinen rekapitulierenden Vortrag über Joseph und seine Brüder; er schloss Joseph der Ernährer im Januar 1943 ab und begann umgehend mit der Novelle Das Gesetz, die die Gerichtsfragen übernahm und entpolitisierend ins Moralistische wendete: Odysseus erschien nun als Moses! Die Moses-Novelle passte epilogisch besser zur Joseph-Tetralogie und war im August 1942 auch bereits im Gespräch. Beachtlich ist die Neutralisierung und Entpolitisierung der Zeitumstände, die mit dem Shift von Odysseus zu Moses verbunden war: Moses ist in der Einheit des Gründers und Richters ein klassischer Nomothet. Die richterliche Rolle des Partisanenhelden wäre dagegen mit dem Odium der Rache belastet gewesen. Die späteren Kontroversen um Manns »Rückkehr« nach Deutschland bestätigen, dass Mann in der Rolle des Nationalschriftstellers starke Anklänge an den Richter und Rächer zu meiden hatte. Die Moses-Novelle war politisch zurückhaltender als der Odysseus220 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Das Luther-Projekt als politische Dichtung

Plan. Mann musste sich entscheiden: Beide Novellen zu realisieren – das politische Partisanenepos und die moralistische Erinnerung an das mosaische Gesetz – war aufgrund der starken Analogie zwischen den Gerichtsszenen nicht möglich. Das Odysseus-Projekt hätte – jenseits des Filmes – für sich genommen aber eigentlich auch eine großartige Novelle werden können. Mann dachte vielleicht noch an das Projekt, als er sich im Entstehungs-Roman mit Joyce parallelisierte. Odysseus-Variationen gab es in neuerer Zeit viele: Alberto Moravias Roman Il dispresso, von 1954, wurde von Jean-Luc Godard 1963 als Hauptwerk der Nouvelle Vague – Le Mépris – verfilmt. Aus dem Epos wurde ein intimes Ehedrama: Brigitte Bardot spielte die Helena auf Capri als wahre Sirene, Odysseus erschien als verkrachter Autor, der vor seiner Frau flieht. Episch ist hier nur noch die elegische Musik und die Kameraführung mit ihren berückenden Aussichten vom lichtüberfluteten Mittelmeer.

3.

Das Luther-Projekt als politische Dichtung

Der Odysseus-Plan spiegelte Anfänge und Enden ineinander, wie der Doktor Faustus es tat. Während das Partisanenepos aber eine nationalistische Selbstbefreiung imaginierte, beschrieb der Faustus die deutsche Selbstzerstörung. Diese Wendung zum Faustus-Stoff entsprach der Kriegswende. Es waren also auch äußerliche – hochpolitische – Gründe, weshalb Mann zum Doktor Faustus überging. Er verblieb nach der Publikation des Romans dann in den »mythischen« Potentialen des Stoffes und erwog zuletzt einen Stoff aus der Reformationszeit. Die Vorgeschichte ist recht lang: Parallel zu ersten Überlegungen zum Joseph-Roman schon plante er Novellen über Philipp II. und Erasmus. 1925 schrieb er an Ernst Bertram, 8 er wolle »Historien machen: Joseph, Erasmus, Philipp, ein schönes Buch.« In einem Gespräch mit Oskar Maurus Fontana meinte er 1926, er beabsichtige eine »Reihe historischer Novellen« zu schreiben, die »mehr ins Essayistische, Weltbildnerische« ausgreifen: »Ich kam zuerst aus Liebhaberei zu diesen drei Stoffen, von denen ich Ihnen einen nannte: ›Joseph und seine Brüder‹. Die anderen beschäftigen sich mit Philipp II., mit Luther und Erasmus. Liebhaberei, sich in einem Ägypten, Mann am 14. Juni 1925 an Bertram, in: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910–1055, hrsg. Inge Jens, Pfullingen 1960, 142

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

Spanien, Deutschland der Vergangenheit festzuhaken. Aber je mehr ich mich mit den Stoffen beschäftige, desto mehr sehe ich, dass die Liebhaberei einen geheimen Sinn, eine geheime Verbindung hatte: Das Religiöse.« 9

Mann scheint damals also eine Sammlung historischer Novellen über die großen religiösen Weichenstellungen Europas schreiben zu wollen. Mit der Ausweitung des biblischen Stoffes ist dieses Vorhaben hinfällig. Die Reformationsthematik hält Mann aber fest. In den Tagebüchern von 1933/34 notiert er: »Hitlers Ähnlichkeit mit Luther wird überhaupt viel empfunden.« (TB 20. 3. 1934) Am 2. April 1933 fragt er sich: »Ist meine Rolle nur die eines Erasmus im Verhältnis zu einem neuen Luthertum?« Für den Doktor Faustus liest er dann später nach Abschluss der Joseph-Tetralogie eine Unmenge Literatur über die Reformationszeit. Stark beeindruckt ihn Huizingas Erasmus-Buch. 10 »Vage produktive Versuche beim Lesen über Erasmus«, bemerkt er dazu (TB 2. 9. 1947). In dem Essay Phantasie über Goethe macht er Andeutungen über Ähnlichkeiten zwischen Erasmus und Goethe (IX, 737 f). Hamacher nennt weitere Quellen: u. a. Egon Friedell, Gerhard Ritter, David Friedrich Strauss’ Hutten-Buch, Julius Köstlins Luther-Biographie. Mann spricht zunächst von einer Novelle und zuletzt von einer Komödie. Mit Huizinga bedenkt er den Gegensatz zwischen Luther und Erasmus. Für die Komödie liest er insbesondere Köstlin. 11 Hamacher rekonstruierte Manns Überlegungen von diesem Projektstadium her. Für Manns Gesamtauffassung der europäischen Dimension und frühneuzeitlichen Dynamik ist auch Gerhard Ritters großes Panorama der Neugestaltung Europas im 16. Jahrhundert 12 wichtig, das 1950 erschien und Mann laut Tagebuch vom Dezember 1951 bis Januar 1952 angeregt las. Hier begegnete ihm die europäische Gesamtperspektive und Verflechtung konfessioneller und politischer Motive, die ihn als Spiegel der Nachkriegslage interessierte. Hier geht es bereits um eine konfessionelle und nationalstaatliche Spaltung Europas, um den Zerfall europäischer Einheit in heterogene Kräfte. Hier konnte Mann den historischen Spiegel finden, in dem er die Nachkriegslage überdachte. In: Dichter über ihre Dichtungen. Bd. 14/II: Thomas Mann, Frankfurt 1979, 68 Johann Huizinga, Erasmus, Basel 1928 11 Julius Köstlin, Martin Luther. Sein Leben und seine Schriften, 2 Bde., Elberfeld 1875 12 Gerhard Ritter, Die Neugestaltung Europas im 16. Jahrhundert. Die kirchlichen und staatlichen Wandlungen im Zeitalter der Reformation und der Glaubenskämpfe, Berlin 1950; Die Weltwirkung der Reformation, Leipzig 1942 9

10

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Das Luther-Projekt als politische Dichtung

Nach Abschluss des Erwählten heißt es: »Am möglichsten wäre die Luther-Erasmus-Novelle« (TB 25. 11. 1950). Er spricht auch von einem Erasmus-Stoff (TB 23. 2. u. 22. 3. 1951) und scheint damit den Akzent auf die politische Auffassung des Friedensproblems zu legen. Die Novelle bleibt ihm aber »höchst nebelhaft« (TB 1. 7. 1951). Eine Luther-Novelle hätte ein gewaltiges Werk werden können. Nimmt man die einschlägigen Ausführungen im Vortrag Deutschland und die Deutschen von 1945 (vgl. XI, 1134 f), so hätte sie von der Weichenstellung der Nationalgeschichte Deutschlands durch eine einseitige religiöse Revolution gehandelt und somit von der Verengung der »deutschen Freiheit« (Ernst Troeltsch) auf die »unpolitische« Bahn des Obrigkeitsstaates; sie hätte die religiösen Auseinandersetzungen der Reformationszeit als Kampf um geschichtliche Möglichkeiten aufgefasst und in Riemenschneider, Hutten oder Erasmus politische Alternativen aufgezeigt. Mann identifizierte sich nicht positiv mit Luther. »Ich liebe ihn nicht« (XI, 1132), meinte er 1945 in Deutschland und die Deutschen: »Ich hätte nicht Luthers Tischgast sein mögen.« (XI, 1133) In diesem Vortrag profilierte er Tilman Riemenschneider als Antipoden, den politischen Stadtbürger gegen den frommen Reformator, verweist aber letztlich auf Goethe. Mann macht Luthers »antipolitische Devotheit« (XI, 1136) für den deutschen »Knechtsinn« und die »Geschichte der deutschen Innerlichkeit« verantwortlich. Dabei sucht er verpasste Möglichkeiten der Nationalgeschichte. Seine »deutsche Selbstkritik« möchte die positiven Potentiale der reformatorischen Weichenstellung neu entdecken, nachdem der Fehlweg mit dem Doktor Faustus analysiert ist. Ähnlich wie der Faustus wäre ein Luther-Werk ein Werk der Epoche in historischer Spiegelung geworden. Umgekehrt jedoch wären die Auseinandersetzungen der Gegenwart um Nachkriegsdeutschland nun der Hintergrund der Entscheidungsfragen der Reformationszeit gewesen. Anders als im Doktor Faustus hätte Mann das nicht aus dem geschichtlichen Abstand schreiben können. 1943, bei Beginn der Niederschrift des Doktor Faustus, wusste er mit der kommenden Niederlage des Nationalsozialismus um den Ausgang des Romans. Dieses auktoriale Wissen hätte er für den Luther-Plan nicht gehabt. Zudem erlaubte Manns Glaube an eine Einigung Europas schwerlich den Rückbezug auf die Geschichte der konfessionellen Spaltung Deutschlands und Europas. Nach 1945 ist Mann über die Entwicklung in Deutschland und den USA entmutigt und bekennt seine »Ratlosigkeit« (XI, 489) über die Zukunft. In dieser Lage kann er den Luther223 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Ehekomödie als Deutschlandplan?

stoff nicht als zeithermeneutische Spiegelung der Gegenwartsfragen in der Reformationszeit durchführen. Pragmatisch entscheidet er sich deshalb für die Fortsetzung des Felix Krull. Immer wieder notiert er aber in den Tagebüchern seine Unzufriedenheit mit dieser Jugendgestalt. Der Hochstapler war als Glücksgestalt kriminell; Mann suchte dagegen die sozial verantwortlichen Gründergestalten. Goethe, Joseph, Moses waren solche starke Charaktere. Nach dem Faustus glaubte Mann nicht mehr an seine künstlerischen Kräfte und Möglichkeiten zur Überbietung dieses Schlusswerkes durch einen überraschenden Neuanfang. Nach Abschluss des Krull nimmt er dennoch 1953 die »Beschäftigung mit der Idee des Sich Überkreuzens zeitgenössischer Schicksale von ganz verschiedener Orientierung: Luther, Kaiser Karl, Erasmus, Hutten« erneut auf (TB 1. 7. 1953). Er wechselt aber nun von der Novelle, die sich leicht zum Roman ausgewachsen hätte, in die Form der Komödie über. Im Sommer 1954 (TB 4. 6. 1954) heißt es: »Eine Reihe von 7 historischen Charakterszenen aus dem 16. Jahrhundert wäre denkbar, worin die (humoristische) Verschiedenartigkeit der Standund Blickpunkte der Akteure dieser Zeit sich malte […] Die Schicksale Luthers, Huttens, Erasmus’, Karl V., Leo X., Zwingli’s, Münzers, Tilman Riemenschneiders schweben mir vor, ohne dass das Bild einer Composition und Gestaltung sich zeigen will.«

Mann legt sich nun auf ein Schauspiel »Luthers Hochzeit« fest. Zuletzt (sechs Wochen vor seinem Tod) notiert er (TB 15. 6. 1955): »Scham, weil sich der Luther-Stoff nicht bilden und zuspitzen will. Überhaupt das Gefühl, dass ich nicht mehr zu arbeiten weiß«. Offenbar sucht Mann den Konzeptionsproblemen der »historischen Novelle« zu entgehen, indem er sein Publikum mit einem erneuten dramatischen Versuch überrascht, der auch zeitlich in den Kreis des Fiorenza-Dramas zurückkehrt. Dabei rückt er nur scheinbar von der historisch-politischen Zielsetzung ab. Sein Verzicht auf die Ausführung des ursprünglichen Novellenplanes ist doppelt bedauerlich; es fehlt dadurch nicht nur die große Dichtung von den Entscheidungen der Nachkriegszeit, sondern auch das essayistische Begleitwerk und die öffentliche Reflexion der Nachkriegslage. Anders als beim Doktor Faustus sieht Mann die persönlichen und politischen Bedingungen für die Vollendung nicht mehr gegeben. Doch die Realisierung als Komödie hielt er wohl noch für möglich. 224 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

Das Luther-Projekt als politische Dichtung

Hamacher hat die Entwicklung des Luther-Planes über die hier zitierten Stellen hinaus dokumentiert und Manns spärliche späte Aufzeichnungen zum Projekt ediert und interpretiert. Dabei formuliert er am Ende wichtige grundsätzliche Fragen: Er stellt das Projekt in den autobiographischen Zusammenhang von Manns »Problem der Ehe«, liest verschärften Geschichtspessimismus ab und analysiert zuletzt Manns Überlegungen zur Problematik der Finalisierung oder konzeptionellen Abschließung seines Gesamtwerks. Dieser Monographie gebührt das Verdienst, Manns letzte dichterische Bemühungen überhaupt ernst zu nehmen und die künstlerische Phantasie der letzten Jahre allererst sichtbar zu machen. Den zahlreichen Selbstaussagen zum »Verfall« der dichterischen Potenz stellt Hamacher die Dokumentation eines Gegenstrebens entgegen. Seine Rekonstruktion des letzten Werkplans verstellt dabei aber – in germanistischem Positivismus am buchstäblich letzten Stand orientiert – die Frage nach den offenen alternativen Potentialen des Werkplans. Denn sie analysiert den Plan von der Komödie her. Vom Telos politischer Nachkriegsdichtung her erhält aber auch Manns Komödienplan politisches Licht: Manns autobiographische Zuspitzung des Projekts auf das »Problem der Ehe« sucht auch eine Antwort auf das alte Theorem von der deutschen »Weltscheu« und »Welteinsamkeit«. Die Exzerpte belegen Manns Konzentration auf das Hochzeitsgeschehen. Luthers Nahwelt tritt auf, Lucas Cranach und Melanchthon spielen eine Rolle. Besonderes Interesse nimmt Mann an Katharina von Bora 13 sowie an Hieronymus Baumgärtner, »Käthes eigentliche Liebe«, 14 wogegen die Ehe mit Luther zunächst eher als Josephsehe geplant war und Züge einer antikatholischen Demonstration, Vernunft- und Zweckehe trug. Katharina von Bora (1483–1552) war schon als Kind in ein Benediktinerkloster gekommen. Durch Luthers Wirken war ihr der klösterliche Sinn genommen. Sie floh im April 1523 zusammen mit anderen Nonnen nach Wittenberg und lebte einige Zeit im Umkreis Aus der Literatur etwa: Karin Jäckel, Die Frau des Reformators. Das Leben der Katharina von Bora, Reinbek 2006; Roper Lyndal, Der Mensch Martin Luther. Die Biographie, Frankfurt 2016; Volkmar Joestel, Die Nonne heiratet den Mönch. Luthers Hochzeit als Scandalon. Eine Textsammlung, Wittenberg 1999; Ernst Kroker, Katharina von Bora. Martin Luthers Frau, Berlin 1951; Jochen Klepper, Die Flucht der Katharina von Bora. Aus dem Nachlass unter Benutzung von Tagebuchaufzeichnungen hrsg. Karl Pagel, Stuttgart 1951 14 Hamacher, Manns letzter Werkplan, 219 13

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

Luthers. Dort verliebte sie sich in Hieronymus Baumgärtner. Luther kannte beide und riet zur Heirat der »Käthe«. Baumgärtners Ehepläne scheiterten aber am Einspruch der Eltern: Die Heirat einer entflohenen Nonne war einem Nürnberger Patrizier auf die Gefahr gerichtlicher Verfolgung, sozialer Ächtung und geschäftlicher Einbußen unmöglich. Luther war damals schon über 40 Jahre alt und sah sich in der Pflicht, seine Lehre durch sein Beispiel zu bekräftigen; er ermutigte seine Mitwelt zur Heirat und wurde von seinem Umfeld in diese Richtung gedrängt. Luther heiratete Katharina deshalb 1525 und bekam mit ihr zusammen sechs Kinder. Katharina organisierte den großen Haushalt des »Schwarzen Klosters«, mit Garten, Stallungen, Mägden, Knechten und der »Bursa« eines Studentenheims, und führte mit Luther wohl eine ziemlich glückliche, protestantisch vorbildliche Ehe. 15 Baumgärtner repräsentiert in Manns Notizen auch Nürnberger Urbanität und Aufgeschlossenheit für das neue heliozentrische Weltbild nach Kopernikus und Kolumbus. Hamacher bemerkt treffend: »Mit ihm führt Thomas Mann eine Figur in die Notizen ein, die es ihm vor allem erlaubt, seine Beschäftigung mit Erasmus und damit die geistesgeschichtliche Antithese Luther – Erasmus ins Werk zu integrieren, ohne die dramatische Anlage zu sprengen.« 16

Die Antithese Luther – Baumgärtner ist eine wesentliche kompositorische Entscheidung. Auch Melanchthon erscheint »als ein Antipode Luthers im Drama«. 17 Nur Luther, Baumgärtner und Katharina lassen sich in den Notizen als Hauptfiguren ausmachen. Hamacher bemerkt, dass Thomas Mann Katharina von Bora dramatisch so aufwertet, »dass sie in der dramatischen Konstellation eine wichtigere Rolle noch als Baumgärtner übernimmt: Partnerin und Antagonistin Luthers zugleich – einerseits Voraussetzung des Gelingens seines Werk- und Lebensentwurfs, andererseits Baumgärtners Geliebte nicht nur, sondern als solche die Exponentin einer mit derjenigen ihres Gatten konkurrierenden, moderneren Liebeskonzeption sowie als Gesprächspartnerin des weltgewandten Nürnbergers die Vertreterin der Neuzeit gegenüber dem Mittelalter ihres Mannes.« 18 Darstellung nach der lesenswerten Biographie von Ernst Kroker, Katharina von Bora. Martin Luthers Frau, Berlin 1951 16 Hamacher, Manns letzter Werkplan, 261 17 Hamacher, Manns letzter Werkplan, 267 18 Hamacher, Manns letzter Werkplan, 269 15

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Das Luther-Projekt als politische Dichtung

Ihre dramatische Rolle scheint Parallelen zur Rolle der schönen Fiore im Drama Fiorenza aufzuweisen. Das verführerische und launische Weib Fiore repräsentiert in Manns Jugenddrama die Stadt Florenz. Das Stück dramatisiert die Entscheidung der Bürgerschaft zwischen Lorenzo de Medici und Savonarola, Kultur und Religion, als Kampf um Fiore. Mann steht gegen den asketischen Priester auf Seiten der Florentiner Kulturstaatlichkeit. Eine ähnliche Entscheidungsalternative scheint er nun 50 Jahre später mit der Hochzeitskomödie erneut zu erwägen. Luther tritt hier geradezu an die Stelle Savonarolas, die Entscheidungsalternative ist aber weiter differenziert. Hier kommt es vor allem darauf an, den großartigen Kontrapunkt zu sehen, den Mann mit einem Komödienplan über den Doktor Faustus und die folgenden Abgesänge und Schlusswerke hinaus setzen wollte: den Paukenschlag eines Kontrapunkts zu Fiorenza, der mit dem Jugenddrama auch die eigene goldene Ehe mit Katia über ein halbes Jahrhundert neu rechtfertigte und aufwertete. Mann verglich sein Werk oft mit Wagner: Dem »Ring« seines Joseph ließ er den Doktor Faustus als seinen »Parsifal« folgen. So könnte man den Kontrapunkt der Komödie auch mit Verdi fassen: »Luthers Hochzeit« wäre Manns Falstaff geworden. Das Drama läuterte sich zur Komödie, weil der religiöse Asketismus bereits auf verlorenem Posten stand. Anders als Savonarola hat Luther die Liebe als Gesetz der Welt anerkannt und vermag dieser Logik doch nur halbherzig zu folgen. Mit seiner Trennung von Liebe und Ehe 19 und Konzeption der Ehe als Pflicht ist er gegenüber Katharina und Baumgärtner eigentlich nur noch eine komische Figur. Manns Hochzeitskomödie zielt auf eine Demontage Luthers, die allerdings, Manns eigenem Eheethos getreu, mit der Konzeption einer eigenen Sittlichkeit der Ehe nicht gänzlich bricht. Die Ehekomödie nimmt die alte Frage nach dem deutschen Weltverhältnis und der deutschen »Welteinsamkeit« erneut auf. Es mag zutreffen, dass Mann die Nachkriegslage zunehmend pessimistisch sah und sich aus den politischen Debatten zurückzog. Der Briefwechsel mit Adorno ist ein Dokument dieser Verdüsterung. Wenn der wachsende Geschichtspessimismus und die theatralische Verdichtung aber die historische Spiegelung der Nachkriegslage auch ein Stück weit verstellt, so lag diese Intuition dennoch im ursprünglichen Plan. Zur heiklen »Fusion von Liebe und Ehe« bei Mozart eindrücklich Dieter Borchmeyer, Mozart oder die Entdeckung der Liebe, Frankfurt 2005

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

Ja, die Dramatisierung des Eheproblems erscheint erst dann als autobiographisches Projekt ernstlich bedeutungsvoll, wenn sie zugleich als politische Antwort auf die deutsche »Welteinsamkeit« verstanden wird. Auch bei Luther war die Hochzeit eine eminent politische Entscheidung: der definitive Bruch mit der katholischen Kirche und mittelalterlichen Lebensform des Mönches. Wenn der Wechsel von der Novelle zur Komödie Luthers Hochzeit zum Zentrum des Stücks erhebt, so flieht Mann also nicht aus den politischen Fragen ins Allzumenschliche. Vielmehr verdichtet er seine Frage nach dem deutschen Weltverhältnis im Problem der Hochzeit. Der Wechsel aus der Novelle in die Komödie bedeutet keine Absage an politische Intentionen. Das Problem der Ehe oder Hochzeit ist vielmehr Manns Antwort und Symbol für das seit dem Friedrich-Essay und den Betrachtungen eines Unpolitischen hervorgehobene Problem der deutschen »Welteinsamkeit«. Die Hypothek der Welteinsamkeit ist nichts als Manns vertiefte Auffassung des »konstitutionellen Sonderwegs«. Auch »Luthers Hochzeit« wäre ein Stück politischer Dichtung geworden. Die ironisch-autobiographische Identifikation war unter lebensphilosophischen Voraussetzungen eine Form der Legitimation und Autorisierung. Mit dem Problem der Ehe beglaubigte Mann seine Sicht. Das Problem der Hochzeit war ein Akt der Identifikation des persönlichen und des politischen Schicksals: Erst mit dem »Geheimnis« der Identität (vgl. XI, 204) von Luthers Hochzeit und Manns Ehe – 1955 feierte Mann seine Goldene Hochzeit mit Prinzessin Katia – erscheint die dramatische Zuspitzung der zeithermeneutischen Spiegelung auf die Ehekomödie als gewichtige dichterische Antwort. Mann selbst wäre in seiner Eheproblematik ironisch gebrochen als Luthers Alter Ego erschienen, als Repräsentant am Ende der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, deren Potentiale und Probleme er in der Reformationszeit spiegelte. In autobiographischer Spiegelung wäre er als Gründergestalt und Gegenspieler Luthers aufgetreten: als der zeitgemäße »Gewaltige«, der die Kette der »Gewaltigen« Luther, Goethe, Bismarck 20 abschließt. Seinen Eheroman Königliche Hoheit nannte Mann einst ein »Lustspiel in Romangestalt« (XI, 573); nun konvertierte er ein Romankonzept in ein Lustspiel. Seine Hochzeitskomödie wäre, ihrer Anlage nach, keine rein private Komödie geworden, kein Satyrstück auf das Verhältnis von Mann und Frau, wie es Die Betrogene war. Sie hätte das Problem der deutschen »Welt20

Dazu vgl. Thomas Mann, Die drei Gewaltigen (X, 374–383)

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Thomas Mann als Reformator: Reformation der Reformation

einsamkeit« erneut in der reformatorischen Weichenstellung aufgesucht, dialektisch erörtert und mögliche Alternativen skeptisch relativiert. Das war die »Gerechtigkeit«, die Mann als Künstlerphilosoph nach Nietzsche zu gestalten suchte. Es wäre ein großartiger Abgang gewesen, zur Goldenen Hochzeit und Manns 80. Geburtstag das Publikum mit einer politischen Komödie »Luthers Hochzeit« – Manns Falstaff – zu überraschen. Gewiss sind diese Überlegungen spekulativ. Sie versuchen Manns letzten Plan aus einer Gesamtsicht des zeithermeneutischen Anspruchs starkzumachen. Mann bejahte die deutsche Nationalgeschichte letztlich, trotz aller Bedenken. Dass Deutschland in der Reformationszeit auf die Bahn des Nationalstaats gelangte, verwarf er keineswegs, sondern sah nur die Opfer und Kosten und begrüßte für das 20. Jahrhunderts die Europäisierung. Die deutsche Selbstkritik war nach 1945 in weiten Teilen Nationalismuskritik: Kritik der nationalistischen Überspannung und ideologischen Dogmatisierung als Antisemitismus und Rassismus. Das Problem des Nationalismus haben die bundesdeutschen Historiker immer wieder herausgestellt. Manns Überlegungen zur deutschen »Welteinsamkeit« sind sehr komplex. Die politisch-philosophische Tragweite seines Denkens hängt an der Frage, ob seine Idee des deutschen »Sonderwegs« und der deutschen »Welteinsamkeit« eine treffende Beschreibung und Antwort ist. Sie war jedenfalls eine Alternative zu geläufigen und pauschalen Revisionen der – mit Ernst Niekisch 21 gesprochen – deutschen »Daseinsverfehlung«.

4.

Thomas Mann als Reformator: Reformation der Reformation

Das deutsche politische Denken stand 1945 zwischen Vergangenheit und Zukunft an einem Nullpunkt. 22 Die deutsche Nationalgeschichte war durch Nationalismus, Militarismus und Imperialismus, Antisemitismus und Rassismus diskreditiert. Die Zukunft Deutschlands als Nationalstaat war völlig ungewiss, die alliierten Sieger übernahmen Ernst Niekisch, Deutsche Daseinsverfehlung, Berlin 1946 Dazu vgl. Michael Greven, Politisches Denken in Deutschland nach 1946. Erfahrung und Umgang mit der Kontingenz in der unmittelbaren Nachkriegszeit, Opladen 2007

21 22

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vorläufig alle Macht und Verantwortung. Die Teilung der Welt im Kalten Krieg zerschlug die deutsche Einheit und etablierte die Teilstaaten BRD und DDR als wichtige Bündnispartner in West und Ost. Die Publizistik stand nach 1945 zunächst unter Zensurbedingungen. Der Aufbau der Bundesrepublik erfolgte aus den Ländern und der konstruktive politische Organisationsdiskurs begann dort als Föderalismusdiskurs. Die »deutsche Frage« kristallisierte sich mit der Verfestigung der deutschen Teilung dann immer mehr als ungelöster Restposten und Folgelast heraus. Die Gründung der Bundesrepublik als liberale Demokratie stand dagegen kaum zur Diskussion und fand auch im Zuge des »Wirtschaftswunders« in den frühen 1950er Jahren schnell ihre Legitimität. Als Thomas Mann 1955 verstarb, war die Bundesrepublik als liberale Demokratie schon relativ gefestigt. Die DDR dagegen stabilisierte sich auch nach Stalins Tod nicht. Die frühen sozialistischen Alternativhoffnungen waren – mit dem Fanal des Aufstands vom 17. Juni 1953 – zerstoben und die Bevölkerung floh bis zum Mauerbau verstärkt in die Bundesrepublik. Eine gesamtdeutsche Zukunft zeichnete sich nach 1949 vorerst nicht ab. Auch die Stalin-Note vom März 1952, mit dem zweifelhaften Angebot einer Wiedervereinigung auf Kosten politischer Neutralisierung, hatte keine Chance und war wohl nicht ernst gemeint. Die Schaffung eines neuen deutschen Nationalstaats stand bis 1989 nicht auf der weltpolitischen Agenda. In der unmittelbaren Nachkriegszeit, der Manns Überlegungen entstammen, schaute die erstaunlich rege Publizistik aber zunächst nicht nach vorne, in die Zukunft Deutschlands, sondern zurück in die historische Deutung der »deutschen Katastrophe« (Friedrich Meinecke) 23 und stellte die Schuldfrage (Karl Jaspers). 24 Die Archive waren noch verschlossen. Die zeitgeschichtliche Erforschung setzte in den 1950er Jahren beim Scheitern der Weimarer Republik an. Erst später folgte die genaue Erforschung der nationalsozialistischen Geschichte. Gerhard Ritter, 25 Karl Dietrich Bracher 26 und das Münchner Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, Wiesbaden 1946 24 Karl Jaspers, Die Schuldfrage, Heidelberg 1946 25 Gerhard Ritter, Geschichte als Bildungsmacht. Ein Beitrag zur historisch-politischen Neubesinnung, Stuttgart 1946; Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen über die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, München 1948 26 Karl Dietrich Bracher, Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie, Stuttgart 1955 23

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Thomas Mann als Reformator: Reformation der Reformation

Institut für Zeitgeschichte stehen für diese Forschung. 27 Nach 1945 erschienen zunächst großflächige Traditionsrevisionen. Der deutsche »Sonderweg« wurde abgeschritten, die Reformation und die Geschichte Preußens wurden als zentrale Weichenstellungen des »Irrwegs der Nation« (Alexander Abusch) 28 ausgemacht. Stationen deutscher Nationalgeschichte erschienen als »Vorläufer des Antichrist«. 29 Luther und Friedrich II., Bismarck und Wilhelm II. galten als fatale Weichensteller und Wegbereiter des Nationalsozialismus, und die »Zerstörung der Vernunft« 30 wurde mit der deutschen Romantik oder Hegel angesetzt. Thomas Mann nahm mit seinen Überlegungen also zentrale Fragen historischer Revision des deutschen Weges von Luther zu Hitler auf. Sein Doktor Faustus stand gültig neben den frühen professionellen Revisionen. Winkler schreibt dazu pointiert: »Die geistige Herausforderung, an der Friedrich Meinecke scheiterte, meisterte Thomas Mann.« 31 Mann wollte aber nicht nur eine historische Deutung, sondern auch eine künstlerische Antwort geben. Es wurde gezeigt, dass sein letzter Werkplan die deutschen Möglichkeiten gelingenden Daseins in der Weichenstellung der Reformationszeit aufsuchte. Erasmus, Hutten, Luther, Baumgärtner stehen für Daseinsentscheidungen, die ihr je eigenes Recht und ihre je eigene Problematik haben. Wenn Mann diese Konstellationen und Potentiale der Reformationszeit aufsucht, reagiert er auch auf die sozialistischen Diskussionen. Die Reformationszeit war lange schon ein zentraler Gegenstand alternativer Etablierung eines »sozialistischen« Geschichtsbilds. Der religiösen und theologischen Ausdeutung der Reformation wurde eine Gegendeutung entgegengesetzt, die die Reformationszeit primär als politische Befreiungsbewegung deutete. Luther hatte »die Autorität des Glaubens restauriert«, heißt es schon bei Karl Marx. Marx schreibt: »Aber wenn der Protestantismus nicht die wahre Lösung, so war er die wahre Stellung der Aufgabe. Es galt nicht mehr den Kampf des Laien mit dem Pfaffen außer ihm, es galt den Kampf mit seinem eiDazu vgl. Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, München 1989 28 Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verständnis deutscher Geschichte, Berlin 1946 29 Erich Müller-Gangloff, Vorläufer des Antichrist, Berlin 1948 30 Georg Lukács, Die Zerstörung der Vernunft, Berlin 1954 31 Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen, München 2000, Bd. II, 112, vgl. ff. 27

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

genen innern Pfaffen, seiner pfäffischen Natur.« Marx erstrebte »die philosophische Verwandlung der pfäffischen Deutschen in Menschen«. 32 Die Reformation war zunächst eine »Revolution der Frömmigkeit« und ein vom Klerus und den Universitäten ausgehendes »städtisches Ereignis«. 33 Bald sprang sie als sozialrevolutionärer Funke auf das ganze Land über. Bauernkrieg und Luthers Hochzeit fielen in das Jahr 1525. Friedrich Engels schrieb 1850 eine längere Abhandlung über den »deutschen Bauernkrieg«. 34 Hutten wurde in der marxistischen Auslegung gegen Luthers Verwerfung der Bauernkriege ins Recht gesetzt. Luther suchte das Arrangement mit den Territorialfürsten, weil er deren Unterstützung gegen das katholische Reich brauchte, und das protestantische Deutschland kam damit auf den Weg des kleinräumigen, parzellierten und provinziellen Obrigkeitsstaates. Die frühe DDR-Historiographie feierte dagegen die Bauernkriege als scheiternden Volksaufstand und als soziale und demokratische Revolution. Mann nimmt also auch Fragen der »sozialistischen« Geschichtsrevision auf. Politisch steht er in vielen Fragen gegen Luther. Wenn er dennoch von Erasmus zu Luther schwenkt und Luther zum Helden seiner Komödie macht, liegt das vor allem an der politischen Bedeutung der Eheentscheidung, die er mit Luther überdenkt: Erasmus erreichte das Volk als Humanist nicht; sein Friedensgedanke blieb relativ abstrakt. Luthers Hochzeit dagegen wagte die Versöhnung mit der »Welt«. Manns Zuspitzung der Einsamkeitsproblematik und des Weltverhältnisses auf Luther ist kühn. Mann identifiziert, personalisiert und sexualisiert 1955, im Jahr seiner Goldenen Hochzeit, mit Luther, Katharina von Bora und Baumgärtner seine Antwort, wie 1915 einst in seinem Friedrich-Essay. Spätestens seit seinem Fiorenza-Drama personifizierte er politische Subjekte. Die Demokratie identifizierte er in prominenten Vertretern wie Ebert, Stresemann oder Roosevelt. Das Philosophenkönigtum verwirklichte sich ihm, wie bei Platon oder Goethe, in einer beratenden und erzieherischen Karl Marx, Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Marx-Engels-Werke, Berlin 1974, Band I, 378–391, hier: 386 33 So eindrucksvoll Gottfried Schramm, Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte. Ein Vergleich, Göttingen 2004, 188, anknüpfend an Herbert Schöffler, Wirkungen der Reformation. Religionssoziologische Folgerungen für England und Deutschland, Frankfurt 1960 34 Friedrich Engels, Der deutsche Bauernkrieg, in: Marx-Engels-Werke Bd. VII, 327– 413 32

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Thomas Mann als Reformator: Reformation der Reformation

Tätigkeit. Es entspricht also alten Motiven seines politischen Denkens, wenn er die Frage und Antwort, Problematik und Lösung der deutschen Nationalgeschichte in den Potentialen der anfänglichen Weichensteller aufsucht. Die Richtung einer Lösung sieht er dabei mit seiner Josephsgestalt in einer Politischen Theologie der Freiheit und des Friedens. Deshalb findet Mann auch im Humanisten Erasmus nicht die Antwort. Er sucht sie beim Reformator Luther. Seine Antwort müsste bei einer Revision der protestantischen Theologie ansetzen: bei einer Mäßigung der harten Scheidung der Reiche nach Römer 13, wie sie durch Luther auf den Weg des deutschen Obrigkeitsstaates gelangte. 35 Vielen geläufigen Urteilen über die Reformation hätte Mann zweifellos zugestimmt. Henning Ottmann bündelt einige zustimmungsfähige Einschätzungen. So betont er, dass Luther den Glauben auf der Grundlage der Bibel reformierte und Melanchthon »den Humanismus für den Protestantismus« rettete. 36 Während Müntzer sich auf die Seite der Bauern schlug und eine sozialrevolutionäre Theologie entwickelte, machte sich Luther zum »Anwalt der Obrigkeit und der bestehenden sozialen Ordnung«. 37 Luthers unsichtbare Kirche erhob die Bergpredigt zum einzigen Maßstab. Deren Apolitie schlug »in eine radikale Affirmierung des Gehorsams und des Status quo« 38 um. Müntzer dagegen machte den »Geist« in Joachimitischer Tradition zum Gegenspieler des Buchstabens und rückte die Gläubigen in apokalyptische Unmittelbarkeit zu Gott. Calvin organisierte die Theokratie als Priesterherrschaft und gründete eine »intolerante Gemeinschaft« mit Exklusion der Häretiker. 39 Mit radikalisierten Wahrheitsansprüchen entstanden neue »Traditionen von Rechthaberei«. 40 Die »Politische Theologie der Gewalt« erhielt neuen Auftrieb, deren monotheistischem Ursprung Assmann bedeutende Studien widmete. Zwar ist es kaum möglich, Manns letzten Werkplan zu vollenden, wie etwa Mozarts Requiem oder Mahlers 10. Symphonie. Die Eigenart seiner Überlegungen zur Nachkriegsproblematik wurde aber etwas plastischer. Es sollte gezeigt werden, dass Mann auch nach dem Doktor Zur Politischen Theologie Luthers vgl. Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens Bd. III.1, München 2006, 62 ff 36 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, III.1, 69 37 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, III.1, 73 38 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, III.1, 75 39 Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, III.1, 83 ff 40 Gottfried Schramm, Fünf Wegscheiden der Weltgeschichte, Göttingen 2004, 221 35

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Ehekomödie als Deutschlandplan?

Faustus noch einen Deutschlandroman als künstlerische Aufgabe empfand und sich noch in seinen letzten – aus einsichtigen Gründen nicht mehr realisierten – Überlegungen als politischer Philosoph erwies, der eine humane Antwort zu geben versuchte. Die Komödie von Luthers Hochzeit hätte liberale Alternativen vorgeführt und die Möglichkeit eines »anderen Deutschland« im reformatorischen Anfang der Nationalgeschichte aufgesucht. Es wäre ein bedeutendes Werk geworden, wie es das Fiorenza-Drama ist. Zweifellos hätte es Manns konservativ-revolutionäre Grundidee realisiert, eine historische Krisenlage durch den Rückgang in die Anfänge der Weichenstellung zu lösen. In diesem Rückgang wäre die Reformationskomödie ein Gegenstück zum Doktor Faustus geworden. Vielleicht hat gar nicht viel gefehlt, dass Mann dieses Werk vollendete: vielleicht nur ein halbes Jahr mehr Schaffenskraft. Vielleicht wäre es ein besseres Schlussstück gewesen als Die Betrogene und der Felix Krull es sind, Meisterwerke, die niemand missen mag. Zum 70. Geburtstag Katia Manns hielt Mann 1953 eine anrührende Rede, die seine Widmung von Lotte in Weimar an Katia zitierte: »Angefangen an trautem Ort – Schrieb in der Fremde daran fort. Einmal fehlt’ ich, macht’s einmal gut – Es wurde fertig in Deiner Hut. Bleibe Du mir auf dieser Erden, So soll alles fertig werden!« (XI, 522) 41

Mann kommentierte: »Nun, es ist einiges fertig geworden und wird – vielleicht – in ihrer Hut noch fertig werden. Aber alles? Das gibt es nicht.« (XI, 526) So endete sein literarisches Werk im Herbst 1954 mit dem ziemlich albernen Kontrapunkt erotischer Tröstung von Felix Krull durch die Mutter: mit dem königlichen Busen und mächtigen Jubel »Holé! Heho! Ahé!« (VII, 661) von Maria Kuckuck statt der hintersinnigen Spiegelung der eigenen Hochzeits- und Eheproblematik als Symbol des deutschen Weltverhältnisses. Dagegen erwog Mann 1955 mit dem Luther-Plan noch ein nationalpolitisches Schlusswerk.

Faksimilierte Abbildung in Gerd Heine / Paul Schommer (Hg.), Herzlich zugeeignet. Widmungen von Thomas Mann 1887–1955, Lübeck 1998, 114

41

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XI. »Meines Vaters Schwanengesang«. Manns letzte Ganzschrift 1

1.

Ein letztes »Gnadenjahr«?

Was schreibt ein Autor bei Lebzeiten noch, der seine literarischen Projekte und Hauptwerke eigentlich abgeschlossen hat? Verstummt er oder tritt er weiter als produktiver Autor auf? Bedient er die Erwartungen des Publikums und hält sein Niveau? Bald nach Manns Tod erschien Erika Manns Bericht über Das letzte Jahr als Auftakt zur Übernahme des Familienromans und der Ruhmesbildung durch die Angehörigen. Die dreibändige Briefausgabe und die Tagebücher lagen damals noch nicht vor. Die Manns waren allerdings immer schon, seit Lübeck, ein Familienunternehmen gewesen, dessen Geschichte unter wirtschaftsgeschichtlichem Aspekt in weiten Dimensionen eher als Branchenwechsel denn als »Verfall« zu erzählen wäre. Die Familie war dabei im literarischen Geschäft des »Großschriftstellers« von Anfang an in diversen Funktionen als autobiographisches Thema, kritisches Publikum und Redaktionsteam präsent. 2 Insbesondere Katia und Erika mischten gerade im Spätwerk nicht nur bei der Korrespondenz kräftig mit. Auf der Grundlage der Tagebuchaufzeichnungen rekonstruierte Erika, einsetzend im August 1954 beim Versuch über Tschechow, das letzte Jahr als »Gnaden- und Erntejahr«. 3 Die »letzte große BemüAus der Literatur vor allem Dieter Borchmeyer, Die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen. Thomas Mann und Schiller oder das Stigma der Modernität, in: Sven Meyer / Christian Neuhaus (Hg.), Schiller lebt. Sechs Reden zum 200. Todestag, Paderborn 2008, 123–166 m. w. N.; unlängst ferner Peter-André Alt, Von der Brauchbarkeit eines modernen Klassikers. Thomas Mann liest Schiller, in: Thomas Mann-Jahrbuch 22 (2009), 45–69; Ulrich Karthaus, Anmerkungen zu Schillers Wirkung auf Thomas Mann, in: Ästhetik als Orientierung. Schiller und die Welt, hrsg. Hans-Günther Schwarz / Jürgen Joachimsthaler, München 2015, 20–33 2 Dazu sehr deutlich Marcel Reich-Ranicki, Thomas Mann und die Seinen, Frankfurt 1990 3 Erika Mann, Das letzte Jahr. Bericht über meinen Vater, Berlin (Ost) 1956, 6, vgl. 43 1

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»Meines Vaters Schwanengesang«

hung« galt dann dem Versuch über Schiller, dem »Testament« (Borchmeyer), 4 das Erika den »Schwanengesang« 5 ihres Vaters nannte und an dessen Redaktion sie intensiv beteiligt war. Erika erzählt aber vor allem von der Kette der großen Einladungen und Feiern, die Mann in seinem letzten Lebensjahr bestand: u. a. Goldene Hochzeit, Schiller-Feiern in Stuttgart und Weimar, Lübecker Ehrenbürgerschaft, 80. Geburtstag und zuletzt der Hollandreise mit Privataudienz bei der Königin. 6 Erika tritt mit ihrem Bericht hartnäckigen Vorurteilen entgegen, indem sie Manns »Bescheidenheit, Güte und Humor« betont. 7 Den Hauptakzent legt sie, Überlegungen aus dem Versuch über Tschechow aufnehmend, dabei auf die »Bescheidenheit«. Anderslautende stereotype Vorurteile sind heute noch verbreitet, obgleich die Familienbiographie Die Manns von Tilmann Lahme 8 den Mythos der Egozentrik eigentlich erledigt haben sollte und Hans Rudolf Vaget 9 die alte, durch Joachim Fest 10 popularisierte Rede vom unpolitischen »Magier« widerlegte. »Bescheidenheit« dürfte dennoch ein Stichwort sein, das die Forschung nicht wirklich mit Mann eng verbindet, obgleich es im Verhältnis zur literarischen Tradition und als Zeugnis der Tochter nicht leicht genommen werden sollte. Die folgende Studie betrachtet das letzte Jahr und die »letzte große Bemühung« unter dem Gesichtspunkt des letzten Werkes und Werkabschlusses, des literarischen Abschieds des Autors von seinem Publikum. Dieses »letzte Jahr« war zweifellos ein »Erntejahr«: Mann genoss den literarischen Erfolg des Felix Krull, hatte große öffentliche Auftritte und publizierte mit dem Versuch über Schiller seine letzte Ganzschrift. Als »Gnadenjahr« hat er es aber schon deshalb nicht empfunden, weil er nach dem Krull kein literarisches Werk mehr Borchmeyer, Die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen, 126 Borchmeyer, Die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen, 35 6 Weitere Ehrungen von 1955 waren u. a. die Ehrenmitgliedschaften in den Akademien der Künste von Berlin (Ost) und Darmstadt, Ehrenpromotionen in Jena und Zürich, eine Festschrift, die Ehrenpräsidentschaft der Schiller-Gesellschaft und zuletzt der Orden Pour le Mérite. 7 Erika Mann, Das letzte Jahr, 27, vgl. 24 ff 8 Tilmann Lahme, Die Manns. Geschichte einer Familie, Frankfurt 2015, bes. 376 f; Tilmann Lahme (Hg.), Die Briefe der Manns. Ein Familienportrait, Frankfurt 2016 9 Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann, der Amerikaner. Leben und Werk im amerikanischen Exil, Frankfurt 2011; »Wehvolles Erbe«. Richard Wagner in Deutschland. Hitler, Knappertsbusch, Mann, Frankfurt 2017 10 Joachim Fest, Die unwissenden Magier. Über Thomas und Heinrich Mann, Frankfurt 1985 4 5

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Jenseits der »Vollbringer«: Manns Spätwerk

vollendete. Sein Übergang vom literarischen zum essayistischen Abschluss wird hier als autorschaftliche Konstruktion des Spätwerks analysiert.

2.

Jenseits der »Vollbringer«: Manns Spätwerk

Mann vertrat stets einen ausgeprägten Werkbegriff, eine Differenz von Kunst und Leben, wie sie der »Roman« über Die Entstehung des Doktor Faustus explizierte; er hatte auch ein ausgeprägtes Gesamtwerksbewusstsein und eine hohe Sorge um das eigene Niveau und den Werkabschluss. Sein Gesamtwerk ist bedacht gebaut, die Hauptwerke und »kleinen Vollbringer«, wie Mann sie nennt, sind leitmotivisch dicht ineinander verwoben. Mann hatte das nicht zuletzt von Wagner gelernt und lehnte sich auch an Wagner an. Der Tetralogie des Joseph-Romans ließ er den Doktor Faustus als seinen »Parsifal« folgen, den er als einen Höhepunkt und Abschluss seines Romanwerks, als unüberbietbares Schlusswerk betrachtete und empfand. Im Entstehungs-Roman formulierte er dazu definitiv: »›Buddenbrooks‹, ›Der Zauberberg‹, die Joseph-Romane, auch ›Lotte in Weimar‹ sind aus ganz bescheidenen erzählerischen Absichten erwachsen, nur ›Buddenbrooks‹ waren überhaupt als Roman gedacht und ›Lotte in Weimar‹ allenfalls als ein kleiner, – so steht es noch auf der Titelseite der Handschrift: ›Ein kleiner Roman‹. Dies eine Mal wusste ich, was ich wollte und was ich mir aufgab: nichts geringeres als den Roman meiner Epoche, verkleidet in die Geschichte eines hoch prekären und sündigen Künstlerlebens.« (XI, 169)

Nach dem Faustus geriet er über die Anschlussfrage in eine künstlerische Krise und verblieb deshalb mit dem Entstehungs-Roman sowie dem Roman Der Erwählte, einem Werkkonzept Leverkühns (XI, 242 f), im Horizont des Faust-Romans. Hier spielte er virtuos mit der Unterscheidung von Autor und Erzähler und demonstrierte noch einmal seinen ironischen Abstand. 11 Seine reflektierte Erzählhaltung beDazu abgeklärt Matthias Kirchhoff, Vorab-erzählte Nachrufe auf den »Nachruf auf den Erzähler«? Thomas Manns Der Erwählte und Hartmann von Aues Gregorius als Testfälle für das Fiktionalitätsmodell von Andreas Kablitz, in: Regine Zeller / Jens Ewen / Tim Lörke (Hg.), Der Geist der Erzählung. Narratologische Studien zu Thomas Mann, Würzburg 2017, 195–212; vgl. auch Luca Crescenzi, Masken. Zu den Strategien der Selbstbiographik im Doktor Faustus und in der Entstehung des Doktor Faustus, in: Thomas Mann-Jahrbuch 30 (2017), 87–98 11

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»Meines Vaters Schwanengesang«

weist alles andere als einen »Tod des Autors« (Roland Barthes), wie er für die Moderne gelegentlich konstatiert wird. Mann spielte vielmehr als reflektierter Schriftsteller von Anfang an mit den Erzählhaltungen, weil er starke Begriffe vom Autor und Werk hatte. Seit Jahrzehnten hielt er Felix Krull zwar in der Hinterhand, der von Anbeginn als Fortsetzungsroman angelegt war: Schon der Eröffnungssatz verkündigte fragmentarisches Erscheinen »in kleinen Etappen und unter häufigem Ausruhen« (VII, 265). Die Fortsetzung des Krull missfiel Mann aber im Alter; er empfand einen starken Kontrast zwischen der jugendlichen Krull-Gestalt und seiner Lebenslage, zwischen »Pan-Erotik und Juwelendiebstahl« und dem »Menschheitspatriotismus« 12 des Großschriftstellers. Seine Skrupel resultierten aus der engen Verbindung von Leben und Werk, die er vertrat: der Kunst als Form der »Rettung und Rechtfertigung« (XI, 302) des Lebens. Mann zielte platonisch auf Lebensorientierung und eine Konvergenz des Guten und des Gerechten: Er erkundete mit seinem literarischen Werk die individuellen Bedingungen und Möglichkeiten eines subjektiv glückenden und moralisch-politisch verantwortlichen Lebens. Die Krull-Gestalt war da spätestens durch die Joseph-Gestalt, wie Mann sagte, »verjährt und überholt« (XI, 158). Leverkühn scheiterte an seiner Artikulation der Krise als »Klage«. Mann selbst aber hatte mit seinem Werk die humane Antwort gefunden; er identifizierte sich deshalb nicht mit dem dionysisch-apokalyptischen Musiker, sondern dem Humanisten. Das Anschlussprojekt einer Reformationsnovelle, seinen letzten Werkplan, hätte er deshalb als Pfadumstellung auf die Humanistenperspektive des Erasmus verfasst. Bei aller Ironie wollte er nicht mit den Memoiren eines Hochstaplers als Letztwerk enden und so in die Literaturgeschichte eingehen. Deshalb zweifelte er immer wieder an der Fortsetzung und am Abschluss des Krull, verzögerte die Arbeit und schob diverse »Einschaltungen« ein. So schob er Die Betrogene ein, den Tod in Düsseldorf, als spätes Pendant zum platonisch gehobenen Tod in Venedig. Schon diese Betrogene war als »Schwanengesang« konzipiert, heißt die Novelle doch in der autorisierten Übersetzung The Black Swan, weil ein Schwan mit »dunklen Schwingen« (VIII, 941) Rosalie von Tümmler als Todesengel begrüßte. Mann redigierte damals auch seine Gesamtausgaben: im Rahmen der Stockholmer Gesamtausgabe beschloss er das essayistische Werk, im Jahr des Erwählten, mit Altes 12

Erika Mann, Das letzte Jahr, 28

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Jenseits der »Vollbringer«: Manns Spätwerk

und Neues. Im März 1952 schrieb er dazu im letzten Absatz des Vorwortes: »Hätte ein Nachlassverwalter den Band herausgegeben, seine Auswahl wäre vermutlich ungefähr die gleiche gewesen. Vielleicht hätte ich wirklich einem solchen Getreuen das Geschäft überlassen sollen, denn ich sehe wohl, dass der Sammlung etwas Posthumes anhaftet, und gewiss ist manches darin, was wieder in Erinnerung zu bringen allenfalls der Pietät des ›Nachher‹ hätte anheimgegeben werden sollen. Aber wenn nun doch einmal die launische Natur uns gewährt, gleichsam ins Nachher hineinzudauern und uns selber historisch zu werden, – warum sollten wir uns da nicht der Philologie zuvorkommend erweisen?« (XI, 700)

Noch deutlicher ließ sich das finale Abschlussbedürfnis des Autors kaum formulieren: die Gewissheit, seine künstlerischen Aufgaben eigentlich erfüllt zu haben und als Verwalter, Autobiograph und Antiquar des eigenen Nachruhms gleichsam nur noch »posthum« zu leben. Eine Fülle starker Selbstzeugnisse ließe sich aus Briefen und Tagebüchern dafür herbeizitieren. So schrieb Mann am 28. April 1952, wenige Wochen nach dem Vorwort von Altes und Neues, an Ferdinand Lion, seinen früheren Redakteur von Maß und Wert: »Nie hätte ich mir so etwas wie die Felix-Krull-Memoiren noch einmal aufhalsen sollen; in keiner Beziehung, weder dem Gegenstand nach, noch den Ansprüchen nach, die er stellt, ist die Aufgabe de mon âge. Pan-Erotik und Juwelendiebstahl, sind das Scherze, an die man die hohen Jahre seines Lebens wenden soll? Und sie sind schwierig und langwierig, diese Scherze! Einige der neu hinzugekommenen sind recht merkwürdig; aber ich denke doch oft daran abzubrechen, es bei einem erweiterten Fragment sein Bewenden haben zu lassen und mir die Hände frei zu machen für Neues, das mich noch etwas erfrischen könnte, wie etwa der Erasmus-Novelle, zu der Sie mich ermutigen. Andererseits bin ich gar nicht gewohnt, es ›sein Bewenden haben zu lassen‹. Nicht umsonst habe ich meinem Grigorß die ›festhaltenden Hände‹ zugeschrieben und bin eigentlich, in meinen Grenzen, ein Vollbringer. Nur war ich im Grunde wohl nach dem ›Faustus‹ fertig. Schon der ›Erwählte‹ war ein scherzhaftes Nachspiel, und was ich jetzt treibe, ist nur noch Zeitvertreib.«13

Genau diese Sichtweise hat Mann damals in Briefen und Tagebüchern vielfach variiert. Am 21. Juni 1954 schrieb er an Agnes Meyer: »Ich bin nun in mein 80. Jahr getreten, und da tut man wohl gut, sich auf sehr weitschauende Unternehmungen nicht mehr einzulassen. Ich muss 13

Mann am 28. April 1952 an Ferdinand Lion, in: Briefe 1948–1955, 251 f

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»Meines Vaters Schwanengesang«

froh sein, dass ich mit 25, mit 50, 60 und 70 Jahren doch etwas wie einen kleinen Vollbringer (›Buddenbrooks‹, ›Zauberberg‹, ›Joseph‹ und ›Faustus‹) nach bewunderten Mustern abgeben konnte.« 14

Mann zitiert hier seine Tagebucheintragung vom 19. Juni 1954, die auf den Erhalt der Schlussfahnen des Krull antwortete. Mann bemerkte dazu: »Der Band kommt auf 400 u. einige 40 Seiten. Der Schluss ist beschämend schwach.« Gerade am pan-erotischen Finale machte Mann die Inkongruenz des Krull fest: die mangelnde Konvergenz des Guten mit dem Gerechten. Die runden Zahlen signalisieren, dass ein letzter Vollbringer noch für das 80. Jahr willkommen gewesen wäre, darauf aber nicht mehr sicher zu rechnen war und die »Gnade« mitspielen musste. Im dritten Teil des Felix Krull ist es Andromache, die die platonische Liebesverheißung bei Krull entflammt und dessen »Pan-Erotik« humanisiert. Eine Komödie von Luthers Hochzeit hätte diese Pan-Erotik weiter versittlicht; Mann wäre wie Falstaff abgetreten, wie Edward Hopper (1882–1967) 1965 mit seinem nostalgisch-zarten Lebewohl der Two Comedians, des HarlekinPaares, das für den letzten Applaus vor dunklem Hintergrund ohne Publikum vor die Bühne tritt. Der Shift von der Novelle zur Komödie suchte eine überraschende Ermäßigung der Aufgabe: Die Reformations-Novelle war aber eigentlich als Gegenstück zum Doktor Faustus gedacht und hätte sich zum Roman ausgeweitet; zwingend wäre sie nur als »Vollbringer« realisierbar gewesen. Dafür hatte Mann 1955 aber, wie er ahnte, weder Kraft noch Zeit. Obgleich er letztlich nur die Kunst als »Vollbringer« schätzte, seine Essayistik nur als »Einschaltung«, »Forderung des Tages« und reflexive Vorarbeit für künstlerische »Vollbringer« verstand – etwa Goethe-Studien für einen Goethe-Roman oder Nietzsche-Essays für einen NietzscheRoman –, beschied er sich in seiner – von Erika betonten – »Bescheidenheit« deshalb zuletzt mit essayistischen Schriften. Er verzichtete nicht nur auf den Reformations-Plan, sondern auch auf eine weitere Fortsetzung des Krull, die mit Krulls Übergang nach Südamerika künstlerisch doch irgendwie möglich gewesen wäre, und schrieb stattdessen den Versuch über Tschechow und den Versuch über Schiller. Die Rede vom »Versuch« bezeichnete dabei sowohl die essayistische Form als auch den reduzierten Deutungsanspruch und Verzicht auf kritische Letztaussagen.

14

Mann am 21. Juni 1954 an Agnes Meyer, in: Briefe 1948–1955, 348

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Entstehungsgeschichte der Schiller-Rede

3.

Entstehungsgeschichte der Schiller-Rede

Die Chronologie der Schriften ist in der Forschung bekannt. Wir wissen sehr genau, wann Mann mit welchen Schriften begann und wie lange er daran arbeitete. 15 In dichter Folge schlossen seine Arbeiten aneinander an und wurden dann zumeist schnell gesetzt und publiziert. In dieser Publikationspragmatik glich Mann weitaus eher Schiller als Goethe. Seit seiner Jugend war er von Schiller derart geprägt, dass er seinen Weg zu Goethe geradezu von Schiller her fand. 16 Dennoch, oder gerade deshalb, hatte er bislang niemals einen eigenständigen Essay über Schiller verfasst. Eine Rundfrage, ob Schiller noch lebendig sei, respondierte er allerdings 1929 für die Königsberger Allgemeine Zeitung leicht verwundert und nahm seine Antwort damals auch in seine Sammlung Die Forderung des Tages auf: »Zu fragen, ob Schiller noch lebt, deutet auf Mangel an Selbstbewusstsein« (X, 909) hin. Ungewohnt dezidiert, geradezu ex cathedra führte er aus: »Solange es ein deutsches Theater gibt, wird Schiller leben, denn der Deutsche hat seinen Begriff des Theaters von ihm, einen Begriff, der sich von dem aller anderen Völker aufs ernstlichste unterscheidet. Aber es handelt sich nicht nur ums Theater. Es handelt sich um mythische Prägungen, um klassische Denkformen, die, sich forterbend, das Welterlebnis der Nation bestimmen. Schiller hat den deutschen ›Versuch‹ geschrieben, in welchem, man kann so sagen, alle mögliche deutsche Essayistik ein für allemal enthalten ist. Ich meine den Aufsatz ›Über naive und sentimentalische Dichtung‹. Geist und Natur, Geist und Leben, um diesen Gegensatz kreist im Grunde alles deutsche Denken, und wenn das heutige, Nietzsche übertrumpfend, den Geist als Henker des Lebens verfemt, so heißt das freilich, die sentimentalische Sehnsucht nach dem Naiven, dem Schöpferisch-Unbewussten, auf eine groteske Spitze treiben.« (X, 910)

Für uns ist hier beachtlich, dass Mann von einem »Versuch« spricht, von »dem deutschen ›Versuch‹«, mit dem er 1955 keinesfalls konkurrieren oder rivalisieren will, den er, anders vielleicht als noch mit Goethe und Tolstoi, auch nicht mehr überbieten und »übertrumpfen« mag.

Dazu schon Hans Bürgin / Hans-Otto Mayer (Hg.), Thomas Mann. Eine Chronik seines Lebens, Frankfurt 1965 16 Dazu etwa Hans Mayer, Thomas Mann, Frankfurt 1980, 234 ff; Mayer stand mit Mann in dessen letzten Jahren über die Berliner Gesamtausgabe und den Weimarer Schiller-Vortrag im näheren Kontakt. 15

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»Meines Vaters Schwanengesang«

Manns frühere Schiller-Äußerungen sind hier nicht weiter zu betrachten. 17 Im Sommer 1954, nach Abschluss und vor dem Erscheinen der Krull-Fortsetzung, ist Mann jedenfalls trüber, geradezu desparater Stimmung. Er spricht von einer »elenden Existenz« (TB 21. 6. 1954) und schreibt bis Ende Juli am Tschechow-Aufsatz. Er reist nach St. Moritz, wenige Tage später nach Sils-Maria und beginnt dort, am Nietzsche-Ort, mit seinen Schiller-Studien. Er liest ein »Büchlein über Schillers Bestattung und Gebein«, da der 150. Todestag zu feiern ist, und notiert am 15. August, noch in Sils-Maria, eine erste »ungefähre Konzeption des Sch.-Vortrags«, an der er aber in den folgenden Wochen und Monaten immer wieder zweifelt. Am 18. August kehrt er mit Katia nach Kilchberg zurück und reist bald für eine knappe Woche nach Köln und Düsseldorf. Hans Pleschinski veröffentlichte 2013 darüber einen interessanten Roman Königsallee, 18 der nach dem Muster von Lotte in Weimar und auf der Grundlage biographischer Heuser-Studien eine Wiederbegegnung Manns insbesondere mit dem Jugendschwarm Klaus Heuser imaginierte. Wieder in Kilchberg, intensivierte Mann im September 1954 seine Schiller-Studien. Am 30. September notiert er dazu: »Geschrieben am Schiller-Vortrag. Die Composition liegt noch sehr im Dunklen.« Damals erscheint die Krull-Fortsetzung und wird bei den Kritikern wie dem Publikum sogleich ein kolossaler Erfolg. Das motiviert den Schiller-Essay. Ende Oktober schreibt Mann am »Verhältnis zu Goethe«, zweifelt aber weiter an der Komposition und notiert geradezu trotzig: »Ich schreibe an dem regulären Vortragsmanuskript jeden Vormittag weiter, füge das Vorgesehene an einander und lasse es rücksichtslos wachsen.« (TB 4. 11. 1954) Er spricht also von einer episodischen und additiven Arbeitsweise, wie beim Krull. Das Tagebuch pausiert damals zwei Wochen und notiert am 19. November dann geradezu desparat: »Ich unterlasse die morgendlichen Tagebuch-Notizen, um alle Schreibfrische zu sparen für den ›Schiller‹, auf den ich mich jeden Morgen werfe, um bis 1 daran zu arbeiten. Bin vollkommen besessen davon, nicht weil es gut

Ein analoger Abriss der Entstehungsgeschichte sowie der detaillierte Nachweis von Manns Schiller-Quellen findet sich im Kommentar zur Edition der Erstdrucke: Thomas Mann Essays. Band VI: Meine Zeit 1945–1955, hrsg. Hermann Kurzke / Stephan Stachorski, Frankfurt 1997, 551–556 18 Hans Pleschinski, Königsallee. Roman, München 2013 17

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Entstehungsgeschichte der Schiller-Rede

wird, sondern weil ich die ausgedehnte Schrift so bald wie möglich beendet haben möchte. Dieser Wunsch geht bis zur Gehetztheit. Erst wenn alles vorliegt, ist aus der Masse die Rede herauszupräparieren, und ich sehe nicht, wie das geschehen kann, ja verzweifele daran. Nur erst zu Ende kommen. Es werden ja dann Partien und Formulierungen zu brauchen sein.« (TB 19. 11. 1954)

Mann denkt hier offenbar primär an den Vortrag, weniger an eine Trennung zwischen Vortrags- und Publikationsfassung. Die Konzeption ist nicht als Abhandlung, sondern vom feierlichen Festvortrag her gedacht. Am 7. November kündigt Mann seiner Tochter brieflich an: »Ich habe, Gott sei’s geklagt, schon 20 Seiten, und es werden sicher noch einmal so viele. Es quält mich natürlich, dass es so viel wird,– zur energischen Konzeption einer gedrängten Festrede hat es bei mir nun einmal nicht gelangt. Aber sei es darum, ich schütte nun erst einmal rücksichtslos das Ganze aus, und Deine Sache wird es dann sein, ich kann Dir nicht helfen, aus der Masse die Rede zu destillieren.« 19

Die Familie muntert damals auf und ermutigt zum Abschluss. Nach einer Lesung der »ersten 20 Seiten« heißt es: »Der Eindruck war sehr gut. E. nannte es ›bildschön!‹ und versicherte, die Kürzung zum Vortrag mache ihr nicht die geringste Sorge. Es tat mir sehr wohl.« (TB 22. 11. 1954)

Die »Masse« wuchs sich dann weiter aus; Erika hatte deshalb, wie die Tagebücher berichten, erhebliche Schwierigkeiten, den Text passend zu kürzen. Sie telefonierte darüber wiederholt mit dem Vater und es gab gemeinsame Redaktionssitzungen und eine eigenhändige Schlussredaktion Manns. Erika bagatellisiert im Ernte-Bericht aber die Schwierigkeiten, wenn sie lässig mitteilt: »Und wenn ich mich freilich nur darin geübt wusste, T. M.’s Essays fürs Mündliche um ein Drittel oder – schlimmstenfalls – auf die Hälfte zu kürzen, nicht aber ein bloßes Fünftel zur Rede zu destillieren, wie es jetzt meine Aufgabe war, so bestand ein Unterschied doch ausschließlich nach Graden und nicht dem Wesen nach.« 20

Im Dezember 1954 verdichten sich damals die Reiseplanungen für die Schiller-Feiern, so dass es für Mann kein Zurück gibt. Er unterbricht

19 20

Mann am 7. November 1954 an Erika Mann, in: Briefe 1948–1955, 363 Erika Mann, Das letzte Jahr, 19 f

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»Meines Vaters Schwanengesang«

die Arbeit aber wiederholt und schreibt, für seine Verhältnisse, eher langsam, zögerlich und zweifelnd. Mitte Dezember strickt er immer noch am »Verhältnis Schiller – Goethe«, am 23. Dezember notiert er zwar ein vorläufiges Ende, doch nach Durchsicht des Manuskripts fühlt er eine »Verpflichtung, sich über den Wallenstein näher auszulassen«. Erst nach einer »Neubearbeitung des Wallensteinabschnittes« bemerkt er dann am Neujahrstag 1955 euphorisch erleichtert: »Wir hatten türk. Kaffee nach der Pularde, und ich las dann die feierlichen Schlussseiten des Schillervortrages, die auf K., Erika und Golo den glücklichsten Eindruck machten. Sie konnten das hier Ausgesprochene nicht genug loben. Wirklich erfülle ich damit im großen Stil und ein für allemal die Forderungen, die man beständig an mich stellt.« (TB 1. 1. 1955)

Diese letzten Seiten erörtern das Verhältnis zu Goethe, ein Lebensund Lieblingsthema des Zauberers. Doch die Euphorie ist verfrüht, auch die nächsten Tage sitzt Mann weiter am Manuskript. Am 11. Januar heißt es dazu: »Gestern, trotz Unterbrechung durch die Injektion, in Gottes Namen mit der Schillerschrift Schluss gemacht. Kommt mir unneu und hausbacken vor, möge aber nun zusehen, wie sie besteht. Die Mühe war groß. Noch ist das Mt. zur Abschrift zu ordnen.« (TB 11. 1. 1955)

Am folgenden Tag liest Mann die »Seiten über ›Wallenstein‹« vor, die einiges tragen sollen. Dabei hat er einen Experten im Haus: »Golo meinte, er kenne nichts so Gutes über das Werk.« (TB 12. 1. 1955) Golo Manns Wallenstein-Biographie erschien 1971. Schillers Wallenstein und auch Manns Essay haben die Fachhistorie bis in unsere Tage immer wieder angeregt. 21 Mitte Januar ist der Schiller einigermaßen abgeschlossen und Mann geht wie gewohnt direkt zum nächsten Projekt über; er packt »Reiseliteratur« für die Reformations-Novelle zusammen und beginnt mit ersten konzeptionellen Überlegungen; er will nach der essayistischen »Einschaltung« sogleich zum literarischen Werk zurückkehren, intendiert seinen Versuch über Schiller also nicht als letzte publizistische Äußerung, ergänzt aber weiter am Schiller-Text, hat keinen Plan für das Reformations-Projekt und klagt: »Sehne mich nach Bindung an neue Arbeit.« (TB 12. 2. 1955) Zur akademischen Wirkung u. a.: Golo Mann, Wallenstein, Frankfurt 1971; Dieter Borchmeyer, Macht und Melancholie. Schillers Wallenstein, Frankfurt 1988; Herfried Münkler, Der Dreißigjährige Krieg. Europäische Katastrophe, deutsches Trauma, Berlin 2017

21

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Entstehungsgeschichte der Schiller-Rede

Erika redigiert das Manuskript derweil für den Vortrag. Am 28. Februar notiert Mann dann gemeinsame Arbeit und »Mühe, die gekürzte Form des ›Schiller‹ in Form zu bringen«. In den folgenden Wochen ist er weiter mit Vorabdrucken und Fahnenkorrekturen beschäftigt, für die Ost-Berliner Gesamtausgabe wie eine Separatveröffentlichung von Fischer. Am 9. April macht er sich noch einmal höchstpersönlich, ohne Erika, an eine »Radikal-Kürzung der Schiller-Rede«, 22 und am 23. April folgt eine letzte »Schlussredaktion der armseligen Schiller-Rede«, die, im Mai 1955 in Stuttgart und Weimar gehalten, ein letzter großer öffentlicher Erfolg wird. Es folgen weitere Feiern und Ehrungen: Mann wird Ehrenbürger seiner Heimatstadt Lübeck und feiert seinen 80. Geburtstag. Schon am 25. April schreibt er aber ahnungsvoll: »Wann ereilt es mich – noch vor dem Geburtstag oder bald nachher?« Es wird wenige Wochen danach sein! In Holland trägt Mann die Rede noch zweimal (in Amsterdam und Den Haag) vor; er erhält eine Audienz bei der Königin und erkrankt dort auf der Reise. Als Krankentransport nach Zürich zurückgebracht, deutet Mann seine letzte Krankheit in seiner letzten Tagebucheintragung vom 29. Juli 1955 als »verspätete Reaktion auf die Anstrengungen und Aufregungen im Mai und Juni«. Im letzten erhaltenen Brief vom 10. August meint er: »Aber das kommt davon, wenn Schiller seinen 150. Todestag und man selbst seinen 80. Geburtstag begeht! Ich hatte es einfach zu bunt getrieben oder mit mir treiben lassen«. 23

Zwei Tage später, am 12. August verstirbt Mann im Kantonspital. Die Publikationsfassungen des Versuchs über Schiller hat er noch erhalten, doch selbst für eine Personenliste zum Versand reichte nicht mehr die Kraft (TB 25. 6. 1955). Der Versuch über Schiller war also die letzte große Publikation und der letzte festliche Vortrag. Mit dem Abschluss eines weiteren Werkes hat Mann ernstlich nicht mehr gerechnet, und so wurde sein Versuch über Schiller zu einem Abschluss und Letztwerk, auch wenn das so nicht intendiert war.

Ein Vergleich der Vortrags- und Druckfassung, oder gar der Publikationspolitik aller Vorabdrucke und Teilveröffentlichungen, ist hier nicht beabsichtigt. 23 Mann am 10. August 1955 an Lavinia Mazzuchetti, in: Briefe 1948–1955, 419 22

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»Meines Vaters Schwanengesang«

4.

Essayistik als panegyrische »Huldigung«

Es wurde erwähnt, dass Mann in den 1950er Jahren auch sein essayistisches Werk bündelte und seine Gesamtausgaben ordnete. Im Vorwort von Altes und Neues sprach er von einer Ergänzung der Stockholmer Gesamtausgabe, nachdem die Essaybände der ersten Gesamtausgabe vergriffen waren: Rede und Antwort, Bemühungen, Die Forderung des Tages sowie Leiden und Größe der Meister. Diese Sammlungen versammelten sehr heterogene Texte und haben unterschiedliches Gewicht. Mann publizierte noch weitere Sammlungen, die er im Vorwort von Altes und Neues nicht erwähnt: so Achtung Europa! Aufsätze zur Zeit, 1938 bei Fischer erschienen, die Radiosendungen Deutsche Hörer! sowie die Neuen Studien von 1948. Das Vorwort von 1952 gibt keine breite Übersicht über die Publikationspolitik des Essaywerkes, sondern legt nicht ohne Understatement vielmehr nahe, dass die 1945 publizierte Sammlung Adel des Geistes, die im Untertitel als Sechzehn Versuche zum Problem der Humanität bezeichnet ist und also die Rede vom »Versuch« gewichtig einführt, als eigentliche Summe des essayistischen Werkes zu betrachten sei. Die Neuen Studien ergänzten Adel des Geistes um weitere Studien zu Goethe und Dostojewski, Nietzsche und zum Joseph-Roman. Wenn sie Weiterführungen von Adel des Geistes sind, schreibt Mann sich mit dem Joseph-Roman selbst in den Kanon und die Kette der humanistischen Klassiker hinein. So positionierten ihn auch – von Mann noch zur Kenntnis genommen – beispielsweise Siegfried Marck und Erich Heller, 24 die sein Werk annähernd in den Linien seiner Selbstauffassung und Selbstvermarktung kanonisierten. Während die Stockholmer Gesamtausgabe keine neue Sammlung für den Versuch über Schiller anbot und Fischer deshalb zunächst eine Separatveröffentlichung wollte, brachten die Ost-Berliner Gesammelten Werke, vom Aufbau-Verlag herausgegeben, als zehnten Band eine erweitere Ausgabe von Adel des Geistes, die, um die Neuen Studien – mit dem Nietzsche-Essay, ohne den Joseph-Bericht – erweitert, mit dem Versuch über Schiller schloss, ohne die späten Essays zu Hauptmann und Fontane, Kleist und Tschechow zu enthalten. Zweifellos verband Mann also mit seinem Schiller einen hohen Siegfried Marck, Große Menschen unserer Zeit. Portraits aus drei Kulturkreisen, Meisenheim 1954; Erich Heller, Enterbter Geist. Essays über modernes Dichten und Denken, Frankfurt 1952

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Essayistik als panegyrische »Huldigung«

Geltungsanspruch, und er wollte die Berliner Werkausgabe, die er als »Gesamtausgabe« bezeichnete, im »Gnaden- und Erntejahr« mit diesem neuem Stück überraschen. Seine Versuche zum Problem der Humanität nannte er, im Vorwort zu Altes und Neues, »lauter Huldigungen für geliebte Führer und Bildner meines Lebens« (XI, 694). Von »Huldigungen und Kränzen« sprach er dabei auch früher schon für einige Beiträge der Sammlung Die Forderung des Tages. 25 Die Huldigung meint eine gebotene Ehrerbietung und Hommage, eine bis zur Eloge und Panegyrik gesteigerte Treueverpflichtung. Wenn Mann »Huldigungen und Kränze« miteinander verbindet, spielt er auf Dichterlorbeer und Dichterkränze an, auf die förmliche Ernennung zum poeta laureatus, die seit der Antike und Renaissance bis ins 18. Jahrhundert förmlich gepflegt wurde. Kaiser, Städte und Universitäten ernannten solche Dichterfürsten. Nach dem Untergang des Alten Reiches wurde die förmliche Ernennung ungebräuchlich. Das bestätigt eine Anekdote: Karl Jaspers erinnerte sich gegenüber Golo Mann daran, dass Thomas Mann nach einem Heidelberger »Vortrag den Dichterkranz, den eine zudringliche weibliche Jugend ihm aufsetzen wollte, abwehrte«. 26 Wenn Mann seine Festreden dennoch in diese Tradition stellt, klingt einige Ironie und Prätention auf Augenhöhe an. Er lobredete aber stets im institutionellen Auftrag und verstand sich als »Geist in Gesellschaft«, korporatives Mitglied einer Dichtergemeinschaft und -akademie. Als substantielle Aufgabe seiner »Versuche« empfand er also die »Huldigung«, die Dichterkrönung. Diese Aufgabe des Festredners ist vom Scharfrichterethos mancher Kritiker deutlich unterschieden. Marcel Reich-Ranicki beispielsweise, ein bedeutender Literaturkritiker und Mann-Eloge, publizierte eine Sammlung von Kritiken unter dem Titel Lauter Verrisse. 27 Mann vertrat zwar lebenslang eine Einheit von »Kunst und Kritik« und verstand sich, mit Schiller, als »sentimentalischer« und nicht als »naiver« Dichter«: als kritischer Dichter auf der Höhe der Zeit, der intellektuelle Romane publizierte; das Scharfrichtergeschäft der Tageskritik überließ er aber anderen und ermutigte und lobte selbst

Dazu vgl. Werner Frick, »Geistige Huldigungsmusik«: Thomas Mann als Gratulant und Jubilar, in: Thomas Mann-Jahrbuch 30 (2017), 25–45 26 Karl Jaspers am 25. Januar 1947 an Golo Mann, in: Karl Jaspers, Korrespondenzen: Politik, Universität, hrsg. Carsten Dutt / Eike Wolgast, Göttingen 2016, 325 27 Marcel Reich-Ranicki, Lauter Verrisse, München 1970 25

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»Meines Vaters Schwanengesang«

zweit- und drittklassige Autoren. In Adel des Geistes ist die Spreu längst vom Weizen getrennt und der subjektive, höchst persönliche und doch nationale Kanon extensiv versammelt. Der »Fixsternhimmel« von Manns ästhetischen Präferenzen marschiert nicht nur als »Dreigestirn« auf. Im Abgleich mit dem nationalen Kanon, dem Literaturkanon der deutschen Zwischenkriegszeit, fallen aber manche Lücken auf. Mann spricht von »Huldigungen für geliebte Führer und Bildner meines Lebens«, nicht vom nationalen Kanon. Eine starke Kanonpolitik betrieb damals nicht zuletzt der George-Kreis, dem Mann über Ernst Bertram, Erich von Kahler und anderen nicht ganz fern stand. Max Kommerell pries 1928 den Dichter als Führer zur deutschen Klassik. 28 Die Kanonpolitik des George-Kreises pflegte elitäres Distanzbewusstsein. Neben unstrittigen nationalen Klassikern schrieb sie auch andere »Führer« in die Reihen der Klassiker hinauf. Einige Größen des George-Kreises fehlen in Manns Kanon: so Hölderlin und Jean Paul. Wahrscheinlich empfand Mann in den 1950er Jahren ein starkes Bedürfnis, seinen Kanon von Dichterkränzen wenigstens annähernd zu komplettieren. Zumal ihm seine weiteren künstlerischen Aufgaben nicht zwingend klar waren, weil er nach dem Doktor Faustus eigentlich alles, wie gezeigt, letztlich als müßigen »Zeitvertreib« ansah, warf er viel Energie in lange empfundene Essay-Schulden. Ansonsten ist kaum verständlich, dass er seine verbleibende knappe Lebenszeit so extensiv an den »alten Fontane«, an Kleist, Tschechow und Schiller wandte. Auch die Festrede für Gerhard Hauptmann, im November 1952 gehalten, erklärt sich am Ende ausdrücklich als »Huldigung«; Mann spricht vom »Erlebnis« (IX, 821) der Persönlichkeit und einer »Vision« (IX, 814) Peeperkorns: »Das ist kein schnödes Zerrbild, – es ist kein Verrat, sondern eine Huldigung« (IX, 814). Insbesondere den Versuch über Schiller aber, dem Mann mit Schwere Stunde früh eine Novelle, doch niemals einen eigenen Essay gewidmet hatte, empfand er als überfälliges Desiderat, als Gebot der Rechenschaft und Gerechtigkeit, notwendiges Gegengewicht zu der erdrückenden Fülle von Goethe-Studien.

Max Kommerell, Der Dichter als Führer in der deutschen Klassik: Klopstock, Herder, Goethe, Schiller, Jean Paul, Hölderlin, Berlin 1928

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Kontemplative Panegyrik: Versuch über den Versuch

5.

Kontemplative Panegyrik: Versuch über den Versuch

Bisher wurde herausgestellt, dass Mann keine starke Konzeption und Idee für seinen Versuch über Schiller in Anspruch nahm, dass der Text zögerlich und additiv, polyzentrisch und episodisch entstand und sich schon der starke quantitative Unterschied zwischen der Druck- und Vortragsfassung eher unwillkürlich und planlos aus der rohen »Masse« der Aufzeichnungen ergab. Montaigne hatte die offene Form des Essays als antischolastisch explorierendes Gedankenspiel begründet, als »Natur auf der reflektierten Stufe« und »Erzeugnis einer hohen und späten, kritisch gegen sich selbst gewordenen Bildungsepoche«. 29 Mann legte zwar auch im Spätwerk die hohen philosophischen Ambitionen noch nicht ganz ab, die Schiller mit der Form des Essays verbunden hatte. Sein letzter Versuch oszilliert zwischen starken und schwachen Ambitionen. Auch bleibt der Charakter der Rede und panegyrischen Huldigung noch erhalten. Manns verstärkte Rede vom »Versuch« bescheidet aber die Ansprüche. Anders als etwa in Goethe und Tolstoi fehlen im Versuch über Schiller die Zwischenüberschriften, es fehlt auch ein Inhaltsverzeichnis, das einen Gedankengang behauptete. Die Themenfolge des Textes entspricht einigermaßen der Chronologie der Entstehung, wie den Tagebuchnotizen ablesbar ist: Mann beginnt mit dem Begräbnis und endet mit dem Verhältnis von Schiller zu Goethe; er spricht von einer »edelmütigen Naivität« des »Künstlerkindes« und von »zweiter Naivität«, vom großen Zug zur »Organisation des Geistes« (IX, 878 f) und vielen, fast zu vielen Werken: von den Räubern und Don Carlos, vor allem aber vom Wilhelm Tell, Wallenstein und auch dem Demetrius-Fragment, das Carl Schmitt im Nationalsozialismus, mit Kommerell, einst als Hitler-Chiffre gelesen hatte und das auch Mann als »wohl gewaltigsten Entwurf« (IX, 925) Schillers und als »das letzte und wahrscheinlich größte Fragment« (IX, 927) pries. Ausgehend vom Bürger-Verriss erörtert Mann die Popularität Schillers eingehend, von der philosophischen Essayistik spricht er dagegen kaum. So geht er nicht näher auf Schillers »unsterblichen« (XIII, 171) Essay Über naive und sentimentalische Dichtung ein, »den deutschen ›Versuch‹« (X, 910), den er stets zutiefst bewundert hatte und dessen kategoriale Unterscheidung und Anlage ihn schon bei seinem ersten beabsichtigten Großessay über Geist und Kunst anregte. Wie Borch29

Hugo Friedrich, Montaigne, Bern 1949, 431, vgl. 419 ff

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»Meines Vaters Schwanengesang«

meyer betont, 30 suchte der spätere Essay Goethe und Tolstoi Schiller durch die »Dichterparallele« von Goethe und Tolstoi einerseits und Schiller und Dostojewski andererseits geradezu zu überbieten und zu revidieren. Nur beiläufig erwähnt Mann aber 1955 Dostojewski erneut als großen »Schiller-Verehrer« (IX, 924). Er kennt zwar ebenfalls naive und sentimentalische Dichter, sieht die Charaktere aber komplexer. Auch Mann vertrat eine Verhältnisbestimmung von »Kunst und Kritik«, die, ähnlich wie Schiller, auf eine sentimentalische Rekonstruktion der verlorenen Naivität und ein Konzept ästhetischer Erziehung zielte. Im Versuch über Schiller schreibt Mann dazu aber nur noch knapp: »Man sieht, er [Schiller] spekuliert noch, indem er der Spekulation den Laufpass geben möchte, und worauf er rechnet ist eine zweite Naivität und Unbewusstheit, – das Wunder der wiedergeborenen Unbefangenheit«. (IX, 883)

Die Philosophie von Schiller ist hier nicht zu kondensieren; wichtig ist hier nur, dass Mann, anders etwa als noch im Nietzsche-Essay von 1947, keinen starken »philosophischen« Ehrgeiz mehr entwickelt und den sentimentalischen Idealismus in seiner Entideologisierung und »Entpathetisierung« 31 Schillers, auch im Verhältnis zu Goethe, geradezu ignoriert. Er verweilt dagegen bei den Kunstwerken und meidet ambitionierte Ausführungen etwa zu Schillers Stellung in der romantischen Bewegung oder seiner Wirkung auf Hölderlin oder Nietzsche, zwei Nachfolgern, die – auch im Lebensbegriff – beide mehr von Schiller geprägt waren, als sie wahrhaben wollten. Auch über Goethes Verhältnis zu Schiller äußert er sich nicht definitiv: »Es wird immer ein Geheimnis bleiben, wie er in tiefster Seele über Schiller als Dichter dachte.« (IX, 942) Manns Andenken und Adoration äußert sich gerade im Verzicht auf Letztaussagen. Mahnend erinnert er zum Abschluss nur an ein »strafendes Wort des alten Goethe«: »›Ihr seid alle zu armselig und irdisch für ihn.‹« (IX, 946) Für das 20. Jahrhundert konstatiert er eine »Regression des Menschlichen« (IX, 949) und statuiert dagegen erneut Schillers »Vorbild seiner hochherzigen Größe« (IX, 951). Schillers Idealismus marschiert am Schluss als ausgefächerter Tugendkatalog auf: als »Wille zum

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Borchmeyer, Die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen, 143 f Borchmeyer, Die Geburt des Naiven aus dem Geiste des Sentimentalischen, 159

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Kontemplative Panegyrik: Versuch über den Versuch

Schönen, Wahren und Guten, zur Gesittung, zur inneren Freiheit, zur Kunst, zur Liebe, zum Frieden, zu rettender Ehrfurcht des Menschen vor sich selbst.« (IX, 951) Dieser additive Forderungskatalog, für den mündlichen Vortrag vielleicht wirkungsvoll, bietet am Ende fast des Guten zuviel und schließt überdies eher mit einem Grundwort Goethes: mit der »Ehrfurcht«, die Mann als »Andenken in Liebe« verstand. Manns Huldigung ist eher episch als kritisch; zwar trägt sie einige autobiographische Züge; »Autobiographie aber ist alles« (XI, 695), schreibt Mann im Vorwort zu Altes und Neues; Seitenblicke auf Schillers geschäftstüchtige »Organisation des Geistes« (IX, 878 f), auf Nähen zu Wagners Ring (IX, 898) oder das »Ethos des Fertigmachens« (IX, 914) sind deutlich autobiographisch konnotiert; gleiches gilt für die »doppelte Optik« der »Vereinigung des Volkstümlichen mit dem Hochkünstlerischen« (IX, 919): die »klassische Popularität«, die Mann auch für sein Werk stets angestrebt hatte. Dies alles bleibt aber dem »Verhältnis zu Goethe« als zentralem Thema untergeordnet. Mann lässt seinen Versuch über Schiller in einen Hymnus auf die »antipodische Freundschaft« (IX, 880) münden; er verzichtet dabei auf die dogmatische Disjunktion und belässt seine Ausführungen in der charakterisierenden Annäherung und Umschreibung. Sein Essay ist impressiv, wie der Versuch über Tschechow es war; er sucht keine große Idee, Identifikation und Anschlussstellen mehr. Die kontemplative Panegyrik kommt schon im Untertitel in schlichten Worten zur Sprache: »Zum 150. Todestag des Dichters – seinem Andenken in Liebe gewidmet«. Diese Mnemosyne hätte Mann mit Schiller leicht lyrisch heben, pathetisch zitieren können, Schillers Lyrik stellt dafür reiche Verse bereit; Mann zitiert Schiller auch ausgiebig, lässt seine Glocken lange erklingen, meidet aber die zeremonielle Erbauung im Stile von George-Lesungen. Sein Essay ist weder philosophisch noch lyrisch zentriert und gehalten, sondern ikonisch gestimmt und episch verfasst. Erika Mann unterschied im Ernte-Bericht zwischen dem »Ironiker« und dem »Pathetiker«. 32 Als Ironiker tritt Mann im letzten Hymnus aber nicht mehr auf, nicht im Sinne romantischer Ironie oder des epischen Schelms, der er im Krull gerade noch war. Vielleicht

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Erika Mann, Das letzte Jahr, 16

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sollte man hier von einem neuen essayistischen Spätstil sprechen, der schon im Versuch über Tschechow anklingt und den Erika Mann, leise gegen die christliche Trias von Glaube, Liebe, Hoffnung gesetzt, als »Altersbild« von »Bescheidenheit, Güte und Humor« ansprach. Vielleicht lässt sich von einer Entideologisierung der Essayistik sprechen, im Sinne der Rücknahme philosophischer Ambitionen. Mann wollte am Ende als Panegyriker sprechen, mit hymnischer Verehrung und Pietät gegenüber der Tradition, die sich im Weimarer Freundschaftsbund inkarnierte. Sein Felix Krull ist von merkwürdigen »Doppelbildern« der Liebe durchzogen; der Versuch über Schiller mündet in ein Doppelportrait; dieses Doppelbekenntnis zu Goethe und Schiller, in antipodischer Untrennbarkeit, empfand Mann als leidlich tragendes und würdiges Finale. Die schlichte Demut dieses Abschlusses zeigt sich auch in der Übergabe des Urteils an die Familie und Redaktion der Tochter. Noch im Entstehungs-Roman präsentierte Mann seine »Parodie« der Tradition, unter Verweis auf Joyce, als avancierte Form des Avantgardismus. Nun kehrt er mit Schiller und Goethe in den Kern der Weimarer Klassik ein. Zu den Listen seiner »kleinen Vollbringer« meinte er immer wieder: »Wahrlich, ich war nicht groß.« (TB 19. 6. 1954) Das nahm man ihm selten ab, verstand es als Koketterie. Zuletzt ist die Demut aber doch deutlich: der Ironieverzicht im schlichten »Andenken in Liebe«, ohne eigene These und Botschaft. Wahrscheinlich sind einige frühere Essays intellektuell anregender und gehaltvoller. Vermutlich ist die hymnische Mnemosyne des letzten Versuchs, wie Mann meinte, auch den nachlassenden Kräften des Alters geschuldet. Der Versuch über Schiller, Manns letzte Ganzschrift, war dennoch ein würdiger Ausklang und »Schwanengesang«, einer Spätschrift gemäßer vielleicht als der »königliche Busen« der Donna Maria Kuckuck. Wenn Erika Mann das »letzte Jahr« coram publico apologetisch als »Gnaden- und Erntejahr« bezeichnete, so ist zu ergänzen, dass die letzte Gnade künstlerischer Inspiration am Ende versagt blieb. Mann reagierte darauf autorschaftlich klug und »bescheiden« mit einem Abschied von der künstlerischen Produktion, einer Wendung zur Essayistik, Entideologisierung der Essayistik und Reduktion des philosophisch-kritischen oder sentimentalischen Anspruchs auf die hymnische Verehrung und »Huldigung« der literarischen »Führer und Bildner« seines Werkes. Diese »Neigung zum Lobgesang« wurde ihm in der Forschung gelegentlich verübelt. So

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kritisiert Irmela von der Lühe 33 – mit Koopmann – eine Nähe zur »Hagiographie«. Sie ignoriert dabei aber die rhetorische Form der Festrede und Funktion von Manns Huldigung im Rahmen seines Spätwerks. Wieder einmal muss das Narzissmus-Theorem herhalten: Mann wird für seine Klassiker-Imitatio moralistisch gebeckmessert. Die Huldigung aber als Selbstinthronisation einer Augenhöhe zu missdeuten, ist allzu billig. Manns virtuoser Abschied vom Publikum: seine Kunst des Werkabschlusses, wurde hier jenseits des Endspiels des Faustus-Projekts, zu dem noch Der Erwählte und selbst Luthers Hochzeit gehörte, im Übergang vom literarischen zum essayistischen Werkabschluss betrachtet. Mann begriff den Doktor Faustus schon früh als letzten »Vollbringer«; eigentlich wollte er danach kein neues Projekt mehr übernehmen und kein weiteres großes Werk schaffen, weil er überzeugt war, dass er den Faustus aus subjektiven wie objektiven Gründen künstlerisch nicht mehr überbieten könne. Er wollte nicht hinter Stand, Rang und Niveau zurückfallen. Mit dem »Roman« über Die Entstehung des Doktor Faustus und Der Erwählte hielt er sich deshalb noch bis 1951, volle vier Jahre, im Umkreis des 1947 publizierten Faustus. Die Rückkehr zum Krull betrachtete er als Regression und künstlerischen Absturz, verschob deshalb auch die Publikation und veröffentlichte 1953 nur Die Betrogene als Gegenstück zum Tod in Venedig. Erst als Mann mit Andromache und dem Liebeslehrgespräch Krulls ein einigermaßen kongruentes Zwischenfinale auf der Höhe seines »Traumgedichts vom Menschen« einfiel, entschloss er sich zur Publikation. Im letzten Jahr vollzog er dann eine Wendung zum essayistischen Werkabschluss, die im Versuch über Schiller und mit der Aufnahme dieses Essays – als Schlussstück – in die Neuausgabe von Adel des Geistes innerhalb der Ost-Berliner Gesamtausgabe ein glückliches Ende fand. Dieser Versuch über Schiller reduziert den kritischen Anspruch aber und versteht sich als bloße »Huldigung«. Mann tritt damit gleichsam aus der Rolle des Autors heraus in die des emphatischen Lesers und Publikums über; er tritt als Autor ab und vollendet so sein Werk. Die Überlegenheit der Dichtung gegenüber dem Essay erkennt er aber noch im Mai 1955 an, indem er anlässlich eines Wiederabdrucks seiner Schiller-Novelle Schwere Stun-

Irmela von der Lühe, ›Zeitraubende Teilhabe‹ – Goethe und Schiller in der Essayistik Thomas Manns, in: Goethe-Jahrbuch 122 (2005), 202–214

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»Meines Vaters Schwanengesang«

de an die Redaktion der Zeitschrift rückblickend zum Schiller-Essay meint: »Ich habe mir liebende Mühe gegeben, und ein paar brave Stellen mögen sich finden in dem ausgedehnten Versuch meines Alters. Aber wer weiß, ob nicht frischer, inniger, glücklicher, bleibender jene knappe Skizze von damals war, und ob Sie [die Redaktion] nicht das bessere Teil erwählen, indem Sie zur bevorstehenden Gedenkfeier darauf zurückgreifen.« (XIII, 238)

6.

Distanzbewusstsein: Hans Blumenbergs Mann-Glossen

Unsere Rekonstruktion von Manns »Projekt« ist damit abgeschlossen. Vom Ende, von den letzten Schriften her werden die künstlerischen Absichten erneut deutlich, an denen Mann seine Werke maß. Was Platon in einem großen Dialog – Politeia – zu erkunden suchte: die mögliche Koinzidenz des Guten und des Gerechten, trug Manns problemgeschichtliches Gesamtwerk. Die ganze europäische Metaphysikgeschichte wurde mitunter als »Fußnoten zu Platon« bezeichnet; Nietzsche nannte das Christentum »Platonismus fürs ›Volk‹« (KSA V, 12). Es verkleinert Manns Werk nicht, sondern hebt es vielmehr, wenn sein »Projekt« hier als moderne Antwort auf Platons Problemfrage rekonstruiert wurde. Diese Lesart wurde durch eine kleine Geschichte philosophischer Rezeptionen von Zeitgenossen ergänzt: Zu nennen sind u. a. Georg Lukács, Ernst Cassirer und Käte Hamburger, Theodor W. Adorno und Siegfried Marck. Diese Autoren haben die Mann-Forschung nicht nur durch ihre Interpretationen, sondern auch durch ihre ästhetischen und poetologischen Theorien maßgeblich geprägt. In diese Reihe gehört abschließend noch Hans Blumenberg (1920–1996), der die literaturkritische Forschung mit seiner »Metaphorologie« und »Arbeit am Mythos« auf eine Differenzhermeneutik umstellte, die nicht mehr den mimetischen Einklang im Selbstverständnis sucht. Blumenberg wurde 1920 in Manns Herkunftsstadt Lübeck geboren und legte 1939 am Gymnasium Katharineum, wo Mann scheiterte, ein glänzendes Abitur ab. Am 7. September 1931 erlebte er als Schüler, wie er brieflich bezeugte, 34 die Festansprache, die Mann zur Blumenberg im März 1996 an Ada Kadelbach vom Lübecker Kulturamt, zitiert nach: Eckhard Nordhofen, Zum Tode von Hans Blumenberg, in: Die Zeit Nr. 16 v. 12. April 1996

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Distanzbewusstsein: Hans Blumenbergs Mann-Glossen

400-Jahr-Feier des Gymnasiums an die »Lübecker Jugend, Katharineumsjugend« (X, 316) richtete. Vermutlich nahm die ganze Schule damals teil und Blumenberg dürfte etwa in der Quinta gewesen sein. Der 11-jährige Musterschüler wurde also von Mann, über zwei Generationen hinweg, gleichsam als Schulkamerad angesprochen. Mann warnte die Jugend damals in seiner Lübecker Ansprache vor dem zeitgeistigen »Defaitismus« und der »Zoologisierung des Menschen« (X, 326); er appellierte an die »Persönlichkeitsidee« und »Widerstandskraft« der Bildung und »Überlieferung«. Die Rede wurde in der Vossischen Zeitung 35 publiziert und könnte Blumenberg in schweren Jahren ein Trost gewesen sein. Diese Jugendbegegnung war intellektualbiographisch vielleicht nicht weniger prägend als der Sylter Strandspaziergang, den Adorno brieflich bekundete und der eingangs dieses Buches in der Einleitung bereits zitiert wurde: Der 17-jährige Adorno ging am Strand hinter dem Dichter her, ohne ihn anzusprechen, und träumte davon, »wie es wäre, wenn Sie nun zu mir sprächen«. Dieser Traum erfüllte sich zwei Jahrzehnte später als »ein Stück verwirklichter Utopie«. 36 Auch Blumenberg wurde durch die Begegnung mit Mann früh beeindruckt und geprägt; der Nobelpreisträger, der als Schulkamerad auftrat, dürfte der »Katharineumsjugend«, leibhafter Tonio KrögerJugend, damals fast ein Hausgott gewesen sein. Als »Halbjude« erlebte Blumenberg in seiner Schulzeit dann massive antisemitische Diskriminierungen. 37 Vom NS-Rassismus betroffen, musste er sein Theologiestudium 1940 abbrechen und wurde zur Zwangsarbeit eingezogen. 1950 habilitierte er sich in Kiel und erhielt 1958 seine erste Professur. Er revolutionierte die Scholastikforschung 38 und gilt heute als ein jüngster Klassiker der Philosophie in der Nachfolge und vom Range Cassirers. Anders als die George-und-Hölderlin-Jugend des expressionistischen Kriegsjahrzehnts, die avantgardistische Lyrik priVossische Zeitung vom 8. September 1931; Wiederabdruck unter dem Titel Ansprache an die Jugend in X, 316–327 36 Adorno am 3. Juni 1945 an Mann, in: Theodor W. Adorno / Thomas Mann, Briefwechsel 1943–1955, hrsg. Christoph Gödde / Thomas Sprecher, Frankfurt 2002, 17 37 Dazu eingehend Martin Thoemmes, Die verzögerte Antwort, in: FAZ v. 26. März 1997. Dr. Ulrich Thoemmes, Arzt und Vater von Martin Thoemmes, war mit Blumenberg eng befreundet und war Vorsitzender der Lübecker Thomas Mann-Gesellschaft. 38 Eine glänzende Historisierung dieses Beitrags findet sich heute bei Kurt Flasch, Hans Blumenberg. Philosophie in Deutschland: Die Jahre 1945 bis 1966, Frankfurt 2017 35

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»Meines Vaters Schwanengesang«

vilegierte, vertrat Blumenberg einen »Vorrang des Romans in der Verwirklichung der ästhetischen Grundideen der Neuzeit« als »Erweiterung des Bereichs des Menschenmöglichen«. 39 Die Prägung durch Manns Werk war für diese Wendung zum Roman nicht unwirksam. Abschließend können hier aber nur wenige explizite Mann-Texte Blumenbergs epilogisch betrachtet werden. Manns Werk war Blumenberg seit frühester Jugend vertraut. Mit seiner Lübecker Herkunft und seinem Verfolgungsschicksal hätte er leicht »mythische« Identifikationen pflegen können; stattdessen stellte er auf eine Differenzhermeneutik um, die den Abstand in der Nähe um der »humanen Selbstbehauptung« 40 willen betonte. Ein solches Distanzgebot war auch Cassirer und Mann nicht ganz fremd; auch sie begriffen die Ironie als liberales Mittel der Distanzierung und suchten die »Befreiung« vom mythischen Zwang und »Rückfall von Aufklärung in Mythologie«. 41 Blumenberg entwickelte hier aber einen eigenen Stil; lebenslang setzte er sich mit Mann auseinander und hinterließ dazu mancherlei in der Schublade; einige kleinere Texte hat er auch publiziert. Ein erster Artikel erschien anlässlich von Manns 80. Geburtstag am 4. Juni 1955, fünf Wochen vor Manns Tod. Es ist möglich, dass Mann den in den Düsseldorfer Nachrichten erschienenen Zeitungsartikel noch erhalten und gelesen hat. Jedenfalls bekam er »Lawinen« (TB 3. 6. 1955) von Post mit Geburtstagsartikeln ins Haus. »Las zuviel über mich«, notierte er dazu (TB 3. 6. 1955). Blumenberg erörterte hier schon die »Goethe-Nachfolge« leicht skeptisch und ironisch. Sein Geburtstagsartikel verbietet sich die »Huldigung«, der SchillerRede respondierend, weil Mann neue »Maßstäbe für die Wahrhaftigkeit unserer Rückkehr zur Welt« 42 gesetzt habe; das Theorem von der »Welteinsamkeit« aufgreifend, nennt Blumenberg den Zauberberg 1955 im Geburtstagsartikel Manns »aktuellstes, den Zeitgeist bedränHans Blumenberg, Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans (1964), in: Ästhetische und metaphorologische Schriften, hrsg. Anselm Haverkamp, Frankfurt 2001, 47–73, hier: 72 f 40 Zu dieser Zentralkategorie schon Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt 1966, 75 ff 41 Diese Formulierung bei Max Horkheimer / Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, in: Adorno, Gesammelte Schriften Bd. III, Frankfurt 1981, 14 42 Hans Blumenberg, ›Zauberberg‹ und geteilte Welt. Aus Anlass des achtzigsten Gurtstags Thomas Manns am 6. Juni 1955, in: ders., Lebensthemen. Aus dem Nachlass, Stuttgart 1998, 160–166 39

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Distanzbewusstsein: Hans Blumenbergs Mann-Glossen

gendes Werk«. Er reduziert das »Versuchsfeld« aber nicht auf den Gegensatz von Naptha und Settembrini, sondern setzt die philosophische Souveränität des Romans gerade darin, dass Mann »in das Spiel eine dritte Größe« einführte; hier verweist er überraschend nicht auf Castorp, sondern auf Peeperkorn als Statthalter des »großen Menschen«; Peeperkorn supplementiert Gerhart Hauptmann, der sich als Nachfolger und Statthalter Goethes ansah. Schon 1955 spricht Blumenberg von einer »Goethe-Nachfolge« Manns: »Freilich, für die Goethestilisierung eines Gerhart Hauptmann hat er keinen Geschmack; eher steckt noch etwas vom Antik-Schicksalhaften der ›Wiederkehr des Gleichen‹ – Restbestand der frühen Beeinflussung durch Nietzsche – in seiner Goethe-Nachfolge. Fast verschleiert, scheu und schamhaft ins Ironische transformiert, erscheint die Bindung in dem Roman ›Lotte in Weimar‹, eingehüllt in Anklage gegen den Tribut an menschlichem Leid und Opfer, von dem das Genie sich nährt. Mag immerhin sich Thomas Mann in Goethe spiegeln – er stellt sich ebenso an ihm in Frage.« 43

Blumenberg entdeckt einen »makabren Zweifel am Geist« und »Parodien des Menschlichen« im »Salto mortale« des Lebens. 44 Er hebt das Zirkus-Kapitel als »Glanzkapitel« im Traumgedicht vom Menschen hervor und arbeitet auch in späteren Mann-Texten gerade die ironische Distanzierung als »humane Selbstbehauptung« heraus. Im Marbacher Blumenberg-Nachlass befinden sich zahlreiche – oft schwer zu datierende – Materialien und Aufzeichnungen zu Thomas Mann. Es ließe sich daraus ein Büchlein zusammenstellen, das Blumenberg selbst aber wohl niemals beabsichtigt hatte. Blumenberg analysiert Mann anekdotisch. So erörtert er im Verhältnis zu Alfred Kerr und auch Hitler eine Distanzierung von Feindschaft und Hass durch Humor. 45 Andere gewichtige Überlegungen machen ein Scheitern des Teufels-Romans an Manns »tollkühner Anfrage« bei Adorno fest: Blumenberg liest hier einen eigenartigen »Doppelkonjunktiv« Manns – »… wie Sie es machen würden, wenn Sie im Pakt mit dem Teufel wären …« – als stillschweigende Übereinkunft in der Absage an den Teufel:

Blumenberg, ›Zauberberg‹ und geteilte Welt, 163 Blumenberg, ›Zauberberg‹ und geteilte Welt, 165 45 Hans Blumenberg, Feststellbarkeit von Humor (UNF-803); ohne Titel (ABW), in: DLA A: Blumenberg. Manuskripte. Textsammlung zu Thomas Mann (03.1) 43 44

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»Meines Vaters Schwanengesang«

»Sie und ich, wir haben vom Teufel gerade genug gehabt, wir denken über seine Möglichkeiten nach, weil es um deren Vernichtungsmoment in diesem tendenziell letzten aller Romane geht.« 46

Blumenbergs Aufzeichnungen sind im Generaltenor nicht leicht zu deuten. Ob sie überhaupt auf eine starke Gesamtauffassung zielten, ist schwer zu sagen. Immerhin publizierte Blumenberg 1987 einige Mann-Glossen, die die Goethe-Identifikation anekdotisch analysieren. Unter dem Titel Tödliche Meeresstille sezierte er Manns Bericht von einer Bootstour auf der Ostsee, vom Sommer 1919, der eine naheliegende Identifikation mit einer analogen Erinnerung mied, in der Goethe sich mit Odysseus identifizierte. Blumenberg meint dazu: »Damals [1919] war der Platz des Statthalters im literarischen Deutschland durch einen Neuerer [noch] besetzt, der mit seinem dramatischen Werk am wenigsten hätte erwarten lassen, solche Ambitionen jemals zu zeigen: Gerhart Hauptmann. Erst als dieser sich aus dem Kreis ernstlicher Aspiranten auf den Olymp durch törichtes Fraternisieren [gemeint ist: mit dem NS, RM] ausgeschaltet hatte, befand Thomas Mann, ihm stände diese Rolle auch. Daran war in den Glücksburger Tagen [der Meerfahrt] noch kein Gedanke.« 47

Damals, 1987, publizierte Blumenberg noch zwei weitere Glossen. Eine analysiert eine Begegnung von 1945 mit einem jungen Mädchen als assoziative »Identifikation mit dem fast gleichaltrigen Marienbader Liebenden«; im »Bedürfnis nach Bedeutsamkeiten« genoss Mann hier zwar den zarten erotischen »Quellwassertrunk«, entsagte dann aber doch sogleich der starken »Mystifikation«: »Mit der Eiseskälte, die in seinem gerade entstehenden Faust-Roman die ›Aura‹ des Teufels ausmacht, registriert er [TM] den Chemismus des eben noch ausgelegten Traumes: Physiologisch gesprochen handelt es sich um einen Effekt der von Gumpert verordneten Hormon-Kur.« 48 Mann wies also die Identifikation zurück und verzichtete auf falsche Wiederholungen Marienbader Elegien. Blumenberg betont das Differenzbewusstsein und die ironische Distanz zu aller Goethe-NachHans Blumenberg, Der Konjunktiv: Im Pakt mit dem Teufel (UNF 1454/5), in: DLA A: Blumenberg 47 Hans Blumenberg, Tödliche Meeresstille, in: ders., Die Sorge geht über den Fluss, Frankfurt 1987, 36–41, hier: 37 48 Hans Blumenberg, Kein Tod am Lake Mohonk – Ein anderes Nachspiel Goethes, in: ders., Goethe zum Beispiel, Frankfurt 1999, 89–91, hier: 91, vgl. 92 ff; eine ähnliche Pointe findet Blumenberg in: Rauch und Rührung. Die Besuche Thomas Manns bei Sigmund Freund (UNF 2801–2803), in: DLA A: Blumenberg 46

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Distanzbewusstsein: Hans Blumenbergs Mann-Glossen

folge; er erklärt Mann nicht zum Epigonen Goethes, sondern zu einem »wahrhaftigen« Zeitgenossen im souveränen Umgang mit den Tücken und Ironien des Mythos. In der Arbeit am Mythos schreibt er, dass Mann sein Konzept der »Rückgewinnung« durch Humanisierung des Mythos, im Gespräch mit Sigmund Freud, schon während der Joseph-Tetralogie fraglich wurde. Die poetische Relativierung und Reduktion von Geltungsansprüchen führte bis zur Utopie vom »Nicht-Besitz von Wahrheit«, 49 in der der philosophische Anspruch des Künstlerphilosophen erlischt. So weit ist Mann selbst jedoch niemals gegangen. Niemals hat er Philosophie und Dichtung gänzlich entkoppelt. Im Blumenberg-Nachlass finden sich interessante Überlegungen zum letzten Stand von Manns Umgang mit der Vergänglichkeit, die an Krulls Kuckuck-Gespräch und den Versuch über Tschechow anknüpfen; Blumenberg entdeckt hier eine »Proklamation« und »philosophische Dichtung vom Typus« des Als-Ob: »Es ist bewegend, das letzte Jahr dieses Jahrhundertgeistes – ohne den Namen und ohne den Begriff – um das Prinzip einer Philosophischen Eschatologie kreisen zu sehen«.

Blumenberg formuliert sie abschließend so: »Das Unvorhersehbare könnte die glückende Theodizee sein, von der keiner etwas ahnen kann, der von der Formel, wir machten die Geschichte, zu der Folgerung gelangt wäre, dann wäre es immer besser, ihr Opfer zu sein. Da gilt: Man kann es werden, aber man hat es nicht werden zu wollen.« 50

Es ist hermeneutisch gewiss unzulässig, diese unpublizierte Überlegung als ein Schlusswort zu lesen. Sie bietet auch Konjunktive und Vorbehalte genug. Schon die starke Voraussetzung der Folgerung ist problematisch: die Machbarkeit der Geschichte. Anders als Walter Benjamin 51 vertritt Blumenberg keine starke Opferperspektive; er schließt die Möglichkeit einer »glückenden Theodizee« nicht gänzlich aus und verbindet sie in seinen Aufzeichnungen nicht zuletzt mit Manns Kunst der humanen Selbstbehauptung. In der Kette der phiHans Blumenberg, Arbeit am Mythos, Frankfurt 1989, 256, vgl. 255 f, 261 Hans Blumenberg, Umgang mit der Vergänglichkeit (UNF 747), in: DLA A: Blumenberg 51 Walter Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Gesammelte Schriften. Bd. I/2, Frankfurt 1974, 693–704 49 50

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»Meines Vaters Schwanengesang«

losophischen Mann-Rezeptionen ließe sich hier eine Brücke zu Adornos starkem Bekenntnis schlagen, die Begegnung mit Thomas Mann sei ihm »ein Stück verwirklichter Utopie« gewesen. Blumenbergs Differenzhermeneutik meidet aber solche Umarmungsgesten und gebietet Abstand. Diese Mahnung gilt weiter trotz der vorliegenden Deutung.

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XII. »Ein Stück verwirklichter Utopie«: Rekapitulation der Sammlung

Die vorliegende starke Deutung zum philosophischen Sinn und Zweck von Manns Gesamtwerk unterscheidet sich in ihrem Erkenntnisinteresse erheblich vom Hauptstrom der literaturwissenschaftlichen Forschung, die den Künstler vom Philosophen trennt und den humanistischen Geltungsanspruch in seiner Substanz und Begründung ignoriert. Die Form einzelner, für die Sammlung stark überarbeiteter Studien, die auch für sich lesbar sind, bietet dabei keinen ganz einfachen und einführenden Zugang zur vorliegenden Deutung. Die leitende These sei hier deshalb zum Abschluss erneut grundsätzlich und im Gedankengefüge rekapituliert. Die Identität der Philosophie ist historisch fluide und strittig. Es gibt diverse, teils »antinomische« Antworten auf die W-Fragen, wer wo, wie und warum eigentlich philosophiert: ob Philosophie auf heilige Berge, den Marktplatz, in Wandelgänge und Villen, Klöster und andere Eremitagen, Akademien und Universitäten, Kasernen und Feuilletons, in die Schulen oder gar Kindergärten, ins TV und Internet gehört; ob Philosophie primär als Theorie oder Praxis, Wissenschaft oder Weisheitslehre zu betreiben sei; ob sie mündlich oder schriftlich, epigrammatisch, aphoristisch oder systematisch, ironisch oder doktrinär zu pflegen sei. Descartes, Leibniz oder Spinoza lehrten nicht an Universitäten. Erst seit dem 18. Jahrhundert, in Deutschland seit Thomasius, Wolff und Kant formierten und monopolisierten die Universitäten nach Kräften das säkulare Selbstverständnis im Fachbetrieb. Schon Kant äußerte sich dabei ironisch über die »frohe Aussicht« auf einen »nahen ewigen Frieden in der Philosophie« und betonte den Streit der Fakultäten. 1 Mit Schopenhauer trat gegen Hegel Immanuel Kant, Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum ewigen Frieden in der Philosophie (1796), in: Werke. Bd. VI: Schriften von 1790–1796, hrsg. Ernst Cassirer, Berlin 1925, 501–513; Der Streit der Fakultäten (1798), in: Werke. Bd. VII, hrsg. Ernst Cassirer, Berlin 1916, 311–431

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bald eine polemisch überzogene, dennoch durchschlagende Kritik der Universitätsphilosophie auf, 2 die über Nietzsche breit ins 20. Jahrhundert wirkte und auch Thomas Mann geläufig war. Seit Schopenhauer und Nietzsche ist es ein billiges Stereotyp, die »großen Philosophen« jenseits des Fachbetriebs zu suchen. Heidegger und Jaspers 3 taten das, Löwith, 4 beispielsweise, führte es für das 19. Jahrhundert aus. Die wechselseitig diskriminierende Spaltung und Teilung des philosophischen Diskurses in den technizistischen und spezialistischen Fachbetrieb einerseits und die großen außeruniversitären Heroen und Weltanschauungsdenker andererseits, die das »Leben vor den Geist bringen« 5 und den Griff ins Ganze und die großen Synthesen noch wagen, ist heute erneut geläufig. Der »Positivismusstreit«, in den 1960er Jahren zwischen »Kritischem Rationalismus« (Popper, Albert) und »Kritischer Theorie« (Adorno, Habermas) ausgefochten, markierte eine erste bundesdeutsche Kontroverse um die Zweideutigkeit der Philosophie zwischen Wissenschaft und Weltanschauung, Glauben und Wissen. Repräsentierte Habermas dabei bis in die neue Bundesrepublik 6 und das neue Jahrtausend hinein für das weitere Publikum die Rolle des »großen Philosophen« und öffentlichen, politisch engagierten und verantwortlichen Intellektuellen, so wurde diese Rolle in der Nachfolgegeneration und Rückbindung an die Universitäten schon bei Peter Sloterdijk ironisch und prekär. Heute wird der Rückzug der Universitätsphilosophie auf die spezialistischen Kernkompetenzen oft beklagt, gelegentlich verknüpft mit – vermutlich nicht unberechtigten – Sorgen um eine schuldogmatische Kolonisierung des Betriebs durch die »angelsächsische« »analytische« Richtung. Das hohe Muster einer solchen kritischen Sicht der Fachgeschichte ist Goethes Geschichte der Farbenlehre, die im Kampf gegen Newton die fachpolitische und dogmatische Rolle der Akademien massiv kritisierte. Goethe beklagte die akademischen Dogmatismen und Kämpfe, den Verlust lebensweltlicher Rückbindung an die eleArthur Schopenhauer, Über die Universitäts-Philosophie, in: Sämtliche Werke, hrsg. Wolfgang v. Löhneysen, Darmstadt 1989, Bd. IV, 171–242 3 Karl Jaspers, Die großen Philosophen, München 1957 4 Karl Löwith, Von Hegel bis Nietzsche, Zürich 1941 5 So Max Bense, Einleitung in die Philosophie, München 1941, 18 u. ö.; vgl. ders., Vom Wesen deutscher Denker, München 1938 6 Dazu Reinhard Mehring, Die neue Bundesrepublik. Zwischen Nationalisierung und Globalisierung, Stuttgart 2019 2

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mentare Erfahrung der Phänomene, und er suchte als Minister insbesondere für die Jenaer Universität besetzungspolitisch dagegenzusteuern. Schelling, Hegel und auch Schopenhauer etablierten sich nicht zuletzt durch Goethe in der Philosophiegeschichte. Thomas Mann und Hanno Buddenbrook gingen zwar nicht gerne in die Schule und brachten es nicht bis zum Abitur; Mann besuchte als Gasthörer aber einige Zeit die TU-München und erwog für ein Gastsemester ernstlich einen Wechsel nach Berlin. Später pflegte er mit einigen der bedeutendsten Wissenschaftler seiner Zeit freundschaftlichen Umgang. Er sammelte Dutzende akademische Ehrendoktortitel ein und trug den Namen eines Princeton-Professors. Es wäre falsch, ihn einseitig in die Reihen der Anti-Akademiker zu stellen. Vielmehr vertrat er stets den romantischen Grundsatz der Zusammengehörigkeit von »Kunst und Kritik« und zielte mit seinem »Zeitroman« auf das Erbe des »absoluten Romans« der Romantik und den »sokratischen Dialog unserer Zeit«. Die vorliegenden Studien stellten ihn in die platonische Tradition des Künstlerphilosophen und lasen ihm die wahrhaft platonische Problemfrage ab, ob Gerechtigkeit zu den notwendigen Glücksgütern gehört, ob nur der Gerechte einigermaßen glücklich sein kann und die Verhältnisse ein solches gelingendes Leben im 20. Jahrhundert annähernd erlauben. Manns Antwort war hier am Ende negativ. »And my ending is despair«, zitierte er zuletzt aus Shakespeares Tempest und meinte das auch politisch. Neben der Prägung durch die Epik des 19. Jahrhunderts, neben Fontane und dem russischen Roman von Dostojewski und Tolstoi, betonte er stets seine frühen Prägungen durch das »Dreigestirn« Schopenhauer, Nietzsche und Wagner. Wagner war hier die stärkste Kraft, die auch Nietzsche inspirierte. Von diesem Dreigestirn her ging er nach 1900 auf Schiller, Goethe und Platon zurück. Die philosophische Kraft seines Werkes und seiner Person haben Zeitgenossen wie Lukács, Cassirer und Adorno anerkannt und gepriesen. Verglichen mit anderen Epikern der klassischen Moderne, wie Musil oder Kafka, war Mann der größere »Rationalist«; er suchte nicht den »anderen Zustand« oder die parabolische Metapher für die »bürokratische Herrschaft«, wie Kafka im Schloss oder Prozess, und er visionierte auch nicht, wie Kafkas Affe im Bericht für eine Akademie, die Flucht aus dem Zoo ins »Varieté« 7 oder, im Amerika-Roman, ins »NaturFranz Kafka, Ein Bericht für eine Akademie, in: Erzählungen, hrsg. Max Brod, New York 1946, 194

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theater« von Oklahoma. Mann dogmatisierte die Lebensphilosophie nicht, wie Hofmannsthal oder etwa expressionistische Lyrik, als Sprachzerstörung und Übergang in eine hermetische »Sinnverhüllung«, 8 die authentische Aussagen in vorbegrifflichen Bildern und Metaphern suchte; er vertraute auf die Kraft des Worts und seine artistischen Möglichkeiten, die gegenwärtige Lage im »absoluten« »Zeitroman« auf den Begriff zu bringen. Dieses rationalistische Restvertrauen haben ihm manche Ästhetiker und Geschichtsphilosophen verübelt, und sie schlossen ihn gerade seiner Verknüpfung von »Kunst und Kritik« wegen aus der Avantgarde aus. Das ist aber abwegig. Auch die klassische Moderne war vielfältig. 9 Zwischen »Restauration« und »Fortschritt« ist nicht so strikt und politisch zu unterscheiden, wie Lukács 10 und Adorno 11 das taten, die Mann allerdings beide aus der persönlichen Bekanntschaft zum »bürgerlichen« »Fortschritt« rechneten. Mit diesen im Buch vielfach variierten Überlegungen sei jetzt das Gesamtgefüge der Sammlung rekapituliert; sie schließt an eine ältere, 2001 publizierte problemgeschichtliche Gesamtdeutung an, 12 die sie in einigen zentralen Kapiteln substanziell ergänzt und vertieft. Das quantitative Gewicht liegt deshalb weniger auf der Einzelinterpretation der Prosa-Werke als auf der Verdeutlichung der philosophischen Intention und Zielführung des Gesamtwerkes, das hier als problemgeschichtliches »Projekt« betrachtet wird. Die philosophische Deutung des »Zeitromans«, Sokratisierung und Platonisierung des Werkes, wird dafür eingangs im ersten Kapitel durch einen weiten Brückenschlag von Sokrates und Platon über Schlegels Konzept des »absoluten Romans« hin zu Fiorenza und dem Zauberberg exponiert. Mann hat schon sehr früh, bald nach den Buddenbrooks, einen philosophischen Kunstdialog verfasst und Platonismus rezipiert. Das zeigt sich wieder in der erotischen Pädagogik des Zauberberg. Dass er an seiner philosophischen Auffassung des »Zeitromans« festhielt, Dazu Hans-Georg Gadamer, Hermeneutik im Vollzug. Gesammelte Werke Bd. IX, Tübingen 1993 9 Dazu eindrucksvoll Helmuth Kiesel, Geschichte der literarischen Moderne. Sprache, Ästhetik, Dichtung im zwanzigsten Jahrhundert, München 2004; ders., Geschichte der deutschsprachigen Literatur 1918 bis 1933, München 2017 10 Georg Lukács, Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur, Berlin (Ost) 1947; ders., Thomas Mann, Berlin (Ost) 1950 11 Theodor W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Tübingen 1949 12 Reinhard Mehring, Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001 8

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wird – Kapitel II – anschließend im knappen Durchgang von Königliche Hoheit bis zum Doktor Faustus gezeigt. Der zweite Hauptteil vertieft den starken Anspruch zunächst durch zwei Kapitel zu den Betrachtungen eines Unpolitischen. Während das erste – Kapitel III – hier für eine systematische und staatsphilosophische Rekonstruktion der Betrachtungen wirbt, ohne deren polemische und ausufernde Anlage zu leugnen, setzt das folgende – Kapitel IV – Manns Romantik-Aktualisierung von der zeitgleich in München verfassten Romantikkritik Carl Schmitts ab. Damit rückt Manns Werk in seine politischen Kontexte ein und wird grundsätzlich als eine vertretbare, nationalliberal engagierte politische Philosophie gedeutet. Die politische Differenz zu Schmitt zeigt sich schon in Manns Wendung zu Goethe. Der Zauberberg markiert den definitiven Bruch mit dem Rechtsintellektualismus. Hans Castorp ist hier der Identifikationsprotagonist. Der Übergang zur philosophischen Rezeption des Zauberberg wird – Kapitel V – mit Heidegger und dem aktuellen philosophiehistorischen Bestseller Zeit der Zauberer gemacht. Wolfram Eilenbergers anregendes und unterhaltsames Buch steht dabei auch als aktuelles Beispiel für die Grenzen einer Philosophiegeschichtsschreibung, die bei aller Sympathie für die außerakademischen und lebensweltlichen Motive und Gründe des Philosophierens doch im Klassikerkanon und -Vorurteil befangen bleibt und trotz Adaption des Zauberberg-Narrativs den Schritt nicht wagt, Mann als souveränen Meisterdenker in der Zeit der Zauberer triumphieren zu lassen. Ernst Cassirer hätte das anders gesehen; er hätte Mann im Duell mit Heidegger, das das Duell zwischen Naphta und Settembrini adaptierte, gerne als Sekundanten an seiner Seite begrüßt, hätte ihm vielleicht sogar die Pistolen überreicht. Mann gehört als »Zauberer« in die erste Reihe der Weimarer Philosophiegeschichte! Das wurde nie ganz übersehen, es gab stets auch eine philosophische Rezeption. Früheren Studien zu Lukács und Adorno 13 werden hier dazu Cassirer und Siegfried Marck beigesellt: Cassirer explizierte Manns Goethe-Bild, Marck schrieb Mann im Exil in positiver Rezeption der Rede von »konservativer Revolution« eine »politisch-philosophische Sendung« zu. Während das Cassirer-Kapitel – Kapitel VI – auf die philosophische Deutung von Lotte in Weimar als tragische WahlverwandtReinhard Mehring, Das »Problem der Humanität«. Thomas Manns politische Philosophie, Paderborn 2003

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schaftsnovelle zielt und dabei auf Franz Blei als – der Mann-Forschung bisher unbekannte – initiale Quelle verweist, kontextualisiert das Marck-Kapitel – Kapitel VII – Manns politische Stellung und Rolle im Exil; das anschließende Kapitel VIII erörtert den Nachkriegsstreit um Manns »Rückkehr« nach Deutschland und betont die Rolle des Faustus-Narrativs bei der Kritik der sog. »inneren Emigration«. Der Doktor Faustus ist als Schlusswerk für die philosophische Gesamtauffassung zentral. Es war für Mann dann eine große Frage, ob und wie er sein Projekt über seinen »Parsifal« hinaus fortsetzen könnte. Die vorliegende Sammlung geht im dritten und letzten Hauptteil über die früheren Ausführungen hinaus, indem sie die starke These von Manns platonischem Streben nach einer Koinzidenz des Guten und des Gerechten an den letzten Plänen und Werken nach Der Erwählte prüft. Kapitel IX zeigt dies an der Zarathustra-Adaption des Felix Krull; das anschließende, literaturwissenschaftlich ambitionierte Kapitel X erörtert es für zwei ungeschriebene Pläne: ein Odysseus-Projekt, das Mann zugunsten seiner Moses-Novelle bald aufgab, sowie das letzte Luther-Projekt. Mann hielt bis zuletzt, im Krull wie in seinen letzten Werkplänen, an seiner politisch-philosophischen Auffassung des »Zeitromans« fest; als er im Alter jedoch zunehmend an der nötigen Zeit und Kraft zur Vollendung eines letzten großen epischen Schlusswerks zweifelte, verlegte er sich auf den Abschluss seines essayistischen Werkes. Das zeigt das letzte Kapitel XI: Mann beschloss sein Gesamtwerk im Alter damit, auf ambitionierte Kunst und Kritik zu verzichten und in die Rolle des einfachen Lesers und panegyrischen Publikums zurückzutreten. Epilogisch schließen hier knappe Ausführungen zur philosophischen Rezeption Hans Blumenbergs an, der als Lübecker Katharinenschüler Mann vor 1933 noch bei einer Lesung erlebt hatte und eine erste Huldigung anlässlich des 80. Geburtstags noch bei Lebzeiten publizierte. Blumenberg steht hier als autobiographisch identifizierter Weggefährte zuletzt für die Aufgabe philosophischer Selbstbehauptung und des Distanzbewusstseins, das Philosophen ziemt. Damit ist das Gefüge der vorliegenden Sammlung in seinem Anspruch rekapituliert. Sie wollte Manns Werk nicht in allen Details literaturwissenschaftlich ausloten, sondern in seinen philosophischen Gründen und seinem Sinn und Zweck rekonstruieren. Die Gründe liegen in der philosophiegeschichtlichen Lage nach Nietzsche und dem skizzierten Anliegen, den Anspruch der philosophischen Tradition als Künstlerphilosophie im »absoluten Roman« zu erneuern; als 266 https://doi.org/10.5771/9783495820353 .

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Sinn und Zweck bezeichnete Mann über die Unterhaltung des Publikums hinaus immer wieder emphatisch die »Rettung und Rechtfertigung« des eigenen Lebens. Mann wusste, dass dies keine Kopfgeburt sein konnte, sondern dass das individuell gelingende Leben an allgemeine Rahmenbedingungen gebunden ist: nicht nur an »materielle« Standards des Wohlstands, der bürgerlichen Ordnung und liberalen Kunstfreiheit, sondern auch an die hermeneutischen Horizonte der Reflexion auf die Bedingungen und Möglichkeiten humaner Existenz. Mann zweifelte nach 1945 an den Chancen eines individuell gelingenden Lebens; er verließ die USA und kehrte nicht nach Deutschland, sondern in die Schweiz zurück; dort liegt er in Zürich begraben. Bis heute hat er nicht den Platz in der Philosophiegeschichte gefunden, der ihm gebührt: einen Logenplatz in der ersten Reihe der politisch-philosophischen Meisterdenker des 20. Jahrhunderts. Wenn der geneigte Leser des vorliegenden Buches dieser starken These nach der Lektüre mehr Kredit gibt, so wäre das, in den Spuren von Manns Koinzidenztraum gesagt, nicht nur gut, sondern auch gerecht.

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Nachwort

Mein Interesse an Thomas Mann geht bis auf Freiburger germanistische Seminare in den frühen 1980er Jahren zurück. Rolf Günther Renner führte sein Musil-Seminar ins Thomas Mann-Archiv Zürich, wo uns Hans Wysling einige eindrucksvolle Devotionalien zeigte. Ein norddeutscher Jugendfreund entdeckte die Schnapsdestille in Manns Spazierstock gleichsam als Urszene meiner Mann-Begeisterung. Mann wurde mir dann bei der Beschäftigung mit dem Weimarer Radikalismus (Schmitt, Heidegger) zum Antidot. Ich danke meinem Berliner Lehrer Volker Gerhardt, dass er mir die Habilitation über Thomas Mann am Institut für Philosophie der HU-Berlin – im Jahre 2000 – ermöglichte. Einigen namhaften Mann-Forschern habe ich über die Jahre zu danken: u. a. Dieter Borchmeyer, Barbara Besslich und Andreas Urs Sommer. Heidelberger Gespräche danke ich auch Silvio Vietta und Helmuth Kiesel. Lukas Trabert vom Alber-Verlag danke ich für die Publikation, Bettina Blumenberg für die Erlaubnis, aus dem Nachlass Hans Blumenbergs zu zitieren. Düsseldorf, im Februar 2019

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Nachweise

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Stark erweiterte Fassung von: Reinhard Mehring / Francesco Rossi Hg.: Thomas Mann e le arti / Thomas Mann und die Künste, Rom 2014, 109–148 2. Stark erweiterte Fassung von: Weimarer Beiträge 51 (2005), 188–205 3. Unveröffentlicht. Vortrag vom 18. September 2018 auf der von Erik Schilling und Gideon Steinberg veranstalteten Tagung »Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen nach 100 Jahren« an der LMU-München 4. Unveröffentlicht. Vortrag vom 20. November 2018 in der Romantik-Ringvorlesung der Philosophischen Gesellschaft Basel 5. Andere Fassung in: Weimarer Beiträge 64 (2018), 462–466 6. Stark überarbeitete Fassung von: Birigt Recki (Hg.), Philosophie der Kultur – Kultur des Philosophierens. Ernst Cassirer im 20. und 21. Jahrhundert, Hamburg 2011, 67–88 7. Unveröffentlicht 8. Stark überarbeitete Fassung von: Primus Kuchler / Johannes Evelein / Helga Schreckenberger (Hg.), Erste Briefe / First Letters aus dem Exil 1945–1950. Unmögliche Gespräche. Fallbeispiele des literarischen und künstlerischen Exils, München 2011, 104–114 9. Andere Fassung in: Renate Reschke (Hg.), Nietzscheforschung 22 (2015), 187–200; überarbeitet auch in Reinhard Mehring, Heidegger und die Konservative Revolution, Freiburg 2018, 201–217 10. Erweitert aus: Düsseldorfer Beiträge zur Thomas Mann-Forschung 1 (2011), 37–53 11. Stark gekürzte und erweiterte Fassung von: Zeitschrift für Germanistik 28 (2018), 587–603 12. Unveröffentlicht

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