Zwischen Metaphysik und Politik: Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« in seiner Zeit [Reprint 2014 ed.] 9783110891737, 9783484181472

Using a chronological interpretation of the text as it took shape, the author demonstrates that Thomas Mann's novel

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German Pages 337 [340] Year 1998

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Table of contents :
Einleitung: Thomas Mann, die Philosophie, die Zeitgeschichte und der Joseph-Roman
I. Zeitgeschichtliche Präliminarien zu einem zeitverhafteten Roman: Der Glaube an die Macht der Metaphysik in Thomas Manns geistigem Umfeld
Sehnsucht nach dem Dritten Reich
Von Propheten und selbsternannten Heiligen
Die nicht bestandene Zerreißprobe: Thomas Mann, Ernst Bertram und die Zeitgeschichte
Thomas Manns Weg zur Demokratie
Deutsches Selbstverständnis und seine historische Tradition
Die gegenwärtige Lage, politisch
Die gegenwärtige Lage, geistig
Wege
II. Urgründe: Auf der Suche nach authentischer Gegenwart in der Höllenfahrt
Von der Rolle des Politischen
Der Mensch zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit
Romantische Metaphysik und modernes Fortschrittsdenken
Der Roman der Seele
Die zeitgeschichtliche Brisanz der Höllenfahrt
III. Jaakob am Ende seiner Weisheit: Von den Grenzen metaphysischer Weltanschauung
Von der Politizität des Unpolitischen: Jaakob, Joseph und »der Mann febsche«
Namen: Von der Leonitas des Löwen und vom zeitgemäßen Umgang mit Engeln
Jaakobs mythische Welt
Esau und Jaakob - Metaphysik als Begrenzung und Metaphysik als Entgrenzung
Jaakobs Schuld: Dina, Lea, Rahel, Joseph
Die zeitgeschichtliche Dimension der Geschichten Jaakobs
IV. Hochmut kommt vor dem Fall: Der junge Joseph
Josephs Mittlerposition und Thomas Manns Künstler-Ich
Josephs Konflikt mit den Brüdern und das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft
Auserwähltheit und soziales Leben - auf der Suche nach einer Symbiose
Die philosophisch-politischen Implikationen: Individuelle Handlungsfreiheit und metaphysische Vorherbestimmtheit
V. Geschichte als Möglichkeit
Josephs Ich als Weltmitte und Thomas Manns politische Forderung des Tages
Metaphysisches Bewußtsein als Bedingung humanistischer Politik
Joseph zwischen politischen Fronten
VI. Geschichte als Notwendigkeit
Noch ein »Vorspiel«!
Wie im richtigen Leben: Von der Realität des Mythischen
Im Zeichen der »Vereinfachung«: Zauberhafte Politik
Zurück zur Metaphysik
Literaturverzeichnis
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Zwischen Metaphysik und Politik: Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« in seiner Zeit [Reprint 2014 ed.]
 9783110891737, 9783484181472

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Wilfried Barner, Georg Braungart, Richard Brinkmann und Conrad Wiedemann

Band 147

Dierk Wolters

Zwischen Metaphysik und Politik Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« in seiner Zeit

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1998

Meiner Mutter und dem Andenken

meines Vaters

D 83 Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Wolters, Dierk: Zwischen Metaphysik und Politik : Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder« in seiner Zeit / Dierk Wolters. - Tübingen : Niemeyer, 1998 (Studien zur deutschen Literatur ; Bd. 147) ISBN 3-484-18147-8

ISSN 0081-7236

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1998 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten Buchbinder: Geiger, Ammerbuch

Inhaltsverzeichnis

Einleitung: Thomas Mann, die Philosophie, die Zeitgeschichte und der Joseph-Roman I.

ι

Zeitgeschichtliche Präliminarien zu einem zeitverhafteten Roman: Der Glaube an die Macht der Metaphysik in Thomas Manns geistigem Umfeld Sehnsucht nach dem Dritten Reich Von Propheten und selbsternannten Heiligen Die nicht bestandene Zerreißprobe: Thomas Mann, Ernst Bertram und die Zeitgeschichte

15 16 18 24

Thomas Manns Weg zur Demokratie

36

Deutsches Selbstverständnis und seine historische Tradition

41

Die gegenwärtige Lage, politisch

48

Die gegenwärtige Lage, geistig

53

Wege

69

II. Urgründe: A u f der Suche nach authentischer Gegenwart in der Höllenfahrt

80

Von der Rolle des Politischen Der Mensch zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit

81 . . .

Romantische Metaphysik und modernes Fortschrittsdenken

89 94

Der Roman der Seele

103

Die zeitgeschichtliche Brisanz der Höllenfahrt

115

III. Jaakob am Ende seiner Weisheit: Von den Grenzen metaphysischer Weltanschauung

126

Von der Politizität des Unpolitischen: Jaakob, Joseph und »der Mann febsche« Namen: Von der Leonitas des Löwen und vom

128

zeitgemäßen Umgang mit Engeln

134

Jaakobs mythische Welt

142

Esau und Jaakob - Metaphysik als Begrenzung und Metaphysik als Entgrenzung

149

V

Jaakobs Schuld: Dina, Lea, Rahel, Joseph Die zeitgeschichtliche Dimension der Geschichten Jaakobs IV. Hochmut kommt vor dem Fall: Der junge Joseph Josephs Mittlerposition und Thomas Manns Künstler-Ich Josephs Konflikt mit den Brüdern und das Verhältnis des Künsders zur Gesellschaft Auserwähltheit und soziales Leben - auf der Suche nach einer Symbiose Die philosophisch-politischen Implikationen: Individuelle Handlungsfreiheit und metaphysische Vorherbestimmtheit V.

158 172

.

182 184 193 198

.

Geschichte als Möglichkeit Josephs Ich als Weltmitte und Thomas Manns politische Forderung des Tages Metaphysisches Bewußtsein als Bedingung humanistischer Politik Joseph zwischen politischen Fronten

210 218 221 234 249

VI. Geschichte als Notwendigkeit Noch ein »Vorspiel«! Wie im richtigen Leben: Von der Realität des Mythischen . Im Zeichen der »Vereinfachung«: Zauberhafte Politik . . . Zurück zur Metaphysik

272 275 288 294 313

Literaturverzeichnis

321

VI

Einleitung: Thomas Mann, die Philosophie, die Zeitgeschichte und der Joseph-Roman

In einem Brief an Gottfried Bermann Fischer betonte Thomas Mann 1956, das Staunenswerteste an seinem Roman Joseph und seine Brüder werde einst seine »fast verrückte Unstimmigkeit zwischen Werk und Zeit« sein.1 Dies wird gewöhnlich gleichgesetzt mit Unzeitgemäßheit und Zeitabgewandtheit des biblischen Epos: Thomas Mann habe sich hier ein »Refugium« vor den Belangen der Wirklichkeit geschaffen.2 Der zeitgeschichtliche Druck war in der Tat erheblich. Der Roman entstand zwischen 1926 und 1942, in der unruhigsten Zeit von Thomas Manns Leben. In diese Epoche fällt der Niedergang der Weimarer Republik, Hitlers Machtergreifung, Manns Exilierung 1933, zunächst in Südfrankreich, dann in Zürich und schließlich, ab 1937, in Amerika. Mit dem Exil beginnt auch die dreijährige zermürbende Seelenmarter Manns, bis er sich schließlich zu einer öffentlichen Äußerung gegen den Nationalsozialismus durchringt. Nach seiner befreienden Stellungnahme 1936/37 anläßlich der Bonner Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde ist der Heimatlose endgültig einer der geistigen Hauptrepräsentanten des Exils. Das belastet ihn mit einer Unmenge politischer Verpflichtungen. Es beginnen seine Beschwörungen Englands, Frankreichs und Amerikas, dem Hitler-Regime ein rasches Ende zu bereiten; und schließlich bricht der Zweite Weltkrieg aus. Angesichts dieser privaten wie weltgeschichtlichen Katastrophe stellt sich die Frage, ob mit der »Unstimmigkeit zwischen Werk und Zeit«, von der Mann redet, nicht vielleicht doch etwas anderes gemeint ist als zeitgeschichtliche Entrücktheit. Vielleicht, das würde zumindest seine Stellung auch als politischer Repräsentant des deutschen literarischen Exils nahelegen, bedeutet »Unstimmigkeit« ja gerade bewußte Entgegensetzung zu den Zeittendenzen, die der Nationalsozialismus am krassesten verkörpert. Der Roman wäre dann kein unpolitisches Refugium, sondern Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte, bewußte Opposition. Dieser Möglichkeit 1

Thomas Mann. Briefwechsel mit seinem Verleger Gottfried Bermann Fischer 19)2—19;;, hrsg. von Peter de Mendelssohn, Frankfurt am Main 1975, S. 130. Brief vom 24.10.1936. ' So Borge Kristiansen: Agypten als symbolischer Raum der geistigen Problematik Thomas Manns. Überlegungen £ur Dimension der Selbstkritik in Joseph und seine Brüder. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 9-36, hier S. 26.

1

möchte ich in meiner Arbeit nachgehen. Immerhin gibt es für sie Belege in Manns Schriften. So heißt es in der Entstehung des Doktor Faustus über den sehr geschätzten Lukäcs-Essay Auf der Suche nach dem Bärger lapidar: »Der >Joseph< ist >MythosHochbegriff< (vgl. X I I I , 580) der Humanität - »Demokratie aber ist nur der moderne politische Name für den älteren, klassizistischen Begriff der Humanität« ( X I I I , 580). Mit diesem Begriff habe Nietzsche »uns das >Dritte Reich* [...] zu erkennen gelehrt, ein Reich der Verleiblichung des Geistes und der Vergeistigung des Fleisches, das Reich des >UbermenschenIdeen von 1914/ spiegeln. Unversehens bricht aus einem großen geschicktsphilosopbischen Entwurf die Hoffnung auf ein Metaphysisches heraus, dessen Erfüllung sich vage in der Zukunft abzeichne: Und es kann erst dann Aufgabe einer geschichtsphilosophischen Zeichendeuterei sein, auszusprechen, ob wir wirklich im Begriffe sind, den Stand der vollendeten Sündhaftigkeit zu verlassen, oder ob erst bloße Hoffnungen die Ankunft des Neuen verkündigen; Anzeichen eines Kommenden, das noch so schwach ist, daß es von der unfruchtbaren Macht des bloß Seienden wann immer spielend erdrückt werden kann.'

Selbst einem von Beginn an vehementen Kriegsgegner wie Lukäcs erschien der Krieg als die gefahrvolle Heraufkunft der »westlichen Zivilisation«, 4 als endgültiger Sieg des profan materiellen Fortschrittsgedankens. Das >bloß Seiende< bedroht seine metaphysische Hoffnung, die sich sprachlich vage als das >Kommende< manifestiert. In der unbestimmten Sehnsucht nach einem metaphysisch gedachten Dritten Reich traf sich der zukünftige Marxist mit den Hoffnungen der Kriegsbefürworter.

'Judith Marcus-Tar geht in ihrer Studie Thomas Mann und Georg Lukäcs: Beziehung, Einfluß und »Repräsentative Gegensätzlichkeit«, Köln/Wien 1982, S. 28-40, auf deren gemeinsamen Gedankenhintergrund ein, indem sie Lukäcs' literarischen EssayBand Die Seele und die Formen (Berlin 1 9 1 1 ) Thomas Manns Essay-Fragment Geist und Kunst (in: Quellenkritische Studien %um Werk Thomas Manns, hrsg. von Paul Scherrer und Hans Wysling, B d . i , Bern/München 1967) gegenüberstellt. 3 Georg Lukäcs: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Darmstadt und Neuwied 1971, S. i } 7 f . 4 Ebd. S. 5: im 1962 geschriebenen Vorwort.

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Diese metaphysische Sehnsucht bildete den Kontrapunkt zu all dem, was faktisch war, und wurde so Sammelbecken einer rundum enttäuschten und haltlos gewordenen Generation. Gott war tot, und die Aufklärung hatte den Menschen auch nicht glücklicher gemacht. Im 19. Jahrhundert war sie in die Industrialisierung gemündet und dort breitenwirksam geworden die materielle Profanierung des ursprünglich weltumspannend angelegten Versuchs, den Menschen seiner glückselig sinnstiftenden Bestimmung selbstdenkend zuzuführen. Hingegen der nackte Manchester-Kapitalismus als Weg zur Glückseligkeit - das mochte nicht jedem einleuchten. Den >Ideen< der deutschen Intellektuellen jedenfalls entsprach diese Wirklichkeit nicht. Freilich war der von Mann hochgeschätzte Lukacs nicht derjenige, der ihn mit solcher Problematik bekanntmachte. Eher war es umgekehrt, denn die von Lukäcs geliebte Erzählung Tonio Kröger war die Musternovelle des Künstlers, der das naive Leben nicht mehr leben kann wie seine gesunden Mitbürger, die Hans Hansens und Inge Holms, der sich aber beständig nach der verlorenen Ganzheit sehnt und sie im Werk einzuholen trachtet. Künstlertum bedeutete Thomas Mann demzufolge Geist, der das Leben liebt - ein ironisches Lebenskonzept als Antwort auf fehlenden Sinn.5

Von Propheten und selbsternannten Heiligen Auf welch merkwürdige Abwege die Entfremdung vom ursprünglichen Leben führen konnte, stand Thomas Mann schon sehr früh vor Augen. E r lebte in München seit 1894, und man darf annehmen, daß er das Treiben der Schwabinger Kosmiker, das sich nah von ihm abspielte, interessiert, wenn auch befremdet, zur Kenntnis nahm. Nicht zuletzt die Erzählung Beim Propheten (1904), die eine Dichterlesung schildert, zu der Ludwig Derleth geladen hatte, gibt über das Verhältnis des Bürgers Thomas Mann zu dieser konservativen Avantgarde Münchens Auskunft. Der Prophet Daniel von 1904 wird übrigens Jahrzehnte später zu Daniel zur Höhe, Teilnehmer des reaktionären Kridwiß-Kreises im Doktor Faustus. Die auf Büttenpapier geschriebenen »Proklamationen«, die Thomas Mann 1904 in einer Schwabinger Dachkammer hörte, erscheinen in seinem großen Roman von 1947. So ist hier eine allerdings um die Jahrhundertwende noch humoristisch geschilderte Entwicklung aufgezeigt, die aus dem George-Kreis direkt in die Geistessphäre des nationalsozialistischen Deutschlands weist.6 ' Vgl. zum Ironie-Konzept von Thomas Mann grundlegend Hermann Kurzke: Auf der Suche nach der verlorenen Irrationalität. Thomas Mann und der Konservatismus, S. 1 2 4 - 1 3 3 . 6 Vgl. zu Manns Verhältnis zum George-Kreis die zu Unrecht fast nie beachtete

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Der geschilderte »Prophet« lebt, so schon der erste programmatische Satz der Skizze, in »seltsame[n] Regionen des Geistes, hoch und ärmlich.« (VIII, 362) Ohne je wahrhaft zu handeln, existiert er in lebensabgewandter Atmosphäre: »Hier ist das Ende, das Eis, die Reinheit und das Nichts.« (VIII, 362) Seine »Proklamationen« allerdings lassen ihn einen »Verbrecher des Traumes« (VIII, 362) sein: »>ich überliefere euch zur Plünderung - die Welt!«/. (VIII, 369) Diese vergeistigte Lebensfeindlichkeit bildet die Vorstufe der Haltung von Daniel zur Höhe, der im Faustus mit seinen »Phantasien« von »asketisch-schönen Schrecknissen« (VI, 484) der nationalsozialistischen Ideologie zuarbeitet, weil darin »Achtlosigkeit« und »Indifferenz gegen das Schicksal des Einzelwesens« (VI, 484) zum Ausdruck gelangen. Sogar darauf wird explizit verwiesen, daß sie ihren Ursprung nicht im Ersten Weltkrieg, sondern schon viel früher hatte: Sie konnte als gezüchtet erscheinen durch die eben zurückliegende vierjährige BlutKirmes; aber man ließ sich nicht täuschen: wie in manch anderer Hinsicht hatte auch hier der Krieg nur vollendet, verdeutlicht und zur drastischen Erfahrung gemacht, was längst vorher sich angebahnt, einem neuen Lebensgefühl sich zugrunde gelegt hatte. (VI, 484)

Daniel repräsentiert genau den dichterischen Geist, den Tonio Kröger künstlerisch verneint: Ich bewundere die Stolzen und Kalten, die auf den Pfaden der großen, der dämonischen Schönheit abenteuern und den >Menschen< verachten, - aber ich beneide sie nicht. Denn wenn irgend etwas imstande ist, aus einem Literaten einen Dichter zu machen, so ist es diese meine Bürgerliebe zum Menschlichen, Lebendigen und Gewöhnlichen. (VIII, 337f.)

Kröger kann sich die Suche nach geistiger Sinnerfüllung und metaphysischer Geborgenheit nur vorstellen im Verbund mit dem Leben, nicht in seiner radikalen Ablehnung. Die literarische Boheme in Schwabing, der Kreis um Stefan George, ist besonders gut geeignet, ein Bild von Thomas Manns politischer Haltung bis zum ersten Weltkrieg zu geben, vermittelt sie doch ein Stimmungsszenario, in dem Mann zwar nicht heimisch war, das jedoch seine unmittelbare Umgebung bildete. Der heroische Asthetizismus, der dem Kreis um George so wesentlich war, fand sich auch beim >Meisterl'art pour l'artgemeinsamen< Münchener Zeit. Gleichzeitig wahrt Mann jedoch immer skeptische Distanz, so während eines Gesprächs am 15.8.1919 mit Bertram und dessen Freund Glöckner: »Uber George und Platen, dem, wie ich bemerkte, die sazerdotale Geste noch ganz fehlte und der nichts zu sein ambitionierte, als ein >wandernder RhapsodeMeisters< selber gewesen sein, in der Konsequenz seiner Gedanken lag es sehr wohl. 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, erschien der Stern des Bundes·. ... zu spät für stillstand und arznei! Zehntausend muss der heilige Wahnsinn schlagen Zehntausend muss die heilige Seuche raffen Zehntausende der heilige krieg.'*

" E b d . S. 199. ' 7 Friedrich Wolters, S. 368. Natürlich liegt etwas Boshaftes darin, gerade Friedrich Wolters zur Interpretation Georges heranzuziehen, dessen mystizistischer Denkstil zur Verunklarung neigte und deswegen die subtilen Grenzen zwischen Georges Denken und der Nutzanwendung, die die Nationalsozialisten später daraus zu ziehen suchten, leichter verwischt als etwa Klages, Wolfskehl, Gundolf oder Vallentin. Gerade das aber will ich zeigen: daß Aussagen, selbst wenn sie beanspruchten, unpolitisch zu sein, notwendig politisch wurden. " George: Werke Bd.II S. 141.

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Die hundert Gedichte dieser Sammlung, wiewohl sie schon 1 9 1 4 publiziert wurden, sind Stefan Georges Betrachtungen eines Unpolitischem eine - aus gesellschaftlicher Sicht - fatalistische Prognose der Gegenwart, deren Eintreffen George vor dem Krieg seherisch beschwor (»förderung der krise« nannte es Wolters' 9 ) und die mit dem K r i e g eintraf; ein Politisch-Werden aus der N o t heraus, die eigene Mission des innerlichen Lebens nicht mehr abseits des Gesellschaftlichen verteidigen zu können. Vage formuliert es die Vorrede: nur die erwägung dass ein verborgen-halten von einmal ausgesprochenem heut kaum mehr möglich ist hat die öffentlichkeit vorgezogen als den sichersten schütz.'0 Die »öffentlichkeit« soll das Werk vor dem »missverständnis« schützen, hier solle oberflächlich politisiert werden. Anders formuliert: George offenbart sich dem Feind und arbeitet öffentlichkeitswirksam, weil er dem Druck der Menge nicht entfliehen kann. E r schreibt kein »geheimbuch« mehr, sondern tritt unter dem Druck der Zeit aus seinem »engern bezirk« hinaus in den äußeren: in die gegnerische Sphäre des Fortschritts und der Massenideologie, um für seine Welt zu kämpfen, die diesen Ideen feindlich ist. Der Konservative wird politisch in der Verteidigung des Unpolitischen. Z w a r erklärt Thomas Mann noch 1920, interessiert zu sein an »George's Gestalt und hohem Führertum« 2 1 - es entspricht seiner geistesaristokratischen Haltung - , jedoch beurteilt er ihn immer rein ästhetisch. Den Wandel des Predigers hin zum Wirken- und Führen-Wollen nimmt er nicht wahr. Was sich bei Thomas Mann als Versuch gestaltet, zu einer neuen Humanität zu gelangen, gereicht George zur transzendenten Begründung der Gewaltherrschaft. Die indirekte Verbindung blieb dennoch immer gewahrt. Schon über weitläufig dem George-Kreis verbundene Männer wie Oscar A . H . Schmitz und Erich von Kahler, mit denen Mann persönlich bekannt war, war die stete Tuchfühlung garantiert. Das wichtigste Bindeglied aber war Ernst Bertram, sowohl im George-Kreis verwurzelt als auch über Jahre engster Freund des Hauses Mann in der Poschingerstraße.

'' Friedrich Wolters: Richtlinie«. In: Jahrbuch für die geistige Bewegung, hrsg. von Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters, Bd.I (1910), S. 145. George: Werke Bd.II S. 127. Dort auch die folgenden Zitate. " Thomas Mann. Briefe 1-1 II, hrsg. von Erika Mann, Frankfurt am Main 1961—196;, hier Bd.I S. 180. Brief an Carl Maria Weber vom 4.7.1920. 2

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Die nicht bestandene Zerreißprobe: Thomas Mann, Ernst Bertram und die Zeitgeschichte Ernst Bertram pendelte lange Jahre seines Lebens zwischen dem Einflußbereich Georges und Thomas Manns.22 Er war unermüdlicher Berater Thomas Manns auch bei der Niederschrift der Betrachtungen eines Unpolitischen·. »Ernst Bertram war der Vertraute meiner uferlosen politisch-antipolitischen Grübeleien; ich las ihm vor daraus, wenn er in München war.« (XI, 128) So Thomas Mann in seinem Lebensabriß νon 1930. Stellte sich Georges Versuch, das Sinnvakuum der Neuzeit zu überwinden, für Thomas Mann zu einseitig dar, so glaubte er lange, in Bertram einen geistigen Gesinnungsgenossen zu haben, mit dem er vollkommen harmonierte. Und obwohl sich schon seit der Mitte der zwanziger Jahre politische Differenzen klar herauszukristallisieren begannen, kam es zum endgültigen Bruch mit dem engen Freund erst 1934. Vorsichtige Zurückhaltung bei Thomas Mann, als Bertram ihm zur Jahreswende 1913/14 Friedrich Gundolfs Schrift Stefan George in unserer Zeit schickt: E s war ein verständliches Gefühl Gundolfs, daß der Augenblick gekommen sei, über George populär zu reden. Aber der Zweifel ist berechtigt, ob man das überhaupt je können wird, - ob es je möglich sein wird, diese steile, krasse, im edelsten und neuesten Sinn groteske Erscheinung den Deutschen populär zu machen. ! i

Thomas Manns Haltung zur elitären Aura, die George umgibt, ist ambivalent. E r persönlich weiß sie zu schätzen, ist sich aber auch bewußt, daß Popularität damit nicht einhergehen könne, daß eine breitenwirksame George-Rezeption ihrem Ziel notwendig nicht gerecht werden kann: Sie zerstörte eben den Nimbus, der George auszeichnet, zerrte das rein Geistige notwendig ins Profane. Daß er in diesem Krieg aber - rein geistig gesehen - auf der gleichen Seite wie George steht, kommt in einem Brief an Bertram zum Ausdruck, der ihm Georges Gedichtzyklus Der Krieg angekündigt hatte: Das von George ist ja eine große Nachricht! Die mich übrigens nicht überrascht. Denn daß er sich zu diesem Kriege, der doch in gewissem Sinne sein Krieg ist, irgendwie äußern werde, stand mir immer fest. Aber 12X12 mal - das ist freilich mehr, als ich erwartet hatte. Wenn doch durch Indiskretion etwas in den Vorwärts käme! 14 " Dazu: Thomas Mann an Ernst Bertram. Briefe aus den Jahren 1910-19;;, Inge Jens, Pfullingen i960. Vgl. insb. das Nachwort, S. 293-307. ' ' Ebd. S. i8f. Brief vom 6.1.1914. Ebd. S. 49. Brief vom 22.6.1917.

hrsg. von

Von der leichten Ironie, die oft und auch hier mitschwingt, wenn Thomas Mann über George spricht, ist bei seinen Äußerungen über Bertram nichts zu spüren. Dessen Nietzsche-Buch, 2 ' das zeitgleich zu den Betrachtungen erschien, war Mann wirklich ein Herzensanliegen. Der notorische Lobhudeler äußerte sich hierzu tatsächlich aus tiefster Seele. Im Tagebuch und auch in Briefen bezeichnete er es als »Geschwister des meinen«, 26 und wenige Tage später notiert er: Leider habe ich viele aus Schwäche und Höflichkeit verlogene Dankbriefe fur empfangene Bücher geschrieben und werde leider noch viele schreiben. Diesmal werde ich wahr sein dürfen."

Das Gemeinsame beider Bücher liegt in ihrem Bemühen ums deutsche Wesen: mit dem Geist die tragisch abgründige Tiefe des Lebens erfassen zu wollen und dennoch nicht nihilistisch zu verzweifeln. Das ist es, was Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen gegenüber der vordergründig fortschrittlichen Weltanschauung der Franzosen und ihren deutschen Nachahmern, den Zivilisationsliteraten, stark macht; das ist es, was Ernst Bertram zum Leitthema seiner Erkundung des Urdeutschen Nietzsche erkoren hat. Hier aber beginnen sich die Wege der beiden auch schon zu scheiden. Das Bekenntnis zum unpolitischen, vergeistigten Deutschtum war Thomas Mann eine Verpflichtung, die seiner Meinung während des Ersten Weltkriegs entsprach, ihm rasch danach aber in historischem Licht erschien. Schon Mitte September 1918, während der ersten Lektüre des Bertram-Buches, notierte er »Rückblick-Ergriffenheit« und »Todeswehmut«. 28 Das Gefühl, daß hier - wie in seinen Betrachtungen - in höchster Not zwar, aber doch von einer vergangenen Epoche die Rede ist, drängt sich ihm unabweisbar auf. Bertram hingegen wollte sein Buch nicht als Ausdruck eines schon überlebten Bewußtseins verstanden wissen. Diese gegensätzliche Einstellung oder Versöhnlichkeit - kristallisierte genden Jahre heraus. Sobald es um lands ging, traten Uneinigkeiten auf,

zur Gegenwart - strikte Ablehnung sich allerdings erst im Laufe der foldie politische Entwicklung Deutschdie noch lange Jahre kaschiert wurden

" Ernst Bertram: Nietzsche. Versuch einer Mythologie, München 1918. *' Thomas Mann. Tagebücher 1918-11)21, S. 3. Eintragung vom 11.9.1918. Vgl. auch Briefe /, S. 149f. Brief an Philipp Witkop vom 13.9.1918. " E b d . S. 7. Eintragung vom 15.9.1918. 2 * Ebd. S. 5. Schon während des Krieges sogar ist sich Mann bewußt, daß er kaum mit der Zeit Schritt zu halten vermag. In einem Brief an Bertram vom 2 ; . 1 1 . 1 9 1 6 bescheinigt er dem Merkur, daß dieser »Grübeleien, wie die, an die ich gefesselt bin, weit hinter sich [hat], er [der Merkur] spricht frei und versöhnlich über die Synthese der Ideen von 1792 und 1914. Die Zeit ist rasch, und ich bin langsam. Ausführlich und pedantisch muß ich erst abrechnen und werde alt und müde dabei, fürchte ich.« ( B r i e f e /, S. 132)

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im Bemühen beider, ihre Freundschaft zu wahren. Es zeigte sich, daß Thomas Manns Konservatismus anders geartet war als der von Bertram, daß sein Verständnis von Deutschtum weder streng nationalistisch noch strikt an eine deutsche Monarchie gebunden war. Im März 1920 kommentiert Mann in einem Brief an Bertram den KappPutsch: Ich möchte wohl wissen, was Sie zu den Ereignissen sagen. Diktator K a p p wird auch Ihnen persönlich kaum willkommen sein; und im Ganzen habe ich doch, bei aller Sympathie mit gewissen Tendenzen der augenblicklichen Machthaber [...] den Eindruck einer verfrühten, den ruhigen Gang der Dinge störenden Aktion und fürchte eine schwere Kompromittierung der konservativen Idee, die im ganzen Lande wieder so sehr an Boden gewonnen hatte. 1 '

Schon hier wird deutlich, daß Mann offensichtlich nicht mehr bereit ist, dem Konservativen jenseits des Geistigen die Macht einzuräumen, die das politisch konservative Lager der Deutschen einforderte. Bertrams Reaktionen sind nicht übermittelt, aber es ist kaum zu vermuten, daß sie sonderlich zustimmend waren. Es fallt auf, daß Thomas Mann immer wieder versucht, das Nationale ins Kosmopolitische übergehen zu lassen und diese versöhnliche Geisteshaltung auch Bertram zu vermitteln. So zitiert er beiläufig Sätze aus der englischen Ausgabe von Königliche Hoheit, und bemerkt: Wie lustig und natürlich! Es ist so gedacht. Und nun gar Schuster Hinnerke, - er hat überhaupt schon immer englisch gesprochen. - Nein, so recht »nationale bin ich doch wohl eigentlich nicht.' 0

Thomas Mann antwortet damit auf eine Frage, die ihm Bertram gar nicht gestellt hat; er unterschiebt einen Dialog und versucht so, seinen Briefpartner in eine Richtung zu lenken, von der er vielleicht schon jetzt dunkel spürt, daß eine Übereinstimmung in diesem Punkt zur Lebensfrage der Freundschaft werden könnte. Ahnlich und mit noch mehr Chuzpe drei Monate später. Bertram hat ihm einen Vortrag über die Betrachtungen geschickt, den er in Bonn gehalten hat. Bertram spricht zu Recht von der »Deutschmetaphysik« der »drei romantischen Lehrer« Thomas Manns: Wagner, Schopenhauer und Nietzsche. Das Buch kreise um »eine bestimmte Vorstellung vom Wesen des geistigen Deutschtums«, 3 ' das sich Thomas Mann in dieser Trias darstelle. Bertram stellt besonders heraus, daß die Musik Thomas Mann als »die metaphysiThomas Mann an Ernst Bertram, S. 88. Brief vom 16.3.1920. Ebd. S. 89^ Brief vom 16.5.1920. '' Ernst Bertram: »Betrachtungen eines Unpolitischen«. In ders.: Dichtung als Zeugnis. Frühe Bonner Studien %ur Literatur, hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Bonn 1967, S. 9 9 - 1 1 8 . Erstmals in Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft Bonn, X I , 4 (1917/18). J0

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sehe und damit als die deutsche Form der Freiheit«®2 erscheine, die der politischen »Auffassung der Freiheit« 35 ausdrücklich entgegenstehe. Dieses Verhältnis steigert Bertram noch weiter: So verteidigt das Buch die >MusikPolitikUberläufereiUmfallBruch< mit meiner geistig-politischen Vergangenheit« (XI, 809) vorwerfe. 54 Die Zeilen an Bertram machen deutlich, daß Mann sich sehr wohl der Gefahr bewußt war, seinen Freund an diese »allgemeine Meinung« zu verlieren. Im gleichen Brief lobt er auch das »Völkisch-Heimatliche« in Bertrams Lyrik. Es sei bei ihm »so vergeistigt und erhöht, daß es vollste, reinste menschliche und dichterische Würde erlangt und unantastbar wird.« 15 »Unantastbar«: Bertrams Gedichte in den Olymp zu heben, hat zum Ziel, ihn parteipolitischer Willfährigkeit zu entziehen. In diesem Zusammenhang empfiehlt er ihm zur Lektüre das geisteswissenschaftliche Jahrbuch Die Dioskuren.'6 In dieser »sehr glückliche[n] Publi4

* Thomas Mann an Ernst Bertram, Karte vom 23.8.1922, S. 1 1 3 . Ebd. Brief vom 25.12.1922, S. 1 1 5 . >° Ebd. " Ebd. >! Ebd. 13 Ebd. S. 116. 54 Dazu Wißkirchen: »Dieser Vorwurf traf Thomas Mann hart, denn er enthielt die Unterstellung, er habe sich mit seinem Eintreten für die Demokratie aus der romantisch-bürgerlichen Sphäre entfernt. Dagegen erhob Thomas Mann vehementen Einspruch.« (Zeitgeschichte im Roman, S. 84) " Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 11;. i6 Die Dioskuren. Jahrbuch für Geisteswissenschaft, hrsg. von Walter Strich, München 1922.

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kation«,' 7 so lobt er weiter, werde Bertram in jedem zweiten Beitrag genannt. Ausdrücklich aufmerksam macht er ihn »auf die große Arbeit von Paul Joachimsen [...] >Zur Psychologie des deutschen StaatsgedankensChamberlain< in diesen Versen gehoben ist, nicht so recht mit [...]"

Mann nimmt Abstand von einer Tendenz, in der der Unterschied zwischen Norden und Süden politisch ausgeschlachtet zu werden droht: E r »überhöre nicht den Appell« 8 ' der Widmung, sei aber »eben mehr ein Künstler, Melancholiker, Genießer der Gegensätze und Spieler damit, als Richter und Künder, der das Eine vergöttlicht und das Andere zum Pfuhl verdammt.« 9 " Und als Mann Bertram im Februar 1926 seine Paris-Reise ankündigt, ein Schritt zur Versöhnung der deutschen mit der französischen Intelligenz, den er in seiner Pariser Rechenschaft dokumentierte, hatte sich Bertram offensichtlich politisch schon ganz von Thomas Mann abgewendet. Inge Jens zitiert im Kommentar des Briefwechsels einen Brief Bertrams an seinen Freund Ernst Glöckner, in dem es lapidar und recht resigniert heißt: »Heute spricht der Tom in Paris. Ich glaube auch nicht, daß er viel in unserem Sinne ausrichten wird u[nd] will.« 9 ' Zwar bleibt Bertram in Briefanreden zeitlebens der >liebe BertramBetrachtungen< hatte er [Mann] eine unendliche Mühe, sich politisch zu orientieren. E r wußte einzig, daß er mit diesem Buch falsch lag.« (Briefwechsel mit Autoren S. 229) Vielmehr war Mann davon überzeugt, mit diesem Buch prinzipiell richtig zu liegen, und versuchte deswegen, dessen romantisch-deutsche Kernideen über die Zeitenwende zu retten - was freilich in seiner Sicht implizierte, den monarchischen Gedanken, um nicht unzeitgemäß zu werden, fallen zu lassen. Die politische Überlebtheit seines Werkes hatte er allerdings schon in den

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[...] das war, gefühlsweise, als dunkle Gewissensregung, seit Jahr und Tag in manchem Deutschen lebendig gewesen — in solchen vielleicht sogar, die im Zauberberge des romantischen Asthetizismus recht lange und gründlich geweilt - und hatte zu Bekenntnissen gefuhrt, die von einer Zukunftslosigkeit, die sich treu dünkt, als Zeugnis des Überläufertums und der Gesinnungslumperei übel begrüßt worden waren. ( X I I , 628) A u c h andere A u t o r e n , m i t d e n e n sich T h o m a s M a n n s c h o n v o r 1 9 2 3 bes c h ä f t i g t hatte, so v o r allem R u d o l f P a n n w i t z u n d H a n s B l ü h e r , b e w e g t e n ähnliche G e d a n k e n . K u r z nach seinem E r s c h e i n e n las M a n n einen A u f s a t z v o n P a n n w i t z , in d e m dieser die T h e s e vertritt, die D e u t s c h e n seien ein Volk der Mitte und können auch nur ein Reich der Mitte werden. Das gilt für die Organik ihres Geistes und für die Politik ihres Staates."' H i e r w i r d ein o r g a n o l o g i s c h e s D e n k p r i n z i p f a v o r i s i e r t , d a s aus p r i m ä r ind i v i d u a l e m u n d nicht aus sozialem D e n k e n heraus G e m e i n s a m k e i t

und

Gemeinschaft schaffen könne:"6 Es ist die innere Ermöglichung Europas und einer europäischen Kultur, die allein vom deutschen Geiste und der deutschen Arbeit geleistet werden kann." 7 A u c h er plädiert, freilich g e d a n k l i c h w e i t w e n i g e r analytisch als T r o e l t s c h , f ü r ein k ü n f t i g e s E u r o p a aus d i e s e m i n d i v i d u a l e n » G e i s t « , der in D e u t s c h land » v o n G r u n d aus u n p o l i t i s c h « " 8 ist: A m geläufigsten seit langem ist uns die Gegenüberstellung des deutschen und des romanischen Geistes. Aber auch schon sie ist wie alles was wir uns selbst gedacht haben durch Unsicherheit, Vermessenheit und Verworrenheit aufs verderblichste getrübt." 9 Betrachtungen selber bemerkt (vgl. z.B. X I I , 584) und in Briefen schon 1916 eingestanden (vgl. Regelten 16/33, Brief an S. Fischer vom 12.4.1916, Bd.I, S. 208). Schon das zeigt, daß eine monarchisch-kaisertreue Gesinnung zu stützen nicht sein wesentliches Anliegen war. Diesen Gedanken hat Werner Frizen: Zaubertrank der Metaphysik, prägnant formuliert: Die Betrachtungen seien deshalb unpolitisch, »weil hier nicht von geschichtlicher Realität, sondern von ideellen Konstanten des deutschen Seins, die keine historische Relativierung erfahren dürfen, gehandelt wird.« (S. 331) " ' Rudolf Pannwitz: Die Bedeutung des deutschen Geistes für die europäische Kultur. In: Der Neue Merkur, Januar 1920, S. 551-559, hier S. 555. " 6 Zur Übertragung dieses individual-organologischen Gedankens auf die Idee des Staates als Organismus vgl. Thomas Manns Rezeption von Joseph de Maistre über Georg Brandes schon während der Niederschrift der Betrachtungen eines Unpolitischen. Dazu: Hans-Joachim Sandberg: Thomas Mann und Georg Brandes. Quellenkritische Beobachtungen %ur Rezeption (un-)politischer Einsichten und deren Integration in Essay und Er^ählkunst. In: Stationen der Thomas-Mann-Forschung, hg. von Hermann Kurzke, Würzburg 1985, S. 7 3 - 9 1 , hier S. 78. " ' Rudolf Pannwitz: Die Bedeutung des deutschen Geistes für die europäische Kultur, S. 55;. Ebd. S. 558. " ' E b d . S. 552. 45

Die »große geistige Kultur« sei jedoch schon, und zwar »in nie tief genug verstandenen Individuen«, vorhanden, um diese Gegenüberstellung in eine Synthese zu überfuhren. Ja, »geradezu beispiellose Synthesen des deutschen und des romanischen, ja des deutschen und des panhistorischen Geistes« seien schon »fast oder ganz geglückt«. 120 Von wem Pannwitz hier spricht, oder wie diese Synthesen konkret vorzustellen sind, bleibt allerdings offen. Dennoch, die Gedankenrichtung von Pannwitz kam exakt Thomas Manns eigenen Hoffnungen entgegen. Nachdem er auch noch »Die deutsche Lehre« und das Nietzsche-Buch von Pannwitz gelesen hatte, schrieb er ihm aus innerem Bedürfnis im August einen neunseitigen zustimmenden Brief zur geistigen Lage Deutschlands. 121 Auch Hans Blühers Vortrag Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus handelt von der welthistorischen Aufgabe des deutschen Selbstverständnisses nach dem Ersten Weltkrieg. Auch er ringt um die Wiedergewinnung deutschen Selbstbewußtseins aus dem Geist der Kultur. Mann beschäftigte sich mit dem Aufsatz gleich zweimal, beide Male emphatisch zustimmend; einmal im Februar 1919, als Blüher, »ein Renegat des Aktivismus«, 122 seine Gedanken in München vortrug, und einmal im September, als ihm die Druckfassung ins Haus kam. Blühers Aufsatz ist zu verstehen als ein Versuch, sich von den drohenden Sanktionen der Westmächte zu befreien, indem man sich auf die Werte deutscher Tradition unabhängig von der machtpolitischen Lage besinnt - Erbauungslektüre für die Kriegsverlierer. Was Thomas Mann angezogen haben mag, war das Postulat von der geistigen Notwendigkeit des deutschen Reiches, aus der allein es neue Kraft beziehen könne: Uns ist es [das deutsche Reich, DW] ein Versprechen, und darum sind wir ihm ein Versprechen. Auch wenn das Deutsche Reich äußerlich untergeht, und in den Zustand der Latenz tritt, es bliebe dem deutschen Menschen übergeordnete Macht, die über allen Interessen steht."'

Gleichzeitig macht es sich Blüher aber zu einem Hauptanliegen, dieses deutsche Versprechen nicht in die trivialen Niederungen völkischer Ideologie abgleiten zu lassen. Damit entsprach er Manns eigenem frühzeitigen Bemühen, sein Deutschtum vor der Vereinnahmung von rechts zu bewahren. Wahrhaft »germanische Charaktere« seien dadurch gekennzeichnet, »daß sie an ihrem Germanentum leiden«.I24 Denn: Ebd. Vgl. Regelten 20/74, Bd. 1, S. 293, Brief vom 7.8.1920. Hermann Kur2ke: Thomas Mann. Epoche - Werk — Wirkung, S. 177. Hans Blüher: Deutsches Reich, Judentum und Sozialismus. Eine Rede an die Freideutsche Jugend, München 1919, hier S. 12. 4 " Ebd. S. 14.

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Der Germane ist sehnsüchtig nach dem Mittelmeer. Der Charakter seiner Geschichte ist ein Aufnehmen der zugleich leichten und tiefen Kulturen jener Breiten in sein schweres B l u t . " '

Dieses Leiden aus immerwährender Sehnsucht, und nicht die törichte Abgrenzung der eigenen Tradition von anderen, ist das eigentliche Grundcharakteristikum des Deutschen. Auch die Verbindung des Südlichen mit deutscher Tiefe ließ Thomas Mann sich in Blühers Thesen heimisch fühlen. Diese Sehnsucht repräsentierte auch er, aus diesem immerwährenden Zwiespalt schöpfte auch er, Sohn eines Lübecker Patriziers und einer Mutter, die ihre Kindheit in Brasilien verbracht hatte, sein künstlerisches Potential: Schon im Tonio Kröger hatte er diese Sehnsucht exemplarisch gestaltet - eine Sehnsucht, die darauf aus ist, Grenzen zu überschreiten, statt künstliche Mauern zu errichten. Denn wer »weiter Tacitus Germania« spielt, »sich weiter >völkischdeutsch«< gebärdet, der stürzt »mit tödlicher Sicherheit in den Abgrund der völligen Belanglosigkeit für die deutsche Kultur.« 126 Diesen Gedanken erläutert Blüher weiter unten noch wie folgt: Der Völkische ist vergnügt über sein germanisches Blut, er macht mit Absicht, mit höchst verstimmender Absicht, germanische Werke, die natürlich durchweg den Grundzug der Persiflage tragen, und Sie werden mir recht geben, wenn ich behaupte: Noch niemals ist von dieser Seite her ein wirkliches Werk entsprungen. J a , noch mehr: es ist niemals auch nur ein wirklich kluges Wort geredet worden.'"

Das Verdienst von Blühers Schrift ist, daß er die Bemühungen um ein nationalistisches Selbstverständnis, in denen er sich mit Troeltsch traf, ins Kosmopolitische zu öffnen verstand. Gemeinsam ist diesen Denkern, die das geistige Umfeld Thomas Manns bildeten und ihm halfen, sich in der neuen Zeit zurechtzufinden, daß sie die innerliche, romantische, mit einem Wort: die deutsche Tradition fortsetzen wollen, indem sie den Westmächten - je nach Autor werden meist England oder Frankreich favorisiert - die politische Vormacht zugestehen, 128 den Deutschen jedoch die integrative Führung in einer zu schaffenden gesamteuropäischen Geisteslandschaft antragen. Denn nur die Deutschen stünden zugleich in der Tradition der unpolitischen Romantik und derjenigen aufklärerischen Gedankengutes. 129 ,2

> Ebd. Ebd. S. i 5 f . 127 Ebd. S. 14. " 8 1923 erschien Graf Nikolaus Coudenhove-Kalergis Schrift Pan-Europa, die ihn mit einem Schlag berühmt machte. Thomas Mann ließ sich wenig später zum Ehrenvorsitzenden der Münchener Sektion der Paneuropäischen Bewegung wählen. 129 Diese Idee einer geistigen Führung entspricht einem der Situation nach Versailles angepaßten, reduzierten Anspruch Deutschlands (der dann im Dritten Reich wieder rückgängig gemacht wurde). Daß er einem Denken entstammt, das im ersten 116

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Dieses >Zugleich< wird auch Joseph und seine Brüder prägen: Joseph wird sich den gesellschaftlichen Anforderungen, die seine Zeit an ihn stellt, nicht entziehen können; aber sein Hauptaugenmerk wird dennoch nicht auf dem Politischen liegen, sondern auf der Wahrung seiner persönlichen und geistigen Tradition.

Die gegenwärtige Lage, politisch Wie sollen sich die hehren Ideale, die mit der deutschen Idee ab 1918 verknüpft wurden, aber in die Wirklichkeit umsetzen lassen? Die problematische Natur deutscher Politik ist, daß die romantisch-innerliche Seite des Deutschen ja gerade dadurch definiert ist, unpolitisch zu sein. Dieser unpolitische Charakter ist aber gleichzeitig der Grund für Deutschlands Anspruch auf geistige Führung. Daraus erwächst ein Dilemma, um das sich nicht nur Thomas Mann, sondern auch Oscar Α. H. Schmitz und Hermann Graf Keyserling kümmerten. Mit Schmitz, der weitläufig dem George-Kreis zuzurechnen war, hatte Mann schon 1 9 1 ; korrespondiert, nach Lektüre von dessen Buch Das wirkliche Deutschland, das er mit voller Zustimmung gelesen hat. 130 Schon der scharfsinnige Elsässer Rene Schickele, in diesen Jahren politisch bedingt ein vehementer Gegner Thomas Manns, bemerkte 1916 in den Weissen Blättern, in denen ein Jahr zuvor auch Heinrich Manns Zola-Artikel erschienen war, der dann den Jahre währenden Bruderzwist zur Folge hatte, die gedankliche Ubereinstimmung beider Autoren. Als der perfide Polit-Essay Friedrich und die große Koalition1,1 in Manns Hauspostille, der Neuen Rundschau, erschien, schrieb Schickele über Mann: Weltkrieg die Expansion Deutschlands propagierte, wird deutlich, schaut man sich entsprechende Äußerungen deutscher Intellektueller an. So propagiert beispielsweise Moritz Heimann, der Lektor des S. Fischer Verlags: »Wir kämpfen nicht bloß, damit Deutschland eine Großmacht bleibe, sondern damit der Welt ein Segen sei dadurch, daß Deutschland eine Großmacht ist.« (Zitiert nach Stefan Heiner: Politische Aspekte im Werk Thomas Manns 189 j—1918, Diss. Berlin 1976, vgl. S. 1 4 8 - 1 5 7 , hier S. 149.) 1.0

1.1

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Oscar Α. H. Schmitz: Das wirkliche Deutschland. Die Wiedergeburt durch den Krieg, München 1915. Vgl. Regesten B d . i , 15/69, Brief vom 4 . 1 1 . 1 9 1 5 , S. 201. Vgl. zu diesem Brief auch Hans Wyslings (Hrsg.) Einführung in: Thomas Mann - Heinrich Mann. Briefwechsel 1900—1949, erweiterte Neuausgabe Frankfurt am Main 1984, S. X L V I I I . Eine Apologie des Krieges mit Hilfe metaphysischer, auf Zeitlosigkeit absehender Argumentationsmuster, die auf der Philosophie Arthur Schopenhauers gründen. Vgl. dazu Frizen: Zaubertrank der Metaphysik, S. j j o f .

jetzt entwickelt er [...] Gedanken, fiir die Oskar Α. H. Schmitz nicht erst die Hilfe des Kriegserlebnisses brauchte, um damit sein kulturkonservatives Programm zu machen...' 5 *

Kulturkonservativ, das war die Bejahung des Krieges aus dem Anspruch, daß Deutschland hier sein ganz eigenes nationales Wesen verteidige. 1920 erschien dann Schmitz' Buch Das rätselhafte Deutschland, und 1923 das Brevierfür Unpolitische. Die Schriften Keyserlings, die Schmitz wiederum als so nah an seinen Gedanken erscheinen, daß er die »Ähnlichkeit« selber »feststellen möchte, ehe mich ein Ubelwollender des Plagiates zeiht«,' 3i werden darin ebenso als Geistesverwandte erwähnt wie die Betrachtungen eines Unpolitischen·. Hier ist deutsches Wesen, ohne das mindeste von seinem Gehalt aufzugeben, europagültig geprägt: echter Kosmopolitismus bei entschiedenster Ablehnung des Internationalismus. 1 ' 4

Die strikte Ablehnung des politischen Sozialismus geht einher mit dem Gedanken an die geistige Hegemonie Deutschlands in einem wieder geeeinten Europa. Ausdrücklich schwört Schmitz aller progressiven Politik ab, um der reinen geistigen Erkenntnis um so größere Freiräume zu schaffen: »Alles verneinen, um aus dem Nichts neu aufzubauen«, dieser bolschewistische Satz ist unfruchtbarer Wahnsinn in der äußeren, aber tiefste Wahrheit in der inneren Welt, wo man nicht das leere Nichts des verneinenden Verstandes meint, der nur Revolution und Reaktion gebiert, sondern den spontan schöpferischen weltschwangeren Wesensgrund, aus dem man frei ist, auch noch das revolutionäre Nein von heute zu verneinen, ohne sich damit dem bürgerlichen J a zu verschreiben.'"

Das Geistige versteht Schmitz hier ausdrücklich als dem Staatlichen kontradiktorische Sphäre. Thomas Mann zitiert diesen Passus in einem ausfuhrlichen Empfehlungsbrief, in dem er dem Georg Müller-Verlag die Publikation von Das rätselhafte Deutschland anrät.' 36 Darin betont er genau dieses unpolitische und höhergeistige Ziel, das Schmitz verfolge: Hier zeigt sich, wie die beste Tugend dieses kleinen Buches ihm zur öffentlichen Gefahr wird. Denn indem der Verfasser, aus den aktuellen Scheingegensätzen heraustretend, einer neuen Lebendigkeit zustrebt, muß er es für den Augenblick mit beiden Parteien, mit »rechts« und mit »links« verderben [...]'" 1,1

Rene Schickele: Notizen. In: Die weissen Blätter, Zürich und Leipzig 1916, J g . 3, H . 1 1 , S. i82f., zitiert nach: Jahre des Unmuts. Thomas Manns Briefwechsel mit Rene Schickele 1930-1940, hrsg. von Hans Wysling und Cornelia Bernini, Frankfurt am Main 1992, S. i82f. 133 Schmitz: Das rätselhafte Deutschland, München 1920, S. 13. 134 Ebd. S. 135. ' " Ebd. S. i n . ,j6 Vgl. Thomas Mann, Briefe /, S. 193, Brief vom 8. Oktober 1921. Ebd.

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Weder rechts noch links, ist der Deutsche unpolitisch. Daß dies seine Stärke sei, versucht Schmitz auch historisch zu begründen: Deutschlands Lage ist nun diese: Bis tief in das neunzehnte Jahrhundert war die große Mehrheit unsers auf dem Land und in kleinen Städten lebenden Volks vorwiegend seelisch eingestellt, und dieses heute noch nicht ganz vergeudete Seelenerbe ist der Hort unsrer in die Zukunft weisenden Kraft. Oberhalb dieser gab es eine kleine, aber doch sehr sichtbar hervortretende Schicht rein geistig eingestellter Menschen, die uns den Ruf des Volkes der Denker und Dichter eingebracht haben.1'8 Das >rein Geistige< ist dem Politischen a priori entgegengesetzt. Deswegen ist der Abschied v o m Parteienwesen eine seiner wichtigsten Forderungen: Aus diesen Kämpfen zwischen Rechts und Links in Politik, Kunst und Weltanschauung wird ganz gewiß nichts Lebendiges herauskommen. Nur wer sich auf ein jenseitiges Niveau bezieht, vermag seine schöpferischen Kräfte neu zu sammeln.''9 Das sind Gedankengänge, die Thomas Mann auch anderswo fand, so zum Beispiel im Aufruf %um Sozialismus des parteilosen Gustav Landauer, mit dem sich Thomas Mann auf nachhaltige Empfehlung Hans Blühers 1 9 1 9 beschäftigte. Selbst in diesem Werk, dessen prinzipielle Zielrichtung doch eine radikal utopistische ist und somit dem vergeistigten DeutschlandWunschbild von Schmitz oder Keyserling entgegensteht, wird die Feindschaft von Staat, der als bürokratisches Regelsystem gefaßt wird, und Geist, der Freiheit bedeute, hervorgehoben: Wo Geist ist, da ist Gesellschaft. Wo Geistlosigkeit ist, ist Staat. Der Staat ist das Surrogat des Geistes.140 Im Unterschied zu Schmitz wird Geist hier mit Gesellschaft gleichgesetzt und nicht mit der charakterlichen Ausbildung des großen Individuums die sozialistisch-anarchische Variante des geistesaristokratischen Individualismus. Staat und Partei bedeuten rechts wie links Erstarrung, »Parteidogma« und »Programm«: [...] dieser sinnlose Krieg aller gegen alle im Namen von Gesinnungen, die alle harmonisch in einer Seele leben könnten. Darum rufe ich: Zurück zur eigenen Seele, fort von jeder Partei, und habe sie noch so ideale Grundsätze.'4' ''* Aus dem Vortrag Aus dem ABC des öffentlichen Lebens in dem Sammelband Brevier für Unpolitische, München 1923, S. 118. Aus dem Aufsatz Das künftige Europa. In: Brevier für Unpolitische, S. 8. 140 Gustav Landauer: Aufruf %um Sozialismus, 1. vermehrte und verbesserte Auflage, Berlin 1919, S. 19. 4 ' ' Schmitz: Brevier für Unpolitische, S. 9. 50

D a s D i l e m m a des g e g e n w ä r t i g e n D e u t s c h l a n d ist d a m i t a u f g e z e i g t .

Der

W e g »zurück zur e i g e n e n Seele« bleibt allerdings k o n k r e t s c h w e r v o r s t e l l bar. D i e F o r d e r u n g ist identisch mit d e n apolitischen G e d a n k e n g ä n g e n , die s c h o n vor d e m E r s t e n W e l t k r i e g g a n g u n d g ä b e w a r e n - w a s S c h m i t z nicht w e i t e r a u f f i e l , e i n e m k l a r s i c h t i g e n K o n s e r v a t i v e n w i e T r o e l t s c h , der sich g e g e n die » k o n t e m p l a t i v e H a l t u n g zur G e s c h i c h t e « w a n d t e , die aus dieser H e r r s c h a f t der Seele e n t s p r i n g e n m u ß , j e d o c h u m so m e h r : Diese Dinge sind von unserer deutschen Historie unzweifelhaft vernachlässigt und mit übel angebrachter Antipathie behandelt worden, in der sich romantische Ueberheblichkeit und Gewöhnung an preußisch-militärische Stützung der Ordnung wunderlich verbunden haben. 141 D a s Z i e l , das e i n e m S c h m i t z in politicis d a n n v o r s c h w e b t , ist schlicht die nationale A u f g a b e n t e i l u n g : Nur in einem von England geführten, vereinigten Europa sehe ich die Möglichkeit, daß Deutschland doch noch einmal in die seinen Gaben entsprechende Stellung hineinwächst. Politisch sind diese Gaben nicht, das gibt heute jeder denkende Deutsche zu. Den Versuch, diesen Mangel wieder durch militärische Leistungen zu ersetzen, erträgt die Welt nicht länger.' 4 ' G r a f H e r m a n n K e y s e r l i n g k a m in seinen S c h r i f t e n aus dieser Z e i t zu d e n g l e i c h e n E r g e b n i s s e n . ' 4 4 T h o m a s M a n n sympathisierte mit s o l c h e n >Lösungen< v o r n e h m l i c h in der Z e i t k u r z n a c h d e m K r i e g : Mein Standpunkt ist der, daß der Welttriumph der demokratischen Civilisation auf politischem Gebiet eine Thatsache ist und daß folglich, wenn es sich um die Erhaltung des deutschen Geistes handeln soll, die Trennung des geistigen und nationalen Lebens vom politischen, die vollkommene Gleichgültigkeit des einen gegen das andere zu empfehlen ist. Die Tendenz meiner »Betrachtungen« richtet sich gegen die Verquickung beider Gebiete, gegen die »Politisierung« Deutschlands im Sinne der absoluten, auch geistigen Herrschaft des siegreichen demokratisch-civilisationellen Prinzips in Deutschland.' 4 ' 141 143 144

Troeltsch: Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik, S. 20. Schmitz: Das rätselhafte Deutschland, S. 'jji. V.a. in Deutschlands wahre politische Mission und Was uns not tut, was ich will, beide Darmstadt 1919. Vgl. aus ersterer Schrift etwa: »Fern davon, daß es mit Deutschland zu Ende sei, läßt sich fuglich behaupten: jetzt, wo seine äußere Größe zerschellt ist, [...] jetzt zum erstenmal seit den fernen Tagen der Reformation scheint es im höchsten Menschheitssinne zukunftsreich.« (S. 48) Im folgenden entwickelt er den Gedanken, die Welt werde künftig unter angelsächsisch-amerikanischer Führung existieren. Da diese, wie einst die römische Republik, aber »wesentlich geistlos« (S. 51) sei, käme den Deutschen die Aufgabe zu, die einst die Griechen innehatten. Z u Keyserlings »Bemühen um eine Kontinuität des Deutschen über den Krieg hinweg« vgl. Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman, S. 92-94, hier S. 93.

"" Tagebücher 1918-1921, S. 24f. Eintragung vom 5.10.1918. Vgl. auch die Eintragung vom 12.10.1918, S. 31.

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Insofern also Mann noch im Oktober 1918 auf der strikten Trennung der geistigen Sphäre, die den deutschen Menschen eigentlich ausmache, von der politischen Welt beharrt, kann er eine Kontinuität seiner Gedanken nach dem Krieg behaupten. Die Vorschläge, für die Schmitz noch weit in den zwanziger Jahren eintritt, bilden für Mann gewissermaßen eine Stufe zwischen der unpolitischen Haltung vor 1918 und der das Soziale integrierenden Humanitätsauffassung, die er sich mit Beginn der Weimarer Republik allmählich zu seiner Demokratievorstellung entwickelte. Gegen die Demokratie gerichtet sind noch die beiden Artikel, die Mann im Februar 1920 in der Zeitschrift Gewissen liest und mit dem Epitheton »vortrefflich« belegt.' 46 Friedrich von Oppeln-Bronikowski gibt sich als Gegner Erzbergers zu erkennen, der jedoch, das müsse man respektieren, zur Zeit »Deutschlands Diktator« ist. Denn »unter Blinden«, womit die Reichsregierung gemeint ist, »ist der Einäugige König.« Oppeln-Bronikowski plädiert für eine Regierung, die »aus den Berufsständen, nicht aus den Parteiparlamenten« hervorgehe. Deswegen sei der baldige »Rücktritt« der »Parlamentsmaschine« nötig, die ohnehin inzwischen keine Mehrheit mehr habe und der deswegen schon »nach den Grundsätzen, aus denen sie hervorging, die Legitimation« fehlt. Unter diesen Aussichten beurteilt er die Zukunft positiv. Denn »der Radikalismus ist im Abflauen« und die Erfüllung des Versailler Vertrages erweise sich immer deutlicher als »undurchführbar«. Moeller van den Bruck beschäftigt sich in seinem Artikel Unsere Entscheidung mit seiner alten Nationen-These, daß Rußland und Deutschland junge Völker seien, die schon deswegen gegen die alten (also die Westmächte England, Frankreich und Italien) zusammenstehen müßten. Diese Zweiteilung basiere auf natürlich gewachsenen »Weltanschauungsgegensät%e[n]«. Hier ist der Punkt erreicht, wo der Artikel Thomas Mann tiefer interessieren mußte. Denn zum einen leitet van den Bruck aus diesen Gegensätzen ab, daß in Deutschland, das schon geographisch eine Mittelstellung zwischen Ost und West einnehme, der russische Sozialismus eine »korporative Form« annehmen werde. 1920 wird Thomas Mann hier von einem Konservativen eine Form des Sozialismus nahegelegt, die nicht auf bedingungslose Gleichmacherei hinausläuft, und mit der er sich mithin arrangieren könnte: »Sozialismus in Deutschland ist Gliederung der Deutschen.«I47 Die 146

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»vortreffliche Artikel«, Eintragung vom 4.3.1920, S. 391. Die Artikel in der Wochenschrift, die weder der Tagebuch-Herausgeber de Mendelssohn noch Herbert Lehnert und E v a Wessell: Nihilismus der Menschenfreundlichkeit. Thomas Manns »Wandlung« und sein Essay Goethe und Tolstoi, Frankfurt am Main 1991 (= ThomasMann-Studien Bd.9) nachweisen konnten, sind: Arthur Moeller van den Bruck: Unsere Entscheidung; und Friedrich von Oppeln-Bronikowski: Zeitgedanken, beide in der Ausgabe vom 25.2.1920. Eine Idee, wie sie auch Oswald Spengler in Preußentum und Sozialismus (München 1919) vertrat.

Deutschen seien »von Natur auf Stände-, Schichten- und Gruppenbildung verwiesen.« Dahinter steht die Akzeptanz einer schicksalhaft gegebenen Aufgabe, die Politik nicht als »die Kunst des Möglichen begreift«, sondern zu dem Fazit gelangt: »Politik ist die Kunst des Notwendigen.« Die Vorgeprägtheit des Lebens bestimmt somit konstitutiv alle politischen Entscheidungen: Politische Entscheidungen müssen aus dem Genie einer Nation kommen, aus einer schöpferischen Uebereinstimmung aller handelnden Kräfte mit der zwangsläufigen Entwicklung, und aus der Ueberlegenheit des richtigen Augenblicks, der dann als Schicksal erfaßt wird.

Politik wird hier verstanden als bewußte Erfüllung des eigenen Schicksals, eine tiefe geistige Korrespondenz mit dem gegenüber der Wirklichkeit immer fatalistisch gesinnten Thomas Mann. Insofern dem deutschen Charakter hier zudem eine Eigenproblematik zugestanden wird, die allen anderen Völkern abgeht, kommt den Deutschen eine spezifische Rolle im Weltganzen zu: eine Position, die implizit Stellung nimmt gegen die Vergesellschaftlichung nach französischem Vorbild, wie sie auch Mann schon in den Betrachtungen eines Unpolitischen bekämpft hatte. Die politischen Visionen, die aus einem solchen deutschlandspezifischen Gedankenkosmos entstanden, erschöpften sich rasch und muten heute überlebt und belächelnswert an. Hartnäckig hingegen hielt sich deren geistig-theoretisches Fundament: der feste Glaube an die singuläre Eigenart deutscher >TiefeGebundensein< ihre eigentümliche Selbstexistenz, ihr Kreisen in sich selbst zu verlieren«.161 Dieser Prozeß einer Rückbindung ähnelt stark Thomas Manns Modell der rollenden Sphäre, über das sich das Gottesverständnis im Joseph-Roman definiert.'62 In seinem Essay Freud und die Zukunft (1929) behauptet Mann, um seine These von der gegenseitigen Abhängigkeit von Gott und Mensch zu stärken, daß »Religiosität gerade Gebundenheit« heiße (IX, 490). Hier findet sich die Schnittstelle, die den religiösen Bindungsgedanken innerhalb des Romankosmos auf die zeitgeschichtlichen Bestrebungen öffnet: ein ganzheitliches, sinnstiftendes Weltbild zu errichten, das zwischen den Sphären, höheren und niederen, wie es auch Kahler beabsichtigt, vermittelt. Daß diese Herleitung des Wortes >Religion< zwar gängig, nicht aber richtig ist, dessen belehrte ihn eine Abhandlung Karl Kerenyis erst 1936, dem Mann in einem Dankesbrief vom Oktober dieses Jahres erklärt, daß er »bei meiner >Deutung< des Wortes religio« ja auf die ziemlich kecke und geistlich wohl einigermaßen anstößige Definition des >Bundes< als einer wechselseitigen Hilfeleistung von Gott und Mensch zur Heiligwerdung hinauswollte, diesem Doppelprozeß, zu dem der Gott den Menschen ebenso nötig habe wie dieser ihn.' 6 ' 'umzudenkenAufregungen< nicht schon deshalb unterschätzen, weil die Lektüre Du Preis sich nicht über Wochen hinzog. Gerade bei einem selektiven Leser wie Thomas Mann kann schon die einmalige Lektüre die Schubkraft eines solchen Prozesses entscheidend stärken. Deutlich wird hier zumindest, daß es Mann unmöglich war, seine politische Meinung unabhängig von seiner philosophischen Weltsicht zu verändern. Sich politisch den Erfordernissen der Zeit anzupassen, sich mit demokratischem Gedankengut zu arrangieren und gesellschaftlichen Fragen zu öffnen, erforderte zuallererst, die philosophischen Leitlinien, nach denen Mann bisher sein Leben geformt hatte, zu revidieren. Ihnen ganz abzuschwören, wäre geistiger Selbstmord gewesen. Und so war das - nie abgeschlossene - Programm für die folgenden Jahre festgelegt: Neben den offiziellen politischen Verlautbarungen fand privat und vor der Öffentlichkeit geheimgehalten die eigentliche Diskussion statt, und diese kreiste immer nur um eines: um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen seiner philosophischen Herkunft in der neuen Zeit. In Joseph und seine Brüder gestaltet sich diese Auseinandersetzung als Roman.

Wege Der immer wieder konstatierte Gegensatz von Politik und metaphysischinnerlicher Sphäre verlangt nach versöhnlichen Lösungen. Die gab es auch in allen Schattierungen. Thomas Manns Konzept eines harmonischen Miteinander von Leben und Geist, wie es schließlich den Joseph-Roman prägen wird, ist nicht einsam gewachsen, sondern orientiert sich in Abgrenzung und Anlehnung an vielen Denkern seiner Zeit, die sich vor das gleiche Problem wie er gestellt sahen. Uberaus wichtig und in ihrer Bedeutung für Manns Humanitäts-Konzeption der zwanziger Jahre auch schon entsprechend beachtet ist seine Auseinandersetzung mit Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes. Zunächst war Mann geradezu rückhaltlos begeistert von dessen geschichtlicher Methode, mit der die Zusammenschau der ganzen Welt auf ein ihr zugrundeliegendes Prinzip des Werdens und Vergehens so umfassend gelingt, wie es sich ein Erich von Kahler wohl kaum hatte träumen lassen. Manns zeitweilige Erhebung Spenglers auf den Bedeutungs-Rang Schopenhauers ist bekannt. 2 ' 3 Was Mann an dessen Denken mehr begeistert als die Vgl. Tagebücher 1918—1921, S. 276, Eintragung vom 2.7.1919: »Ich weise die M ö g lichkeit immer weniger ab, daß Spenglers Buch in meinem Leben Epoche machen

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angebliche Objektivität in der Darstellung, die er rasch als illusorisch durchschaut, ist das »Gesinnungsmäßige [ ]«, das aus diesem Werk spricht, ganz jenseits vom »intellektuellen Apparat«. 214 Bemerkenswert hierbei, daß er diese Feststellung nicht bei Lektüre des Unterganges trifft, sondern als er Spenglers ultrareaktionäre Schrift Preußentum und Sozialismus"'' liest! Diese >gesinnungsmäßige< Begeisterung hält über ein halbes Jahr an, und nur recht langsam und zögernd wird er, zunächst in einem Gespräch mit dem Religionslehrer seiner Tochter Erika, Pfarrer Merz, gewahr, daß er mit seiner ursprünglichen Begeisterung, eben weil sie den »intellektuellen Apparat« nicht genug gewichtete, >gesinnungsmäßig< falsch lag. Seine bedingungslose Euphorie aber überdauerte zunächst auch negative Stellungnahmen zum Werk, so ein Gespräch mit Max Weber, der gegen Spengler »polemisierte« 2 ' 6 ebenso wie einen »unflätige[n] Ausfall gegen Spengler (>AasgeierW.a.W.u.V.Mythus< es in der Tat geschehen ist in dem Augenblick, wo unser Autor sich anschickt, >Nietzsche an Bachofen zu messenbedeutend< (XII, 659), kritisiert jedoch - ebenso wie bei Baeumler, dessen Bachofen-Einleitung er >groß< und >geistvoll< nennt (XI, 48) - die politische Tendenz, die mit seinen Thesen einhergeht. 1929 stellt er ihn, den »Wiederentdecker, Wiedererwecker Bachofens« (X, 262), auch in enge Verbindung mit »Spenglers Geschichtspessimismus« ( X , 262), insofern beide aus einer romantischen Tradition stammten, die die »Ohnmacht des Geistes« (X, 261) gegenüber der Tiefe des Lebens betone. Hier nun könne man, so Mann, das eigentümliche psychologische Zusammenfallen von Geistesunglauben und Geisteshaß [...] studieren. (X, 262)

Gegen die Identität beider Begriffe, die, glaubt man dem Klages-Anwalt Hans Kasdorff, bei Klages zu postulieren nur mit erheblichen Einschränkungen möglich wäre, 2 ' 0 tritt Mann an. Zwar weiß er, daß Klages nicht einfach mit dem aufkommenden Nationalsozialismus gleichgesetzt werden kann; indirekt gesteht er das auch 1931 noch ein: Wie Nietzsche, Hamsun, George, Klages, um nur ein paar große Feinde des >Geistes< und der >Zivilisation< zu nennen, - wie sie aussehen, wenn sie, zu ihrem " ' E b d . S. II2f. 1,0 Vgl. Hans Kasdorff: I^udwig Klages im Widerstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgeschichte von 189Ϊ-197;, Bonn 1975, S. 202-204 u n d S. 380.

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Erstaunen, auf dem Wege über konservative Monatsschriften ins Feuilleton der rüstungsindustriellen Presse gelangt sind und man dort konservative Revolution), mationale Revolution) mit ihnen anstellt, das wissen wir; nach letzter politischkultureller Reaktion, nach Volksverdummung, Volksverhetzung und Volksunterdrückung, nach Lüge, Mord und Krieg sehen sie aus, und man verleugnet nicht seine Liebe zu der kühnen Wendung, die in ihnen der Geist - er selbst - gegen den Geist genommen hat, wenn man diesem spiegelfechterischen Unfug zu steuern sucht (XII, 659).

Die Gefahr ist zu groß, als daß man geistig weiter mit solchen Gedanken liebäugeln könnte, auch wenn er, Mann selber, »in der und jener Jugenddichtung dieser Romantik schwermütig spielende Huldigungen dargebracht« (XII, 659) habe. Deswegen bekennt er sich 1931 in Die Wiedergeburt der Anständigkeit einer anderen Richtung zu, die die Versöhnung anstrebt: Freilich halte ich es heute lieber mit der überlegenen Kritik, die Max Scheler in seiner bewunderungswürdigen Schrift >Die Stellung des Menschen im Kosmos* an der »panromantischen Denkart über das Wesen des Menschen« übt, wie der bedeutende Klages und seine Schule sie vertreten (XII, 659).2,1

In der Tat ist wohl Scheler der bedeutendste >Vor-Denker< Thomas Manns, was die Suche nach einem Ausweg aus dem deutschen Dilemma angeht, nach einem Ausweg, der die politische mit der geistigen, die soziale mit der metaphysischen Welt versöhnen soll. Geist und Leben, das ist Schelers Postulat, dürfen nicht mehr als einander ausschließende Sphären betrachtet werden. Das ist es, was auch Thomas Mann fordert. Er [..] glaube mit Scheler, daß Geist und Leben »aufeinander hingeordnet« sind, und daß es ein Grundirrtum ist, sie in ursprünglicher Feindschaft oder in einem Kampfzustande zu denken. (XII, 659)

Der neue Weg wird zwar in bewußter Distanz zu den Einsichten von Ludwig Klages vollzogen. Jedoch gesteht Mann ihnen, und hier zeigt sich wieder seine eigentliche Affinität zu romantischer Apolitizität, »in der Sphäre reiner Erkenntnis« (XII, 659) durchaus zu, »echte Revolution« zu sein, »weil sie [...] einem vertieften Wissen vom Menschen und also der Wahrheit dient« (XII, 659). Für den metaphysischen Romantiker klafft der Konflikt zwischen Geist und Leben, reiner Erkenntnis und Politik immer wieder auf. Eine ähnliche Richtung schlug auch schon Oscar Α. H. Schmitz 1923 ein, als er in einem Aufsatz mit dem Titel Die Polarität von Logos und Eros eben dieses »Verhältnis zwischen Geist und Leben oder Logos und Eros« 2 ' 2 behandelt. Auch er tut dies, indem er sich von der Gedankenwelt 2J

' Zum Verhältnis zwischen Klages und Scheler vgl. weiterführend Michael Großheim: Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, S. 158-172. 2,2 Schmitz: Brevier für Unpolitische, S. 527. 75

Klages' absetzt, obwohl er dessen Buch Der kosmogonische Eros, auf das er sich bezieht, höchstes Lob zollt. 2 " Aber er schränkt es darauf sogleich ein, denn das Ergebnis von Klages sei nichts weniger, als die heitere Klarheit der Erlösung jenseits der Polarität der Erscheinungen durch Erfassung ihrer Einheit im Sinn, sondern ein verzweifelter, gänzlich unfruchtbarer Pessimismus, der sehnsüchtig einem erloschenen Zeitalter nachweint [...]*54

Bei Klages, der »das goldene Zeitalter« in »den pelasgischen Urstämmen« findet, wird der Logos »zur weltzerstörenden Macht, die in diesem mechanisierten Zeitalter den entscheidenden Sieg über das Leben davongetragen habe.« 2 " Statt jedoch dieser »Phobie des Autors vor den Worten Logos und Geist« 2 ' 6 zu huldigen, sei es vonnöten, auf die Aufhebung jenes von Klages gezeichneten Konfliktes hinzuwirken. Jedoch: So will Klages nichts hören von Katharsis und Erlösung, um so mehr aber von der Ekstase, die er trefflich bezeichnet als eine Befreiung der Seele vom Intellekt, nicht vom Leib, in dem allein diese erscheinen kann. 1 ' 7

Solche Positionen waren auch Mann gut bekannt, und wenn er, wie auch Schmitz und Troeltsch, Kritik an solchen falschen Folgerungen aus der geschichtlichen Tradition übt, dann tut er das weniger aus grundsätzlicher Verneinung dieser Gedanken, als vielmehr aus dem fast volkspädagogisch zu nennenden Impetus, die verheerenden Folgen solcher >Geschichtsphilosophie< in ihrer trivialisierten Form verhindern zu wollen. Seine allmählich gewonnene Einsicht, daß geistige und politische Sphäre nicht getrennt werden können, so wie er es noch zur Zeit nach dem Erscheinen der Betrachtungen eines Unpolitischen gefordert hatte, veranlaßt ihn, diesen intellektuell strengen Weg zu verlassen. Etwas kann, wie Schmitz formuliert, »Logosleistung ersten Ranges« sein, und dennoch falsch. Das führt zu dem hübschen Paradox, daß der strenge Geist hinfort immer nur noch >aufgeweicht< von den Lebensinteressen, das heißt aber auch, ideologisch manipuliert, erscheint - und zwar, gerade um der ideologischen Manipulation, der »Klages und seine Schule« Vorschub leisten, zu entgegnen. Fortan wird diese unauflösbare Dissonanz Thomas Manns Denken begleiten. Scheler, dessen Schrift Die Stellung des Menschen im Kosmos 1927 erstmals erschien, 2 ' 8 lieferte Mann das geistige Rüstzeug, seinen guten Willen zur »Der Niederschlag dieser Erkenntnis ist eine Logosleistung ersten Ranges.« (Ebd. S. 328) 1)4 Ebd. S. 330. !J > Ebd. S. 33of. 1,6 Ebd. Ebd. S. 335. !j! In dem Jahrbuch Der Leuchter, als Buch 1928. Vgl. zum Scheler-Einfluß, gerade

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festen Überzeugung umformen zu können. Schelers These, »Geist und Leben sind aufeinander hingeordnet«.,1,9 bestätigt den zur gleichen Zeit in der Höllenfahrt erzählerisch erarbeiteten kreativen Dualismus auf theoretischer Ebene fast hundertprozentig. Auch Scheler nimmt Stellung gegen Klages, dessen Geist sich a priori in einem »Kampfzustande« 240 mit dem Leben befände. Hingegen behauptet er: Die gegenseitige Durchdringung des ursprünglich ohnmächtigen Geistes und des ursprünglich dämonischen, d.h. gegenüber allen geistigen Ideen und Werten blinden Dranges durch die werdende Ideierung und Vergeistigung der Drangsale, die hinter den Bildern der Dinge stehen, und die gleichzeitige Ermächtigung, d.h. Verlebendigung des Geistes ist das Ziel und Ende endlichen Seins und Geschehens 24 '.

Hier ist ein dialektisches Prinzip formuliert, das, setzt man es ästhetisch in eine Lebenspraxis um, auf das Handlungsmovens verweist, das den JosephRoman strukturiert: Geist und Wollen des Menschen kann nie mehr bedeuten als »Leitung« und »Lenkung«. Und das bedeutet immer nur, daß der Geist als solcher den Triebmächten Ideen vorhält, und das Wollen den Triebimpulsen - die schon vorhanden sein müssen - solche Vorstellungen zuwendet oder entzieht, die die Verwirklichung dieser Ideen konkretisieren können/ 42

In foseph und seine Brüder erscheint dieser Zusammenhang als Amalgam von Mythos (metaphysischer Grundstruktur von Welt) und Psychologie (individuellem Charakter). Wenn die Figuren des Mann'schen Romans, zumindest die geistig höherstehenden, also Eliezer, Jaakob und Joseph, ihr Sein auf ein mythisches Muster beziehen und ihre psychologisch motivierten Antriebe im steten Hinblick auf ein geistiges Ziel umsetzen, dann tun sie nichts anderes, als das, was Scheler als idealisches Funktionsprinzip der »MenschengtfjYviwA/tf«24' beschreibt. Für Thomas Mann ist die Hinwendung zur neuen Staatsform untrennbar verbunden mit grundsätzlichen, philosophisch-weltanschaulichen Fragen. Daraus folgt, daß politische Fragen sich für ihn nicht an der Oberfläche gesellschaftlicher Empirie erschöpfen. Das aber wiederum bedeutet, daß er Politik künftig - seit dem Ersten Weltkrieg - ernst nehmen muß: Politik erstreckt sich bis in tief geistige Gefilde; mit dem Wort Demokratie ist immer zugleich auch der Bogen gespannt zur Frage nach der Möglichkeit

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auch hinsichtlich des Joseph-Romans, Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder«, Köln/Wien 1971, S. 15-20. Max Scheler: Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947, S. 80. Ebd. S. 78. Ebd. S. 65. Ebd. S. 63. Ebd.

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von Metaphysik, zu >letzten Fragen< wie denen nach der Freiheit und der Determiniertheit des Menschen in seiner Welt, mithin zur Frage nach der Bestimmung des Menschen schlechthin. Daß auch in einer Demokratie diese Bestimmung sich nicht im Sozialen erschöpfen kann, war die Prämisse, die es Mann überhaupt erst möglich machte, sich der Demokratie anzunähern. Daß sie den Blick auf letzte Dinge unter der Ägide der Humanität durchaus freiläßt, war eine Erkenntnis, die ihm Romantiker und Neu-Romantiker wie Novalis und Whitman zu formulieren halfen. Damit schlug Mann einen Weg ein, der sich von dem Stefan Georges und seiner Gefolgsleute, insbesondere Ernst Bertrams, schon in seinem zwischen Geist und Leben versöhnenden Leitbegriff der Humanität grundlegend unterschied, einen Weg, den er in Begleitung von Denkern wie Oscar Α. H. Schmitz, Erich von Kahler, Ernst Troeltsch und Max Scheler ging. Ihnen war gemeinsam, daß sie allesamt versuchten, einen Weg in die Zukunft zu finden und ihrem romantischen, also deutsch-innerlichen, metaphysisch-individualistischen Lebensverständnis treu zu bleiben. Da auf diesem Weg stets die Gefahr reaktionärer Geistfeindlichkeit lauerte, die um einer urtümlichen Lebenserfülltheit willen alle kulturellen Errungenschaften der letzten Jahrhunderte ganz zu verleugnen bereit war, versuchte Mann sich gleichzeitig gegen diese barbarischen Tendenzen zu wappnen. Als herausragende Vertreter dieser irregeleiteten Romantik, von denen es sich abzugrenzen galt, erschienen ihm hierbei neben Ludwig Klages auch Oswald Spengler sowie Alfred Baeumler. Allein schon, daß er von den beiden zuletzt Genannten anfänglich begeistert war, zeigt, wie eng die Affinitäten zwischen seiner geistigen Herkunft und der späterhin von den Nationalsozialisten okkupierten Tradition sind. Was Thomas Mann dieser ursprünglichen Ähnlichkeit bis zuletzt entgegensetzte, war ein dialektisch zu verstehender Prozeß: Die stete Arbeit an der Versöhnung von Geist und Leben sollte antreten gegen die simplifizierende Einseitigkeit, die notwendig in die Katastrophe führen muß. Die Formel >Geist und Lebensei< oder ihn nur >bedeuteDies ist mein Blut< und dem >Dies bedeutet mein Blut< praktisch< aufgehoben (IV, 669). Die Textstelle spielt auf das Marburger Religionsgespräch von 1 ; 29 an und damit auf die politische, praktische Bedeutung, die Symbolinterpretationen auch in der historischen Wirklichkeit zur Folge haben können.« {Ägypten im Bedeutungssystem des Josephromans. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 9 3 - 1 1 1 , hier S. 108.)

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Jede Weihnacht wieder wird das welterrettende Wiegenkind zur Erde geboren, das bestimmt ist, zu leiden, zu sterben und aufzufahren. Und wenn Joseph zu Sichern oder Beth-Lahama um die Mitsommerzeit [...] den Mordtod des >vermißten SohnesIch bin Karl der Große.< Wohl gemerkt — nicht etwa: >Ich erinnere an ihn< [...]; sondern einfach: >Ich bin's Λ Das ist die Formel des Mythus.« (ebd.; vgl. auch X , 755)· Mythisches Bewußtsein wird hier explizit als geschichtsträchtig dargestellt. Auch Fritz Kaufmann argumentiert in seinem Buch Thomas Mann. Die Welt als Wille und Vorstellung (erschienen auf englisch: Thomas Mann. The World as Will and Representation, Boston 1957) für diese mythische Dimension des Seins. In seinem - deutschsprachigen - TyposkriptExemplar (Thomas-Mann-Archiv Zürich, im folgenden TMA) hat sich Mann angestrichen: »Es zeigt sich, hier wie bei Kafka, Joyce u.a., daß auch im modernen Menschen ursprüngliche, mythenbildende Kräfte wach sind. Sie können die Grundierung für eine feine, kritische, ja skeptische Geistigkeit abgeben und zu einer Symbolik eigenen Stiles fuhren, die ein selbständiges Recht neben den Begriffssymbolen wissenschaftlichen Denkens behält. Zugleich erwächst aus diesem Zusammenspiel moderner Intellektualität und mythischer Phantasie ein Neues: der heitere Zauber einer Mythisierung des Wissenschaftlichen«. 88

Von diesem Dreischritt aus gewinnen auch die politischen Bestrebungen Abrahams eine neue Bedeutung, die sie nicht nur singular existent sein lassen; sie erhalten über ihre zeitliche Erscheinung hinaus modellhaften Charakter fur die Gegenwart: Ohne politische Tatkraft kann der Geist, der sich im Roman als Gottessuche gestaltet, nie wirklich werden. Aber ebenso gilt umgekehrt: Allein das geistige Motiv, das Abrahams Handeln leitet, rechtfertigt seine gesellschaftlichen Ambitionen, die ihn sich Nimrod entgegenstellen und einen eigenen Volksstamm gründen lassen. Politik soll hinwirken auf die Möglichkeit zu freier Geistesentfaltung. Das sei ihre Aufgabe, auch heute noch.

Der Mensch zwischen Zeitlichkeit und Zeitlosigkeit Unsere Aufmerksamkeit hat allererst dem Umstand gegolten, daß Politisches überhaupt erscheint. Um nun seinen Aussagewert beurteilen zu können, muß es eingegliedert werden in den Zusammenhang der übergeordneten Erzählabsicht der Höllenfahrt, den Abstieg des Erzählers in den »Brunnen der Vergangenheit«. Dabei stellt sich zunächst die Frage, was es für die Romanfiguren bedeutet, in einer mythisch-zeitlosen Welt zu leben. Ist Zeitlosigkeit nicht identisch mit GeschichtslosigkeitP Läßt das Leben im Mythos überhaupt Veränderung, Entwicklung und damit politisches Bewußtsein zu? Darauf reagiert der Erzähler auf zweierlei Weise. Die rhetorische Eingangsfrage, ob man den »Brunnen der Vergangenheit [...] nicht unergründlich nennen« (IV, 9) solle, beantwortet er positiv. Daran knüpft er jedoch eine Betrachtung, die um Joseph kreist und den zeitlichen Untiefen einen Halt entgegensetzt: So gibt es Anfänge bedingter Art, welche den Ur-Beginn der besonderen Uberlieferung einer bestimmten Gemeinschaft, Volkheit oder Glaubensfamilie praktisch-tatsächlich bilden, so daß die Erinnerung, wenn auch wohl belehrt darüber, daß die Brunnenteufe damit keineswegs ernstlich als ausgepeilt gelten kann, sich bei solchem Ur denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstande kommen mag. Der junge Joseph zum Beispiel, Jaakobs Sohn [...] (IV, 9f.)

>Praktisch-Tatsächliches< und >Persönlich-Geschichtliches< bilden den Gegenpol zur allgemeinen Unergründlichkeit der Menschheitsgeschichte. Joseph wird eingebettet in die >nationale< Tradition »einer bestimmten Gemeinschaft«. Diese kann ihm zwar keinen Aufschluß geben über den Urgrund der Geschichte, jedoch bildet ihr begrenzter Rahmen seine individuelle Welt, in der er »den Anfang aller, das heißt: seiner persönlichen Dinge« (IV, 11) erblickt. 89

Der nationale Rahmen Josephs hat seinen Ursprung im Auszug des Urvaters Abraham aus Chaldäa. Diesem wird jedoch das übernational Menschheitliche zur Seite gestellt: Wo liegen die Anfangsgründe der menschlichen Gesittung? Wie alt ist diese? Wir fragen so in Hinsicht auf den fernen Joseph, dessen Entwicklungsstufe sich, abgesehen von kleinen träumerischen Ungenauigkeiten, über die wir freundschaftlich lächeln, von der unsrigen schon nicht mehr wesentlich unterschied. Diese Frage aber braucht nur gestellt zu werden, damit das Gebiet der Dünenkulissen sich äffend eröffne. (IV, 25)

Schon auf der ersten Seite der Höllenfahrt stand die Metaphorik der Dünenkulissen für die zeitlose, unmeßbare Welt. In ihnen, heißt es da, verliere sich ein »Küstengänger« wie der Erzähler im »Unerforschliche[n]« (IV, 9) der Geschichte. Hier wird dieses Bild wieder aufgegriffen, und zwar, wie der Blick auf den Stammesursprung zeigt, abermals »in Hinsicht auf [...] Joseph«. Neben dem individuell-überschaubaren eröffnet der Erzähler hier ein zweites Zeitbezugssystem. Den »Anfangsgründe [n] der menschlichen Gesittung« spürt er nach, indem er erst die Geschichte der Schreibkunst verfolgt, dann die Uberlieferung der Sintflut, des Großen Turmes und schließlich des Paradieses. Ergebnis wird sein, daß jede Suche nach verbindlichen Ursprüngen in der Zeit »das beschwichtigende Gepräge des Müßigen« (IV, 37) trägt, denn letztlich verliert man sich doch im Unendlichen. So stehen neben den Fragen des Individuums nach seiner persönlichen Herkunft die allgemein menschheitlichen Fragen, die in die Urgründe der Zeitlosigkeit führen. Der Mensch ist in beiden Zeitbezugssystemen zuhause. Das eine festigt seine Identität, das andere macht ihn zum Suchenden. Der Erzähler gibt dem menschlichen Dasein Sinn, indem er es in beide Systeme einbindet. Die Folgen dieser doppelten Verankerung will ich an den Beispielen des Großen Turmes und des Paradieses erläutern. Das sechste Kapitel der Höllenfahrt beschäftigt sich mit der Geschichte »des Großen Turmes« (IV, 33). Der Große Turm, das ist die feststehende Formel eines »bis an den Himmel ragenden Bauwerks von Menschenhand« (IV, 33). Für Joseph ist der Große Turm identisch mit dem »Sonnen-Tempelturm von Babel, genannt Esagila oder Haus der Haupterhebung« (IV, 33). Er versinnbildlicht zunächst einmal eine in den Bereich des Mythischen gerückte Vergangenheit, denn in der Erinnerung der Völker steht er schon immer. Diese allgemein menschheitliche Bedeutung, die in zeitlose Urtiefen weist, gewinnt nun einen besonderen Akzent dadurch, daß sie sich über Josephs Stammesherkunft mit seiner persönlichen Geschichte verknüpft. Denn historisch symbolisiert der Turm dem Abrahamssprößling Joseph die völkischen »Sammlungsabsichten« (IV, 33) seines Erbauers, des Königs 90

Chammuragasch. Der habe die Spitzen der Burgtürme »hoch gemacht, um das zerfahren auseinanderstrebende Volk unter seiner, des Gesandten, Herrschaft >wieder zusammenzubringen^« (IV, 53) Daran hatte aber einst Abraham Anstoß genommen, weil das eigentliche Ansinnen des Herrschers eine weltliche Machtdemonstration und als solche eine säkulare Anmaßung des Göttlichen gewesen war. Deswegen war Abraham aus dem Land des Nimrod-Königs ausgezogen. Dieses Ereignis fügt dem überpersönlich-zeitlosen Symbol eine persönlich-historische Bedeutung bei, und erst aus dieser entsteht der individuelle Sinn des mythischen Symbols: Daß in Josephs besonderer Welt die Turm-Märe sich mit weiteren und eigentlich unzugehörigen Vorstellungen, mit der Idee der >Zerstreuung< etwa, verband, ist allein aus des Mondmannes persönlichem Verhalten, seiner Argernisnahme und Auswanderung zu erklären (IV, 35).

Erst Josephs persönliche Tradition füllt das Symbol des Zeitlosen mit einem Bezug zum Leben. Aus einem überindividuellen Muster wird ein den Menschen zum Handeln anleitendes Symbol: dadurch gewann in Josephs Heimat das Vergangene, das in Gestalt Esagila's gegenwärtig war, einen Einschlag des Zukünftigen und der Prophetie: Ein Gericht schwebte über dem himmelan getürmten Trotzmal von Nimrods Königsvermessenheit; kein Ziegel sollte davon auf dem anderen bleiben und seine Erbauer verwirrt und zerstreut werden vom Herrn der Götter. So lehrte der alte Eliezer es den Sohn Jaakobs und wahrte so den Doppelsinn des >Einstphysisch< nie erreichen, und dennoch bestimmen sie sein überzeitliches Bezugssystem. Zeitlich kann er allenfalls vordringen zur »lemurischen Welt« (IV, 38). Die jedoch »war der >Garten in Eden< nicht, es war die Hölle. Vielmehr es war der erste, verfluchte Zustand nach dem Fall.« (IV, 38) Und sich in dieser Welt wiederzuerkennen würde »der hübsche und schöne Joseph sich mit begreiflichster Entrüstung geweigert haben« (IV, 38). Indem der Erzähler sich Joseph zuwendet, kommt wieder die persönlich historische Zeitebene ins Spiel. Der Vergleich zwischen Joseph und den lemurischen Urtieren macht kenntlich, daß der Mensch, wiewohl sein Wesen zeitlosen Ursprungs ist, auf zeitlicher Ebene dem Fortschritt zugänglich ist: Gerade daß seine metaphysische Herkunft ihm ein Ideal vorgibt, befähigt ihn überhaupt erst, sich diesem zu nähern. Dieser Gedanke war in seinen Anfängen schon in unserem ersten Unterkapitel sichtbar geworden: E s handelt sich um die Aufteilung des Menschenwesens in sein natürliches und sein übernatürliches Dasein. Sinnvoll und deswegen beachtenswert wurde menschliches Leben immer erst dann, wenn das natürliche Leben danach strebte, das Geistige zu fördern. Hier nun kann dieser Gedanke erweitert werden: Das (physische) Leben bezieht sich in seiner ganzen Existenz auf einen metaphysischen Urgrund. Und umgekehrt gilt: Dieser metaphysische Urgrund bildet die Handlungs- und Orientierungsgrundlage des gesamten (physischen) Lebens. Kehren wir nun zurück zur Ausgangsfrage dieses Kapitels, wie denn Politisches in einer mythisch erfahrenen Welt überhaupt möglich sein könne, so können wir feststellen: Der Erzähler antwortet auf diese Frage, indem er die Erfahrungswelt des Menschen zweiteilt. Das Wesen des Menschen ist nur metaphysisch zu fassen, gleichzeitig erscheint und handelt der Mensch jedoch physisch. Das Paradies als ihm denkbarer Idealzustand ist ihm als Aufgabe gegeben. Wenn Abraham politisch handelt, indem er sich Nimrod entgegenstellt, so füllt er den allgemeinen überpersönlichen Mythos individuell aus. Was metaphysisch erforderlich ist, bedarf der persönlichen Ausgestaltung, um sinnerfüllt zu werden.

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Romantische Metaphysik und modernes Fortschrittsdenken Thomas Mann läßt im Joseph-Roman eine Welt erstehen, in der Politik als ein Vorgang erscheint, der auf eine metaphysische Welterklärung gerichtet ist. Die mythische Welt, mittels derer der Mensch metaphysischen Ursinnes habhaft wird, empfiehlt er wiederholt dem Leser an. So stellt sich die Frage, ob Metaphysik und die Weltanschauung des 20. Jahrhunderts einander vertragen. Ihre Beantwortung müßte Aufschluß geben über seine Bedeutsamkeit für die unmittelbare Gegenwart. Aufschlußreich in diesem Zusammenhang ist Edgar Dacques Buch Urwelt, Sage und Menschheit,9 das Thomas Mann für sein historisches Zurückschreiten in der Höllenfahrt zu Rate gezogen hat. 10 E s handelt sich dabei um einen ganz und gar zeittypisch-spekulativen Versuch, sich mittels naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu einem ganzheitlichen Welt- und Menschenbild wieder durchzuringen: ein Versuch, dem heutzutage, wie Eckhard Heftrich zu Recht schreibt, kaum mehr Bedeutung beizumessen wäre, hätte es Thomas Mann nicht als zeitwichtig empfunden. 11 Dacque versucht, mittels einer kritisch-empirischen Auswertung »naturhistorischer« Forschungen die Welt auf ihren immerseienden metaphysischen Urgrund zurückzuführen. Dabei sind ihm die Frage nach dem Anfang des Menschenwesens und die Frage nach der Bedeutung der Sintflut besonders wichtig. So macht Dacque den Versuch, den Menschen genealogisch auf Urtiere zurückzuführen, die äußerlich nicht mehr die geringste Ähnlichkeit mit dem heutigen Menschen haben. Erkennbar geht es Dacque darum, in der Rückverfolgung naturhistorischer Entwicklungsphasen der Menschheit seine These vom Schon-immer-Sein des Menschen zu begründen. Der Erzähler übersetzt das humoristisch dahin, daß man den Menschen »in verschiedenen zoologischen Modetrachten, amphibischen und reptilischen« (IV, 28), wiederzuerkennen habe. Mit Dacque beruft sich der Erzähler auf naturwissenschaftliche Forschungen seiner Zeit. Aber gerade indem er das tut, stellt er sie radikal in Frage: nicht in ihrem objektiven Wahrheitsanspruch, sondern in ihrem positivistischen Glauben an den Aussagewert ihrer Resultate. »Die Experten der Erdgeschichte«, die »das Alter der Menschenspezies auf fünfhundert9

Edgar Dacque: Urwelt, Sage und Menschheit. Eine naturhistorisch-metaphysische Studie, München 1924. 10 Thomas Mann selber hat den großen Einfluß Dacques auf das Vorspiel in einem Brief an Emil Preetorius hervorgehoben. Vgl. Briefe III, S. 31, Brief vom 24.4.1948. Bei Manfred Dierks: Studien ^u Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, S. 62-67 u · S. 8 1 - 8 5 , eine quellenphilologisch gründliche Untersuchung dieses Werks. " Vgl. Eckhard Heftrich: Geträumte Taten, S. 489f.

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tausend Jahre« (IV, 28) veranschlagen, hätten »knapp gerechnet« - als Argument führt der Erzähler Dacques These vom Menschen in amphibischer oder reptilischer Form an. Indem er solchermaßen spielerisch über Jahrtausende und Jahrhunderttausende verfügt, vermag er den metaphysisch-zeitlosen Grund des Menschen wiederzuentdecken. Mit der naturwissenschaftlichen Metaperspektive, die Mann von Dacque übernimmt und in seinen Roman integriert - die »Geschichte der Flut«, die Geschichte »des Großen Turms« (IV, 33), die Suche nach dem Anfang des Menschen und die nach dem Paradies - gelingt es ihm (was auch das implizite Ziel von Dacques Lehre ist), die Bindung an den Ursprung wiederherzustellen. Uber die moderne Wissenschaft erhält er Zugang zur Metaphysik. 12 Das Programm zur Wiedergewinnung des Verlorenen faßt Dacque so zusammen: So mag es das hohe, wenn auch unbewußte und sicherlich meistens noch uneingestandene Ziel unserer Wissenschaft sein, zu dem sie vermöge des inneren Lebens unseres Geistes hintreibt: daß wir nicht mehr so sehr daran denken werden, die äußere Stoffanhäufung fortzusetzen, die äußere Beziehung und Aufeinanderfolge der Erscheinungen darzustellen, als symbolhaft den großen Gedankenbau abendländischer Forschung wie eine abgemessene Säulenhalle hinzustellen, in der alle, aber auch alle Säulen miteinander das Dach tragen, unter dem sich unser Gottsuchen ergeht.''

Daß wissenschaftlicher Fortschritt nur noch pure »Stoffanhäufung« sei, die dem Eigentlichen der Welt gar nicht mehr beizukommen vermöge, ist eine Idee, der für das Verständnis der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts eine Schlüsselrolle zukommt. Seit dem Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts wurde sie politisch relevant, weil sie das Selbstverständnis weiter konservativer Kreise prägte, die sich damit einer nur noch materialistisch denkenden Welt entgegenzustemmen suchten. So bildet diese Gegenwartskritik, um nur wenige prominente Beispiele zu nennen, ein zentrales Element vom George-Kreis bis zum Ring-Kreis und Juni-Klub um Arthur Moeller van den Bruck und Heinrich von Gleichen; literarisch schlug sie sich nicht nur nieder in Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen, sondern auch in der radikalen Zivilisationskritik von Gottfried Benn. Diese Weltsicht ist, wenn auch verhüllt in esoterischem Gewand, in Hofmannsthals Werk verwoben, und noch Robert Musil zollt der Skepsis vor dem wissenschaftsgläubigen Zeitalter seinen Tribut, wenn er dem ironisch Tatsachen häufenden ersten Kapitel seines großen Romans die Uberschrift Woraus bemerkenswerterweise nichts hervorgeht voranstellt.

" V g l . Dierks S. 8jf. '» Dacque S. i8f. 95

Bei Dacque geht aber - bemerkenswerterweise - etwas daraus hervor. Er wertet diese »Stoffanhäufung« nicht rein negativ. Zwar ist sie für ihn nicht Selbstzweck, was er der Moderne vorwirft, jedoch kann sie prinzipiell nützlich sein. Das entspricht Thomas Manns Umgang mit >wissenschaftlichen< Erkenntnissen in der Höllenfahrt. Wissenschaft dient Thomas Mann zur Erkenntnis dessen, was hinter den Erscheinungen ist. Das gelingt ihm, indem er sie im Dacque'schen Sinne sichtend abschreitet.'4 Hinter ihr und durch sie offenbart sich die Qualität, die Dacque nur dem frühzeitlichen Menschentypus attestierte: die unmittelbare Beziehung zum Transzendenten. Die positivistische Manier der modernen Wissenschaft wird ironisch gebrochen: Ihre Erkenntnisse dementieren ihren eigenen Anspruch, Endzweck und selber sinnstiftend zu sein. Im Roman erscheint die moderne Fortschrittswelt nicht mehr als der metaphysischen Welt entgegengesetzt. Die wissenschaftliche Methode gilt als historische Station auf dem Weg, eigentliches Seinsverständnis wiederzuerlangen. Das siebente Kapitel der Höllenfahrt, das mit der geschichtlichen Uberschau schließt (daran knüpft sich dann der »Roman der Seele«), kommt zu dem kryptischen Fazit: Die Geschichte des Menschen ist älter als die materielle Welt, die seines Willens Werk ist, älter als das Leben, das auf seinem Willen steht. (IV, 39)

Ein direktes Pendant zu dieser These findet sich bei Dacque: 1 ' Das älteste Menschenwerden spielte sich in einem für unser Leben und Verstehen längst transzendent gewordenen Zustand ab, der zuerst nicht unbedingt an eine Körperlichkeit im streng sichtbar physischen Sinn geknüpft zu sein brauchte. Im Menschenwesen lag zuvor mit beschlossen das Dämonische, Lichtes sowohl wie 14

Sogar der berühmte Eingangssatz des Romans, »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit« (IV, 9), läßt sich auf Dacque zurückführen. Den ersten Teil seiner Einführung in Urwelt, Sage und Menschheit beschließt er mit der Feststellung, daß die bisherige »abendländische Forschung« mit der »Herausarbeitung des Stoffes allein leben konnte«. Das heißt: Sie war neuzeitlich-positivistisch um die Erkenntnis der äußeren Welt bemüht. Daran knüpft er die Prognose, dies sei nicht »ein Endzustand und vielleicht eine Art Befreiung gewesen, sondern es war der Vorbereitungsdienst zu einem aus dieser Wissenschaft eben doch allmählich erwachsenden Priestertum, das [...] die Brunnen der Tiefe öffnen« werde (Dacque S. 19, kursiv von mir, DW). Der erste Satz von foseph und seine Brüder hat insofern programmatischen Charakter: Die Auslotung des Brunnens der Vergangenheit zielt darauf, die Welt des Immerseienden wiederzufinden: Diese Stufe eigentlicher Welterkenntnis soll nicht auf einem der modernen Wissenschaft entgegengesetzten Weg zurückgewonnen werden, sondern indem ihre Erkenntnisse miteinbezogen werden.

'' Gegen Dierks S. 84f., der diese Stelle nur indirekt, über die »Metaphysik Schopenhauers«, mit Dacque vermittelt. 96

Düsteres. Die düstere Seite begann sich zu regen; es trat in seinem Geist ein erstes Aufleuchten tierisch-physischen Bewußtseins ein - das Flüstern der Schlange, die um den Lebensbaum gewunden war. Der Sündenfall und die Vertreibung aus dem Paradies geschah. Dies kann daher nichts anderes gewesen sein als die physischkörperliche Auswirkung und Umgestaltung des Menschenwesens aus jener transzendenten seelisch-geistigen Veränderung heraus.' 6

Damit ist der fließende Übergang vom Metaphysischen zum Historischen vollzogen, und dieses als Auswuchs von jenem gekennzeichnet. Gleichzeitig bestimmt Dacque so auch die Aufgabe der modernen Wissenschaft neu: Es geht darum, über die Erkenntnis der »physisch-körperliche[n]« Welt zu ihrem »seelisch-geistigen« Ursprung zurückzufinden. Dieses Ziel steht im Gegensatz zu einem positivistisch-materialistischen Wissenschafts-Verständnis. Es kann mit Hilfe der Wissenschaft erreicht werden, indem sie ein Panorama von Welteinsichten schafft, die in ihrer Gesamtheit auf metaphysische Welterfahrung zurückfuhren. Der Ausgang von Dacques neoromantischer Naturphilosophie ist »die Unterscheidung von fest gegebenen Grundtypen einerseits und biologischem Gewand andererseits, das ihnen zeitweise und wechselnd übergeworfen ist«.17 Der Typus bezeichnet das Immerseiende, das Gewand die ihm untergeordnete ephemere Erscheinungsform. Wenn die Entwicklung des Menschen sich morphologisch als Abfolge verschiedener Gewandungen ein und desselben Typus darstellt, so muß als Aufgabe einer sinnstiftenden Wissenschaft gelten, diesen Typus herauszukristallisieren, damit der moderne, dem Urzustand entfremdete Mensch sich ihm wieder annähern könne. Fortschritt in der Wissenschaft dient der Erkenntnis der Erscheinungswelt allein im Interesse, das schon immer Seiende wiederzufinden, sich rückzubesinnen auf die urmenschliche Anlage im Typus. Weil dieser Ursprung des Menschen, wie wir gesehen hatten, schon vor seiner eigentlichen Erscheinung liegt, hat er metaphysischen Charakter. Die Fortschrittsidee, die Thomas Mann, von Edgar Dacque inspiriert, in der Höllenfahrt entwickelt, orientiert sich an einer Welt, die er primär als metaphysische begreift. Auch wenn der Erzähler das »Gewand« scherzhaft als zoologische Modetracht< bezeichnet, ist er doch weit davon entfernt, Dacques Theorie ablehnen zu wollen, zumal er von Dacque selber, der als gemeinsamen Grund von Wissenschaft und Kunst die Kraft des Schauens nennt, auch die Rechtfertigung für die ästhetische Umgestaltung von dessen Thesen erhält:

' 6 Dacque S. 263. " Ebd. S. 57.

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Ohne auf wirkliche innere Anschauung gegründete >Phantasie< läßt sich ja überhaupt keine Wissenschaft treiben, keine chemische Synthese machen, keine in die Vorweltzustände eindringende Kombination allergewöhnlichster Art. Schließlich kommt eben doch auch in der Wissenschaft der Seher zu seinem Recht; denn er kennt die Quelle alles Wissens: das Schauen.' 8

Dacque betreibt Methodenforschung: Jeder nachweisbaren These stehe immer eine Hypothese voran. Eine solche müsse immer intuitiv erahnt werden. Das Ahnen steht somit am Beginn jeder Wissenschaft. Jeder wahre Wissenschafder ist insofern ein »Seher«. Im folgenden kehrt er diesen Sachverhalt dahingehend um, daß jeder »Seher« im Grunde ein Wissenschaftler ist: So wie Dacque Wissenschaft künstlerisch begreift, billigt er der Kunst wissenschaftlichen Charakter zu. Uber seine Ausführungen zur Aufgabe und zum »Recht des Dichters und Sehers«' 9 läßt sich die Intention des Vorspiels Höllenfahrt, so weit es bisher diskutiert wurde, vollends erschließen. Denn auch dieser Gedankengang findet sich bei Thomas Mann, zwar nicht direkt im Joseph-Roman, aber in seiner unmittelbaren Nachbarschaft. Im Sinne gesamtheitlicher Zusammenschau plädiert nämlich Thomas Mann in seinem Vortrag von 1929 Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte für Dacque. Der Irrationalismus, der hier zutage trete, sei notwendige Korrektur einer allzu strengen Fachwissenschaftlichkeit, die »ideenlos und den höchsten und tiefsten Fragen der Menschheit entfremdet« sei. Urwelt, Sage und Menschheit hingegen sei ein Buch, in dem das Künstlerische sich als echtes Erkenntnismittel behauptet, so daß man von einer Genialisierung der Wissenschaft und einer neuen Möglichkeit sprechen mag, mit ihrem Begriff wieder den der Weisheit zu verbinden, ein Vorgang, viel zu menschlich beglückend, als daß irgendein Einschlag von Antivernunft und Geringschätzung des Geistes uns bestimmen könnte, den widersacherischen Begriff der Reaktion darauf anzuwenden. Wenn ein Buch wie >Urwelt, Sage und Menschh e i t von Dacque heute von der >strengenkorrekten< Wissenschaft in vollkommen falscher Vornehmheit abgelehnt wird und seinem Verfasser die akademische Laufbahn verdirbt, so gibt es keinen Zweifel, auf welcher Seite wir zu finden sind — auf der des Buches, das echte Revolution ist, oder auf Seite jener akademischen >Ablehnung< mit der wahrhaftig so gar nichts geschehen ist. (X,

269)

Ebenso gibt es demnach »keinen Zweifel«, wo Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder steht, der Dacques Thesen in jenem Sinn adaptiert. Thomas Mann redet in eigener Sache, wenn er, vermittelt über Dacques wesensmäßige Gleichsetzung von Kunst und Wissenschaft, dessen Wahrheitssuche als »Genialisierung der Wissenschaft« zur »Weisheit« interpre" E b d . S. 117. '»Ebd. 98

tiert. Auch die Vergangenheit, die die Höllenfahrt beschwört, ist von der romantischen Weltsicht geprägt, die Urwelt, Sage und Menschheit bestimmte. Diese Romantik allerdings versteht Mann, wie er im Freud-Essay ausführlich darlegt, als Bereicherung und Vervollkommnung der rationalistischen Aufklärung. Erst die Anreicherung mit romantischem Gedankengut habe die »bürgerlich-liberalen, monistisch-naturwissenschaftlichen, bildungsblind-materialistischen Jahrzehnte« der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer eigentlich aufklärerischen Epoche gemacht; denn, so argumentiert Mann mit Nietzsche, 20 erst der Rückgriff auf »ältere, mächtige Betrachtungsarten der Welt und Menschen« (X, 258) vermöge der historischen Denkrichtung der Aufklärung einen Sinn zu geben, indem er »die aufklärerische Betrachtungsart aus genial-rückschlägigem Erleben korrigiert« ( X , 259). Das materialistische Denken im Gefolge der Aufklärung hatte im 19. Jahrhundert merkwürdige Blüten geschlagen. Im Glauben an den einen großen Gott >Fortschritt< proklamierte es die totale Erklärbarkeit der Welt. Naturwissenschaftliche Modelle unterschiedlicher Provenienz sollten das Leben ganz durchschaubar machen, ohne geheimnisvoll metaphysische und immer beunruhigende Restbestände. Das Sein sollte ganz in Physik, Chemie und in der Physiologie aufgehen. Allenfalls sozialtheoretische Modelle zwecks Steuerung der Menschheitsmaschine wurden noch geduldet. Gesunde Einwände wie die des Metaphysikers Hermann Lotze, daß das Leben mehr sei als die Summe seiner Teile, daß der Geist des Menschen zwar auf seinen physiologischen Funktionen beruhe, deswegen aber noch lange nicht mit ihnen identisch sei - erst aus diesem >Mehrwert< erklärt sich die Möglichkeit der Reflexion - fanden kein Gehör. 2 1 Sie gingen unter im Getöse des Materialismus, Darwinismus und Kapitalismus. Daß Menschen mit dem verzärtelten Anspruch, nicht ganz im System aufgehen zu wollen, sich solchem Absolutheitsmechanismus - meist still, indem sie sich in eine Nische der Innerlichkeit zurückzogen - widersetzten, war das Komplementärphänomen dieser Bewegung. Erst mit Nietzsches Philosophieren erfuhr das Leben in einem grandiosen Kraftakt, der es allerdings gleichzeitig seiner metaphysischen Dignität beraubte, wieder eine Aufwertung. Der Mensch sollte sich hier nicht entwickeln, indem er sich an ein System anpaßte. Hier wurde im Gegenzug die kreative Autonomie des starken Subjekts hervorgehoben, das aus sich heraus die Welt erst schafft. Damit war zwar metaphysisches Denken philosophiegeschichtlich ad acta " Thomas Mann bezieht sich auf Nietzsches Passage Die Reaction als Fortschritt aus Menschliches All^umenschliches. Vgl. K S A , München/Berlin/New York '1988, Bd.2, Nr. 26, S. 4 6f. " Vgl. Rüdiger Safranski: Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, München/Wien 1994, S. 45-55.

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gelegt, als tiefes Bedürfnis des (leidenden) Menschen jedoch noch lange nicht. Und so wurde auch nach 1900 noch eifrig nach Wegen metaphysischer Rückversicherung gefahndet. Nietzsche hatte dem >modernen< und zugleich sensiblen Menschen einen Weg aus den profan mechanisierenden Modellen zur Wirklichkeitsbewältigung gewiesen, die das 19. Jahrhundert bot, er hatte aber keinen Ersatz für transzendentale Geborgenheit liefern können. Das starke, dionysische Individuum bleibt bei ihm zugleich immer das tragische. Und wer tragisch empfindet, sucht immer nach einem Ausweg. A u f dieser Basis operierten sie alle, die um und nach 1900 auf der Suche waren: Max Scheler wie auch Henri Bergson, indem sie die Bedeutung des Transzendentalen philosophisch hervorhoben, andere, wie Edgar Dacque oder Ernst Haeckel, indem sie es biologisch zu beweisen suchten. Aus diesem Kontext heraus erklärt sich sowohl die Bedeutung (und der enorme Erfolg 2 2 ) von Dacques Buch als auch die Intention der Höllenfahrt. Hier gewinnt die Seite des Menschen, die die Gefühle, das Seelenleben, das geheimnisvoll Metaphysische umfaßt, erstmals wieder den Platz, der ihr nach Thomas Mann und nach Meinung aller Romantiker zukommt: nämlich den ersten und ursprünglichen, zu dem all das, was sich Geist oder Intellekt nennt, nur eine Zugabe ist. Dennoch aber wird Aufklärung nicht verneint. Der »Philisterei der monistischen Aufklärung« (X, 269) gegenübergestellt wird eine Betrachtungs- und Forschungsart, deren geistige Gesinnung und Technik nicht diejenige rationaler Aufklärung ist, die aber, revolutionär-zukünftig gerichtet, dennoch, wir sind dessen sicher, der Aufklärung im menschlich großen Sinn des Wortes dient. ( Χ , ζγοί.)

Aufklärerischer Rationalismus ist zwar ein Mittel, um zum (metaphysischen) Geheimnis des Lebens vorzudringen. Er ist sich aber niemals selbst ein Ziel. Thomas Mann unternimmt hier eine heikle Gratwanderung. Er versucht, den Primat des Romantischen beizubehalten, ohne dabei geistfeindlich in eine vorrationale Gesittung zurückzufallen. Damit setzt er sich gleich zwischen drei Stühle. E r will sich weder fatalistisch in eine ohnehin nicht mehr intakte Sphäre der Innerlichkeit zurückziehen, noch will er für den materialistischen Utilitarismus im Gefolge der rationalen Aufklärung eintreten, in dem allein er keinen Sinn finden kann. Gleichzeitig aber will er auch nicht der Gegenbewegung das Wort reden, die den Geist verneint und sich auf irrationalistisches Terrain zurückzieht. Alle drei Richtungen bilden mächtige Strömungen in der Weimarer Republik: E r opponiert damit gegen die elitäre Noli-me-tangere-Attitüde aller ästhetisch (aber auch nur äs" 1951, also sieben Jahre nach seiner Erstpublikation, erschien es schon in sechster Auflage!

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thetisch!) zartfühlenden Stefan Georges, gegen des »demokratischen Optimismus Maienblüte«, 2 ' wie Mann selbstironisch einmal formulierte, wie sie sich ihm aber vornehmlich im Typus des Zivilisationsliteraten verkörperte, und er kämpft gegen den Rückfall in den Kult des starken, nicht geistesgeschwächten Lebens, den er früh schon als präfaschistisch erkannt hatte.24 Ein wenig manieriert hatte er seine Haltung schon in Goethe und Tolstoi formuliert: Marx müsse den Hölderlin lesen. 2 ' Vor diesem Hintergrund bedarf das oft gescholtene Werk Edgar Dacques einer Rehabilitation. Es ist unbestritten, daß sein Denken »heute wie eine ans Abstruse grenzende Nachzüglerspekulation zur Abstammungslehre aus dem Geiste der romantischen Naturphilosophie anmutet«.26 Schon Wellershoff spricht in seiner Gottfried Benn-Dissertation von 1958 abschätzig von »Tiefenrausch« und »Vergangenheitsmanie«.27 Jedoch gewinnen Dacques Bemühungen einen anderen Wert, wenn man sie vor dem Hintergrund des zeitgeschichtlichen Lebensgefühls betrachtet. Thomas Mann attestierte dem Buch eine »neue Unmittelbarkeit« (X, 269), die es »Lebensforschung« (X, 269) im faszinierendsten Sinn sein ließ. Dies war es, was das Buch für so viele zu einem Rettungsanker machte, die im nackten Rationalismus und Materialismus der Aufklärung des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts keinen Sinn mehr finden konnten. Der tiefen Sinnkrise, die weder positivistische Wissenschaft noch Konzepte zur ökonomischen Weltverbesserung hatten beseitigen können, stellte sich dieses Buch entgegen. Heute freilich kommt man nicht umhin, Dacques Thesen als übersteigerte Reaktion zu lesen. In der damaligen Situation aber konnte sein Denken als bewundernswertes Unternehmen einer ganzheitlichen Aufklärung erscheinen, die nicht vom Menschen weg, sondern zu ihm hin führte. In diesem Licht erschien es auch Thomas Mann. Daß Thomas Mann sich auf gefährliches Terrain begab, als er seiner romantisch-konservativen Neigung Raum ließ und der Lebensschau Dacques gegenüber der »Philisterei der monistischen Aufklärung« (X, 269) den Vorzug gab, mußte ihm von Anfang an klar gewesen sein. Wie schmal der Steg war, auf dem wandelnd er seine geistige Herkunft zu retten versuchte, wurde ihm vielleicht erst später bewußt. Briefe III, Brief vom ij. März 1952, S. 248. Vgl. Hermann Kurzke: »Bruder« Hitler. Thomas Mann und das Dritte Reich. Kurzke fragt, was der Faschismus mit »der neuen Entschlossenheit und Vereinfachung der Seele« zu tun habe, und antwortet: »Sie haben das gleiche Ziel, nämlich die Uberwindung der Dekadenz.« (S. 129) '' Vgl. IX, 170. Ähnlich auch in Kultur und Sozialismus, XII, 649, und Deutschland und die Demokratie. Die Notwendigkeit der Verständigung mit dem Westen, XIII, 578. 2 ' Eckhard Heftrich: Joseph und seine Brüder. In: Thomas-Mann-Handbuch, hrsg. von Helmut Koopmann, Stuttgart 1990, S. 447-474, hier S. 456. ' 7 Dieter Wellershoff: Gottfried Bern. Phänotyp dieser Stunde, Köln '1986 ('1958), S. 129. 14

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Wenn man den »philosophischen Paläozoologen« (VI, 482) Dr. Egon Unruhe des Kridwiß-Kreises im Doktor Faustus als literarische Spiegelung Edgar Dacques begreift,28 ergibt sich für die Entstehungszeit des deutschen Musikerromans, die Jahre 1943 bis 1947, eine vorsichtigere Bewertung des Autors: Sie macht deutlich, wie prekär ihm seine geistesgeschichtliche Standortbestimmung im Laufe der Zeit wurde. Allein die Tatsache, daß der »denkerisch hochbemühte [ ] Mann« seinen Platz im geistig-reaktionären Kreis um den Gastgeber Kridwiß fand, ist beachtenswert. Serenus Zeitblom jedenfalls verspürt Unbehagen und Mißtrauen gegenüber der geistigen Rückwärtsgewandtheit, die in der Schwabinger Diskussionsrunde herrscht. Dazu zählt auch das Gedankengebäude Unruhes, der in seinen Schriften die Tiefschichten- und Versteinerungskunde auf sehr geistvolle Weise mit der Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes verband, so daß in seiner Lehre, einem sublimierten Darwinismus, wenn man will, alles wahr und wirklich wurde, woran im Ernst zu glauben eine entwickelte Menschheit längst aufgehört hatte. (VI, 482)

Die Charakterisierung von Dacque-Unruhes Lehre als >sublimiertem Darwinismus< trifft genau die Bedeutung, die diesem Gedankengebäude in Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Gegenwart zukommt: Die Welt entwickelt sich zwar, jedoch ist äußerlicher Fortschritt nicht ihr Zweck. 29 Die Uberschau hingegen ermöglicht Erkenntnis des Gemeinsamen. Mit Dacque: Sieht man vom >Gewand< ab, tritt der >Typus< zutage. Über die Trias von Dacque, Höllenfahrt und Freud-Essay (1929) erschließt sich ein Gedankengebäude, das aus dem ästhetischen Raum des JosephRomans weit hinaus in die Zeitgeschichte weist. Es wurde erstens deutlich, daß die metaphysische Deutung der Welt keineswegs dem Erzähler des Romans vorbehalten ist, sondern als Meinung Thomas Manns auch seine Reden in den zwanziger Jahren leitet. Es wurde zweitens deutlich, wie stark sich diese Weltanschauung aus dem zeitgeschichtlichen Bedürfnis herleitet, Vgl. Manns Brief an Preetorius vom 24. 4. 1948, Briefe III, S. 31. In dem genannten Brief an Preetorius vergleicht er Dacque ebenfalls mit Darwin: »Den Darwinismus, meine ich, hat er überwunden ungefähr wie Max Weber den Marxismus - das Wirtschaftliche aus dem Religiösen abgeleitet, statt umgekehrt, womit man, finde ich, den Rahmen des Marxismus so wenig sprengt, wie Dacque mit seiner umgekehrten >Entstehung der Arten< den des Darwinismus gesprengt hat.« (S. jof.) Bestehen bleibt also, daß Fortschritt möglich ist. Allein, die Art des Fortschritts erklärt sich umgekehrt: Die Arten entwickeln sich nicht mehr, indem sie sich an die Wirklichkeit anpassen, sondern indem sie sie überwinden und ihr damit ein neues Gepräge verleihen. Der Darwinismus wird - aus Thomas Manns Sicht - gleichsam nur vom Kopf auf die Füße gestellt: Seine Fortschrittlichkeit steht dann nicht mehr im Dienst eines nackten Rationalismus, sondern im Dienst romantisch-metaphysischer Humanität. 102

eine verlorene Lebensganzheit wiederherzustellen. Und drittens kam am Rande zur Sprache, warum diese rückwärtsgewandte Lehre Dacques, die Thomas Mann in einem Z u g mit Freuds Psychoanalyse so vehement als »Genialisierung der Wissenschaft« (X, 269) verteidigte, politisch so explosiv war: Sie richtet sich gegen die Alleinherrschaft der rationalistischen Aufklärung und kann deswegen als vernunftfeindlich mißinterpretiert werden. Vor allem im Freud-Essay kommt dies zum Ausdruck, in dem Thomas Mann sich ausdrücklich bemüht, seine konservativ-romantische Position von der reaktionären Rückwärtsgewandtheit des aufkommenden Nationalsozialismus abzugrenzen: Wenn hier von einer Gefahr die Rede sein kann, nämlich derjenigen, die Nietzsche mit solchen geistigen Bewegungen verbunden sah, die dazu neigen, »die Erkenntnis unter das Gefühl hinabzudrücken« und so dem zurückbildenden Geiste dienstlich zu sein, so liegt diese Gefahr nur insofern in der neuen Wissenschaft selbst, als sie die Möglichkeit zu bieten scheint, durch die wirkliche Reaktion, die Mächte der Umkehr und der Rückbildung mißbraucht zu werden, indem diese, ohne nach ihrer Erlaubnis zu fragen, ein dreistes und spiegelfechterisches Bündnis mit ihr eingehen. Das ist die Gefahr des Tages und der Stunde. Keine Gefahr auf die Dauer und auf große Sicht, aber eine Gefahr augenblicklicher Verwirrung und der Ablenkung wertvoller Kräfte von den Zielen des Lebens und der Zukunft. (X, 270)

So Thomas Mann zweckoptimistisch 1929. Wenn man sich die substantielle Rolle von Urwelt, Sage und Menschheit für die Höllenfahrt vergegenwärtigt, wird klar, daß Thomas Mann hier nicht nur von Fremdem redet: E r begreift sein eigenes Anliegen, das er im Vorspiel des Joseph-Romans formuliert, in diese politische Problematik mit ein.

D e r Roman der Seele In diesem Sinn argumentiert Thomas Mann in der Höllenfahrt gegen die geistfeindliche Rückwärtsgewandtheit, die er als Gefahr der Gegenwart diagnostiziert. Das macht er aber nicht, indem er sich den Fortschrittsoptimisten anschließt. Vielmehr plädiert er für den Geist aus einer rationalismuskritischen Position. Die metaphysische Welt des Immerseienden, die den Kernpunkt aller Gedankenläufe in der Höllenfahrt bildet, gilt ihm weiterhin als Hort des Lebensgeheimnisses, Hort eines nicht aufklärerisch-rational zu fassenden Lebensdynamismus. Was Thomas Mann in seinem ersten Freud-Essay »Philisterei der monistischen Aufklärung« genannt hatte die reine Herrschaft des Geistes, die nur-rationalistische Betrachtungsweise der Welt - hatte zu einer Entfremdung des Menschen von sich selber geführt. E s galt, den Menschen wieder ins Zentrum der Welt zu stellen, indem 103

man den Geist zwar zum Sachverwalter, nicht aber zum Interesseninhaber des Lebens machte. Mit Dacque hatte er einen Naturforscher gefunden, dessen Absichten genau seinem eigenen Anliegen entsprachen, hinter der vordergründigen Welt eine tiefere immerseiende, nicht dem Wechsel der Erscheinungen unterworfene sichtbar zu machen. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn der philosophische Bezugspunkt beider ist Arthur Schopenhauer. 30 Schopenhauers Kerngedanke ist, daß die Welt sich dem Menschen in unendlich viele unterschiedliche Erscheinungen aufgespalten darstelle. Hinter dieser vordergründigen Vorstellungswelt jedoch befindet sich ihr metaphysischer Urgrund. Dieser Urgrund ist nach Schopenhauer der Wille. Dieser an sich zeit- und raumlose Wille s>um Sein objektiviert sich als Erscheinung in Zeit und Raum, weil der Mensch aus diesen Erfahrungsdimensionen nicht ausbrechen kann, weswegen seine Anschauung diesen Kategorien a priori unterworfen ist. Hier erscheint der Wille, der an sich eins ist, in jenen abertausend Objektivationen, die die tägliche Erfahrungswelt des Individuums bilden. Abstrahiert man also von jener Erscheinungsweh, offenbart sich die wahre Welt als immer gleiche. Aus diesem philosophischen Gedanken heraus lebt Urwelt, Sage und Menschheit, und dieser Gedanke ist es auch, den Thomas Mann mit seiner mythischen Welt einfangt. Das, was Mann in der Höllenfahrt zunächst »Wiederholung, das Gegenwärtigwerden von etwas tief Vergangenem« (IV, 31), später »Wiederverkörperung« (IV, 32) nennt, erklärt Dacque - die Nähe zu Schopenhauer ist unübersehbar - in seinem Abschlußkapitel so: Gleiche Seelenverfassung und gleicher Geist, wenn auch an verschiedene Körper gebunden und vielleicht Ausdruck dessen, was in der Körpernatur lebt und webt, bedeutet und ist aber nichts anderes als: gleichen Wesens sein. Wie nun dieses Wesen in verschiedenen Körpern Eines ist, so kehrt es auch als Dasselbe in neuen Körpern wieder, ganz real und wirklich; und so webt die Seele auch des Menschenindividuums, die ihm selber zum Bewußtsein kam, als Wesen auch in anderen Körpern, neuen oder schon vorhandenen.' 1

A u f diesem Umstand, der im Verlauf des Romans noch mit anderen Termini bezeichnet wird - es ist die Rede von Ersatz und Stellvertretung, In-Spuren-gehen, offener Identität, Nachfolge oder Imitation - ruht die mythische Welterfahrung des Romanpersonals.' 2 50

Manfred Dierks: Studien Mythos und Psychologie, S. 64-66 und S. 84 hat das nachgewiesen. '' Dacque S. 316. Wenn Thomas Mann also im Joseph-Roman eine mythische Welt entwirft, dann zielt dieses Vorhaben darauf, der metaphysischen Weltdeutung Schopenhauers zu ihrem Recht zu verhelfen. Vgl. dazu Werner Frizen: Zaubertrank der Metaphysik,

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In Schopenhauers Schrift Ueber den Willen in der Natur von 1855, die er im Untertitel charakterisiert als »eine Erörterung der Bestätigungen, welche die Philosophie des Verfassers, seit ihrem Auftreten, durch die empirischen Wissenschaften erhalten hat«, kreist der Philosoph immer wieder um die Rückführung der phänomenalen Erscheinungswelt auf die Welt als Wille. Auf dieser Ebene bewegen sich auch Mann und Dacque. Mit einem entscheidenden Unterschied: Schopenhauers Welterklärung aus dem Willen ist zutiefst pessimistisch. Die Welt objektiviert sich als leidende, und da sie in ihrem Wesen immer gleich ist (nur ihre Erscheinungsform wechselt), kann dieses Leiden auch nie verringert werden. Erlösung kann demnach nur stattfinden in der Verneinung des Willens, und das heißt: in der Auflösung der Welt. Die Rückkehr zum Nichts ist deswegen das Ideal von Schopenhauers Metaphysik. Dacque hingegen modifiziert den sinnlosen Urgrund der Welt zu einer mystischen, nicht näher erklärten Religiosität. E r fügt Schopenhauers Welterklärung damit eine eschatologische Ausrichtung bei und verkehrt so das negative Vorzeichen dieser Philosophie in sein Gegenteil. Thomas Mann übernimmt dies. Anstelle der blinden Willenswelt steht der Paradiesgedanke. Das ist ein wichtiger Prozeß, wenn man bedenkt, daß Thomas Mann zeit seines Lebens Schopenhauerianer war. Schopenhauers Fatalismus, der schon Thomas Buddenbrook nur im Tod hatte Erlösung finden lassen, hat gerade auch die politische Weltsicht seines Autors immer entscheidend gelenkt. Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen sind seine Abrechnung mit der »demokratischen« Idee, die Welt gesellschaftlich verbessern zu wollen. Von einer philosophischen Warte, aus der heraus gesehen die Welt nur dann besser wird, wenn sie gar nicht mehr wird, muß solch ein Ansinnen natürlich absurd erscheinen. Und diesem Streben auch noch die Kunst unterstellen zu wollen, war dem Verfasser der Betrachtungen der Gipfel ästhetischen Selbstverrats. Denn diese bot nach Schopenhauer die einzige Möglichkeit, sich innerweltlich der Welt gegenüber interesselos zu verhalten, das heißt, für den Moment des Kunstgenusses aus dem Leidenszyklus, in dem die Welt befangen ist, auszubrechen. Thomas Manns Kampf gegen die »Zivilisationsliteraten« war ein Kampf für seine geistige Herkunft gewesen - für die pessimistische Weltanschauung, die Schopenhauer im 19. Jahrhundert formuliert hatte." S. jöof. Zur »Mythosdebatte« in den zwanziger und dreißiger Jahren als »Komplementärphänomen der Aufklärung« vgl. Hermann Kurzke: Dichtung und Politik im Werk Thomas Manns von 1914—19;J. In: LWU 16 (198;), S. 1 ; 3 - 1 6 9 und S. 225-243, hier S. 226-230. " Vgl. Borge Kristiansen: Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, 2. verbesserte und erweiterte Auflage, Bonn 1986, S. 81-97 (= Exkurs: Die ideologischen Voraussetzungen der Auseinandersetzung Thomas Manns mit dem Zi105

Thomas Mann hatte den Zivilisationsliteraten implizit vorgeworfen, daß ihr Politisieren einer Unfähigkeit zu metaphysischer Weltschau entspränge. Mit der eschatologischen Ausrichtung, die Schopenhauer über Dacque erfuhr, konnte sich auch Thomas Manns politische Position ändern. Seine Welt konnte sich dem Fortschrittsgedanken - und damit der Politik - öffnen, ohne ihre metaphysische Basis aufzugeben. Wie dieser Gedankengang in Joseph und seine Brüder in das Wesen des Menschen selbst Eingang finden kann, macht der Roman der Seele deutlich, der sich, wie die Suche nach dem Paradies, an einer sehr schopenhauerianischen Quelle orientiert, und der ebenfalls eine gänzlich unschopenhauerianische Wendung nimmt. Der Roman der Seele gründet auf einer Abhandlung, die der Orientalist Hans Heinrich Schaeder 1926 an Thomas Mann gesandt hatte.' 4 Schaeder verfolgt eine über Jahrhunderte sich entwickelnde mythologische Tradition und deren Einzug in verschiedene Kulturkreise, von der altiranischen Religion über Gnostik und Manichäismus bis ins islamische Denken. Es ist bezeichnend, wie Thomas Mann sich Schaeders Forschungen anverwandelt. A n den genannten Phasen orientiert sich auch Mann, wenn er, analog dem Referat des Orientalisten, eine zu Beginn kosmologische, dann mystisch-heilsgeschichtliche Ausrichtung konstatiert, die später einen deutlich rationalistischen Einschlag erhält. Der Autor der Höllenfahrt aber zieht die Jahrhunderte und auch die Kulturkreise, nachdem er sie am Anfang einmal summarisch genannt hat, zusammen, und formt aus den unterschiedlichen Konkretisationen des Mythos, die sich in unterschiedlichen Lebensräumen entwickelten, eine Lehre. Diese eine Lehre begreift er als von Anfang an auf die Entfaltung des ihr zukommenden Sinnes gerichtet. Wenn er für die dritte Mythosphase formuliert: »In diesem narzissischen Bilde voll tragischer Anmut beginnt der Sinn der Uberlieferung sich zu

vilisationsliteraten in den »Betrachtungen eines Unpolitischen«), Nicht den philosophischen Kern des Problems, sondern den zeitgeschichtlichen Anlaß, Thomas Manns Lektüre des Zola-Essays seines Bruders Heinrich und seine Reaktion arbeitet Stefan Heiner auf: Politische Aspekte im Werk Thomas Manns 189;—1918, S. 204-221. " H e r b e r t Lehnert: Thomas Manns Vorstudien %ur Josephs-Tetralogie, in: J D S G 7 (1963), S. 458-520, hier S. 506, war der erste, der auf diesen Aufsatz hingewiesen hat. Sein Titel ist Die islamische Lehre vom Vollkommenen Menschen, ihre Herkunjt und ihre dichterische Gestaltung. In: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft, Neue Folge Bd.4 (1925), S. 192-268. Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder«, hier S. 244-248, untersucht die dort nachgezeichnete Mythentradition und kommt richtig zu dem Ergebnis, daß Thomas Mann sich äußerst eng an den Text Schaeders hält, was insbesondere für den letzten (Haupt-)Teil des Romans der Seele gilt (vgl. Schaeder S. 232 f.!).

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reinigen« (IV, 40), so legt er nicht einen neu hin2utretenden Sinn zugrunde; er postuliert vielmehr, daß Sinn, wenn auch noch nahezu unerkennbar verklausuliert, schon immer vorhanden war. Entwicklung findet also statt, indem Ursprüngliches und schon immer Gemeintes freigelegt wird. Fortschritt bedeutet, zu entdecken, was immer ist. Insofern unterscheidet sich Manns Verfahren, obwohl er sich »in teils wörtlichem, teils paraphrasierendem Z i t a t « " an den Orientalisten anlehnt, fundamental von dem Schaeders. Statuiert der nämlich eine historisch nachzuzeichnende Sinnverschiebung des Ursprungsmythos (bis hin zu einem rationalistisch durchdachten Produkt, das sich nur noch hinter mythischer Maske tarne - diese letzte Phase übernimmt Thomas Mann nicht), so ist für Mann hingegen der Sinn schon von je vorhanden. Die früheste Stufe des Mythos sei geprägt von »kosmogonischen A b sichten« (IV, 39), wobei jedoch »ein freilich schon hörbares erlösungsreligiöses Element« (IV, 39) mitschwinge. D e m Erzähler kommt es im folgenden darauf an, diesen erlösungsreligiösen Kern herauszuarbeiten. Problematisch ist von Anbeginn das Verhältnis »der irdisch-leiblichen Existenz« (IV, 39) zu Gott, der ursprünglich, immateriell und schon immer ist. Hier spiegelt sich die Beziehung von metaphysisch zeitloser Welt und der im Zeitlichen befangenen Erscheinungswelt, mit der der Erzähler über Dacque philosophische Gedanken Schopenhauers in den Roman eingeführt hatte. In der ersten Version ist das urmenschliche Lichtwesen »der erkorene Streiter Gottes im K a m p f e gegen das in die junge Schöpfung eindringende Böse« (IV, 39). Dieser Lichtmensch sei bei seinem K a m p f gegen das Böse »zu Schaden gekommen, von den Dämonen gefesselt, in die Materie verhaftet, seinem Ursprung entfremdet« (IV, 39) worden. N u r »durch einen zweiten Abgesandten der Gottheit [...], der geheimnisvollerweise wieder er selbst, sein eigenes höheres Selbst gewesen sei«, habe der erste »aus der Finsternis der irdisch-leiblichen Existenz befreit und in die Lichtwelt zurückgeführt« (IV, 39) werden können, »wobei er aber Teile seines Lichtes habe zurücklassen müssen, die zur Bildung der materiellen Welt und der Erdenmenschen mitbenutzt worden seien« (IV, 39). »Wunderbare Geschichten« (IV, 39) nennt dies der Erzähler, denn erklärt wird in ihnen weder das Böse, noch die Rolle des Menschen, noch die Beziehung des Menschen zum Bösen, noch die Bedeutung des doppelten Lichtmenschen. Dieser Urmythos existiert gleichsam unabhängig vom Menschenwesen, welches nur als Zufallsprodukt und Überbleibsel eines insgesamt undurchschaubaren Vorgangs erscheint. " Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder«, S. 24;. 107

In den folgenden Mythosstufen werden diese der Klärung bedürftigen Elemente nach und nach sinnvoll zusammengeführt. Auf der nächsten Entwicklungsstufe weiß der Mythos zu berichten, das »Licht-Menschenwesen« (IV, 39) habe während seines Abstiegs »durch die sieben Planetensphären« (IV, 40), mit dem die Erschaffung der Welt einhergegangen sei, »niederschauend sein Spiegelbild in der Materie erblickt, habe es liebgewonnen, sich zu ihm hinabgelassen und sei so in die Bande der niederen Natur geraten.« (IV, 40) Daraus leitet der Erzähler sein Menschenbild zwischen metaphysischer und physischer Welt ab, dessen »Geheimnis« er schon seit Beginn der Höllenfahrt auf der Spur war: Eben hierdurch erklärt sich die Doppelnatur des Menschen, welche die Merkmale göttlicher Herkunft und wesentlicher Freiheit mit schwerer Verfesselung in die niedere Welt unentwirrbar vereinige. (IV, 40)

Die >wesentliche6 Schaeder S. 235. 37 Klaus Borchers: Mythos and Gnosis im Werk Thomas Manns. Eine religionswissen-

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S c h a e d e r d o k u m e n t i e r t die letzte S t u f e des R o m a n s der Seele a n h a n d eines i h m v o r l i e g e n d e n U r t e x t e s aus d e m e l f t e n J a h r h u n d e r t .

Dort wird

die

S c h l u ß p a s s a g e , die die M ö g l i c h k e i t der E r l ö s u n g a u f z e i g t , d u r c h die E r klärung ergänzt, daß der Mensch in diese Welt (d.h. die Hochwelt) nur durch die Philosophie gelangt. Ein jeder, der die Philosophie studiert und seine eigne Welt erkennt, von Leid frei wird und das Wissen gewinnt, der wird von diesem Leiden erlöst. Die andern Seelen aber bleiben in dieser (niederen) Welt, bis daß alle Seelen im menschlichen Gehäuse durch Wissen und Philosophie dieses Geheimnisses kundig werden, ihre eigne Welt erstreben und alle insgesamt dorthin heimgelangen.' 8 D e r H i n w e i s a u f die P h i l o s o p h i e hätte dem A u t o r der J o s e p h - R o m a n e sehr g e l e g e n k o m m e n k ö n n e n , d e n n er bilanziert die L e h r e des M y t h o s einl e u c h t e n d u n d unterstreicht mit einer d i r e k t e n H a n d l u n g s a n w e i s u n g seine pessimistische L e b e n s d e u t u n g . J e d o c h u n t e r d r ü c k t M a n n g e r a d e dieses F a zit, o b w o h l er sich s o n s t sehr e n g an seine V o r l a g e hält. 3 9 Statt dessen v e r f o l g t er g e d a n k l i c h w e i t e r h i n d e n » ü b e r l e g e n e r s o n n e n e n Plan[...]« ( I V , 4 1 ) G o t t e s und d i e A u f g a b e , die dieser d e m G e i s t z u g e d a c h t habe. E i n e r s e i t s sei sein » A u f t r a g « ( I V , 42) eindeutig: der selbstvergessen in Form und Tod verstrickten Seele das Gedächtnis ihrer höheren Herkunft zu wecken; sie zu überzeugen, daß es ein Fehler war, sich mit der Materie einzulassen und so die Welt hervorzurufen; endlich ihr das Heimweh bis zu dem Grade zu verstärken, daß sie sich eines Tages völlig aus Weh und Wollust löst und nach Hause schwebt - womit ohne weiteres das Ende der Welt erreicht, der Materie ihre alte Freiheit zurückgegeben und der Tod aus der Welt geschafft wäre. (IV, 45) D a s e n t s p r i c h t bis ins Detail S c h o p e n h a u e r . A b e r es ist auch d a v o n die R e d e , daß »seine T ä t i g k e i t einen inneren B r u c h « ( I V , 4 3 ) e r f a h r e . D e n n seine » R o l l e als V e r n i c h t e r und T o t e n g r ä b e r der Welt« b e g i n n e » d e n G e i s t a u f die L ä n g e des Spieles schwer zu g e n i e r e n « ( I V , 43): schaftliche Untersuchung, Diss. Freiburg 1980 verfolgt diese Wendung des schopenhauerisierend ansetzenden, dann aber nicht fatalistisch endenden Romans der Seele als einen christlich-gnostischen Denkansatz. Vgl. hier insb. S. 234—236. ,8 Schaeder S. 233. " Daß der Ablehnung des metaphysischen Fatalismus, wie ihn Schaeder in seiner Arbeit proklamiert, eine politisch-pädagogische Absicht zugrundeliegt, wird auch dadurch deutlich, daß Thomas Mann in einem Brief an Eberhard Hilscher, der nach den Hilfsquellen fragte, diese Quelle verschwieg: wohl nicht zuletzt, weil Schaeder, philosophisch, wie sein Aufsatz zeigt, ähnlichen Gedanken zugeneigt wie Thomas Mann, auch zu dem Kreis konservativer Publizisten gehörte, die gelegentlich in der Wochen-Zeitschrift Gewissen publizierten, die Thomas Mann Anfang der zwanziger Jahre begrüßte, von deren Gesinnung er sich jedoch später abwandte. 110

So nämlich wandelt sich unter dem abfärbenden Einfluß seines Aufenthaltes der Gesichtswinkel, unter dem er die Dinge erblickt, daß er, nach seiner Auffassung gesandt, den Tod aus der Welt zu schaffen, sich nun im Gegenteil als das tödliche Prinzip empfinden lernt, als das, welches den Tod über die Welt bringt. Das ist in der Tat eine Frage des Gesichtspunktes und der Auffassung; man kann es so beurteilen und auch wieder so. (IV, 45)

»So [...] und auch wieder so«: Gleichberechtigt neben die philosophische Weltschau tritt hier eine zweite, lebensdienliche Perspektive: Der Erzähler konstatiert »eine unerlaubte Verliebtheit« des Geistes »in die Seele und ihr leidenschaftliches Treiben« (IV, 44). Diese »Verliebtheit« sei, so argumentiert er nun, ein Teil des Gottesplanes. Dafür hat er gleich mehrere Gründe. Erstens, so setzt er abermals beim Abstieg der Seele an, könne von einem Sündenfall kaum die Rede sein. Die Seele habe sich allenfalls an sich selbst versündigt, denn sie habe nichts von Gott Verbotenes getan. Zweitens handele es sich bei dem Verbot, »vom Baum der Erkenntnis >Gutes und Böses< zu essen«, »um einen sekundären und schon irdischen Vorgang«. Da ferner Gott allwissend ist, sei drittens »kein Zweifel darüber zulässig, daß er sich über den Ausgang im voraus im klaren war«. Viertens sei »die Wendung >Gutes und Böses< ohne jeden Zweifel und anerkanntermaßen Glosse und Zusatz zum reinen Texte« (IV, 4;). Und fünftens sei Gott der Seele bei der Formgewinnung in der Materie schließlich behilflich gewesen: Vielmehr ist deutlich, daß er beim Anblick der Passion der Seele, wenn nicht von Sympathie, so doch von Mitleid ergriffen wurde; denn sofort kam er ihr ungerufen zu Hilfe, griff persönlich in ihren erkennenden Liebeskampf mit der Materie ein, indem er die Todeswelt der Formen daraus hervorgehen ließ, damit die Seele ihre Lust daran finden könne: ein Verhalten Gottes, worin in der Tat Mitleid von Sympathie sehr schwer oder überhaupt nicht zu unterscheiden ist. (IV, 46)

All diese Argumente stützen die Existenz der Menschenwelt und zielen keineswegs auf ihre Auflösung durch den Geist. Sie betonen, daß Gott der Menschwerdung wohlwollend gegenüberstand. Der Erzähler wertet hier den Roman der Seele um: Das lebensdienliche Verhalten des Geistes ist jetzt von höchster, göttlicher Hand legitimiert. Gerade die Zuwendung des Geistes zum Leben ist Dienst für Gott. Schopenhauers Lehre von der Weltverneinung und die geschichtsphilosophische Argumentation von Schaeder, die Thomas Mann wohlweislich unterdrückt hatte, verkehrt er damit in ihr Gegenteil: Gerade in der Lebensbejahung wird metaphysischer Sinn möglich. Indem der Geist dem Leben zuarbeitet, befolgt er Gottes Plan. Das letzte Zitat ist für diese Erzählerabsicht aufschlußreich. Seine Schlüsselbegriffe sind »Mitleid« und »Sympathie«. Hier werden sie mitein111

ander verbunden, und zwar derart, daß aus dem Mitleid Gottes seine Sympathie hervorgeht. Schließlich erscheinen beide Handlungsgründe identisch. Das ist deswegen interessant, weil der Mitleids-Begriff auch für Schopenhauer zentral ist. In Thomas Manns 1938 entstandenem SchopenhauerEssay erscheint er nicht von ungefähr da, wo der Autor dessen Ethik, seine Lehre vom Guten und Bösen, erläutert. Böse ist danach derjenige, der vollkommen im principium individuationis befangen bleibt, sich als Mittelpunkt der Welt sieht und deswegen ausschließlich um sein eigenes Wohl bemüht ist: Böse ist der Mensch, der, sobald keine äußere Macht ihn daran hindert, Unrecht zufugt, - das heißt: ein solcher, nicht genug, daß er den Willen zum Leben, wie er in seinem Leibe erscheint, bejaht, so verneint er auch den in anderen Individuen erscheinenden Willen und sucht ihr Dasein zu vernichten, sowie sie den Bestrebungen seines eigenen Willens im Wege sind. Ein wilder, über die Bejahung des eigenen Leibes hinausgehender Wille spricht sich in dem bösen Charakter aus, vor allem aber eine so tiefe Befangenheit der Erkenntnis in der Erscheinung und im principium individuationis, daß sie an dem von diesem gesetzten Unterschied zwischen seiner eigenen Person und allen anderen eisern festhält, weshalb er denn das Wesen dieser anderen dem seinen für völlig fremd hält, durch eine weite K l u f t von ihm geschieden, und buchstäblich nur leere Larven in ihnen sieht, während seinem tiefsten Dafürhalten nach einzig ihm Realität zukommt. ( I X , 553)

Folglich ist der gute Mensch derjenige, der das principium individuationis durchschaut, der erkennt, daß der Unterschied zwischen ihm und anderen auf einer zum Bösen verführenden Illusion beruht, täuschende Erscheinung ist, daß das An-Sich seiner eigenen Erscheinung auch das der fremden ist, nämlich der Wille zum Leben, der sich in allem verkörpert ( I X , 554).

Aus dieser Erkenntnis ergibt sich das Mitleiden-Können mit Anderen, ergeben sich Liebe und Güte zur Mitwelt: Liebe und Güte sind Mitleid, aus der Erkenntnis des »Tat twam asi«, der Lüftung des Maja-Schleiers (IX, 554)·

In Schopenhauers Philosophie führt das Mitleiden den Philosophen zur Verneinung des Lebens; in Thomas Manns Referat: Der Wille wendet sich in ihm vom Leben ab, denn da er dieses aus Mitleidserkenntnis zu verneinen gezwungen ist, — wie könnte er den Willen dazu, auch in sich selbst, noch bejahen [...]? ( I X , 555)

Aus dem Mitleiden folgt bei Schopenhauer also stringent die Verneinung des Lebens. Aber wie der Erzähler schon im Roman der Seele die fatalistische Lehre des Philosophen nicht übernommen hatte, braucht er auch den Mitleidsbegriff nicht in dessen fatalistischem Verständnis. Er gleicht ihn allmählich dem Sympathiebegriff an. Der ist mit dem Mitleid eng verwandt: 112

beider Wesen ist die Einfühlung. Gleichzeitig ist er jedoch deutlich positiver und lebensverbundener geprägt. Thomas Mann selber definierte Sympathie in der Pariser Rechenschaft als »das Kind des Eros und der Vernunft«, »jener versittlichten Lust, die auch den Namen der Güte führe.« (XI, 21) Sympathie meint also die Bändigung des blind lebensbejahenden Eros durch den Geist. Sie bedeutet, den Schleier der Maja zu durchschauen, aber nicht zu resignieren vor dem Leid dieser Welt. Wenn hier von versittlichter Lust die Rede ist, dann ist damit, im Zusammenhang des Joseph-Romans, Gott selber eine Freude an der Welt der Erscheinungen attestiert, die nicht auf ihre Auflösung, sondern auf ihre sittliche Gestaltung zielt. Mitleid schlägt um in Sympathie, statt Entsagung lautet das Programm nun: lebensfreundlicher Pessimismus. Der Pessimismus resultiert aus der grundsätzlich unabdingbaren Schuld, die aber um des Lebens willen in Kauf genommen wird: Die Welt ist so, wie sie ist, nämlich gut und böse, gerechtfertigt, weil sie von Gott gewollt ist. In Gottes Ratschluß findet sie ihre höhere Geborgenheit. Die Sympathie mit der »Todeswelt der Formen« erweist sich als von diesseitiger Skepsis getragene Humanität. Der Geist soll dem Leben dienen, indem er es zu sympathetischem, und das heißt offensichtlich geistdurchdrungenem, metaphysisch orientiertem Handeln anleitet. Schopenhauers Philosophie ist hier ins Lebensbejahende und Menschenfreundliche umgedeutet worden: Die Welt ist entwicklungsfähig, wenn sie dem Geist die Chance läßt, die materiale Formwelt auf ihr dahinterliegendes metaphysisches Prinzip zu transzendieren. Dieser Mythos, in dem das Wesen des Menschen lebensbejahend bestimmt ist, wird nun zur Gegenwart des Lesers hin geöffnet: Wir wissen längst, daß das Geheimnis die Zeitfälle frei behandelt und sehr wohl in der Vergangenheit sprechen mag, wenn es die Zukunft meint. Es ist möglich, daß die Aussage, Seele und Geist seien eins gewesen, eigentlich aussagen will, daß sie einmal eins werden sollen. Ja, dies erscheint um so denkbarer, als der Geist von sich aus und ganz wesentlich das Prinzip der Zukunft, das Es wird sein, es soll sein, darstellt, während die Frömmigkeit der formverbundenen Seele dem Vergangenen gilt und dem heiligen Es war. (IV, 48)

Da der Mythos Ur-Kunde und Prophezeiung zugleich ist, ist jede Uberlieferung aus der Vergangenheit auch immer Handlungsanweisung für die Zukunft. (Vgl. IV, 32) So ist der Mythos nach vorne hin offen und harrt seiner Erfüllung. Die aber sei weder im Geist allein noch im Leben allein möglich. Das eine bedeutete Auflösung im Metaphysischen, das andere Sinnlosigkeit: Wo hier das Leben ist und w o der Tod, bleibt strittig; denn beide Teile, die naturverflochtene Seele und der außerweltliche Geist, das Prinzip der Vergangenheit und das der Zukunft, nehmen, jedes nach seinem Sinn, in Anspruch, das

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3

Wasser des Lebens zu sein, und jedes beschuldigt das andere, es mit dem Tode zu halten: keiner mit Unrecht, da Natur ohne Geist sowohl als Geist ohne Natur wohl schwerlich Leben genannt werden kann. (IV, 48)

Indem aber beide Prinzipien zusammenfinden, kann der »Doppelsinn von Vergangenheit und Zukunft« (IV, 52) tatsächlich gegenwartsmächtig werden: Das Geheimnis aber und die stille Hoffnung Gottes liegt vielleicht in ihrer Vereinigung, nämlich in dem echten Eingehen des Geistes in die Welt der Seele, in der wechselseitigen Durchdringung der beiden Prinzipien und der Heiligung des einen durch das andere zur Gegenwart eines Menschentums, das gesegnet wäre mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt. (IV, 48f·)

Dieser Gedanke bildet das Fazit des Romans der Seele und enthüllt, nach des Autors eigenem Bekunden, gleichzeitig den Kerngedanken von Joseph und seine Brüder.4° E s ist bisher ersichtlich geworden, daß Lebenssinn in der Höllenfahrt immer nur im Bezug auf einen geistigen, metaphysisch zu fassenden Ursprung entsteht. Leben und Geist, wie sie als Prinzipien nicht zuletzt dem Roman der Seele zugrundeliegen, sind dabei die einander entgegengesetzten Pole, die das Wesen des Menschen bestimmen, und innerhalb derer sich jeder Sinnfindungsprozeß vollziehen muß. Thomas Manns Gedanken orientieren sich dabei an der Philosophie Schopenhauers. In ihr erscheint aber jener Konflikt unauflösbar, weil geistige Erkenntnis prinzipiell die radikale Verneinung des Lebens nach sich ziehen muß. Dieser Konsequenz widersetzt sich Thomas Mann mit dem Roman der Seele, indem er die intendierte »Vereinigung« beider Prinzipien von höchster Instanz her legitimiert. Die pessimistische, rückwärtsgewandte Utopie Schopenhauers wird dadurch nach vorne ausgerichtet. Damit opponiert er ganz bewußt auch gegen die Quelle, die ihm zur Abfassung seiner Version vorgelegen hat. Obwohl er an der metaphysischen Weltschau festhält, die schon Schopenhauers Denken prägte, gelingt es ihm so, sich irdischen Belangen zu öffnen. Diese Öffnung war ihm in den Betrachtungen eines Unpolitischen noch nicht möglich gewesen. Dort hatte sich der Schopenhauer verpflichtete Verfasser aus seiner künstlerischen Warte heraus noch gezwungen gesehen, jedes politische Engage40

So schreibt Thomas Mann in einem Brief an Ernst Bertram vom 28.12.1926: »Mein eigentlicher und geheimer Text steht in der Bibel, in der Geschichte zuletzt. E s ist der Segen des sterbenden Jakob über Joseph: [>]Von dem Allmächtigen bist du gesegnet mit Segen oben vom Himmel herab, mit Segen von der Tiefe, die unten liegt.i Damit man sich zu einem Werk entschließe, muß es, als Stoff, irgendw o einen Punkt haben, bei dessen Berührung einem regelmäßig das Herz aufgeht. Dies ist dieser produktive Punkt.—« (Thomas Mann an Ernst Bertram, S. 155).

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ment für widersinnig zu erklären, da es am Wesen der Welt nichts zu ändern vermöge. Diese Einstellung wird mit dem Roman der Seele widerrufen, ohne daß Mann die metaphysischen Axiome, die sein Denken prägen, fallenläßt. Das heißt: Gesellschaftliches Handeln wird nicht nur möglich, sondern ist im Kosmos des Romans sogar von Gott gewünscht. Das bedeutet aber gleichzeitig, daß sein Endzweck nicht politisch, sondern allein transzendent gefaßt werden kann.

Die zeitgeschichtliche Brisanz der

Höllenfahrt

Freilich stellt sich jetzt die Frage, inwiefern eine solche Öffnung zum Politischen in den zwanziger Jahren zeitgemäß sein konnte. Denn die Prämissen einer Weltsicht, die Fortschritt auf einen metaphysisch vorgegebenen Anspruch verlangt, sind, wenn auch vorwärtsgewandt, so doch rückwärts motiviert. Zwar entwickelt der Erzähler mit der Uberwindung von Schopenhauers Nihilismus im Roman der Seele ein neues Humanitätsverständnis, jedoch bleibt dies allzu abstrakt, um konkretes politisches Handeln zu fordern. Letztlich bleibt der Erzähler der relativen Gültigkeit der Erscheinungswelt eingedenk. An deren ephemerer Existenz gerät er an die Grenzen seiner eschatologisch begründeten Lebensbejahung. Dennoch: Auch wenn sie sich einem politischen Weltverständnis weitgehend verweigert, birgt die Position, die Thomas Mann mit der humanistischen Begründung des Menschen im Roman der Seele einnimmt, einiges an kämpferischem Potential. Sie ist nicht nur hinsichtlich seiner eigenen Tradition alles andere als selbstverständlich; überdies setzt sie sich Tendenzen der Zeit entgegen, als deren Förderer der Autor der Betrachtungen einige Jahre zuvor noch selber gegolten hatte. So soll in den Blick genommen werden, inwieweit der Menschheitsentwurf der Höllenfahrt über bloß gutgemeinte »Menschenfreundlichkeit« hinausgeht, inwieweit die Abkehr vom früheren »Nihilismus« 4 ' Schopenhauerscher Prägung, der noch den Zauberberg beherrscht, 42 tatsächlich für einen politischen Beitrag taugt. Um das festzustellen, ist es nötig, Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte in den Zusammenhang mit der Höllenfahrt zu stellen. Ein Blick auf Thomas Manns politische Entwicklung 41

41

Noch in seinem Aufsatz Die deutsch-französischen Beziehungen von 1922 dachte Thomas Mann beide Kategorien zusammen in der Wendung vom »Nihilismus der Menschenfreundlichkeit« (XII, 624). Vgl. Borge Kristiansen: Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik, S. 298-309 (= Der Zauberberg: Schopenhauer-Kritik oder Schopenhauer-Affirmation? Eine Nachschrift) 115

seit 1918 verdeutlicht, welche zentrale Rolle dabei dem Geist-Leben-Konflikt zukommt und in welcher gedanklichen und unmittelbar zeitbezogenen Auseinandersetzung das Vorspiel dementsprechend steht. In der Vorrede der Betrachtungen eines Unpolitischen appelliert Thomas Mann emphatisch an die Leser, sich kundig zu machen »bei den Kennern der Völkerseelen«: sie werden euch Aufschluß erteilen über das gehaltene Wesen der deutschen Demokratie. Sie werden euch überzeugen, daß nicht Mißachtung des Geistes, daß Ehrfurcht vor ihm der Grund dieser Gehaltenheit ist; denn Ehrfurcht vorm Geiste macht skeptisch gegen Aktionsprogramme zu seiner politischen »Verwirklichung«. ( X I I , 37)

Hier wird deutlich, daß Thomas Manns politisches Argumentieren gelenkt wird von philosophischen Leitlinien, die Schopenhauer vorgibt. Der »Verwirklichung«, die auf »Aktionsprogramme« zielt, auf Tätigwerden im Gegenwärtigen, steht die »Ehrfurcht vorm Geiste« entgegen. Der ist offenbar ungegenständlich auf Metaphysisches gerichtet und deswegen nicht geeignet, für die Demokratie in Anspruch genommen zu werden. Der philosophische Gegensatz von Geist, der nach metaphysischer Erkenntnis strebt, und Leben, das sich dieser Erkenntnis verweigert und deswegen uneinsichtig auf gesellschaftliche Verbesserung zielt, bildet derart die Voraussetzung für den weltanschaulichen Konflikt zwischen dem »Unpolitischen« und den »Zivilisationsliteraten«. Uber die Betrachtungen handelt Mann auch in seinem offenen Brief an Hermann Grafen Keyserling von 1920. E r beglückwünscht darin Keyserling zu seinem Plan, eine »>Stiftung für freie Philosophie< zu errichten, [...] die Heimstätte und Schule nicht eigentlich wissenschaftlicher Forschung, sondern schlechthin der Weisheit wäre« (XII, 593). In ihr solle, Mann zitiert Keyserling, die lebendige »>Einheit von Erkennen und Sein«< (XII, 594) gelehrt werden. Mann begrüßt das Vorhaben deswegen so enthusiastisch, weil eben diese Einheit in Deutschland verloren sei. Notwendig sei deshalb »die Geburt der neuen Synthese von Seele und Geist in Deutschland.« (XII, 59;) Dieses »Problem der modernen Menschheit, das Problem der Wiederverknüpfung von Geist und Seele und damit des Lebens selbst« sei »in Deutschland recht eigentlich beheimatet [...], weil es als Problem nur hier wahrhaft erlebt und erlitten wird« (XII, 590f.). A n seiner Lösung habe er, Thomas Mann, schon mit den Betrachtungen eines Unpolitischen gearbeitet. Dieses Buch ordnet er folgendermaßen in den skizzierten Problemhintergrund ein: Die fortschreitende Zerstörung aller psychischen Wirklichkeit und seelischen Form, die scheinbar unaufhaltsame Anarchisierung und Barbarisierung der Men116

schenwelt durch den revolutionären Intellekt war es, was das Buch als Grundtatsache unseres Lebens voraussetzte; es war die persönlich-überpersönliche QualErfahrung, woraus es letzten Endes erwuchs. ( X I I , 597)

Die Politisierungsbestrebungen des Zivilisationsliteraten ^revolutionärer Intellekt) bedrohten also Thomas Manns inneres Gleichgewicht ^psychische Wirklichkeit^ >seelische FormanarchisiertenGeistes< zu verteidigen.« (XII, 597) Hier tritt ein terminologisches Problem auf, dessen man sich bewußt sein muß, um sich nicht im Gestrüpp von Leben, Seele, Geist und Politik zu verheddern: »Geist« meint hier, im Kontext der Betrachtungen, die Sphäre des Zivilisationsliteraten, die für Politik und Demokratie steht; Geist ist hier der Glauben an die Machbarkeit des eigenen Schicksals und also nicht das auf metaphysische Wahrheit gerichtete Prinzip der Höllenfahrt, das dem Leben entgegensteht. Zwischen 1914 und 1918 sei Deutschland in Gefahr gewesen, seine Rolle als seelisches Prinzip an die oberflächliche, weil nur der Erscheinungswelt zugewandte, Demokratie zu verlieren. Damit hätte es die Stellung in der Welt eingebüßt, die es auszeichnete. Wandte Mann sich also 1914 gegen den »Geist« (der »Zivilisationsliteraten«), so sprach er für eine deutsche Welt der Innerlichkeit, in der er seine metaphysische Weltschau vollziehen könne. Als er in den zwanziger Jahren für den »Geist« (als metaphysischer Betrachtung des Lebens) sprach, tat er das gleiche, wandte er sich ebenfalls gegen eine nur platt gegenständliche Welt. A u f der Ebene von Geist und Leben nimmt sich dieses Deutschland-Problem folgendermaßen aus: und wenn es wahr ist, daß die Wiederverknüpfung von Seele und Geist, dieses Problem aller Bildung und Menschenordnung, in Deutschland am meisten Aussicht auf Lösung hat, weil sie als Problem hier am deutlichsten, schmerzlichsten und verlangendsten empfunden und erschaut wird, so beweist dies, daß in Deutschland am meisten >Seele< lebendig geblieben war und ist, daß hier die relativ stärksten Hemmungen gegen den allgemeinen und reißenden Niedergang seelischen Lebens sich erhalten hatten. ( X I I , 597)

Schon in diesem frühen Selbstkommentar zu den Betrachtungen nennt er sein Vorhaben dialektisch. E s erhält seinen Sinn erst, wenn es eingebettet wird in einen übergreifenden Zusammenhang. Die Betrachtungen eines Unpolitischen wollen nicht absolut, sondern nur relativ im Hinblick auf einen Ausgleich der beiden einander entgegengesetzten Prinzipien Geist und Leben verstanden werden, und es spricht vieles dafür, daß sie trotz ihrer oft rabiaten Argumentation schon bei ihrer Entstehung so intendiert waren. 4 ' 4i

Vgl. z.B. X I I , 20 oder 582f. Bedenkenswert ist freilich, daß sich Äußerungen der

"7

I n einer Z e i t , in der im Interesse einer v e r m e i n t l i c h e n L e b e n s g a n z h e i t v i e l f a c h d i e V e r n i c h t u n g des G e i s t e s g e f o r d e r t w u r d e , m u ß sich s o l c h eine dialektische H a l t u n g freilich d e m G e i s t zuwenden.

U n d so heißt es s c h o n

E n d e 1 9 2 0 , in j e n e m o f f e n e n B r i e f an K e y s e r l i n g : Wollen Sie glauben, daß ich mich dem Geiste hinlänglich befreundet fühle, um mich der Einsicht, nur von ihm — und nicht von der >SeeleGlauben< könne die Wiederverknüpfung ausgehen, bereitwillig zu öffnen? »Was der Kritik nicht standhält, wird nie mehr dauernd herrschen können.« Jeder Versuch, das Alte, das durch Kritik Tote aus sich selbst, aus der Autorität und von Gemüts wegen wieder zu beleben, ist Obskurantismus, und in ihm haben weder der Geist noch auch die Seele ein gutes Gewissen, während doch eben nur dieses einer Lebensund Seelenform Dauer verbürgt. Man verwechsle auch nicht Gemüt und Roheit! Denn Reaktion und Obskurantismus sind Roheit — sentimentale Roheit; und wenn ich mich in den >Betrachtungen< gegen die Geistestugend auf die Seite der Romantik schlug, so ist es nur darum unnötig, unsere Pogrom-Monarchisten und Patriotenlümmel vor Verwechslungen zu warnen, weil sie die >Betrachtungen< nicht lesen können. ( X I I , 601 f.) O b w o h l T h o m a s M a n n 1920 n o c h k e i n e s f a l l s u n e i n g e s c h r ä n k t bereit w a r , die D e m o k r a t i e z u unterstützen, w i r d hier schon g e i s t i g b e g r ü n d e t , w a s i m O k t o b e r 1 9 2 2 als B e k e n n t n i s zur R e p u b l i k ö f f e n t l i c h als U m s c h w u n g registriert w u r d e . M a n n fahrt fort: Was not tut, sprechen Sie aus: daß der Geist aufhöre, nur sich selbst, das heißt die Zerstörung zu wollen, daß er sich entschließe, fortan dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem Wiederaufbau seelischer Form zu dienen, daß er zur Weisheit werde. Denn Weisheit ist nichts anderes als die Vereinigung von Leben und Wissen, von Seele und Geist. Es ist noch nicht zu spät, aber alle Zeichen lehren, daß es der äußerste Augenblick ist und daß das Chaos hereinbricht, wenn er versäumt wird. (XII, 602) A h n l i c h w i e die a n t i d e m o k r a t i s c h e n S t r ö m u n g e n der W e i m a r e r R e p u b l i k a r g u m e n t i e r t M a n n aus einer S e h n s u c h t n a c h » L e b e n « , nach » G a n z h e i t u n d H a r m o n i e des M e n s c h e n « . D a s sind Werte, die eine D e m o k r a t i e i n seinen A u g e n nicht wiederherstellen k a n n . J e d o c h will er sich auch nicht zur M o narchie z u r ü c k w e n d e n . J e d e n V e r s u c h , G a n z h e i t auf diese Weise w i e d e r gesellschaftlich

zu errichten, wertet M a n n als reaktionär. D a h e r plädiert er,

Romantiker

ohne

gesellschaftliche A m b i t i o n e n ,

f ü r einen

vergeistigten

K o n s e r v a t i s m u s , u m deutsche I n n e r l i c h k e i t wiederherzustellen. H i n t e r dievermittelnden Art vornehmlich in der Vorrede und am Ende des Buches, also in den zuletzt geschriebenen Passagen finden, während im Mittelteil ein wesentlich stärkeres Absolutheitspathos herrscht. Ich vermute daher, daß sich Thomas Mann der Relativität seiner Position erst gegen Kriegsende bewußt wurde. Insofern könnte man schließen, daß der Prozeß seines politischen Wandels, der von der Öffentlichkeit erstmals im Oktober 1922 anläßlich von Manns Rede Von Deutscher Republik (in einschlägigen Kreisen mit Empörung) bemerkt wurde, exakt mit dem Kriegsende 1918 einsetzt.

118

sem Interesse w i r d der politische R a h m e n z w e i t r a n g i g . D a s k o m m t s c h o n in e i n e m P r i v a t b r i e f an K e y s e r l i n g v o m J a n u a r 1 9 2 0 z u m V o r s c h e i n , in d e m es heißt: Sehr hat mich Ihre Äußerung interessiert, daß in Kurzem die Konservativen wieder am meisten in Deutschland zu sagen haben werden. Ich glaube es selbst; die Natur stellt sich am Ende irgendwie wieder her, und »der Deutsche ist konservativ«, - Wagner wird damit ewig recht behalten. Nichts ist aus eben diesem Grunde wichtiger, als die Vergeistigung des deutschen Konservativismus, — und darauf läuft ja am Ende Ihr ganzes Betreiben hinaus. Denn es handelt sich dabei um nichts anderes, als um die berühmte »Wiederverknüpfung von Geist und Seele«." S o läßt sich i m Brief

an Hermann

Grafen

Keyserling

d e r B e g i n n einer D e n k -

tradition f e s t m a c h e n , die sich k o n t i n u i e r l i c h d u r c h das g e s a m t e Weimarer J a h r z e h n t u n d weit d a r ü b e r hinaus v e r f o l g e n ließe. In ihr b e g e g n e t der Geist-Leben-Konflikt

immer wieder

den

Forderungen

der

Gegenwart.

M a n n v e r s u c h t , seine p h i l o s o p h i s c h e S u c h e n a c h Wahrheit, die sich i h m i m m e r nur m e t a p h y s i s c h darbietet, mit der k o n k r e t e n

zeitgeschichtlichen

S i t u a t i o n zu v e r m i t t e l n . 1 9 3 0 , in seiner R e d e Die Bäume im Garten,

erscheint

das P r o b l e m w i e d e r , u n d z w a r als eine s p e z i f i s c h deutsche A u f g a b e : Es gibt nun unter den europäischen Völkern eines, von dem man vielleicht ohne Uberhebung sagen kann, daß ihm die Idee des Lebens auf eine besondere, innige, leidenschaftliche und schmerzliche Weise am Herzen liegt, so daß es denn auch oft in die religiöse Erörterung dieser höchsten Angelegenheit regierend, entscheidend und führend eingegriffen hat, und zwar wiederum auf eine besondere Weise. Ich meine das deutsche Volk, und ich wage hinzuzufügen, daß es sich mit seinen Gedanken zuweilen von der Glaubenshaltung der übrigen westlichen Welt getrennt, sich von ihr isoliert hat. (XI, 864) N o c h 1 9 3 0 spielt er u n m i ß v e r s t ä n d l i c h a u f die Betrachtungen

an, w e n n e r d e n

K r i e g u n d sein K r i e g s b u c h aus seiner r o m a n t i s c h e n G e s i n n u n g h e r a u s als das n o t w e n d i g e G e g e n g e w i c h t zu d e m einseitig g e w o r d e n e n P r o z e ß der A u f k l ä r u n g interpretiert: Wiederholt, in Zeiten sogenannter Aufklärung und des rationalen Fortschritts, in Zeiten ideologisch matter Lebensverflachung und -Verdünnung also nach seinem Gefühl, hat der deutsche Gedanke dem Erdteil auf diesem Wege, der ihm als der Weg des Todes erschien, mit heiliger Beredsamkeit Halt geboten, hat im Namen des Lebens und des schöpferischen Prinzips Einspruch erhoben gegen die Anämisierung des Menschen durch den Logos und den Anstoß gegeben zu einer chthonischen Revolutionierung des menschlichen Denkens und Welterlebnisses, zu einer neuen Einbeziehung der nächtig-gemüthaft-fruchtbaren Kräfte in dies Denken und Erleben, welches dadurch jedesmal und unzweifelhaft an Fülle und Tiefe gewann. (XI, 86;) 44

Briefe /, S. 173. Brief vom 18.1.1920. 9

Zwar redet er hier »im Namen des Lebens«, jedoch gilt ihm »Leben« als Prinzip geistiger Tiefe, die sich nicht rational-fortschrittlich erlangen läßt. Man sieht hier, wie seine romantische Weltschau mit seinem Bedürfnis zusammentrifft, sich metaphysisch zu versichern: Dem Gesellschaftlichen, das es [das deutsche Gemüt] als bloß rational verachtet, stellt es seine Welt des Individuellen, Intimen und Religiösen, kur2: das Ewige entgegen, und das ist schön. ( X I , 866)

Dabei wird das deutsche Gemüt politisch. Dieser Dimension seiner Lebenskümmernis ist er sich aber mittlerweile durchaus bewußt geworden, und deswegen erfährt sein Gedankengang jetzt eine charakteristische Wendung. Dem nur >Schönen< und nur >Ewigen< setzt er eine Vernunftentscheidung entgegen: Aber nur, weil es schön und seelenvoll ist, ist es vielleicht nicht jederzeit erlaubt, und vielleicht ist es nicht gut, das deutsche Gemüt in solcher Antithetik vom philosophischen Katheder her zu bestärken. [...] Heißt es wirklich die Lebensidee in den Mittelpunkt des Denkens stellen, wenn man in lehrhafter Rigorosität Seele und Geist auseinanderreißt in einem Augenblick, w o alles darauf ankäme, die Vernunft mit Seele und die Seele mit Vernunft zu erfüllen; wenn man den Geist als Henker des Lebens, Wort, Wille und Tat als irreligiös verschreit und einen still anschauenden Naturfatalismus predigt zu einem Zeitpunkt lebenswichtigster rationaler Forderungen? (XI, 866f.)

Der >philosophische Kathedermythischer< Gründer einer Literatur. Das Klassische sei ein erzväterlich geprägter Urtypus, in dem späteres Leben sich wiedererkennen, in dessen Fußstapfen es wandeln wird - ein Mythus also, denn der Typus ist mythisch, und das Wesen des Mythus ist Wiederkehr, Zeitlosigkeit, Immer-Gegenwart. (IX, 229)

Deutlich wird hier, wie die Gedankenwelt von Joseph und seine Brüder in Manns Lessing-Deutung hineinspielt. Zum anderen wird Lessing aber auch in einer besonderen, nämlich der deutschen Tradition verankert: Denn man muß die Idee des Anfanges mit der des Nationalen in Verbindung bringen, wenn man nicht damit ins Uferlose geraten, sondern in ihr zu irgendwelchem Halt und Stillstand, irgendwelcher gedanklichen Beruhigung gelangen will. Wohin käme man, wollte man den Begriff des Anfangs seiner verhältnismäßigen Natur entkleiden? Es gibt nur bedingte Anfänge. Das Weltgeschehen ist ein Kulissengeschiebe von Anfängen, das zu immer älteren Anfängen ins Unendliche lockt, und der Dinge Uranfang liegt, unserer stillen Mutmaßung nach, nicht in der Zeit, das heißt: er ist transzendent. Auch die Geschichte der Völker, des deutschen Volkes zum Beispiel, hat viele Anfänge. (IX, 229)

Solche Gedanken sind bis in die Wortwahl hinein identisch mit dem Beginn des Joseph-Romans. Schon dort hieß es, mit Blick auf Joseph, daß sich die Erinnerung an die Ur-Anfänge »denn auch national beruhigen und zum persönlich-geschichtlichen Stillstande kommen mag« (IV, 10). Die Parallelen liegen offen: die Verbindung des Mythischen mit dem Nationalen; die Welt als Kulissengeschiebe; die Bedingtheit alles erscheinenden Seins; und schließlich, daraus folgernd auf die Gesamtintention der Höllenfahrt, die metaphysische Welt. Sowohl Joseph als auch Lessing ruhen in einer nationalen Welt. Erst das gibt ihnen die Möglichkeit, in die Gefilde der »Zeitlosigkeit« und »ImmerGegenwart« vorzudringen. Umgekehrt besteht gerade in dieser Hinwendung zum Zeitlosen ihr nationales Verdienst. Lessings Nationalbewußtsein sei jedoch kein billiger Patriotismus, der aus Feindbildern seine Kraft beziehe. Vielmehr bestand »Lessings nationale Sendung [...] in kritischer Klä123

rung.« (IX, 231) Diesen Geist der Kritik zeitige schon die Sprache selber, »denn Sprache selbst ist Kritik des Lebens: sie nennt, sie bezeichnet und richtet, indem sie lebendig macht.« (IX, 233) Sichtbar bezeichnet Mann hier nicht nur ein singuläres Vermögen Lessings, sondern ebenso seinen eigenen Versuch in Joseph und seine Brüder, Wahrheit zu finden über die kritische Prüfung mythischen Materials. Diese Wahrheit Lessings sei jedoch keineswegs objektiv und also immergeltend, sondern sowohl seiner Zeit als auch seiner Person verbunden: Aber wenn er recht hatte, so haben es darum die anderen nicht, die ihm nachsprachen. In lessingischer Sphäre gewöhnt man sich an die Relativierung, die Vermenschlichung des Wahrheitsbegriffes und an den Gedanken, daß die Kriterien des Wahren weniger in der verfochtenen Wahrheit selbst liegen, als in dem, der sie verficht. (IX, 234)

Aus dieser durchaus eigentümlichen, sehr romantischen Lessing-Interpretation leitet Mann dessen Verdienst her, eine Humanität aus dem Geist des Widerspruchs gegründet zu haben, ebenso wie die Menschenfreundlichkeit der Höllenfahrt sich erklärt aus der Widersetzlichkeit des Geistes gegen das Leben: Widerspruch und Zweifel, die Tendenz dazu ist nicht nur ein Z u g des klassischen Typus, den Lessing gegründet, sondern der Zweifel ist seine Region und Religion, die Lebenssphäre, in der er atmet. Der Zweifel als Glaube, Skepsis als Leidenschaft, das ist recht eigentlich Lessings Paradoxon, ein Paradoxon des Herzens und nicht des Verstandes, und eines damit ist ein Wahrheitsbegriff und Wahrheitspathos, wie es in so freier Schönheit nicht leicht zum zweitenmal in der Geistesgeschichte hervortritt. [...] Es bedeutet tiefe Skepsis im Objektiven, verbunden mit tiefer Leidenschaft des Forschens, in der allein er das menschlich Sittliche erblickt. (IX, 240)

Thomas Manns Opposition gegen die Zeit entspringt immer dem Impuls, sich der Welt metaphysisch zu versichern. Sie richtet sich gegen jede Erstarrung, die seinen geistigen Lebensraum bedroht. Unter diesem Blickwinkel wird Lessing für Mann zum Denker gegen den Faschismus. Lessing kapituliert nicht davor, daß ewige Wahrheit unerreichbar ist, sondern dient der Gegenwart, indem er an ihr zweifelt. Deswegen ist, was er tut, nicht »Nihilismus« (IX, 240), sondern »Frömmigkeit [...] vor dem Unendlichen und ein ewiges Nachstreben.« (IX, 241) Dieses ewige Nachstreben entspricht der mythischen Perspektive, die die Höllenfahrt dem Menschen öffnet und die sich der modernen Geistverneinung entgegenstellt. In jedem Fall aber speist sich Thomas Manns Widerspruch gegen die Zeit aus der Quelle seiner metaphysischen Weltschau. Der Erzähler hat die ganze Höllenfahrt in die Perspektive Josephs gestellt. Das zeitverlorene mythische Schweifen wird immer wieder auf das Denken 124

und die Lebenswelt Josephs zurückbezogen. Schon in dem überlangen Satz zu Beginn des Vorspiels (IV, iof.) wird ausdrücklich erwähnt, daß in ihm der Name Josephs oft (insgesamt siebenmal) genannt wird. Die sich lose aneinanderreihenden Exkurse in die Tiefen der Zeit werden mit Josephs Lebenswelt verbunden durch Sätze wie: »Joseph war sich nicht immer ganz im klaren darüber, wie weit...« (IV, n ) ; »Zuweilen hielt er den Mondwanderer wohl gar für seinen Urgroßvater...« (IV, 15); »Wir erwähnten zum Beispiel, daß Joseph schöne babylonische Verse auswendig wußte...« (IV, 19); »>Aus den Tagen des Set< — die Wendung gefiel dem jungen Joseph...« (IV, 23); »Wo liegen die Anfangsgründe der menschlichen Gesittung? Wie alt ist diese? Wir fragen so in Hinsicht auf den fernen Joseph...« (IV, 25); »Die Tafelverse, die man dem Joseph vorgesagt und die er sehr gut behalten hatte, kündeten unter anderm...« (IV, 29), und dergleichen mehr. Der doppelte Segen schließlich, der das erklärte Menschheitsziel ist, in das die Höllenfahrt mündet, wird im folgenden leitmotivisch auch für den Protagonisten des Romans verwendet.50 Vor dem zeitgeschichtlichen und philosophischen Hintergrund erweist sich, daß dieser Segen sich nicht als märchenhafte Glückskind-Formel erschöpft. Er ist vielmehr konzipiert als menschheitliche Aufgabe: 5 ' als Verpflichtung, dem Konflikt von Geist und Leben, von Metaphysik und Diesseitigkeit, von transzendenter Sinnorientierung und zeitgeschichtlicher Eingebundenheit, von Pessimismus und Lebensfreundlichkeit immer wieder neu ins Auge zu schauen.'2

,z

Vgl. Berger S. 244, Anm. 13. So spricht auch Hans Wysling: Nar^ißmus und illusionäre Existenzform, S. 74, im Zusammenhang mit dem doppelten Segen, der auf Joseph liegt, davon, »wie heikel es mit solcher Glückskindschaft bestellt ist«. Es handelt sich also um eine nie abgeschlossene, immer aufs Zukünftige gerichtete Aufgabe, die Mann mit dem doppelten Segen beschreibt. Hingegen wurde es die Behauptung der geistigen Anhänger Hitlers, daß diese Aufgabe 1933 erfüllt worden sei. In diesem Sinne formulierte Alfred Baeumler in seiner Rede Männerbund und Wissenschaft von 1934: »Hitler ist nicht weniger als die Idee - er ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich.« Zitiert und kommentiert in Hermann Kurzke: Thomas Mann. Epoche — Werk - Wirkung, S. 249.

I 2

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III. Jaakob am Ende seiner Weisheit: Von den Gren2en metaphysischer Weltanschauung

Es ist des Erzählers erste Aufgabe nach dem großen Einleitungsessay, die Hauptfiguren seiner Geschichte vorzustellen: Jaakob, den Titelhelden des ersten Bandes, und Joseph, der den Mittelpunkt des Romans bildet. Vater und Sohn werden verknüpft mit der Problematik, die auch schon das Vorspiel bestimmte: mit dem Verhältnis von Geist und Leben sowie demjenigen von metaphysischer Disposition und zeitgeschichtlicher Eingebundenheit. Es geht im folgenden darum, der Auseinandersetzung des Romans mit der Zeitgeschichte aufgrund dieser Prämissen nachzugehen. A n einem kleinen Beispiel will ich vorab zeigen, wie sich Fäden zum politischen Denken Thomas Manns schon an unscheinbarster Stelle knüpfen lassen: Sogar Josephs Schönheit haften von Beginn an politische und, wie ein Blick in die Betrachtungen eines Unpolitischen zeigen wird, transzendente Bedeutungen an. Der Erzähler schildert Josephs Brunnenwaschung. Sein Schöpfbad sei ihm »erwünschte Annehmlichkeit und Vollzug frommer Ordnungsvorschrift zugleich« (IV, 62) gewesen: Diesseitiges Wohlbehagen und geistige Verpflichtung fällt für Joseph zusammen. Dabei ist die Rede von »der hübschen Larve [...] die Gott ihm gegeben« (IV, 63). So kommt der Erzähler auf Josephs Schönheit zu sprechen. Uber dieses Thema nähert er sich seinem Charakter: Schöne L e u t e meinen ihre Natur ja noch zu erhöhen und >sich schönmachen< zu sollen, vermutlich aus einer A r t v o n G e h o r s a m gegen ihre erfreuliche R o l l e und indem sie den e m p f a n g e n e n G a b e n einen Dienst widmen, dem man den Sinn der F r ö m m i g k e i t beilegen und also gelten lassen mag ( I V , 63).

Der Erzähler deutet Josephs Schönheit einerseits als Gabe, andererseits als Verpflichtung, der er den religiösen Begriff der »Frömmigkeit« unterlegt. Damit wird ein zunächst sehr diesseitiger Umstand abermals auf Jenseitiges transzendiert. All diese Überlegungen vollzieht der Erzähler im Umfeld von Josephs Waschung, und fahrt dann, diesen Gedanken noch weiter ausspinnend, fort: A u c h ist Schönheit ja nie vollkommen und hält ebendarum zur Eitelkeit an; denn sie macht sich ein Gewissen aus dem, was ihr zum durch sie selbst gegebenen Ideale fehlt — was eben doch wieder irrig ist, da ihr G e h e i m n i s eigentlich in der A n z i e h u n g s k r a f t des U n v o l l k o m m e n e n besteht. (IV, 63)

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Zwar zeichne sich Schönheit also dadurch aus, daß sie immer nach dem Ideal strebe, gleichzeitig bestehe ihr »Geheimnis« jedoch »in der Anziehungskraft des Unvollkommenen«. Das »Geheimnis« bestand schon in der Höllenfahrt darin, daß sich hinter der jeweils gegenwärtigen Welt eine immerseiende verberge. Von der »Aufhebung der Zeit, die uns angeht« (IV, 32) war da die Rede, und daß das »Wesen des Geheimnisses zeitlose Gegenwart« (IV, 32) sei. Auch das Geheimnis von Josephs Schönheit ist, daß sie auf ein jenseits ihrer selbst gelegenes Ideal verweist. Schon in einer ganz anderen Schrift, in Ironie und Radikalismus, dem letzten Kapitel der Betrachtungen eines Unpolitischen, kommt Mann auf Schönheit zu sprechen, und zwar im Zusammenhang mit dem Geist-Leben-Konflikt. Da heißt es: Zwei Welten, deren Beziehung erotisch ist, ohne daß die Geschlechtspolarität deutlich wäre, ohne daß die eine das männliche, die andere das weibliche Prinzip darstellte: das sind Leben und Geist. Darum gibt es zwischen ihnen keine Vereinigung, sondern nur die kurze, berauschende Illusion der Vereinigung und Verständigung, eine ewige Spannung ohne Lösung... Es ist das Problem der Schönheit, daß der Geist das Leben, das Leben aber den Geist als >Schönheit< empfindet... ( X I I , 569)

Schönheit im gegenwärtigen Leben richtet sich nach einem vom geistigen Prinzip vorgegebenen Ideal: Erst der Geist macht Schönheit überhaupt möglich, indem er der Erscheinung ein ewiges Ideal vorhält. In den Betrachtungen führt Thomas Mann diesen Gedanken fort: Der Geist, welcher liebt, ist nicht fanatisch, [...] er wirbt, und sein Werben ist erotische Ironie. (XI, 569)

Der Geist liebt das Leben, obwohl er weiß, daß es letztlich »Illusion« ist. Diesen Gedanken verknüpft Thomas Mann im folgenden selbst mit der Politik. Seine Lebenshaltung sei, die Liebe zum Leben trotz seines illusorischen Charakters zu wahren: Man hat dafür einen politischen Terminus; er lautet »Konservativismus^ Was ist Konservativismus? Die erotische Ironie des Geistes. (XI, 569)

Thomas Manns konservative Position in den Betrachtungen erklärt sich aus seiner philosophisch begründeten Weigerung, die Welt der Erscheinungen allein als vollgültige anzuerkennen. Schon in die ersten Erläuterungen des Erzählers zu Josephs Schönheit ist damit der Konflikt eingelagert, der auch Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte bestimmte. War in den Betrachtungen jedoch davon die Rede, daß die »Verständigung« beider Prinzipien immer nur eine »kurze, berauschende Illusion« sei, worin eben »das Problem der Schönheit« bestehe, so geht Mann in Joseph und seine 127

Brüder andere Wege. Denn nur scheinbar relativiert er im folgenden Josephs Schönheit, um sie gleich darauf um so stärker hervorzuheben. Joseph, den wir »hier in Wirklichkeit vor uns sehen« (IV, 63), sei »übermütig und maßlos« (IV, 64) gerühmt worden, und dem wolle er »eine nüchterne Anschauung der Tatsachen« (IV, 64) gegenüberstellen. Das macht er zum Beispiel so: Den Ausdruck hochmütiger Sinnlichkeit, den aufgeworfene Lippen hervorrufen, wollen wir nicht rügen. E r kann täuschen, und außerdem müssen wir, gerade was die Lippenbildung betrifft, den Blickpunkt von Land und Leuten wahren. Dagegen würden wir uns für berechtigt halten, die Gegend zwischen Mund und Nase zu gewölbt zu finden - wenn nicht ebendamit eine besonders ansprechende Gestaltung der Mundwinkel zusammengehangen hätte, in denen nur durch das Aufeinanderliegen der Lippen und ohne Muskelanziehung ein ruhiges Lächeln entstand. (IV, 6 ; )

Zunächst also relativiert er Josephs Schönheit. Vor dem Hintergrund der spannungsgeladenen Geist-Leben-Dynamik heißt das, daß er ihren illusorischen Charakter hervorhebt: die faktische Unmöglichkeit, beide Pole zu vereinigen. Dann aber relativiert er die Relativierung, die sich somit in Nichts auflöst; und Josephs Schönheit kehrt nunmehr geprüft und gestärkt aus der Untersuchung des Erzählers wieder hervor. Joseph ist schön, das heißt: Hier wird im Leben möglich, was Mann noch in den Betrachtungen nur illusorisch sein konnte. 1918 noch definierte er diese philosophische Position als »Konservativismus«, woraus er seine >unpolitische< Haltung ableitete. Wenn nun in Joseph Geist und Leben tatsächlich harmonisch zueinander finden, dann bedeutet das eine Abkehr von der Meinung, daß die Welt nur Illusion sei. Der Joseph-Roman affirmiert optimistisch, was in den Betrachtungen noch als Wirklichkeitsskepsis erscheint - und eröffnet damit die Möglichkeit von politischem Engagement.

Von der Politizität des Unpolitischen: Jaakob, Joseph und »der Mann Jebsche« Das Kapitel über Josephs Schönheit trägt die Überschrift Ruhm und Gegenwart. Indem der Erzähler Josephs »Ruhm« kritisch begutachtet, motiviert er den Mythos, der sich um seine Schönheit rankt, realistisch. So gelingt es ihm, ihn lebendig in die »Gegenwart« zu transponieren. Nur so wird er auch dem zeitgenössischen Leser glaubhaft, ohne daß »die Gesundheit unseres Urteils bedroht« (IV, 64f.) erscheint. Sehr rasch bietet sich die Möglichkeit, dieses zu bewähren, denn Joseph scheint trotz seiner idealen Voraussetzungen nicht ohne Anfechtungen zu sein: 28

Seine Andachtsübung, lyrische Unterhaltung oder was es nun war, schien ihn fortzureißen, die wachsende Selbstvergessenheit, in die sein Treiben ihn einlullte, ins nicht mehr ganz Geheuere auszuarten. (IV, 66)

Die Vorzüge Josephs sind auch mit Gefahren behaftet. Das Leben, das sich selbst genug ist, gerät in Gefahr, sich zu entgleiten und abzuweichen von »freundlich verständiger Gesittung« (IV, 67). Von Joseph heißt es, daß »sein Treiben ihn einlullte« (IV, 66). Der Erzähler charakterisiert ihn als »Einsamen« (IV, 66), und sogar von seiner Stimme heißt es in dieser Situation, daß sie von »unzulänglicher organischer Resonanz« (IV, 66) sei: fehlender Außenbezug überall. Josephs Ich kreist ganz in sich selbst. Das ist eine Gefahr, der der ästhetizistische Künstlertypus in den ersten Jahrzehnten nach der Jahrhundertwende zu erliegen droht. Thomas Mann hat sie in zahlreichen Novellen beschrieben. Josephs Verhalten wird prompt in Verbindung gebracht mit der Frage, »wessen Sache es war, sich um seine Seele zu kümmern, die in diesem Falle vielleicht als berufen, aber jedenfalls als gefährdet zu gelten hatte.« (IV, 67) Das deutet voraus auf die Funktion des im folgenden auftretenden Vaters: Regulativ des Abgründigen zu sein. Er vertritt die vor solcherlei Anfechtungen gefestigten Bahnen des Geistes. Der Leser lernt Jaakob zunächst aus der Sicht Josephs am Brunnen kennen. Seine Beschreibung im Folgekapitel bleibt deswegen weitgehend äußerlich. Seine Gestalt erscheint in der »Scheingenauigkeit und phantastischen Klarheit« (IV, 68) des Mondlichts (der spezifischen Joseph-Sphäre), und auch über Jaakobs Leben erfährt der Leser nur in Andeutungen und aus der Perspektive des Sohnes: Joseph wußte wohl, daß der Vater im Leben nicht immer eine würdevolle und heldische Rolle gespielt hatte. (IV, 6Brudergelebte Vita< auch >gelebter Mythus< sagen kann. Der gelebte Mythus aber ist die epische Idee meines Romans, und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan habe, mein heimliches Verhältnis zur analytischen Sphäre sozusagen in sein akutes Stadium getreten ist.« (IX, Vgl. dazu im Zusammenhang mit Thomas Manns Goethe-Imitatio Hans Wysling: Nar^ißmus und illusionäre Existenzform, S. 22of. " Hans Wysling: Schopenhauer-Leser Thomas Mann. In: Schopenhauer Jahrbuch 64 (1983), S. 6 1 - 7 9 , raacht darauf aufmerksam, daß im foseph »zwei verschiedene mythische Erfahrungen nebeneinander« stehen (S. 72), nämlich zum einen diejenige Eliezers, zum anderen die von Joseph, in welchem »der metaphysische Aspekt«, weil er sich »bewußt« identifiziere, »subjektiviert und damit ins Psychologische umfunktioniert« sei. Um so bezeichnender, wenn der Erzähler sich sogar bemüht, die noch unausgereifte, frühe Stufe mythischen Selbstverständnisses in ein inniges Verhältnis zum heutigen Denken zu stellen.

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duellen Daseins darin erblickt, gegebene Formen, ein mythisches Schema, das von den Vätern gegründet wurde, mit Gegenwart auszufüllen und wieder Fleisch werden zu lassen« (IV, 127); oder es liege eben die von Eliezer schon bekannte »Erscheinung offener Identität« (IV, 128) vor. Das »Selbstgefühl« (IV, 128) der Romanfiguren lasse sich mit der »Verschränkung« beider Lebensformen erklären. Solch mythisches Zwielicht ist kaum geeignet, die Frage nach Jaakobs individueller Identität im Sinne eines modernen Ich-Verständnisses zu beantworten. Überdies kann, wie der Erzähler nicht zu erwähnen vergißt, allein rechnerisch, worauf ja auch schon in der Höllenfahrt aufmerksam gemacht wurde, Abraham gar nicht der >wirkliche< Großvater Jaakobs gewesen sein. Auch genealogisch kann somit die Frage, »wer Jaakob war«, keinesfalls als geklärt gelten. Im Gegenteil bewirkt die Verschmelzung von mythischem Selbstverständnis und frommer Zeitlosigkeit, daß der Leser hinsichtlich dieser Frage völlig verunsichert wird. Meinte man vorher, wenigstens etwas zu wissen, so weiß man jetzt gar nichts mehr. In dieser Richtung arbeitet der Erzähler konsequent fort. In einem weiteren Schritt weist er die ganze »Gemeinschaft« in Folge von Abrahams »Stammvaterschaft« als Glaubens- und keinesfalls als Blutsgemeinschaft aus: E s ist notwendig, Abrahams, des Ur-Einwanderers, Stammvaterschaft hauptsächlich geistig zu verstehen, und ob Joseph wirklich im Fleische mit ihm verwandt war, ob sein Vater es war - und zwar in so gerader Linie, wie sie annahmen —, steht stark dahin. (IV, 129)

Damit ist die fixierbare Stellung Jaakobs noch weiter aufgehoben. Und schließlich wird auch noch das Erlebnis, das seine geistige Identität und Singularität, seine auserwählte Stellung vor Gott und vor den Menschen bezeugen soll, in Urzeiten der Vergangenheit zurückgeführt. Sein Name Israel, den Jaakob sich einst errungen, war keine Erfindung seines eigentümlichen Gegners gewesen. Gottesstreiter, so hatte sich immer ein räuberisch-kriegerischer Wüstenstamm von äußerst ursprünglichen Sitten genannt (IV, 130).

So sieht sich am Ende des Kapitels der Leser unseres Jahrhunderts, der wissen will, wer Jaakob war, in seinen konventionellen Erwartungen getäuscht. Parallel zu dieser Entindividuierung Jaakobs wird aber eine Tradition etabliert, die sich durchaus fassen läßt: Jaakobs Name, so wenig er sich auf eine Person festlegen lasse, werde zum »unterscheidenden Merkmal reineren und höheren Ebräertums« (IV, 132). Diese Tradition, in der Jaakob steht, ist getragen von »geistigefr] Spekulation« (IV, 131). Abermals dient der Name dazu, die Wirklichkeit auf ihren geistigen Urgrund zu transzendieren. 146

Der Leser, der in diesem Kapitel die Antwort auf die Frage sucht, die die Uberschrift stellt, muß sich mit diesem mythischen, entindividualisierenden, hoch abstrahierenden und deswegen letztlich auch wieder hochmodernen Fazit begnügen: Jaakob ist immer derjenige, der sich um die geistige Ausbildung des Gottesgedankens bemüht. So sind, wenn sie sich über den Jaakob verständigen, auch Erzähler und Leser in den mythischen Zirkel mit eingeschlossen. Denn die rechnerische Präzision, mittels der sie das Individuum einmalig festlegen wollen, fuhrt genau zum Gegenteil: zu seiner Auflösung, die den einzelnen Menschen allein im Sinne offener Identität oder Nachfolge als Typus faßbar sein läßt. Wenn der Erzähler künftig Jaakobs desaströses Verhalten nachzeichnet, so muß dies nicht als Kritik an einer Person, sondern als Kritik an dem vergeistigten und weitabgewandten Jaakob-Typus gelesen werden, der sich der Forderung der Gegenwart, politisch zu denken und gesellschaftlich zu handeln, konsequent verweigert. Zunächst berichtet der Erzähler von Jaakobs Flucht, nachdem er sich den Segen Isaaks erschwindelt hat. Sein weltliches Verhalten kontrastiert dabei aufs stärkste zu der so beherrschenden geistigen Stellung, die der alte Jaakob einnehmen wird. Schon in den ersten Sätzen des Folgekapitels wird eigens herausgestellt: »Jaakob war nicht kriegerisch.« (IV, 132) Seine Ängstlichkeit wird noch dadurch unterstrichen, daß sie den kämpferischen Lea-Söhnen vergleichend gegenübergestellt wird: Lot zu befreien, hätte er Schimeon und Levi überlassen; wenn aber diese, unter dem ihnen bei solchen Gelegenheiten zu Gebote stehenden entsetzenerregenden Geschrei, unter den Mondanbetern ein Blutbad angerichtet hätten, so hätte er sein Angesicht mit dem Schal verhüllt und gesprochen: »Meine Seele komme nicht in ihren Rat!« (IV, 135)

Seine Unfähigkeit, sich im Leben auch in kritischen Situationen heldenhaft zu bewähren, erscheint nun aber nicht als Charakterzug, der sich seiner Geistigkeit und Weitabgewandtheit zufällig beigesellt, sondern geradezu als deren notwendiges Komplement: Denn diese Seele war weich und schreckhaft; sie verabscheute es, Gewalt zuzufügen, sie zitterte davor, welche zu erleiden, und war voll von Erinnerungen an Niederlagen ihres Mannesmutes — Erinnerungen, die ihrer Würde, ihrer Feierlichkeit aber darum nicht Abbruch taten, weil immer und regelmäßig gerade in solchen Lagen physischer Demütigung ein Strahl und Zustrom des Geistes sie getroffen, eine mächtig tröstende und neu bestätigende Offenbarung der Gnade ihr zuteil geworden war, von der sie mit Fug und Recht sich mochte das Haupt erheben lassen, da sie selbst sie aus ihren ungedemütigten Tiefen erzeugt und erzwungen hatte. (IV, 133)

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Seelische, das heißt irdische, und geistige Stärke schließen sich bei Jaakob aus. Seine weltliche Weichheit ist Bedingung für seine geistige Hoheit. Wenn ihm »Gnade« »zuteil« wird, verdankt sie sich in mindestens ebenso großem Maß seiner psychischen Disposition wie seiner Gottesauserwähltheit. Die Drangsalierung seines weichlichen Charakters ist der Ursprung seiner Auserwähltheit. In der Szene, in der sich Jaakob vor dem dreizehnjährigen Esau-Sohn Eliphas bis aufs äußerste erniedrigt, um sein nacktes Leben zu retten »nicht aus gewöhnlicher Feigheit, wie ernstlich erinnert werden soll, sondern weil er geweiht war, weil auf ihm die von Abraham kommende Verheißung lag« (IV, 137) - in der Beschreibung und Kommentierung dieser Szene liegt soviel abschätzige und mokante Ironie, wie der Erzähler dem Verhalten Jaakobs überhaupt entgegenbringen kann, will er seine geistige Erhabenheit hernach wieder gründlich herausstreichen. Wenn Eliphas von Jaakob als »Täuberich mit lichten Schwingen, der junge Bergstier in seiner Pracht, der bildschöne Antilopenbock« (IV, 139) umschmeichelt wird, wenn es heißt, daß »dem Jaakob die plappernd und bettelnd angstgetriebene Rede« »strömte« (IV, 139), so offenbart sich hier seine Schwäche, auf die aus Josephs Sicht schon in der Brunnenszene angespielt worden war: Jaakob habe »im Leben nicht immer eine würdevolle und heldische Rolle gespielt« (IV, 6y{.). Und doch ersteht seine geistige Würde erst aus diesem Kontrast, geschieht ihm die »Haupterhebung« (IV, 140, 143) just in der folgenden Nacht - nachdem er eben noch »sein über den kläglich-stürmischen Zwischenfall noch ganz erstauntes und bockiges Kamel, vor dem er sich etwas schämte« (IV, 140), zu seinem Nachtquartier getrieben hat. Gerade aus der physischen Demütigung entwickelt sich seine geistige Würde, die ihn über Eliphas lachen läßt (vgl. IV, i43f.). Geist und Leben sind in Jaakobs Charakter so angelegt, daß sich die höchste Ausbildung des einen nur in der Entgegensetzung zum anderen vollziehen kann. Der Geist kompensiert die Lebensschwäche. Damit steht Jaakob in der Tradition von Tonio Kröger und Gustav von Aschenbach, deren geistige Größe sich immer aus der schmerzvoll erfahrenen Distanz zum Leben entwickelt. Damit steht er auch in der Tradition des Autors selber, der in den Betrachtungen eines Unpolitischen für den Erhalt einer weitabgewandten Innerlichkeit plädierte, in der allein höheres Deutschtum ungestört von zeitgeschichtlichen Nichtigkeiten gedeihen könne, jenseits aller »Miasmen des Lebens« (Beim Propheten, VIII, 362), und doch schmerzvoll aus diesem geboren. Kritik am Jaakob-Typus ist somit immer auch ein Stück Selbstkritik, Reflexion über das eigene Ich, das einst, wie Jaakob, aus einer Sphäre vergeistigter Innerlichkeit hoheitsvoll auf die Niederungen des Lebens hinabschaute. 48

Daraus ergeben sich konkrete Gefahren. Die Geschichte Dina's liest sich wie eine parabelartige Antwort Thomas Manns auf die Vorwürfe des geistesaristokratischen Konservatismus, der ihn in den zwanziger Jahren des Verrats in eigener Sache bezichtigte. Zunächst aber ist zu fragen nach dem philosophischen Ursprung dieser im mythischen Selbstverständnis Jaakobs begründeten Lebenshaltung. Das entspricht der Frage nach Grenzen und Möglichkeiten des mythischen Modells.

Esau und Jaakob — Metaphysik als Begrenzung und Metaphysik als Entgrenzung Ist in der mythisch-metaphysischen Welt, die Thomas Mann für den JosephRoman entwirft, Veränderung möglich? Ist ein Ich, das sich selbst und die Welt nur findet, indem es alles auf Metaphysisches transzendiert, dem Fortschrittsgedanken zugänglich? Führt mythisch-metaphysisches Denken nicht zwingend zu fatalistischer Lebensabgewandtheit? Das sind die Fragen, denen der Erzähler sich mit dem Modell der rollenden Sphäre und den daran anknüpfenden Geschichten zuwendet. Es sind überdies Fragen, die direkt am Brennpunkt der politischen Zeitproblematik operieren, mit der Mann sich in den zwanziger Jahren auseinanderzusetzen hatte. Denn sein Bekenntnis zur Demokratie war zunächst ein Bekenntnis zur Idee vom sozialen Fortschritt und forderte von Thomas Mann, den metaphysisch begründeten Fatalismus, der noch die Betrachtungen eines Unpolitischen trug, einer kritischen Revision zu unterziehen. Das Modell der rollenden Sphäre greift diese Fragen innerhalb des Romanhorizontes auf. Es wird im Kapitel Der Rote theoretisch vorgestellt und mythisch konkretisiert, um dann, im Kapitel Der große Jokus, seine Anwendung auf Jaakobs und Esaus Leben zu finden. Da heißt es, indem auf das in der Höllenfahrt angekündigte Vorhaben zurückgegriffen wird, den Brunnen der Vergangenheit zu ergründen, daß »unsere Rede nun freilich ins Geheimnis« (IV, 189) einmünde. Mit dem »Geheimnis« ist immer die transzendental-zeitlose Welt gemeint. Im Unterschied zur linear-zeitlichen Welt, deren »Wesen« (IV, 189) die geheimnislose »Strecke« (IV, 189) sei, forme sich das »Geheimnis« als Sphäre: Das Geheimnis ist in der Sphäre. Diese aber besteht in Ergänzung und Entsprechung, sie ist ein doppelt Halbes, das sich zu Einem schließt, sie setzt sich zusammen aus einer oberen und einer unteren, einer himmlischen und einer irdischen Halbsphäre, welche einander auf eine Weise zum Ganzen entsprechen, daß, was oben ist, auch unten ist, was aber im Irdischen vorgehen mag, sich im Himmlischen wiederholt, dieses in jenem sich wiederfindet. Diese Wechselentsprechung

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nun zweier Hälften, die zusammen das Ganze bilden und sich zur Kugelrundheit schließen, kommt einem wirklichen Wechsel gleich, nämlich der Drehung. Die Sphäre rollt: das liegt in der Natur der Sphäre. Oben ist bald Unten und Unten Oben, wenn man von Unten und Oben bei solcher Sachlage überall sprechen mag. Nicht allein daß Himmlisches und Irdisches sich ineinander wiedererkennen, sondern es wandelt sich auch, kraft der sphärischen Drehung, das Himmlische ins Irdische, das Irdische ins Himmlische, und daraus erhellt, daraus ergibt sich die Wahrheit, daß Götter Menschen, Menschen dagegen wieder Götter werden können. (IV, i89f.) D i e s s e i t i g e s w i r d hier mit M e t a p h y s i s c h e m in ein Verhältnis w e c h s e l s e i t i g e r A b h ä n g i g k e i t g e b r a c h t : ' 2 Wenn G ö t t e r M e n s c h e n w e r d e n , w i r d T r a n s z e n dentes diesseitig; w e n n M e n s c h e n G ö t t e r w e r d e n , w i r d D i e s s e i t i g e s transzendent. A u s der T e n d e n z , G o t t weltlich n a c h z u s t r e b e n , entsteht die K r a f t zur M e t a p h y s i k . H i e r w i r d d i e M ö g l i c h k e i t s ä k u l a r e n F o r t s c h r i t t s

fixiert:

M e s s e n läßt er sich d a r a n , o b er d e m m e t a p h y s i s c h e n Ideal entspricht o d e r nicht. D a m i t ist der M e n s c h z w a r e i n g e b u n d e n in eine Welt, die er letztlich nicht b e h e r r s c h t , j e d o c h wird i h m a u c h k e i n e g ä n z l i c h p a s s i v e R o l l e zuteil. Welche G e s t a l t u n g s m ö g l i c h k e i t e n e r innerhalb der m e t a p h y s i s c h determinierten Welt besitzt, verdeutlicht ein m y t h i s c h e s M o d e l l : D e r E r z ä h l e r berichtet d i e G e s c h i c h t e v o n S e t u n d Usiri, d e m M ö r d e r u n d d e m G e m o r deten, d e r d a n n g ö t t l i c h wird. Vermittels eines k o m p l i z i e r t e n M y t h e n s y n k r e t i s m u s identifiziert er d e n getöteten U s i r m i t » J u p i t e r - Z e u s « ( I V , 1 9 1 ) . D a m i t hat er die V e r b i n d u n g zu einer a n d e r e n m y t h i s c h e n B e g e b e n h e i t g e s c h l a g e n , d e n n v o n Z e u s » g e h t die G e s c h i c h t e , daß er seinen Vater, den K r o n o s [...] e n t m a n n t u n d v o m T h r o n e g e s t o ß e n habe« ( I V , 1 9 1 ) . U s i r w i r d z u m Vater- u n d v o r allem: z u m » K ö n i g s m ö r d e r « ( I V , 1 9 1 ) . S o w i r d der G e m o r d e t e z u m M ö r d e r , r ü c k t U s i r in d i e R o l l e Sets und Set in d i e R o l l e U s i r s ein: 12

Den Forschungsstand zu diesem Thema repräsentieren Berger, S. 47-50, sowie Dierks, S. 1 0 9 - 1 1 3 . Berger postuliert zurecht, »der ganze Joseph-Roman läßt sich als Konkretisierung dieser einen epischen Idee begreifen.« (S. 47) Dann aber faßt er das Modell der rollenden Sphäre nur als Sinnbild des metaphysischen Romanfundaments. Es ermögliche, daß sich das Romanpersonal der transzendentalen Welt öffne. Dierks hingegen, und das kommt der Intention des Sphären-Modells schon näher, akzentuiert wesentlich stärker die Gleichrangigkeit von diesseitiger und jenseitiger Sphäre, ja ihre gegenseitige Bedingtheit, so, wenn er die ihm inhärente Idee als »Ausbalancierung von Metaphysik und Psychologie« (S. 109) charakterisiert, oder wenn er davon spricht, daß die »irdische Welt [...] ebenso bejaht« (ebd.) wird wie die himmlische. Diesem Sowohl-als-auch-Modell billigt er nun zwar gedankliche Raffinesse zu, jedoch keine inhaltliche Stringenz. Es bleibe »philosophisch-begrifflich dissonant« (S. 110), der Mythos ermögliche nur eine Quasi-Versöhnung, und so kommt das Fazit von Dierks auch im Modus des Pflichtvollzugs daher: »Ein anthropozentrischer Kosmos hat sich hier mit metaphysischem Determinismus zu vertragen.« (ebd.)

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Dies nämlich ist ein Teil des sphärischen Geheimnisses, daß vermöge der Drehung die Ein- und Einerleiheit der Person Hand in Hand zu gehen vermag mit dem Wechsel der Charakterrolle. Man ist Typhon [Typhon entspricht in der Mythentypologie des Erzählers Set, DW], solange man in mordbrüstender Anwärterschaft verharrt, nach der Tat aber ist man König, in der klaren Majestät des Erfolges, und Gepräge und Rolle des Typhon fallen einem anderen zu. (IV, 191 f.)

Deswegen kann der Erzähler schließen: »Zeus ist Typhon, bevor er siegte.« (IV, 192) Damit ist das mythische Modell aus seinem individualdeterministischen Korsett befreit. Die Grundverteilung des Guten und des Bösen ist zwar vorgegeben, Rollenwechsel jedoch möglich! Indem der Erzähler Set und Usir mit Kronos und Zeus identifiziert, erweitert er die Zweierkonstellation der feindlichen Brüder auf die Dreierkonstellation des Brüder-Vater-Verhältnisses und kann damit die ganze Komplexität des Geschehens zwischen Jaakob und Esau und Isaak einfangen. Im Wechsel vom einen Mythos zum anderen wird Jaakob der Wechsel seiner »Charakterrolle« möglich. Um die göttliche Tradition Usirs fortzuführen, muß Jaakob notwendig eine weltliche Phase durchlaufen, muß den Bruder morden (ihn seines Segens berauben), indem er, gleich Zeus, den Vater Isaak vom Thron stößt (ihn betrügend seine Nachfolge antritt). Set und Usir wandeln so »wieder in der Gegenwart ihres Fleisches, als Jaakob und Esau, und sogar Esau, der Tölpel, wußte so ziemlich, welche Bewandtnis es mit ihm hatte, - wieviel mehr Jaakob, gebildet und sinnreich wie er war?« (IV, 194) Jaakobs Bildung offenbar befähigt ihn zum Fortschritt: zum Wechsel der mythischen Rolle im Rahmen des Sphärenmodells. Ob er dieser Befähigung gerecht wird, steht allerdings in Frage. Der Mythos gibt auch diesen Wechsel vor. Deshalb erscheint auch der sogenannte Segensbetrug nur als Erfüllung des Musters: »In Wahrheit, niemand wurde betrogen, auch Esau nicht.« (IV, 201) Das begründet der Erzähler wie folgt: Denn wenn hier heiklerweise von Leuten erzählt wird, die nicht immer ganz genau wußten, wer sie waren, [...] so betraf diese gelegentliche Unklarheit doch nur das Individuelle und Zeitliche und war geradezu die Folge davon, daß, wer der einzelne wesentlich, außer der Zeit, mythischer- und typischerweise war, jeder ganz ausgezeichnet wußte, auch Esau (IV, 201).

Das Ideengerüst, das der Erzähler hier aufbaut, um den Leser auf das adäquate Verständnis des Jokus vorzubereiten, ist die schon bekannte Zweiteilung in individuelle zeitliche Begrenztheit und immerseiende transzendentale Welt, die das mythische Bewußtsein repräsentiert. Als im Leben befangenes Individuum täuscht Esau sich zwar zeitweise über seine Rolle, wenn er sich als Usir, also als zukünftigen Segensträger sieht. Jedoch erscheint diese Täuschung in der Zeit geradezu notwendig, damit das mythische Geschehen sich so verwirklichen kann, wie es der metaphysischen Wahrheit entspricht: 5

E r weinte und wütete wohl nach geschehenem >Betruge< [...]. Aber er tat das alles, weil es eben so in seiner Charakterrolle lag, und wußte fromm und genau, daß alles Geschehen ein Sicherfullen ist und daß das Geschehene geschehen war, weil es zu geschehen gehabt hatte nach geprägtem Urbild (IV, 201).

Zwei Ebenen menschlichen Bewußtseins spielt der Erzähler hier gegeneinander aus: die vordergründige Handlungsebene, die der Täuschung über die eigene Rolle unterliegt (Wirklichkeit), und eine Ebene des nicht ans Licht dringenden Unterbewußtseins, die aber die mythische Wahrheit enthält. Während Jaakob schlicht »Feierlichkeit« (IV, 204) empfindet, ist Esaus »Seele« von Beginn der Segensprozedur an erfüllt von »feierlichem Herzeleid« (IV, 202). Der sonst nicht allzu sensible Esau verharrt nach der Segensankündigung lang und stumm bei Isaak und kehrt schließlich sogar zögerlich ans väterliche Bett zurück. Das ist allein zu motivieren mit einem Zweifel an der Rechtmäßigkeit seiner Segensanwartschaft, die in ihm selbst nicht bis zur Bewußtheit vordringt. Die folgende Szene zeigt einen jähen Bewußtseinsumschlag Esaus. Hatte er kurz vorher noch »mit brechender Stimme« (IV, 203) vor dem Vater gekniet, so verkündet er gleich darauf »mit lauter Stimme seine augenblickliche Ehre« (IV, 203). Die laute Stimme markiert das Augenblickliche, während die brechende Stimme auf die unbewußte Wahrheit verweist. Aus dem Dunkel des Zeltes, in dem ihm die verborgene Wahrheit näherstand, kehrt er in die Helligkeit des Tages zurück und verliert sich wieder in die täuschende Gegenwart: Denn die Geschichten sind nicht auf einmal da, sie geschehen Punkt für Punkt, sie haben ihre Entwicklungsabschnitte, und es wäre falsch, sie überall kläglich zu nennen, weil ihr Ende kläglich ist. Geschichten kläglichen Ausgangs haben auch ihre Ehrenstunden und -Stadien, und es ist recht, daß diese nicht vom Ende gesehen werden, sondern in ihrem eigenen Licht; denn ihre Gegenwart steht an K r a f t nicht im mindesten nach der Gegenwart des Endes. Darum war Esau stolz zu seiner Stunde und rief schallend hinaus [...] (IV, 203).

Der Erzählerkommentar aus der Uberblicksperspektive entlarvt die vordergründige Gegenwartsbefangenheit von Esaus vermeintlicher Sicherheit. So besehen heißt nämlich der oben zitierte Kommentar nichts anderes, als daß schon seine »Ehrenstunden« im Zeichen des Kläglichen stehen. Sie sind, wiewohl psychologisch motiviert, doch nicht psychologisch allein: Die Perspektive des Erzählers beweist, daß sie schicksalsnotwendig sind. Der Erzähler verläßt die Sphäre der zeitlichen Eingespanntheit in das, was eben geschieht, und offenbart damit, daß der Fortgang der Geschichte Esaus Glauben an seine »Ehrenstunden« voraussetzt. Die Gegenwart, so ist der Erzählerkommentar zu lesen, mag oft über die metaphysische Wahrheit hinwegtäuschen; gerade in dieser Täuschung zeigt sich aber ihr untergeordnetes Wesen. Daß die laute Verkündung der Segensübergabe Folgen zeiti152

gen wird, muß auch Esau wissen - wenn es auch nicht bis in sein Bewußtsein dringt. Mit seinem äußerlich zur Schau getragenen Triumph arbeitet er der Gegenseite und damit der mythischen Wahrheit zu: Und während die Nächsten, die es hörten, aufs Angesicht fielen, sah Esau eine Magd rennen, daß ihr die Brüste hüpften. Das war die Magd, die der Rebekka kurzatmig meldete, wessen Esau sich gerühmt. (IV, 204)

Esau leitet seinen eigenen Untergang nicht nur ein, sondern faßt ihn sogar ins Auge - mythisch ist folgerichtig, was auf der Gegenwartsebene widersinnig scheint. Der Erzähler schildert deswegen Esaus Verhalten mit konsekutiver Konjunktion: »Darum, als die Stunde kam [...], so stand Esau wie angewurzelt« (IV, 201), oder: »Darum war Esau stolz zu seiner Stunde« (IV, 205). Esaus tumbe Gegenwartsbefangenheit wird karikaturistisch aufs Äußerste zugespitzt: Denn sie liefen zusammen, die den bepelzten Jaakob zum Herrn hatten hineingehen und wieder herauskommen sehen [...]. Aber Esau's Weiber und Kinder kamen nicht dazu, obgleich er auch sie wieder aufrief, seiner Größe und Hoffart Zeuge zu sein. (IV, 212)

Trotz der offensichtlich schlimmsten Wendung, die die Geschichte für ihn hier schon genommen hat, wird er von niemandem gewarnt. Die unbarmherzige Schadenfreude, an der auch der Leser teilhat, wird selbst von seinen Nächsten nicht unterbunden. Es herrscht stillschweigende Ubereinkunft, daß der »Jokus« mit zur Rolle gehört, die nun einmal ausgeführt werden müsse. Auch ist mit keinem Wort davon die Rede, daß Esau selber sich irritieren ließ, obwohl »die Leute« »sich um ihn in engem Kreise« »scharten« (IV, 212) und sich dabei »nur so bogen und krümmten und Tränen lachten und den eigenen Leib mit den Armen umschlangen vor Lachen«, obwohl sie bis zuletzt »schrien [...] vor Jubel, klatschten und stampften« (IV, 213). Die objektive Unglaubwürdigkeit einer solch theatralischen Zuspitzung läßt die Szene übersteigert wirken. Damit gewinnt sie allegorischen Charakter. Sie erweckt den Eindruck, daß Esaus Vorbereitungen sich in einer hermetisch abgeschlossenen Enklave vollziehen, in die kein Lärm dringen kann. E r ist mit seinem ganzen Wesen in seiner Rolle gefangen. Genau das ermöglicht es ihm, anscheinend frei zu handeln. Dieses mythische Modell nur scheinbarer Freiheit in der Gegenwart verdankt sich direkt Schopenhauer. Die Rolle Esaus im Kapitel vom großen Jokus ist die dichterische Umsetzung des Gedankens, den der Philosoph in seinem Aufsatz Ueber die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen entwickelt. Schopenhauer formuliert hier seine metaphysische Freiheitstheorie, die auch Thomas Manns Denken seit jeher zugrundelag. In den

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Betrachtungen

eines Unpolitischen

k o m m t T h o m a s M a n n auf Schopenhauers

» k a n t i s c h b e e i n f l u ß t e L e h r e v o n der W i l l e n s f r e i h e i t « zu sprechen. M i t E s a u gestaltet T h o m a s M a n n die s t r e n g e N o t w e n d i g k e i t i m H a n d e l n d e s e m p i r i s c h e n C h a r a k t e r s , die er hier schildert: Mit der Freiheit, sagt er [Schopenhauer], verhalte es sich umgekehrt, als man lange geglaubt habe; sie liege nicht im operari, sondern im esse, - im Handeln zwar also herrsche unentrinnbare Notwendigkeit und Determiniertheit, aber das Sein sei ursprünglich und metaphysisch frei: Der Mensch, der das Strafbare tat, hätte zwar notwendig, als empirischer Charakter, unter dem Einfluß bestimmter Motive, so gehandelt, aber er hätte können anders sein [...]. Das ist der tiefste Gedanke, den ich je nachdenken konnte, oder vielmehr: er gehört zu denen, die ich nachgedacht hatte, bevor er mir ausdrücklich vorgedacht worden, bevor ich ihn gelesen hatte. ( X I I , 132 f.) I n d e m g e n a n n t e n A u f s a t z spekuliert S c h o p e n h a u e r ü b e r die B e r e c h t i g u n g , »an einen e b e n so p l a n m ä ß i g e n , w i e n o t h w e n d i g e n H e r g a n g in u n s e r m L e b e n s l a u f « ' ' zu g l a u b e n , einen G e d a n k e n , der sich o f t bei der r ü c k w ä r t i g e n B e t r a c h t u n g des eigenen L e b e n s a u f d r ä n g e . S c h o p e n h a u e r nennt ihn einen » F a t a l i s m u s h ö h e r e r A r t « 1 4 o d e r » T R A N S S C E N D E N T E N F A T A L I S M U S « . 1 ' D a heißt es: Weder unser Thun, noch unser Lebenslauf ist unser Werk: wohl aber Das, was Keiner dafür hält: unser Wesen und Daseyn. Denn auf Grundlage dieses und der in strenger Kausalverknüpfung eintretenden Umstände und äußern Begebenheiten geht unser Thun und Lebenslauf mit vollkommner N o t w e n d i g k e i t vor sich. Demnach ist schon bei der Geburt des Menschen sein ganzer Lebenslauf, bis ins Einzelne, unwiderruflich bestimmt [..·]' 6 E s a u r u f t seinen z u k ü n f t i g e n S e g e n »schallend hinaus« ( I V , 203), u m ihn zu b e f e s t i g e n , erreicht d a m i t j e d o c h das G e g e n t e i l ; er initiiert, w a s i h m schließlich z u m V e r d e r b e n gereicht. Z w a r ist E s a u s C h a r a k t e r p s y c h o l o g i s c h festg e l e g t , j e d o c h erklärt das n o c h nicht die g a n z e » N o t h w e n d i g k e i t « , mit der das G e s c h e h e n e r f o l g t . N o t w e n d i g k e i t u n d » P l a n m ä ß i g k e i t i m L e b e n s l a u f eines J e d e n « lasse sich nur » z u m T h e i l aus der U n v e r ä n d e r l i c h k e i t

und

starren K o n s e q u e n z des a n g e b o r e n e n C h a r a k t e r s e r k l ä r e n « . ' 7 O f t hat, w i e 13

Arthur Schopenhauer: Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, in: Parerga und Paralipomena /, S. 206. 14 Ebd. S. 206. " Ebd. ,6 Dieser Passus steht nicht in Schopenhauers Ausgaben letzter Hand und demzufolge auch nicht in der Edition von Lütkehaus, nach der ich hier zitiere. Jedoch findet er sich in Arthur Hübschers Ausgabe, die (vgl. Dierks S. 278) textidentisch ist mit allen Ausgaben, die Thomas Mann benutzte. Hier zitiert nach der Zürcher Ausgabe: Werke in 10 Bänden, hrsg. von Angelika Hübscher, Zürich 1977, Bd. V I I , 17

S. 225 (Fußnote 2). Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, in: Parerga und Paralipomena /, (hg. von Lütkehaus), S. 207.

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bei E s a u , » g e r a d e D a s , w e l c h e s das v o r h e r V e r k ü n d e t e v e r e i t e l n sollte,« »allemal es h e r b e i z u f ü h r e n g e d i e n t « . ' 8 D a s w i r f t die F r a g e nach der » a n d e re[n] H ä l f t e « der » L e n k u n g « ' 9 des L e b e n s l a u f s auf: Gar Mancher aber wird hierdurch zu der Annahme getrieben werden, daß EINE GEHEIME UND UNERKLÄRLICHE MACHT alle W e n d u n g e n u n d W i n d u n g e n

unsers

Lebenslaufes, zwar sehr oft gegen unsere einstweilige Absicht, jedoch so, wie es der objektiven Ganzheit und subjektiven Zweckmäßigkeit desselben angemessen, mithin unserm eigentlichen wahren Besten förderlich ist, leitet; so, daß wir gar oft die Thorheit der in entgegengesetzter Richtung gehegten Wünsche hinterher erkennen. 1 " D i e s e m G e h e i m n i s a u f die S p u r zu k o m m e n sucht S c h o p e n h a u e r n u n mittels d e r A n a l o g i e des T r a u m e s : Auch im Traume nämlich treffen die Umstände, welche die Motive unserer Handlungen daselbst werden, als äußerliche und von uns selbst unabhängige, ja oft verabscheute, rein zufallig zusammen: dabei aber ist dennoch zwischen ihnen eine geheime und zweckmäßige Verbindung; indem eine verborgene Macht, welcher alle Zufalle im Traume gehorchen, auch diese Umstände, und zwar einzig und allein in Beziehung auf uns, lenkt und fügt. Das Allerseltsamste hiebei aber ist, daß diese Macht zuletzt keine andere seyn kann, als unser eigener Wille, jedoch von einem Standpunkte aus, der nicht in unser träumendes Bewußtseyn fallt; daher es kommt, daß die Vorgänge des Traums so oft ganz gegen unsere Wünsche in demselben ausschlagen [...]" D i e b e r ü h m t e F o l g e r u n g , die S c h o p e n h a u e r in F o r m einer S p e k u l a t i o n aus der P a r a l l e l i s i e r u n g v o n T r a u m u n d L e b e n zieht, ist, daß, auf analoge Weise, wie Jeder der heimliche Theaterdirektor seiner Träume ist, so auch jenes Schicksal, welches unsern wirklichen Lebenslauf beherrscht, irgendwie zuletzt von jenem WILLEN ausgehe, der unser eigener ist, welcher jedoch hier, wo er als Schicksal aufträte, von einer Region aus wirkte, die weit über unser vorstellendes, individuelles Bewußtseyn hinausliegt, während hingegen dieses die Motive liefert, die unsern empirisch erkennbaren, individuellen Willen leiten, der daher oft auf das heftigste zu kämpfen hat mit jenem unserm, als Schicksal sich darstellenden Willen [...]" A u f diese Weise v e r e i n i g e n sich Individualität (empirische I c h b e w u ß t h e i t ) und Schicksalsgebundenheit (vorgegebene mythische Rolle) auch im J o " E b d . S. 205. 19 Ebd. S. 208. 20 Ebd. S. 2 1 1 . " Ebd. S. 217. " E b d . S. 219. Diesen Gedanken verwendet Thomas Mann auch in seiner 1936 gehaltenen Rede Freud und die Zukunft, in der er die geistige Gemeinsamkeit von Freuds Psychologie und Schopenhauers Metaphysik - vornehmlich über Zitate von C.G. Jung - herzustellen sucht. Vgl. I X , Dazu auch Dierks, S. 1 j z - i 5 5. Uber die Bedeutung Schopenhauers für das Kapitel Der große Jokus vgl. auch I X , 498.

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seph-Roman. Es löst sich ebenso der Gegensatz auf »zwischen der Freiheit des Willens an sich selbst und der durchgängigen Nothwendigkeit aller Handlungen des Individuums«, wie auch der »zwischen der offenbaren Zufälligkeit aller Begebenheiten im individuellen Lebenslauf und ihrer moralischen Nothwendigkeit zur Gestaltung desselben, gemäß einer transscendenten Zweckmäßigkeit für das Individuum«.2' Die menschliche Psyche steht der metaphysisch vorherbestimmten Welt nicht entgegen, sondern erfüllt sich erst in ihr.24 Das ist deswegen so wichtig, weil die transzendentale Welt damit nicht als das Hirngespinst eines frühen und im individualen Bewußtsein noch nicht ganz zu sich selbst gekommenen Menschenschlages abgetan wird, sondern als gleichwertiges und der psychologischen Ichbewußtheit notwendiges Gegenstück (auch in der Gegenwart) anerkannt wird. Der Vorbehalt des Erzählers gilt nicht so sehr dem metaphysischen Glauben an vorgegebene Rollen, als vielmehr der Illusion, >frei< handeln zu können. Gerade aus diesem metaphysischen Aspekt heraus erlangt der Mythos für ihn seine neuzeitliche Bedeutung: Er ist nicht Fiktion eines noch nicht ausgereiften Ich-Bewußtseins, sondern unterstreicht, »wer der einzelne wesentlich« (IV, 201) ist. Es ist schwierig, in diesem Weltbild Fortschritt möglich zu machen. Er kann sich nicht manifestieren in dem, was einer tut. Denn das ist metaphysisch festgelegt. So bestimmt sich Fortschritt allein dadurch, was einer ist. Mit Thomas Mann: Der Mensch ist determiniert in seinem Handeln, »aber er hätte können anders sein« (XII, 133). Nur letzteres birgt Entwicklungsmöglichkeiten. Deswegen ist Esau, ganz befangen im Metaphysischen, auch nicht fähig, die Menschheitsentwicklung voranzubringen. Jaakob hingegen, der (seiner Rolle) bewußtere der beiden Brüder, trägt diese Möglichkeit in sich. Er wird anders, indem er aus seiner ursprünglichen Rolle (Set-Zeus: Bruder- und Vatermörder) wechselt in diejenige Usirs (Segensträger und Herrscher). Vom Vatermörder zum Segensträger - es ist das Sphärenmodell, das hier die Möglichkeit von Fortschritt innerhalb einer individualdeterministischen Welt garantiert. Es macht den Wechsel der Rolle, die dem Individuum zukommt, möglich. Dieser souveräne Umgang ermöglicht demnach, jenseits deterministischer Zwänge frei zu handeln, ohne aus der Welt metaphysischer Geborgenheit herauszufallen. Jedoch verpflichtet diese vorausschauende Selbstgestaltung des eigenen Schicksals auch zu erhöhtem Engagement: Dieser neuen Stufe der Selbstbewußtheit Arthur Schopenhauer (Zürcher Ausgabe Bd. VII), S. zzzf. A u f dieser philosophischen Ebene, die Manns Denken bestimmt, wird der K o n flikt zwischen metaphysischer Determiniertheit und psychologischer Bewußtheit, wie ihn Raymond Cunningham am Beispiel von Isaaks Blindheit dargestellt hat, hinfällig. Vgl. Raymond Cunningham: Myth and Politics in Thomas Manns »Joseph und seine Brüder«, S. 51-62. 156

ist fatalistische Passivität nicht mehr zuträglich. Aber Jaakobs Part ist erstaunlich passiv! E r bewältigt seine Aufgabe nur mit Hilfe seiner entschlossenen Mutter. Zögerlich wendet er zunächst ein, ihr Plan könne auch mißlingen: unausgesprochener Wunsch, deswegen doch besser nichts zu unternehmen und abzuwarten. Rebekka, mütterliche Instanz und deswegen im geistigen Kosmos des Romans fürs Irdische zuständig, begegnet dem entschieden: »>Klügelst du alsobald schon wieder?!< herrschte sie ihn an.« (IV, 20;) Schon hier wird offenbar, daß Jaakobs geistige Neigung die Tat vernachlässigt bis zur Hemmung jeglicher irdischen Aktivität. E r tritt dem Schopenhauerschen Fatalismus eines vorbestimmten Schicksalsweges nicht aus eigener Kraft entgegen, indem er versucht, anders zu sein. Auch seine Flucht wird »verfügt und ins Werk gesetzt von Rebekka« (IV, 214). 2 ' Ironischer Reflex auf seine irdische Ohnmächtigkeit ist die Erzählung, die er selber nach der kläglichen Begegnung mit Eliphas erfindet: daß ihm alles von jungen Räubern »in wimmelnder Uberzahl« (IV, 219) genommen und alle seine Gefolgsleute trotz heldenmütigen Kampfes getötet worden seien - nur er nicht, weil er, und dieser Einfall ist bezeichnend für Jaakobs Gemüt, »in höchster Not seinen Gott angerufen« (IV, 219) hatte: und dieses hatte bewirkt, daß des blutdürstigen K n a b e n Schwert über ihm in der L u f t zersplittert w a r , in siebenmal siebzig Stücke zersprungen. D a s hatte dem abscheulichen K i n d e den Sinn verwirrt, es mit Schrecken geschlagen, und mit den Seinen hatte es verzweifelt das Weite gesucht (IV, 2i9f.).

Jaakob kennt Sicherheit und Geborgenheit nur in Gott. Als er bei Laban ankommt, geht er sogar so weit, seine Segensträgerschaft damit zu legitimieren, daß er sich irdischen Handelns enthalten habe und somit jeder Schuld ledig sei: J a a k o b versicherte, er sei v o l l k o m m e n frei und rein. E r habe kaum gehandelt, sondern geschehen lassen, was hatte geschehen sollen, und auch dies nur unter schweren inneren Widerständen. Belastet war höchstens die energische R e b e k k a , die alles in die Wege geleitet. ( I V , 2 4 1 )

" I n der mythischen A n a l o g i e , die das Kapitel Der Rote ausgebreitet hatte, ist J a a k o b Z e u s , derjenige also, der - »dank der Anschlägigkeit der Mutter« (IV, 1 9 1 ) v o n seinem Vater nicht umgebracht wurde. D i e Parallele ist deutlich: Hätte Isaak E s a u gesegnet, wäre er der M ö r d e r seines Sohnes J a a k o b gewesen - ein Verhalten, das im K r e i s l a u f der mythischen Sphärendrehung rückschlägigen Charakter gehabt hätte. D e n n schon als A b r a h a m sich angeschickt hatte, seinen S o h n Isaak zu opfern, war G o t t eingeschritten (vgl. I V , 192) und hatte damit dem R ü c k f a l l in die Barbarei Einhalt geboten. Indem nun R e b e k k a die Rolle der R h e a einnimmt (vgl. B e r g e r , S. 69^), verhindert sie die >Opferung< J a a k o b s , stößt ihn in die K ö n i g s rolle Usirs hinein und gewährleistet damit Fortschritt im Sinne des S p h ä r e n m o dells.

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D i e Sphäre der schuldhaften V e r s t r i c k u n g ins Irdische läßt sich f ü r ihn nicht mit der göttlicher Reinheit vereinbaren. I n d e m er beide strikt trennt, meint er, sich schuldfrei zu halten. G e r a d e dies läßt ihn aber schuldig werden. E i n z i g im Totenreich L a b a n s , einer f ü n f u n d z w a n z i g ) ährigen »Traum«P e r i o d e ( I V , 247), die v o m E r z ä h l e r i m m e r wieder ausgewiesen w i r d als Warte- u n d Vorbereitungszeit a u f sein eigentliches L e b e n u n d die E r f ü l l u n g seiner höheren M i s s i o n , kann J a a k o b weltlichen Witz entfalten. Seine L a banszeit ist »ein Abschnitt« (IV, 248) f ü r sich, »eine A r t v o n E p o c h e « ( I V , 248). N u r hier, im geistigen E x i l , gelingt i h m tatsächlich, wessen er sonst nicht fähig ist: weltlich erfolgreich tätig zu w e r d e n , » H a n d anzulegen, damit der S e g e n , den er ererbt, nicht zuschanden w e r d e , sondern zu E h r e n bringe das G e f ü h l seines Herzens.« ( I V , 256) V o n dieser V e r w e l t l i c h u n g s - E p o c h e abgesehen erweist sich J a a k o b als ein M e n s c h , der der R o l l e , die ihm die Z e i t g e s c h i c h t e abverlangt, den M y t h o s in einer neuen, freiheitlichen Weise zu erfüllen, nicht gewachsen ist. D a s m a c h t die Geschichte Dina's

deutlich.

Jaakobs Schuld: Dina, Lea, Rahel, Joseph D i e G e s c h i c h t e u m J a a k o b s T o c h t e r D i n a ereignet sich viele J a h r e nach seiner Flucht zu L a b a n . Wir f o l g e n den B e g e b e n h e i t e n J a a k o b s c h r o n o l o gisch. D e r E r z ä h l e r tut dies nicht. E r zieht diese Begebenheit v o r . Selten w i r d der F r a g e nach dem Prinzip dieser willkürlich scheinenden Reihenf o l g e n a c h g e g a n g e n , und es findet sich in der Literatur zum R o m a n keine E r k l ä r u n g d a f ü r , w a r u m J a a k o b s G e s c h i c h t e n gerade in dieser

Ordnung

erzählt w e r d e n . 2 6 D a b e i macht der E r z ä h l e r ausdrücklich auf den G r u n d a u f m e r k s a m . K e i n e Geschichte als die D i n a s sei besser geeignet, J a a k o b s >Seelengepräge< zu erklären: Wenn wir das schlimme und schließlich blutige Geschehen von damals entwikkeln, das eingeschrieben war in Jaakobs müde und zügige Greisenmiene [...], so Allenfalls wird, wie bei Inge Diersen: Thomas Mann. Episches Werk, Weltanschauung, lieben, Berlin/Weimar 197;, S. 243, bemerkt, daß Jaakobs Geschichte sich um menschheitsgeschichtliche »Gründungen« gruppiere. Käte Hamburger: Thomas Manns biblisches Werk. Der Joseph-Roman. Die Moses-Erzählung >Das Gesetz, Frankfurt am Main 1984, S. 57-39, kommt zu dem Resultat, das »zunächst Verwirrende des Aufbaus« in der Höllenfahrt und in den ersten Jaakobskapiteln habe »seinen Grund in den fließenden und ineinanderfließenden Konturen der mythischen Epoche, die es zu beschreiben galt, des mythischen Lebensgefühls, das nun an demjenigen Jaakobs nicht nur zu direkt beschreibender und erklärender, sondern auch zu indirekter Veranschaulichung kommen soll.« (S. 38)

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ist es im Verfolg und Zusammenhang unserer Betrachtung seines Seelengepräges, und weil nichts besser als sein Verhalten dabei zu erläutern geeignet ist, warum Schimeon und Levi einander heimlich in die Seiten stießen, wenn der Vater von seinem Ehrennamen und Gottestitel Gebrauch machte. (IV, 1 5 1 )

Demnach richtet sich der Erzähler nach der Aussagekraft der Ereignisse über Jaakob. Auch wenn »die leidende Heldin der Abenteuer von Schekem« (IV, 15 2) Dina ist, geht es dem Erzähler vornehmlich darum, hier exemplarisch die Grenzen von Jaakobs mythischem Lebensverständnis zu verdeutlichen. Nicht die zeitliche Reihenfolge, sondern die politisch-metaphysische Argumentationsstruktur, die Thomas Manns verfolgt, prägt den Lauf der Erzählung. Das dritte Hauptstück ist von Anfang an auf den Konflikt zwischen der Jaakobssippe und der Stadt Schekem ausgelegt. In Schekem hat man Sorgen, als man das Heranziehen des fremden Stammes gewahrt, denn »der Ortsgeist war wenig mannhaft, vielmehr händlerisch, bequem und friedlich« (IV, 155), und um die ägyptische Besatzungstruppe »>Abteilung, glänzend wie die SonnenscheibeSchönen Gesprächen< [...] daran vornehmen zu sollen meinte und mit denen sie dann in die Stammes- und Weltüberlieferung eingegangen sind« (IV, 152). Zwar ist Jaakobs »Widerstand« (IV, 15 8) gegen die Kampfeslaune seiner Söhne »majestätisch und unüberwindlich« (IV, 158), jedoch auf eine überhebliche Art, die sich der Gegenwart nicht stellt, sondern sie schlicht mißachtet. Eigens stellt der Erzähler heraus, daß nicht »unerhört« war, »was sie erwogen. Daß Städte des Landes [...] überfallen [...] wurden, war, wenn nicht an der Tagesordnung, so doch ein nicht selten wiederkehrendes Vorkommnis.« (IV, 15 8) Demgegenüber wird nun Jaakobs Verhalten geschildert. »>Weichet hinaus von mirund das auf der Stelle! [erdenkloßhaftes< Gebaren verdeutlicht Thomas Mann übrigens auch dadurch, daß dieser, im Gegenteil zum genialisch Gewinn anhäufenden Jaakob den »natürlichen Härten des Wirtschaftslebens« (IV, 243) ausgesetzt und dem »unerbittlichein] Wirtschaftsgesetz« (IV, 368) unterworfen ist. E r ist es schließlich, der auf seine »Wahrung der Wirtschaftsehre« (IV, 3; 5) halten muß. Vgl. dazu Inge Diersen: Thomas Mann. Episches Werk, Weltanschauung, Lehen, S. 207.

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Rückkehr, wohlüberlegt, nicht wünschenswert, und viel weiser sei es, seinen Kummer mäßigend, etwas zuzuwarten: ein Verhalten, dessen Ratsamkeit er auch aus der Leber eines zu diesem Zweck geschlachteten Schafes andeutungsweise glaube herausgelesen zu haben. (IV, 175)

Der eskalierenden Situation kommt er so jedoch nicht bei. Seine Ratschläge erklären sich allein aus seiner Neigung zum Nichthandeln. Er erfährt die neuen Beschlüsse seiner Söhne »kaum früher als Sichems Sendlinge« (IV, 175). Derweil war er zwar damit beschäftigt, seine Söhne »mit Sorge« (IV, 175) zu beobachten, jedoch ohne handelnd und lenkend einzugreifen. Konstant bleibt allein sein Votum für eine Strategie des >ZuwartensHauptstücke< stehen von vornherein in dem dunklen Schatten von Schekem. Dementsprechend müssen sie gelesen werden: Sie fuhren hin auf die dem Leser zu Beginn drastisch mitgeteilte Katastrophe. Das Abschluß-Kapitel der Geschichten Jaakobs, Benoni, das von Raheis Tod bei der Geburt Benjamins berichtet, steht zeitlich zwischen dem grausamen Ende der Dina-Episode und Isaaks Tod. Es stellt den Anschluß an diese Begebenheit wieder her. Damit wird auch thematisch ein Kreis geschlossen. Die Aufschlüsse der Geschichte Dina's über Jaakobs >Seelengepräge< bilden den inhaltlichen Mittelpunkt des ersten Bandes. In Jaakobs fünfundzwanzig Labanjahren finden zwei große Ereignisse statt: seine Hochzeit mit Lea und Rahel und die Geburt Josephs. Hinzu kommt, vier Jahre nach der Flucht von Laban, Raheis Tod bei der Geburt Benjamins. Alle drei Ereignisse verlaufen entweder nicht glücklich oder ziehen in später Folge Unglück nach sich. Sowohl an dem Hochzeitsirrtum mit Lea als auch an Raheis Tod trägt Jaakob erhebliche Mitschuld - ebenso wie zukünftig an Josephs Brunnentod. Der Verlauf dieser drei Begebenheiten muß nachvollzogen werden, um Jaakobs Rolle im Roman zu verstehen. Seine Flucht von Isaak zu Laban, dem Erdenkloß, ist eine Fahrt ins Totenreich. Jaakob wird genau der Welt ausgesetzt, die er eigentlich zeit seines Lebens flieht: der sehr irdischen und ganz und gar nicht vergeistigten. Gott schickt ihn, nachdem er ihn erhöht hat, in die Unterwelt: Sein Kreislauf, der auf Beth-els Höhe zu einer so tröstlichen Himmelfahrt geführt hatte, war nun auf den Westpunkt der Wende gelangt, wo es in der Welt Höllenunteres ging, und wer wußte wohl, welche Drachennot dort seiner wartete! (IV, 221) 29

Volkmar Hansen: Thomas Manns Heine-Rezeption, Hamburg 1975 argumentiert in die gleiche Richtung. Er verweist darauf, daß auch Heine - in den Helgoländer Briefen - die Liebesgeschichte von Dina und dem jungen Sichern erzählt: »Mit i.Mose 34 trennt Heine Vater und Brüder in der Frage der Rache, erwähnt auch die Vorteils-Argumentation des Vaters, während Thomas Mann die Trennung zwar beläßt, aber die tiefe Zweideutigkeit von Jaakobs Haltung, der sich in der Verheißung fühlt, beschreibt.« (S. 218) 165

Seine Wüstenfahrt wird begleitet von einem Schakal, den Jaakob sehr wohl als »den Offner der ewigen Wege, den Führer ins Totenreich« (IV, 221) erkennt. E r symbolisiert die Verknüpfung mit dem Unteren. Im Vorfeld seiner Hochzeitsnacht mit Lea taucht er wieder auf. E r begegnet Jaakob als der Üble in seinem Anup-Traum: Ihm war, als sei er noch auf der Flucht von zu Hause, oder sei es wieder; als müsse er neuerdings in die rote Wüste reiten, und vor ihm her trabte, die Rute waagerecht ausgestreckt, der Spitzohrige, Hundsköpfige, sah sich um und lachte. Es war zugleich immer noch so und wieder so; die Situation, dereinst nicht recht zur Entwicklung gekommen, hatte sich wiederhergestellt, um sich zu ergänzen. (IV, 288)

Was damals begann, wird nun fortgesetzt. Die Wüstenfahrt wie auch der Traum konfrontieren Jaakob mit der irdischen Welt. Bei diesem Traum handelt es sich um eine Auseinandersetzung Jaakobs mit seinem Unterbewußten. Hinter der dialogischen Form, in der er sich äußert, steht Jaakob allein. Das kommt deutlich zum Ausdruck im Anschluß an eine Frage Jaakobs, auf die der Hundsköpfige repliziert: »Das weißt du nicht?« fragte der Hundejüngling. »Ich kann nicht genau unterscheiden«, antwortete Jaakob, »was ich von mir aus weiß und was ich von dir erfahre.« »Wüßtest du's nicht«, gab jener zurück, »so könnte ich's dir nicht sagen.« (IV, 289f.) Muster ist hier abermals das Traum-Beispiel aus Schopenhauers Transscendenter Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, die schon dem Segensbetrug Esaus zugrundelag. Entsprechend Schopenhauers Traumdeutung steht Jaakob hier zugleich mitten in der Traumhandlung als auch außer und über ihr, als »Geber aller Gegebenheiten« ( I X , 489), wie es Thomas Mann in seiner zweiten Freud-Rede mit einem Wort C . G . J u n g s formulierte. So ist sein Traum Ausdruck seines Unterbewußtseins und verweist zugleich auf metaphysische Wahrheit.' 0 50

Cunningham deutet den Traum als »a straightforward Freudian expression of Jaakob's subconscious will.« (S. 61) Daraus schließt er: »The dream is clearly not an objective prophecy from an external source, but a subjective command from the subconscious.« (S. 61 f.) Wenn man jedoch beachtet, daß Thomas Mann sich dem Freudschen Unterbewußten über Schopenhauers Traumtheorie annähert und somit dessen Argumentationshintergrund zugrundelegt, dann fallt die strenge Trennung von »subconscious will« und »objective prophecy« in sich zusammen. Sie widersprechen einander nicht. Das Ich ist jeweils beides, weil, wie Schopenhauer sagt, im Traum wie im Leben »eine geheime und zweckmäßige Verbindung« (Transscendente Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen, in: Parerga und Paralipomena /, S. 217) zwischen dem gegenwartsbefangenen und dem metaphysisch offenen Ich daist.

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Jaakobs Traum, in dem Anup erzählt, wie es zu seiner Fehlzeugung kam, weist nicht nur vor auf Jaakobs Hochzeitsnacht mit Lea, der Falschen. E r begründet auch, warum es dazu kommen muß - die Unachtsamkeit des Gottes Usir in den Belangen des Lebens hat ihn in der Nacht statt mit Eset mit Nebthot zeugen lassen. Anup, die Folge jener Nacht, kommentiert lakonisch: Was willst du, wir sind zerstreute Wesen, unaufmerksam und träumerisch-sorglos von Hause aus. Sorge und Vorsicht sind schmutzig-irdische Eigenschaften, doch andererseits, was hat nicht die Sorglosigkeit schon angestiftet im Leben. (IV, 290)

Die gleiche göttlich anmutende Sorglosigkeit, die gleiche Geringschätzung des >Schmutzig-Irdischen< zeichnet auch Jaakobs Verhalten aus. Wieder ist der Grund seines Unglücks, daß er ausschließlich in seiner geistigen Welt lebt, statt sich Irdischem zuzuwenden. Im folgenden erzählt Anup, daß Set den Usir nach dessen Nacht mit Nebthot tötete. Um ihn wiederherzustellen, hätten er und seine Mutter die vierzehn Leichenteile des Zerstückelten gesucht, unter anderem auch des Gottes »heilig Geschlecht, das ganz verloren scheint, so daß wir es ersetzen wollen durch eine Nachbildung aus Sykomorenholz« (IV, zyzf.). Gerade dieser irdisch-geschlechtlichen Komponente bei der Wiedererschaffung des Gottes widersetzt sich Jaakob entschieden. Gottesbemühen mit der Idee des Geschlechtlichen zu vermischen, hört sich in seinen Ohren »unflätig« (IV, 293) an. Anup pointiert daraufhin nochmals: In deinem Stande sollte man Sinn haben für solche Angelegenheiten, denn du bist Bräutigam und sollst zeugen und sterben. Denn im Geschlecht ist der Tod und im Tod das Geschlecht, das ist das Geheimnis der Grabkammer, und das Geschlecht zerreißt die Wickelbinden des Todes und steht auf gegen den Tod, wie es mit dem Herrn Usiri geschah (IV, 293).

Anup fordert, das sich im Geschlechtlichen verkörpernde Irdische wichtig zu nehmen, gerade auch um des Göttlichen willen. Diesen Gedanken anzuerkennen weigert sich Jaakob - er erwacht. Da der Traum die direkte Vorausdeutung und mythisch-göttliche Spiegelung dessen ist, was Jaakob in der Lea-Hochzeitsnacht widerfahren wird, erscheint diese somit als Folge von Jaakobs Mißachtung. Sie dokumentiert die Grenze von Jaakobs Gottes- und Menschenbild, die in seiner einseitig geistigen Ausrichtung liegt. Jaakob wird den Hinweisen des Führers in die Unterwelt nicht folgen. Auch im Laban-Reich bleibt ihm seine geistesaristokratische Wirklichkeitsreinheit eigen. Die Hochzeit fordert Jaakob schließlich die Akzeptanz des Wirklichen, die er freiwillig zu geben verweigert, ab. Der >Irrtum< in dunkler Nacht führt ihm seine Befangenheit in der diesseitigen Welt der Formen schmerzhaft vor Augen. »Gott ist die Unterscheidung!« (IV, 308), so wird er in der Hochzeitsnacht zu der ihm ,67

Angetrauten reden. E r selber aber wird nicht unterscheiden können. Er bleibt ein Mensch, so sehr er auch nach dem Göttlichen strebt. Nur im Menschlichen, mit Hilfe der fruchtbaren Lea, kann sich der Abrahams-Segen überhaupt erfüllen. Jaakob kapriziert sich jedoch ausschließlich aufs Göttliche. Der Bund zwischen Gott und Mensch ist aber auch »geschlossen im Fleische« (IV, 320). Jaakob hingegen ahmt Gott in seiner »Neigung zu Auserwählung und zügelloser Vorliebe« (IV, 318) nach und verkennt damit die besondere Aufgabe des Menschen. E r tritt in Konkurrenz zu Gott und wird dafür bestraft: Mit der Lea-Hochzeit und mit Raheis langer Kinderlosigkeit. So interpretiert es der Erzähler in dem Kapitel Von Gottes Eifersucht. E r legt damit alles Unglück Jaakob zur Last. Gleich zu Beginn des Kapitels schlägt er den Bogen zur Geschichte Dinas: Dies sind die Geschichten J a a k o b s , eingeschrieben in seine Greisenmiene [...] M a n c h e davon haben w i r schon ausgebreitet und endgültig richtiggestellt, sogar solche schon, die weit voranliegen, nach J a a k o b s Rückreise ins Westland und nach seiner A n k u n f t daselbst (IV, 316).

Damit ist der übergreifende intentionale Zusammenhang der Geschichten Jaakobs festgelegt und abermals betont: Sie alle sind Folgen einer Welthaltung, die den irdischen Belangen des Lebens nicht genügend Beachtung schenkt. Jaakob wird nicht nur dem Diesseits, er wird auch der »Lebendigkeit Gottes« (IV, 321) nicht gerecht, wenn er sich ausschließlich seinen geistlichen Interessen widmet. Auch an dem schlechten Verhältnis von Joseph und seinen Brüdern (und deswegen letztlich auch an dessen Brunnentod) ist Jaakob mitschuldig. Hoffärtig nennt der Vater das Kind »Dumuzi, echter Sohn« (IV, 33;) schon vor seiner Geburt. E r geht mit der geistlichen Benennung ohne es zu merken gefühllos über den irdischen Schmerz Leas hinweg. Damit bereitet er den Grund für sein eigenes Unglück: D a m a l s fing es an. D a m a l s bereitete sich in R u b e n s Herzen die rasche Zornestat v o r , die er einst tun sollte für L e a und die der A n f a n g war v o m E n d e seiner Erstgeburt. D a m a l s senkte sich in die Herzen der B r ü d e r der K e i m des Hasses g e g e n das L e b e n , das selbst erst ein K e i m war; die Saat geschah, die aufgehen sollte als unnennbares Herzeleid für J a a k o b , den Gesegneten. ( I V , 336)

Wieder einmal vernachlässigt Jaakob Irdisches, schaut unsensibel an den gegenwärtigen Leiden, die er verursacht, vorbei, und provoziert damit das tragische Schicksal, das diesmal sein eigenes ist. 3 ' ' ' Freilich ist immer mitzulesen, daß der Erzähler J a a k o b s Schuld — übrigens nie so deutlich wie in seiner Vorliebe f ü r J o s e p h - metaphysisch sanktioniert: »Mußte es denn so sein? Hätte nicht Friede und heiterer Sinn können herrschen im Jaakobsstamm und alles einen gelinden und gleichen G a n g nehmen in ebener Verträglich168

N a c h d e r B l u t t a t v o n S c h e k e m ist J a a k o b g e z w u n g e n , mit der s c h w a n g e r e n R a h e l zu fliehen. A b e r m a l s w i r d deutlich, w e l c h w e i t r e i c h e n d e F o l g e n seine w e l t l i c h e Passivität hat. W i e d e r hat er » k e i n e Wahl« ( I V , 380), w i e d e r ist er machtlos den Geschehnissen unterworfen: Seine Erbitterung gegen die älteren Söhne, gegen Schimeon und Levi zumal, die störrigen Dioskuren, ob ihrer Schekemer Schreckenstat kam namentlich aus seiner Angst um Rahel. Nie wäre es ihm in den Sinn gekommen, mit der schwachen Schwangeren, in der nur die Frucht stark war, auf Reisen zu gehen. Nun hatten die tollen Buben ihm dies angerichtet um ihrer Ehre und Rache willen. Die Sinnlosen! (IV, 380) Z w a r w i r d festgestellt, u n d halb redet hier der E r z ä h l e r , halb der Vater: Sie waren Lea-Kinder, wie Dina, für die sie würgten. Was ging sie die Zartheit der Liebsten und Rechten an und des Vaters Sorge um sie? Nicht mit einem ihrer wilden Gedanken hatten sie Rücksicht darauf genommen. (IV, 380) D a ß er selber j e d o c h u m g e k e h r t nie R ü c k s i c h t a u f das E m p f i n d e n L e a s u n d ihrer S ö h n e g e n o m m e n hat, k o m m t i h m nicht in den Sinn. J a a k o b n i m m t die P r o b l e m e , die aus seiner v e r g e i s t i g t e n A b w e s e n h e i t e r w a c h s e n -

trotz

D i n a ! - g a r nicht w a h r . D e s w e g e n k a n n er seiner B e s t i m m u n g a u c h in Z u k u n f t nicht e n t g e h e n . S o bündelt der E r z ä h l e r schicksalsschwer: Dies war Jaakobs Fehler. E r hatte zwei Leidenschaften: Gott und Rahel. Hier kam die eine der anderen in die Quere, und während er sich der geistlichen hingab, beschwor er das Verhängnis auf die irdische herab. (IV, 381) D i e S c h w a n g e r e stirbt »am W e g e s r a n d e « ( I V , 3 8 1 ) , weil J a a k o b nicht d i r e k t in die nächste Stadt zieht, s o n d e r n trotz ihres Z u s t a n d e s » m e h r e r e T a g e l a n g b e i der Stätte L u z zu Beth-el« ( I V , 3 8 1 ) seinem G o t t dient u n d o p f e r t . J a a k o b erkennt die F o r d e r u n g e n der G e g e n w a r t nicht. E r lebt g a n z außer keit? Leider nicht, wenn geschehen sollte, was geschah, und wenn die Tatsache, daß es geschah, auch zugleich der Beweis dafür ist, daß es geschehen sollte und mußte. Das Geschehen der Welt ist groß, und da wir nicht wünschen können, es möchte lieber friedlich unterbleiben, dürfen wir auch die Leidenschaften nicht verwünschen, die es bewerkstelligen; denn ohne Schuld und Leidenschaft ginge nichts voran.« (IV, 336) Unter transzendentalem Gesichtspunkt ist seine Schuld notwendig, um geschehen zu lassen, was »geschehen sollte«. Hier ist präzise abzulesen, wo Thomas Mann Schopenhauer nicht mehr folgt: in seiner Ethik, die als Konsequenz des Weltleidens fordert, den Willen zu verneinen. - Ähnlich auch bei Raheis Tod: Obwohl die Schuld daran eindeutig Jaakob zugeschrieben wird, vergißt der Erzähler nicht, daraufhinzuweisen, daß sie, metaphysisch gesehen, notwendig ist: »Rahel starb. So wollte es Gott.« Daraufhin ist davon die Rede, daß Jaakob mit seiner maßlosen Liebe zu Joseph »dem Schicksal eine neue furchtbare Blöße bot.« (IV, 376) Diese Wendung enthält in knappster Form beide Seiten von Thomas Manns Weltsicht: die der transzendentalen Notwendigkeit des Geschehens als auch die der individuellen Schuld.

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der Zeit, in der »stehende[n] Gegenwart liebender Lebensgemeinschaft« (IV, 378) und mißachtet Raheis Not, wiewohl oder sogar weil ihre Schwangerschaft sich geradezu als Allegorie des kraftvoll hervordrängenden Lebens darstellt: denn der kraß-natürliche Eigennutz der Kindesfrucht zeigte sich hier in aller bewußtlosen Grausamkeit. Das Ding in der Höhle wollte stark werden ganz unbedingt, erbarmungslos und einzig auf sich bedacht zog es Säfte und Kräfte an sich auf Kosten der Tragenden, es fraß sie auf, ohne sich Böses noch Gutes dabei zu denken (IV, 379).

Der Erzähler mokiert sich über Jaakob auch, wenn er die neugierigen Reaktionen der Zuschauer beschreibt, die seinen Hantierungen bei der Stätte Luz beiwohnen. In ihrer offenkundigen Ironie steht diese Szene kontrapunktisch zu dem nachfolgenden Tod Raheis: Den Namen des E l erfuhren sie nicht. Daß er Jisrael heiße, erwies sich als Irrtum; so hieß vielmehr der Mann Jaakob selbst, erstens für seine Person und dann zusammen mit allen, deren Glaubenshaupt er war; daher ging eine Weile die Meinung um, er selbst sei der Gott der Widderhörner oder gebe vor, es zu sein (IV, 382).

In dieser Vergeistigung, die für Außenstehende schon fast göttlich scheint, verbringt er seine Tage »in betrachtender Zurückgezogenheit«, träumt zwar vom »Fleischesbunde mit Abram«, hat jedoch »Raheis dringlichen Zustand vergessen« (IV, 383). Ihr »leibliches Interesse« steht hinter seinem »geistigen Sinnen« (IV, 383) zurück. Jaakobs Herz ist ganz von der »Empfindung des Göttlichen« (IV, 384) erfüllt, und im Rahmen dieser Stimmung ist auch die folgende Landschaft geschildert - es finden sich bei Thomas Mann nur selten Landschaftsbeschreibungen - die seine innerliche Vergeistigung anschaulich macht: »Ferneres Gebirge wollte sich in einer Art von durchsichtigem Dämmern verfärben und entstofflichen.« (IV, 384^) Auch der Baum, unter dem Rahel jetzt sterben wird, ist gleichsam körperlos geschildert, »ein sehr alter, großenteils hohler Maulbeerbaum« (IV, 38;). E r bildet das Bindeglied von Jaakobs so sehr >entstofflichter< Abwesenheit im Geistigen zur realen Entstofflichung Raheis. In seiner zweifachen Symbolik weist er auf den untrennbaren Zusammenhang zwischen ihrem Tod und Jaakobs strikter Vernachlässigung des irdischen, zu den Formen drängenden Lebenswillens. Nicht nur Rahel wird sterben. Jaakob besiegelt auch Josephs Schicksal: Das Gefährliche aber, und was uns im voraus ängstigt, war, daß Jaakob sich durch Raheis Zerstörung sein teures Gefühl, diese selbstherrliche Vorliebe durchaus nicht entreißen ließ, daß er sie keineswegs mit hinabsenkte in das rasch ausgehobene Grab am Wege, sondern sie, als wollte er dem Waltenden beweisen, daß er durch Grausamkeit nichts gewönne, in ihrem ganzen üppigen Eigensinn auf Raheis Erstgeborenen, den neunjährigen, bildschönen Joseph, warf (IV, 370f.).

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Jaakob scheitert endgültig erst am Ende des zweiten Bandes. Als er (im siebenten Hauptstück) die Nachricht erhält, Joseph sei von einem wilden Eber zerrissen worden, fallt er »auf den Rücken«. E r vermag dem Leben da, wo es ihn mit seiner größten Gewalt packt, nämlich mit dem (vermeintlichen) Tod Josephs, nicht mehr standzuhalten: Daß Jaakob beim Anblick des Kleides, aller Voraussicht entsprechend, umfiel, ist gesicherte Tatsache. Gesehen aber hat niemand, wie es geschah (IV, 631).

So gestaltet der Erzähler als zwangsläufig, was niemand gesehen hat. E r gibt dem Geschehen damit den Charakter logischer Folgerichtigkeit. Jaakob ist der »Wahrheit« des »Zeichens« (IV, 650), dem blutigen Fetzen, den man ihm zuträgt, nicht gewachsen. Seine Geistigkeit kapituliert in dem Moment, wo das Leben ihn unentrinnbar einfängt. Erwachsen aus der konsequenten Mißachtung des Diesseitigen, folgt dieser Kapitulation ein Rückfall in barbarische Urzustände: E r zerreißt seine Kleider, was »in [...] hohem Grade unnatürlich und erniedrigend« (IV, wirkt. Jaakob verwirft nicht nur sein hohes geistiges Ideal, sondern verleugnet gleich auch alle Errungenschaften, die auf diesem Ideal aufbauen: E r ging aus tiefstem Schmerz auf den Grund der Sitte, vom Sinnbild zur rohen Sache selbst und zum schrecklich Eigentlichen zurück; er tat, was >man nicht mehr tutWahrheit< der Begriff, der sich gegen die Wirklichkeit des Faschismus wendet und Hoffnung keimen läßt. Seine >Wirklichkeit< ist noch lange kein Beweis für seine >WahrheitSvenska Dagbladetmenschenunwürdigem< E l e n d «

(XII,

476) g e w e s e n : Aber gefallt euch nicht in einem politisch-humanitären Oppositionslamento gegen den Krieg! Stellt euch nicht an, als habe er das Antlitz der Erde entweiht - und vorher habe der Tiger beim Lamme gegrast. Ich kenne nichts Alberneres und Verlogeneres als die Deklamation des Literaten, den dieser Krieg zum Philanthropen machte und der verkündet, wer ihn nicht als untermenschliche Schmach und Schande empfinde, der sei ein Widergeistiger, ein Verbrecher und ein Feind des Menschengeschlechts. ( X I I , 476f.) I n d e n Betrachtungen

ist M a n n / » > d e n K r i e g , w e i l in i h m W i r k l i c h k e i t u n d

Wahrheit, (diesseitiges) L e b e n u n d ( m e t a p h y s i s c h e r ) G e i s t i m Z e i c h e n des L e i d e n s ü b e r e i n s t i m m t e n . D e u t s c h l a n d , so ist seine T h e s e , sei das g e i s t i g e S c h l a c h t f e l d E u r o p a s : D e r K r i e g also als äußeres, k ä m p f e r i s c h e s A b b i l d seiner inneren S p a n n u n g e n . D e m d r o h e n d e n A u s e i n a n d e r f a l l e n v o n G e i s t u n d L e b e n e n t g e g e n z u a r b e i t e n , ist sein erklärtes Z i e l . S c h o n in seiner ersten K r i e g s s c h r i f t Gute Feldpost

lokalisiert M a n n ihn als »die Z w e i h e i t v o n

G e d a n k e u n d W i r k l i c h k e i t , die K l u f t u n d F r e m d h e i t z w i s c h e n d e m G e i s t u n d d e m L e b e n « ( X I I I , 525). A u s dieser S p a n n u n g resultiere i m m e r w i e d e r neu der » S c h m e r z « , aber auch das » G l ü c k « des L e b e n s . M u ß t e er sein transzendentales Weltbild w ä h r e n d des E r s t e n Weltkrieges g e g e n die zivilisatorische E n t z a u b e r u n g einer a u f s S o z i a l e reduzierten Welt v e r t e i d i g e n , so b e m ü h t er sich i m v e r ä n d e r t e n R a h m e n einer D e m o k r a t i e , die v o n w i d e r g e i s t i g e r R e a k t i o n b e d r o h t ist, d e n G e i s t zu s c h ü t z e n . " V o n " Es ist nicht zuletzt deshalb schwer, Thomas Manns Position zu erfassen, weil er sowohl den Lebens- als auch den Geistbegriff terminologisch mehrfach belegt hat. Leben ist ihm nämlich zum einen das, was in der Höllenfahrt die Seele ist, also das dem Geist entgegengesetzte Prinzip der Materie und der Form. Zum anderen dient dieser Begriff ihm aber, zumal in den Betrachtungen eines Unpolitischen, der Kennzeichnung der Gesamtheit von Leben (Seele) und Geist, und zwar in dem Sinn, daß eigentliches Leben sich nicht in der Sphäre der empirischen Wirklichkeit abspiele, sondern sich immer nur im Transzendieren auf seinen metaphysischen Urgrund offenbare. Leben erscheint hier vornehmlich als ein geistiger A k t ständiger Befreiung von der banalen und immer nur vordergründigen Faktizität der Gegenwart. - Der Geistbegriff ist noch schwerer zu fassen. In den Gedanken im Kriege wie auch später in den Betrachtungen erscheint der Geist als das wesentliche Merkmal des Zivilisationsliteraten. Geist meint hier »Vernunft, Aufklärung, Sänftigung, Sittigung, Skeptisierung, Auflösung« ( X I I I , 528). Im Gegensatz zur Zivilisation steht die Kultur, jedoch ist auch sie eine »gewisse geistige Organisation der Welt« ( X I I I , )28): Kultur ist Bemühung des Geistes um das Wesen der Natur unter dem Vorbehalt seiner Ohnmacht; Zivilisation bezeichnet den idealistischen Glauben an die Verbesserungsfähigkeit des Lebens unter der Ägide des Geistes und zielt deswegen in Thomas Manns Sicht wesentlich am Leben vorbei. In der

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dieser Interessenverlagerung abgesehen bleibt der Konflikt zur Zeit der Weimarer Republik der gleiche wie 1914: nur daß Mann sich jetzt eine konkrete Vermittlung zwischen Geist und Politik vorstellen kann.'6 Weiterhin bemüht er sich um eine seine Stellung stabilisierende Mitte." Auch in seinem Brief an Hermann Grafen Keyserling (1920) kreist er um dieses Zentrum, um »das Problem der Wiederverknüpfung und -Versöhnung von Seele und Geist« (XII, 595). Der scheinbare Seitenwechsel, den er hier vollzieht, erklärt sich aus seinem kontinuierlichen Plädoyer für eine Welt, der er nur metaphysisch Sinn abgewinnen kann: Wollen Sie mir glauben, daß ich mich dem Geiste hinlänglich befreundet fühle, um mich der Einsicht, nur von ihm - und nicht von der >SeeleGlauben< könne die Wiederverknüpfung ausgehen, bereitwillig zu öffnen? ( X I I , 601)

Die Versöhnung könne dann geschehen, wenn »der Geist aufhöre, nur sich selbst, das heißt die Zerstörung zu wollen, daß er sich entschließe, fortan dem Leben, der Ganzheit und Harmonie des Menschen, dem Wiederaufbau seelischer Form zu dienen« (XII, 602). Mann zollt damit der Gegenwart seinen Tribut. Er verweigert dem geistlosen Rückschritt in eine überalterte Lebensform seine Zustimmung. So verändert sich der Inhalt seiner Gedanken, ohne daß ihr fatalistisch aufs Transzendente gerichteter Sinn schwankt.'8 Die neuerliche Beschwörung eines Krieges wird in Thomas Höllenfahrt aber ist der reine Geist das lebensfeindliche Prinzip. E r verweist immer auf den ursprünglichen metaphysischen Zustand der Stofflosigkeit als Ort des Heils. Zwar bleibt Thomas Manns Denken insofern konstant, als er dem Geist immer die Rolle der Lebenszersetzung zudenkt. In den Betrachtungen wird Geist jedoch vornehmlich als Oberbegriff für den »Zivilisationsliteraten« gebraucht und ist somit rein negativ akzentuiert; jedoch sowohl in seiner Bestimmung von »Kultur« als auch bei der in der Höllenfahrt angestrebten Synthese von Geist und Leben meint er etwas Positives: Geist erst legt eigentlichen (metaphysischen) Sinn frei. ' 6 Vgl. Hendrik Balonier: Schriftsteller in der konservativen Tradition. Thomas Mann 1914-1924, Frankfurt am Main/Bern/New York 1983, S. i}6f. 17 Ernest Bisdorff: Thomas Mann und die Politik, Luxemburg '1966 faßt Manns Bestreben nach ausgleichender Mitte in die Worte: »Diese >Mitte< wird bei Thomas Mann immer dann gegenwärtig sein oder angestrebt werden, wenn der Schritt nach vorne sich mit dem sichernden Blick in die Vergangenheit verbindet.« (S. 32) Vgl. dazu v.a. Manns Vortrag Lübeck als geistige I^ebensform, X I , 936f., wo er dieses Bestreben als typisch deutsches herausstellt. Diese Vorstellung hängt eng zusammen mit Manns Selbstbild als einem Gegensätze integrierenden Repräsentanten (vgl. X I I , 787), einem Typus, der dem Parteimenschen, welcher den Zeitgeschehnissen opponiert, oder, im Dritten Reich, gar den »Märtyrer« (ebd.) abgeben muß, entgegengesetzt ist. Diese Neigung zur Repräsentanz (Mitte als Programm) wiederum hängt zusammen mit seiner fatalistischen Einstellung zur Geschichte. Vgl. dazu Borge Kristiansen: Geschichtsfatalist mit schlechtem Gewissen. Thomas Mann und der Nationalsozialismus. In: Thomas Mann Jahrbuch 3 (1990), S. 9 5 - 1 1 7 . Nur unter diesem metaphysischen Gesichtspunkt ist der vieldiskutierte Satz

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M a n n s D e n k e n n a c h 1 9 1 8 " atavistisch. E r w ä r e in der Welt, so w i e sie sich heute darstellt, v o r n e h m l i c h » R o h e i t « , w e i l seine W i r k l i c h k e i t der Wahrheit nicht m e h r e n t s p r ä c h e . S o a r g u m e n t i e r t er in Von Deutscher Republik

(1922):

Die Welt, die Völker sind alt und klug heute, die episch-heroische Lebensstufe liegt für jedes von ihnen weit dahinten, der Versuch, auf sie zurückzutreten, bedeutet wüste Auflehnung gegen das Gesetz der Zeit, eine seelische Unwahrheit, der Krieg ist Lüge, selbst seine Ergebnisse sind Lügen, er ist, wieviel Ehre der einzelne in ihn hineinzutragen willens sein möge, selbst heute aller Ehre bloß, und darum stellt er dem Auge, das nicht sich selbst betrügt, als Triumph aller brutalen und gemeinen, der Kultur und dem Gedanken erzfeindlich gesinnten Volkselemente, als eine Blutorgie von Egoismus, Verderbnis und Schlechtigkeit fast restlos sich dar. (XI, 816) D a s » G e s e t z der Z e i t « hat eine e h e m a l i g e »Wahrheit« zu einer »seelische[n] Unwahrheit«

geformt.

Auch

hier v e r l ä ß t M a n n

seinen

metaphysischen

B l i c k w i n k e l nicht: Es ist löblich, ist ein Zeichen von Geist, äußere Tatsachen zu bekämpfen, sofern sie mit den inneren nicht übereinstimmen und also zwar Wirklichkeit, aber nicht Wahrheit sind. Es ist dagegen absurd und nichts weiter, Tatsachen zu leugnen und sich im Wirklichen nicht ausprägen lassen zu wollen, die es für jedermann sind, auch für die Leugner und Opponenten. (XI, 821) D i e K o n g r u e n z v o n W i r k l i c h k e i t u n d Wahrheit ist die g e m e i n s a m e B a s i s aller B e m ü h u n g e n T h o m a s M a n n s , v o m Friedrich-Essay

ü b e r die

Betrach-

tungen bis in seine V e r l a u t b a r u n g e n der z w a n z i g e r J a h r e . Manns in dem Vorwort zu Von Deutscher Republik zu verstehen:»Ich habe vielleicht meine Gedanken geändert, - nicht meinen Sinn.« (XI, 809) Vgl. zu dem Denkprinzip, das hinter diesem Satz steht, den klugen Aufsatz von Klaus Bohnen: Argumentationsverfahren und politische Kritik bei Thomas Mann. In: Gedenkschrift für Thomas Mann 187;—197;, Kopenhagen 1 9 7 ; , hrsg. von Rolf Wiecker, S. 1 7 5 - 1 9 5 (= Text und Kritik, Sonderreihe Bd.2). " Die Frage, wie sich der Wandel zwischen den Betrachtungen und Von Deutscher Republik erklären lasse, hat mit der Darstellung Wißkirchens erstmals eine befriedigende Antwort über die zeitgeschichtlichen Umstände hinaus erfahren. Wohl hat schon Urs Bitterli: Thomas Manns politische Schriften %um Nationalsozialismus 1918-19)9, Diss. Aarau 1964, S. 39, mit dem Kapp-Putsch vom März 1920 und der Ermordung Walther Rathenaus im März 1922 »zwei bedeutsame Ereignisse« festgemacht, die in Mann die Einsicht bewirkten, »daß die führenden Schichten des wilhelminischen Obrigkeitsstaates [...] nicht mehr in der Lage waren«, Deutschlands Gleichgewicht zu konsolidieren. Aber erst Wißkirchen hat die psychologisch-philosophische Motivation dieses Meinungsumschwungs erklärt: Thomas Manns geschichtlicher Fatalismus machte es ihm nahezu unmöglich, sich einmal geschaffenen Tatsachen zu widersetzen, (vgl. Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman, S. 20-22, 8;f., 95 u.ö. S. dazu v.a. auch Borge Kristiansen: Geschichtsfatalist mit schlechtem Gewissen, S. 99f.) Ein neuerlicher Krieg aber hätte eben einen solchen Widerstand bedeutet. Die Aversion dagegen verband sich freilich mit der schon 1920 im Brief an Hermann Grafen Keyserling geäußerten Ansicht, daß künftig eine politische Gefahr von rechts drohe.

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Jedoch kommt in seinem Aufsatz Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen von 1922 zum Vorschein, wie sich Mann bemüht, aus seinem ehemals metaphysischen Fatalismus ein gegenwartszugewandtes Denken abzuleiten. Da heißt es elegisch: Ach Freunde, das Leben. Ach, das Schicksal des Menschen. Ach, die Wahrheit. Was ist gut, was ist böse? Wir wissen es nicht. Wir glauben es zuweilen zu wissen, wir »ziehen Linien im Wasser«, wie Tolstoi sagt. Aber alle Dinge sind sowohl gut als böse, Gott hat sie so gemacht, und vielleicht geht der Mensch mit Notwendigkeit in die Irre, weil es einen rechten Weg für ihn überhaupt nicht gibt? Jedes Volk [im Ersten Weltkrieg, DW], sage ich, war bewundernswert, und jedes wurde dem Ganzen zum Verhängnis. Dennoch gibt es dieses Ganze, und ich darf sagen, daß deutschem Sinn auch in tiefster Politisierung seine Vorstellung niemals abhanden gekommen ist. (XII, 623^)

Indem er Leben, Schicksal und Wahrheit als undurchschaubare Komplexitäten parataktisch nebeneinander stellt, zieht er eine versöhnliche Bilanz aus der Stimmung seines geschichtsphilosophischen Fatalismus. Die mittlerweile im Schwinden begriffene Verfeindung der beiden Nachbarstaaten sei notwendig gewesen: Schuld? Bis über beide Ohren, bis über den Schöpf stecken wir alle, steckt Europa in Schuld. Und doch, wenn es sich erinnert, wenn es zurückblickt, so fühlt es sich auch wieder frei von Schuld, - es hat es tatsächlich nicht besser zu machen gewußt! Nach bestem Wissen hat es seinen Weg gemacht, das arme Europa (XII, 6 2 2 f.).

Diese Äußerungen sind nicht zuletzt deswegen bemerkenswert, weil sie den Joseph-Roman gleichsam zu präfigurieren scheinen: Hier artikuliert sich eine Bereitschaft zur Hinnahme des irdischen Schicksals, ein duldsamer Verzicht auf jeden Glauben an dessen Machbarkeit, so wie er auch Jaakobs Verhalten auszeichnet. Aus dem Glauben an die Vorherbestimmtheit und metaphysische Notwendigkeit des Seins resultiert auch die Unmöglichkeit, >gut< und >böse< zu unterscheiden. Dieser Fatalismus wird beschrieben mit einem Bild, das sich auch im ersten Kapitel des sechsten Hauptstücks findet, in dem es um Jaakobs Labanjahre geht: Zuletzt steht es recht willkürlich ums Einteilen der Zeit und nicht viel anders, als zöge man Linien im Wasser. (IV, 248)

In beiden Fällen weist es darauf hin, daß unter transzendentem Gesichtspunkt alles diesseitige Geschehen einerlei ist. Beide Male gelangt aber auch eine ähnliche Hoffnung zum Ausdruck. Das Problem der deutsch-französischen Beziehungen, um dessen Behebung es Thomas Mann hier geht, löst sich in religiösen Termini: »Gott« habe die Dinge »so gemacht«, der Mensch gehe »notwendig in die Irre«. Wie bei der Beurteilung Jaakobs erachtet er das menschliche Fehlverhalten metaphysisch als legitim. Erst die Täuschung 178

über die eigene Aufgabe in der Gegenwart ermöglicht es, die eigene Bestimmung zu erfüllen. Er zitiert sich selbst aus dem Text Weltfrieden? von 1917 mit einer schopenhauerisierenden Weltbetrachtung in numinosem Gewand: »ich bin des Gedankens fähig, daß der Haß und die Feindschaft unter den Völkern Europas zuletzt eine Täuschung, ein Irrtum ist, daß die einander zerfleischenden Parteien im Grunde gar keine Parteien sind, sondern gemeinsam, unter Gottes Willen, in brüderlicher Qual an der Erneuerung der Welt und der Seele arbeiten.« (XII, 624)40

Die religiöse Diktion verwandelt Schopenhauers Nihilismus ins Lebensbejahende. Der Haß zwischen den Völkern Deutschland und Frankreich erkläre sich daraus, daß das eine das >LebenGeist< vertreten habe. Schlössen sie sich gegenseitig aus, seien beide Wege »ein Irrtum«. Damit ist nicht nur Frankreichs Standpunkt, sondern auch das metaphysisch-religiöse Prinzip, steht es allein, als Irrweg bezeichnet - gleichzeitig wird es jedoch fatalistisch als notwendiger Irrweg akzeptiert. Dieses Prinzip entspricht Deutschlands Rolle als Hüter des (metaphysischen) Geistes im Ersten Weltkrieg ebenso wie Jaakobs weitabgewandter Geistigkeit. Das konvergiert mit der Kritik des Erzählers an Jaakob. Der Stammesvater geht ganz in mythischer Tradition auf. Er wiederholt überlieferte Muster wie den Handel um Ackerland bei Schekem, indem er auf Abraham blickt, ohne den gegenwärtigen, materiellen Aspekten dabei Rechnung zu tragen. Die bloße Wiederholung aber garantiert nicht die Identität mit der früheren Situation. Wenn sie in einem anderen Sinnzusammenhang steht, kann sie rückschlägigen Charakter annehmen. Die >WirklichkeitWahrheitLeben< wird nur dann als sinnhaft empfunden, wenn es philosophisch überhöht mit transzendentaler Wahrheit zusammengedacht werden kann. Jedoch funktioniert die Wiederkehr des Immergleichen offenbar nicht beliebig, sondern bedarf der Einbeziehung des Jetzt. In der Gegenwart der zwanziger Jahre gilt Mann die einmal verlorene Innerlichkeit, die unter dem Schutzmantel der Monarchie möglich gewesen war,/»r immer verloren, weil ihre Wiederkehr nicht mehr das Gleiche bedeutete wie ehemals: Sie wäre »Barbarei« ( X I , 814). Dem zyklischen Geschichtsdenken sind da die Grenzen gesetzt, wo Wiederholung - aufgrund der veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - nicht mehr (identische) Wiederholung ist. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch Jaakobs gegenwartsvergessene mythische Identifikation der Rückschlägigkeit anheimgegeben. Auch ihre Folge ist die »Barbarei«, oder doch zumindest die »biedere[ ] Unbeträchtlichkeit« (XI, 814) in politicis, die das Barbarische nach sich zieht und ihm hilflos gegenübersteht. So heißt es schon im Brief an Hermann Grafen Keyserling (1920): »Jeder Versuch, das Alte, das durch Kritik Tote [...] wiederzubeleben, ist Obskurantismus« (XII, 601). Jaakobs Lebensschwere ist in der Innerlichkeit begründet, die auch Thomas Mann zur Zeit der Betrachtungen verteidigte und deren Quell eine immer aufs Transzendentale gerichtete Aufmerksamkeit war - eine A u f merksamkeit, die dem politischen Geist als nur diesseits operierendem Weltverbesserungsstreben keinerlei Beachtung schenkt. Damit gerät Jaakob in den gleichen Widerstreit mit der Zeit, in den auch Thomas Mann geraten war. Den Forderungen der Gegenwart zu genügen, bedeutete in erster Linie, gegen eine falsch verstandene, weil rückschrittliche Wiederbelebung der Vergangenheit anzugehen. Dem verweigert sich Jaakob strikt, indem er aus seiner ausschließlich aufs Metaphysische gerichteten Lebenswelt nicht ausbricht. Damit wird er zu einem Exponenten der Reaktion. Seine romantische Innerlichkeit vermag der primitiv-populistischen Wiederbelebung der Tradition, wie sie seine Söhne versuchen, indem sie übrigens analog zu weiten konservativen Kreisen in der Weimarer Republik - »auf einen geistlichen Adel pochte [n], der persönlich gar nicht der ihre war« (IV, 158), nichts entgegenzusetzen. Jaakobs Romantik muß wider180

standslos der >verhunzten Romantik< (vgl. X I I , 852) seiner Söhne weichen, die sich schließlich in sinnlosem Morden Bahn bricht. In Anspielung auf die Morde an Matthias Erzberger und Walther Rathenau tritt Thomas Mann in Von Deutscher Republik dafür ein, daß im Notfall auch der »eingefleischteste Romantiker« »zum politischen Aufklärer« (XI, 8i8f.) werden müsse: Wenn sentimentaler Obskurantismus sich zum Terror organisiert und das Land durch ekelhafte und hirnverbrannte Mordtaten schändet, dann ist der Eintritt solchen Notfalles nicht länger zu leugnen (XI, 818).

Die Parallele zum Schekem-Gemetzel ist offensichtlich. Auch Jaakob ist ein Romantiker, dem die Welt im Grunde nicht als politische, sondern nur metaphysisch, im Hinblick auf die Ausbildung der Gottesidee, wichtig ist. Der Bestialität in Schekem, die seine Söhne aus niederen Motiven und einer falsch verstandenen Tradition begehen, setzt Jaakob, obwohl es in seiner Macht gestanden hätte, kein Widerwort entgegen. Der Erzähler, indem er diese Lesart explizit der biblischen entgegenstellt, die Jaakob von jeder Schuld freihält, betont die Schuld, die der geistige Mensch auf sich lädt, wenn er sich weigert, der Gegenwart Beachtung zu zollen und in ihr tätig zu werden. Es wäre Jaakobs Aufgabe in seiner Zeit wie die des romantischen Individualisten in Thomas Manns Gegenwart, »zum politischen Aufklärer« zu werden. Thomas Mann gestaltet hier den autobiographischen Konflikt einer in Bedrängnis geratenen unpolitischen Innerlichkeit. E r selber hat die Gefahr gesehen, die aus dieser Weltsicht erwachsen kann und hat sie in Von Deutscher Republik auch formuliert: Er müsse furchten, »aus geistigem Freiheitsbedürfnis dem Obskurantismus Waffen geliefert zu haben« (XI, 819). 41 Dem entgegenzuarbeiten ist von nun an seine Aufgabe, die er in dem Wort »Humanität« (XI, 851) zu fassen sucht. Humanität bedeutet, zu einer »Einheit« (XI, 854) von Geist und Leben zu finden, Humanität ist die dritte Instanz, in der sich der Gegensatz von »>weltlich und überirdischSchönheit< empfindet« (XI, 569). (Josephs Schönheit konnte deswegen als äußeres Zeichen seiner Aufgabe gedeutet werden, den doppelten Segen zu verwirklichen. Dessen Prophezeiung »mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt« (IV, 49) - ist ja nichts anderes als die Umsetzung des Verhältnisses von Geist und Leben, das auch der Schönheit zugrundeliegt, in eine ethische Forderung.) Das erste Kapitel des zweiten Buches, Von der Schönheit, knüpft an diese Gedanken an: daß es reine, absolute Schönheit nicht gebe, daß Schönheit nie »gedachtef] Begeisterung« (IV, 393) allein, sondern immer auch »magische Gefühlswirksamkeit« (IV, 394) sei. Jedoch gebe es Fälle, wo sie nicht ausschließlich sinnlich sei, wo beides zusammenfinde. Anzutreffen sei solche Schönheit vornehmlich in der Jugend, die sich nicht eindeutig dem Männlichen oder dem Weiblichen zuordnen lasse und die deswegen »über die Eigenschaft des offenbar Unpraktischen triumphiert« (IV, 394). »Schönheit als Jugendanmut« (IV, 394): das ist Josephs Fall - weder ausschließlich der sinnlichen Natur verpflichtet noch ausschließlich blutarmer Vergeistigung. Abermals dient seine Schönheit dazu, ihn beiden Prinzipien dieser Welt, dem Geistigen und dem Irdischen, zu verpflichten. 182

Diese Perspektive ordnet von Anbeginn auch dem zweiten Romanteil seinen Platz im Themenfeld von Thomas Manns Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte zu. In welchem ästhetischen, philosophischen und latent politischen Rahmen diese einleitenden Bemerkungen des zweiten Buches stehen, vermag wieder ein Blick in Manns umliegendes Werk zu erhellen. In seinem Essay Goethe und Tolstoi von 1921 kommt er auf Schillers Aufsatz Über Anmut und Würde zu sprechen und erläutert, daß nach dessen Ansicht Anmut nichts dem Menschen natürlich Gegebenes, sondern etwas der natürlichen Gestalt freiheitlich Hinzugefügtes sei. E r zitiert Schiller: »Anmut ist die Schönheit der Gestalt unter dem Einfluß der Freiheit« (IX, ioof.). Anmut sei deshalb »«'«persönliches Verdienste ( I X , 101) - im Unterschied zur Schönheit, die naturgegeben ist. Bei Joseph fallt beides, Naturgegebenes und persönliches Verdienst, zusammen. Damit besetzt er genau die Position, die für Thomas Mann im weiteren Verfolg seiner Argumentation in Goethe und Tolstoi Goethe einnimmt. Der spreche nämlich »gern von >angeborenen Verdienstem.v. (IX, 101) Diese Redewendung ist eines der LieblingsBonmots Thomas Manns, und hier kommentiert er sie so: Niemandem ist verwehrt, diesen Ausdruck als einen logischen Widersinn zu bezeichnen. Allein es gibt Fälle, in denen der Logik eine metaphysische Gewißheit entgegensteht, die höher ist als sie; und Goethe, der im ganzen gewiß kein Metaphysikus war, empfand das Problem der Freiheit ganz zweifellos als metaphysisch. Das heißt, eine unbegreifliche Einsicht sagte ihm, daß Freiheit, daß also Schuld und Verdienst nicht Sache der empirischen Welt, sondern der intelligiblen seien, daß, um mit Schopenhauer zu reden, Freiheit nicht im operari, sondern im

esse liege. (IX, ΙΟΊ)

Indem Mann das ästhetische Problem der Schönheit mit dem philosophischen der Freiheit verknüpft, schlägt er den Bogen zur Ethik. Denn das Problem der Freiheit stellt sich ihm wesentlich als weltanschauliche Entscheidung für eine empirische oder metaphysische Welt - für freiverantwortliches Handeln oder transzendentale Vorherbestimmtheit. Das ist eine ontologische Fragestellung, deren Beantwortung gegebenenfalls fatalistisches Denken zu rechtfertigen vermöchte. Was die Gedankenverknüpfung von angeborenen Verdienste» für den schönen Joseph bedeutet, ist somit klar: »die Synthese von Freiheit und Notwendigkeit« ( I X , 101), von Eigenverantwortung unter der Prämisse des »metaphysische[n] Bewußtsein[s], der Gnade des Schicksals absolut und unter allen Umständen sicher zu sein.« (IX, 1 0 1 ) Von Beginn an steht die Hauptgestalt des Romans allein schon durch ihre vom Erzähler erneut evozierte Schönheit mitten in dieser philosophischen Auseinandersetzung Thomas Manns, die seine Stellung zur Zeitgeschichte bestimmt. 1 Denn die Frage nach der Politik im Joseph-Roman bedeutet ' Vgl. zur Bedeutung von Josephs Goethe-Imitatio Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte 183

immer erst die Frage nach deren Möglichkeit im Rahmen des wesentlich metaphysisch-deterministischen Weltverständnisses von Thomas Mann. Wie der Gedankenkomplex zeigt, der sich um Josephs »Schönheit« rankt: Thomas Mann versucht hier ein Modell des Sowohl-als-auch zu erstellen. Der tatkräftige Goethe dient ihm hierbei dazu, Schopenhauers Fatalismus in einen weltbezogenen Aktivismus zu überfuhren. 2 Ein zweiter Umstand stärkt diese These noch: Im ersten Band hatte Joseph versucht, seinem Vater eine Geschichte zu erzählen von der Jungfrau, die den Engel Semhazai mit weltlichem Witz um ihren Namen betrügt, wofür Gott sie belohnt. Damals, am Brunnen, wurde diese Anekdote zugunsten der Geschichten Jaakobs abgebrochen. Hier nun, anschließend an das Schönheitsmotiv, wird sie zu Ende erzählt, hier hat die sehr weltliche Pointe Josephs - das Mädchen, das mit seinen Reizen gespielt hat, erlangt Gottes Gunst - den ihr angemessenen Platz: ein weiteres Indiz dafür, daß der Erzähler mit Joseph nach einem welthaltigeren Platz im Leben sucht, als ihn Jaakobs geistdurchdrungenes Sinnen zu bieten vermochte.

Josephs Mittlerposition und Thomas Manns Künstler-Ich Der junge Joseph fuhrt die in den Geschichten Jaakobs umkreiste Thematik weiter. Der Sackgasse von Jaakobs geistesaristokratischer Lebensfremdheit wird im zweiten Band mit Joseph eine Alternative gegenübergestellt. Um der zeitgeschichtlichen Funktion gewahr zu werden, die diese Alternative für Thomas Mann hat, ist es nötig, deren autobiographische Bezüglichkeiten herauszuarbeiten. Erst diese ermöglichen es, dem Lebensmodell >Joseph< seinen politischen Gehalt abzugewinnen. In diesem ersten Unterkapitel versuche ich daher einen Dreischritt: Zunächst will ich Josephs Verhältnis zum Leben bestimmen; dies soll dann auf seine weltanschaulich-philosophischen Implikationen befragt werden, die sich grundlegend von denjenigen Jaakobs unterscheiden; und schließlich soll ihr zeitgeschichtliches Gedankenfundament hervorgehoben werden, indem Josephs Lebensverständnis mit der Biographie Thomas Manns parallelisiert wird. Dieses Verfahren gewährt die maximale Annäherung an den politischen Kern des jungen Joseph·. Ich will damit zeigen, daß Josephs Mittlerposition der zwischen Metaphysik und >Leben< vermittelnden Aufgabe im Roman, S. 144-152; ferner Rolf Günter Renner: Lebens-Werk. Zum inneren Zusammenhang der Texte von Thomas Mann, München 1985, S. 250. 1 Vgl. zum Schopenhauer-Goethe-Komplex bei Thomas Mann unter dem Aspekt des »aristokratischen Prädestinatianismus« Werner Frizen.' Zaubertrank der Metaphysik, S. 21 of.

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entspricht, die nach Thomas Manns Meinung dem Künstler in der Gegenwart zukäme. Nach den ersten andeutenden Hinweisen, die wiederum, wie schon im Jaakob-Y>%aA, über das Thema der Schönheit erfolgten - was die parallele Argumentationsführung der beiden Bände betont - muß der Erzähler J o sephs im Verhältnis zum Vater freieres Verhältnis zum Leben untermauern. Wie ist das Joseph möglich, ohne die metaphysische Bindung zu verlieren, die für ein geistiges Dasein vonnöten ist? Antwort darauf geben die Kapitel Der Unterricht und Von Körper und Geist. Der Unterricht, den Joseph bei Eliezer genießt und der seine Weltsicht bestimmt, ist Spiel: ästhetisches Jonglieren mit dem Zahlenzauber der Welt, Aneignung und auch Verbesserung des göttlichen Weltenkreislaufs: »Mit all diesem spielte Jung-Joseph unter des Alten Aufsicht wie mit Bällen und unterhielt sich gewinnbringend.« (IV, 403) Eine entscheidende, Josephs Verhältnis zur Welt bestimmende Rolle hat dabei der Verstand: E r sah ein, daß der Mensch, dem Gott Verstand gegeben, damit er das Heilige, aber nicht ganz Stimmende verbessere, die dreihundertsechzig Tage mit dem Sonnenjahr ausgleichen müsse, indem man zum Schlüsse fünf Tage einschaltete. (IV,

403) Innerhalb von Gottes Weltplan ist der Mensch beauftragt, aktiv zu handeln: E s war gut, das Notwendige einzusehen und Gottes Gemütsart dabei zu durchdringen. Denn sein Zahlenwunder war nicht ganz tadellos, und der Mensch mußte es verständig ins gleiche bringen (IV, 404).

Das »Notwendige«, metaphysisch Vorgegebene einzusehen bedeutet, das Leben danach ausrichten und stimmig machen zu können. Diese dem Menschen durch seine Verstandesgaben zukommende Aufgabe macht ihn autonom, freilich immer begrenzt durch die vorgegebene Weltordnung Gottes. Von dieser »Berichtigung« nun aber heißt es, daß auf ihr »Fluch und Unheil« (IV, 404) lag. Des Menschen Aufgabe ist also zwangsläufig mit der Sünde verknüpft. Der Unterricht, den Joseph genießt, postuliert, daß diese Sünde selber im Dienst des Heiligen steht: Sie ist notwendig. So integriert sich das menschlich Sündhafte harmonisch in Gottes Gesamtplan. Dieser Gedanke wird im Sinne des Sphärenmodells, der Einheit und »Einerleiheit« (IV, 191) von Oben und Unten, weiter ausgeführt. Die Welt sei ein »Rundlauf« (IV, 404) von Jahren, die »Weltumläufe« (IV, 405) sind »Erneuerungen des LebensEwige Wiederkehn.« (IV, 405) Gott sei zwar der »Herr der Äonen« (IV, 405), aber der Mensch könne ihm nachstreben, denn ihm eigne »die Fähigkeit, die Äonen zu denken und sich damit in gewissem Sinne ebenfalls zu ihrem Meister aufzuschwingen...« (IV, 405) 185

Der Verstand, die »Fähigkeit [...] zu denken«, ist des Menschen Fluch und gibt ihm zugleich die Möglichkeit, sich zu erheben. Schon die Löwengeschichte, die Joseph am Eingang des Romans seinem Vater erzählte, führte beispielhaft vor, wie sich Joseph der empirischen Welt gewachsen zeigte, indem er sich ihren metaphysischen Wesenskern zunutze machte. Josephs Unterricht zeigt, daß genau dies die vornehmliche Aufgabe sei, die dem Menschen im Plan Gottes zukomme: Indem der Mensch sich ums Leben kümmert, erfüllt er seine metaphysische Pflicht. Josephs »Lieblingsgedanke[ ], der die Quelle seines heimlichen Entzükkens bildet und von dem sein Lebensgefühl gespeist und aufrechterhalten wird«, ist dem Denken des Vaters, der sich ausschließlich der metaphysischen Welt widmet, entgegengesetzt: Diese reizende Idee war für Joseph das Zusammenwohnen von Körper und Geist, Schönheit und Weisheit und das wechselseitig einander verstärkende Bewußtsein beider. (IV, 4 1 1 )

Die Versöhnung von metaphysischem Sein und empirischer Wirklichkeit steht so im Mittelpunkt seines Lebens. Das setzt ihn Gefahren aus, mit denen der Vater nie in Berührung kam. Sein Verhältnis zum Leben ist weitaus inniger als Jaakobs Dasein, das sich in hoheitsvoller Abgeschiedenheit von der Wirklichkeit vollzieht, wenngleich diese Wirklichkeit auch bei ihm immer wieder mit brachialer Gewalt ihre Ansprüche geltend macht mit Dina, mit Raheis Tod und schließlich mit Josephs Brunnentod. Joseph ist es nicht mehr möglich, in der ätherischen Wirklichkeitsabgewandtheit seines Vaters zu leben. Schon seine »Anlage zu leicht ekstatischen Zuständen« (IV, 416) zeigt, daß sich ihm seine übernatürlichen Gaben viel stärker über das Leben mitteilen als seinem Vater, dessen einstige »Haupterhebung aus Trübsal und äußerer Demütigung« (IV, 418) herrührte. Aber gerade weil »Jaakob nicht schlechthin wohl bei seinen Beobachtungen« (IV, 416) Josephs ist, unterstützt er die wissenschaftliche Ausbildung seines Sohnes. »Die Zeiten änderten sich« (IV, 4 1 ; ) ; das sieht auch er. Die gelehrsame Beschäftigung mit dem Leben kann und soll Joseph davor schützen, ihm auf rückfällige Weise anheimzufallen: Dunkle Elemente im Wesen seines Lieblings schienen ihm lösender Klärung im Intellektuellen bedürftig, also daß er, wie man sieht, auf seine bedachte Art übereinstimmte mit Josephs eigener Knabenspekulation, das Bewußtsein des Körpers müsse verbessert und berichtigt sein durch das Bewußtsein des Geistes. (IV, 418)

Das Leben, indem es mit Joseph in eine Phase des »Bewußtseins« eintritt, verabschiedet sich endgültig von dem naiven Zustand selbstverständlicher metaphysischer Geborgenheit, in der noch Jaakob lebte. Die aufklärerische Beschäftigung wirkt der drohenden Diesseitsverlorenheit entgegen. Auch 186

dieser neue und moderne Standpunkt muß aber in einer mythischen Tradition stehen. Ihn dort zu verankern unternimmt der Erzähler im zweiten Hauptstück. Sie entspringt beim Urvater von Josephs Volk: bei Abraham. Uber seinen Lehrer Eliezer wird Joseph mit ihm verknüpft. Diese Rückbindung zu untersuchen entspricht dem zweiten Schritt unserer Fragestellung. Eliezer inkarniert die mythische Idee. E r unterscheidet nicht zwischen seiner persönlichen Individuation und den Menschen, die sich vor ihm Eliezer nannten. In ihm werden Zeiten fernster, mythisch gewordener Vergangenheit wieder lebendig, wenn er sie in der Ich-Form erzählt: E r selber sei »Abrams natürlicher Sohn gewesen, gezeugt mit einer Sklavin« (IV, 420). Was Joseph am stärksten prägt, ist diese mythische Identität seines Lehrers. Das streicht der Erzähler gebührend heraus: Wir wollen hier, im Vorblick auf Josephs Lebensgeschichte, nur gleich bemerken, daß diese Art von Eindrücken die nachhaltigsten und wirksamsten waren, die er beim Unterricht durch den alten Eliezer gewann. (IV, 424)

Joseph ist jedoch nicht nur Eliezers Schüler, sondern auch Jaakobs Sohn. Deswegen schaut er über seinen Lehrer hinaus auf Höhere und Höchste: auf Eliezers Herrn, »auf Abraham« (IV, 425). Sein Stammesvater macht Joseph eine Tradition zugänglich, die sowohl im Geistigen als auch im Irdischen verankert ist. Denn Eliezer »sprach von ihm gleichsam mit doppelter Zunge, mal so und dann wieder ganz anders« (IV, 425): Z u m einen habe nämlich »Abraham Gott entdeckt aus Drang zum Höchsten« (IV, 426). Zum anderen repräsentiert er aber auch den erdverbundenen Typus. Eliezer erzählt von seinen Gottesbemühungen, erzählt ebenso aber auch »die Geschichte von Abrahams verkündigter Geburt, dem Knabengemetzel um seinetwillen, seine Höhlenkindheit und wie ihn der Engel gesäugt, indes seine Mutter suchend umhergeirrt war.« (IV, 436) Er bezeichnet die Söhne, die Abraham mit Ketura gehabt habe, als »Söhne und Fürsten der Unterwelt« (IV, 437): Abram habe ihnen und der Mutter eine eiserne Stadt gebaut, so hoch, daß niemals die Sonne hineinschien und nur Edelsteine ihr leuchteten. (IV, 437)

Deutlicher kann man die erdverbundene Seite des Gottessuchers kaum herausstellen. Der Erzähler kommentiert: »Sein Zuhörer hätte ein völlig stumpfer Junge sein müssen, um zu verkennen, daß mit dieser düster leuchtenden Stadt die Unterwelt gemeint sei« (IV, 437). In dieser nach zwei Seiten, der göttlichen und der irdischen, gebundenen Tradition steht auch Joseph. Auch für ihn erhält die geistige Welt ihre Bestimmung erst durch ihr Wirklichwerden im Diesseits. 187

Abraham ist die Figur des Romanpersonals, die mit ihrem Bestreben, transzendentalen Weltblick harmonisch mit innerweltlichem Wirken zu verbinden, die früheste mythische Vorlage für Josephs Leben abgibt.' E r steht programmatisch für die Verwirklichung der Eingangssätze der Höllenfahrt, daß es das »Menschenwesen« sei, »dessen Geheimnis sehr begreiflicherweise das Α und das Ο all unseres Redens und Fragens bildet« (IV, 9).4 In dieser transzendentalen Fokussierung auf Menschliches verkörpert Abraham den Beginn einer Bewegung, die sich um innerweltliches Heil bemüht. E s ist eine Denkart, die für Josephs Lebensweg leitend werden soll. Joseph ist der Enkel dieser romantischen Tradition, die den Menschen über der Metaphysik nicht vergißt.5 Über diese Tradition wird Joseph seiner Mittlerposition jedoch nicht nur auf historischem Wege verpflichtet; auch sein Charakter ist in sie eingeschrieben. Josephs Selbst-Bewußtsein entspricht demjenigen Abrahams, und, was darüber hinaus wichtig ist, weil es den Horizont zur Zeitgeschichte hin öffnet, auch dem von Thomas Mann. (Das soll im dritten Schritt dieses Kapitels gezeigt werden.) Abrahams auserwählte Stellung resultiert aus seiner Veranlagung, Fragen zu stellen, welche die empirische Welt auf Gott hin transzendieren und umgekehrt Gott in dieser Welt erst zur Verwirklichung verhelfen. Diese Fähigkeit wiederum gründet auf einem sehr persönlichen Charakterzug des Urvaters: Abraham, heißt es, habe sich selber wichtig genommen: Um es vor Gott und Menschen zu irgendwelcher Ansehnlichkeit und Bedeutung zu bringen, war es nötig, daß man die Dinge - oder wenigstens ein Ding wichtig nahm. Urvater hatte die Frage unbedingt wichtig genommen, wem der Mensch dienen solle, und seine merkwürdige Antwort darauf war gewesen: »Dem Höchsten allein.« (IV, 4 2 ; )

Aus dieser Antwort spricht ein Bewußtsein, das Joseph sehr entgegenkommen muß. Der Erzähler bündelt schicksalsschwer: »Damit fing alles an. ' Vgl. auch Inge Diersen: Thomas Mann. Episches Werk, Weltanschauung, Leben, S. 210: »Der Abrahamssegen ist geistig-geistlicher Segen im Sinne eines primär moralischen Auftrags, und er ist ein Segen, der zu praktischer Lcbenstüchtigkcit verpflichtet und befähigt.« 4 Diese Maxime lehnt sich an Alexander Popes »The proper study of mankind is man« an (die wiederum auf Pierre Charrons Traite de la Sagesse von 1601 zurückführt). Sie war Thomas Mann aber nur über Goethe vermittelt bekannt, so daß er sie auch diesem zuschrieb. Vgl. I X , 320 über Goethe: »Von ihm stammt das hochhumane Wort: >Das eigentliche Studium der Menschheit ist der MenschMein Vater ist erhabendenkend verwirklichende« Menschen zum Göttlichen begründet. Abraham ist Geschöpf dieser Welt, zugleich aber auch Schöpfer. In ihm vereinigen sich metaphysisches Erkennen und diesseitiges Wirken-Können. Die »Lebewelt« (IV, 429) bleibt dennoch Interessensphäre des Menschen, ja bedingt geradezu höheres, metaphysisch durchdringendes Sein. Der Gefahr dieses Auserwähltendaseins, sich der Umwelt zu entfremden, ist auch Joseph ausgesetzt. Seine Teilhabe an metaphysischer Welterkenntnis läßt in ihm ein Selbstgefühl erstehen, »das man fast hoffärtig [...] hätte nennen können.« (IV, 425) Das verweist schon auf die deformierte Art, in der Abrahams Gaben in seinem jungen Enkel wiederkehren. Es ist das Schicksal Josephs, dieser Gefahr zu erliegen. Mit dem jungen Joseph gestaltet Thomas Mann das ästhetizistische Dilemma des Künstlers, der sich kategorisch weigert, der Gesellschaft Bedeutung beizumessen. All jene Momente - Sich-wichtig-Nehmen, metaphysisches Weltverständnis und Absonderung von der Mitwelt - sind ebenso Demarkationslinien der Tradition, die von Abraham zu Joseph führt, wie auch des künstlerischen Selbstverständnisses von Thomas Mann. Dieses autobiographische Moment ist bedeutsam, weil es Manns Identifikation mit Joseph als mythischem Typus demonstriert. Von daher werden Rückschlüsse von der Gestaltung Josephs auf den zeitgeschichtlich motivierten Argumentationsgrund des Romans überhaupt erst möglich. Die künstlerische Welterfahrung ist nach Thomas Mann metaphysisch. Diese Meinung hatte in den Betrachtungen eines Unpolitischen seine strikte Ablehnung des Zivilisationsliteraten begründet, der sich, als Künstler, direkt dem Sozialen zuwandte und damit alle Aspekte erst sinnstiftender Lebensganzheit, wie sie Thomas Mann am Herzen lagen, von vornherein ausschloß. Der Zivilisationsliterat stand im Ersten Weltkrieg in der Tradition der Französischen Revolution, gehörte »mit Leib und Seele der Entente, zum Imperium der Zivilisation« (XII, 57), und argumentierte deshalb für (gesellschaftlichen) »>Fortschritt«< (XII, 57). Damit opponierte er dem deutschen Wesen, dessen Charakter metaphysisch und innerlich war. Gerade aus seiner metaphysischen Bestimmung entwickele sich jedoch der besondere Auftrag des deutschen Künstlers: E s ist das alte L i e d v o n Tonio K r ö g e r : »Ich stehe 2wischen zwei Welten, bin in keiner daheim und habe es infolgedessen ein w e n i g schwer.« - A b e r ist man vielleicht gerade damit deutsch? Ist nicht deutsches Wesen die Mitte, das Mittlere und Vermittelnde und der Deutsche der mittlere Mensch im großen Stile? ( X I I , II.)

Zwischen zwei Welten zu stehen, das ist nach Thomas Mann Künstlerschicksal in nuce - ein Dilemma, aus dem aber auch die schöpferisch pro190

duktive Kraft erwächst, deren Verwirklichung Thomas Mann in den Betrachtungen dem Deutschen zur Aufgabe machte: zwischen beiden Welten zu vermitteln. Thomas Mann erklärt im Joseph-Roman, daß der Erzähler der Raum der Geschichte sei, »aber sie nicht der seine«, was ihn in die Lage setze, »sie zu erörtern« (IV, 821, vgl. auch V, 1290), so wie Gott gleichzeitig Raum der Welt sei und doch außer ihr stehe. Damit parallelisiert er die Schöpferkraft Gottes und die Aufgabe des Künstlers. Die gleiche Parallele findet sich an anderer Stelle zwischen Gott und Abraham: Ohne Abraham könnte Gott zwar gar nicht sein, und dennoch »blieb Gott aber doch ein gewaltig Ich sagendes Du außer Abraham und außer der Welt.« (IV, 431) Daraus folgt Abrahams Mittlerrolle, der »sich sehr wacker und klar Ihm [Gott] gegenüber aufrecht« (IV, 431) hielt. So nimmt Abraham mythologisch die gleiche Funktion des Weltenvermittlers aus metaphysischer Bedürftigkeit ein, die Thomas Manns Künstler- und Lebensverständnis prägt. 7 So wie Abraham Gott und damit die Welt aus seinem Ich heraus entwirft, ist auch der Künstler Geschöpf dieser Welt und ihr Schöpfer zugleich. Und wie Abraham steht auch Joseph zwischen Metaphysik und Wirklichkeit. Die »Hochgemutheit« (IV, 428) des Gottesentdeckers Abraham bedarf jedoch eines gewissen pädagogischen Impetus. Sie darf sich nicht vor all jenen, denen metaphysische Erkenntnis nicht zuteil geworden ist, verschließen. Sonst zeigte sie ihre Kehrseite, schlüge »Hochgemutheit« um in Hochmut, in die Mißachtung aller Nicht-Auserwählten. Die Menge im elitären Bewußtsein der eigenen Auserwähltheit zu vernachlässigen bedeutete im Romankontext die Verhinderung des Tages der Apotheose, wenn »Gott, wie in Wahrheit von je, so endlich auch in Wirklichkeit Herr und König sein würde über alle Götter.« (IV, 434) Das ist bei Joseph der Fall. E r steht zwar ganz in der mythischen Tradition Abrahams, der sowohl dem Irdischen als auch dem Göttlichen verpflichtet ist, verkennt jedoch, daß die endgültige Verwirklichung von Gottes Willen, ihm »einen Namen zu machen« (IV, 435), sich nicht in elitärer Isolation vollziehen kann. Indem Joseph im dritten Hauptstück, das Joseph und seinen RahelBruder im Adonishain vorstellt, in die Nachfolge von Tammuz-Adonis gestellt wird, vertieft sich seine Tradition mythisch noch über Abraham hinaus. Die schon bisher sichtbar gewordene Kennzeichnung seines Wesens, die Stellung zwischen Geist und Leben mit ihren Joseph-spezifischen Im-

7

Vgl. hierzu auch Herbert Lehnert: Ägypten im Bedeutungssystem des Josephromans. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 9 3 - 1 1 1 , hier S. 95: »Der Erzähler spricht hier für den Autor, der fiktive Wirklichkeit analog zu der Weltschöpfung des Gottes der biblischen Geschichten schafft.« 191

plikationen, festigt sich damit in menschheitlichem Urgrund: Sein >fast hoffärtiges< Selbstbewußtsein, das aus der quasi-göttlichen Stellung eines Menschen herrührt, der der Welt metaphysisch-künstlerisch zu begegnen vermag, hat hier seine tiefsten Wurzeln. Aber auch die Kehrseite wird sichtbar: Seine mythischen Identifikationsspielereien verbinden sich untrennbar mit der Überheblichkeit gegenüber seinen Mitmenschen, die den Charakter des jungen Joseph so verderblich auszeichnet und die ihn so einsam sein läßt. Die Adonis-Tammuz-Osiris-Konstellation, 8 aus der Joseph sein Selbst-Bewußtsein zieht, offenbart sein Schicksal. Wie Tammuz-Adonis, der von einem wilden Tier getötet wurde, wie Osiris, den der Bruder zerriß, wird auch Joseph in die Unterwelt eingehen - während sie ihn verprügeln, zerreißen seine Brüder die Ketönet wie wilde Tiere mit den Zähnen. Daß Joseph dem Benjamin seinen wahrhaft hoffartigen Himmelstraum auf dem Adonishain erzählt, unterstreicht den engen Konnex zwischen dem Schicksal, das ihm aus seiner mythischen Rolle zuwächst, und seiner Schuld. Der Garbentraum und der Traum von Sonne, Mond und Sternen, den er hernach vor seinen Brüdern ausplaudern wird, sind in ihrer Anmaßung nur eine geschwächte Variation dessen, was er Benjamin im Adonishain berichtet, - und dennoch wird dies ausreichen, Joseph >in die Grube< zu bringen. Der kleine Vollbruder hat von Beginn an die Rolle eines nicht überheblichen (deswegen aber auch bloß bürgerlichen und nicht künstlerisch auserwählten) alter ego Josephs inne. Früh erkennt er die Gefahr von Josephs Träumen schon da, wo der ältere Bruder in narzißtischer Verblendung noch ganz auf seine besonderen Vorzüge vertraut: Aber du selbst, Joseph wenn ich dich bitten darf, hüte du dich noch mehr, sei so gut, Lieber, um meinetwillen [...] denk an den Kleinen, wenn es dich anficht zu erzählen, wie sehr in Freuden der Herr dich auserkor! [...] den Vater möcht' es mit Sorge betrüben nach seiner Art, und die Brüder würden spucken und speien vor Mißbilligung und dich's entgelten lassen in ihrer Scheelsucht. (IV, 469)

Der junge Joseph ist, von seiner persönlichen Anlage her, was seine historische Herkunft angeht und gemäß seiner mythologischen Verankerung für eine vermittelnde Rolle in dem umkreisten Konflikt zwischen Geist und Leben prädestiniert. Im Kontext des Romans kommt ihm die Rolle zu, die in den Jahren des Ersten Weltkriegs und der Weimarer Republik der Künstler innehatte, der sich kategorisch den gesellschaftlichen und politischen Anforderungen der Zeit verweigert, weil er seine Auserwähltheit nicht in den Dienst der Anderen stellt, sondern sie nutzt, um sich elitär von ihnen abzusondern. Insofern ist der im Roman verhandelte Konflikt autobiographischer Art und damit zeitgeschichtlich virulent. Ihn zu betrachten im Zusammenhang mit der gesellschaftlichen Situation der zwanziger Jahre, wie Thomas Mann sie sah, ist die Aufgabe des folgenden Kapitels. ' V g l . Helmut Jendreiek: Thomas Mann. Der demokratische 192

Roman,

S. 363-36;.

Josephs Konflikt mit den Brüdern und das Verhältnis des Künstlers zur Gesellschaft Jaakob fördert, wie wir gesehen haben, die Gelehrsamkeit seines Lieblingssohnes, weil er in ihr ein Korrektiv zu irdischen Gefahrdungen erblickt. Da Jaakob solchen gar nicht ausgesetzt ist, bedarf er ihrer auch nicht. Er kann weder lesen noch schreiben, und ägyptisch will er gar nicht sprechen können, weil er dieses Land »mißbilligte und verabscheute« (IV, 413). Jaakobs »Gottesunmittelbarkeit« mochte »eigentlicher Schreibwissenschaft leicht entraten« (IV, 414), und Ägypten, das er mit dieser Tätigkeit geradezu identifiziert, weil »alles Schreibertum dortzulande« (IV, 414) in »übertriebene[m] Ansehen« (IV, 414) stand, muß ihm ebenso verhaßt wie seinem Sohn lieb sein. Damit steht Jaakobs Hoheit im Gegensatz zu der hervorgehobenen Stellung Josephs; letztere beruht durchaus auf seinen »Fertigkeiten«.9 Dies spiegelt Jaakobs genuine Abneigung gegen alles Irdische und, in Konsequenz, auch gegen die Politik: Was er von diesem Lande wußte, ließ es ihm als die Heimat der Fronfuchtel und der Unmoralität auf einmal erscheinen. Die staatliche Dienstbarkeit, die dort offenbar das Leben bestimmte, beleidigte seinen ererbten Sinn für Unabhängigkeit und Selbstverantwortung (IV, 413).

Nur weil sein persönlicher Status fraglos anerkannt ist, kann sich Jaakob politischer Vereinnahmung und Unterordnung entziehen. »Staatliche Dienstbarkeit« lehnt er ab, so wie Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen das deutsche Wesen, das sich ihm in der Kunst repräsentierte, in einer von Politik freien Sphäre unbehelligter Innerlichkeit sehen wollte. Da Jaakob seine Stellung nicht in Zweifel zu ziehen braucht, kann er untergeordnete Tätigkeiten, etwa den Schreibdienst, mühelos an seine Untertanen delegieren: denn die Fertigkeiten unserer Diener sind unsere Fertigkeiten, und Jaakobs Würdenschwere beruhte auf solchen nicht. Sie war freien, ursprünglichen und persönlichen Wesens, sie gründete sich auf die Macht seines Fühlens und Erlebens (IV,

414)· »Jaakob, der Vater« (IV, 415), verdankt seine geistige Reinheit seiner unangefochtenen Stellung in der Gesellschaft. Seit jeher ist er über die Händel des Alltags erhaben und kann nach seinem Willen frei über seinen Stamm ' Indem Jaakobs urtümlicher Würde der nicht mehr so einfache Sohnesfall gegenübergestellt wird, relativiert sie sich als zeitbedingte und mittlerweile historisch überlebte Daseinsform. Es ist deswegen nicht richtig, wie Klaus Schröter es tut, zu behaupten, daß diese Weltauffassung den ganzen Roman trägt. Die Kritik ist ihr, wie die Gestalt Josephs zeigt, immanent schon mitgegeben. Vgl. Klaus Schröter: Vom Roman der Seele %ttm Staatsroman, S. io6f. !

93

verfügen. Joseph, der Sohn, lebt hingegen in einer Zeit, in der all dies nicht mehr selbstverständlich ist. Er muß allein deswegen schon in einem anderen Verhältnis zu staatlicher Dienstbarkeit< und natürlichem Patriarchentum stehen, weil er nicht als Einziger, ja genaugenommen nicht einmal als Erster für die Segensnachfolge in Frage kommt. Er ist von seiner Geburt an gesellschaftlich eingebunden in die Schar seiner Brüder, ist, wenn auch privilegiert und bevorzugt, immer Mitglied einer Gemeinschaft, die er nicht verleugnen kann. Er steht damit von vornherein in einem Konkurrenzverhältnis, dem er sich nicht zu entziehen vermag. Unausweichlich stellt sich die Frage, ob »dem einen oder der Schar, die auf immer bedrohlichere Art gemeinsame Sache gegen ihn machte, die Hauptschuld an allem Unglück zuzuschreiben sei.« (IV, 409)10 Josephs »Lieblingsgedanke[ ]« (IV, 411) ist das harmonische Miteinander von Körper und Geist. Er weiß um den metaphysischen Grund der empirischen Welt. Dieses Wissen ist allerdings kein Allgemeingut. Die Zahlenwunder, die den Gottesplan offenbaren und mit denen Joseph sich beschäftigt, sind »Geheimnisse, die das Lernen zu einem großen und schmeichelhaften Vergnügen machten, eben weil es Geheimnisse waren, die auf Erden nur eine kleine Anzahl verschwiegener Erzgescheiter in Tempeln und Bauhütten wußte, nicht aber der große Haufe.« (IV, 405) Auf diesem Geheimnischarakter beruht zu großem Teil Josephs Faszination an der metaphysischen Stimmigkeit der Welt. Was er lernt, macht er für andere nicht fruchtbar, sondern benutzt es allein, um das Bewußtsein seiner eigenen Auserwähltheit zu steigern: »Joseph, so geschwätzig er war, sagte es niemandem weiter« (IV, 405). Diese elitäre Attitüde seines Wesens trägt entscheidend zum brüderlichen Mißverhältnis bei. Es ist die Folge verletzter Ausgeschlossenheit, die die Brüder »ihn spottend Noah-Utnapischtim, den Erzgescheiten« (IV, 413) nennen läßt, woraufhin er sie als »Leute, die nicht wissen, was Gut und Böse ist« (IV, 413) tituliert. Der Erzähler nennt in diesem Zusammenhang Josephs Untugend beim Namen: »wozu nützt Weisheit, wenn sie nicht einmal vor Hochmut zu schützen vermag?« (IV, 413) Die Spannung zwischen Joseph und seinen Brüdern ist die zwischen dem einsamen Künstler-Ich und der Gesellschaft, entspricht also der Kluft, die '"Vgl. Klaus Hermsdorf: Thomas Manns Schelme, S. 192, der Josephs Leben als mythische Wiederholung Jaakobs hervorhebt und zu dem Schluß gelangt, daß zwar seine Brüder die Rolle des Roten annehmen und Joseph insofern das väterliche Muster abermals durchlebt - jedoch: »die Kollektivität ihrer Erscheinung [...] gibt der Sachlage eine entscheidende Wendung.« Zurecht betont Hermsdorf: »Der Widerspruch zwischen dem einen und der Schar erscheint als Transformation und wesentliche Konkretisierung des Widerspruchs zwischen dem Künstler-Ich und dem >LebenSich-Neigen< und >Sich-Beugen< gestritten. (Vgl. das Kapitel Die Beratung, IV, 511—515) 202

sandt hat, daß ich sie grüße und bei ihnen nach dem Rechten sehe.« (IV, 5 37) D e r erste Satz schließlich, den er vor seinen Brüdern spricht - es bleibt dann auch der einzige - lautet: Traut euren A u g e n nur, liebe Männer! Ich bin g e k o m m e n v o n Vaters wegen auf Hulda, der Eselin, um nach dem Rechten zu sehen bei euch und um — (IV, 555)

Josephs Hochmut hindert ihn, die Lehren des Vaters anzunehmen, ja sie überhaupt nur zu bemerken, und es ist dieser Hochmut, der ihn schließlich in die Grube bringt. »>Neigen sich, neigen sich!< - >Sieh nach dem Rechten!«< (IV, 557) rufen sich die Brüder schließlich zu, während sie Joseph verprügeln. Ausgelöst wurde diese »geradezu rückfallig[e]« (IV, 556) Handlung der Brüder dadurch, daß Joseph seiner sozialen Pflicht, gegenüber seinen Brüdern aufmerksam und mitmenschlich zu sein, nicht gerecht wurde. Erst dieses Schreckensereignis vermag Josephs Hochmut zu brechen, öffnet ihm die A u g e n , indem es »seinen Glauben, sein Weltbild, seine wie ein Naturgesetz feststehende Uberzeugung, daß jedermann ihn mehr lieben müsse als sich selbst« (IV, 556), zerstört. Die A u g e n sind im Zusammenhang der Prügelszene leitmotivisch gebraucht. Zunächst prüfen die Brüder das Licht in der Ferne, indem sie »die Hand über die A u g e n legten« (IV, 554). Weiter heißt es: »sie sahen einander nach den A u g e n und folgte einer der Richtung, in der das Schauen des andern ging, bis alle die K ö p f e gehoben hatten und gemeinsam hinausspähten« (IV, 5 54). Schließlich »starrten [sie] über ihre Fäuste hinweg mit quellenden A u g e n auf das sich nähernde Blendwerk.« (IV, 554) Das ist bedeutsam, denn der Schopenhauersche Terminus v o m »Blendwerk«, mit dem Joseph, der in seiner Ketönet vor seinen Brüdern erscheint, beschrieben wird, kennzeichnet dem Philosophen den Schleier der Maja, das immer nur scheinbare Wesen der das Ich umgebenden Welt: den Schleier, der verhindert, das Eigentliche hinter der illusorischen Dingwelt wahrzunehmen. 1 0 Wenn die Brüder im folgenden zu den »Mörder[n]« (IV, 558) Josephs werden und sein »Schleiergewand« (IV, 547) zerreißen, dann ist die Symbolik dieses Vorganges deutlich: Sie zerstören damit Josephs Weltbild, der alles, was um ihn geschah, immer nur in sträflich egozentrischer Sicht auf sich selber bezogen wahrnahm. So wird auch verständlich, warum Joseph, »was mit der Ketonet geschah, das Entsetzlichste und Unfaßlichste v o n allem« (IV, 557) war: es war ihm schmerz- und grauenhafter als alle verbeulende Unbill, die nebenherlief. E r trachtete verzweifelt, das Gewand zu bewahren, die Trümmer und Lappen davon noch an sich zu halten, schrie mehrmals auf: »Mein Kleid!« und bettelte in " So spricht Mann z.B. in seinem Schopenbauer-ILssay v o m »illusionären Charakter des Lebens, dem Blendwerk des principii individuationis« ( I X , 562). 20;

Ängsten der Jungfräulichkeit: »Zerreißt es nicht!« noch, als er schon nackend war. (IV, 5 57)

Die Entschleierung setzt Joseph, der bisher in hochmütiger Abgeschlossenheit die Welt allein als Schauspiel betrachtete, unvermittelt der Wirklichkeit aus, beraubt ihn des ästhetisch-psychologischen Panzers, der bislang seine Unangreifbarkeit sicherte. Der nackte Joseph muß sich erstmals als Teil einer Welt begreifen, mit der es sich de facto zu arrangieren gilt. Der Erzähltext vollzieht Josephs Augenöffnung in vexierbildhafter Verkehrung des Tatsächlichen. Auf der Ebene der Erzählwirklichkeit werden ihm die Augen nämlich zunächst geschlossen. Das symbolisiert den Verlust der alten Sichtweise und die Initiation in eine neue Welt. Indem seine Brüder ihm auf ihre unmißverständliche, atavistische Weise beibringen, daß er nicht über die äußere Welt erhaben ist, verliert Joseph, dem sie immer nur Anlaß zu feinem Gedankenspiel war, der sich aber nie zu ernsthafter Beschäftigung mit ihr herabließ, seine bisherige Weltsicht: die Welt als nur auf sein Ich hingeordnete wahrzunehmen. Der Schleier zerreißt: Joseph kann der Welt erstmals jenseits seiner ichfixierten Projektionen und somit philosophisch im schopenhauer-kantischen Sinne, begegnen. Über die Augen stellt sich philosophisch ein neuer, verwandelter Bezug zur Welt her. Joseph verliert zunächst sein eines Auge, »es Schloß sich zur blauen Beule« (IV, 555), dann deutet sich auch der Verlust seines anderen Auges an. Während seine Brüder noch schimpfen: »>Uns vor die Augen!Verzauberten< nicht mehr, sondern >blinzelnGeheimnis< der Welt eingeweiht. Alles Geschehen offenbart sich ihm im transzendenten Licht: Man möge es glauben oder nicht, aber im verstörtesten Trubel der Überrumpelung, im schlimmsten Drange der Angst und Todesnot hatte er geistig die Augen aufgemacht, um zu sehen, was >eigentlich< geschah. (IV, 582)

Als Schüler Eliezers ist er sich jeden Augenblick der »Durchsichtigkeit des Seins« (IV, ; 8 i ) bewußt. Selbst wenn er weint, »weinte Joseph in seinem durchsichtigen Elend, das der Verstand überwachte.« (IV, 584) Nur gesellt sich nun zu seinem bisherigen Wissen um das transzendente Weltgeheimnis die Erkenntnis, daß die Welt auch außerhalb seiner Vorstellung, als eigenständige Wirklichkeit, existiert, und ebenso, daß er nur ein Teil dieser ganzheitlich zu erfassenden Wirklichkeit ist. E r durchschaut den »Schleier der Maja« (IX, 550) und wird zum Philosophen, indem er sich seines eigenen Todes bewußt wird und über sein individuelles Dasein hinaus die Welt erkennt: Nach Schopenhauer ist »der Tod [...] der eigentliche inspirierende Genius oder der Musaget der Philosophie«. 21 Infolgedessen ist " Schopenhauer, Bd. II, S. 536. 205

Joseph fähig, seine Einsamkeit aufs Soziale hin zu durchbrechen: Er hat nun Einsicht in den tiefen metaphysischen Zusammenhang zwischen seinem vereinzelten Ich und dem Weltganzen. Bisher war Joseph, in den Worten von Thomas Manns Schopenhauer-Paraphrase, »das vom Weltganzen sich so einzig abgesondert fühlende Individuum« (IX, 550). Diesen isolierten Standpunkt erläutert Mann wie folgt: E s sieht nicht das Wesen der Dinge, das eines ist, sondern dessen Erscheinungen als getrennt und verschieden, ja entgegengesetzt: Lust und Qual, den Peiniger und den Dulder, das Freudenleben des einen und das Jammerdasein des anderen.

(ix, 551) Jetzt aber befähigt Joseph seine Erkenntnis, nicht allein in der Welt zu sein, statt wie bisher die umgebende Welt hochmütig zu betrachten, nun Mitleid mit ihr zu haben. Zunächst äußert sich dies beim Gedanken an seinen Vater: Joseph war aufgewacht, er bat für des Vaters Herz, er spottete dieses Herzens nicht mehr, sondern trug Reue und Sorge darum (IV, 572).

Daraufhin erkennt er, daß und in welchem Ausmaß er seinen Brüdern Leid zugefugt hat: Furcht und Schmerzen aber waren von Mitleid ganz durchtränkt gewesen mit der Hassesqual, die er in den übernahen, wechselnd vor ihm auftauchenden, schwitzenden Masken gelesen, und das Mitleid mit einer Pein, als deren Urheber wir uns bekennen müssen, kommt der Reue gleich. (IV, 573)

Das Mitleid wird zum Komplementärgefühl des Hochmuts. So gelingt es Thomas Mann, die Möglichkeit, sich der Mitwelt zu öffnen, um sie ihrer selbst wegen ernst zu nehmen, im Rahmen von Schopenhauers Gedankenkosmos zu etablieren. »Daß das Grauen vor dem eigenen Schicksal in seiner Seele Raum ließ für Mitleid mit seinen Mördern« (IV, 574), dieses Gefühl wird zentral für die Befindlichkeit des >neuen< Joseph. Schon zu einem früheren Zeitpunkt hatte der Erzähler diese Form der Mit-Menschlichkeit, allerdings vergeblich, eingeklagt. Nachdem Joseph erstmals mit dem von Jaakob ergatterten Schleiergewand erscheint, wird er von den Müttern seiner Brüder gelobt, ohne daß er die »Bitterkeit« (IV, 484) in ihren Worten spürt. Er hätte, heißt es, sich nicht »die geringste Mühe gegeben [...], in ihr Inneres zu schauen. Das aber eben war das Sträfliche!« (IV, 485) Dieses Fehlverhalten wird seitens des Erzählers noch genauer erläutert: Gleichgültigkeit gegen das Innenleben der Menschen und Unwissenheit darüber zeitigen ein völlig schiefes Verhältnis zur Wirklichkeit, sie erzeugen Verblendung. (IV, 485) 206

»Verblendung«, »sich nicht in seinen Nächsten versetzen« zu können wird kritisiert, »Mitgefühl« gefordert, um »die Schranken des Ich« zu durchbrechen (IV, 485). All diese Termini verweisen auf die Philosophie, die mit Josephs Fehlverhalten, seiner Bestrafung und seinem anschließenden Wandel verhandelt wird: auf Arthur Schopenhauers Ethik des Mitleidens. E s geht um den Ausbruch des Ich aus seiner Vereinzelung, die Schopenhauer als das »principium individuationis« charakterisiert. Das »Mitgefühl«, das der Erzähler auf dieser frühen Stufe umsonst einfordert, wird von dem in den Brunnen geworfenen Joseph schließlich erbracht. D o r t muß Joseph sich eingestehen, daß die ästhetizistische Isolation, in der er bislang sein Leben zugebracht hatte, immer schon selbstbetrügerisch gewesen war, »daß jene unverschämte >VoraussetzungIch gönne, wem ich gönne.belehrten< Joseph. Die Differenzierung zwischen dem ethischen Impulsen aufgeschlossenen beziehungsweise verschlossenen Menschen ermöglicht Mann in dem Essay schließlich, den Unterschied zwischen dem guten und dem bösen Menschen ein für alle mal festzulegen (vgl. I X , 5 5 3f.)- Daß die Erkenntnis des Leids der anderen zur Leidvermeidung beitragen kann, ist die moralische Einsicht, an der Joseph im Brunnen teilhat: Daß er sich nicht hätte darin [in seinem Kleid, DW] vor ihnen spreizen, ihnen den Anblick seines Besitzertums nicht hätte aufdrängen, vor allen Dingen jetzt und hier nicht hätte darin vor sie hintreten dürfen, leuchtete ihm so überwältigend ein, daß er sich mit der Hand hätte vor den K o p f schlagen mögen (IV, 579).

Meint Hochmut Egozentrizität, so meint Mitleid die Öffnung gegenüber dem Anderen: Liebe und Güte sind Mitleid, aus der Erkenntnis des »Tat twam asi«, der Lüftung des Maja-Schleiers ( I X , 554).

Freilich verdankt sich diese Art der Weltöffnung letztlich auch egoistischen Motiven. Denn indem man erkennt, daß Ich und Du nur scheinbar verschieden sind, daß alle »Unterschiedenheit« nur »Täuschung« (IX, ; ;o) ist, wird die Qual der anderen zur eigenen Qual, und umgekehrt trägt deren Vermeidung auch zum eigenen Wohlbefinden bei (vgl. I X , ; ; i ) . Das SichHineinversetzen in andere ist nicht zuletzt »auch ein unentbehrliches Mittel der Selbsterhaltung« (IV, 485). Trotz dieser ichbezogenen Grundmotivation öffnet seine Einsicht Joseph der Umwelt. Empathie ist der Schlüssel zum Sozialen. Diese weltöffnende Funktion hatte das Mitleid bei Thomas Mann jedoch nicht immer. Im Einleitungs-Kapitel der Betrachtungen eines Unpolitischen wehrt sich Thomas Mann vehement gegen eine solche Deutung: Ich fand kürzlich gedruckt, Schopenhauer sei »sozial-altruistisch« gewesen, und zwar, weil seine Sittlichkeit im Mitleid gegipfelt habe, - ich setzte ein dickes Fragezeichen dorthin, wo das stand. Die Willensphilosophie Schopenhauers (der niemals geneigt war zu vergessen, was man von der Natur des Menschen weiß), war ohne jeden Willen im Dienste der Wünschbarkeit, durchaus ohne jedes soziale Interessement. Sein Mitleid war Erlösungsmittel, nicht Besserungsmittel in irgendeinem der Wirklichkeit opponierenden, geistespolitischen Sinn. ( X I I , 25)

Hält man das neugewonnene Weltverständnis Josephs und seine theoretische Explikation im Schopenhauer-Essay von 1958 gegen diese frühe Deutung des Mitleid-Begriffes, dann wird die Entwicklung, die Mann mit dem Joseph-Roman einschlägt, deutlich. Noch 1918 lehnt Thomas Mann Mitleid als »sozial-altruistisch« ab, weil, so seine Argumentation, dieses ein idealistisches Verhältnis zur Welt implizierte (»Willen im Dienste der Wünsch208

barkeit«). Weil Schopenhauers Mitleids-Verständnis nicht auf Verbesserung der Welt, sondern letztlich auf Erlösung qua Einsicht ziele, sei es jedoch nicht idealistisch, sondern wesentlich fatalistisch, ganz und gar durchdrungen von einer pessimistischen Anschauung, in der menschheitlicher Fortschritt keinen Platz hat. Im Wissen um diese transzendente Endperspektive, die dem Diesseits letztlich keine Chance läßt, läuft auch der SchopenhauerEssay ehrlicherweise in ein Plädoyer für einen »pessimistische[n] Humanismus« (IX, 570) aus, wenngleich Mann aus diesem immer noch ein Kampfpotential gegen »die Anti-Humanität unserer Tage« (IX, 579) abzuleiten versucht. Der Mensch ist »die geheime Hoffnung der Welt und aller Kreatur« ( I X , 571), weil in ihm allein die Welt »zur Resignation und zur Willensumkehr« (IX, 571) finden kann. Dieses asketische oder heilige Ideal sei es, was dem Nationalsozialismus im Sinne einer »das Gleichgewicht herstellenden Korrektur« entgegengestellt werden könne. Der Joseph-Roman kann diesem Pessimismus mit einem zumindest eindeutigeren Optimismus begegnen. Denn da in ihm »Willensumkehr« nicht letztes Ziel ist, sondern das Diesseits prinzipiell bejaht ist — es findet seine höhere geistige Bestimmung in Gott —, kann hier Fortschritt als möglich gedacht werden. Für Joseph wird das Mitleid in der Tat zum »Besserungsmittel«. E s vermag den Fortschritt, das heißt eine neue Stufe, oder vielmehr, um in der Logik des Romans zu bleiben, 24 einen neuen höheren »Rundlauf« (IV, 404) seines Lebens einzuleiten. Möglich wird dies dadurch, daß Ismaeliter ihn im Brunnen finden und seine mit allen Attributen einer Neugeburt ausgestattete Rettung unternehmen. Uber diese transzendentale Perspektive kann sich Schopenhauers Apolitizität schließlich doch noch in ihr Gegenteil verkehren. Die Geschichtsfeindlichkeit von dessen Philosophie wandelt sich unter dem Einfluß einer lebensbejahenden Perspektive in einen Weltentwurf, in dem Fortschritt wenigstens als Erziehung zum Sozialen 2 ' möglich ist: In den zwanziger Jahren gelingt es Mann, sich gesellschaftlichen Belangen zu öffnen, ohne von Schopenhauers transzendental orientiertem Weltbild zu lassen, indem er dem Mitleid, entgegen seinen entschiedenen Bekundungen in den Betrachtungen eines Unpolitischen, doch auch einen >sozial-altruistischen< und damit fortschrittsoffenen Stellenwert zuerkennt. Mit Josephs Brunnenbegräbnis ist eine Epoche zu Ende gebracht, in welcher sich der Künstler-Metaphysiker in isolationistischer WeltabgeDie vom Modell der rollenden Sphäre (vgl. IV, 189^ und in dieser Arbeit den Abschnitt über Esau und faakob — Metaphysik als Begrenzung und Metaphysik, als Entgrenzung) bestimmt wird. ! > Diese Erziehung fordert Mann in den zwanziger Jahren immer wieder; vgl. z.B. X I , 855f.

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wandtheit strikt den diesseitigen »Forderungen des Tages« verweigerte. Was Jaakob als Individuum einst einleitete, indem er einen Stein fortwälzte »von der Grube für Rahel«, »obgleich es nicht eines Mannes Arbeit war« (IV, 231), beschließt nun das Kollektiv der drangsalierten Brüder, indem sie Josephs Grab »mit dem Stein in rufender Arbeit« bedecken - »und nicht eines Mannes Werk war es, ihn auf die Grube zu wälzen, sondern alle faßten sie an und teilten sich die Arbeit« (IV, 566).

Die philosophisch-politischen Implikationen: Individuelle Handlungsfreiheit und metaphysische Vorherbestimmtheit Josephs Brunnentod leitet seine Neugeburt ein. E s beginnt eine Phase, in der Joseph auf die Fehler seines alten Lebens reuig zurückschauen und somit aus ihnen lernen kann. So räumt der Erzähler die Möglichkeit des Fortschritts ein, ohne seine philosophische Bezugsinstanz Schopenhauer, abgesehen von den bezeichneten Akzentverschiebungen innerhalb seiner Ethik, in Frage zu stellen. Dieses Fortschrittsverständnis, im erzählerischen und essayistischen Werk als Mitleiden, Mitmenschlichkeit und Humanität ins Auge gefaßt, bildet das Zentrum von Manns Bemühungen, sein bisheriges Denken mit der Demokratie zu versöhnen. Das heißt aber auch: Immer noch ist es gebunden an einen metaphysisch determinierten Schicksalsbegriff. Immer noch gesteht es dem Menschen Handlungsfreiheit nur im Rahmen eines göttlich Vorgegebenen zu - eine Vorstellung, die sich mit einem explizit politisch-demokratischen Ethos schlecht verträgt, sofern man unter diesem den Willen versteht, die eigene Zukunft selber gestalten zu können. Deswegen muß abschließend gefragt werden: Wo sind dem Fortschrittsverständnis im jungen Joseph Grenzen gesetzt? Dabei sind die Möglichkeiten, die den einzelnen Romanfiguren innewohnen, ebenso zu berücksichtigen wie die Rahmenvorgaben, die der Erzähler macht. Bei den Brüdern stellt sich die Lage am einfachsten dar. Sie sind weitgehend in ihrer diesseitigen Welt befangen. Als dem Geistigen nicht aufgeschlossenes Kollektiv sind sie unfähig, die Gegenwart auf ihren metaphysischen Sinn hin zu transzendieren, und das macht es ihnen auch unmöglich, sie im Hinblick auf die Zukunft zu gestalten. Deswegen sind sie weitgehend hilflos dem mythischen Muster, und das heißt, einem als übermächtig erfahrenen Schicksal, ausgesetzt. Schon als sie im Lamech-Kapitel über ihr Verhalten gegenüber Joseph beraten, das ihnen im Vergleich mit dem mythischen Urhelden so schwächlich erscheint, reden sie sich unweigerlich in die brudermörderische Kains-Rolle hinein. Selbst der sich durch »Spitzfindigkeit« (IV, 5 53) auszeichnende Dan kommt mit seiner Rede dem kom210

pliziert modernen Bruderfall Joseph nicht bei, und »seine Worte« »verwirrten sich« (IV, 553). Zwischen ihrer Sehnsucht nach vergangenen und einfachen Zeiten und ihrer kompliziert modernen Situation besteht eine Kluft, die sie nicht zu überbrücken vermögen. Dieser Einsicht wird am ehesten noch Juda teilhaftig, als er seinen Brüdern den Gedanken nahebringt, Joseph zu verkaufen: doch siehe da, wie es geht, wenn man's machen will wie im Liede der Urzeit, nach Heldenvorbild: wir mußten etwas nachgeben den Lauften, die nicht mehr die alten sind, und statt den Jüngling zu töten, lassen wir ihn nur sterben. Pfui über uns, denn ein hundsföttisch Zwitterding ist das von Lied und Lauften! Darum sage ich euch: Da wir's denn Lamech nicht gleichzutun wußten und mußten den Lauften was drangeben, so wollen wir gleich ganz ehrlich sein und den Lauften gemäß und wollen den Knaben verkaufen! (IV, 599)

Der Verkauf Josephs ist die kapitalistisch-zivilisierte Variante der atavistischen Lamech-Methode, den Konkurrenten zu töten. Dies als Ausweg, den ihnen das Schicksal in Gestalt der ismaelitischen Kaufleute zeigt, ist zwar ein Tribut an die modernen Zeiten, der jedoch keineswegs von (metaphysischer) Einsicht in ihre Rolle zeugt. Immer noch erfüllen sie sie blind. Explizit wird sogar Ruben, der ja immerhin plant, Joseph zu retten, eine »lebenstrübe[ ] Mischung seiner Beweggründe« (IV, 616) attestiert. Sein Gespräch mit dem hermetischen Wächter am Brunnen bezeugt sein Verharren an der augenscheinlichen Oberfläche der Tatsachen. A u f die Frage »Ist Joseph tot, oder lebt er? Das ist's, was ich wissen muß!« (IV, 621), erhält er natürlich keine Antwort, weil diese Frage auf der vordergründigen Wirklichkeitsebene, die sie impliziert, gar nicht zu beantworten ist. Joseph ist sowohl tot als auch lebendig. Das ist das Geheimnis. Für diese höhere Wahrheit, die ihm der Bote anzudeuten versucht, ist Ruben keineswegs empfänglich. Nur ein »Keim der Erwartung« (IV, 629) bleibt zurück: Die Idee eines höheren Schicksalsplanes ist ihm, dem aufgeschlossensten der Brüder, nicht fremd, obwohl er selber nie bis zu seinem Verständnis vordringen wird und ihn deswegen auch nie wird frei handhaben können. Der Erzähler selber unterstellt die Brüder einer fatalistischen Schicksalsmacht, die sie unvermögend macht, aus ihrem Rollendenken auszubrechen. Sie sind ganz einer deterministisch erfahrenen Welt ausgeliefert, weil ihnen die geistige Autonomie fehlt, ihr eigenes Sein zu durchschauen und damit steuern zu können. Als drei der Brüder, nachdem sie Joseph verprügelt haben, vorschlagen, ihn zu töten, wirbt der Erzähler für ihre Entlastung mit dem metaphysischen Argument: »Neuzeitliche Empfindlichkeit« (IV, 562) sei der Lage nicht angemessen. Will sagen: Man wird den Brüdern nicht gerecht, wenn man von der Vorstellung eines autonomen, nicht dem Schicksal unterworfenen Ich ausgeht. Damit reduziert er ihre persönliche Verantwortung vor dem Schicksal auf ein Minimum: 211

Es wurde gesagt, weil es gesagt werden mußte, weil es, in unserer Sprache zu reden, in der Konsequenz der Dinge lag. (IV, 562)

Die neuzeitliche »Konsequenz der Dinge« entspricht der mythischen Rollenbefindlichkeit wie auch der strengen Notwendigkeit im metaphysischen Sinne: Und es war wiederum nur folgerecht, daß diejenigen es über die Lippen brachten und sich dafür zur Verfügung stellten, zu deren Rolle auf Erden es am besten paßte und die damit, sozusagen, ihrem Mythus sich gehorsam erwiesen: die wilden Zwillinge und der stramme Gad. (IV, 562)

Vornehmlich auch da, wo die Brüder ihr Handeln psychologisch damit zu entschuldigen versuchen, daß sie den Vorfall nicht aktiv herbeigeführt hätten, scheint in ihrer Argumentation die metaphysische Notwendigkeit durch, die sie entlasten soll von persönlicher Verantwortung: »Aber das Geschehene sei eben nur ein Geschehen gewesen, kein Tun, so könne man es nicht nennen. E s sei zwar durch sie, die Brüder, geschehen, aber sie hätten's nicht getan, sondern es sei so mit ihnen dahingefahren.« (IV, 563) Auch Jaakob untersteht machtlos dem transzendentalen Fatalismus. Zwar erlebt er die Welt, umgekehrt wie seine Söhne, ausschließlich aufs Geistige gerichtet, vermag jedoch die Geschehnisse ebensowenig zu fassen wie sie. Gerade aufgrund seiner Fixierung auf metaphysisches Denken bleibt ihm die diesseitige Kehrseite des Geschehens, der auch psychologisch motivierte Schuldzusammenhang, verborgen. Die Vorstellung, es könne ein Schwein Joseph zerrissen haben, fuhrt sein Denken auf den mythischen Urvorgang: »Der Keiler, das wütende Hauptschwein, das war Seth [...], der [...] den Bruder zerstückelte« (IV, 641). Die solchermaßen mythisch fundierte Idee des Brudermordes würde aber seine Mitschuld implizieren, ihn gleichsam zum »Hauptschwein« machen, »das mit seiner gefuhlsstolzen Narrenliebe den Joseph zur Strecke gebracht« (IV, 642) habe: Merkwürdig genug, er wollte nichts von ihr wissen und wehrte sich gegen diese Erkenntnis, die ein Wiedererkennen des Oberen im Unteren gewesen wäre, weil der Schuldverdacht, hätte er ihn zugelassen, sich gegen ihn selber gerichtet hätte. [...] Aber seine Mitschuld einzusehen an des Kindes Verderben, die sich unweigerlich aus dem Bruder-, dem Brüderverdacht ergeben hätte, dazu reichten sein Mut, seine Wahrheitsliebe verzeihlicherweise nicht. (IV, 642)

Selbst da, wo ihm seine mythische Denkart einen richtigen Weg weisen könnte, weist er eine leise Ahnung in der strikten Nichtbeachtung des Diesseits, wie sie seinem Wesen eigen ist, zurück. Abermals erschöpfen sich die Kapazitäten seiner vergeistigten Weltwahrnehmung - allerdings, wie der Erzähler sympathisierend konzediert, »verzeihlicherweise« - an dem Punkt, wo sie konkrete Maßnahmen nach sich ziehen müßten. Abermals, wie schon vor Schekem, als es um die Dina-Verhandlungen ging, erstreckt sich 212

seine Wirklichkeitsflucht bis in die Korrumpierung der metaphysischen Wahrheit, hier angedeutet als Prozeß psychologischer Verdrängung. Jaakob läßt seine »finstere Vermutung« »wieder hinab ins Dunkel fallen, bevor sie die Oberfläche erreicht hatte, ja half sogar selber etwas nach, sie zu unterdrücken.« (IV, 642) Auf dieser Ebene eines gewollt falschen Bewußtseins denkt er sich seine Schuld transzendental zurecht, imaginiert, daß Gott ihn habe bestrafen wollen, weil er bekannt habe, Joseph nicht (gleich Abraham den Isaak) zum Brandopfer führen zu können (vgl. IV, 641). Damit bezeugt er, daß er ganz außer der Zeit lebt und daß ihm der Prozeß der Menschheits- und auch Gottesentivicklung entgangen ist. Seine rein aufs Transzendentale gerichtete Weltsicht hält den Anforderungen des Lebens nicht stand. So wie der vergeistigte Jaakob schon in der Dina-Geschichte dem Leben wehrlos ausgeliefert war, was zur Folge hatte, daß schließlich das Geschehen ins Rückschlägige ausartete, so entwickelt sich auch hier aus der weltabgewandt-transzendentalen Betrachtungsart im Stadium ihrer Wehrlosigkeit eine gegenläufige Dynamik, die urtümlich-überkommener Barbarei die Türen öffnet: Jaakob will Joseph erst von den Toten wiederholen, und ihn hernach, als Eliezer ihm die Unmöglichkeit seiner Absicht deutlich macht, nochmals zu zeugen - mit dieser atavistischen Absurdität rebelliert er ein letztes Mal gegen Josephs Tod und beweist damit zugleich seine Uneinsichtigkeit: Denn abermals überhebt er sich des Menschlichen. Wider sein eigenes besseres (Schopenhauersches) Wissen, daß »der Zeugende [...] nur Werkzeug [ist] der Schöpfung, blind, und weiß nicht, was er tut« (IV, 651), sinnt er, wie Eliezer ihm vorwirft, »aufs Unmögliche« (IV, 652) und maßt sich an, »Gott zu sein« (IV, 652). Nochmals verleugnet der Vater damit die untere Sphäre und ihre Aufgabe, die auch die seine wäre: sich ums Menschliche zu bekümmern. Schauen wir zusammenfassend nochmals auf die zwei ersten bisher interpretierten Romanteile, Die Geschichten Jaakobs sowie Der junge Joseph, und setzen diese auf der Grundlage unserer bisherigen Interpretation in ein Verhältnis zur Zeitgeschichte, dann lassen sich die verhandelten Charaktere im Roman mühelos in eine Beziehung setzen zu einer Problemzonen-Typologie der zwanziger Jahre, wie sie sich Thomas Mann darstellte: Der erste Band der Tetralogie kreist um Jaakob. Mit ihm wird dem Leser ein Leben vorgeführt, das sich in rein geistigen Bahnen abspielt: ein Leben, das dadurch den Kontakt zur Wirklichkeit schließlich ganz verliert. Zwar ist Jaakobs Lebensgang als epochencharakteristische Rolle gewissermaßen legitimiert - immer wieder konzediert der Erzähler, daß ihm seine Rolle vom Schicksal vorgegeben ist - jedoch ist der Weg, den Jaakob eingeschlagen hat, kein Weg, der das Leben auf Dauer sichert. Jaakob ist nicht nur hilflos

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der Wirklichkeit ausgeliefert, sondern gerät schließlich sogar, ohne es eigentlich zu wollen, in die Fahrwasser der ganz und gar ungeistigen Reaktion: Ohne Eigeninitiative wird er zusehen, wie seine Söhne eine ganze Stadt aus niederen Rache- und Beutegelüsten abschlachten, und passiv bis zur Schuldhaftigkeit ist seine Rolle auch bei Raheis Tod. Thomas Mann inszeniert damit ein Abbild des Geistesmenschen, der sich seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts immer stärker in eine Sphäre der Innerlichkeit zurückgezogen hatte und schließlich, weil er die Politik grundsätzlich als wesensfremd verneinte, ihrer Willkür ganz ausgeliefert war. Er porträtiert hier einen Menschentypus, dessen Weltfremdheit weitab von jeder Lebensdienlichkeit das Ende einer Epoche bedeutete: einer Epoche der Lebensskepsis, die umzuschlagen drohte in eine Welt der Anti-Humanität. Es sind Intellektuelle und Künstler, die aus einem Bedürfnis nach Reinheit und Ungetrübtheit des Lebens sich von der schmutzigen Wirklichkeit ganz abwenden und das Leben gerade dadurch an sie verraten. Daß darin auch eine Teilkritik seiner eigenen früheren Position enthalten ist, wie er sie in den Betrachtungen eines Unpolitischen vertreten hatte, insofern er dort das deutsche Wesen als geistig und grundsätzlich unvereinbar mit der Demokratie erklärte, liegt in der Konsequenz dieser Argumentation. Bezeichnenderweise fallen die Folgen einer allzu reinen Geistigkeit ungewollt mit den Absichten der wilden Ungeistigkeit, eines nach Verwirklichung strebenden und weithin primitiv ungezügelten Lebenshungers zusammen. Diese Kehrseite fuhrt uns der zweite Band der Tetralogie vor Augen. Die den Geist aus einer Aversion gegen jede Verkomplizierung des Lebens scheuenden Brüder, die sich in eine urtümliche Zeit zurückwünschen, in der ein unmittelbares Leben ohne sentimentalische Rückstände möglich ist, bieten keine Alternative, die der Gegenwart gerecht zu werden vermöchte. Ihre Handlungen erscheinen, sobald sie sie nach ihrem urzeitlichen Lebensideal ausrichten, atavistisch und roh. Die Brüder entsprechen in ihrem Verhalten somit dem ungeschlachten Volk, dessen Bedürfnissen sich die völkische Reaktion bediente, um ihre Macht auszubreiten. Die naive Geistfeindlichkeit findet nach Thomas Manns Einschätzung ihren Hort in der nationalsozialistischen Weltanschauung. So stehen beide Parteien, Jaakob, der die Welt stets nur als Abbild eines mythischen Musters wahrnimmt und sich aufgrund seiner Gottesfolgsamkeit weigert, sie nach eigener Kraft zu formen, ebenso wie die Brüder, die mit naiver Befangenheit in ihren mythischen Rollen verharren, schließlich ungewollt in einer Front: gegen die einzig zukunftsmächtige Vermischung von Geist und Lehen, gegen die individuelle Durchdringung des metaphysischen Musters, wie sie allein in Joseph angelegt ist. Wie Thomas Mann, der in den zwanziger Jahren einen Weg der Mitte und der Versöhnung für sich zu gehen beanspruchte, ist auch Josephs Weg 214

dadurch geprägt, daß er einer allein metaphysisch zu begreifenden Welt begegnet, indem er sie individuell verwirkliebt·, indem er ihr also in der empirischen Welt das zu sein verhilft, was sie eigentlich, ihrer Bestimmung gemäß, immer schon ist. Auch die Lebenshaltung Josephs freilich bedarf der Ausbildung und Verbesserung. Der junge Joseph steht, wie wir gesehen haben, noch ganz im Zeichen des künstlerischen Narzißmus, den es zu überwinden gilt, wenn sich das Ich einen Weg zur Welt bahnen will. Und dieser Weg ist unbedingt notwendig, will der Künstler-Typus, den er darstellt, nicht in elitäre Isolation einerseits und damit zugleich in totale Abhängigkeit andererseits geraten. Diesen Weg hat Joseph am Ende des zweiten Bandes gerade erst zu beschreiten begonnen. Mit Josephs Wiedergeburt aus dem dunklen Mutterschoß, unter anderem inszeniert durch seine embryonale Stellung 26 und sein Milchsabbern, 27 vollzieht sich endgültig die harmonische Verbindung der väterlichen Geisteswelt mit der mütterlichen Lebensweisheit. Der Geist gelangt dadurch aus seiner gegenwartsmißachtenden Haltung, die er noch bei Jaakob hat, in ein neues, verantwortlicheres Stadium. Schon zu Beginn des zweiten Bandes deutete der Erzähler die mögliche Autonomie des Menschen tastend an. Gott habe dem Menschen »Verstand gegeben, damit er das Heilige, aber nicht ganz Stimmende verbessere« (IV, 403). Verstand als Mittel aufklärerischer Mündigkeit auf solcher Basis trägt den Menschen zwar nicht aus seiner metaphysischen Gebundenheit heraus, ist jedoch unabdingbar, um die göttlich-transzendentale Ordnung überhaupt zu erhalten. Diese Korrekturfähigkeit ermöglicht es ihm erst, seine Fehler einzusehen. Um die Wirklichkeit mit der mythisch-göttlichen Wahrheit vergleichen zu können, ist ein nahes Verhältnis zu beiden Sphären, der oberen und der unteren, vonnöten. Joseph ist deshalb als einzige Romanfigur dazu disponiert, aus der mit metaphysischem Determinismus wahrgenommenen Welt heraustreten zu können. Als einziger ist er einer Freiheit zugänglich, die nicht mehr transzendental im Sinne Schopenhauers, sondern diesseitig verstanden werden kann. Hier läge deswegen auch die Möglichkeit des Erzählers, die Romanintention aus dem metaphysischen Seinsverständnis, dem sich noch die Betrachtungen eines Unpolitischen verdankten, in ein politisches, fortschrittsoffenes zu entlassen. Jedoch, der Erzähler vollzieht 26

Vgl. die Lage des gefesselten Joseph im Brunnen mit der Beschreibung des Bettes in Süßer Schlaf, »dies duftige Linnengehäuse, worin wir, unbewußt und mit emporgezogenen Knien wie einst im Dunkel des Mutterleibes wieder angeschlossen gleichsam an den Nabelstrang der Natur...« (XI, 336). *7 »daß ihm ein gut Teil der Milch, kaum daß er abgesetzt, ganz sanft wieder hervorlief, wie bei einem Säugling.« (IV, 593) 215

diesen Schritt nicht. Auch Josephs Handeln bleibt, gleichsam unberührt neben der Tatsache seiner persönlichen Schuld, einem transzendental gottgewollten Schicksal unterstellt. Aus metaphysischer Warte ist Joseph nicht zu belangen: er hatte es tun müssen, weil Gott ihn eigens so geschaffen hatte, daß er es täte, weil E r es mit ihm und durch ihn also vorgehabt hatte, mit einem Wort, weil Joseph in die Grube hatte kommen sollen (IV, 575).

Immer wieder bringt der Erzähler die strenge Notwendigkeit ins Spiel, mit der die Geschehnisse auch im Falle des seiner Rolle im Grunde sehr bewußten Joseph vor sich gehen. So demonstriert er die Unentrinnbarkeit von einer metaphysischen Kraft, die das Leben bestimmt und dem Individuum deswegen Handlungsfreiheit in einem eigenbestimmten Sinn kaum läßt. Schon Jaakobs Verhalten bei Josephs Abreise gen Dotan wird vom Erzähler so gedeutet, wie es Schopenhauers transscendentale Spekulation über die anscheinende Absichtlichkeit im Schicksale des Einzelnen vorschreibt: Da sieht man, daß der Mensch sich unverhältnismäßig gehaben kann, wenn man sein eigenes Bewußtsein zum Maßstabe nimmt, während sein Benehmen, unter dem Gesichtswinkel des ihm unbewußten Schicksals betrachtet, nur allzu passend erscheint. (IV, 528)

Aber auch Josephs Handlungen sind dieser dem Individuum nicht erkennbaren Teleologie untergeordnet. Als die Rede ist von seinem heimlichem Gepäck, der Ketonet, unterläßt der Erzähler es nicht, eine mögliche Entdeckung Jaakobs in Betracht zu ziehen und zu bemerken: ja, wir halten für möglich, daß er in diesem Falle den Alten belogen und erklärt haben würde [...] (IV, 530)

Auch damit unterstellt der Erzähler Josephs individuelles Handeln einem unabänderlichen göttlichen Schicksalsplan. Zwar tritt Joseph aus dem Schema der unbewußten metaphysischen Folgsamkeit heraus, der sowohl Jaakob als auch die Brüder unterliegen, jedoch kehrt er sich auf der neuen Bewußtseinsstufe, die er vertritt, keineswegs vom Bisherigen ab, sondern versucht allenfalls eine nicht konsequent durchgehaltene Sowohl-als-Auch-Strategie. Der Erzähler bemüht sich um dieses nach zwei Seiten offene Schicksalsverständnis mit Wendungen wie »die vielleicht gottgewollten, aber darum nicht weniger großen und schweren Fehler der Vergangenheit [...]« (IV, 578). Es bleibt bei dieser dissonanten Mischung zwischen persönlicher Schuldhaftigkeit und von höherer Warte Gegebenem. Individuelle Psychologie und mythisches Bewußtsein sind hier nicht mehr auseinanderzuhalten: Einerseits habe sich die feindschaftliche Beziehung »verborgen seiner Vertrauensseligkeit« entwickelt, 216

andererseits war er jedoch »auch wieder ihr halb und frech bewußt« (IV, 574). Diese beiden gegenläufigen Komponenten münden schließlich in das Rätsel selbstverderberischen Ubermuts, das ihm durch sein eigenes vertracktes Benehmen aufgegeben war. Es zu lösen, ging über seinen Verstand, aber es geht über jeden, weil allzuviel Unberechenbares, Widervernünftiges und vielleicht Heiliges darin einschlägig ist. (IV, 579) Die Rätselhaftigkeit des eigenen Verhaltens offenbart im nachhinein J o sephs metaphysische Dimension gemäß Schopenhauers Traumtheorie: Das Ich hat Teil an einem (im Joseph-Roman: göttlichen) Gesamtwillen, der es über seinen raum-zeitlich befangenen individualen Willen lenkt: Durch sein persönliches Fehlverhalten kann sich seine transzendentale Bestimmung erst erfüllen. In diesem Stadium findet der Weg Manns zu einem eindeutigen Fortschrittsbekenntnis selbst in der Figur Josephs seine nicht weiter aufzulösende Grenze. Dieser bricht trotz seiner gesteigerten Selbst-Bewußtheit aus dem deterministisch-metaphysischen Weltverständnis der VäterGeneration nicht aus. 28 Auch im Jungen Joseph dominiert Schopenhauerscher Schicksalsglaube die politisch freiheitliche Entfaltung des Ich.

" Was Diethmar Mieth: Epik und Ethik. Eine theologisch-ethische Interpretation der Josephromane Thomas Manns, Tübingen 1976, für die mythische Struktur des ganzen Roman feststellt, gilt auch für Joseph, obwohl der sich von dem ursprünglichen Mythos befreit: »Wie die Mythus-Formel bei Thomas Mann die Aufklärung in sich trägt, so trägt die Psychologie-Formel die Remythisierung in sich.« (S. 40) Und insofern läßt sich auch für Joseph, zumindest für den Joseph des zweiten Bandes, feststellen, daß die Formel »Mythus und Psychologie« (IX, 32), die der Autor gern selbst zur Erklärung seines Erzählkonzepts heranzieht, keinesfalls mit »Romantik plus Aufklärung< gleichgesetzt werden kann: Denn »die >psychologische< Entmythisierung des Mythus ist daher nichts als ein Kunstmittel zu seiner Intensivierung und Steigerung. Im Grunde übernehmen die Mittel der >Aufklärung< in den Josephromanen nicht auch die Funktion der humanen Aufklärung«, sondern diese Funktion übernimmt der Mythus selbst.« (S. 41) Das heißt: Nicht Joseph ist es, der aufgeklärt handelt, sondern der Erzähler benutzt den Mythos in einem aufklärenden Sinn: »Die aufklärende Funktion liegt damit letztlich im Epischen, nicht in der Erörterung.« (ebd.) 217

V. Geschichte als Möglichkeit

Mit dem Joseph-Roman, so erläutert Thomas Mann, habe er eine »abgekürzte Geschichte der Menschheit«' schreiben wollen. Eingelagert ist sie in die Generationenfolge von Großvater, Vater und Enkel, wie schon die Buddenbrooks eine Geschichte ist, die sich über drei Generationen zieht, und wie schon der Zauberberg vom komplizierten Enkelfall Hans Castorp nicht erzählen kann, ohne die Vätergeschichte bis zu des Urgroßvaters Taufschale miteinzubeziehen. In all diesen Fällen ist es der Enkel - Hanno Buddenbrook, Hans Castorp sowie Joseph - der von dem wenngleich zuweilen erzwungen arbeitsamen und geradlinigen Lebensweg seiner Väter abweicht und damit einen heikleren, aber auch interessanteren Fall darstellt. Es ist ein signifikantes Merkmal der abgekürzten Geschichte der MenschheitspätenEnkelproblemMenschheit«< (XI, 657) zu sprechen. »Das Problem der Humanität selbst [sei] uns als Ganzes vor Augen gestellt [...] wie kaum je einer Generation vor uns.« Diese Diagnose verbindet er ausdrücklich mit den »geschichtlichen Erschütterungen« »unserer Zeit«. In diesem explizit politischen - Zusammenhang gedenkt er sowohl des Joseph-Romans als auch des Zauberbergs. Letzteren beschreibt er als »Versuch einer Bestandaufnahme der europäischen Problematik nach der Jahrhundertwende«. »Der Donnerschlag des Kriegsausbruchs von 1914«, der werkgeschichtlich am Anfang des Romans, in der Chronologie der Handlung jedoch an dessen Ende steht, »öffnete uns die Augen dafür, daß wir fortan nicht würden leben und dichten können wie bisher.« (XI, 657) Nicht mehr »leben und dichten können wie bisher«, das bedeutet schon für Joseph, den >Nachfolger< Hans Castorps, daß er nicht mehr in einer hermetisch abgeschlossenen Atmosphäre wie der des Davoser Sanatoriums wird existieren können, in der man mit den Turbulenzen der Zeit allenfalls ideell und gedanklich konfrontiert wird. Joseph muß sich dem Leben, darüber hinaus, auch ganz praktisch aussetzen. Und damit rückt das Problem der geschichtlich erschütterten »>Menschheitobjektivan sichmacht< seine Geschichte in dem Moment, in dem er sie als auf sich hingeordnet betrachtet. Thomas Mann versucht mit dem Goetheschen Lebensentwurf, die metaphysische Krisensituation zu überwinden. Dem Umstand, daß das eigene Leben sich nicht mehr selbstverständlich in eine höhere Seinsordnung einfügt, begegnet er, indem er die Geschichte als deren Konkretisation aus dem großen Ich zu entwerfen versucht. Im folgenden soll gezeigt werden, wie dieser philosophisch elitäre Glaube seinen Platz im Denken Josephs findet, ohne daß Joseph das soziale Element vernachlässigt, das zu berücksichtigen, wie er mit dem Brunnensturz gelernt hat, seine Aufgabe ist. Die ersten Kapitel des dritten Bandes dienen dem Zweck, Josephs veränderte Lebenshaltung, mit der er seiner neuen, wesentlich durch Ägyptens Staats- und Machtproblematik geprägten Umwelt begegnet, philosophisch und psychologisch zu veranschaulichen. »Die Redensart >Sich wie neugeboren fühlen< traf [...] genauer auf ihn zu als vielleicht jemals auf irgendein Menschenkind«. (IV, 667) Dieser Erzählerkommentar verdeutlicht noch einmal den tiefen Einschnitt, den der Brunnensturz für Josephs Leben bedeutet. Er geht einher mit einem neuen Bewußtsein, das Joseph gleich zu Beginn des dritten Bandes, in seinem Gespräch mit Kedma, dem Kaufmannssohn, artikuliert. »Wohin führt ihr mich?< fragte Joseph den Kedma« (IV, 66;), eine Frage, die der frühere,

identifiziert, was man liebt und bewundert, was man beneidet oder furchtet, was größer ist als man selbst.« 10 Hans Wißkirchen: Zeitgeschichte im Roman, S. 157. " Ebd. 223

hochmütige Joseph ebenso hätte stellen können, und auf die Kedma ihm auch dementsprechend antwortet: Wir führen dich doch gar nicht! Du bist zufallig mit uns, weil dich der Vater gekauft hat von harten Herren, und ziehst mit uns, wohin wir ziehen. Das kann man doch nicht gut >fuhren< nennen. (IV, 665)

Der alte Konflikt, der Joseph schon einmal in die Grube gebracht hat, liegt damit wieder offen: Joseph betrachtet das gesamte Weltgeschehen um ihn herum als auf sich hingeordnet. Jedoch: Diese Sicht begründet Joseph hernach mit einem weltanschaulichen Entwurf, der seine Provokation in entscheidendem Sinne entschärft, was Kedma freilich nicht versteht: Aber siehe, die Welt hat viele Mitten, eine für jedes Wesen, und um ein jedes liegt sie in eigenem Kreise. (IV, 665)

Ursprünglich war dieser Mittelpunkt-Glaube Josephs der Grund für seinen Grubensturz. Aus ihm sprach der Egoismus des sozial unerleuchteten Individuums. Man muß Josephs Ausspruch, den er gegenüber Kedma tut, nur zusammenhalten mit einem Passus Manns in seinem Schopenhauer-Essay, um seine gedankliche Herkunft zu verstehen: Dem im principium individuationis befangenen, vom Schleier der Maja umhüllten Ich erscheinen alle übrigen Wesen als Larven und Phantome, denen er eine auch nur annähernd so große Wichtigkeit und Seriosität des Seins, wie sich selber, beizumessen schlechterdings außerstande ist. A u f dich, den einzig wirklich Seienden, nicht wahr?, kommt alles an. Du bist der Mittelpunkt der Welt (du bist es, bist Mittelpunkt deiner Welt), und an deinem Wohl darauf, daß dir das Leiden des Lebens möglichst fernbleibe, dir seine Wonnen möglichst reichlich zukommen, ist alles gelegen. Was mit den anderen geschieht, ist von unvergleichlich geringerer Erheblichkeit, es tut dir nicht weh noch wohl. (IX, 5 5 2)

Dieser radikal individualistischen Ausschließlichkeit gegenüber dem Sozialen begegnet Joseph nun auf seinem Weg, sich den Mitmenschen zu öffnen, nicht etwa, indem er diesen Kerngedanken Schopenhauers fallen läßt. Vielmehr bleibt der bestehen, indem er sich ihn über Goethe zum Sozialen hin öffnet. Philosophisch ist dieses Postulat in zweierlei Richtung zu lesen: Zum einen ist die Welt jedes einzelnen auf sein Ich ausgerichtet; zum anderen ersteht die Welt immer erst neu aus dem jeweiligen Ich - sie ist nie >an sichgroßen IchUmwelt< und magischer Urheber des äußeren Handlungsverlaufes« (ebd.). "5

achtung läuft ihnen die Galle über und sie werden wie reißende Tiere.« (IV, 675) Daß diese Art sozialen Denkens nur eine vordergründige Rücksichtnahme ist, die in der Tiefe sehr wohl von der Unterordnung der Kaufmannsleute unter Joseph überzeugt bleibt, wissen freilich beide, Joseph und der Erzähler, der später, als die Kaufleute ihren Dienst getan und Joseph an Potiphar verkauft haben, freimütig bekennt, daß »ihr alleiniger Lebenssinn darin bestand, daß sie den Knaben Joseph hinab nach Ägypten brächten, damit sich die Pläne erfüllten.« (IV, 803) So gesehen läßt sich etwas überspitzt sagen, daß der >Sozialismus< des neuen Joseph sich darin erschöpft, die »Zumutung« für die Vielen, die weiterhin existiert und dem Wesen der Welt unabdinglich ist, nicht sichtbar werden zu lassen. Über Goethe gelingt es Thomas Mann, Schopenhauers Mittelpunkt-Postulat ins sozial Verträgliche gewandelt beizubehalten. Der Schleier der Maja ist damit zerrissen und öffnet den Blick auf die anderen, ohne daß das Ich sich hierdurch verliert. Um diesen Bewußtseinsstand, der sich dem Lebensvorbild Goethe dankt, rankt sich auch das folgende Gespräch zwischen Joseph und Kaufmann. Abermals wird hier das Weltmitte-Modell aufgegriffen, dem Kedma seinem Herrn erzählt hat und nach dem dieser Joseph befragen will:

verdem von nun

»Als du im Brunnen stakest [...], war da dieser Brunnen der Welt heilige Mitte?« »Gott heiligte ihn«, antwortete Joseph, »indem er ein Auge auf ihn hatte und mich nicht darin verderben ließ, sondern euch des Weges vorübersandte, daß ihr mich errettetet.« »So daß?« fragte der Kaufmann. »Oder auf daß?« »So daß und auf daß«, versetzte Joseph. »Beides, und wie man es nimmt.« (IV,

672)

Die Frage des Kaufmanns nach dem konsekutiven »so daß« oder dem finalen »auf daß« zielt genau auf die bewußte Zweideutigkeit von Josephs Rede: In seinem nur scheinbar harmlosen »daß« kann sich sowohl die Möglichkeit der simplen Folge (so daß) als auch die heimliche Meinung verbergen, daß alles Geschehen um ihn herum nur für ihn geschehe (auf daß = damit). Eine Entscheidung Josephs für die Version des »auf daß« implizierte weiterhin »Hochmut«, »so daß« spräche eher für eine demokratische Einstellung, die den ziehenden Kaufleuten eine ihm gleichberechtigte Stellung einräumte. Bezeichnend ist nun, daß Joseph sich für keine der beiden Deutungen, auf die der Kaufmann ihn festlegen will, ausschließlich entscheidet: Im Weltmitte-Modell, das er seinem Dasein seit kurzem zugrundelegt, können beide Denkarten miteinander bestehen, ohne sich notwendig in die Quere zu kommen. Die Möglichkeit eines gleichzeitigen Existierens von »so daß« und »auf daß« erschöpft sich jedoch nicht im privaten Erwähltheitsglauben Josephs. 226

Sie verbürgt darüber hinaus die Existenz der Metaphysik in einer sozial zu berücksichtigenden Umwelt. Das macht der folgende Verlauf des Gespräches deutlich. Der Alte stellt Joseph, um seine Fähigkeiten zu prüfen, eine Rechenaufgabe, die dieser mühelos löst, indem er sich der Maxime bedient: Man muß das Unbekannte nur fest ins A u g e fassen, dann fallen die Hüllen, und es wird bekannt. (IV, 674)

Dieses Diktum verweist auf zweierlei: Erstens ist es, auf der vordergründigen Erlebnisebene, eine Anleitung für Josephs künftige Reise in das ihm fremde Land. Zweitens impliziert die Rede vom Fallen der »Hüllen« aber auch den Schopenhauerschen Gedankengang, daß sich hinter den vordergründigen Erscheinungen erst ihre Eigentlichkeit, die immerseienden und ur-bekannten Ideen, offenbarten. Analog zu Schopenhauers Bild vom Schleier der Maja, hinter den es zu blicken gilt, wenn man das An-Sich der Welt schauen möchte, verkündet Joseph hier seinen Glauben, daß er hinter den Neuigkeiten, die sich ihm auf seiner Reise entdecken werden, die eigentliche, wahre und immerseiende Welt sehr wohl zu fassen imstande sei. Diesen Umstand nun, das Geheimnis von der doppelten Welt, welches, wie der Erzähler ja schon in der Höllenfahrt erklärte, nur wenigen Auserwählten zu kennen vorbehalten ist, 14 bringt Joseph im folgenden von sich aus in Verbindung mit seiner Schuld, die ihn in den Brunnen gebracht hat. Er spricht davon, daß er den Menschen zugemutet habe, was ihnen nicht zuzumuten sei, also daß ich den Mund nicht hielt und ihnen meine Träume erzählte, auf daß sie mit mir staunten. Aber >auf daß< und >so daßgoldeneDogma< reiht sich ein in die mythische Grundbefindlichkeit, die dem Joseph-Roman zugrundeliegt: Seine Menschen leben >in Spurendogmatische< Bestimmung des Stiers Merwer als lebendige Wiederholung Atums. Die philosophischen Konsequenzen dieser Lehre habe ich dargelegt. Die zweite Errungenschaft ist ihre »Theorie des Dreiecks« (IV, 735). Auch sie fugt sich auf faszinierende Weise ein in die Grundintention des Romans, zwischen metaphysischer und diesseitiger Welt versöhnen zu wollen: Es war aber eine Lehrhaftigkeit, die Messung betreffend und das G e f ü g e genau und rein im dreifachen Raum gedachter Körper und der sie bestimmenden Flächen, wie sie in gleichen Winkeln sich abgrenzen, in reinen Kanten aneinanderstoßen, in einem Punkte, der keinerlei Ausdehnung mehr hat und keinen Raum einnimmt, obgleich er vorhanden ist, zusammenlaufen — und dergleichen Heiligkeit mehr. Diese zu On waltende Anteilnahme an gedankenreiner Figur, der Sinn für das Raumlehrhafte... (IV, 733)

Schon bei der Analyse der Höllenfahrt wurde deutlich, wie Thomas Mann versuchte, (über Edgar Dacque) die Grenzen zwischen Erscheinungswelt und metaphysischer Welt dergestalt verschwimmen zu lassen, daß sie sich als ein nahtloser Ubergang von der einen in die andere darstellten. Das gleiche versinnbildlicht er hier mittels der flächigen Geometrie des Dreiecks, die später (vgl. IV, 739) auf das dreidimensionale Prinzip der Pyramide ausgeweitet wird. Deren Flächen laufen, durch die Tangenten begrenzt, auf einen Spitzpunkt zu, der idealiter keinerlei Ausdehnung mehr besitzt: Die räumliche Konstruktion gipfelt in einer rein geistig und abstrakt zu fassenden Idee. So läuft alles, was in Zeit und Raum geschieht, in einer metaphysischen Idee zusammen. Der politische Effekt jener Zusammenschau ist, wie schon bei der Bestimmung Merwers, der in Zeit und Raum friedliche Gedanke »des Nebeneinander und der Einheit« (IV, 731). Das Bewußtsein der metaphysischen Identität alles Seienden (trotz ihrer zeitlich und räumlich unterschiedlichen Erscheinungen) garantiert den Frieden: 241

so war es nicht minder die Kunst der Lehrer, niemanden dabei zu kränken und ungeachtet ihres identifizierenden Betreibens die tatsächliche Vielheit der Götter Ägyptens unangetastet zu lassen. (IV, 7 3 ; )

Hingegen bewirkt die ungeistige Zusammenschau, also der Versuch der Vereinnahmung des Fremden, ohne der metaphysischen Dimension des Seins eingedenk zu sein, genau das Gegenteil. Politisch relevant wird dies in dem ägyptischen Konflikt zwischen Amun und Atum. Auch Amun bedient sich nämlich des Mittels der Zusammenschau, aber nicht im Sinne des Dreiecks, nicht in dem rechten Geist, nämlich ohne Geist und statt dessen vielmehr mit gewalttätiger Plumpheit. Amun, der Rinderreiche, zum Beispiel, zu Theben in Oberägypten, habe sich durch seine Propheten dem Re gleichsetzen lassen und wolle nun Amun-Re genannt sein in seiner Kapelle - gut, aber es geschehe nicht im Geiste des Dreiecks und der Versöhnung, es geschehe vielmehr in dem Sinn, als ob Amun den Re besiegt und verzehrt und sich einverleibt habe, als ob Re, sozusagen, ihm seinen Namen habe nennen müssen, — eine brutale Handhabung der Lehre, eine engstirnige Anmaßung, dem Sinne des Dreiecks gerade entgegen. Atum-Re fiir sein Teil hieß nicht umsonst der Horizontbewohner; sein Horizont war weit und vielumfassend, und vielumfassend war der Dreiecksraum seiner Zusammenschau. Ja, er war weltweit und weltfreundlich, der Sinn dieses uralten und längst zu heiterer Milde gereiften Gottes. [...] er sei auch heiter geneigt, sich mit den Sonengottheiten der anderen Völker in ein weltläufig-ausschauendes Einvernehmen zu setzen - ganz im Gegensatze zu dem jungen Amun in Theben, dem jede spekulative Anlage fehle und dessen Horizont in der Tat so eng sei, daß er nicht nur nichts kenne und wisse als Ägyptenland, sondern auch hier wieder, statt gelten zu lassen, nichts könne als verzehren und einverleiben, indem er sozusagen nicht über seine eigene Nase hinaussehe. (IV, 736)

Das »einverleiben« Amuns steht hier gegen das »Einvernehmen« Atums, das nicht nur über-national, sondern auch im geistigsten Sinne weit- und tiefblickend ist. Von Atum heißt es, »das Fremde liebe er wie sich selbst« (IV, 736). Sein Kosmopolitismus, resultierend aus seiner metaphysischen Denkorientierung, wird hier gegen den Nationalismus Amuns gestellt, der borniert und kurzsichtig gerade deswegen ist, weil es seinem Denken an jener transzendentalen Ausrichtung mangelt. So offenbart sich in On: Politische Qualitäten ermessen sich nach der philosophischen Fähigkeit, die Welt als metaphysische in dem Sinne denken zu können, wie es Voraussetzung nicht nur für Schopenhauer, sondern weit über ihn hinaus für eine jahrtausendalte, bis zu Piaton zurückreichende 24 abendländische Denktradition war. Wer sich aus ihr herausbegibt, stiftet, wie bei Amun der Fall, zwangsläufig Unheil. 14

Vgl. Borge Kristiansen: Agypten als symbolischer Raum der geistigen Problematik Thomas Manns, S. 36.

242

Josephs bisherige Reise war ein Lehrgang über die Rolle der Metaphysik in einer politischen Welt. E r hat kennengelernt: die hilflose Tragödie der weltfremden Metaphysik (Per-Sopd); die Banalität einer metaphysiklosen Welt (Per-Bastet); die bedeutsame, humanistische und zukunftsgewandte A u f g a b e einer metaphysikoffenen Politik (On). Bevor er seinen Bestimmungsort, Wese, erreicht, gelangt er jedoch noch nach Mempi oder Menfe. Diese Stadt gefährdet ihn in gewisser Hinsicht stärker als die ersten beiden, die er kennenlernte und deren eingeschränkte Bedeutung rasch offensichtlich wurde. Denn nicht wie in Per-Sopd »bot sich in Mempis Bild das Uralte den Sinnen dar, sondern als wimmelndes Leben und geweckteste Gegenwart« (IV, 746). Die Stadt ist ein »Menschenpferch« (IV, 746) und dennoch dem Tode geweiht: Ihr Name ein »Begräbnisname[ ]«, »königliche Grabesstadt« (IV, 747). Von Weltgeltung und enorm reich einerseits, herrscht in ihr andererseits doch »die Seelenstimmung überholten Altertums, die hier zur Lustigmacherei wurde und zum mokanten Zweifel an aller Welt und sich selber.« (IV, 749) Es ist eine Stadt der überfeinerten, sich selbst nur noch ironisch betrachtenden Hochzivilisation. Die rastlose Geschäftigkeit, die in ihr herrscht, kennzeichnet recht eigentlich ihre Todes verfallenheit. 21 Eine selbstironisch hingenommene Endzeitstimmung erstreckt sich auf alle Bereiche, selbst auf ihre Religion: Bei ihrer Opferfeier zuzuschauen ist für Joseph »ein merkwürdiger Greuel und lustig übrigens auch« (IV, 752). In Stiergestalt schützt ihr Gott Chapi Menfes Einwohner, weil er »in seiner übergänglichen Person die Verbindung herstellte zwischen ihnen und dem, worauf alles ankam« (IV, 755) - zwischen der vergänglichen Welt der E r scheinung, die schließlich mündet in den Tod, und der dort erfahrenen Geborgenheit jenseits von Zeit und Raum (auf die alles ankommt). Joseph empfindet, so heißt es, »Sympathie« (IV, 748) für diese Welt, jenes dem Mitleid verwandte Gefühl also, von dem Thomas Mann selber 1926 gesprochen hatte als der »versittlichten Lust, die auch den Namen der Güte führe« ( X I , 21) - im Schopenhauer-Essay: Liebe und Güte sind Mitleid, aus der Erkenntnis des »Tat twam asi«, der Lüftung des Maja-Schleiers (IX, 554).'' Joseph erkennt den »Tod« (IV, 748) als eigentliche Antriebskraft f ü r die Überlebendigkeit Menfes - eine Erinnerung, die ihn deswegen so eigentümlich berührt, weil er sie mit der Gedankenwelt seiner Väter in Verbin" Nach Manfred Dierks: Kultursymbolik und Seelenlandschaft: »Ägypten« als Projektion. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 113—131, hier S. I22f., sind Mempi (Memphis) und Wese (Theben) nach Spenglers Untergang des Abendlandes gezeichnet. 16 Vgl. oben S. 208.

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dung setzt. E r jedoch, als weltlicherer K o p f , darf bei dieser pessimistischen, romantischen und in ihrem tiefsten Kern — trotz aller vordergründigen Munterkeit - doch weltfernen Sympathie nicht stehenbleiben; seine Bestimmung ist, weiterzureisen nach Wese, und sich den Anforderungen der amungeprägten und insofern gefahrlichen Gegenwart zu stellen. Des nur noch selbstironischen Lebens, der fatalistischen wirklichkeitsreinen Libertinage, die in der Konsequenz einer Welt liegt, in der Geist und Leben sich einander endgültig entfremdet zu haben scheinen, muß er, so sehr ihn diese ironische Geistesverfassung anspricht, entsagen, um der Gegenwart ihren Tribut zu zollen - den letzten Reiseteil in die moderne Welt werden die Kaufleute bewältigen, indem sie ein Schiff »chartern« (IV, 729). Immer wieder auf Josephs Reise durch Ägypten thematisiert der Erzähler die soziale Frage. Nicht nur angesichts des »Menschenpferch[s]« von Mempi (IV, 746) ist von den »Rippenmageren zu selten der Abwässer« (IV, 748) die Rede, schon vorher, als Joseph die Pyramiden passiert, gedenkt der Erzähler der kleinen, hart geschundenen Leute: Es war nicht Menschenwerk, was die Kinder Kernes da aufgerichtet, und dennoch das Werk derselben Leutchen, die auf den Dammwegen trabten und stapften, ihrer blutenden Hände, mageren Muskeln und hustenden Lungen - abgewonnen dem Menschlichen, wenngleich übers Menschliche gehend (IV, 739).

Auch bei Josephs Einzug in Wese wird nicht vergessen, den sozialen Gesichtspunkt, wenigstens am Rande, zu erwähnen: Ihre Gassen waren [...] so eng, krumm, schmutzig und übelriechend, wie die Gassen menschlicher Siedelungen, großer und kleiner, unter diesem Himmelsstrich es jederzeit waren und sein werden, - wenigstens in den ausgedehnten Quartieren des armen Volkes waren sie so, welches an Zahl die freilich locker und lieblich wohnenden Reichen, wie üblich, bei weitem übertraf. (IV, 771)

Aber auch hier vertieft der Erzähler seine Erläuterungen nicht in diese Richtung, die eine Richtung des sozial-politischen Engagements wäre. Die Diskrepanz zwischen arm und reich wird zwar konstatiert, aber als unabänderliche nicht weiter verfolgt. Abermals deutet der eigentliche Fingerzeig auf das Machtreligiöse, Glaubenspolitische. Des Erzählers Fragen kreist nicht um einen Sozialismus, dessen vornehmliches Ziel es wäre, materielle Gleichheit herzustellen, sondern um die Frage, wie politische Herrschaft und metaphysisches Kalkül Hand in Hand gehen können. Wichtigeres als in den verwinkelten und stinkenden Gassen erlebt Joseph auf der noblen Straße des Chonsu, »einer rechtefn] Abrekh-Avenue« (IV, 776). Was das Wort Abrekh bedeutet, hat der Erzähler an früherer, ganz anderer Stelle schon erläutert: »>Nimm zu dir dein Herz!Gib Obacht!«< (IV, 747) Obacht muß Joseph aber deshalb geben, weil hier nicht mehr das unwichtige Kleine-Leute-Leben stattfindet. A u f dieser »Avenue« wird er zum 244

ersten Mal Amuns Macht begegnen. Dort geschieht es ihm nämlich, daß er »an die Wand gedrückt wurde, als lanzenstachlichte Kriegsmacht plötzlich [...] dahergeeilt kam« (IV, 777). Gegen das Amun-Militär nimmt Joseph sofort Partei für Atum. Wieder ist es das Vorbild des abrahamitischen Gottesstrebens, das ihn auf den rechten Weg führt, denn »eine Eifersucht regte sich in ihm um Pharao's willen und von wegen der Frage, wer hier der Höchste sei.« (IV, 778) E s ist Abrahams metaphysisches Streben nach dem Höchsten, das hier sein weltliches, jedoch der transzendentalen Ausrichtung nicht beraubtes Äquivalent findet. Der Säkularisierung dieses transzendentalen Gedankengutes, wie sie mit Joseph statthat, wird mit der Uberschrift Der Höchste im folgenden ein ganzes, das vierte, Hauptstück gewidmet. Allein das verweist schon auf die Wichtigkeit dieses Prozesses für das Romangeschehen. Dahinter steht die Frage, wie die metaphysische Väterwelt ins Weltliche übersetzt werden kann, ohne daß ihr dabei ihr Wesentliches verloren geht. Dem politisierten Lebensraum Ägypten wird Joseph - erfolgreich - begegnen, indem er konsequent das tut, was schon immer, schon in den Geschichten Jaakobs, als er mit seinem Vater am Brunnen saß und ihm seine Sorge vor der Gefahr des Löwen auszureden versuchte, seine hervorragende Stärke war: aus einer metaphysischen Grundorientierung heraus irdischen Nutzen zu ziehen. Das ist das Geheimnis seiner Politik. Der Höchste: Das ist zunächst einmal natürlich der Gott des Stammes Israel. Gleichzeitig ist das aber auch eine Idee, die im sphärischen Wechsel verweltlichen kann. Dadurch verbirgt sich in ihr der politische Gehalt des Romans. Die Idee des Höchsten verkörpert sich Joseph auch in der »Vaterbindung« (IV, 818), eine Bindung, desto tiefer und inniger, als sie kraft einer weitgehenden Gleichsetzung und Verwechselung zugleich Gottesbindung war (IV, 818).

Der Höchste, das ist ihm des weiteren auch all das, was ihm, vaterlos, in der Ferne Vater-Ersatz sein muß. Die aus Abrahams Zeiten überlieferte Devise, welche Josephs Wesen innewohnt: daß man dem Höchsten nachstreben müsse, diese Devise wurde handlungsleitend schon zum ersten Mal in J o sephs großem Gespräch mit dem Kaufmann. Dort heißt es von Joseph: E r wollte wissen, wohin es ginge mit ihm und wo das Haus läge, dem der Alte ihn zudachte; doch es war nicht dies allein, was ihn so fragen ließ. E r wußte es nicht, aber sein Denken und Sicherkundigen war von einem Mechanismus bestimmt, der weither wirkte aus Anfangs- und Väterzeiten: Abraham sprach aus ihm, der vom Menschen so hoffärtig gedacht hatte, daß er der Ansicht gewesen war, einzig und geradewegs nur dem Höchsten dürfe er dienen, und dessen Sinnen und Trachten denn also ausschließlich [...] sich auf das Höchste, den Höchsten gerichtet hatte. Die Stimme des Enkels hier fragte leichter und weltlicher, und doch war's des Ahnen Frage. (IV, 68if.)

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Die Antwort, die Joseph hier von dem Kaufmann erhält, ist der Name Pharaos, in »liturgischem Tonfall« teilt er sie ihm mit, »als sagte er ein Gebet« (IV, 682), und all das deutet schon auf den Eindruck hin, den sie Joseph machen wird: Sie mutet ihn sofort »gotthaft« (IV, 683) an. Der Höchste, das ist also auf der »weltlicherfen]« Ebene Josephs und im räumlichen Bezugsfeld Ägyptens Pharao. Dadurch, daß nun, im dritten Band, Pharao die Stellung hat, die für Jaakobs Streben Gott einnahm (ohne daß der israelitische Gottesgedanke freilich durch den ägyptischen Herrscher ersetzt wird), ist jener Säkularisationsprozeß initiiert worden, der die letzten beiden Bände der Tetralogie so entscheidend prägt. Zugleich bedeutet diese Säkularisation Nachahmung. Joseph ahmt seinen Vater nach. Erst dadurch rechtfertigt sich der vollzogene Wechsel von der oberen, geistigen, in die untere, irdische Sphäre: Was er erlebte, war Imitation und Nachfolge; in leichter Abwandlung hatte sein Vater es ihm einst vorerlebt. Und geheimnisvoll ist es, zuzusehen, wie im Phänomen der Nachfolge Willentliches sich mit Führung vermischt, so daß ununterscheidbar wird, wer eigentlich nachahmt und es auf Wiederholung des Vorgelebten anlegt: die Person oder das Schicksal. Inneres spiegelt sich ins Außere hinaus und versachlicht sich scheinbar ungewollt zum Geschehnis, das in der Person gebunden und mit ihr eins war schon immer. Denn wir wandeln in Spuren, und alles Leben ist Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart. (IV, 8i8f.)

Schopenhauers Philosophie des Schicksals, nach der das Ich seinen Lebensweg nur scheinbar >frei< geht, in Wahrheit aber abschreitet, indem es sein metaphysisch schon determiniertes Schicksal erfüllt, verschmilzt hier untrennbar mit dem Weltmittelpunkt-Modell von Goethes welteinbegreifendem Individualismus, nach dem das große Ich aus sich heraus die Geschichte, in die es gestellt ist, entwirft. Z u beachten hierbei ist, daß Schopenhauers metaphysischer Geschichtsfatalismus, der durch seine Amalgamierung mit dem Modell des weltmächtigen Individualismus, das sich Goethe verdankt, geschichtsfähig wird, nicht nur für Joseph eine Lebensmöglichkeit bietet: Denn Josephs Imitatio Jaakobs entspringt dem, »was wir in unserer Sprache seine Vaterbindung zu nennen versucht sind« (IV, 818, Hervorhebungen von mir, DW). »Unsere Sprache« ist natürlich die moderne der Psychologie oder Psychoanalyse. Und unter Einschließung der Gegenwart klingt diese Passage auch aus, denn nicht nur Joseph, sondern ausdrücklich »wir wandeln in Spuren«, und nicht nur Josephs, sondern »alles Leben ist Ausfüllung mythischer Formen mit Gegenwart.« (IV, 819) Beide Geschichtsmodelle, das auf Schopenhauer und das auf Goethe zurückzuführende, stehen im Dienst der mythischen Imitatio, der Wiederkehr des ewig Gleichen - »ununterscheidbar«, ob »Person oder das Schicksal« den nachahmenden Lebenslauf bestimmen: 246

Wie im Guckrohr ein immer gleicher Bestand an farbigen Splittern in immer wechselnde Schauordnungen fällt, so bringt das spielende Leben aus dem Selben und Gleichen das immer Neue hervor (IV, 828).

So kann die väterliche Nachahmung gedacht werden als mythische Daseinswiederholung, der trotzdem der geschichtsträchtige Entwurf einer weltmächtigen Eigenkraft nicht abgeht. In dieser eigentümlichen Wiederholung der Vätergeschichte wird Potiphar die Labanrolle einnehmen, denn er ist es, dem Joseph zu dienen haben wird, bis er endgültig zum »Höchsten«, nämlich in die Dienstbarkeit Pharaos, vorrückt: Jetzt aber erfüllte und beschäftigte ihn ganz die Wiederkehr des Väterlichen und dessen Auferstehung in ihm: E r war Jaakob, der Vater, eingetreten ins Labansreich, gestohlen zur Unterwelt, unmöglich geworden zu Hause, flüchtig vor Bruderhaß [...] und auch Laban sah etwas anders aus in dieser Gegenwart [...]. Aber er war es, das litt keinen Zweifel, mochte das Leben auch mit immer neuen Formen des Gleichen spielen. (IV, 819)

Daß Joseph in den Spuren seines Vaters geht, sichert weiterhin den metaphysischen Bezug seines Strebens, auch wenn es verweltlicht ist, sich geschichtsmächtig zeigen und - politisch Stellung beziehen muß. Letztere Notwendigkeit ergibt sich aus der politischen Situation Ägyptens. Wie nicht anders zu erwarten, nachdem der Leser mit Joseph schon die Städte Per-Sopd, Per-Bastet und On durchreist hat, ist diese politische Situation unweigerlich verknüpft mit unterschiedlichen Verhaltensweisen gegenüber metaphysischen Konstanten des Seins. Es verhält sich so, daß die Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen den Völkern und Ländern sich für das allgemeine Denken und Vorstellen in den Göttern verkörperten und nur der Ausdruck ihres persönlichen Lebens waren. Freilich, was war hier die Sache selbst, und was war ihr Bild? Welches die Wirklichkeit, und welches ihre Umschreibung? War es nur Redeweise, zu sagen, Amun habe die Götter Asiens besiegt und sich tributpflichtig gemacht, während eigentlich Pharao die Könige Kanaans sich unterworfen hatte? Oder war eben dies nur der uneigentlich-irdische Ausdruck für jenes? Joseph wußte wohl, daß das nicht zu unterscheiden war. Sache und Bild, das Eigentliche und Uneigentliche, bildeten eine untrennbar verschränkte Einerleiheit. (IV, 834)

Irdisches Dasein und göttliches Wesen sind untrennbar miteinander verschränkt. Das ist die erste Aussage dieser Passage. Die zweite präzisiert sie hinsichtlich ihres Schopenhauerschen Gedankenursprungs: Das irdische »Bild« ist »uneigentlich«, eben weil es nur Erscheinung ist. Als jeweilige Erscheinung und flüchtiges, der Veränderung unterworfenes »Bild« genommen, ist das Irdische in seiner Ganzheit jedoch Ausdruck des >Eigentlichen< - des Jenseitigen, Göttlichen, Metaphysischen. 247

Die dritte und zentrale Aussage unternimmt die Anwendung dieser Philosophie auf die ägyptische Situation: Die metaphysische Ebene, auf die hin Sinnbezug immer stattfindet, repräsentieren Amun und Atum; Amun, der dabei ist, sich die ägyptischen und angrenzenden Länder zu unterwerfen, und Atum, dessen Ausweitung geistiger Art ist. Die ursprüngliche »Einerleiheit« befindet sich offensichtlich in einem schon weit fortgeschrittenen Stadium der Auflösung. Die beiden Gottheiten sind nicht mehr aufeinander hingeordnet. Einheit ist zur Zweiheit miteinander konkurrierender Machtsysteme geworden. Schon in On war Joseph deutlich gemacht geworden, daß Amun eine kurzsichtige, weil nicht mit metaphysischem Verständnis das Leben in seiner Verschiedenheit >zusammenschauende< Politik betreibe. Diese oberflächlich machtbeflissenen Ansprüche Amuns drohen das metaphysische Gefüge dieser Welt zu zerstören. Das beginnt Joseph allmählich zu verstehen: E r nahm da von schwebenden Meinungsverschiedenheiten, Strömungen und Gegenströmungen Notiz, mit denen er, wie gesagt, erst in dem Grade besser vertraut wurde, als er in das Leben des Landes hineinwuchs. [...] Hatte das, überlegte Joseph, möglicherweise mit Amuns Heerscharen und Feldhaufen zu tun, der lanzenstachlichten Tempelmacht [...]? Mit Pharao's Unmut darüber, daß Amun, der allzu schwere Staatsgott, auf seinem eigenen Gebiete, dem streitbaren, mit ihm in Wettbewerb trat? (IV, 83;)

Nicht nur Joseph, auch dem Erzähler erscheinen diese Zusammenhänge als »sonderbar weitläufige« (IV, 83;). Was sich hier offenbart, ist die Notwendigkeit, Metaphysik als politisches Anliegen zu betreiben - eine Einsicht, die nicht zuletzt Josephs Parteinahme für Atum bestimmt. Einem Autor, der vor gerade einmal fünfzehn Jahren die Betrachtungen eines Unpolitischen veröffentlicht und in ihnen die strikte Unvereinbarkeit von Politik und deutscher Innerlichkeit, sprich: Metaphysik zur Hauptthese erhoben hatte, muß das in der Tat sonderbar weitläufig erscheinen. In dieser Aufspaltung des Göttlichen, in dessen Dienst Joseph sich begibt, indem er sein Leben ausdrücklich dem >Höchsten< unterstellt, politisiert sich auf irdischer Ebene das, was ursprünglich, noch in Jaakobs Welt, als ausschließlich geistiges Metaphysikum existierte: Gott. Ein ganzes Hauptstück ist dem Gedanken des Höchsten gewidmet. E r ist deswegen so wichtig, weil sich in ihm die Idee der metaphysikbezogenen Existenz auf säkularisierter Ebene widerspiegelt, eine Idee, die das jeweilige Dasein immer erst zu einem nicht nur wirklichen, sondern auch wahren werden lassen kann.

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Joseph zwischen politischen Fronten Die ausführliche Beschreibung der Amun-Macht, nachdem Joseph mit ihr ein erstes Mal flüchtig schon in On sowie auf der Straße des Chonsu in Wese konfrontiert wurde, ist dem fünften Hauptstück vorbehalten. E s beschreibt die letzte Phase von Josephs Aufstieg im Haus Potiphars. Charakteristisch hierbei ist, daß seine Karriere von zwei Situationen flankiert wird, die in ihrer Gesamtheit ein bezeichnendes Licht auf die geistig-politische Problematik werfen, in der der ägyptische Joseph sich zurechtfinden muß. Die eine ist politischer Natur: »Der Gesegnete« (V, 913) wächst auf in unmittelbarer Nähe Amuns. Zwei ganze Kapitel widmen sich diesem Umstand: Amun blickt scheel auf Joseph (V, 937) und Beknechons (V, 946). Das andere große Ereignis, mit dem Joseph in dieser Phase seines Lebens umgehen muß, ist der Tod des Hausmeiers Mont-kaw. Ich werde zeigen, daß mit dem Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben (V, 978) entscheidende philosophische Implikationen wachgerufen werden, die Joseph helfen, sich der politischen Gefahrdung, in der er lebt, entgegenzustellen. Daß Joseph als Ausländer bei seiner Karriere manchen Ägypter überrundet, gewinnt »eine besondere, zur größten Taktentfaltung auffordernde Anstößigkeit« (V, 940). Daran schließt der Erzähler kommentierend an: Wir sind hier wieder bei jenen inneren Gegensätzen und Parteiungen, die das Land der Enkel beherrschten und zwischen denen Josephs Laufbahn daselbst sich vollzog; bei den gewissen frommen und patriotischen Grundsätzlichkeiten, die dieser Laufbahn entgegenstanden (V, 940).

Joseph muß sich gegen die Ausländerfeindlichkeit Amuns durchsetzen, »welcher die Verkörperung patriotisch bewahrender Sittenstrenge war im späten Lande« (V, 941). Im folgenden wird rückverwiesen auf Josephs Erfahrungen in On, und Amun wird beschrieben als starr und streng, ein verbietender Feind jeder ins Allgemeine ausschauenden Spekulation, unhold dem Ausland und unbeweglich beim nicht zu erörternden Völkerbrauch, beim heilig Angestammten verharrend - und dieses alles, obgleich er viel jünger war als der zu On, also, daß hier das Uralte sich als beweglich und weltfroh, das Neuere aber sich als unbeugsam bewahrend erwies, eine konfuse Stellung der Umstände. (V, 942)

E s ist offensichtlich, daß in diese Schilderungen Erfahrungen des Autors mit dem rechten Radikalismus ihren unmittelbaren Ausdruck finden, der dann in den Nationalsozialismus mündete. In seinem Vortrag Von Deutscher Republik schon denkt Mann genauso. E r appelliert dort an die Jugend, die er »für die Republik zu gewinnen« (XI, 819) trachtet, und wirft ihr vor: Leben wir denn in der verkehrten Welt? Jugend ist heute die hitzige Parteigängerin der Vergangenheit, und auf mechanische Restauration des Alten ist all ihr Sinnen gerichtet. (XI, 823)

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Die Konstanz der Argumentation spricht für sich. Was Mann im Oktober 1922 in seinem Republik-Vottt&g warnend verkündete, taucht gedanklich unverändert in diesen Passagen des Joseph-Romans zwölf Jahre später (November 1954) wieder auf. Amuns Macht wird in Josephs unmittelbarer Nähe verkörpert von Beknechons und von dem intriganten Zwerg Düdu. 27 Immer wieder betont der Erzähler, wenn er von Josephs Verhältnis zu diesen beiden Repräsentanten der ihm feindlich gesinnten Bewegung spricht: Uber den kindlichen Wahn, daß alle ihn mehr lieben müßten als sich selbst, war er hinweg (V, 940),

oder, bezogen auf Düdu: Daß dieser ihn nicht mehr liebte als sich selbst, sondern bedeutend weniger, war von Anbeginn nur zu klar gewesen (V, 942).

Vor dem Hintergrund von Josephs Fehler, der ihn in die Grube gebracht hat, können wir den Sinn dieser Anmerkungen verstehen: Der philosophische Gehalt jener neuen Bewußtseinsstufe Josephs, aufgrund welcher er die Welt nicht mehr ausschließlich auf sich bezieht, sondern erkennt, daß fur seine Mitmenschen ein anderes, ihr eigenes Leben im Zentrum steht, entsprach der Zerreißung des Maja-Schleiers. Mit der Zerreißung der Ketönet war diese ja sogar auf der Handlungsebene explizit vollzogen worden. E s ist der philosophische - schopenhauerianische — Fortschritt Josephs, der es ihm nun ermöglicht, sich zu Düdu und Beknechons taktisch zu verhalten. Erst die philosophische Einsicht in den wahren Charakter der Erscheinungswelt ermöglicht es Joseph, der Amun-Gefahr gegenüber eine adäquate politische, nämlich distanzierte, Position zu beziehen. Beknechons selber wird martialisch geschildert: »Gottesmilitär mit Speeren und Keulen eilte seinem Tragstuhl voran« (V, 946), seine Kleidung ist »altfränkisch« (V, 947), und er tritt dafür ein, daß »Herr werden muß das Alte im Neuen und gesetzt werden muß das Nervig-Volkszüchtige über das Reich« (V, 957). Ihm gelingt es, sich selbst zu erhöhen und sich seinen Gegner, Atum, zu unterwerfen, indem er diesem Amter anträgt, die zwar sehr hoch angesiedelt sind nach ihrem Rang, aber den vom obersten Amunpriester wahrgenommenen unterstehen (vgl. V, 952). Diese >Einverleibung< erinnert nicht von ungefähr an Strategien der Nationalsozialisten, 28 denen " Eckhard Heftrich: Geträumte Taten. Uber Thomas Mann, S. 74-78 zieht eine Verbindungslinie vom Zwerg Düdu zu Theodor Lessing, dem im Jahr 191 ο eine aggressive Polemik Thomas Manns gegolten hatte. 1933 hörte Thomas Mann von der Ermordung Lessings durch die Nationalsozialisten. Heftrich stellt die These auf, der lang aufgestaute Haß Thomas Manns habe sich nun erst, in der Zeichnung Dudus, produktiv lösen können. Die Ähnlichkeit von N S D A P und Amun-Partei hat gründlich Raymond Cunning-

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es mit dem Ermächtigungsgesetz gelang, die gesamte Staatsmacht an sich zu reißen:29 »Nicht ohne Schrecken konnte man den Mann betrachten, im Gedanken daran, was er alles vorstellte« (V, 948). Trotz dieser ihn stets umgebenden Gefährdungen, nicht zuletzt durch Düdus »Parteigängerei für Amuns höchste Sonnenkraft« (V, 980), übersteht Joseph seine ersten sieben Jahre in Ägypten unbeschadet. Der Roman begründet das, indem er auf die Schicksalsnotwendigkeit von Josephs Aufstieg hinweist, von der auch Joseph selber weiß. Sie wird exemplifiziert am Tod von Mont-kaw; ihr argumentativer Gedankenhintergrund ist Schopenhauers Schicksalsphilosophie - eine Bekräftigung der geistigen Prämissen, aus denen Joseph heraus richtig zu handeln erst möglich wird. Gleich einem philosophischen Bollwerk beschließt der Bericht von Mont-kaws bescheidenem Sterben das fünfte Hauptstück, in dem vorher so bedrohlich von der AmunGefahr die Rede war. Schopenhauersche Termini, seiner Mitleidsethik entlehnt, scheinen von Beginn an durch: Der Erzähler vollzieht seine »sympathisch-geistige [ ] Ansprache« (V, 983) mit »Anteilnahme« an seiner vom »Schicksal ihm übertragene[n] Rolle«. Mont-kaws Geburt ist, gut schopenhauerianisch, die »Zeit, da das vielfach gebärende Leben gerade ihn hervorgebracht« (V, 982), sein Tod ein »Geschehen«, ein »Leiden« (V, 982), obwohl er »mit der Einsicht in die planmäßige Notwendigkeit seines Hintritts verbunden« ist (V, 982): Denn darin, daß Joseph in ein Haus gebracht wurde, dessen Vorsteher ein Kind des Todes war, ist entschieden etwas Planmäßiges zu erblicken (V, 982).

Der »Lebensbehauptungswillen« (V, 987) Mont-kaws kann sich gegen diese Planmäßigkeit nicht wehren, ja, Mont-kaw selber hat, so mutmaßt der Erzähler, wider seine eigene »Willenskraft« (V, 986) seiner Krankheit zugearbeitet, als er Joseph in sein Haus aufnahm - genauso, wie auch Joseph nun fürchtet, mit seinen Gutenachtsagungen wider seinen Willen das Fortschreiten der Krankheit befördert zu haben: ham: Myth and Politics in Thomas Mann's Joseph und seine Brüder herausgearbeitet. Vgl. insb. S. 2 1 2 - 2 1 9 ~ wobei man wohl nicht so weit gehen sollte, in der äußeren Beschreibung von Beknechons tatsächlich »images of Himmler, Streicher, and Hitler himself« (S. 213) zu sehen. Die Kapitel Amun blickt scheel auf Joseph und Beknechons entstanden zwischen dem 9 . 1 1 . und dem 1 1 . 1 2 . 1 9 3 4 . Drei Monate vor der Schilderung von Beknechons' »Selbsterhöhung« reagiert Mann erbittert auf eine »Selbsternennung« Hitlers (Tagebücher 1933—1934, S. 491 f., Eintragung vom 2.8.1934): »Hörte dann im Radio die Mitteilung von Hindenburgs heute vormittag erfolgtem Tode, der dem deutschen Publikum um 1/2 10 Uhr durch das Lügenmaul des Goebbels verkündet worden ist, und von dem Reichsgesetz, das vorbereitet, und nach dem die Ämter des Reichspräsidenten u. Reichskanzlers vereinigt werden. Damit untersteht ihm die Reichswehr, die, wie es scheint, auf ihn vereidigt werden wird [...]. Ich war und bin halb krank vor Trauer und Entmutigung«.

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denn uns will scheinen, als ob seine empfindlichen Ahnungen beim Anblicke Josephs und die besondere Rührung, mit der des Sklaven Probe-Gutenacht-Gruß es ihm angetan hatte, schon Boten des Anfalls und Merkmale einer krankhaft erhöhten Empfänglichkeit gewesen seien. Aber auch die andere ärztliche Auffassung ist möglich, daß umgekehrt jener allzu linde Friedensgruß eine gewisse Erweichung seiner Natur und ihrer Widerstandskraft gegen das immer sie belagernde Übel erzeugt hatte, - und wirklich neigen wir zu der Befürchtung, daß Josephs allabendliche Gutenacht-Sprüche, so wohltuend sie dem Meier eingingen, seinem unbewußt mit der Krankheit im Kampfe liegenden Lebensbehauptungswillen keineswegs besonders zuträglich waren. (V, 987)

Als Mont-kaw sich dann endgültig den Tod holt, als Folge einer Erkältung bei einem Leichenbegängnis, hat auch dies nichts Zufälliges und liegt in der Ordnung des Schicksals. Denn: Allezeit war dieses Sichanstecken am Tode, das sogenannte >Mitgenommenwerden< von einem, dem man in zugiger Friedhofshalle die letzte Ehre erweist, etwas sehr Häufiges, damals so gut wie heute. (V, 987f.)

Sinn dieser Passage: Mont-kaws Tod ist nichts Außergewöhnliches. E s ist immer so. Joseph ist sich auch sofort darüber im klaren, daß Mont-kaws »Leiden und Sterben [...] eine Veranstaltung zu seines und seines Wachstums Gunsten und der arme Mont-kaw ein Opfer der Pläne Gottes« ist (V, 990), und das erfüllt sein »Gewissen« mit »Schuld« (V, 991): Joseph muß das ihm auferlegte Schicksal, auch wenn er es in einem allenfalls schicksalsdeterministischen Sinne >verschuldet< hat, selber tragen. Unweigerlich nimmt er diese Schuld auf sich, weil er lebt. E r begegnet ihr, wie Schopenhauer es vom Philosophen und vom Heiligen fordert, mit Askese: »Joseph trieb es bis zum Verzicht auf den eigenen Schlaf und zur Abmagerung des eigenen Leibes.« (V, 991) Auch die Geschichten seines Stammes, die Joseph seinem Meier erzählt, um ihn »dahier zu fesseln«, beziehen ihren metaphysischen Trost aus der Gedankenwelt Schopenhauers. Deswegen auch sind sie Mont-kaw »linderndste Zerstreuung« (V, 993). Denn was sie alle verkünden, ist die höhere Identität von Diesseits und Jenseits. Ganz gemäß Schopenhauer ist die Welt der Erscheinungen in Josephs Stammesgeschichten nur Täuschung, und hinter ihr erscheint die Wahrheit, in der alles eins ist: Vertauschung hier und da, Vertauschung der Erstgeburt und des Segens, der Bräute und der Besitztümer. Vertauschung des Sohnes auf dem Schlachtopfertisch mit dem Tiere, des Tieres mit dem ähnelnden Sohn, da er blökend verschied. So viel Vcrtauschung und Täuschung tat es dem Hörer mit reizender Unterhaltung an und fesselte ihn; denn was ist reizender als die Täuschung? (V, 993)

So ist die Rede vom »Ab- und Widerschein«, vom »Täuschungslicht« und Joseph erscheint als Träger des »Liebes-Schleierkleid[s]« (V, 993). Reizend erscheint diese Täuschung Mont-kaw aber deswegen, weil die wiederholt 252

versicherte Scheinhaftigkeit des Diesseits die Hoffnung auf das >eigentlichere< Jenseits verheißt. Das Diesseits verschwimmt immer stärker, »sehen konnte Mont-kaw fast gar nicht mehr« (V, 993), er erkennt mit Schopenhauer: »nichts ist gewöhnlicher als der Tod« (V, 997),3° und schopenhauerisierend auch tröstet Joseph Mont-kaw über seinen Lebensabschied: »Auf tut sich die Kerkergrube deiner Belästigung.« (V, 1001) Im Tod schließlich wird sich, so versichert Joseph Mont-kaw, die Zeit auflösen: Mont-kaw werde »immer [...] über den Hof kommen« (V, 1002), um Joseph ein erstes Mal zu sehen; im Tod auch wird sich die Schicksalsnotwendigkeit von Mont-kaws Verhalten erweisen: Denn da du Mont-kaw bist, wirst du nicht aus der Rolle fallen und dir vor den Leuten das Ansehen geben, als glaubtest du wirklich, daß ich nichts anderes sei als Osarsiph, der verkäufliche Fremdsklave, da du doch heimlich wissen wirst in bescheidener Ahnung, schon vom vorigen Mal, wer ich bin und welchen Bogen ich hinziehe (V, 1002).

Hier offenbart sich denn das eigentliche Ziel der Todesgeschichte von Mont-kaw, die uns der Erzähler aus »Anteilnahme« überbringt, nochmals mit aller Deutlichkeit: Die Notwendigkeit des Schicksals, die Mont-kaw unweigerlich in den Tod führt, gilt ebenso für Joseph, und er ist sich ihrer bewußt. Mont-kaws Tod manifestiert im Schopenhauerschen ErzählerNachvollzug die Schicksalsnotwendigkeit auch von Josephs Lebensweg. Und weil ihm dieses Bewußtsein schon zu Lebzeiten ermöglicht, sich nicht mehr vom Schleier der Maja, den das Dasein über die metaphysischen Absichten des Lebens verhängt hat, blenden zu lassen, weil er das Leben auf die Absichten Gottes hin zu durchschauen vermag, kann er sich seines Weges auch so sicher sein, daß er den kurzsichtigeren, weil im Diesseitigen befangenen, politischen Gefahren, dem verderblichen Einfluß Amuns in Gestalt von Beknechons und Düdu, um ihn herum widersteht. Daß Schopenhauers Philosophie fortdauert, ermöglicht Joseph, die Erscheinungswelt als bloße Täuschung zu erfahren, und hinter ihr das Wahre, Eigentliche zu suchen. Gleichzeitig verbürgt der mythologische Kontext des Romans die sinnstiftende Bezüglichkeit jenes Jenseits. Josephs Fähigkeit, die Welt auf ihre metaphysische Bestimmung hin zu befragen, feit ihn vor den Gefahren der politischen Wirklichkeit. Wir hatten bis jetzt gesehen, daß Schopenhauers Philosophie von Thomas Mann im Joseph-Roman immer wieder neu verhandelt wird, um von dieser Grundlage aus die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten zu bestimmen, sich mit der geschichtlichen Welt zu arrangieren. Wir hatten auch beobachten können, daß diese Auseinandersetzung sich immer wieder als Reflex des Autors auf die eigene Situation verstehen läßt. ,0

Vgl. etwa Arthur Schopenhauer: Die Welt ah Wille und Vorstellung II, S. 549.

253

Da, wo sich - zeitgeschichtlich bedingt - die Unmöglichkeit eines Arrangements mit dem fatalistischen Weltbewußtsein Schopenhauers und Thomas Manns herausstellt, müssen Modifikationen die wenigstens partielle Geltung des hergebrachten Denk-Systems sichern. Solch eine Modifikation war etwa die Verknüpfung des Schopenhauerschen Schicksals-Glaubens mit der über das Vorbild Goethe vermittelten Idee des Geschichte in sich einbegreifenden großen Ich. In Joseph in Ägypten findet solch eine Auseinandersetzung abermals statt. Sie vertieft die bisher aus Schopenhauers Philosophie diskutierten Aspekte, also etwa den des vorherbestimmten Schicksals, die (metaphysische) Freiheitsidee und die Mitleidsethik, indem sie diese zurückfuhrt auf den Grundglauben, der Schopenhauers - und auch Thomas Manns - Denken leitet: den Gedanken nämlich, daß alles Leben sich vornehmlich aus dem Wollen gebiert, daß alles Sein primär triebhaft bestimmt ist. Thomas Mann deutet Schopenhauers Philosophie als »Welterklärung aus dem >WillenSchleier der Maja< durchschauenden, Individuum. Diesen Erkenntnisschritt, der sich vollzieht, während seine Brüder ihn verprügeln und in den Brunnen werfen, hatten wir nachvollzogen. Diese Entwicklung gestaltet sich vor dem Hintergrund einer zweiten, weiter gefaßten. Paradigmatisch hat der Erzähler in der Höllenfahrt vorgeführt, wie die raumzeitliche Existenz des Menschen sich aus Urtiefen herleitet, die sich mit diesen herkömmlichen Kategorien unserer Anschauung nicht mehr fassen lassen. Das heißt, der Ursprung des Menschenwesens, wie ebenfalls sein Ziel, liegt in metaphysischer Sphäre. Der Weg vom metaphysischen Ursprung zum metaphysischen Ziel beginnt raumzeitlich, wie es der Roman der Seele zeigt, mit der noch geistfremden Formwerdung der Materie, und vollzieht sich über den hinzukommenden Geist, der dieser Materie den Spiegel vorhält und somit Selbsterkenntnis erst ermöglicht. Erst mittels des Geistes wird also die Humanisierung möglich, aus der die Welt als metaphysisch sinnstiftende entsteht. Die Synthese, die Thomas Mann für den Joseph-Roman anstrebt und die er seinem Helden als Aufgabe einschreibt - »mit Segen oben vom Himmel herab und mit Segen von der Tiefe, die unten liegt« (IV, 49) - ist damit gekennzeichnet als eine Tendenz, die der Auflösung des irdischen Formenlebens durch den Geist, wie sie Schopenhauers Erlösungsphilosophie entspräche, entgegenstrebte. Der >doppelte Segen< wendet sich ausdrücklich dem Leben zu, jedoch tut er das immer unter der Prämisse, daß dieses erst lebenswert wird, wenn es auf ein Metaphysisches bezogen, also geistdurchdrungen bleibt. Gegen die Lebensentfremdung durch den Geist, die auch Thomas Mann, schon im Roman der Seele, konstatiert, entwirft er ein dialektisch zu verstehendes Aufeinander-Bezogensein, das er als (einzigen) Ausweg aus der entstandenen Sinnkrise postuliert. Keinesfalls will er geistlos zurück zu den Wurzeln. Jener Weg, der die Rückkehr aus der Entfremdung hin zum Leben jenseits des Geistes sucht, indem er schlicht den >Geist als Widersacher der Seele< (Kla-

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ges) postuliert, wurde schon in der Höllenfahrt als ungangbar ausgewiesen. Dort hieß es, daß »stark zu bezweifeln bleibt, daß jenes vorerwähnte, aus allzu lebhafter Empfänglichkeit für den Vorwurf tödlichen Wesens entspringende, selbstverleugnerische und liebedienerische Gebaren des Geistes der rechte Weg zu einem solchen Ziele ist.« (IV, 49) Damit wurde geistigen Tendenzen eine Absage erteilt, die in der Weimarer Republik dem Nationalsozialismus Sukkurs zukommen ließen, indem sie seine geistfeindliche Rückwärtsgewandtheit (oft ungewollt) unterstützten. Die metaphysische Bezogenheit des Menschen, deren Durchschauung gemäß Schopenhauer die höchsten Entwicklungsstufen des Lebens kennzeichnet, inszeniert der Joseph-Roman als mythisches Bewußtsein. Im dritten Teil der Tetralogie, in Joseph in Ägypten, wird der angedeutete Konflikt zwischen dem Leben, das sich, ohne Rücksicht auf die Belange des Geistigen, selber will, und dem Geist, dessen Aufgabe ist, sich dieser Ansprüche des Lebens zu erwehren, ohne aber der Lebensidee zu entsagen und somit zu dessen Vernichter zu werden, ausgetragen. Daß dieser Konflikt latent auch ein politischer ist, der in direktem Bezug zu zeitgeschichtlichen Erfahrungen Thomas Manns steht, deutete sich schon in der Höllenfahrt an. Im Rahmen meines Themas muß Gegenstand der folgenden Untersuchung sein, wie sich diese politische Seite des Konflikts in Joseph in Ägypten darstellt. Der Erzähler staffiert seinen ägyptischen Erzählraum mit einem mythischen Bewußtsein aus, das sich dem Werk des Baseler Altertumsforschers Johann Jakob Bachofen verdankt. Nicht zuletzt über die Einschmelzung von dessen Weltentwicklungs-Modell in den Roman läßt sich sein zeitgeschichtlicher Gehalt ergründen. Der Lebens-Raum Ägypten als geistiger Lebens-Raum des Autors 3 ' ist der Ort der tragischen Liebesgeschichte zwischen Mut-em-enet und Joseph. Angelagert aber ist die politische Problematik Ägyptens, die sich in den beiden Gottheiten Amun und Atum verkörpert. Wir werden sehen, in welcher Weise sich der politische Konflikt in der lebens-philosophischen Thematik bemerkbar macht. Was die Bedeutung des Werkes von Johann Jakob Bachofen für Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder angeht, kann ich vorbehaltlos anknüpfen an die akribischen und präzisen Forschungen von Manfred Dierks.' 2 Um meines Argumentationsganges willen seien wichtige Ergebnisse von ihm zusammenfassend dargelegt. 51

Vgl. Manfred Dierks: Kultursymbolik und Seelenlandschaft: »Ägypten« als Projektion. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 1 1 3 - 1 3 1 . >2 Siehe das Kapitel von Dierks: Thomas Mann und Johann Jakob Bachofen: Mythos und Ideologie. In: Studien ^u Mythos und Psychologie bei Thomas Mann, S. 169-206.

256

D i e r k s b e l e g t zunächst, daß es sich bei B a c h o f e n s R e l i g i o n u m eine » T h e o r i e des R e l i g i o n s f o r t s c h r i t t s « " v o m S t o f f l i c h e n z u m G e i s t i g e n handelt, die überdies v e r k n ü p f t ist mit einer S y m b o l i k , die auch d e n J o s e p h R o m a n trägt: D i e E r d e ist s t o f f l i c h e s P r i n z i p , der M o n d gilt als M i t t l e r z w i s c h e n S t o f f und G e i s t , und die S o n n e v e r k ö r p e r t d e n G e i s t . D i e r k s w e i s t des w e i t e r e n n a c h , daß T h o m a s M a n n B a c h o f e n liest, i n d e m er i h n an S c h o p e n h a u e r »assimiliert«;' 4 e r zeigt, w i e dies g e s c h i e h t " u n d d a n n , w i e B a c h o f e n s T h e o r i e a u f d a s Ä g y p t e n des J o s e p h - R o m a n s

über-

t r a g e n w i r d ' 6 - der K o n f l i k t v o n L e b e n u n d G e i s t , der sich in B a c h o f e n s (Irdischen) z u m

Vater-

r e c h t l i c h e n ( G e i s t i g e n ) darstellt, w i r d a u f v e r s c h i e d e n e n E b e n e n

S y s t e m als E n t w i c k l u n g

v o m Mutterrechtlichen

immer

wieder durchgespielt." D i e metaphysische B l i c k r i c h t u n g bei d e r S c h i l d e r u n g dieser E n t w i c k l u n g , die

sich

in Ä g y p t e n

als

Konfrontation

zwischen

dem

Machtanspruch

A m u n s u n d d e m j e n i g e n A t u m s darstellt, e r g i b t sich s c h o n aus d e m U m stand, daß die M a c h t v e r h ä l t n i s s e Ä g y p t e n s sich in r e l i g i ö s e n P a r t e i u n g e n o f f e n b a r e n . D e n politischen

A s p e k t liefert diese K o n f r o n t a t i o n gleich mit:

D e n n die zur M a c h t d r ä n g e n d e A m u n - P a r t e i ist ja k e i n e s w e g s die m o d e r n e » Ebd. S. 1 7 1 . » E b d . S. 178. " Ebd. S. 1 7 9 - 1 8 1 . Der Weg vom Willen zur Transzendierung der Erscheinungswelt entspricht Bachofens Entwicklung vom gynäkokratisch-stofflichen zum vaterrechtlich-geistigen Prinzip, vom Dunkel zum Licht. Vgl. v.a. S. 200 (Textnachweis!). ' ' D i e r k s S. i 8 i f . , S. 183-190, S. 195-206. Dierks gelangt zu dem Ergebnis: »Zu >Schopenhauer< (zu seiner Metaphysik) stimmte das >untereNietzsche< der >obereWahrheitmythische< Wirklichkeitsdeutung, die auf metaphysischen Prämissen beruht, welche auch dem Autor als Lebensgrundlage gelten, noch Halt zu geben vermag in einer modernen, politischen Welt. Schon Wißkirchen macht auf die »aktuelle politische Dimension« im vierten Teil des Joseph-Romans, auf die »enge Verzahnung von Kunst und Leben« 9 aufmerksam: »Die Sinnhaftigkeit, die der Roman auch dem Leiden abgewinnt, indem er es auf >Vorgeschriebenes< bezieht, sie sind [sie] dann geschichtsphilosophischer Entwurf gegen die historische Situation des Exils, die Thomas Mann als eine seinem Sein unangemessene empfindet.«' 0 Ob dies wirklich nur noch im ästhetischen »Spiel«" geleistet werden kann und ob es »in der Realität um die Strategie der großen Persönlichkeit« 12 tatsächlich so schlecht bestellt ist, wie Wißkirchen behauptet, auch das steht hier in Frage.

7

Vgl. Thomas Manns Brief an Karl Kerenyi vom 7.9.1941. In: Thomas Mann — Karl Kerenyi. Gespräch in Briefen, S. 100. 8 Immer wieder weist Mann auf Menschen hin, die mit dem Mythos ästhetisch oder wissenschaftlich umgehen: Kleist (in dem Aufsatz Kleist's Amphitryon, IX, 187-228, vgl. insb. S. 202) und Freud und Jung (IX, 49iff.), oder auf solche, die ihn gar selber lebten: Alexander (IX, 496), Caesar (ebd.), Kleopatra (X, 75if.), Napoleon (ebd.), Jesus (X, 756). Besondere Beachtung für den Joseph-Roman verdient eine Aussage Manns in On myself, in der er Josephs Gottesnachahmung mit seiner eigenen Nachahmung Goethes gleichsetzt: »Der imitatio Gottes, in der Raheis Sohn sich gefällt, entspricht meine imitatio Goethe's: eine Identifizierung und unio mystica mit dem Vater.« (XIII, 169)

5

Wißkirchen S. 156. Ebd. " Ebd. S. 158. 11 Ebd. S. 159.

274

Noch ein »Vorspiel«! Ein »Vorspiel« und eine »umständliche Zurüstung zu einer gewagten Expedition« (XI, 659) hatte Thomas Mann schon die dem ganzen Roman vorangestellte Höllenfahrt genannt. Seinem vierten und letzten Teil ist abermals ein Extra-Kapitel vorgeordnet - eine Maßnahme, die für die sonst streng gleichmäßig gegliederte Tetralogie ungewöhnlich ist und allein deswegen schon erhöhte Beachtung finden sollte. Mit Fug kann man zunächst annehmen, daß es die Funktion dieses Kapitels ist, den Autor nach über vierjähriger Abstinenz vom Joseph-Roman (und freilich auch den Leser nach über sechsjähriger) wieder in die Gedankengänge seiner mythischen Welt zu führen. Darüber hinaus hat es jedoch einen konkreten inhaltlichen Anknüpfungspunkt, der nun aus der Perspektive der Engel beleuchtet wird: Josephs zweiten Grubensturz und die zweite Bestrafung Gottes, die damit fällig wird. Schon der Anschluß an diese inhaltliche Vorgabe macht deutlich, daß das Vorspiel in Oberen Rängen mehr im Sinn hat als nur eine Rekapitulation des Weltentwurfs der Höllenfahrt, an den es ausdrücklich anknüpft. Nach diesem Mehr und seinen philosophisch-politischen Implikationen, die, wie die Höllenfahrt für den ganzen Roman, nun die Grundlage für Joseph, der Ernährer bilden, ist zu fragen. Für Josephs künftigen Weg werden neue Orientierungshilfen vorbereitet. Die Frage, die im Vorspiel in Oberen Rängen grundsätzlich aufgeworfen wird, ist die nach der Fehlerhaftigkeit der Menschen: Sie trinken »Unrecht wie Wasser« (V, 1280), und ohne sie gäbe es »das Böse« (V, 1281) nicht. Ihre Fehler sind nämlich, so wird aus der Perspektive der Engel erläutert, nicht nur akzidentell, sondern unabdingbar mit ihrem Wesen verknüpft, ein Abbild Gottes zu sein wie die Engel und gleichzeitig fruchtbar wie die Tiere. Aus der Sicht der Engel sind die Menschen deshalb eine »Fehlschöpfung« (V, 1280) Gottes, in Gang gebracht von Semael: Dabei mochte es sich übrigens nicht einmal um eine Uberlistung der schöpferischen Allmacht gehandelt haben, insofern als Semael, in gewohnter Großartigkeit, die Folge der empfohlenen Creation, das heißt die Entstehung des Bösen, wohl gar nicht verschwiegen, sondern sie wild und geradeheraus gesagt hatte, allerdings immer nach der Vermutung der Zirkel - mit dem Hinweis auf den bedeutenden Zuwachs an Lebendigkeit, den das Wesen des Schöpfers dadurch erfahren werde: Man brauchte nur an die Ausübung von Gnade und Barmherzigkeit, ans Richten und Rechten, an das Aufkommen von Verdienst und Schuld, von Lohn und Strafe zu denken - oder besser ganz einfach an die Entstehung des Guten, die mit der des Bösen verbunden war; da dann jenes tatsächlich im Schöße der Möglichkeiten auf seinen Gegensatz zu warten hatte, ehe es Existenz gewinnen konnte (V, 1281).

Was mit dem Menschen geboren wird, ist »die moralische Welt« (V, 1282). In diesem dialektischen Gedankengang ist das Böse ebenso wie das Gute im

275

Leben nicht wegzudenken. Soweit verbleiben die Gedankengänge des Vorspiels in den fatalistischen Bahnen, die schon die Höllenfahrt vorprägte: Menschliches Verhalten, gleich ob gut oder böse, erklärt sich metaphysisch, so daß der diesseitigen Ausprägung keine Verantwortung mehr zukommt, die das Individuum frei zu tragen hätte: Die Menschen sind, wie sie sind, in ihren Rollen gerechtfertigt - was nicht hindert, daß sie an ihnen unter Umständen schwer zu tragen haben: Z u m Beispiel Esau als der um den Segen Betrogene, zum Beispiel Josephs Brüder als seine Mörder. 1 ' Das Böse in der Welt ist metaphysisch legitimiert; denn der Mensch, von Gott als sein Abbild geschaffen, kann nicht anders.' 4 E s ist Denken in Schopenhauerschen Bahnen, das bislang, angewandt auf »die moralische Welt«, die Argumentation des Erzählers wie auch das Bewußtsein der Romanfiguren lenkte; und zwar derart, daß der Mensch als »empirischer Charakter« (IX, 548) schuldfrei ist - denn da ist all sein Handeln determiniert - , unter metaphysischem Gesichtspunkt jedoch durchaus zur Verantwortung gezogen werden kann. Dies ist ein Gedankengang, den Thomas Mann in seinem Schopenhauer-Essay von 1938 folgendermaßen faßt: Was damit gerettet, aus der Empirie in die Transzendenz und Zeitlosigkeit gerettet und dort in geheimnisvolle Sicherheit gebracht wurde, das war ein moralisches und aristokratisches Begriffspaar, an dem Schopenhauer zweifellos hing und das er ungern in absoluter Determiniertheit hätte untergehen sehen: Schuld und Verdienst. (IX, 548f.)

Das Vorspiel nimmt in diesem Zusammenhang ausdrücklich Roman der Seele und den dort geschilderten »>Sündenfallin die Grube< kommt, kann als Beginn von Gottes spektakulärem Vorhaben gelten, das bei den Engeln so viel Empörung hervorruft. Das Ende hingegen, das heißt die Rückkunft ins »Jenseitig-Allgültig-Geistige«, ist in der Romangegenwart noch nicht abzusehen. Bei seiner Bestimmung hilft die merkwürdige Erzählperspektive, die der Autor für das Vorspiel wählt. Teils reden hier nämlich die Engel, teils aber auch der Erzähler. Jene können nur mutmaßen über den Ausgang des erniedrigenden Gottesexperiments: »Das Vorwissen der Zirkel der Umgebung reichte kaum bis in diese Fernen« (V, 1791). Der Erzähler hingegen kann »des Pfuhles unbewiesene Behauptung [...], daß der Rückweg aus dem Sündenfall in den heimischen Ehrenstand eben nur mit dieser angestrengten menschlichen Unterstützung möglich gewesen sei und allein aus eigenen Mitteln niemals gefunden worden wäre« (V, 1291), schon aus rückblickender Perspektive referieren: Zur Zeit der Gegenwart des Erzählenden hat sich Gott also schon wieder >zurückgeschwungennachkommen< zu lassen. Ihr Ende und der Anbruch eines neuen metaphysischen Zeitalters wäre dann entweder Israels Flucht aus Ägypten, oder aber, berücksichtigt man die christologischen Attribute, mit denen Joseph ausgestattet ist,15 die Auferstehung Jesu Christi.'6 Das Exil als '' Vgl. dazu Willy R. Berger: Die mythologischen Motive in Thomas Manns Roman »Joseph und seine Brüder«, S. 15 7ff. Herbert Lehnert: Thomas Manns Josephstudien ikipper< erklärt als >für einen anderen eintreten< (S. 162).« Vgl. zu Oskar Goldberg in dieser Arbeit S. 28iff. Anzeichen für eine genauere Präzisierung des Endpunktes des hier eingeleiteten Zeitalters kann ich nicht erkennen, sie scheint mir aber auch nicht notwendig zu sein für die These, die ich im folgenden erarbeite. Dieser Frage ist bisher noch nicht mit Konsequenz nachgegangen worden. So bricht etwa Manfred Voigts: Oskar Goldberg. Der mythische Experimentalwissenschajtler. Ein verdrängtes Kapitel jüdischer Geschickte, Berlin 1994, S. 259, seine Gedanken zum Thema genau an dem Punkt ab, an dem es spannend wird: »Die Frage, warum dieser Irrweg denn notwendig war, ist gewiß unangemessen gegenüber einem Roman, der eben keine religionsgeschichtliche oder religionstheoretische Abhandlung sein soll.« Diese Frage ist keineswegs unangemessen, sondern vielmehr zentral; denn sie verweist über die Handlung des Romans hinaus auf die Absicht, die der Autor damit verfolgte: und die ist, wie ich zu zeigen versuche, zeitgeschichtlich gelenkt. 2

79

sich Mann in Das Problem der Freiheit darüber Rechenschaft, daß Freiheit heutzutage (1959) nur noch in einer Welt möglich sei, die sich gegenüber dem »Politisch-Sozialen« (XI, 9 7 1 ) nicht verschlossen halte:' 8 Denn die Situation des Geistes hat eigentümlich gewechselt auf Erden. Eine Epoche zivilisatorischen Rückschlages, der Gesetzlosigkeit und Anarchie ist offenbar angebrochen im äußeren Völkerleben; aber eben damit, so paradox es klingt, ist der Geist in ein moralisches Zeitalter eingetreten, will sagen: in ein Zeitalter der Vereinfachung und der hochmutlosen Unterscheidung von Gut und Böse. Ja, wir wissen wieder, was gut und böse ist. Das Böse hat sich uns in einer Graßheit und Gemeinheit offenbart, daß uns die Augen aufgegangen sind für die Würde und schlichte Schönheit des Guten, - daß wir uns ein Herz dazu gefaßt haben und es für keinen Raub an unserer Finesse erachten, es zu bekennen. (XI, 972) Ahnlich formuliert er auch in der Ansprache anläßlich der Aufnahme in den >Phi-Beta-Kappazeitlos-menschlichen< (XI, 914) Dimension, einer Perspektive >menschlicher Zeitlosigkeit der Demokratie< (XI, 916) [...] und der Sphäre des >Technisch-PolitischenSündenfall< der Seele oder des uranfänglichen Lichtmenschen nur bei starker moralischer Überspitzung die Rede sein« könne (IV, 45), so wird nun der Begriff der Sünde im metaphysisch unabgeschwächten Sinn zum Thema. Gottes »Verleiblichung« bringt es mit sich, daß die letzte Verantwortung nicht mehr metaphysisch im Jenseitigen verortet werden kann, sondern sich diesseitig artikuliert. Mit der Säkularisierung der Transzendenz hält die individuell zu tragende Sünde Einzug in den Roman. Zur Gestaltung dieses Bewußtseinswechsels zieht Mann ein Buch heran, das ihm schon bei Abfassung der Höllenfahrt Anregungen vermittelt hatte: Oskar Goldbergs Die Wirklichkeit der Hebräer,'9 Der jüdische Religionsphilosoph unternimmt darin den Versuch, die Gottesvorstellungen der alten Völker als metaphysische Projektionen ihres Wesens zu begreifen. Die unterschiedlichen Götter faßt er als »biologische Zentren« ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaften.20 Dabei tendiert Goldberg dazu, einen metaphysischen Konkurrenzkampf der Völker zu inszenieren: einen Glaubenskrieg, innerhalb dessen den Hebräern eine Sonderstellung insofern zukommt, als ihr Gott sich (aus weiter unten nachzuzeichnenden Gründen) nicht national befrieden läßt, sondern absolut gelten will. Damit ist impliziert (wenn auch kaum so offen ausgesprochen), daß der Gott der Hebräer (und mit ihm sein Volk selber) Weltherrschaft anstrebt: politischer Totalitarismus als Folge metaphysischen Strebens nach dem Absoluten. Zu Thomas Manns Tendenz, aus dem Geist der Metaphysik ein versöhnliches Weltmodell zu entwickeln, steht diese Interpretation deswegen in direkter Opposition. So hält Zeitgeschichte Einkehr in die mythische Auseinandersetzung.21

19

Oskar Goldberg: Die Wirklichkeit der Hebräer. Einleitung in das System des Pentateuch, Erster Band, Deutscher Text zur hebräischen Ausgabe, Berlin 1925. Vgl. grundlegend dazu Herbert Lehnert: Thomas Manns Josephstudien, S. 382. " Als Typus des jüdischen Faschisten wird Oskar Goldberg schließlich in der Figur des Chaim Breisacher in den Doktor Faustus eingehen. Vgl. dazu Voigts' Buch über Goldberg, S. 250-259, sowie Helmut Koopmann: Ein »Mystiker und Faschist« als Ideenlieferant für Thomas Manns fosephs-Romane. In: Thomas Mann Jahrbuch 6 (1993), S. 7 1 - 9 2 . Koopmann gelangt bis zu der Frage, was Thomas Mann schließlich dazu bewog, Goldbergs Buch als faschistisch einzustufen, kommt aber über die Feststellung, daß Goldberg darin gemäß dem »Zeitgeist« das »ganze RasseVokabular des Nationalsozialismus« (S. 84) verwendet, kaum hinaus. 281

Wie Thomas Mann in seinem Roman operiert auch Goldberg mit dem Begriff der Sünde. Darüber läßt sich Thomas Manns Auseinandersetzung mit diesem Buch vielleicht am besten fassen. Es ist eine von Goldberg in dem Kapitel Der vermeintliche >SündenSünde< eine Vorstellung sei, die es im theologischen, das heißt moralisch behafteten Sinne, im Pentateuch nicht gebe. In dessen metaphysischer Hermetik sei eher von Fehlern und darauf kausal folgendem Unglück zu sprechen, denn von einer persönlichen Schuld (Sünde), die man vor einem allmächtigen Gott zu verantworten habe (Strafe).22 Im Gefüge des Joseph-Romans entspricht dies der Idee von der allenfalls metaphysischen Schuld-Existenz, wie sie die Höllenfahrt anführte.2' Es ist dies ein Gedanke, den der Erzähler bisher seiner Beurteilung der im Mythos befangenen Romanfiguren zugrundelegte. Als Kennzeichen einer vergangenen Epoche wird dieses Bewußtsein im Vorspiel Kain zugeschrieben. Auch Bäcker und Mundschenk Pharaos, mit denen Joseph hernach im Gefängnis zu tun haben wird, leben noch darin, so daß Josephs Traumdeutung und -verkündung in eben diesem metaphysischen Geist stattfindet.24 Wir hatten gesehen, daß das Vorspiel die Sünden- und Schuldthematik erneut aufgreift. Durch den Säkularisierungsprozeß, den Mann hier, angesichts einer zeitgeschichtlich immer angespannteren Lage, einleitet, ersteht der ursprünglich und bisher allenfalls transzendental-moralisch faßbare Sündenbegriff neu in der Erscheinungswelt. Thomas Manns neue indivi" Vgl. bei Goldberg etwa S. $(>{., S. io8f., S. 136, insb. S. 124. Dort merkte sich Mann in seinem Exemplar ( T M A ) »Sünde-Strafe« an, und demgegenüber als zweites Begriffspaar »Fehler-Unglück«. !J Schuld, wenn überhaupt von ihr die Rede sein könne (vgl. I V , 4;f.), könne nur transzendental, das ist im Romankontext bei Gott, gesucht werden. Nach Koopmann, S. 80-82, hatte Thomas Mann schon damals die Abhandlung von Goldberg vorgelegen (dagegen allerdings argumentiert Lehnert, S. 38if.). !4 Die Sphäre der transzendentalen Einerleiheit bleibt dort intakt. Wie es das Vorspiel in Oberen Rängen darlegt, bedingen das Gute und das Böse einander, so daß in der Welt moralische Schuldsprüche zwar möglich und auch nötig werden; mit Blick auf den metaphysischen Grund der Welt heben sie sich jedoch auf: »Wie's nun einmal ist und wie ihr seid und wie euch geschieht« (V, 1359), diese drei Aspekte sind in Josephs Denken einer, denn: »Mit der Welt ist es auch ein Rundes und Ganzes und hat ein Oben und Unten, ein Gut und Böse, aber man soll nicht allzuviel Wesens machen von dieser Zweiheit, denn im Grunde ist Ochs wie Esel und sind vertauschbar und machen zusammen das Ganze aus.« (V, 1359) Joseph deutet zwar aus einem modernen, säkularisierten Bewußtsein heraus, aber selbst seine weltlichen Schuldzuschreibungen münden in transzendentalen Trost: »Du aber, Bäckermeister, verzweifle nicht! Denn ich glaube, du hast dich zum Bösen verschworen, weil du's für ehrwürdig vorgeschrieben hieltest und es mit dem Guten verwechseltest, wie es denn wohl geschehen mag. Siehe, du bist des Gottes, wenn er unten ist, und dein Genoß ist des Gottes, wenn er oben ist. Aber Gottes seid ihr beide« (V, 1360).

282

dual-moralische Auslegung des Sündenbegriffs zielt damit gegen die fatalistisch-transzendentale Interpretation von Goldberg. Aus der Gegenüberstellung von Goldbergs Gedanken zu der Entwicklung, wie sie Thomas Mann entwirft, erhellt der zeitgeschichtliche Anteil dieses Problemkomplexes. Z u Beginn seiner Auslegung des Pentateuch entwirft Oskar Goldberg seine mythologische Lehre von den Göttern als den biologischen Zentren der Welt. Die Thematik des Joseph-Romans entspricht genau der in der Wirklichkeit der Hebräer entfalteten. In unserer Welt sei die K l u f t zwischen Geist und Materie bereits so g r o ß [...], daß sich der Geist mit der Materie nicht mehr zu einer »Person« in der F o r m einer »Welt« verbinden kann (wo mithin nur eine große Anzahl v o n Ein\eAvesen auftreten können). Die biologischen Zentren hingegen sind »Personen höheren Grades«, die zugleich »Welten« sind: es sind die eigentlichen »Weltmächte«, deren H a n d l u n g e n die wahre »Weltpolitik« bedeuten [...]*'

Das heißt, die biologischen Zentren, von denen Goldberg spricht, sind die Orte, welche die höhere Einheit von Geist und Materie verbürgen. Anthropologisch gesehen haben sie identitätsstiftende Funktion in einer ansonsten des inneren (lebensvollen, eben: biologischen) Zusammenhangs beraubten Welt. Mythologie ist nach Goldberg nichts anderes als die Lehre von diesen biologischen Zentren als von den Göttern der Völker. 26 Dieses Verständnis der anthropologischen Grundbedeutung der Mythologie, das durchaus auch für Joseph und seine Brüder stehen kann, 27 im!1

G o l d b e r g S. 14. D i e metaphysische Antriebskraft für diese E r k l ä r u n g , so wie sie auch die Höllenfahrt formuliert, wird deutlich, wenn G o l d b e r g weiter erklärt: » D a Geist und Materie aus der Unendlichkeit stammen und wieder in dieselbe münden w ü r d e n was durch die konstituierenden F o r m e n der Endlichkeit und die unüberbrückbare K l u f t zwischen der letzteren und der Unendlichkeit verhindert w i r d , - so sind G e i s t und Materie um so einander ähnlicher, je mehr sie sich ihrem U r s p r u n g s o r t , nämlich ihrer Identität in der Unendlichkeit nähern. Daraus folgt: je >höher< der G e i s t >aufsteigtangeschaute Wirklichkeit Einzug in den Roman. Bezeichnenderweise tut sie das in enger Verflechtung mit den mythischen Denkbahnen, in denen der Roman funktioniert. Mythos und Gegenwart werden miteinander verflochten, um sich auf diese Weise der Existenz des Mythischen zu versichern. Die realistische Schilderung Gumperts als Amtmann 51 geht weit über einen Privatspaß des Autors hinaus. Sie hilft Mann, die Wirklichkeit mythischen Lebens und 4

' Tagebücher 1940-194), S. 1 5 2 - 1 5 5 . Ebd. S. 159. Briefe //, S. 139. Brief vom 23. März 1940. 11 So schreibt Annette K o l b an Mann nach der Lektüre des Romans (im Postscriptum eines Briefes vom 12.8.1944): »Gumpert, hab ich gleich erkannt.« (Thomas Mann. Briefwechsel mit Autoren, hrsg. von Hans Wysling, Frankfurt am Main 1988, S. 314).

49

289

E r l e b e n s zu v e r b ü r g e n u n d fur sich g l a u b h a f t auch in d e n letzten Teil seines R o m a n s z u tragen. S o stammt auch die v ö l l i g aus d e m R a h m e n des R o m a n f o r t g a n g s fallende G e s c h i c h t e v o n seiner »ersten L i e b e [...], die zug l e i c h m e i n e zweite w a r « (V, 1 3 1 4 ) , die d e r A m t m a n n in aller A u s f ü h r l i c h keit v o r t r ä g t , als J o s e p h an seinem B e s t i m m u n g s o r t e i n g e l i e f e r t w i r d , v o n G u m p e r t , w i e das T a g e b u c h b e z e u g t . ' 2 D a s C h a r a k t e r i s t i s c h e dieser T h o m a s M a n n als w i r k l i c h v o r g e t r a g e n e n G e s c h i c h t e ist, daß sich in ihr das G e s c h e h e n des L e b e n s w i e d e r h o l t . V o n G u m p e r t , an d e m M a n n schätzte, daß er nicht n u r » h o m o litteratus« w a r , s o n d e r n g l e i c h z e i t i g als A r z t tätig mitten i m L e b e n stand (vgl. I X , 4 } 8 ί £ ) , w i r d M a n n h i e r v o r g e f ü h r t , daß m y t h i s c h e s E r l e b e n n o c h

gegenwärtig

m ö g l i c h i s t . " K u r z d a r a u f kam T h o m a s M a n n n o c h eine S t u d i e K a r l K e Für den 21. September findet sich die Eintragung: »Vormittags einige Zeilem am neuen Kapitel. [...] Z u m Lunch außer Gumpert E v a Herrmann. G . erzählte drollig von seiner ersten Verliebtheit als izjähriger und wie er sich später unwissentlich in die Tochter der Damaligen verliebt.« (Tagebücher 1940—1943, S. 152) Den ersten Teil dieser Geschichte, die Thomas Mann in einer ägyptisierten Anverwandlung in den Roman einschreibt (vgl. V , 1 3 1 5 - 1 3 1 8 ) , schildert Martin Gumpert auch in seinem Buch Hölle im Paradies. Selbstdarstellung eines Arztes, Stockholm 1939 (Reprint Hildesheim 1983 = Exilliteratur Bd.17), S. 45f. Um den Vergleich zu ermöglichen, sei er hier zitiert: »...Träume gingen mir tagelang nach. Aber dieser bedeutsame, der mein Leben so entscheidend ändern sollte, war anderer Art. E s war ein farbiger, warmer Herbsttag gewesen und ich hatte mit meinem Freunde Heinz im Monbijoupark gespielt. [...] Als wir aus der Wohnung des Freundes in den Garten eilten, öffnete sich eine T ü r , und ich sah seine Schwester vor mir stehen. Sie hatte wohl ein neues Kleid anprobiert und ihre Arme waren nackt. Die Schwester hieß Grete. Sie war vier Jahre älter als ich, hatte blonde Zöpfe und klare, strahlende, blaue Augen. Es war ein sehr unbeachtlicher Vorfall, denn die Arme eines Mädchens waren mir kein ungewohnter Anblick. Der Traum: Ich war allein mit Grete S. in dem verbotenen Teil des Gartens. Wir küßten uns. Vom Dom her klangen feierlich die Glocken. Wir waren verlobt. Es war unbeschreiblich schön. In diesem Zustand, erfüllt, von einem Glücksgefühl völlig einziger Art, erwachte ich, kleidete ich mich an, ging ich zur Schule und erst, als der häßliche rote Backsteinbau vor meinen Augen auftauchte, wurde ich meiner traurigen Lage gewahr; ich war ein Schüler, ich kannte dieses Mädchen kaum, an eine Verlobung war gar nicht zu denken. Der Schock war nicht zu überwinden. Ich haßte mich, ich haßte die Schule, ich haßte meine jämmerliche Situation und alles, was der Wirklichkeit meines Erlebnisses im Wege stand.« " In seiner autobiographisch getönten Erzählung Der Geburtstag (Amsterdam 1948) formuliert Gumpert sein - Thomas Mann in bestimmter Hinsicht sehr ähnliches Lebensgefühl so: »Er glaubte an die Allgegenwart des Erlebnisses wie andere an die Allgegenwart Gottes. Es war da. Man mußte nur hinsehen. Es war so bunt und so viel faltig, daß es schwer fiel zu verweilen. Und verweilen mußte man, um 290

renyis ü b e r Das ägäische Fest ins H a u s , die diese m y t h i s i e r e n d e A u f f a s s u n g des L e b e n s n o c h bestärkte. S o f o r t v e r b i n d e t er sie mit der v o n G u m p e r t v o r g e t r a g e n e n u n d g l e i c h im R o m a n n i e d e r g e l e g t e n L i e b e s g e s c h i c h t e . D a heißt es: Im Mittelpunkt der Mysterien von Demeter und Persephone stand ein weibliches Paar als Ausdrucksform der ununterbrochenen Fortsetzung des Lebens: in der Doppelgestalt der Göttinnen war die Tochter nur die wiedergeborene Mutter, und diejenige, welche Mutter wurde, wurde es nur, um sich selbst wiederzugebären.' 4 D i e s e P a s s a g e liefert i h m den >Beweis< d e r E c h t h e i t m y t h i s c h e n L e b e n s . " Sie v e r b i n d e t >historischen< M y t h o s u n d erlebte G e g e n w a r t derart, daß er sie s o f o r t m i t » M a i - G u m p e r t « ' 6 v e r k n ü p f t . A n K e r e n y i schreibt M a n n : Fast war ich erschrocken, als ich in Ihrer Studie an die Stelle kam, wo eben von der antik-mystischen Idee der Identität von Mutter und Tochter (DemeterPersephone) die Rede ist. Denn an demselben Vormittag hatte ich in das gerade in Arbeit befindliche Kapitel des neuen Joseph-Bandes eine Anekdote eingeschlossen, in der jemand sich, ohne sie zu kennen, in die Tochter einer Frau verliebt, die er zwanzig Jahre früher als junges Mädchen geliebt hat. Ich fand die kleine Geschichte irgendwie passend, ohne zu wissen, warum. Als ich Sie las, merkte ich es.' 1 I n der ä g y p t i s i e r t e n V e r s i o n des R o m a n s w i r d das berichtete E r l e b n i s n o c h a u f die Z u k u n f t hin v e r t i e f t , d e n n M a i - S a c h m e schließt hier m i t d e n Worten, daß sich wohl sagen läßt, ich hätte sie schon geliebt in der Mutter, wie ich die Mutter wiederliebte in ihr. Sogar halte ich es für möglich und erwarte es gewissermaßen, daß, wenn ich nach abermals zwanzig Jahren durch Zufall der Tochter Nofrure's begegne, ohne es zu wissen, unweigerlich wieder mein Herz ihr zufallen wird, wie schon der Mutter und Großmutter und wird immer und ewiglich dieselbe Liebe sein. (V, 1318) seiner Schwerkraft bewußt zu werden, daß es einsinken und wurzeln konnte in Herz und Gehirn, sich wandeln konnte zu Erregung, Erfahrung, daß es eingehen konnte in den Kreislauf des Gefühls.« (S. 13) 14 Karl Kerenyi: Das ägäische Fest, Wiesbaden, 3. erweiterte Auflage 1950, S. 63. An anderer Stelle (S. 73) ist nochmals die Rede von den »zwei Göttinnen«, die Entfaltungen »der sich selbst wiedergebärenden Urgöttin sind«. Als solche verkörpern sie das »Urwissen[ ] von der Ewigkeit des Lebens.« " Zu den subtilen Unterschieden, die sich zwischen Kerenyis und Manns MythosVerständnis noch ausmachen lassen - »eine heikle Frage« - vgl. Hans Wysling: »Mythus und Psychologie« bei Thomas Mann. In: Dokumente und Untersuchungen. Beiträge %ur Thomas-Mann-Forschung, Bern/München 1974 ( = Thomas-Mann-Studien Bd.3), S. 167-180, hier S. 168. 56 In dieser mythischen, nämlich sowohl nach der fiktiven wie wirklichen Seite oszillierenden Zusammensetzung denkt Mann noch über drei Jahre nach Fertigstellung des Romans. In: Tagebücher 1946-1948, S. 3. Eintragung vom 28.5.1946. " Thomas Mann - Karl Kerenyi: Gespräch in Briefen, S. 94. Brief Manns vom 25.10.1940.

291

Es ist ein wesentlicher Charakterzug Mai-Sachmes, daß er seine Sinne wachhält für zukünftiges mythisches Erleben. Weil er fähig ist, der Wirklichkeit in diesem höheren, mythischen Maße gerecht zu werden, wird er schließlich auch zum Haushofmeister Josephs und vermag dessen Geschichte mitzugestalten. Die mythisch-metaphysische Quintessenz seiner Liebesgeschichte faßt Mai-Sachme in die Worte: Immer noch oder wiederum oder ewiglich - wer wäre dafür des rechten Wortes sicher? Es kommt auch nicht darauf an. (V, 1 5 1 5 )

Der Roman kommt derart seinem Streben nach, mythisch-metaphysisches Erleben in den vierten Teil hineinzutragen und auch in einer Zeit politisch turbulentester Fährnisse zu festigen. In der abgeschlossenen Vorwelt des Gefängnisses können auf dieser Basis des Wissens um die eigene Bestimmtheit die gedanklichen Leitlinien, die später den politischen Verlauf von Josephs Karriere prägen, im Kleinen erprobt werden. Es sind dies hauptsächlich die Idee der Auserwähltheit, die Vorsorge und das Wissen um Gut und Böse. Mai-Sachmes Geschichte, die zugleich sein Lebensverständnis spiegelt, dient nicht nur der Legitimierung der mythischen Idee, sondern setzt seine passive Erwartungshaltung - sein drittes Liebeserlebnis wird »vielleicht« und »möglicherweise« (V, 1319) kommen - auch Josephs aktiver Gestaltung seines mythischen Horizontes entgegen. Möglich wird Joseph diese über bisher Dagewesenes hinausgehende Befreiung vom Mythos, ohne sich von ihm zu trennen, durch die Formel, mit der er sich zu erkennen gibt und ohne die fortan sein Wirken nicht zu denken ist: »Ich bin's« (V, 1308 u.ö.).' 8 Psychologisches Ich-Sagen ermöglicht die individuelle Ausgestaltung des metaphysischen Lebensrahmens. In der Gleichsetzung von Ich und E s verbindet sich bislang Unvereinbares: Bewußtes und Unterbewußtes, Individuum und Kollektiv, Herausgehobenheit und Eingebundenheit, Schicksalsdeterminiertheit und Selbstbestimmung." Noch als er vor Pharao steht, wird Joseph seine Einzigartigkeit als eine herausstellen, die sich dem Musterhaften verdankt, ohne ihm unterworfen zu sein: >Ich bin's; denn ich bin's und bin's nicht, eben weil ich es bin, das will sagen: weil das Allgemeine und die Form eine Abwandlung erfahren, wenn sie sich im Besonderen erfüllen (V, 1421).'° !

* Vgl. zu dieser Joseph-Formel und Thomas Manns psychologischer und Schopenhauerscher Deutung von >Ich< und >Es< Eckhard Heftrich: Geträumte Taten, S. 118—129. " Vgl. etwa Diethmar Mieth: Epik und Ethik, S. 89: »Das Ich-sagen Josephs verbindet ihn mit dem Mythos und hebt ihn zugleich vom mythologischen Muster ab.« Vgl. dazu auch Eckhard Heftrich: Joseph und seine Brüder. In: Thomas-Mann-Handbuch, S. 471.

292

J o s e p h s F o r m e l » I c h b i n ' s « stellt die B e f r e i u n g aus d e m d e t e r m i n i s t i s c h e n S c h i c k s a l s k o n z e p t dar, d e m der R o m a n bisher unterlag. D a m i t b e w e g t er sich a u f einer anderen B e w u ß t s e i n s e b e n e als M a i - S a c h m e mit seiner letztlich d o c h fatalistisch e r g e b e n h a r r e n d e n H a l t u n g . D e m L e s e r w i r d das mit B l i c k auf den A m t m a n n ausdrücklich nahegelegt: was unter dem >es< zu verstehen war in der stets erschreckenden Formel >Ich bin'seisernen Druck< und >disziplinären Zwang< als einziges Heilmittel gegen die »kosmische Schlechtigkeit des Menschen« (XI, 921) empfehlen, stehen - ausgerechnet in Manns Essay Vom kommenden Sieg der Demokratie. Die Demokratie aber, der er da den kommenden Sieg verheißt, will er ausdrücklich nicht >demokratisch< verstanden wissen, denn: E s ist ungenügend, das demokratische Prinzip als Prinzip der Majorität zu bestimmen und Demokratie wörtlich — allzu wörtlich mit >Volksherrschaft< zu übersetzen, einem zweideutigen Wort, das auch Pöbelherrschaft bedeuten kann, - und das ist vielmehr die Definition des Faschismus. ( X I , 916)

Aus der Zusammenschau dieser Passagen läßt sich erschließen, worauf die autoritäre Staatskonzeption, die schließlich den politischen Rahmen von Joseph, der Ernährer abgeben wird, sich bezieht. Mann folgert sie aus seinem schopenhauerianisch-philosophisch begründeteten Pessimismus: der Mensch ist seiner Natur nach egoistisch und schlecht, und aller Glaube an Besserung im Diesseits ist haltloser Idealismus. Während »>Volksherrschaft*« den Versuch bedeutet, ohne den »Druck disziplinären Zwanges« auszukommen, der damit aber den Keim der faschistischen Entartung schon in sich trägt, ist der Kerngedanke der Demokratie-Auffassung, die Thomas Mann dieser Gefahr entgegenstellt, ein Humanismus des Trotzdem: Demokratisch nämlich sei, daß man trotz des Wissens um die »Schlechtigkeit des Menschen [...] an der Würde des Menschen grundsätzlich festhält und an die Möglichkeit seiner Erziehung glaubt.« (XI, 921) Politisch läßt sich diese Definition mühelos dahin weiterverfolgen, daß Demokratie und Aristokratie sich im Grunde sehr nahestehen: Dies nun ist der Augenblick einzusehen, daß der Gegensatz von Demokratie und Aristokratie dem Leben nur mangelhaft gerecht wird; das eine ist nicht immer das echte Gegenteil des andern. Wenn Aristokratie wirklich und immer >Herrschaft der Guten, der Besten< bedeutete, dann wäre sie das Wünschenswerteste, weil sie genau das wäre, was wir unter Demokratie verstehen. (XI, 923) Fragen [...] dem Pessimismus eines durch Schopenhauers Schule gegangenen Geistes« (X, 397) abgerungen ist. 299

U n d positiv f o r m u l i e r t lautet diese E r k e n n t n i s dann: D i e wirkliche D e m o k r a t i e , wie wir sie verstehen, kann niemals eines aristokratischen Einschlags entbehren (XI, 924). E s l o h n t sich, diesen G e d a n k e n g a n g a u c h einmal r ü c k w ä r t s , a u f seine E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e hin, zu v e r f o l g e n . D e n n dann erweist sich, d a ß M a n n s g e i s t e s a r i s t o k r a t i s c h e s D e m o k r a t i e v e r s t ä n d n i s - w i e es s c h l i e ß l i c h a u c h Joseph, den Ernährer

p r ä g t - sich d i r e k t aus s e i n e n p h i l o s o p h i s c h e n P r ä m i s s e n

h e r l e i t e t . A n g e s i c h t s d e s F a s c h i s m u s v e r m a g er n ä m l i c h d i e G e w a l t als » d i e e r d r ü c k e n d e u n d in der E r f a h r u n g meist das Feld b e h a u p t e n d e

Materie«

( X I , 915) zu k e n n z e i c h n e n , w o h i n g e g e n »das R e c h t n u r eine Idee«

(XI,

9 1 5 ) sei, » z u m B e i s p i e l « v o n » F r e i h e i t u n d W a h r h e i t . « ( X I , 9 1 5 ) N a c h d i e s e r Idee n u n k ö n n e d e r M e n s c h streben - w a s ihn recht eigentlich erst ausmache: E s ist ein mit geistiger Natur und elementarer Sprengkraft geladener K o m p l e x untrennbarer A r t , - man nennt ihn das Absolute. D e m Menschen ist das A b s o l u t e gegeben [...]. Er ist ihm verpflichtet, sein Wesen ist nach ihm gerichtet; und im menschlichen Bereich nimmt sich die wahrheitswidrige, freiheitsfeindliche und rechtlose Gewalt darum so subaltern, so verächtlich aus, weil sie ohne G e f ü h l und Verstand ist für die Verbundenheit des Menschen mit dem A b s o l u t e n ( X I , 915f.). M a n entdeckt hier die mittlerweile schon bekannte A r g u m e n t a t i o n : sichts des Faschismus

kann der M e n s c h wertend G u t

und Böse

Angewieder

b e s t i m m e n und das G u t e eindeutig mit der Rolle des G e i s t i g e n verbinden.69 A u s diesem -

antifaschistischen -

Beweggrund

a u c h ist D e m o k r a t i e

M a n n identisch m i t Geist, u n d e r g o mit der Idee des Rechts u n d

für dem

Streben nach d e m Absoluten. Woraus folgt: Sie sehen, meine D a m e n und Herren, ich will dem N a m e n der Demokratie einen sehr weiten Sinn geben, einen viel weiteren, als der rein politische K l a n g dieses N a m e n s zunächst vermuten läßt, denn ich knüpfe ihn an das Menschlichste, an die Idee und das A b s o l u t e ( X I , 916).

69

Vgl. zum sich politisierenden G e i s t b e g r i f f in Vom kommenden Sieg der Demokratie B o r g e Kristiansen: Schopenhamrsche Weltsicht und totalitäre Humanität im Werke Thomas Manns. In Schopenhauer Jahrbuch 71 (1990), S. 97—123, hier S. i o i f . K r i stiansen weist an dieser Stelle nach, warum T h o m a s Mann mit diesem Versuch, Schopenhauer idealistisch umzudeuten, letztlich doch in dessen Gedankenbahnen verhaftet bleibt: weil nämlich das G u t e aus dem Bösen erklärt wird, das, antiaufklärerisch, im Essay ontologisch begründet wird und somit letztlich als unüberwindbar gilt. »Das sind Fragen, die sich dem aufmerksamen Leser der politischen Schriften T h o m a s Manns aufdrängen, aber interessanterweise ohne daß sie in diesen Schriften selbst eindeutig beantwortet wären. [...] E s ist dies eine Fragestellung, die weitgehend dem dichterischen Werk vorbehalten ist« (S. io2f.).

300

Mit dem Absoluten hält hier die Metaphysik Einzug in die politischen Orientierungsbemühungen Manns. Faschismus und Anti-Faschismus ordnen sich auf diese Weise nahtlos dem dualistischen Prinzip der Welt ein, das die Handlungs- und Beurteilungsdimension Thomas Manns und des Joseph-Romans bestimmt. Jener wird mit >Gewalt< konnotiert und mit der Welt des Faktischen und der Erfahrung zusammengedacht. Dieser hingegen entspricht der Welt der >Ideendemokratisch< im originär-politischen Sinn nennen kann, 71 dennoch als ein konkreter Gegenentwurf zum Faschismus angelegt ist. Diese Konkretheit aber verdankt sich, drittens, weniger einem politischen Gegenkonzept als vielmehr einem ™ Vgl. z.B. die Tagebuchüberlegung: »Aber man muß sich klar darüber sein, daß, staatlich-historisch genommen, die deutschen Vorgänge positiv zu werten sind [...]. Die Republik wollte - im Tiefsten - Staat und Kultur in Deutschland versöhnen, Elemente und Sphären, einander fremd bei uns seit je. Es mißlang gänzlich. [...] aber man muß erkennen, daß die Mächte der geistfeindlichen Roheit die historischen Aufgaben an sich genommen haben und mit einer Energie, an der es der Republik vollkommen gebrach, durchführen.« (Tagebücher 19}}-I9)4, Eintragung vom 12.5.1933, S. 8jf.) 11 Auch Reinhard Baumgart: Vorsichtiges Märchen, stockkonservativ. In: F A Z vom 13.2.1981, betont mit Blick auf die Gesellschaftsidee des Joseph-Romans, er »halte dieses Buch, das so lange als die Bibel der vernünftigen, humanistischen Fortschrittsgesinnung seines Autors galt, für das lückenloseste Dokument seines unaufhebbaren, vaterhörigen Konservativismus. Nicht nur ein Patriarchenroman ist das, sondern ein patriarchalischer. Gesorgt wird da immer von oben nach unten, gedient von unten nach oben. Jeder hat seinen Platz in der Hierarchie der Gesellschaft, und dort möge er bleiben.« 301

erneuten Rekurs auf Manns philosophische Prämissen, aus denen heraus er unter dem Deckmantel der Demokratie ein staatsdirigistisches Handlungsmodell entwirft. So weltlich und politisch Joseph auch handelt - die Initiation für dieses Handeln ist metaphysischer Herkunft. Genauso verhält es sich mit den politischen Versuchen Thomas Manns: Wie unmittelbare Wirkung sie auch erzielen mögen - ihren Argumentationsgrund stellt die Sphäre des »Absoluten« dar. Wie politologisch ungesichert und allein vom humanen Gedanken und metaphysischer Idee zusammengehalten Manns Demokratie-Begriff ist, wird noch deutlicher, wenn man den öffentlichen Verlautbarungen, in denen er die gesinnungsmäßig mögliche Identität von Demokratie und Aristokratie nahelegt, durch Tagebuch-Aufzeichnungen ergänzt. Dort kommt nämlich noch eine Staatsform ins Spiel: Gespräch über Diktatur als Staatsform des 20. Jahrhunderts und die Belastung der Idee durch groben, weltbeleidigenden Unfug in Deutschland. 72

In die gleiche Bresche schlägt die rhetorische Frage: Was bleibt also übrig als die Links-Diktatur? Die Demokratie darf nur für Demokraten gelten, oder es ist aus mit ihr. Ich habe in Budapest schon das richtige Wort gesagt, als ich von »militantem Humanismus« sprach, - ich wunderte mich über den außerordentlichen Beifall. - [...] Der Liberalismus als politisches Prinzip ist wirklich tot - es ist nicht einmal so, daß erst die Fascisten darüber belehrt hätten. Daß eine aufgeklärte Diktatur das Wünschenswerte sei, schrieb ich schon anfangs der 20er J a h r e . "

Auch daraus geht hervor: Der Faschismus prägt Manns Politik-Konzept nicht originär, so daß aus dieser Erfahrung ein seinem Gehalt nach neues Demokratieverständnis hätte erwachsen können. E r ist ihm vielmehr Bestätigung dessen, was er a priori und ohnehin schon wußte. Die Idee einer aufgeklärten Diktatur, keineswegs neu, aber neu firmierend unter dem Namen der Demokratie, ist es, die er mit einer großen Gestalt zusammendenkt: dem amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt, dessen »Hermesnatur« ( X I I , 942) und Politik des New Deal, wie Mann selber erläutert, Pate gestanden habe für Josephs Wirtschaftspolitik. 74 Privat, auch brieflich, fällt in diesem Zusammenhang des öfteren der Begriff >DiktaturHerrn des unterirdischen Schafstalls< kennt. (V, 1761)

Nicht an Theologen wendet sich Mann also vorrangig, sondern an »StaatsMoralisten« offensichtlich demokratischer Couleur, die solche Herrschaft grundsätzlich verneinen, ohne zu erkennen, daß sie auch menschenfreundlich sein könne. Charakteristisch darüber hinaus ist die stete Parallelisierung zu unserer Zeit, die die Aktualität des im Roman vorgeführten Herrschaftsdiskurses bezeugt: »Aus begreiflichen Gründen« habe Joseph »die Worte >Sklaverei< und >LeibeigenschaftDemokratie< Wirklichkeit werden lassen muß, läßt erkennen, daß es sich im Roman nicht um eine Utopie handelt, die sich im bloß Märchenhaften erschöpft. Dies wäre - für Thomas Mann - eben gerade die Demokratie gewesen. Josephs eigentliche Aufgabe ist es, mit politischer Wirkkräftigkeit einer geistigen Tradition zum Weiterleben zu verhelfen. Wie sich schon im Vorspiel in Oberen Rängen die Säkularisierung Gottes mit dem Ziel einleitete, einst wieder in Transzendenz zu münden, so gestaltet Joseph auch seine Rolle. Die »Zeit der Erlaubnisse« (V, 1519), seine »Staatsheirat« (V, 1514), die Ausgestaltung seiner eigenen weltlichen Geschichte, wie er sie mit MaiSachme immer wieder diskutiert (vgl. V, 1590, 1592, 1596, 1621), alles ist darauf berechnet, metaphysischer Sinnhaftigkeit wieder ihren Platz zu verschaffen. Der Erzähler stellt diese Erkenntnis seiner Schilderung der politisch-säkularen Maßnahmen Josephs voran: Vgl. Borge Kristiansen: Ägypten als symbolischer Raum der geistigen Problematik Thomas Manns, S. 31 f. So urteilt auch Sigrid Mannesmann: Thomas Manns RomanTetralogie »Joseph und seine Brüder« als Geschichtsdeutung, Diss. Göppingen 1 9 7 1 , es dürfe »der Josephs-Roman als generelle Selbstrevision beurteilt werden, für die die Extremität der geschichtlichen Gegenwart zündend wirkte.« (S. 259) Dort auch ein Vergleich zwischen Manns Position seit den Betrachtungen eines Unpolitischen bis in die Zeit von Joseph und seine Brüder (S. 258—274).

3'3

Seine Rolle und Aufgabe im Plan war die des in die große Welt versetzten Bewahrers, Ernährers und Erretters der Seinen, wie wir sehen werden, und alles spricht dafür, daß er sich dieses Auftrags bewußt war, ihn jedenfalls im Gefühl hatte und seine weltlich verfremdete Lebensform nicht als die eines Ausgestoßenen, sondern eben nur als eines zu bestimmten Zwecken Abgesonderten verstand (V, 1520). Politik und Metaphysik sind in diesem Stadium der Menschheitsgeschichte aufeinander hingeordnet: Aber gibt es eine religiösere Beschäftigung als das Studium des Seelenlebens Gottes? Einer höchsten Politik mit irdischer Politik zu begegnen ist unerläßlich, will einer durchs Leben kommen. (V, 1 ; 54) Daß diese allgemein gehaltene Sentenz autobiographischen G r u n d hat, ist offensichtlich. W i e bisher zielt alles Geschehen auf einen metaphysischen Ursprung und ein metaphysisches Ziel, nur daß dieses Ziel jetzt über den U m w e g der Verweltlichung erreicht werden muß. Das Kapitel Von den wässerigen Dingen (V, 1 5 7 7 ) ) das v o n den Jahren der Hungersnot berichtet, entwickelt aus einer Schilderung des Natur-Kreislaufs eine Philosophie der Zeitlosigkeit: E s gibt Uberordnungen im All, welche den königlichen Ruhestand der Sonne zu untergeordneter Bewegung aufheben, und die so einflußreichen Flecken in ihrem Schilde sind selbst ein Warum, von dem nicht anzunehmen ist, daß sein endgültiges Weil, bei dem sich ruhen ließe, in jenen Uber-Systemen oder abermals übergeordneten liege. Das End-Weil liegt oder thront offenbar in einer Ferne, die bereits wieder Nähe ist, da in ihr Ferne und Nähe, Ursache und Wirkung eines sind (V, 1639). So wie hier, einleitend ins sechste Hauptstück, exemplarisch gezeigt wird, daß die N a t u r dem Erzähler sinnhaft erst wird, wenn ihr Ursprung ins Metaphysische zurückgedacht ist, fuhrt auch der Roman, nachdem er der säkularisierten Gottesidee mit Joseph, dem Ernährer vorübergehend hat Aufmerksamkeit zuteil werden lassen, wieder in jene transzendentalen G e filde zurück. Zentral in diesem Zusammenhang ist das fünfte Hauptstück mit der Thamar-Geschichte. Sie führt vor, daß der Weg zum metaphysischen Heil notwendig nur über den U m w e g der Säkularisation erfolgen kann. 9 ' D a ß hier eine Frau, das Geschlecht also, das im R o m a n g e f ü g e bisher immer die Seite des >Lebens< vertritt, aus »geistlicher Strebsamkeit« (V, 1 5 3 8 ) in die Heilslinie drängt, 9 2 markiert die weltliche Wendung

zur

Transzendenz.

' ' Vgl. Werner Frizen: Zaubertrank der Metaphysik, S. 4 1 1 - 4 1 3 : Thamar als Spiegelung von Schopenhauers Frauenbild, welches in ihr zum Bewußtsein seiner selbst gelangt. ' 2 Vgl. Henry A . Carlebach: » Thamar« bei Thomas Mann und im jüdischen Schrifttum. In: Monatshefte. A journal devoted to the Study of German languages and literature, 3*4

Z w a r ist die R e d e v o n i h r e m »Trieb z u m G e s c h i c h t l i c h e n « ( V , 1 5 6 6 ) , u n d es heißt es v o n ihr: Thamar war fest entschlossen, sich, koste es, was es wolle, mit Hilfe ihres Weibtums in die Geschichte der Welt ein2uschalten. (V, 1558) J e d o c h ist charakteristisch, daß m i t der » G e s c h i c h t e « g e r a d e nicht die politische g e m e i n t ist, s o n d e r n die einzig l a n g l e b i g e , n ä m l i c h a u f den metap h y s i s c h e n Z i e l p u n k t des m e n s c h l i c h e n D a s e i n s g e r i c h t e t e >Heilsgeschichtewirklichen< V o r b i l d , nämlich T h o m a s M a n n s a m e r i k a n i s c h e r G ö n n e r i n A g n e s E . M e y e r , 9 5 b e r u h t , unterstreicht n o c h e i n m a l die B e d e u t u n g , die M a n n d e m B e m ü h e n b e i m a ß , die S o r g e u m s I r d i s c h e schließlich in m e t a p h y s i s c h e S o r g e m ü n d e n zu lassen. E b e n s o w i e ihr literarisches E b e n b i l d suchte sie, als F r a u , nach E i n b i n d u n g in die g e i s t i g e n P r o z e s s e der Z e i t . 9 4 W i e b e i m V o r b i l d

Martin

G u m p e r t und w i e a u c h bei R o o s e v e l t , d e m M o d e l l J o s e p h s als P o l i t i k e r , g e l i n g t in dieser F i g u r , w a s M a n n s H a u p t a n l i e g e n w a r : G e s c h i c h t e so zu b e g r e i f e n , daß aus d e r irdischen N u t z a n w e n d u n g ein g e i s t i g e r Vorteil ents p r i n g t . A u f s c h l u ß r e i c h f u r T h o m a s M a n n s A b s i c h t e n sind die U n t e r s c h i e vol. X X X I X , April 1947, S. 237-247, hier S. 238. Ferner Eike Middell: So^ialutopie und »Gottessorge« in »Joseph, der Ernährer«. In Brandt, Kaufmann (Hg.): Werk und Wirkung Thomas Manns in unserer Epoche. Ein internationaler Dialog, Berlin (Ost)/Weimar 1978, S. 229-248, hier S. 242-246 - Thamar als Repräsentantin dessen, »was Thomas Mann selbst als Epochennotwendigkeit empfand« (S. 243). Middell allerdings zeichnet nur andeutend nach, daß diese »Epochennotwendigkeit« sich gerade bei Thamar auf geistige Sorge (»Gottessorge«) beschränkt, in der ihre »Fortschrittsidee« ganz aufgeht. Die »Sozialutopie« (S. 240) des Romans läßt gerade diese Figur außer acht. " Vgl. die Einleitung Hans Rudolf Vagets (Hg.) in: Thomas Mann - Agnes E. Mejer. Briefwechsel, S. 5 - 7 1 , hier S. 8. 94 Auch Agnes Meyer war sich bewußt, wie sehr eine solche Haltung als revolutionär zu gelten hätte. A n Mann schrieb sie am 7. April 1942 über ihre Vorstellung der zukünftigen Rolle der Frau: »der Spalt zwischen dem Sinnlichen und dem Sittlichen wäre dadurch geheilt und der Begriff der Ewigkeit dem Leben näher gebracht. Das Faust Thema (und Zauberberg) wo die Frau als Instrument des Teufels angesehen wird und der Autor überhaupt nur an Seeligkeit als etwas »männliches« glauben kann, wäre überwundene Romantik...« (Thomas Mann Agnes E. Meyer. Briefwechsel, S. 384).

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de zwischen seiner Thamar und der Thamar der biblischen Überlieferung. Henry A. Carlebach hat sie herausgearbeitet. Zunächst ist bedeutsam, daß im Roman Thamar als kanaanitische Baalstochter gezeichnet ist, wovon in der Bibel nicht die Rede ist. Das ist nicht nur »künstlerisch bedeutend reizvoller«, wie Carlebach meint,9' sondern hat tiefere Gründe. Es ist nämlich charakteristisch für die Zeitverhaftung von Manns Darstellung, weil er dadurch die jüdische Tradition kosmopolitisiert. Thamar, die Vorläuferin Shilos, des Friedenbringers,96 kommt ausdrücklich nicht aus dem eigentlich metaphysisch und zur Gotteserkenntnis begabten Stamm. So gelingt es dem Erzähler, die Heilslinie sich ausdrücklich fortsetzen zu lassen jenseits jedes nationalen Auserwähltheitsdünkels, wie ihn etwa Oskar Goldberg propagierte. Eng damit verbunden ist ein zweiter Umstand. Thamar befindet sich nicht von Anfang an auf >ihrem< Weg, sondern gestaltet ihre Teilnahme am >Hauptgeschehen< (vgl. V, 1558) aktiv.''1 In der jüdischen Uberlieferung hingegen bleibt sie weithin passiv.9' Auch damit demonstriert der Roman nachhaltig die Möglichkeit des Menschen, sein Schicksal nicht mehr nur fatalistisch zu erleiden, sondern es selber zu formen. Gottesgelehrig wie sie ist, weiß Thamar im Roman - entgegen der biblischen Uberlieferung - um das Geheimnis, wer einst der Segensträger sein wird. Dadurch gewinnt »das ganze Treiben Thamars [...] Bedeutung«.99 Das läßt sich hinsichtlich der Romanabsicht noch konkretisieren: Der Mythos, das Geheimnis, das die Romanfiguren gemeinhin derart umfängt, daß etwa selbst Juda nichts von seiner künftigen Erwählung ahnt, wird für sie transparent, berechen- und damit behandelbar. Indem sie von der Vergangenheit hört, kann sie, im doppelten Sinne des Wortes >Einst< (vgl. V, χ 5 5 5f.), der schon in der Höllenfahrt thematisiert wurde (vgl. IV, 32), auf die Aufgaben der Zukunft schließen. Der politisch aktuelle Sinn dieser Zukunftsgestaltung aus den metaphysischen Wurzeln der Vergangenheit wird offensichtlich, wenn der Erzähler diejenigen, die sich diesem Wesen der Welt nicht zugänglich zeigen, »frömmlerisch« nennt »statt fromm« (V, 155;) und über Thamars " Henry A . Carlebach: »Thamar« bei Thomas Mann und im jüdischen Schrifttum, S. 240. 96 Vgl. V , 1556. Uber die Gespräche zwischen Jaakob und Thamar heißt es da: »Er sprach ihr von Shiloh.« Vgl. ferner Tagebücher 1940-194}, S. 337. Eintragung vom 24.10.1941. 97 Die Thamar-Geschichte ist hier auch analog der biblischen Geschichte der moabitischen Ruth gestaltet, die, aus politischen Gründen, zur Urgroßmutter Davids wird und sich ebenso »in die Königslinie >einschalteteDas GesetzJoseph und seine Brüden. In: Bludau, Heftrich, K o o p m a n n (Hg.), S. 659—676. - Geträumte Taten. »Joseph und seine Brüder«. Uber Thomas Mann Bd.), Frankfurt am M a i n 1993 (= D a s Abendland; N . F . 21). -

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