Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns »Doktor Faustus« 9783110911718, 9783484321052

Although parody is central to the famous 'encounter with the Devil', the 'ironical German''s no

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German Pages 215 [216] Year 2001

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Table of contents :
Einleitung
I Funktionswandel der Parodie vom Gattungsbegriff zur Schreibweise
1 Parodie als Gattungsbegriff
2 Parodie als Bezeichnung einer spezifischen Schreibweise moderner Literatur
II Doktor Faustus und die parodistische Schreibweise
1 Thomas Mann und die Parodie im Kontext der Forschung
2 Die Diskurse des Erzählens oder: Die Selbstaufhebung des Erzählers im Spiel der parodistischen Selbstkommentierung
3 Die Diskurse des Ästhetischen – oder: Der Weg aus der Krise der Kunst im Zwiespalt von Theorie und Praxis
Schlußbemerkung
Literaturverzeichnis
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Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns »Doktor Faustus«
 9783110911718, 9783484321052

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 105

Inken Steen

Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns »Doktor Faustus«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 2001

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Steen, Inken: Parodie und parodistische Schreibweise in Thomas Manns »Doktor Faustus« / Inken Steen. - Tübingen: Niemeyer, 2001 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte; Bd. 105) Zugl.: Tübingen, Univ., Diss. ISBN 3-484-32105-9

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2001 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Linsen mit Spektrum, Mössingen Druck: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt Einband: Industriebuchbinderei Nadele, Nehren

Inhalt

Einleitung

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I

Funktionswandel der Parodie vom Gattungsbegriff zur Schreibweise

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Parodie als Gattungsbegriff Parodie als Bezeichnung einer spezifischen Schreibweise moderner Literatur 2. l Annäherung an eine Begriffsbestimmung von Moderne und Postmoderne 2.1.1 Friedrich Nietzsche und der Doppelcharakter der Parodie 2.1.2 Die Moderne als Kategorie zwischen ästhetischem Bewußtsein und Epochenbegriff 2.1.3 Kunst am Ende der »Traditionen« 2.1.4 Kunst und postmoderne Potentialität 2.2 Die parodistische Schreibweise im Kontext von Moderne und Postmoderne 2.2. l Dialogizität und Maske: Die parodistische Vergegenwärtigung der literarischen Tradition bei Michail M. Bachtin 2.2.2 Die Schreibweise und ihre Textvorlage 2.2.3 Parodie als selbstreflexive Schreibweise 2.2.4 Inter- und Intratextualität 2.2.5 Metafiktionalität, Metakommentar und Selbstparodie 2.2.6 John Barth: Kunst zwischen Erschöpfung und Erneuerung

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II Doktor Faustus und die parodistische Schreibweise

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1 2

59

Thomas Mann und die Parodie im Kontext der Forschung Die Diskurse des Erzählens oder: Die Selbstaufhebung des Erzählers im Spiel der parodistischen Selbstkommentierung 2. l Die Bewegung des uneigentlichen Sprechens Wendell Kretzschmar und die Diskurse des Erzählens

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2.1.1 Vor dem Erzählen liegt das zu Erzählende - Die Bildung narrativer Leerstellen durch den Erzähler Zeitblom 2.1.2 Der ästhetische Diskurs als Verweigerung einer ästhetischen Theorie 2.1.3 Kontraproduktives Erzählen - Die Maske des Lächerlichen als Paradigma der Uneigentlichkeit der Rede 2. l .4 Der Wissenschaftler als Lehrer im Vexierbild des Biographen als Erzähler 2.2 Maskenhafter Realismus - Serenus Zeitblom und die Diskurse des Erzählens 2.2.1 Der Erzähler als Biograph 2.2.2 Der Erzähler als Künstler 2.2.3 Der Erzähler als Idee

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2.2.4 Über eine Theorie der Parodie: Der Brief als Widerlegung des für Objektivität bürgenden Dokumentarischen Die Diskurse des Ästhetischen - oder: Der Weg aus der Krise der Kunst im Zwiespalt von Theorie und Praxis 3.1 Prolegomena: Der Künstler zwischen Tradition und Moderne . . . Exkurs: Anmerkungen zum »Traditionalismus« von Thomas Mann . . . . 3.2 Die Kompositionen als Selbstparodien des Romans 3.2. l Die Brentano-Gesänge: Die Restituierung mythischer Einheit im Widerspruch zur Theorie des »strengen Satzes« 3.2.2 Die Komödie Loves Labours Lost: Das intratexruelle Vexierspiel im Geist der Selbstparodie 3.2.3 Über eine Theorie der Parodie: Das Teufelsgespräch als Umschlag vom ästhetischen Diskurs in die Diskurse der Bedeutungen . . . . 3.2.4 Die Gesta Romanorum: Die Selbstbeschreibung des Erzählens als parodististische Vergegenwärtigung 3.2.5 Die Apocalipsis cum figuris: Der Erzähler als Saboteur des Erzählens 3.2.6 Dr. Fausti Weheklag: Die Unhintergehbarkeit der parodistischen Schreibweise

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Schiußbemerkung

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Literaturverzeichnis I. Quellen II. Sekundärliteratur

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VI

»Da ist's vorbei!« Was ist daran zu lesen? Es ist so gut, ab war es nicht gewesen, Und treibt sich doch im Kreis, als wenn es wäre. Ich liebte mir dafür das Ewig-Leere. Johann Wolfgang von Goethe Es gibt keine intellektuelle Tat, die nicht im Endeffekt nutzlos wäre. Jorge Luis Borges

Einleitung

Am 29. Oktober 1944 notiert Thomas Mann in sein Tagebuch über die Montage als Konstruktionsprinzip: »Ist in der Praxis peinlich, und nur geistreiche Absorption durch die Komposition kann die Anleihe rechtfertigen.«1 Thomas Mann ist ein professioneller Monteur und ein ausgewiesener Meister in der Kunst des »höheren Abschreibens« - kaum ein Element seines Romans Doktor Fatutus, das sich nicht in einem anderen Kontext wiederfinden ließe, kaum ein Gedanke, der nicht auf einen älteren zurückzuführen wäre. Anlaß genug für Legionen von Interpreten ganz im Sinne von Leverkühns Vater Jonathan »mit einer gewissen verschleierten Bemühtheit« (S. 22), aber unermüdlichen Faszination dem Zweideutigen nachzusinnen. Diese Offenheit des Romans erlaubt es dann, ihn einmal als Widerlegung der Kunstdoktrin der Weimarer Klassik2 zu deuten und geradezu konträr ihn ein andermal als Wiedereinsetzung ihres Heiterkeitspostulats3 zu interpretieren. Die meisten Analysen orientieren sich an den Quellen, der Intertextualhät des Romans. In der vorliegenden Arbeit spielen diese Quellen keine Rolle, da zu zeigen sein wird, wie sich die parodistische Schreibweise auf der intratextuellen Ebene des Romans entfaltet. Im ersten Teil werden daher jene Begriffe erarbeitet, die dann die Interpretation leiten, ohne daß ihr textexterner Kontext störend Einfluß nähme. Die Parodie muß von ihren gattungsspezifischen Determinationen befreit werden, um als parodistische Schreibweise die Multiperspektivität des Romans zu konstituieren. Ihr Charakter des Bezugnehmens, aus dem sich die Metatextualität des Romans entwickelt, steht im Mittelpunkt der Untersuchung - nicht eine Theorie der parodistischen Schreibweise. Jenseits aller normierenden Gattungsbegrenzungen gilt es die parodistische Schreibweise als Medium eines selbstreflexiven Schreibens zu entdecken,

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3

Thomas Mann, Tagebücher. Bd. 6. Hrsg. v. Inge Jens. Frankfurt a. M. 1986. S. 307. Helmut Koopmann, Doktor Faustus als Widerlegung der Weimarer Klassik. In: Ders. Der schwierige Deutsche. Studien zum Werk Thomas Manns. Tübingen 1988. S. 109124. Helmuth Kiesel, Reklamadon der Heiterkeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Sonderdruck. 64 (1990) Heft 4. S. 726-743-

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das seine Potentialität aus der Selbstbezüglichkeit des Textes schöpft und dessen komplexe Sekundärstrukturierung aufdeckt. Diese gestalterische Potentialität der parodistischen Schreibweise erhält im Diskurs der Postmoderne eine exponiertere Stellung. Zuvor wurde sie der blanken Negation verdächtigt, ein Urteil, das auch der Künstler Leverkühn teilt. Doktor Faustus thematisiert die Endzeitlichkeit der Kunst der Moderne, aber mit Hilfe der parodistischen Schreibweise wird der konstatierte Erschöpfungszustand subversiv hintergangen. Leverkühn fürchtet die Sterilität des Epigonentums am Ende einer Musiktradition, die der Originalität keinen Spielraum mehr läßt. Im Horizont der Negation entfaltet sich im Doktor Faustus ein beziehungsreiches Spiel aus Rede und Gegenrede, das den Gedanken der Originalität desavouiert. In der Reflexion über die Entstehungsbedingungen der Kunst wird das genuine Konstruktionsverfahren des Romans enthüllt. Im ersten Teil der Arbeit, der das Spannungsverhältnis von Moderne - Parodie - und Postmoderne thematisiert, wird der theoretische Hintergrund erarbeitet, der für die Textanalyse konstituierend ist, um die perspektivische Verfaßtheit des Romans zu ergründen und darzustellen. Die Multiperspektivität des Doktor Faustus erlaubt es und verführt geradezu, den Roman unermüdlich zu reinterpretieren. Und so hat sich ein Berg an Sekundärliteratur aufgetürmt, den man nicht ignorieren kann. Rekurrierend auf den erzählerischen Diskurs, der sich weitgehend an der Figur des Biographen Zeitblom orientiert, läßt sich das Scheitern jeder auf Eindeutigkeit zielenden Argumentation einleuchtend nachweisen. Zehbloms »Ver-lesen« spiegelt sich so auch im »Ver-lesen« der Interpreten. Bisher wurde der Roman Doktor Faustus^ der als das ernsteste Buch des »ironischen Deutschen«4 gilt, selbst nur der Anschein der Parodie aberkannt, obgleich die Diskussion über die Parodie das Teufelsgespräch zentral bestimmt und in anderen Werken Thomas Manns anspielungsreiches Parodieren immer wieder bewundert wurde. Das Verdikt des Teufels über den »aristokratischen Nihilismus« (S. 326) der Parodie verbunden mit den suggestiven Äußerungen Manns über sein Werk als »Bekenntnis und Lebensopfer durch und durch«5 haben die selbstinterpretativen Kräfte des Romans bisher mit einem Bann belegt. Der zweite Teil dieser Arbeit zeichnet auf den unterschiedlichen Romaneben die Bewegung der Uneigentlichkeit des Sprechens nach. Die Diskurse des Erzählens dienen zur Reflexion über die Modalitäten des Schreibens. Doch zunächst ver-

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Erich Heller, Thomas Mann. Der ironische Deutsche. Frankfurt a. M. 1959. Thomas Mann, Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans. Frankfurt a. M. 1984. S. 63.

schwinden sie hinter der Maske eines konventionellen Erzählers und Biographen, der mit unfreiwillig selbstparodistischen Metakommentaren diese Maske des Realismus als Schein entlarvt. Während auf der erzählerischen Ebene Zeitblom über die kunsttheoretischen und ethischen Bedingungen seines Tuns nachsinnt, reflektiert auf der ästhetischen Ebene Leverkühn über die verbleibenden Möglichkeiten der modernen Kunst angesichts der Polarität von Esoterik und Epigonentum. Der ästhetische Diskurs entzündet sich am Zwiespalt von Theorie und Praxis. Der Künstler Leverkühn sieht sich gefangen im »Kanon des Verbotenen«, des »Verbrauchten Clichös« (S. 322), doch seine Kompositionen, die aus dem Fundus der Kulturtraditon hemmungslos schöpfen, erproben musikalisch die nur noch erstarrten Konventionen abzuschütteln, um zu einer Naivität zweiten Grades zu gelangen. Aus dem Wechselverhältnis zwischen den musikalischen Ambitionen Leverkühns und der sprachlichen Verfaßtheit des Romans entspinnt sich die Selbstreflexivität des Romans. Dienen also die musiktheoretischen Überlegungen allein als Vorwand, um am Ende aller Kunstproduktion doch noch erzählen zu dürfen? Die Kompositionen Leverkühns fungieren als Selbstparodien des Romans. Sie begleiten mal spöttisch kommentierend das Geschehen, bilden dann wieder einen kontraproduktiven Gegenpol zum ästhetischen Diskurs Leverkühns und führen schließlich das Scheitern des Erzählers vor, über den das Erzählte siegt. Die parodistische Schreibweise weist einen Weg aus der Krise der modernen Kunst jenseits eines esoterischen Avantgardismus und bloß imitativen Epigonentums.

I Funktionswandel der Parodie vom Gattungsbegriff zur Schreibweise

Der Begriff der Parodie, sei es als Gattungsname, sei es als Synonym für ein bestimmtes literarisches Verfahren, ist theoretisch kaum erforscht. In ihrer Vorbemerkung zu einer der wenigen literaturwissenschaftlich orientierten Untersuchungen zur Parodie1 sehen sich die Autoren Theodor Verweyen und Günther Witting denn auch vor entsprechende Schwierigkeiten gestellt: »Es ist gewiß ein etwas riskantes Unterfangen, eine >systematische Einfuhning< in einen Gegenstandsbereich zu versprechen, über den zum Teil nicht einmal elementare Übereinstimmungen bestehen.«2 Parodie galt und gilt oftmals als triviale literarische Gattung, weder originell noch originär und, daraus resultierend, als ästhetisch nicht sonderlich relevant und interessant. So führte die Parodie im Gegensatz zur Satire zumeist ein Schattendasein innerhalb des literarischen Kanons. Zwar weist die Tradition der Parodie bis zurück in die Antike — bei Aristoteles3 avancierte sie zum poetologischen terminus technicus, vor ihm hat schon Aristophanes unter »parodia« die komische Imitation und Transformation eines epischen Verses verstanden -, aber sie bleibt durch die JahrhunderTheodor Verweyen u. Günther Witting, Die Parodie in der neueren deutschen Literatur. Eine systematische Einführung. Darmstadt 1979. Die Autoren geben eine gute Einführung in die Begrifrsgeschichte der Parodie und zeigen vor allem die Schwierigkeit jeglicher Abgrenzungsversuche auf. Vgl. hierzu auch: Wido Hempel, Parodie, Travestie und Pastiche. Zur Geschichte von Wort und Sache. Germanistisch-Romanistische Monatshefte 46 (1965) S. 150-176. Wolfgang Karrer, Parodie, Travestie, Pastiche. München 1977. Eike Schönfeld, Der deformierte Dandy: Oscar Wilde im Zerrspiegel der Parodie. Frankfurt a. M. 1986. Schönfeld gibt im ersten Kapitel eine kurze Übersicht über die Literatur zum Parodiebegriff. Ebd. Vorbemerkung. Ein ähnliches Dilemma beschreibt Anselm Haferkamp für den Forschungsbereich der Metapher in der Einleitung zu: Theorie der Metapher. Hrsg. v. Anselm Haverkamp. Darmstadt 1983. »Anders als man Forschungsberichten und Überblickswerken glauben könnte, gibt es keine einheitliche Metaphernforschung und eine Theorie der Metapher nur als Sammelname konkurrierender Ansätze die auf diese Paradigmen zurückfuhrbar sind.« S. 2. Vgl. Alfons Reckermann, Parodie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7 (1989); S. 122-130. »Er bezeichnet die von Hegemon von Thasos erfundene literarische Gattung der Epos-P., die Handlungen sozial niedrig stehender Menschen mit den stilistischen Mitteln des Epos nachahmt.« S. 122.

te ästhetisch im Hintergrund. Freilich als literarische Gattung ist sie präsent, wechselnd mal unter komischen, mal unter moralisch kritischen Vorzeichen. Margaret A. Rose, die in ihrer Studie Parody: ancient, modern, and post-modern* einen aufschlußreichen vergleichenden Überblick über den begriffsgeschichtlichen Wandel der Parodie gibt, beschreibt ihre ambivalente Stellung wie folgt: Of all the terms still used to describe comic quotation, imitation, or transformation, parody alone is named in the classical literature and poetics of the Greek, and has gained some importance in the Western tradition from this fact. But it is also to some extent owing to its long history that the meaning of the term parody has become die subject of so much argument.

Erst wieder in der romantischen Ästhetik erfährt der Parodiebegriff eine Neubewertung. Für Friedrich Schlegel wird die Parodie zu einem immanenten Tätigkeitsprinzip der künstlerisch produktiven Subjektivität.5 Sie sei eine Kunst der »Mischung des Entgegengesetzten« und rühre das menschliche Bewußtsein auf den »Indifferenzpunkt von Geist und Körper« zurück. Als Paradigma parodistischer Produktion werden immer wieder Don Quijote von Miguel de Cervantes und Laurence Sternes Tristram Shandy angeführt. Beide Textbeispiele lassen aber einen starren Gattungsbegriff nicht länger zu, da sich die Parodie nicht mehr eindeutig auf eine Textvorlage bezieht. Sie wird als ein gegenläufiges Tätigkeitsprinzip verstanden, das zwischen Potenzierung und Depotenzierung changiert. Rose betrachtet beide Werke als Beispiele »of general parody«, »both comic and meta-fictional«.6 Damit soll nur kurz angedeutet werden, daß die Rede von der Parodie immer schon die Grenzen einer engen Gattungsbestimmung überschritten hat. Eine ausführliche Studie über die wechselvolle Geschichte des Parodiebegriffs liegt in Ansätzen jetzt zwar mit der Arbeit von Rose vor. Sie arbeitet dabei jedoch rein deskriptiv, bezieht sich auf Inhalte und weniger auf die Qualitäten der Gattung und des literarischen Verfahrens. Zwar versucht sie die Parodie von benachbarten Genres abzugrenzen, doch verliert sie sich dabei allzu leicht im Dschungel der Definitionen. Das hat zur Folge, daß sie selbst zu keinen weiterführenden Schlußfolgerungen kommt. Kriterien, die die Parodie als Schreibweise kennzeichnen, kann Rose nicht benennen. Daher sollen im folgenden zunächst diejenigen neueren Untersuchungen herangezogen werden, die die Parodie als Gattung behandeln, um kurz zu

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6

Margaret A. Rose, Parody: ancient, modern, and post-modern. Cambridge 1993. S. 6. Friedrich Schlegel, Philosophische Fragmente. Hrsg. v. Ernst Behler. Bd. 18. München, Paderborn, Wien 1963. S. 112, Nr. 995. Margaret A. Rose, Parody. S. 277. Die Bewertung, daß die Parodie auch komische Elemente enthalten dürfe, bildet in Roses Studie den Prüfstein unterschiedlicher Theorien hinsichtlich der Abgrenzung zwischen Moderne und Postmoderne.

skizzieren, welche Merkmale ihr zugeschrieben werden. Demgegenüber mehren sich im Zuge des Diskurses über die Postmoderne Untersuchungen, die von einem Gattungsbegriff völlig abstrahieren und das Moment der Bezüglichkeit in den Vordergrund stellen. Da allein diese Ansätze für den Fortgang dieser Untersuchung produktiv sind, werden sie eingehender abgehandelt.

l Parodie als Gattungsbegriff Über die Parodie findet man in der einschlägigen Forschungsliteratur fast ausschließlich taxonomische Untersuchungen, in denen die Begriffsgeschichte eng mit einer Wertungsgeschichte verknüpft ist. Sie sind weit davon entfernt, eine Theorie der Parodie zu entwickeln. Der oben angedeutete Funktionswandel der Parodie spielt in ihnen keine Rolle, da die Zugehörigkeit zur Gattung der Parodie das einzig maßgebliche Entscheidungskriterium ist. Diesen Funktionswandel aufzuzeigen, ist mit einigen Schwierigkeiten verbunden. Es soll aber annäherungsweise im folgenden versucht werden, den so veränderten Parodiebegriff der Analyse des Doktor Faustus zu Grunde zu legen. Dabei kann es nicht um eine Begriffsdefinition gehen (dies würde den Rahmen der Arbeit sprengen), vielmehr soll ein erweiterter Parodiebegriff entwickelt werden. Der Begriff der Parodie wird üblicherweise mit dem Abbau verfestigter Sehgewohnheiten, der Zerstörung ästhetischer Klischees oder der Destruktion von automatisierten Werturteilen und Normen verbunden. Sie ist bloße Parodie, die allein die Begrenztheiten aufzeigt, ohne sie zu überwinden. So wird Parodie in den wenigen wissenschaftlichen Arbeiten zu diesem Thema vorwiegend als eine Gattung verstanden, die es von ähnlichen Gattungen wie Pastiche, Travestie, Satire oder Burleske abzugrenzen gelte.7 Dabei stößt man aber durchgängig auf terminologische Schwierigkeiten, ohne daß die Gattung an sich in Frage gestellt würde. Als sicherstes Identifikationsmerkmal der Parodie bleibt dann der Vergleich mit ihrer Textvorlage. Folglich wird das Auftreten von Parodien in den verschiedenen Epochen benannt, analysiert und als komisches oder als kritisches Instrument der Auseinandersetzung mit einem Vorgängertext oder ganzen Textsorten klassifiziert. Vorlage bedeutet hier nicht, daß sich die parodistische Verfremdung allein auf einen Text beziehen muß.

Ich beschränke mich hier auf Untersuchungen zur literarischen Parodie.

Neumann" betrachtet die Parodie vorwiegend unter ästhetischen Kriterien. Sie kritisiere alles Mittelmäßige und sei so weder dem Erhabenen noch dem Niedrigen zugänglich, bleibe also immer eine niedrige literarische Gattung, die, wie das von ihr Kritisierte, sich im Mittelmäßigen bewege. Freund begreift hingegen die Parodie vorrangig als Mittel der Endarvung. »Ihr ausschließliches Ziel ist die Negation von Bornierungen aller Art.«9 Ihr Ziel sei nicht Komik und ihre Struktur nicht Selbstzweck. Im Gegensatz zur Satire gehe sie nicht von einem Ideal aus. Die moderne Parodie übe daher an erster Stelle Ideologiekritik. An diesen beiden relativ typischen Beispielen zeigt sich denn auch schon das Dilemma, in das sich der Versuch einer engeren Definition begibt. Zum einen wird die Parodie, bedingt durch ihre historische Entwicklung, vorab auf ihre kritische Funktion festgelegt, zum anderen werden ästhetische Bewertungen vorgenommen, die eben diesen kritischentlarvenden Einsatz der Parodie rechtfertigen sollen. Zudem zeigen beide Ansätze deutlich, daß Parodie immer von einem zu parodierenden Original abhängig ist, und daß sie daher ihr Ziel nur erreicht, wenn dieses für den Rezipienten als Hintergrundfolie erkennbar bleibt. So ist es nicht verwunderlich, daß Freund in seinem historischen Abriß global feststellt: Jede Epoche bringt ihre eigenen literarischen Gegner hervor, will sagen, jedes Stilideal erfährt seine parodistische Behandlung. Freund gesteht der Parodie keine eigene Originalität zu, da sie ja von einem Original völlig abhängig sei. Allerdings versäumt Freund zu zeigen, ob und wie Parodien im Laufe der Geschichte mit unterschiedlichen Mitteln auf ihre Vorlagen reagierten. Das Verständnis von Parodie reduziert sich dabei maßgeblich darauf, die Intention des Autors, die Wirkungsabsicht und ihre Komik darzustellen. Zudem ist eine Auseinandersetzung mit der Parodie meist mit ihrer Bewertung als ästhetisches Instrument verknüpft. So erfährt die Parodie bei Erwin Rotermund10 zwar eine positive Neubewertung, doch dies allein unter der Prämisse der künsderischen Erhöhung der Nachahmung; d.h. ihr Kunstcharakter entscheidet über ihre literarische Stellung. Damit beteiligt sich Rotermund im Grunde an einer ganz anderen Diskussion, nämlich der über die Voraussetzungen ästhetischer Akzeptanz.

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9 10

Robert Neumann, Zur Ästhetik der Parodie. In: Die Literatur 30 (1927/28). S. 439441. Winfried Freund, Die literarische Parodie. Stuttgart 1981. S. 20. Erwin Rotermund, Die Parodie in der modernen deutschen Lyrik. München 1963.

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2 Parodie als Bezeichnung einer spezifischen Schreibweise moderner Literatur Das Unbehagen am Parodiebegriffais reiner Gattungsbezeichnung geht einher mit den sich verändernden literarischen Schreibweisen in der modernen Literatur. Daher soll zunächst dargestellt werden, wie im Kontext von Moderne und Postmoderne sich der Zugriff auf und das Verständis von Parodie verändert, und warum diese scheinbare niedrige literarische Gattung plötzlich vor allem auch theoretisch zu neuen Ehren gelangt.

2.1

Annäherung an eine Begriffsbestimmung von Moderne und Postmoderne

2.1.1 Friedrich Nietzsche und der Doppelcharakter der Parodie

Nietzsche, einer der vehementesten Kritiker der Moderne, gilt gleichzeitig und gewissermaßen paradoxerweise als einer ihrer herausragendsten Protagonisten: als der Kritiker der Moderne, der ein spezifisch modernes Bewußtsein zum erstenmal artikuliert. Diese Einschätzung resultiert einerseits aus seiner Stellung in und zur Geschichte und andererseits aus den revolutionären Folgerungen seines Denkens und ist natürlich abhängig von den unterschiedlichen Entwicklungsstufen seiner Philosophie. Die Struktur des Gegensätzlichen in Nietzsches Denken - grob gekennzeichnet durch die bekannten Pole; die »Wiederkehr des immer Gleichen« und der »Wille zur Macht« - läßt sich nicht zur Einheit bringen. Freilich, wesentlicher als seine bedeutende Rolle im Diskurs der Moderne ist in diesem Kontext, daß Nietzsches Denken in der Diskussion um die parodistische Schreibweise eine Schlüsselstellung einnimmt."Im Schein dieses spezifisch modernen Bewußtseins spiegelt sich auch die Parodie in einem neuen Licht. Nietzsche entläßt sie aus ihrer Negativität und entdeckt ihren Doppelcharakter. Voraussetzung für diesen Doppelcharakter ist Nietzsches Bestimmung, daß Werte nur gelten, weil sie gesetzt sind, und nicht weil sie einen Wert an sich darstellen. Damit geht ein ausdrücklicher Zweifel an der Wahrheit einher, ein Zweifel, an dem auch der Komponist Leverkühn extrem leidet. Das macht ihn aber noch längst nicht zu einer »Nietzschefigur«. Eine sicher nicht ganz abweisbare personale Identität ist hier ohnehin irrelevant. In Nietzsches Spätwerk findet sich die Infragestellung der Wahrheit in einem radikalen Perspektivismus aufgehoben:

1

' Einschränkend muß natürlich zugestanden werden, daß auch in diesem Fall die Aphorismen und das literarischeTheoretisieren Nietzsches dazu verfuhren, sein Werk als »Selbstbedienungsladen« zu benutzen.

Daß der Wcrth der Welt in unserer Interpretation liegt [...], daß die bisherigen Interpretationen perspektivische Schätzungen sind, vermöge deren wir uns im Leben, daß heißt im Willen zur Macht, zum Wachstum der Mächte erhalten, daß jede Erhöhung des Menschen die Überwindung engerer Interpretationen mit sich bringt, daß jede erreichte Verstärkung und Machterweiterung neue Perspektiven aufthut und an neue Horizonte glauben heißt — dies geht durch meine Schriften. Die Welt, die uns etwas angeht, ist falsch d.h. ist kein Thatbestand, sondern eine Ausdichtung und Rundung über einer mageren Summe von Beobachtungen; sie ist »im Flusse«, als etwas Werdendes, als eine sich immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert: denn es giebt keine »Wahrheit«.12

Der perspektivischen Verfaßtheit der Welt korreliert ein ästhetischer Perspektivismus als das eigentlich schöpferische Prinzip. Während wissenschaftliche Forschung und Erkenntnis zwar auf Eindeutigkeit zielen, damit aber der perspektivischen Verfaßtheit der Welt nicht mehr adäquat begegnen können, macht die Kunst gerade diese Gebrochenheit zu ihrem Gegenstand, indem sie interpretiert. Die sogenannte Wahrheitswelt selbst ist allein die perspektivische Einrichtung eines voluntaristischen Subjektivismus.13 Rückblickend wird die Geschichte immer wieder deutbar, trotz gesichertem Faktenmaterial. Soweit überhaupt das Wort »Erkenntniß« Sinn hat, ist die Welt erkennbar: aber sie ist anders deutbar, sie hat keinen Sinn hinter sich, sondern unzählige Sinne »Perspektivismus«. Unsre Bedürfnisse sind es, die die Welt auslegen: unsre Triebe und deren Für und Wider. Jeder Trieb ist eine Art Herrschsucht, jeder hat seine Perspektive, welche er als Norm allen übrigen Trieben aufzwingen möchte.14

Allein dem modernen Philosophieren Nietzsches wird diese Verfaßtheit bewußt. Mit dem Ende der Selbsttäuschung geht das Ende der Transzendenz einher. Deshalb erscheint die Kunst, die ihrem Wesen nach selbst perspektivisch ist, als die angemessenere Weise der Weltbetrachtung. Konsequent zu Ende gedacht, bedeutet dies aber, daß selbst noch der Perspektivismus in seinen eigenen Bann gezogen wird und selbst aus einem bestimmten Blickwinkel gesehen werden muß. Die Kritik an der modernen Welt ist dann nur eine von vielen Deutungen. Welche Kunst Nietzsche hier, als adäquaten Ausdruck des Disperaten gemeint haben kann, bleibt weitestgehend unklar. Uwe Japp15 folgert in seiner Studie zum Problem der Moderni12

13

14 15

Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887. Kritische Studienausgabe Bd. 12. Hrsg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1988. S. 114. Vgl. hierzu: Manfred Frank, Was ist NeoStrukturalismus? Frankfurt a. M. 1983. »Dies wahre Subjekt repräsentiert sich freilich nicht — wie das Kantische - in seiner Wahrheit; es hat gar keine Wahrheit. Jede neue Repräsentation [...] ist Täuschung.« S. 265. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887. S. 315. Uwe Japp, Literatur und Modernität. Frankfurt a. M. 1987. Japp unterscheidet hier zwischen der Geschichte der Modernität und der Epoche der Moderne. Die Modernität 10

tat in der Literatur, daß »Nietzsches Rechtfertigung der Kunst letztlich einer Überforderung der Kunst gleichkommt: daß die Kunst in einer Welt, in der die Trennung von Wahrheit und Schein nicht mehr gelten soll, schließlich >ortlos< wird.«16 Gerade dieses befähige sie aber in einem höheren Maße »seinsadäquat« zu sein, weil ihre Ortlosigkeit dem Schicksal des modernen Menschen entspräche. Lenke man folglich auf das Grundsätzliche zurück, so ergibt sich die doppelte Konsequenz, daß eigentlich alle Kunst der perspektivischen Vcrfaßtheit der Welt entspricht, daß aber erst eine spezifisch moderne Kunst hiervon ein deutliches Bewußtsein haben kann. Die erste Konsequenz hat Nietzsche gezogen, der zweiten Konsequenz haben sich zahlreiche Künstler und Dichter im Anschluß an Nietzsche genähert.17

Nietzsche konstatiert den Verlust des Ganzen in der Moderne. Dessenungeachtet fordert er diese Ganzheitlichkeit von der Kunst wieder ein, ohne sie dabei in der modernen Kunst je zu finden. An diesem Punkt verhilft: Nietzsche der Parodie zu einer Neubewertung. Zunächst betrachtet er die Parodie als Paradigma einer nur noch imitativ lebenden Epoche. Aber in ihrer Doppelnatur überwindet sie die bloße Nachahmung. Im parodistischen Verhältnis zur Welt erblickt Nietzsche eine mögliche Rettung aus der Erstarrung, eine produktive Umwandlung des nur noch Angelernten: Vielleicht, dass wir hier gerade das Reich unsrcr Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein können, etwa als Parodistcn der Weltgeschichte und Hanswürste Gottes, - vielleicht dass, wenn auch Nichts von heute sonst Zukunft hat, doch gerade unser Lachen noch Zukunft hat!1*

Nietzsche befreit die Parodie von ihrem moralischen Impetus und erweitert sie zu einem über die Kunst hinausweisenden Weltverhalten. Im spielerischen Umgang mit den erstarrten Formen rettet sich der moderne Mensch vor dem eigenen Überlebtsein. Zwar richtet sich das parodistische Verhalten auf Entlarvung, aber potentiell kann es in der Transzendierung doch noch Originalität erlangen. Diese Neueinschätzung der Parodie desavouiert vermeintliche originale literarische Werke als Abklatsch eines in sich erstarrten Epigonentums. Daraus erfolgt eine Umwertung der Literatur am Anfang der Moderne. In der ironisch-spöttischen Reflexion hält die Literatur sich ihren eigenen Spiegel vor. Diese sicherlich verkürzte NietzscheLektüre soll nur den theoretischen Hintergrund andeuten, vor dem sich der Kon-

der Literatur verlegt er in die Antike, während die Epoche der Moderne »als eigentliche Modernität« mit der Kritik Nietzsches ansetze. 16 17

Ebd. S. 269. Ebd. S. 270.

" Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse. Kritische Studienausgabe Bd. 5. S. 157, §223.

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flikt des modernen Künstlers Leverkühn zwischen Epigonentum und Elite entzündet. Es geht an dieser Stelle nicht um eine Nietzsche-Rezeption des Doktor Faustus, sondern um die Neubewertung der Parodie im Kontext seiner Philosophie. Sicherlich läßt sich mit den wenigen aphoristischen Aussagen Nietzsches zur Parodie keine Theorie begründen. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert wandelt sich die Auffassung über die Funktionen der Parodie deutlich; ein Funktionswandel, der sich jedoch in der Sekundärliteratur zu diesem Thema kaum spiegelt. Für Nietzsche bedeutet die Parodie weit mehr als eine Gattung. Unausgesprochen avanciert sie schon hier zur Schreibweise, während, wie bereits gezeigt, Jahrzehnte später noch Literaturwissenschaftler sich an der Gattung abarbeiten. Die Philosophie Nietzsches weist eine Perspektive aus der Sackgasse von Niedergang und Endzeit. Aber es gelingt ihm nicht, sich von den ästhetischen Idealen seiner Zeit zu befreien. Philosophisch weiß Nietzsche, daß es keine Totalität mehr geben kann, ästhetisch fordert er sie dennoch ein. Um Nietzsches Bedeutung für die moderne Literatur zu ermessen, muß man folglich erst seine Philosophie [...] in eine Poetik übersetzen, wie das anscheinend zahlreiche moderne Autoren getan haben. Erst unter diesen Voraussetzungen scheint es [...] sinnvoll zu sein, wenn man - mit Thomas Manns Worten - sagen wollte, daß wir Nietzsche das »Erlebnis der Modernität« verdanken."

Nietzsche als einer der ersten Denker und Kritiker der Moderne gilt nicht als Begründer einer Epoche. Er ist der Protagonist eines ganz spezifischen Bewußtseins, Sprachrohr einer genuinen Erfahrung. Mit Nietzsche wird die Frage nach der Modernität als einem besonderen ästhetischen Bewußtsein dezidiert gestellt, und folgt man dem Autorenteam Baßler/Brecht/Niefanger/Wunberg20 für die Textproduktion auch beantwortet. In Der Fall Wagner diagnostiziere Nietzsche, daß das Wort »in seinem semantischen Potential >souverainde~cadence< beschrieben wird, verlegt den Schwerpunkt literarischer Sinngebung von der übergreifenden Struktur in die anarchischen Elemente der Textur, 22

" Uwe Japp, Literatur und Modernität. S. 292f. Moritz Baßler u. Christoph Brecht u. Dirk Niefanger u. Gotthart Wunberg, Historismus und literarische Moderne. Tübingen 1996. 21 Ebd. S. 202. 22 Ebd. 20

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2.1.2 Die Moderne ah Kategorie zwischen ästhetischem Bewußtsein und Epochenbegriff Der Begriff der Moderne selbst unterliegt gravierenden terminologischen Schwankungen, die auch durch die Etablierung der Postmoderne keineswegs ausgeräumt werden. In der Literaturwissenschaft wurde der Terminus Moderne zumeist historisch verwendet, die künstlerischen Strömungen des ausgehenden 19. und des frühen 20. Jahrhunderts umfassend, also eine pluralistische Bewegung, die sich allerdings auf allen Ebenen und auf unterschiedlichste Weisen entfaltete. Demgegenüber kann Moderne aber auch, vorwiegend im philosophischen Sprachgebrauch, die Gesamtentwicklung der europäischen Aufklärung darstellen. »Grundlage für die Konnotationen von >modern< in Aufklärung und Romantik, d.h. im Zeitalter der welthistorischen Moderne (im Sinne von Habermas), ist das Bewußtsein von der unberechenbaren Wandelbarkeit der Geschichte und damit von einer Potentialität des Geschehens, innerhalb deren das eigene Neue jeweils eine Chance haben kann.«23 Die widersprüchliche Verwendung des Terminus Moderne ist zudem der Tatsache zu danken, daß sich die jeweilige Gegenwart seit dem 18. Jahrhundert als »modern«, als das lediglich zeidich Jüngere, von ihrer Vergangenheit abgrenzte. Hans Robert Jauß weist nach, daß das Wort »modernus« schon im fünften Jahrhundert zum ersten Mal bezeugt ist, »in der Zeit des Übergangs vom alten Rom zur neuen christlichen Welt«.24 Ihn leitet bei seiner Untersuchung des Verhältnisses von »literarischer Tradition und gegenwärtigem Bewußtsein der Moderne« die Frage, inwieweit mit dem Terminus »modern« ein sich jeweils neues Bewußtsein vom Ende einer Ära oder Tradition bildet. Für ihn ist demnach Moderne weniger ein Epochenbegriff als wiederum Ausdruck eines spezifischen Bewußtseins. Erst mit Baudelaires Theorie von der Doppelnatur des Schönen, so Jauß, könne man von einer wirklichen Epochengrenze zwischen der abgeschiedenen und der vertrauten geschichdichen Welt sprechen. Denn hier bestimme sich Modernite* nicht im Gegensatz zu anderen Epochen. Nun habe jede Zeit ihre eigene Weise, sich eine Idee vom Schönen zu machen. »Ästhetische und geschichtliche Erfahrung der modernite fallen für Baudelaire in eins.«25 Jauß kommt nicht mehr auf die literarische Moderne unseres Jahrhunderts zu sprechen. Festzuhalten bleibt: Seit Baudelaire wird Moderne nicht mehr allein als Terminus der Abgrenzung verstanden, vielmehr als Ausdruck von Zeitgenossenschaft. Die Abgrenzung gegenüber einer vergangenen

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Viktor 2megaö, Moderne/Modernität. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Hrsg. v. Dieter Borchmeyer und ders., Frankfurt a. M. 1987. S. 252. Hans Robert Jauß, Literaturgeschichte als Provokation. Frankfurt a. M. 1970. S. 16. Ebd. S. 55-

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Epoche muß spätestens dann mißlingen, wenn verschiedene Stile gleichzeitig auftreten. Bei Hermann Bahr avanciert Moderne schließlich zum Sammelbegriff heterogenster Termini und wird zum Losungswort des deutschen Realismus und Naturalismus. Die literarische Moderne erscheint hier an einem Wendepunkt, der mit heilsgeschichtlichen Metaphern beschworen wird. »Daß aus dem Liede das Heil kommen wird und die Gnade aus der Verzweiflung, daß es tagen wird nach dieser entsetzlichen Finsternis und daß die Kunst einkehren wird bei den Menschen - an diese Auferstehung, glorreich und selig, das ist der Glaube der Moderne. [...] Die Moderne ist nur in unserem Wunsche und sie ist draußen überall, außer uns. [...] Dieses wird die neue Kunst sein, welche wir so schaffen. Und es wird die neue Religion sein. Denn Kunst, Wissenschaft und Religion sind dasselbe.«26 Erscheinungen von äußerster Komplexität können nur noch im Bewußtsein der Zeitgenossenschaft zusammengefaßt werden. Als Herausgeber des Sammelbandes »Die Wiener Moderne« konstatiert Gotthart Wunberg: »Die Unsicherheit in der Benennung des Zeitraums hat sich bis heute erhalten. Die Palette ist vielfältig, die Bedeutungen gehen - das ist nicht unwichtig - ineinander über. Jeder verwendet eine andere Nuancierung desselben Begriffs, mehr oder minder voraussetzend, daß jedermann ungefähr wisse, worum es sich handelt; aber eben nur ungefähr.«27 Und an anderer Stelle verweist Wunberg darauf, daß der Begriff der Moderne zur strikten Periodisierung nicht tauge, daß sich vielmehr in der Neuzeit eine typische ästhetische Erfahrung herausgebildet habe. Er bemerkt einen »eher bewußtlosen Vorgang, in dem das, was man Moderne nennen kann, begründet erscheint«,28 den Informationsüberfluß. Dieser drückt sich in einem extremen Pluralismus der Schreibweisen aus, wobei zwei Verfahren herausragen: Verdichtung und Verstreuung. Literatur versichert sich so ihres Kunstcharakters. Natürlich ist der Überfluß an Informationen kein singuläres Phänomen der Moderne. Aber in ihr spitzt er sich zu. Für Wunberg setzt dieser bereits mit der Dialektik von Vergessen und Erinnern ein. Sobald die mythischen Götter nicht mehr als Garanten für das »Nicht-zu-Vergessende« einstehen, habe das Wissen institutionalisiert werden müssen, wie schon am Anfang des Christentums. Doch erst in der Moderne werde das Vergessen für das Individuum immer dringlicher. »Vermißt aber wird das Vergessene erst da, wo es sich nicht mehr ständig aus sich selbst 26

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Hermann Bahr, Die Moderne. In: Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hrsg. v. Gotthart Wunberg, Stuttgart 1981. S. 189-191. S. 189ff. Gotthart Wunbcrg (Hrsg.), Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Stuttgart 1981. S. 215. Gotthan Wunberg, Wiedererkennen. Literatur und ästhetische Wahrnehmung in der Moderne. Tübingen 1983- S. 21. 14

erneuert: in der Moderne.«29 Das Erinnerbare müsse daher durch Traditionen fixiert werden. Sie seien das Gedächtnis aller für alle und somit säkularisierte, sozialisierte oder institutionalisierte Erinnerung. Der Künstler Leverkühn steht innerhalb dieser Traditionen, und er leidet unter ihnen, da er mit seinem spezifisch modernen Bewußtsein diese als Ballast des »Alles-schon-einmal-Dagewesenen« empfindet. Deudich geht Wunberg hier nicht von einem genau umrissenen Epochenbegriff aus, sondern von der ästhetischen Erfahrung des Wiedererkennens. Die These, daß eine Ästhetik der Moderne aus der historisch bedingten, spezifischen Dialektik von Vergessen und Erinnern abzuleiten ist, steht und fällt mit dem Erweis eines für diese Moderne spezifischen und bis dahin nicht dagewesenen oder wenigstens vorher so nicht nachweisbaren Phänomens: des Informationsiiberschusses.30

Während Wunberg hier noch mit Nietzsche als Zeugen31 für das Vergessen plädiert, »um leben zu können«,32 rückt das Vergessen bei der Analyse des Historismus als literarisches Phänomen in den Hintergrund. An seine Stelle tritt die »Unverständlichkeit«.33 Das positivistische Verfahren der Katalogisierung von Daten entpuppt sich für das literarische Verfahren als textorganisatorische Befreiung. Aus der Erkenntnis der Relativität der Geschichte und ihres faktischen Materials ersteht auf der literarischen Ebene die »Autonomie der Lexeme«. Sie setzt: deren Gleichwertigkeit und somit ihre Entwertung voraus. Daraus ergibt sich eine Art Lizenz zur freien Verfügbarkeit der Diskurselemente außerhalb ihres ursprünglichen, nicht länger garantierten Sinnzusammenhangs. Unvcrständlichkeit moderner Texte ist die radikale Folge.34

Die Kehrseite dieser »freien Verfügbarkeit« bedeutet radikaler Wertrelativismus. Auch dies findet Wunberg bei Nietzsche erstmals beschrieben in seiner Zweiten Unzeitgemäßen Betrachtung von 1873. »Die Entwicklung fuhrt aus einer teils als adäquat empfundenen positivistisch-historischen in eine als negativ empfundene relativistische Position.«35 Während also das Vergessen einen Zustand vor dem par-

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Ebd. S. 75.

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Ebd. S. 78. »Deshalb auch stellt Nietzsche als Kultur- und Gesellschaftskritiker Leben und Glück gegen die Historic. Beides ist wie das Handeln nur mit Vergessen zu erkaufen.« Ebd. S. 79. Ebd. S. 81. Und: »Nietzsches Verdikt von den »unverdaulichen Wissenssteinen« trifft den aufs engste mit dem Historismus verknüpften Posicivismus.« S. 80. Gotthart Wunberg, Unverständlichkeit. Historismus und literarische Moderne. In: Hofmannsthal-Jahrbuch zur Europäischen Moderne 1/1993- S 309-350. Ebd. S. 337. Gotthart Wunbcrg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de siede. Zum DecadenccBcgriffin der Literatur der Jahrhundertwende. In: Arcadia 30 1995. S. 31-61.

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odistischen Denken charakterisiert, ein Verlangen nach Neuschöpfung, zielt der positivistische Historismus auf eine Illusion der Verfügbarkeit, die ja auch in der parodistischen Schreibweise aufrechterhalten wird. Der Spielraum, in dem sich die parodistische Schreibweise entfaltet, läßt allerdings keinen Platz für die von Wunberg beschriebene Unverständlichkeit autonomer Lexeme. Aber auch sie setzt keine Wertigkeiten mehr. Sie zitiert sie herbei. Im fünften Buch von Die fröhliche Wissenschaft6 weist Nietzsche den Weg des revitalisierenden Erinnerns. Er propagiert das »Ideal eines Geistes, der naiv, das heisst ungewollt und aus überströmender Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt, was bisher heilig, gut, unberührbar, götdich hiess«.37 Dieser Geist ist weder der Bewahrer der Traditionen, noch erstickt er an dieser Form des sozialisierten Gedächtnisses. Er strebt die Wiedergewinnung eines Wirklichkeitsverständnisses an; das oft genug unmenschlich erscheinen wird, zum Beispiel, wenn es sich neben den ganzen bisherigen Erden-Ernst, neben alle Art Feierlichkeit in Gebärde, Wort, Klang, Blick, Moral und Aufgabe wie deren leibhafteste unfreiwillige Parodie hinstellt - und mit dem, trotzalledem, vielleicht der grosse Ernst erst anhebt, das eigentliche Fragezeichen erst gesetzt wird, das Schicksal der Seele sich wendet, der Zeiger rückt, die Tragödie beginnt [...]."

Die Hoffnung auf eine neue Transzendenz mittels der Parodie bleibt hier nur vage angerissen. Da, wie bereits ausgeführt, es nicht möglich ist, eine klare Epochengrenze zu ziehen, scheint es an dieser Stelle sinnvoll, das Verhältnis von Moderne zu den Begriffen Tradition und Postmoderne zu untersuchen Dies soll in Hinsicht auf die Stellung des modernen Künstlers Leverkühn und die Bedeutung der Parodie in seinem Schaffen geschehen: Tradition bzw. Traditionen, weil ihr Changieren zwischen totem Ballast und Fundus für den Roman Doktor Faustus eine zentrale Rolle spielt, und Postmoderne, weil in ihr die Verlustdiagnosen der Moderne ins Positive gewendet werden und dem Roman damit ein neues Interpretationsinstrumentarium eröffnet wird.

2.1.3 Kunst am Ende der »Traditionen« Die Rede über die Kunst der Moderne läßt sich von der Krise der Moderne nicht trennen. Diese Erkenntniskrise, aufgefangen in Schlagwörtern wie Wirklichkeits-

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Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft. Fünftes Buch. Kritische Studienausgabe Bd. 3. S. 636.

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Ebd. S. 637. » Ebd.

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verlust, Zerfall der Werte und Entfremdung, ist vor allen Dingen durch die Forschungen und Ergebnisse der neuzeitlichen Wissenschaft bedingt. Quantenmechanik und Relativitätstheorie rührten zum Verlust des Vertrauens in die Objektivität menschlicher Wahrnehmung. Schopenhauers Pessimismus und Nietzsches Versuch der »Umwertung aller Werte« ebneten dem Nihilismus den Boden. Das Ungenügen am Logozentrismus, die Erfahrung der Grenze von Ich und Welt, der Zweifel an der Fähigkeit der Sprache überhaupt noch Bedeutungsträger zu sein, an dem Noch-Sagbaren löste zwei Haltungen aus, die beide Resultat einer vehementen Sprachskepsis sind: das Verstummen in der Sprachlosigkeit und der spielerische experimentelle Umgang mit der Sprache. Die Inadäquatheit des Ausdrucks, das Mißtrauen gegen das Wort, der Zweifel an der Relation zwischen Bezeichnung und Bezeichnetem, aber auch die Befreiung von normativen Kategorien und von einem eher diffus empfundenen verpflichtenden Druck des Überkommenen resultieren aus einer zuvor nie erfahrenen Sinnpotentialität der Wörter. »All jene Text- und Erzählkonventionen, die traditionsgemäß dem Leser als Verständnishilfen dienten, unterliegen in der Moderne einem Prozeß der Zerrüttung und Zerstörung, werden systematisch unterminiert.«39 Der unterbrochene Fluß des Geschriebenen, die Verlangsamung, die Zersplitterung des Textganzen und die Auflösung der Handlung machen den Leser auf verschiedene Sinnebenen aufmerksam, die mit einer durch pure Beschreibung nicht mehr einzuholenden Realität korrelieren. Die Disparität der Realität spiegelt sich in der Disparität der Literatur, beides Resultate der postivistischen Faktenhuberei.40 Schriftsteller wie Virginia Woolf, James Joyce, Franz Kafka oder Antonin Artaud, um nur einige wenige zu nennen, setzten sich auf unterschiedliche Art und Weise mit der Erfahrung auseinander, daß die Sprache angesichts einer inkohärenten, nicht mehr dechiffrierbaren Wirklichkeit ihre mimetische Fähigkeit verloren habe. David Lodge hat für die moderne Literatur einen Katalog ihrer Charakteristik^ erstellt, der zeigt - da man schließlich unterschiedliche Interpretationen daraus bedienen kann - wie komplex das Phänomen Moderne beschreibar ist: [...] formal experiment, dislocation of conventional syntax, radical breaches of decorum, disturbance of chronology and spatial order, ambiguity, polysemy, obscurity, mythopoeic allusion, primicivism, irrationalism, structuring by symbol and motif rather than by narrative or argumentative logic, and so on.41

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Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität. Zur Funktion und Bedeutung von Mehrdeutigkeit in der Literatur der Moderne. Tübingen 1988. S. 6. Vgl. Gotthart Wunberg. Historismus, Lexemautonomie und Fin de siecle. David Lodge, Working with structuralism. Darin: Historicism and literary history: Mapping the modern period. Boston, London, Hanely 1981. S. 71.

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Der Zweifel an der Wahrheit des Wortes ist ein gängiger Topos moderner Literatur und zeitigt entsprechend häufig sprachkritische Ansätze: Exemplarisch in Hugo von Hofmannthals Chandos-Briefvon 1902. Die Sprachkrise, die in eine Identitätskrise mündet, wird im reflexiven Akt des Schreibens unterlaufen. Exemplarisch deswegen, weil Wunberg mit seiner Theorie der aus dem positivistischen Historismus hervorgehenden Lexemautonomie dem Brief seine Modellhaftigkeit für die moderne literarische Sprachskepsistradition aberkennt.42 Auch Leverkühn lebt in dieser Zeit des Übergangs, die er - und das ist kennzeichnend für sie - völlig individuell durchlebt. Die Sprachkrise, unter der viele moderne Schriftsteller leiden, läßt sie doch selten völlig verstummen. Sie entfalten gerade im Gegenteil eine ganz eigene Produktivität. Selbst über den Verlust der Sprache läßt sich noch reden. Die Verweigerung liegt vielmehr im Bruch mit der literarischen Tradition, der Aufgabe eines auf Sinnstiftung beruhenden Erzählens. Statt dessen rückt der Prozeß des Schreibens, die Entstehung des Kunstwerks in den Blick der Literatur. Am Verhältnis zur Tradition entwickelt sich genau jenes Unbehagen, das die Autoren vorgeblich allein zwischen zwei Alternativen wählen läßt. »Tradition als das Wertvolle, Bewährte, Verbürgte steht gegen Tradition als das Versteinerte, Unproduktive, bloß dem jeweiligen status quo Dienende.«43 Die Krise der Moderne manifestiert sich in ihrem Verhältnis zur Geschichte, zu den jeweiligen Traditionen, zum Erbe der Menschheit, zum Vorvergagangenen oder wie auch immer man das Überkommene bezeichnen will. Hieran mißt sich schließlich die Abgrenzung zu vorhergehenden Epochen und das Bewußtsein eine eigene, eine neue Epoche zu bilden, wie es Wilfried Barner ausführt. Wo immer Epochenbewußtsein sich im Hinblick auf sein Davor, auf seine Spezifität und auf seine in der zeitlichen Erstreckung gewahrte Identität artikuliert, definiert es sich allererst über Tradition. [...] Als Ensemble gesellschaftlicher Erfahrung ist Tradition bestimmte Struktur. [...] Insofern Tradiertes ausgewählt ist, bleibt es aus dem diffus >Vcrgangcnem< herausgehoben als etwas die Gesellschaft oder eine Gruppe Angehendes.44

*2 Gotthart Wunberg, Unverständlichkeit. S. 338. Vgl. dagegen: Dirk Gosche, Die Produktivität der Sprachkrise in der modernen Prosa. Frankfurt a. M. 1987. »Der Brief ist in paradoxer Weise sowohl die erste Vcrsprachlichung der neuen Erfahrungsweise als auch als programmatisch letzter, ihre letzte.« S. lOlf. 43 Wilfried Barner (Hrsg.), Einleitung zu: Tradition, Norm, Innovation. Soziales und literarisches Traditionsverhalten in der Frühzeit der deutschen Aufklärung. München 1989. S. DC-XXIV. S. DC. 44 Wilfried Barner, Über das Negieren von Tradition. Zur Typologie literaturprogrammatischer Epochenwenden in Deutschland. In: Epochenschwelle und Epochen-

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Wie zweideutig, dehnbar und problematisch der Begriff der Tradition ist, darauf weist Barner dezidiert hin. »Das beliebte singularische Reden von >der< Tradition (oft genug nur nachlässig für eine diffuse >Vergangenheit< schlechthin gesetzt) verdeckt allzu leicht, daß Tradition immer bereichsspezifisch und immer intern hierarchisiert ist.«45 Wie bei der Rede über die Moderne ist die Rede über Tradition durch keine verbindliche Definition gefestigt. Dennoch gibt es auch hier eine unausgesprochene Verständigung über das, worüber man gerade spricht. Daß Tradition aber keinesfalls global mit dem Gewesenen gleichzusetzten ist, liegt in ihrem institutionalisierten Charakter begründet. »Sie hat ihren Inhalten (traditum) immer vorgängig kollektiven Charakter [...]. Tradition im Sinne des Weitergebens (als actus tradendi) geschieht prinzipiell durch Institutionen [...], die ihrerseits die wichtigsten Garanten für traditionale Kontinuität bilden.«44 In der Moderne nun nimmt die Menge an tradiertem Wissen derart zu, daß es als Ballast empfunden wird und Nietzsche zu der Forderung zwingt, das »Historisch-Kranke« zu vergessen. Auf der anderen Seite steht dennoch »Erinnern als Komplement von Vergessen und als Bedingung von Gegenwart«·47 In der Moderne wird Tradition, für die sich Institutionen und Gesellschaft verbürgen, zudem belastet mit einem sich täglich steigernden Informationsüberfluß und dem Zweifel an jenen Werten, die als verbindlich geltende Traditionen vermittelt werden. An die Stelle von Traditionsbejahung tritt Skepsis und Negation. Auch hier sei noch einmal kurz auf Nietzsches WertbegrifF verwiesen. In einem wahrscheinlich als Fortsetzung zur Genealogie der Moral geschriebenen Text mit dem Titel Kritik des Nihilismus heißt es: »Wir haben den Werdi der Welt an Kategorien gemessen, welche sich auf eine rein fingierte Welt beziehen.«** Die Bewegung des Abendlandes ende im Nihilismus und einer nur noch voluntaristischen Wertsetzung. Trotz seiner vehementen Kritik an der Moderne bezieht Nietzsche mit dem Begriff der Modernität gleichzeitig eine Opposition zur Traditionalität. Im Mittelpunkt steht eine Verfallsdiagnose - wie ja auch schon Wunberg Nietzsche als ersten Zeugen auftief, dem der »Wust des Erlernten« zum Problem wurde, also der Wust der Traditionen, der die Unmittelbarkeit des Erlebens verstellt. Wunberg unterscheidet zwischen moderner und vormoderner ästhetischer Wahrnehmung:

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Bewußtsein. Ästhetik und Hermeneutik Bd. 12. Hrsg. v. Reinhart Herzog u. Reinhart Koselleck. München 1987. S. 1-51. S. 15. Wilfried Barner (Hrsg.), Einleitung zu Tradition, Norm, Innovation. S. X. Ebd. Ebd. S. 170. Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente. Kritische Studienausgabe Bd. 13. S. 49, 19

Natur, die Goethe noch unverstellt erfahrbar war, und die für ihn so zum Symbol werden konnte, vermag heute paradoxerweise nicht mehr symbolisch zu erscheinen, weil sie von vornherein bereits nur noch als so etwas wie ein Symbol, ab dcpraviertes jedenfalls, erlebt wird.49

Naturerlebnisse sind dem modernen Menschen durch Sekundärsysteme verstellt. Gleiches gilt für die Kunst. »Nur in der Falsifikation von nahezu kompletten Informationen noch scheint für die Moderne die Chance eigener Rezeption zu liegen.«50 Anders gewendet bedeutet dies für die Kunstproduktion, daß nur das absolut Neue zur Kunst noch taugt. Ein selbstgesetztes Diktum, das besonders in der Literatur so kaum einlösbar ist. Der Ekel vor dem Tradierten, das als normative Handlungsanweisung verstanden wird, macht blind gegenüber der Verwandlungsfähigkeit überkommener Inhalte. Das Streben nach Novität war schließlich die Ursache für das Entstehen der zahlreichen avantgardistischen Bewegungen in den 20er Jahren, denen die ästhetischen Traditionen zum Problem wurden. Statt in ein produktives Spannungsverhältnis zu ihnen zu treten, betrieb man Traditionsnegation. Allein der Literatur, solange sie noch im erzählerischen Diskurs verbleiben wollte, war diese absolute Novität verschlossen. Das sprachliche Werk konnte sich nicht mit der gleichen Konsequenz von der ihr eigenen Tradition abkoppeln, wie etwa die Musik und bildende Kunst. Sobald der Schriftsteller nicht mehr unmittelbar nach dem Leben schöpft, sondern nur noch mittelbar nach der Kunst, beginnt er während des Schreibens darüber zu reflektieren. Die Novität der Literatur liegt dann in ihrer spezifischen Form, wie sie ihr Verhältnis zu Tradition - und damit ist nicht nur das literarische, sondern das angesammelte, weitergegebene und eben nicht durch Vergessen verloren gegangene Kulturgut gemeint - gestaltet und diese Traditionsstränge selbst zur Sprache kommen läßt. Dies ist ein Hauptthema des Doktor Faustus, eines Romans, der angeblich ganz im Zeichen der Musik steht, die dann aber doch nur Mittel zum Zweck ist, über seine sprachliche Verfaßtheit zu reflektieren. Im Gegensatz zu anderen Künsten reicht die sprachliche Verfaßtheit der Literatur nicht aus, um sie als Kunst auszuweisen. Vielmehr besteht ihr Kunstcharakter in dem besonderen Gebrauch, den sie von der Sprache macht, auch ein, wie Japp ausführt, »Problem mit langer Tradition«.51 Spricht man von Tradition, muß man zwischen ihren genetischen Formen unterscheiden. Die Schriftsteller der Moderne beugen sich schwer unter dem Ballast der literarischen Tradition. Sobald sie darüber zu reflektieren beginnen, müssen ihre Antworten ungleich radikaler ausfallen,

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Gotthart Wunberg, Wiedererkennen. S. 185. Ebd. S. 186. Uwe Japp, Literatur und Modernität. S. 307. 20

um der selbstgesetzten Forderung nach Novität überhaupt noch nachkommen zu können. Die Destruktion traditioneller Formen geschieht nicht um ihrer selbst willen. »Hierin liegt ihr Pathos, aber auch ihr Problem. Denn der Ungewißheit der Hervorbringung korrespondiert nicht nur die Offenheit des Resultats, sondern auch die Unverbindlichkeit des Vergangenen (der Tradition).«52 Auch eine experimentierende Literatur muß sich zwangsläufig mit ihrer Tradition auseinandersetzen. Die Akkumulation der geschichtlichen Formen und der geschriebenen Werke hat für den modernen Autor, sofern er nicht einfach resigniert oder der Macht der Tradition vertraut, unter anderem zur Folge, daß die Vermeidung der Wiederholung die Notwendigkeit des Überblicks impliziert.53

Es hängt also von der je eigenen Stellung zur jeweiligen Tradition ab, ob ein Schriftsteller diese als Ballast empfindet, die ihn im extremsten Fall zwänge zu verstummen oder sie als innovatives Potential nutzt und sich ihrer gleichsam als eines Fundus bedient. Am Beginn der Moderne grenzen sich zahlreiche Autoren durch einen fast schon autoritativen Novitätsanspruch von der literarischen Tradition ab. Daß dieser selbsterzeugte Druck in der schriftstellerischen Praxis nicht einlösbar ist, muß an dieser Stelle nicht extra nachgewiesen werden. Andersherum mißt sich der Neuigkeitsgrad an dem, was als jeweilige Tradition anerkannt ist. Diese Tradition und ihre Wertung wiederum ist abhängig von gesellschaftlichen und ökonomischen Bewegungen. Mit Beginn der avantgardistischen Bewegungen gelten Traditionen nicht länger als Garant für Beständigkeit, eher schon als Ausdruck von Rückständigkeit. Für Theodor Adorno ist der Traditionsverlust seiner zeitgenössischen Kunst unausweichlich, da mit Beginn der Moderne — fiir Adorno ein Begriff, »der an seiner Abstraktheit laboriert«54 - das Neue zum Diktum jeglicher künstlerischer Entwicklung erhoben wird. Er [der Begriff der Moderne Anm. d. Verf.] ist privativ, von Anbeginn mehr Negation dessen, was nun nicht mehr sein soll, als positive Parole. Er negiert aber nicht, wie von je die Stile, vorhergehende Kunstübungen sondern Tradition als solche.55

Die Crux der Moderne liegt in ihrem universalistischen Anspruch, das jeweils Neue zu propagieren und dabei die Tradition schlechthin zu negieren. Crux insofern, als daß deutlicher als je zuvor zu Tage tritt, daß nicht ein Stil den anderen ablöst, sondern unterschiedliche Stile nebeneinander existieren und existieren können. Sie

» Ebd. S. 321. Ebd. S. 341. 54 Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie. Frankfurt a. M. 1973. S. 38. 55 Ebd.

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können sich von unterschiedlichen Traditionen abwenden oder auf ein- und dieselbe z.B. gattungsspezifische reagieren. Dieses Nebeneinander wird einmal als Tendenz zur Uniformisierung kritisiert - alles wird allem ähnlich - ein andermal als unüberschaubare Differenzierungsleistung beklagt - alles driftet auseinander. Die Moderne wird von Anbeginn als ein Krisenphänomen betrachtet. Aus dieser Krise sollte dann wiederum radikale Modernität befreien. Diese Zwiespältigkeit des Begriffs der Moderne weist Dieter Borchmeyer56 am Begriff der Dicadence, spezifischer an »Nietzsches Decadence-Kritik« nach. Während Baudelaire den Terminus in der Umkehrung als Namen einer Dichtung, die sich der Thematik des Verfalls widme, ohne ästhetisch dabei selbst zu verfallen, verwende, verschränke Nietzsche die alte und neue Bedeutung miteinander, wodurch er den Terminus ins Zwielicht rücke. In seinem Vorwort zum Fall Wagner findet sich ein Schlüsselsatz: Ich bin so gut wie Wagner das Kind dieser Zeit, will sagen ein decadent: nur dass ich das begriff, nur dass ich mich dagegen wehrte.57

Nietzsche sieht sich als Zeitgenosse der Moderne, einer Zeit, der er den Verfall diagnostiziert. Insofern ist er decadent. Aber da er den Verfallszustand durchschaut, kann er sich dagegen wehren, zu ihm in Distanz treten. Als Chronist der Decadence erteilt er ihr eine Absage. »Je nachdem, welchen Aspekt Nietzsche ins Auge faßt, ob er die Decadence an der Gegenwart mißt, in der sie absolut notwendig ist, an der >klassischen< Vergangenheit, von der aus betrachtet sie >Verfall< ist, oder an der Zukunft, in der sie durch das wiederaufsteigende Leben aufgehoben wird, wechseln die Vorzeichen.«58 Die Decadence seiner Zeit mißt sich am Traditionsverlust. Die tradierten Werte sind frei verfügbar und nivellieren einander. Auch Leverkühn diagnostiziert den Verfall. Auch er distanziert sich, bis ihn schließlich der Wahnsinn ereilt. Mit welchen Folgen für seine Kompositionen wird im zweiten Teil dieser Arbeit erruiert werden. Aber Nietzsches Decadence-Begriff, den er im Fall Wagner einfuhrt, er entwikkelt ihn ja nicht, beschreibt gleichzeitig die ästhetische Befreiung der Literatur von überkommenen Werten. Wunberg fuhrt aus: »Die Verselbständigung des Wortes, der Wörter, ihr Souveränwerden, das Auseinanderfallen der Satzbestandteile, die Anarchie der Atome: alles das beschreibt exakt den Charakter der genannten Prosa

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Dieter Borchmeyer, Nietzsches De"cadence-Kritik. In: Ethische contra ästhetische Legitimation von Literatur. Traditionalismus und Modernismus: Kontroversen um den Avantgardismus. Akten des 7. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Bd. 8. Hrsg. v. Wilfried Barncr und Walter Haug. Tübingen 1986. S. 176-183. Friedrich Nietzsche, Der Fall Wagner. Kritische Studienausgabe Bd. 6. S. 11. Dieter Borchmeyer, Nietzsches De"cadence-Kritik. S. 181. 22

von Flaubert über Huysmans bis zu Hofmannsthal und den Dadaisten.«59 Mit der Folge: »Das Realtiv-Werden von Bedeutungen und Werten besagt nicht, daß sie überhaupt nichts mehr bedeuten; besagt vielmehr, daß sie etwas anderes, möglicherweise alles andere bedeuten können.«60

2.1.4 Kunst und postmoderne Potentialität Auch innerhalb der Diskussion über die Funktion der parodistischen Schreibweise im Kontext von Moderne und Postmoderne nimmt Nietzsche eine zentrale Stellung ein. So gilt er Wolfgang Welsch61 als der erste Zeuge des »novistischen Charakters der Moderne«, als derjenigen »Epoche, in der das Novum zum Inbegriff des Seins avanciert«.62 Welsch zeigt, wie nun der Kritiker der Moderne zum Überwinder der »modernen Krankheit« innerhalb einer postmodernistischen Theorie avanciert, die, in der Verabschiedung vom Novismus, an die Stelle der modernen Eskalation eine postmoderne Haltung setzt. »Denn nun konnte man nicht mehr im Namen der Wahrheit immer neue Projekte in die Welt bugsieren, sondern mußte nachdem der Maskencharakter durchschaut war - mit der Wiederkehr des Gleichen rechnen.«63 Das Vergangene wird nicht einfach überwunden. Als Strategie, um Ambiguisierung zu erzielen, wird es transformiert, angeeignet und perspektivisch gebrochen. Diese Ambiguisierung kann einerseits eine völlige Verdichtung und Vernetzung zur Folge haben und andererseits als totale Reduktion daherkommen. Sie kann einmal Resultat einer Sprachkrise und Zerfallsanalyse sein oder ein andermal als schöpferische Potentialität und Pluralität gedeutet und gewendet werden. In seiner Dissertation Ästhetik der Ambiguität geht Christoph Bode64 davon aus, daß Ambiguität als Paradigma der Moderne per se anzusehen sei, statt nur ein Merkmal moderner Kunst darzustellen. Dabei wendet er sich gegen die postmodernistische Rede vom Ende der Moderne, da weder der literarische Materialstand noch angeblich radikalere Vertextungsverfahren die Rede vom Zeitalter der Postmoderne rechtfertigten. [...] denn genau das, was als das radikal Neue ausgegeben wird, ist nichts anderes als das praktische Durchtesten der Spielregeln der Moderne: Ambiguisierung durch Sclbst-

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Gotthart Wunberg, Historismus, Lexemautonomie und Fin de siecle. S. 50. Ebd. S. 60. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. Darmstadt 1991. Ebd. S. 136f Ebd. S. 137. Christoph Bode, Ästhetik der Ambiguität.

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bezüglichkeit. [...] Literarische Ambiguität ab Mal der Moderne kennzeichnet auch »postmoderne« Literatur.65

Postmoderne geht fur Bode als dialektischer Bestandteil in die Moderne ein und ist als literarischer Epochenbegriff um so mehr überflüssig, als er von seinen Apologeten mittlerweile selbst auf Joyce und bis ins 18. Jahrhundert zurück angewandt wird. Selbst Rolf Günter Renner, der gerade die besonderen Merkmale der Postmoderne untersucht, stellt fest: »Vielmehr ist es signifikant für den Eintritt in die postmoderne Konstellation, daß sich diese in den Normen und Setzungen der Moderne vorbereitet zeigt. «** Auf den Roman zugespitzt, heißt es dann: »Vor allem die Gattung des Romans, die auf die Rekonstruktion einer verlorenen Totalität aus ist, kann belegen, wie sich im Zentrum der Moderne schon deren Widerlegung formuliert.«67 Renners Argumentation ist so allerdings verkürzt. Der moderne Romanschriftsteller weiß, daß die Rekonstruktion der Totalität nicht mehr gelingen kann. Genau dies empfindet er als Verlust und versucht daher, sich dieser vorgeblichen Totalität im Aufzeigen ihres Fehlens anzunähern, um schließlich das Scheitern vorzuführen. Gerade Hermann Brochs unermüdliches Bemühen um den »polyhistorischen Roman« verdeutlicht, wie sehr er es als die wichtigste Aufgabe der Kunst ansah, an die verlorene Ganzheit zu erinnern und die Hoffnung auf die Möglichkeit einer künftigen wachzuhalten. Dazu schien Broch die Entwicklung einer neuen Romanform unabdingbar. Der Verlust der Einheit trieb ihn an, eine künstlerische Totalität zu erhoffen, die er aber nur in seinen polyhistorischen Romanen ex negative herbeizitieren konnte. Pluralität, die Nietzsche als beklagenswerten Zustand, da in Beliebigkeit endend, betrachtet, gilt Vertretern postmodernistischer Theorien als die Kehrseite der auf Novität drängenden Moderne. Postmoderne und Moderne verfugen zwar über den gleichen Materialstand, allein der Umgang mit diesem Materiel unterscheidet beide Bewegungen - bewußt soll hier nicht von Epochen gesprochen werden. So wenig sich die Moderne strikt gegen eine Vormoderne abgrenzen läßt, so wenig kann das Auftreten des Terminus Postmoderne als epochaler Schnitt gelten. Postmodern ist einmal der Name eines Verfahrens, das die Vielschichtigkeit und

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Ebd. S. 315.

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Rolf Günter Renner, Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne. Freiburg 1988. S. 124. Ebd. S. 125. Vgl. auch: Albrccht Wellmer, Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Frankfurt a. M. 1985. »In Werken wie >Finnegans Wake« wird der Begriff einer ästhetischen Sinn-Totalität tendenziell unanwendbar; das »Ganze« des Werks wird zu einem ideellen Horizont, nur noch in seinen Fragmenten faßbar und daher zugleich [...] zu einem multiblen Ganzen. Man könnte das Werk wohl [...] postmodern nennen. Und doch; [...] es ist bis zum Äußersten mit Sinn aufgeladen.« S. 67.

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Ambiguisierungsstrategien eines Kunstwerkes in den Mittelpunkt der Interpretation und Konstruktion stellt, und es ist andererseits, wie die Moderne, Ausdruck eines spezifischen Bewußtseins: radikale Pluralität und Aufhebung von Hierarchien in bewußter Auseinandersetzung mit dem Material der Traditionen, gerade um alles Indifferente zu vermeiden. Zudem ist Postmodernismus nicht eine Erfindung von Philosophen und Künstlern, sondern abhängig von realen Erfahrungen. Wunberg68 hat ja schon für die Moderne nachgewiesen, daß der tagliche Informationsüberschuß letzdich zur Klage über den Verlust der Einheit geführt hat. Der Informationsüberfluß hat durch neue Technologien nun derart zugenommen, daß Heterogenes völlig abstandslos aufeinander trifft, und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen paradigmatisch für das gegenwärtige Lebensgefühl ist. Das Bewußtsein, nur noch partiell und auch nur noch aus einer bestimmten Perspektive urteilen zu können, da in der Verbreitung von Strukturen chaotische Unendlichkeit steckt, tritt oft an die Stelle verbindlicher Werturteile. Das Material der Traditionen bildet da nur einen Komplex neben anderen. Die Negation der Traditionen, wie sie für die Moderne des 20. Jahrhunderts kennzeichnend ist, verknüpft mit einem radikalen Innovationsanspruch, sollte zudem allgemeingültig sein. Und so wiederholte sich genau das, wovon man sich gerade zu befreien suchte: dem Diktat des Normativen. Von diesen Absolutheitsansprüchen verabschiedet sich das postmoderne Denken und mit ihnen die Utopie der Totalität. Grundsätzlich stimmt Wolfgang Welsch mit Christoph Bode darin überein, daß die Postmoderne keine Überwindung der Moderne oder eine TransModerne anstrebte. Welsch geht dann aber über Bode hinaus. Er unterscheidet maßgeblich das postmoderne von einem modernen Bewußtsein. Welsch überprüft nicht nur - wie Bode - inwieweit das Material der Moderne postmodernistische Forderungen erfüllt, er weist zudem nach, welcher Art sich die Stellung der Künstler zu diesem Material verändert hat. Postmodern« liegt vor, wo ein grundsätzlicher Pluralismus von Sprache, Modellen, Verfahrensweisen praktiziert wird, und zwar nicht bloß in verschiedenen Werken nebeneinander, sondern in ein und demselben Werk, also interreferentiell.69

Nun soll Thomas Mann beileibe nicht als postmoderner Autor reklamiert werden, dem dies alles schon bewußt gewesen wäre. Aber im Lichte postmodernistischer Theorie erscheint Doktor Faustus als ein hochgradig metasprachlicher Roman, der als Text selbst Bedeutungen generiert. Als Text wird er zum Subjekt. Vielleicht

M 69

Gotthart Wunberg, Wiedererkennen. Wolfgang Welsch, Unsere postmodernc Moderne. S. 16f.

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beweist dies nur, daß die Theorie immer schon der literarischen Praxis hinterherhinkte, und daß epochale Kriterien in dieser Diskussion völlig untauglich sind. Die Schlüsselerfahrung des postmodernen Denkens ist im Grunde relativ einfach: Jeder Sachverhalt kann sich aus verschiedenen Perspektiven völlig unterschiedlich darstellen, ohne daß die eine zu Gunsten der anderen aufgegeben werden müßte. Die heftigste Kritik an der Postmoderne entzündet sich gerade an dieser Mehrsprachigkeit, die als plane Beliebigkeit interpretiert wird. Demgegenüber antwortet Welsch, daß das postmoderne Denken gerade die Differenz in den Vordergrund stellt. Das Augenmerk richtet sich auf Schnittstellen und Reibungspunkte. Diese müssen daher kenntlich bleiben. Der negative Minimalbegriff der Postmoderne bezieht sich auf die Verabschiedung der Einheitswünsche. [...] Der positive Begriff der Postmoderne hingegen bezieht sich auf die Freigabe und Potenzierung der Sprachspiele in ihrer Heterogenität, Autonomie und Irrcduplizität. [...] Zu ihrer Konsequenz zählt dann freilich die Schwierigkeit der Vereinbarung des Heterogenen.70

Da die Postmoderne eben nicht eine Überwindung der Moderne darstellt, vielmehr ihre Fortführung unter Umkehrung der Vorzeichen, muß sich auch ihre Stellung zu den Traditionen deutlich von derjenigen der Moderne unterscheiden, ohne dabei einem konservativen Traditionalismus zu verfallen. Die Pluralität der Sichtweisen verdeutlicht Welsch exemplarisch an der Architektur, womöglich der einzigen Kunstform, wo das tatsächlich auch gelingt. Architekten und Architekturtheoretiker haben früher als andere ihr postmodernistisches Programm festgeschrieben und darin auch ihre Stellung zu ihrer Tradition erläutert. Den radikalen Bruch, den die moderne Architektur mit ihrer eigenen Tradition vollzogen hat, heben sie auf. Für postmoderne Architekten werden die Elemente der Baugeschichte wieder essentiell.71 Sie haben vorbildlichen Charakter und das nicht bloß in formaler, sondern auch in inhaltlicher Hinsicht; sie verkörpern vergessene und wiederzugewinnende Momente öffentlicher und privater Architektur, symbolische Dimensionen [...] und humane Erwartungen (Geborgenheit). Aber der Rückgriff auf diese Gehalte geschieht nicht einfach imitativ, sondern transformativ.72

70

Ebd. S. 33f.

71

Die Gründe hierfür sind vielschichtig, resultieren aber vor allen Dingen aus dem Absolucheitsanspruch des Funktionalismus. In der Literatur gibt es vergleichsweise keine Stilrichtung, die derart dogmatisch als Ausweis der einzig wahren Modernität gilt. Daher ist der Übergang vom modernen zum postmodernistischen Bewußtsein anhand der Literatur wesentlich schwieriger nachzuweisen. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. S. 104.

72

26

Das Material, das die Geschichte - ganz allgemein gesprochen - als tradierte Formen zur Disposition stellt, wird als Fundus genutzt, ist zitierbar und in einen neuen Kontext integrierbar. Seine Geschichtlichkeit bleibt präsent, ohne daß die zitierten Formen und Werte eine Verpflichtung bedeuten, in dem Sinne, daß sie als Werte noch allgemein anerkannte Gültigkeit besitzen. Das bedeutet aber längst noch nicht, daß sie völlig sinnentleert sind. »Altes kann jünger sein als das Jüngste, kann mehr Gegenwart und Zukunft entzünden als die Dauerglut des Aktuellen enthält. Kann, muß aber nicht. Kein Vorrang der Tradition.«73 Daß man sich unentwegt neu über angeblich alte Formen verständigen müßte, das erscheint den Kritikern der Postmoderne nicht nur zu mühselig, vielmehr geradezu absurd. Die Postmoderne, folgert Welsch, läute das Ende aller Meta-Erzählungen ein. Sie könnten weiterhin für manch einen zur Orientierung dienen, besäßen aber keine allgemeine Verbindlichkeit mehr. Die drei großen Mcta-Erzählungen der Moderne — die aufklärerische von der Emanzipation der Menschheit, die idealistische von der Theologie des Geistes und die historische von der Hermeneutik des Sinns — sind zu Gestalten der Vergangenheit herabgcsunken, bilden keine Kräfte in der Gegenwart mehr.74

Unabhängig davon, daß man im nachhinein auch in der Moderne einen ausgesprochenen Stil- und Sinnpluralismus entdeckt, standen die Vertreter dieser einzelnen Stil- und Sinnrichtungen immer nur für eine Wahrheit ein. Mehrere konnten nicht nebeneinander existieren. Da wäre der Wahrheitsbegriffad absurdum geführt worden, solange man sich von seinem Absolutheitsanspruch nicht verabschieden konnte. Diese Ganzheitsvorstellungen endarven Verfechter der Postmoderne als Trug. Welsch muß hier notwendigerweise von Extrempositionen ausgehen, wie sie sich zwar auch in der Literatur finden lassen, etwa im expressionistischen Erlösungspathos oder der experimentellen Lyrik der Symbolisten, nicht unbedingt aber das Gros der Literaturproduktion umfassen. Demgegenüber gilt es deutlich zu unterscheiden zwischen einer pluralistisch operierenden Interpretation — ein Standpunkt, der erst dezidiert in der Postmoderne ausformuliert wird- und einer pluralistisch ausgelegten, das heißt auf Mehrsprachlichkeit zielenden Literatur. Die kommunikative Fähigkeit der Sprache wird nicht mehr ausschließlich in Frage gestellt. Jetzt darf sie ihre dialogische Vielfalt auf unterschiedlichen Sinnebenen entfalten. Die poetische Wirkung eines Textes resultiert dann für Umberto Eco75 aus diesem spezifischen Schwebezustand. 73 74 75

Ebd. S. 106. Ebd. S. 172. Vgl. hierzu auch: Viktor 2mega£, Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. II/2. Königstcin 1985. Darin besonders das Kapitel über

27

[...] definieren würde ich die poetische Wirkung als die Fähigkeit eines Textes, immer neue und andere Lesarten zu erzeugen, ohne sich jemals ganz zu verbrauchen,76 Mimesis weicht einer Generierung multipler Bedeutungen. Für Eco wird dieser theoretische Ansatz in seiner eigenen schriftstellerischen Arbeit produktiv.77 Allerdings beinhaltet Mehrsprachlichkeit für seinen Roman Der Name der Rose auch und besonders die Möglichkeit, ganz unterschiedliche Leserkreise anzusprechen. Eco verweigert sich einer elitären Haltung. »Eco verbindet Intellektualiät und Vergnügen, Mittelalter und Gegenwart, mystische Ekstase und kriminalistische Analytik. Und er bietet nicht nur dem Kenner exzellente Textinterferenzen, sondern auch dem Laien noch immer Doppelbödigkeiten und Verstehenssprünge genug.«78 Auf Potentalität angelegt sind nicht allein die inter- und intratextuellen Bezüge, sondern das daraus resultierende automimetische Verfahren, die immer wieder praktizierte Selbstbezüglichkeit des Textes, ein Verfahren, das auch schon im Doktor Faustus angewendet wird. Autoreflexivität könnte man dann als die selbstmimetische Bewegung des Textes verstehen. Das dichterische Verfahren wird übereinstimmend verstanden als Herauslösen der Sprachelemcnte aus ihrem gewohnten, normalsprachlichen Zusammenhang bei gleichzeitiger hochkomplexer Sekundärstrukturierung - der literarische Text wird als Struktur oder Modell gesehen, dem die normalsprachlichen Elemente lediglich als Ausgangsmaterial dienen, das jedoch, weil anders vertextet, über die primäre Referenz hinaus auf eine andere, nur der Struktur selbst zu entnehmenden Bedeutung verweist.79 Daher kann ein sprachliches Kunstwerk auch nie jene völlige Selbstbezüglichkeit erlangen, die der nonverbalen Kunst möglich ist. Die feste Materialeigenschaft der Sprache hindert sie daran, dem Bedeuten zu entkommen und in abstrakter Selbst-

76

77

78 79

>Dic Rolle des Romans< (S. 342ff.). »Die Unsicherheit gegenüber der Realität offenbart sich in der Neigung der Autoren, die älteren, eine Erfahrungstotalität suggerierenden Erzählmuster, etwa in der Tradition des Entwicklungsromans, durch mosaikartige Zustandsschilderungen zu ersetzen.« S. 343. Umberto Eco, Nachschrift zum Namen der Rose. München 1984. S. 17. Typisch für die heutige Zeit ist es, den einst beklagten Bedeutungs- und Sinnverlust in eine Perspektive ungeahnter Möglichkeiten umzuwerten als Resultat einer Anerkenntnis der Fluktuation der Werte. Vgl. Margaret A Rose, Parody. »Ecos novel may only recall such sources to the reader through the train of associations which his meta-fictional and >intertextual< references to them evoke. [...] If Eco's novel can be said to have celebrated the carhartic purging of the ridicoul in and through comedy in this passage, and to have itself used meta-fictional as well as comic devices to develop this point, it may also be said to have transcended the modern reduction of the comic to a ridiculing treatment of the ridiculous.« S. 249ff. Wolfgang Welsch, Unsere postmoderne Moderne. S. 16. Christoph Bode, Ambiguität. S. 70f.

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bezüglichkeit aufzugehen. Sprache ist immer schon Mitteilung, so daß sie nie einen ikonischen Charakter erlangt. Ihrer kommunikativen Funktion kann sie nicht entgehen, denn selbst wenn sie nichts mehr mitzuteilen hat, teilt sie dies immer noch mit. Selbst wenn die Sprache sich ihrer primären Bedeutung entledigt, um in einen neuen bedeutungsstiftenden Zusammenhang zu treten, zitiert sie doch ihre Primärbedeutung immer wieder herbei. Hieraus folgert Culler: The combination of context-bound meaning and boundless context on the one hand makes possible proclamations of the indeterminacy of meaning - though the smug iconoclasm of such proclamations may be irritating — but on the other hand urges that we continue to interpret texts, classify speech acts, and attempt to elucidate the conditions of signification.80

Sobald Literatur der Primärbedeutung zu entkommen versucht, entsteht Mehrdeutigkeit und damit auch ihr spezifischer ästhetischer Charakter, jenes markante Oszillieren zwischen normal-, metasprachlichen und ästhetischen Sinnebenen. Mehrdeutigkeit ist also kein Stilmittel, sondern Effekt asdietischer Vertextung, ein materialspezifisches Phänomen. Dies einmal vorausgesetzt, interessiert die Art und Weise, wie Ambiguität entsteht, wie ein Werk in der Reflexion aufsein eigenes künsderisches Verfahren Mehrdeutigkeit erzielt, und wie die verschiedenen Kunstgattungen sich durch ihre Mittel, Ambiguität zu produzieren, unterscheiden. Die symbolische Verfaßtheit der Sprache tritt in ihrer Ambiguität zutage, indem Sprache im Werk eine eigene Wirklichkeit gestalten kann, eine Wirklichkeit auch, die den Begriff von Wirklichkeit radikal in Frage stellt. Der eigentliche Inhalt des Kunstwerks wird somit seine Art, die Welt zu tehen und zu beurteilen, ausgedrückt in einem Gestaltungsmodus, und auf dieser Ebene muß dann auch die Untersuchung der Beziehung zwischen Kunst und Welt geführt werden. [...] die Literatur organisiert Wörter, die Aspekte der Welt bezeichnen, doch das literarische Werk deutet auf die Welt hin, durch die Art, wie diese Wörter angeordnet werden, auch wenn sie für sich genommen Sinnloses bedeuten, oder Ereignisse und Beziehungen zwischen Ereignissen, die mit der Welt scheinbar nichts zu tun haben.*1

Der Text zieht den Leser in seinen eigenen Prozeß der Bedeutungskonstitution hinein. Die Potentialität der Sinnebenen, die er offenbart, ist jedoch nicht völlig variabel, da sie erst aus einem relationalen Verhältnis heraus konstituiert wird.

80

Jonathan Culler, On deconstruction. Theory and criticism after structuralism. Idiaca, New York 1986. S. 133. " Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. S. 271 f.

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2.2 Die parodistische Schreibweise im Kontext von Moderne und Postmoderne Der postmoderne Diskurs erlaubt die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Argumentationen. Er ist disponibel für die perspektivische Verfaßtheit der Welt. Und so kann der Interpret vom Autor völlig absehen und eine spezifische Schreibweise, ein Verfahren der Textorganisation oder auch eine theoretische Fragestellung favorisieren. Das hat zur Folge, daß in den einschlägigen Arbeiten Über die postmoderne Verfaßtheit der zeitgenössischen Literatur Ausgangspunkt immer die sogenannten modernen Autoren sind, wie Beckett, Joyce, Musil oder Adorno. Die beiden letztgenannten dienen zum Beispiel Welsch dazu, diesen AufFassungsunterschied gegenüber der Postmoderne zu exemplifizieren. Zwar würden beide die »divergenten Perspektiven, die die moderne Lebenswirklichkeit prägen«, erkennen, doch die eigentliche Hoffnung gelte der Einheit. »So endet, was zur Postmoderne führen könnte, doch wieder [...] in Romantik« und taugt so nicht zur Bestimmung einer Epoche.82 Hingegen gilt Beckett dem Strukturellsten David Lodge als einer der, wenn nicht gar als der erste postmoderne Autor schlechthin, denn schon in seinem Werk entdeckt er die typischen Züge postmodernistischer Literatur: »It continues the modernist critique of traditional mimetic art, and shares die modernist commitment to innovation, but pursues these aims by methods of its own [...]. Postmodernism has established itself as an Venture, in Barthess sense of the word - a mode of writing shared by an significant number of writers in a given period - most plausibly in the French nouveau roman and in American fiction of the last ten or fifteen years.«83 Diese Periodisierung kann nur insofern gelten, als die Autoren sich bewußt der Schreibweise bedienen. Ungeschickt, wenn nicht gar falsch, ist es, Beckett zum ersten Autor der Postmoderne zu stilisieren. Das könnte als Epochengrenze, als Neuanfang verstanden werden, während es Lodge vorrangig um die Schreibweise geht. So macht er an der postmodernen Schreibweise Merkmale fest, die alle die Ambiguisierung der von ihm untersuchten literarischen Texte fördern: »Contradiction, permutation, discontinuity, randomness, excess.« Der BegriffSchreibweise wird hier essentiell für die Analyse postmoderner Literatur, wie Lodge sie versteht. Schreibweise ist aber auch für die Anhänger eines erweiterten Parodiebegriffs von grundlegender Bedeutung.

11 83

Wolfgang Welsch, Die postmodcrnc Moderne. S. 176. David Lodge, The modes of modern writing. Metaphor, metonymy, and the typology of modern literature. London 1977. S. 221. 30

2.2. l Dialogizität und Maske: Die parodistische Vergegenwärtigung der literarischen Tradition bei Michail M. Bachtin So wie dem Vordenker eines spezifisch modernen Bewußtseins Friedrich Nietzsche eine Schlüsselposition bei der Neubewertung der Parodie zukommt, so ist es dem Theoretiker des literarischen Karnevals Michael M. Bachtin zu verdanken, daß er der Parodie, als ästhetisches Medium der Vergegenwärtigung, eine exponierte Stellung in der Genese des Romans zuerkannte. Bachtin84 entledigt sich der Gattung und ist allein am Doppelcharakter der Parodie interessiert. Parodie ist die Herstellung eines profanierenden und dekouvrierenden Doppelgängers, Parodie ist umgestülpte Welt. Deswegen ist sic ambivalent."

Während sich das pietätvolle Epos statisch und entwicklungslos auf eine festgrundierte unanfechtbare Überlieferung stütze, auf »die Allgemeingültigkeit von Werturteil und Standpunkt, die jede Möglichkeit eines anderen Herangehens ausschließt«,86 zerstöre der Roman die epische Distanz, entwickle ein Bewußtsein für die Relativität der Vergangenheit und etabliere sich vermittels parodistischer Stilisierung »bewußt als kritisches und selbstkritisches Genre.«87 In der Geschichte des europäischen Romans hat die literarische Parodie auf die herrschende Variante des Romans eine erhebliche Rolle gespielt. Man kann sagen, daß die wichtigsten Romantypen und -Varianten im Prozeß der parodistischen Zerstörung bestehender Romanwelten geschaffen worden sind."

Auch wenn Bachtin hierfür den Nachweis schuldig bleibt, so ist der von ihm hervorgehobene ambivalente Charakter der Parodie außerordentlich aufschlußreich für den postmodernen Diskurs. Im destruktiven Charakter der Parodie offenbart sich zugleich die zu parodierende Sprache. Ihre innere Logik und Authentizität wird vergegenwärtigt, um dann in der dialogischen Bewegung einen Subtext zu ihr zu entwerfen. Bachtin sieht darin die »fröhliche Vernichtung« der Vergangenheit.89 Die Sprache fungiert als Maske, hinter der sich der Autor versteckt, um sich frei in der dargestellten Welt zu bewegen. Die Sprache als Maske und die unreduzierbare Potentialität der Welt im Roman treten in Wechselwirkung mit der Dialoghaftigkeit 84

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88 89

Michael M. Bachtin, Literatur und Karneval. Zur Romantheoric und Lachkultur. Frankfurt a. M. 1990. Ebd. Michail M. Bachtin, Epos und Roman. Zur Methodologie der Romanforschung. In: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hrsg. v. Edward Kowalski und Michael Wegner. Berlin, Weimar 1986. S. 465-508. S. 480. Ebd. S. 473.

Ebd. S. 199. Michail M. Bachtin, Epos und Roman. S. 485. 31

und Vielstimmigkeit des Wortes.90 Daher ist die Parodie immer zweifach gerichtet. Diese Zweistimmigkeit zeichnet sie zwar aus, aber sie teilt sie auch mit anderen Genres. Der zweistimmige Charakter der Parodie fuhrt zur »Selbstkritik« des Romans. Er muß sich mit seiner Vergangenheit als Genre und seiner Konstitution in der Gegenwart auseinandersetzen. Gleichzeitig entsteht eine dialogharte, aktive Beziehung zur Außenwelt. Das Kulturerbe wird neu erschlossen, da durch die Vielsprachigkeit des Wortes sich in jedem neuen Kontext eine neue Sinnpotenz eröffnet. Hierin sieht Bachtin den ambivalenten Charakter der Parodie begründet und spricht von dem »Pathos der Enteignung des fremden Wortes«: Der neue Künstler entdeckt das Erbe einer verfluchten Vergangenheit, ein Erbe, dessen Inanspruchnahme ihm widerstrebt; dennoch kann er es nicht entbehren. So muß er sich in der vorliegenden Traditionsmasse orientieren. Die Aufgabe des künstlerischen Schaffens ist es, einen eigenen Gedanken in einer fremden, ererbten Sprache auszudrücken.91

Die Parodie lebt von der Vergegenwärtigung. So entwickelt sie eine aktive Beziehung zu den Traditionen, aus denen der Künstler sein Material schöpft. Hinter den Masken der Sprachen verschwindet der Autor. Bachtin unterscheidet zwischen der direkten Parodie, die sich in einem Gegengesang entlad und der komplexen Parodie, die sich zum Beigesang, zur Selbstkritk des Romans entwickelt. Allein der komische Charakter der Parodie bleibt bei Bachtin ungelöst, obwohl er ihre Ursprünge im karnevalistischen Verhalten entdeckt. Daher beschäftigt er sich auch nicht mit der Parodie im modernen Roman. Die Moderne ist ihm ohnehin suspekt und er verdächtigt sie, das Komische und Burlesque nur als trivial gelten zu lassen.

2.2.2 Die Schreibweise und ihre Textvorlage Schon Bachtin hat also die Parodie vor ihrer Reduzierung auf die Gattung und ihren rein komisch-entlarvenden Effekt in Schutz zu nehmen versucht. Auf einen derart erweiterten Parodiebegriff greift das Autorenteam Verweyen/Witting zurück, um sich skeptisch von dem herkömmlichen zu distanzieren: 90

91

Bachtin sah die Vielstimmigkeit des Wortes immer von normierenden, vereinheitlichen Strategien bedroht, vor allen Dingen in der formalistischen Kritik. Daher waren ihm zunächst besonders Lyrik und Drama als Ausdruck reiner Monosprachlichkeie verdächtig. Im Laufe der Jahre hat Bachtin diese starre Position jedoch relativiert und beiden Genres ein gewisses Maß an Mehrsprachlichkeit attestiert. Edward Kowalski, Michail Bachtins Begriff der Dialoghaftigkeit. Genese und Tradition einer künstlerischen Denkform. In: Untersuchungen zur Poetik und Theorie des Romans. Hrsg. v. Edward Kowalski und Michael Wegner. München, Weimar 1986. S. 514. 32

Entgegen einer durch Anthologien und Lexika verfestigten und sich stets aufs neue stabilisierenden Tradition, scheint uns problematisch zu sein, den Ausdruck als Gattungsnamen zu verwenden."

Damit umgehen Verweyen/Witting zum einen das Kriterium ästhetischer Wertung und zum anderen entgehen sie den tradierten, normativen Implikationen des Gattungsnamen. Um die unterschiedlichen Funktionen der Parodie besser bestimmen zu können, verstehen sie Parodie als »besondere Form der Bezugnahme auf eine Vorlage,«93 eine Bezugnahme, die auf alle möglichen Medien übertragbar wäre. Da es hier um Literatur geht, sprechen sie von einer Schreibweise: Dabei verstehen wir unter »Schreibweise« [...] eine absolut oder relativ konstante Komponente der kommunikativen KompetenzShowing How< macht einerseits die Universalität der Parodie aus, andererseits ihr Spezifikum, das sie von anderen Textsorten unterscheidet.«115 Die Parodie adaptiert eine grundlegende Konstellation der Literaturproduktion als ihr ureigenstes Verfahren: Ein System von Beziehungen zu erstellen, allein, um auf den Prozeß des Bezugnehmens zu verweisen.

2.2.4 Inter- und Intratextualität Intertextualität und Parodie ist der Bezug von Texten auf andere Texte gemeinsam. Im Rückgriff auf Michail Bachtins Begriff der Dialogizität entwickelt vor allem Julia Kristeva116 Ende der sechziger Jahre ihre Theorie der Intertextualität. Für Bachtin bedeutet - laut Kristeva - jegliches Sprechen immer auch schon dialogisches Sprechen. Selbst das einzelne Wort ist in diesen dialogischen Verweisungszusammenhang eingebunden, »sofern es nicht als unpersönliches Wort der Spra-

113

114

115 116

Ebd. S. 24. Vgl.: Zoran Kravar, Metatextualität. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. Frankfurt a. M. 1987. S. 246-247. Metatextualität, »eine lexikalische Neuschöpfung der poststrukturalisüschen Literaturtheorie«, die aber einer präzisen Bedeutung ermangelt, bezeichnet diejenige Situation, in der ein Text über sich selbst reflektiert. »In diesem Sinne ist die M. ein Organen dessen, was heute unter dem Begriff »immanente Poetik« verstanden wird.« S. 246. Der Metatextualität sind Begriffe wie Autoreflexivität und Autoreferentialität zugeordnet. Hier wird zudem deutlich, daß Höfcles Benennung der »selbstreflexiven Schreibweise« in seiner Anwendung mißverständlich ist, denn er setzt die Reflexion in Beziehung zur Vorlage, nicht zum Schieibakt selbst. Andreas Höfele, Parodie und literarischer Wandel. S. 31. Vgl. Julia Kristcva, Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman. In: Zur Struktur des Romans. Hrsg. v. Bruno Hillcbrand. Darmstadt 1978. S. 388-407. 39

ehe, sondern als Zeichen einer fremden Bedeutungsposition, als Repräsentant einer fremden Äußerung aufgenommen wird.«1" Die jeweilige Gerichtetheit des Wortes ist anzuerkennen. Kristeva generalisiert in ihrer Analyse den Textbegriff soweit, daß schließlich jede kulturelle Struktur zum Text wird. Auf der anderen Seite dieses Textbegriffs steht die Aufgabe von Autonomie und Identität. Jeder Text befindet sich, laut Kristeva in einem Dialog mit unendlich vielen Vorgängertexten. Jeder Text baue sich aus unendlich vielen Mosaiksteinen auf und jeder Text absorbiere und transformiere einen anderen Text. Wir nennen Intertextualität dieses textucllc Zusammenspiel, das sich im Inneren eines einzigen Textes vollzieht. Für den Sachkenner ist Intertextualität ein Begriff, der anzeigt wie ein Text die Geschichte »liest« und sich in sie hineinstellt."1

Ausgerechnet Kristeva, die ja den traditionellen Textbegriff völlig auflöst und den Gestus des Bezugnehmens in den Mittelpunkt jeder Textgenerierung stellt, begegnet der Parodie mit dem altbekannten Vorurteil. Parodie leide an einem Mangel an Originalität. Ganz im Gegensatz zu Bachtin, für den die Parodie markanter Ausweis der Dialogizität und der Karnevalisierung der Literatur überhaupt ist. Daher rührt für ihn ja gerade ihre Ambivalenz. Der innovative Charakter der Parodie wird von Kristeva erstaunlicherweise völlig übersehen. Kristeva kritisiert, daß die Abhängigkeit der Parodie von ihrem vorgeformten literarischen Material ihr zu deutlich eingeschrieben sei, Intertextualität aber universelle Geltung haben solle. Zudem hafte der Parodie der Makel des Komischen an.119 Soweit Kristevas unglaublich konservative Kritik. Harold Bloom120 wiederum löst den Begriff der Intertextualität aus seinen universalen Konnotationen und bezieht ihn ausschließlich auf literarische Texte. In seinem genetischen Modell ist Intertextualität in die Entstehungsbedingungen eingegangen, als teils unbewußtes Abarbeiten an sogenannten »Vatertexten«. Die Autonomie des Einzelwerkes hat auch bei ihm keinen Bestand mehr. An die Stelle der Autonomie tritt seine Relationalität.121

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Michail M. Bachtin, Literatur und Karneval. S. 105. Zitiert nach: Manfred Pfister, Intertextualität. In: Moderne Literatur in Grundbegriffen. S. 198. 1 " Vgl. hierzu: Margaret A. Rose, Parody. »As is the case in many >late-modern< structuralist and poststructuralist discussions, the overall emphasis in Kristeva's essay is on the inter textual and >the serious« rather than on the parodic and the comic.« S. 179. 120 Harold Bloom, The anxiety of influence. Oxford 1973. 121 Jorge Luis Borges hat den Gedanken der Intertextualität, die nicht mehr an einzelne spezifische Texte gebunden ist, am konsequentesten weitergeschrieben. In Tlön, Uqbar, Orbis Tertius entwirft er eine völlig hypothetische Welt, zu der eine Reihe von Wissenschaftlern sozusagen die Fußnoten schreiben, in Form einer Enzyklopädie. Borges lehnt 118

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Im Inneren eines Textes findet aber nicht nur ein textuelles Zusammenspiel externen Textmaterials statt, sondern innerhalb von diesem neuen Textgebilde entsteht ein, von den äußeren Einflüssen unabhängiges, diese nur als Material nutzendes, Verweisungssystem. Dieses Verhältnis wird richtigerweise als Intratextualität beschrieben und durch den Begriff der Metatextualität122 spezifiziert, indem das Moment der Selbstreflexivität hinzutritt. Diese Selbstreflexivität wird von Manfred Pfister auch als Autoreflexivität bezeichnet. Der Intensitätgrad der Imertextualität [...] kann noch dadurch gesteigert werden, daß ein Autor in seinem Text nicht nur bewußte und deutlich markierte intertextuelle Verweise setzt, sondern über die intertextuelle Bedingtheit und Bezogenheit seines Textes in diesem selbst reflektiert, d.h. die Intertextualität nicht nur markiert, sondern sie thematisiert, ihre Voraussetzungen und Leistungen rechtfertigt und problematisiert.123

Unter dem Verdikt, daß in der Moderne nur noch Parodien möglich seien, thematisiert der Roman Doktor Faustus sich selbst als Kunstwerk und rekonstruiert dabei seinen eigenen Konstruktions- aber auch Dekonstruktionsprozeß in den Selbstkommentaren Zeitbloms und Leverkühns. Der Entstehungsbericht über die einzelnen Kompositionen Leverkühns ist immer auch ein Entstehungsbericht über den Roman selbst und über die Möglichkeiten einer Kunst zwischen tradierten Mustern und moderner Schreibweise. Hier läßt sich zeigen, wie in der parodistischen Schreibweise Autoreflexivität entsteht, ohne auf die externen Quellen des Romans zurückgreifen zu müssen. Autoreflexivität ist aber nur ein Kriterium für Intertextualität. Pfister nennt noch fünf weitere Kriterien: »Referential!tat« thematisiert die Intensität der Beziehung zwischen zwei oder mehreren Texten, »Kommunikativität« drückt den Grad der Bewußtheit der intertextuellen Beziehung beim Autor oder Rezipienten aus, »Strukturalität« betrifft die syntagmatische Integration der Prätexte in den Text, »Selektivität« erfaßt den Grad der Prägnanz der intertextuellen Verweisung und

das traditionelle Originalitätskonzept ab, da jede Literatur auf bestimmte Archetypen zurückzuführen sei. Daher kann er auch Pierre Menard den Don Quijote ein zweitesmal wortgetreu schreiben lassen, ohne allein eine Kopie zu erstellen. Daß in diesem Bereich große Begriffsverwirrung und Doppelbedeutungen herrschen, ist ohne weiteres ersichtlich. So wird Metatextualität auch in einem anderen Sinne verwendet, als »Metatext eines Prätcxtcs« - Metatext hier nicht im bloß chronologischen Sinn des »Später«, sondern darüber hinaus im semiocischen Sinn des »Über«. »So treibt Intertextualität immer auch zu einem gewissen Grad Metatextualität hervor, eine Metatextualität, die den Prätext kommentiert, perspektiviert und interpretiert und damit die Anknüpfung an ihn bzw. die Distanznahme zu ihm thematisiert.« (Manfred Pfister, Konzepte der Intertextualität. In: Intertextualität. Hrsg. v. Ulrich Broich und Manfred Pfister. Tübingen 1985. S. 26f.). 41

»Dialogizität« beschreibt die intertextuelle, ideologische oder semantische Spannung. Nimmt man diese sechs Kriterien zusammen, so finden sich als Zentrum maximaler Intensität Textsorten wie die der Parodie oder Einzeltexte wie The Waste Land.124

Damit avanciert die Parodie zum Paradigma der Intertextualität per se. Erst die Analyse von Einzeltexten kann erweisen, in welchem Spannungsverhältnis Intertextualität und parodistische Schreibweise tatsächlich stehen. Gleichzeitig entfaltet sich die Potentialität der Parodie aber auch intratextuell. Das ist das Thema dieser Arbeit. Parodie verstanden als parodistische Schreibweise bezeichnet nicht mehr ihren herkömmlichen Sinn, unter dem allgemein ein Text begriffen wird, dessen einzige Funktion darin besteht, eine im weitesten Sinne dennoch erkennbare Vorlage zu parodieren.

2.2.5 Mctafiktionalität, Metakommentar unä Selbstparodie Als eine Metasprache, die die verschiedenen Funktionen von Sprache oder auch deren Wandlungen darstellt, versteht auch Margaret A. Rose125 Parodie. Obgleich Rose die Problematik jeglichen Definitionsversuchs erkennt, und ihr Ansatz einiges zu einem Autonomiekonzept der Parodie als »general parody« beiträgt, bleibt sie doch unausgesprochen am Gattungsbegriff und an der Textvorlage, die sie vor allem unter rezeptionsästhetischen Gesichtspunkten betrachtet, hängen. Unter Parodie versteht sie daher: [...] the critical quotation of performed literary language with comic effect, and, in its general form, the meta-fictional »mirror« to the process of composing and receiving literary texts.126

Parodie als meta-fiction begreift Rose an erster Stelle als kritische, auf den Leser hin orientierte Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition. Damit engt sie diese, wider besseren Wissens derart ein, daß gerade das Moment der Selbstreflexivität

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Ebd. S. 27. < Ebd. S. 29.

12

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Margaret A. Rose, Parody/Metafiction. An analysis of parody as a critical mirror to the writing and reception of fiction. London 1979. Obgleich Rose in ihrer Untersuchung vom selbstreflexiven Gestus der Parodie ausgeht, verliert sie diesen Aspekt bei ihren Beispielen aus den Augen, um schließlich besonders den politischen Charakter der Parodie zu betonen. Ihrer Arbeit fehlt die Unterscheidung zwischen der Verfahrensweise und den parodierten Inhalten und somit ein Gesamtkonzept. Dennoch ist ihre Studie als einer der wenigen Versuche über eine Theorie der Parodie stellenweise sehr aufschlußreich.

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in ihrer Arbeit auf der Strecke bleibt. Freilich sind ihr die Möglichkeiten, die darin liegen, Parodie als meta-fiction zu begreifen, durchaus bewußt: [...] the structure of texts in which parody is not just a specific technique but the model of the work itself («general parody« as in Cervantes' Don Quixote).127

Um es noch einmal deutlich zu sagen: Die parodistische Schreibweise setzt sich als Metakommentar nicht allein mit der Vorlage auseinander. Sie reflektiert gleichzeitig über den Entstehungsprozeß des Kunstwerks an sich. Diesen Gedanken konsequent weiter zu führen, würde bedeuten, daß ein Kunstwerk seine eigene Parodie vorwegnimmt. Als Metakommentar ist sie immer schon anwesend. Hieran anknüpfend wird zu untersuchen sein, wie der der Roman Doktor Faustus mittels der parodistischen Schreibweise die in dem Roman entwickelten Aporien der modernen Kunst - besonders im Teufelsgespräch - hinter sich läßt. Schließlich ist zu prüfen, ob die Parodie der Parodie in eine Bejahung des Kunstwerks mündet und es damit gegen seine eigene Negativität zeugt. Um die Richtung kurz anzudeuten: Im Doktor Faustus bemüht sich Zeitblom redlich, seinem biographischen Geschäft gerecht zu werden. Indem er aber sich und dem imaginierten Leser immer wieder über sein Tun Rechenschaft ablegt, beweist er nur, wie sehr er sich verrennt, wie sehr er sich unwissentlich selbst parodiert. Die Gattung der Biographie gerät zur Parodie. Gleichermaßen bilden die ästhetischen Reflexionen Leverkühns einen Metakommentar, zum einen zu seinen eigenen Kompositionen und zum anderen zum Konstruktionsverfahren des Romans selbst. In der parodistischen Schreibweise wird das Überkommene konserviert und gleichzeitig als Überkommenes wieder aufgehoben. So entsteht eine paradoxe Situation. Das Vergangene (ganz unspezifisch gesprochen), seines Wertes verlustig, wird noch einmal in völlige Unmittelbarkeit gestellt. In der Parodie wird eine Wirklichkeit konstituiert, deren Geltung zugleich auf verschiedenen Sinnebenen in Frage gestellt wird, zu Gunsten des Disparaten, einer Realität, die sich als mehrdeutige begreifen läßt. Darin ist der Zweifel an ihrer eigenen Existenz mit eingeschlossen. So sieht auch Höfele die Parodie in der Moderne nicht allein als Wegräumen obsolet gewordener Konventionen; als »ironische Schöpfung« vermag sie »diese Konventionen durchaus noch einmal [...] mit Leben zu erfüllen.«12' Denn in der »parodistischen Subversion« verschwinden die parodierten Muster nicht plötzlich. Sie sind in ihrer Negation noch einmal präsent und geben einen provisorischen Halt. Die Beglaubigung spezifischer Werte ist demgegenüber der Parodie wesens-

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Ebd. S. 59.

127

Ebd. S. 17. Andreas Höfele, Parodie. S. 298f.

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fremd, denn sie vermag diese allein noch herbeizuzitieren. Gleichzeitig birgt sie die Kraft überhaupt auf Konventionelles noch hinzudeuten, ohne in seinem Sog zu strudeln. Nur wenn sie im selbstreflexiven Akt die Konventionalität, den Schein entlarvt, darf sie sich dessen wieder versichern. Diese Negativität ist bezeichnend für die distanzierte Haltung des Autors, der bis zur Unsichtbarkeit hinter seinem Text verschwindet. Die Selbstreflexion des schriftstellerischen Ichs geht auf in einer Reflexion über die Modalitäten des Schreibens; Parodie wird zum Medium dieser Reflexion.129

An die Stelle des Autors tritt das Spiel mit den Formen, das Spiel mit Fiktion und Wirklichkeit als Konsequenz aus der unmöglich gewordenen Authentizität. In Abgrenzung zu Höfele meint Negativität in dieser Arbeit aber nicht totale Negation. Inhärent ist ihr immer die Potentialität, die aus der Befreiung von traditionellen Normen ensteht. Vielmehr steht das Provisorium solcher Normierungen im Vordergrund. Im parodistischen Gestus wird zwar noch eine bestimmte Norm sichtbar, verbunden mit dem Wissen um die Verbindlichkeit dieser Norm, doch ihre sinnstiftende Funktion wird im Beziehungsnetz des literarischen Spielraums dekonstruiert. Letztlich bleibt kein Standpunkt mehr übrig, von dem aus gewertet werden kann. Auch der Autor verschwindet hinter der Vielzahl der parodistischen Maskeraden. Die parodistische Schreibweise als selbstreferentieller Metakommentar zielt nicht mehr auf Kritik und/oder Komik. Vielmehr demonstriert sie die Potentialität von Kunst in der Moderne überhaupt, indem sie über ihre Entstehungsbedingungen reflektiert und mit diesen spielt. So kann sie die Frage nach dem Sinn der Kunst zwar stellen, doch immer schon unter dem Vorzeichen des »als-ob«. Diese Verlusterklärung ist nicht das Ziel - vielleicht nur noch der Ausgangspunkt auch wenn das parodistische Spiel zeitweilig den Eindruck erweckt, es würde hinter seine theoretischen Voraussetzungen zurückfallen. Der besondere ästhetische Reiz liegt eben gerade in der Argumentationslosigkeit, die die Kunst von jeglicher Rechtfertigung befreit. Im spielerischen Umgang mit den eigenen Mitteln fungiert sie als Vexierspiegel einer Wirklichkeit, für die es keine Beglaubigung mehr gibt.130 Symptomatisch für die parodistische Schreibweise ist denn auch, daß sie kein Heraustreten aus ihrem eigenen Gestus zuläßt. Ihre Ernsthaftigkeit muß sich vor allem auf ihr eigenes Verfahren richten.

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Andreas Höfele, Parodie und literarischer Wandel. S. 70. Zu dieser letzten Konsequenz war Thomas Mann natürlich nicht bereit, und so gilt es, im Doktor Faustus zu untersuchen, in welchem Verhältnis beziehungsweise Mißverhältnis parodistische Schreibweise und ethischer Anspruch stehen.

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Für die Moderne ist bezeichnend, daß mit der ästhetischen Aufwertung der Parodie eine Gewichtung vom rein komischen zum tragikomischen Akzent einhergeht. Parodie in der modernen Literatur will nicht besagen, daß erst die Moderne die parodistische Schreibweise für sich entdeckte. Aber die Wiederentdeckung ihres selbstreflexiven Gestus ist untrennbar mit der Krise der Moderne, dem Verlust von Sinnstiftung verbunden. So ist sie sowohl ein Symptom dieser Krisensituation als auch ein Instrument, sie zumindest ästhetisch zu verarbeiten. Aber erst mit Beginn des postmodernen Diskurses wird die Potentialität der parodistischen Schreibweise als Ausdruck eines spezifischen Bewußtseins und Verfahrens literarischer Vertextung entdeckt und positiv bewertet. Die leidige Diskussion, wann ein Text modern oder postmodern sei, hilft hier nicht weiter.131 Parodie zeugt von Erschöpfung und zeugt gleichzeitig gegen sie mittels ihrer Schöpfungskraft. Der Schwund an Authentizität ist gerade das spezifische Merkmal der parodistischen Schreibweise und Ausdruck ihres selbstparodistischen Charakters. Tragisch ist sie in ihrer fehlenden Radikalität der totalen Destruktion, komisch im selbstkommentierenden Eingeständnis ihres Versagens, doch schöpferisch tätig wird sie nur aus dieser Ambivalenz heraus. Der selbstreflexive Gestus der Parodie mündet unausweichlich in Selbstparodie, in eine, wie Richard Poirier formuliert: [...] literature of self-parody that makes fun of itself as it goes along. It proposes not the rewards so much as the limits of its own procedures; it shapes itself around its own dissolvements; it calls into question not any particular literary structure so much as the enterprise, the activity itself on creating any literary form, of empowering an idea with a style [...].'»

Ulysses gilt Richard Poirier als der Prototyp einer »literature of self-parody«. James Joyce ist in diesem Sinne ein Autor, »who parodies [...] not only his meanings, but his methods, and does so while he enthusiastically moves into some new, wholy different kind of performance.«133 Während ein konservatives Parodieverständnis Realia, die eine autoritäre Instanz verkörpern, voraussetzt, bieten jetzt Werte wie Leben, Geschichte oder Realität nur noch einen provisorischen Schutz.

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Vgl. hierzu: Richard Rorty, Der Mensch ist ein tolerantes und schöpferisches Tier. In: Frankfurter Rundschau. Feuilleton (6.8.94). »Ich glaube nicht, daß es irgend jemandem gelungen ist zu beschreiben, was der Unterschied zwischen Moderne und Postmoderne ist. [...] Je mehr einem die Künstlichkeit des Begriffs >Postmoderne< aufgeht, desto dubioser wird auch der Begriff literarische und künstlerische Modcrnc< - die Idee, daß sich im frühen 20. Jahrhundert etwas Brandneues ereignete.« Richard Poirier, The performing self. London 1971. S. 27f. Ebd. S. 35. 45

Poirier geht nicht so weit, die Unterscheidung zwischen Fiktionalität und Realität völlig aufzulösen. Vielmehr bestehe im Medium der Literatur eine drastische Möglichkeit, die Wirklichkeit auf ihren fiktiven Charakter hin zu befragen. »To talk or to write is to fictionalize. More than that, to talk or to write about novels or poems or plays is only to re-fictionalize diem.«1* Die Selbstparodie steht im Zeichen des »als-ob«. Sie entwirft die Fiktion einer Realität und zerstört sie im gleichen Akt wieder. Sie ist die Kunst des Widerspruchs, des Widerspruchs gegen sich selbst. Sie schreibt vom Ende aller Kunst, dem allerletzten Kunstwerk und schreibt doch über das Ende immer wieder hinaus. Creation follows on the discovery of waste. [...] Joyce initiates a tradition of self-parody now conspicuously at work in literature. But he does far more than that. He simultaneously passes beyond it into something which writers of the present and future have still to emulate. He is not at all satisfied merely with demonstrating how any effort at the creation of shapes is an exercise in factitiousness. Instead, he is elated and spurred by his discovery, he responds not only by the contemplation of futility or with ironies about human invention and its waste, but widi wonder at the human power to create and then to create again under the ackowlcdgcd aegis of death.l33

Erst im Zuge der postmodernistischen Wiederbelebung von Begriffen wie Potentialität, Ambiguität und Intertextualität, entfaltet die Parodie die Kraft der Rekreation. Gegen die Rede vom Ende der Kunst in der Moderne setzt sie die Vergegenwärtigung bei gleichzeitiger Oekonstruktion der Traditionen, wobei die selbstparodistische Brechung und subversive Metatextualität dem reinen Experiment der Avantgarden der Moderne entgegenstehen. Trotzdem: aus dem definitorischen Dilemma kann sie sich nicht entwinden. Angesichts der schwierigen Differenzierung zwischen Postmoderne und Moderne bei gleichzeitiger Auflösung des Gattungsbegriffs Parodie, bleibt die Antwort nach dem "Wesen und der Bedeutung der Parodie ambivalent. Ihr Funktionieren läßt sich am ehesten innerhalb ihres jeweilige Kontexts erruieren. Innerhalb des postmodernen Diskurses erhält die Parodie eine herausgehobene Stellung. Aber an ihrem Stellenwert scheiden sich die Geister. Manche Autoren übernehmen das Vorurteil: Parodie tauge als komisches Genre allein zur Trivialität. Andere befreien sie von dieser Reduktion auf Komik und etablieren sie als eigenständige Schreibweise, deren Funktion sich in der Rolle der Metafiktion, beschrieben als die Fähigkeit zur Selbstreflexion und Selbstkritik, erfüllt. Rose faßt zusammen:

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Ebd. S. 29. Ebd. S. 39.

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Even given Jameson's contrast of modern parody to post-modern pastiche as to a weaker form based on the >normlessness< and on the >death< of the individual subject, his own definition of parody as ridicule harbours the modern conception of parody as something negative which has been seen to have been echoed by other late-modernist views of parody such as Baudrillard's. While Newman, like Hutcheon, excludes the comic from the definition of parody, he also retains die negativity which was associated with the definition of parody as ridicule in many of the modern definitions given of in the past.156

Hutcheons Ablehnung, Parodie mit dem Komischen zu konnotieren, ist eine Reaktion auf die moderne Kritik - und in diesem Sinne versteht sie sich als Vertreterin einer postmodernen Theorie -; Parodie, verstanden als spöttische Imitation, sei nur eine minderwertige literarische Gattung. An die Steile von Komik tritt bei Hutcheon daher Ironie, ohne daß sie deren Tragweite näher analysierte. Parodie, einmal befreit vom Verdacht der Trivialität, wird so zum exemplarischen ästhetischen Genre der Postmoderne mit dem komplexen Erscheinungsbild, daß sie als parodistische Schreibweise sowohl vergegenwärtigt als auch verändert. Ihre deutliche Bezugnahme auf tradierte Muster suspendiert den Gedanken der Originalität von der Forderung nach Neuschöpfung. Parody has perhaps come to be a privileged mode of postmodern formal self-rcflcxivity because its paradoxical incorporation of the past into its very structures often points to diese ideological contexts somewhat more obviously, more didactically, dian other forms. Parody seems to offer a perspective on die present and the past which allows an artist to speak to a discourse from within it, but without being totally recuberated by it.137

Und warum sollte nicht ihre komische Seite diese Auffassung bestätigen, das selbstironische Augenzwinkern die nötige Distanz zu den zu transportierenden Inhalten bieten? Gerade in Anbetracht des Komischen kann die Parodie als diejenige Form, die das disperate postmoderne Denken am ehesten zur Gestaltung bringt, verstanden werden. Geht es doch darum, die Komik zu rehabilitieren. Dafür stehen postmoderne Autoren und Theoretiker wie Malcom Bradbury, Umberto Eco, David Lodge oder Charles Jencks,138 die zugleich mit der Restituierung des Komischen ihren Charakter als komplex, metafiktional, intertextuell, zweistimmig und selbstreflexiv bestimmen. In becoming >post-modern< through die rejection and revision of die modern reduction of parody to either meta-fiction or comedy, and in favour of an understanding of parody as a much more complex combination and development of both die meta-fictional and 136 157

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Margaret A. Rose, Parody. S. 228. Linda Hutcheon, A poetics of postmodernism: history, theory, fiction. Cambridge 1988. S. 35. An dieser Stelle soll der Verweis auf die Analyse der unterschiedlichen Positionen von Margaret A Rose in ihrer Studie über die Parodie genügen.

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the comic and their related forms, the parody [...] might even be said to have »doublecoded« the modern with the ancient.139

2.2.6John Barth: Kunst zwischen Erschöpfung und Erneuerung Bevor der oben entwickelte Begriff der parodistischen Schreibweise exemplarisch die Analyse des Doktor Faustus leitet, soll am Beispiel von Theorie und Praxis des Amerikaners John Barth1*1 ihre Funktionsmöglichkeit dargestellt werden. Ausgangspunkt in seinem vor allem in Amerika programmatisch gewordenen Artikel von 1967 The Literature of Exhaustion141 ist John Barth »the used-upness of certain forms or exhaustion of certain possibilities«142 fur die Literatur der Moderne. Dies sei aber nicht »necessarily a cause for despair«. Die Erschöpfung literarischer Formen und Konventionen sei kein unüberwindlicher Zustand. Dies bewiesen Autoren wie Joyce, Beckett und vorzugsweise Borges, dem der Aufsatz gewidmet ist. Spätestens seit Cervantes' Don Quijote und seiner kritisch-parodistischen Nachahmung des höfischen Ritterromans bleibe dem Künstler gar keine andere Wahl, als auf Traditionen zurückzugreifen. Barth erteilt dem literarischen Originalitätsanspruch daher eine Absage. In der Moderne tritt allerdings das Moment der Endzeitstimmung hinzu, das Folgen für die Art und Weise der Kunstproduktion enthält. Am Beispiel von Jorge Luis Borges Erzählung Pierre Menard, Author of the Quixote veranschaulicht Barth seine These: But the important thing to observe is that Borges doesn't attribute the Quixote to himself, much less recomposc it like Pierre Menard; instead, he writes a remarkable and original work of literature, the implicit theme of which is the difficulty, perhaps the unnecessity,

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Margaret A. Rose, Parody. S. 273. Vgl. hierzu Margaret A. Rose, die am Beispiel amerikanischer Autoren wie Toni Morrison, E. L. Doctorow, Ismael Reed, Thomas Pynchon und John Barth die postmoderne Verfaßtheit ihrer Werke daran festmacht, inwieweit sie zur Parodie tendieren. Dabei kritisiert sie eine eher oberflächliche Betrachtung von postmodcrncr Literatur: »On the formal level, postmodern survace is opposed to modernist depth [...], and the ironic and parodic tone of postmodernism contrasts with the seriousness of modernism. [...] This last point is often made in terms of the difference between the modernist use of myth as a structuring device in the work of, for instance, Mann, Pavese, or Joyce [...] and the postmodern ironic contesting of myth as master narrative in the novels of Barth, Reed, or Morrison, where there is no consolation of form or consensual belief.« S. 50. John Barth, The literature of exhaustion. Atlantic Monthly, 220 (1967) S. 29-34. Hier zitiert nach: Surfiction. Fiction Now and tomorrow. Hrsg. v. Raymond Federman. Chicago 1975. S. 19-33. Ebd. S. 19. 48

of writing original works of literature. His artistic victory, if you like, is that he confronts an intellectual dead end and employs it against itself to accomplish new human work.143

Auf diese Weise transzendiere Literatur sich selbst in einem »regressus in infinitum« und sei dabei gleichzeitig immer wieder zu ihrer Erneuerung fähig. Imitation sei keine Farce, sondern verwandle sich zu etwas Neuem zu einer »deliberate imitation of a novel«.144 Damit entdeckt Barth im Zustand der Erschöpfung der Literatur unendlich viele neue Möglichkeiten, wenn man den erstarrten Formen einen Spiegel entgegenhält und sie dadurch künstlerisch überwindet. Barth unterscheidet daher zwischen der bloßen Postulierung des Endes der Kunst und seiner ästhetischen Umsetzung. Daß die Katastrophe nicht eintritt, desavouiert die literarischen Werke nicht. Sobald das Gefühl der Endzeitstimmung häufiger zum Ausdruck der Kunst wird, ist dies an erster Stelle als kulturelles Phänomen zu lesen, das sich im ästhethischen Medium spiegelt. Sobald aber einmal der Erschöpfungszustand anerkannt ist, braucht Kunst sich nicht mehr an dessen Beschreibung zu verschwenden. Statt dessen kann sie in der Imitation tradierter Formen, im spielerischen Umgang mit literarischen Konventionen, indem sie Tradiertes als Versatzstücke benutzt, schöpferisch werden. Imitation setzt Barth nicht mit bloßer Abbildung gleich: Imitation verhält sich immer auch selbstreflexiv zum Akt des Imitierens, wird zur »imitation of an imitation«.145 Bestes Beispiel sind hierfür seine Novellen The Sot-Weed Factor und Giles Goat-Boy. novels which imitate the form of the Novel, by an author who imitates the role of an Author.1«

Beide Novellen nehmen Bezug auf literarisches Material, experimentieren mit verschiedenen Erzählhaltungen und parodieren ihr eigenes Erzählverfahren auf dem Hintergrund der Erkenntnis, daß die Realität ebenso fiktiv wie ihre eigene Fiktion ist. »Such parodic imitation underlines the artificiality of the book. But if one believes

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Ebd. S. 25. Ebd. S. 29. Vgl. hierzu Ursula Arlart, >Exhaustion< und »Replenishments Die Fiktion in der Fiktion bei John Barth. Heidelberg 1984. S. 89. Mit »Fiktion in der Fiktion« bezeichnet Arlart die intertextuellen Abhängigkeiten in den Werken von Barth. Die »Fiktion in der Fiktion« ist gainings- und formübcrgrcifcnd und benennt künstlerische Produkte innerhalb der Fiktion. Arlart sieht die Gefahr, daß die Kunst sich ausschließlich selbst thematisiert. Diese intellektuelle Sackgasse, in die die Kunst durch ihre Sclbstthematisierung geraten kann, ist aber keineswegs Thema von The Literature of Exhaustion wie Arlart fälschlicherweise unterstellt, sondern es wird dort gerade diese Selbstthematisierung als Überwindung der Krise der Moderne proklamiert. John Barth, The literature of exhaustion. S. 28.

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that the novel is dying, parody becomes merely a holding action. One can really nullify death by inventing a new form. First he must mix old forms, hoping that the result will be viable and coherent enough to claim the status of a new genre.«147 In der short story Title geht Barth noch einen Schritt weiter. Alleiniges Thema ist die Selbstthematisierung der Kunst während des Schreibprozesses. Wenn alles im Nichts endet, bleibt als wichtigste Frage: »Can nothing be made meaningful?«148 Bezuggenommen wird nicht mehr auf literarische Vorlagen, sondern auf eine Zeit, in der die Kunst ihre Unschuld noch nicht verloren hatte. In Titte ist die traditionelle Erzählform, in der der Autor sich für das Erzählen verbürgt und es strukturiert, aufgehoben. Sie wird höchstens noch antizipiert. Der Erzähler führt einen Dialog mit dem Text, während beide im nächsten Moment schon zu Held und Heldin einer konventionellen Geschichte werden. Doch auch dies geschieht wieder nur für eine Sekunde: Why do you suppose it is, she asked, long participal phrase of the breathless variety characteristic of dialogue attributions in nineteenth century fiction, that literate people such as we talk like characters in a story?149

Fiktion und Wirklichkeit, Story und Erzähler, selbst der Autor des Erzählers sind unlösbar miteinander verschmolzen. Keine Aussage entsteht, ohne daß sie sich nicht im nächsten Moment selbst parodierte. Hinter jedem Fixpunkt steht schon dessen Negation und entlarvt ihn als bloßen momentanen Schein. »Narrators in fiction become either disconcertingly multiple and hard to locate [...] or resolutely provisional and limited - often undermining their own seeing omniscience.«150 Die Technik ist ausgefeilt, auf der Höhe ihrer Zeit - dennoch: »the situation of the characters is conventionally dramatic.«151 Der Zweifel an der Authentizität der Worte und Situationen, die, durch Tradition und Konvention ihrer Ursprünglichkeit beraubt, nichts als ein »blank« scheinen, wird durch eine wie auch immer geartete Realität152 eingeholt. » [...] the fact is that people still lead lives, mean and bleak and brief as they are [...] people still fall in love, and out, yes, in and out, and out and in, and they please each other, and hurt each other, isn't that the truth, and they

M7

John O. Stark, The literature of exhaustion. Borges, Nabokov, and Barth. Durham, N.C. 1974. S. 142. 148 John Barth, Title. In: Lost in die funhousc. Fiction for print, tape, live voice. New York 1968. S. 102-110. M » Ebd. S. 104. l}0 Linda Hutcheon, A poetics of postmodernism. S. 11. 151 John Barth, Title. S. 107. 152 Vgl. Linda Hutchcon, A poetics of postmodernism. »It is a contemporary critical truism that realism is a set of conventions, that representation of die real is not the same as the real itself.« S. 125. 50

do these things in more or less conventionally dramatic fashion, unfashionable or not [...].«153 Dennoch gibt es keinen Weg, »ultimacy, exhaustion, paralyzing self, consciousness« in etwas völlig Neues zu verwandeln. You tell me it's self-defeating to talk about it instead of just up and doing it; but to acknowledge what I'm doing while I'm doing it is exacdy die point.154

Das Hinterfragen von Erzählfunktionen führt in einen circulus vitiosus. Ein Ausweg, der in Title nahegelegt wird, das sich selbst parodierende Selbstbewußtsein hinter sich zu lassen, ist nicht mehr gangbar. Das Bewußtsein kann nicht hinter sich selbst zurücktreten. Muß es dann aber unweigerlich in der Leere, im »Abbruch des Kommunikationsvorgangs«'155 wie Arlart die short story deutet, enden? Ist es nicht möglich, im Zeichen dieser Selbstreflexion dennoch eine Geschichte zu erzählen, wie es Barth hier schließlich vorführt? The (act is, the narrator has narrated himself into a corner, a state of affairs more tsk-tsk than boo-hoo, and because his position is absurd he calls the world absurd. That some writers lack lead in their pencils does not make writing obsolete. At this point they were both flashing hatred despite themselves. Every woman has a blade concealed in the neighborhood of the garters. So disarm her, so to speak, don't geld yourself. At this point they were both despite themselves. Have we come to the point at least? Not quite. Where there's life there's hope.156

Die selbstparodistische Dauerreflexion mag schließlich ermüdend sein und zu keinem Ziel führen. Das eigentliche Ziel nämlich liegt im Prozeß, in den vielen Möglichkeiten, die angedeutet, wenn nicht gar eröffnet werden, dennoch zu erzählen, indem traditionelle Erzählhaltungen nicht mehr als Ballast empfunden werden, sondern als Versatzstücke, mit denen sich spielerisch umgehen läßt. Arlarts negative Deutung, daß der Erzähler tatsächlich versucht, eine Geschichte »nach dem Vorbild der Menschen zu schaffen, die Tür an Tür mit ihm wohnen«,"7 - was natürlich mißlingt - liegt der Vorwegnahme des erst 1980 erschienenen Artikels The Literature of Replenishment* zugrunde. Auf der Suche nach den postmodernen Autoren geht Barth darin weit hinter seinen programmatischen Aufsatz von 1967 zurück. Was er dort als spielerischen Umgang mit der Tradition propagiert hatte, verwirft er jetzt als intellektuelle Selbst-

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John Barth, Title. S. 109. Ebd. S. 107. Ursula Arlart, »Exhaustion« und >ReplenishmentStories and Texts for Nothing< or Nabokov's >Pale FireÜber-die-Moderne-hinausgehen< zu kennzeichnen.«161 Barth verwirft schließlich seine eigenen Werke als selbstzentristische Selbstparodien von Literatur, die eher eine Theorie veranschaulicht als noch als Erzählung gelten zu können. So führt er eine Theorie der Parodie ad absurdum, die sich ja gerade gegen einen exzentrischen Avantgardismus wendet, um in der parodistischen Schreibweise noch einmal das Erzählen zu entfalten. Die Perspektiven, die Barth in seinem früheren Aufsatz der parodistischen Schreibweise noch eröffnete, nimmt er nun als zu avantgardistisch zurück. Das Hegt hauptsächlich daran, daß er Moderne und Postmoderne als Schlagwörter benutzt, ohne zu klären, was er darunter eigentlich versteht.

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Ebd. S. 70. Ebd. S. 70. Christoph Bodc, Ästhetik der Ambiguität. S. 314f. 52

II Doktor Faustus und die parodistische Schreibweise

Unter den Augen der Interpreten verwandelt sich der Roman Doktor Faustus wie ein Chamäleon. So verfuhrt er zu immer neuen Einsichten. In unterschiedlichsten, methodisch divergent ansetzenden Interpretationen1 konnten und können ganz verschiedene Thesen am Roman exemplifiziert werden. Die Spannbreite ist enorm und variiert zwischen dem Willen, dem Roman genau einem Bedeutungsmuster2 zu unterlegen, um Eindeutigkeit zu erzielen oder aber der Tendenz analog zur vorgeblichen Musiktheorie des Romans ein System3 zu entwickeln, das keine freie

Vgl. hierzu: Ulrich Kinzcl, Zweideutigkeit als System. Frankfurt a. M., Bern, New York, Paris 1987. In seiner Einleitung gibt Kinzcl eine kurze Übersicht über die thematische Vielfalt der Interpretationsansätze und kritisiert, daß sie fast alle auf Eindeutigkeit hin zielen und vor allen Dingen an dem Autor Thomas Mann und seiner angeblichen Intention zu stark orientiert sind. Vgl. auch: Helmut Koopmann, Doktor Faustus. In: Ders. (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch. Stuttgart 1990. S. 475-^97. S. 493f.: »Der Roman ist von Deutungen geradezu überschwemmt worden. [...] Der Roman gilt einerseits als das direkteste Werk Thomas Manns, andererseits als hohes Montagespiel, in dem alles Parodie sei.« Vgl. hierzu: Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epochc-Werk-Wirkung. München 1991. S. 276: »Die erregte öffentliche Diskussion des Faustus nach seinem Erscheinen in Deutschland erschloß die Struktur des Romans nur sehr lückenhaft. Das Thema der deutschen Schuld drängte alles andere in den Hintergrund. Dabei ist es strukturell durchaus nicht tief verankert. Es handelt sich vielmehr um vier große, miteinander vielfältig verwobene Strukturschichten, unter denen die des Deutschlandromans entstehungsgeschichtlich die späteste ist: die des Künstlerromans, die des Faustromans, die des Gesellschaftsromans und die des Deutschlandsromans.« Die hier konstatierten Strukturschichten behaupten Chronologie und Entwicklung. Dies bedeutet aber unweigerlich eine starke Verkürzung und wird dem ästhetischen Gehalt des Romans keineswegs gerecht. Zudem schränkt Kurzke in den knappen Analysen der vier Themenkomplexe die exemplarische Berechtigung der vier Begrirrstypologien wieder ein. Vgl. hierzu: Ulrich Kinzel, Zweideutigkeit als System. S. 8f.: »Dieses Verhältnis der Notwendigkeit des Kunstwerks zu den Bedingungen seiner Produktion [...] gilt es, auf die Ebene der kritischen Reflexion zu transponieren, um nachzuweisen, daß noch die Komposition vor der Komposition durch historisch begrenzte Wahrnehmungscodes und die damit ebenso begrenzte Kombinationsmöglichkeit von Elementen reguliert wird.« Siehe auch: Rosemarie Puschmann, Magisches Quadrat und Melancholie in Thomas Manns Doktor Faustus. Von der musikalischen Struktur zum semantischen Beziehungsnetz. Bielefeld 1983. Diese beiden sehr schlüssigen und materialreichen Arbeiten sollen hier,

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Stelle mehr zuläßt und alle Bedeutungsebenen systematisch miteinander verknüpft - vorausgesetzt natürlich, es gebe so etwas wie eine übergeordnete Ordnungsstruktur oder den Schlüssel zum Werk. Diese dem zum Chaotischen tendierenden Stilpluralismus und »Beziehungszauber« entgegenwirkenden ordnenden Analysen müssen daher idealisierend vorgehen, um, wie zu zeigen sein wird, offene Strukturen in zumindest zweideutige zu übersetzen. Dabei wird übersehen, daß es sich immer nur um relative Ordnungsgrößen handeln kann, die miteinander korrelieren, sich gegenseitig relativieren oder auch teilweise ineinander aufgehen. Der chamäleonartige Charakter bleibt bei derartigen generalisierenden Absichten natürlich unberücksichtigt. Dabei ist es gerade seine Eigenart unterschiedlichen Lesarten entgegenzukommen und die Textlektüre immer wieder spannend zu machen. Interpretation ist unweigerlich perspektivisch. Im Grunde ist eine Form ästhetisch gültig gerade insofern, als sie unter vielfachen Perspektiven gesehen und aufgefaßt werden kann und dabei eine Vielfalt an Aspekten und Resonanzen manifestiert, ohne jemals aufzuhören, sie selbst zu sein. [...] In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreduziblc Einmaligkeit davon angetastet würde.4

Der dem Werk inhärente prozessuale Charakter strebt nach Mehrdeutigkeit und lenkt weg von Ziel und Erkenntnis. Diese widerstrebt einem analytischen, allein auf Zeiterkenntnis5 gerichteten Ansatz. Zeiterkenntnis ist nicht das Ergebnis des Doktor Faustus. Die Anlage des Romans mit seinen unterschiedlichen Bedeutungsebenen — dies wird im folgenden zu zeigen sein — provoziert verschiedenste Lesarten. Doch der häufige Verweis auf seinen eigenen Konstruktionscharakter läßt eben eine einseitig analytische Perspektive nicht zu und stellt zudem das Bemühen um eine Fundierung in einer quasi symbolischen und mythischen Sphäre als bloße Konstruktion der individuellen Beglaubigung anheim.6 Bedeutungen weisen nur auf eine Ordnung hin, ohne daß sie unweigerlich für diese als Garanten einstehen.

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stellvertretend für eine sich in den letzten Jahren stärker herauskristallisierende Tendenz, genannt werden, >Doktor Faust us < in einen geistesgeschichtlichen Horizont zu stellen unter der Prämisse der Unmöglichkeit von Kunst am Ausgang der Moderne. Dabei wird Intertextualität zur tragenden Basis der Analyse und das System zum Schlüssel der Interpretation. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk. S. 30. Vgl. entsprechend: Gerd Sautermeister, Zwischen Aufklärung und Mystifizierung. Der unbewußte Widerspruch in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Antifaschistische Literatur. Hrsg. v. Lutz Winklcr. Bd. 3. Königstein 1979. S. 77-125. Vgl. dagegen u.a.: Borge Kristiansen, Das Problem des Realismus. In: Thomas-MannHandbuch. S. 824-835.

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So kann in der parodistischen Schreibweise auf eine vorgängige Ordnung zwar noch Bezug genommen werden, aber nur, indem sie gleichzeitig wieder der Auflösung preisgegeben wird. »Aufgabe der Kunst ist es weniger, die Welt zu erkennen, als Komplemente von ihr hervorzubringen, autonome Formen, die zu den schon existierenden hinzukommen und eigene Gesetze und persönliches Leben offenbaren.«7 Es gilt hier nicht die Frage zu klären, wie modern8 oder postmodern9 Doktor Faustw ist, sondern anhand der Funktion der parodistischen Schreibweise den Roman einer neuen Lesart zu offenen. Wie in den vorhergehenden Kapiteln beschrieben wurde, ist die parodistische Schreibweise erst im Zuge des postmodernen Diskurses - besonders in Amerika10 - deutlich ins Blickfeld gerückt, aber deswegen soll und kann sie keineswegs zum Ausweis des >postmodernen Romans< schlechthin gemacht werden - abgesehen davon, daß sich die Geister am Terminus Postmoderne ohnehin scheiden. Damit würde der Roman unnötigerweise in eine Diskussion gestellt werden, die vorwiegend mit Variablen spielt und auf eine konkrete Textinterpretation weitestgehend verzichtet. Demgegenüber soll genau diese in den Vordergrund rücken, um die dynamische Struktur, die Disponibilität des Romans, - der allein diese Vielfalt von Interpretationen zu verdanken ist, - herauszuarbeiten. Eco bemerkt dazu über das »offene Kunstwerk«:

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Ebd. S. 46.

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Vgl. hierzu: Ulrich Kinzcl, Zweideutigkeit als System. Kinzcl sieht gerade in der Technik der Montage den Ausweis der Modernität. S. 11: »Sie ist, wenn die Technik eine zweite Sprache bildet, die Art des Romans, zu sprechen, aber sie ist auch über die Metaphorik des Sprechens hinaus eine Weise, Sprache erscheinen zu lassen.« Dabei interpretiert Kinzcl die Montage aber eher als ein Sprechen über die Tradition, als ein selbstreflexiver Akt des Werks. Vgl. auch: Zur Modernität von Thomas Manns Doktor Faustus. Thomas Mann Jahrbuch. Bd. 2. 1989. Vgl. hierzu: David Roberts, Die Postmoderne-Dekonstruktion oder Radikalisierung der Moderne. Überlegungen am Beispiel des Doktor Faustus. S. 150: »Das Ende der Moderne vollzieht sich im Zeichen der Umkchrung, die die tote Form wiederbelebt, Krankheit in Gesundheit, Gift in Begeisterung und Engelsgetön in Höllengelächter verwandelt. Die Parodie wird teuflisch und der Teufel zum Parodisten von Goethes Gottesdiener.« An Adorno scheiden sich in diesem Zusammenhang die Geister. Vertreter einer eher postmoderncn Interpretation sehen den Roman als eine Überwindung des von Adorno propagierten ethischen Anspruchs an die Kunst, während Apologeten der Moderne den Roman als folgerichtige Verwirklichung der Ästhetischen Theorie betrachten. Vgl. hierzu: Tom Wolfe, Fegefeuer der Eitelkeiten. München 1990. Im Nachwort zu seinem Roman beschreibt Wolfe diese sogenannten »Puppenmeister-Romane« als relativ kurzlebige, auf das rein literarische Spiel beschränkte Episode amerikanischer Literatur. S. 858: »Es handelte sich um absurdistische Romane, magisch-realistische Romane und Romane 'radikaler DisjunktionBekenntnisse< als Parodie auf >Dichtung und Wahrheit«. Bern, Frankfurt, New York 1985. Sprecher kommt in seinem Kapitel /Thomas Mann und die Parodie« über eine bloße Zusammenstellung einzelner Zitate Manns auch nicht hinaus.

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aber folgenlos bleibt. Die »intellektuellen Perspektiven ironischer Darstellung«20 werden dem Drang nach Eindeutigkeit geopfert. Erich Heller hat wohl am eindrucksvollsten das Bild von Thomas Mann als dem ironischen Deutschen geprägt.21 Im Gegensatz aber zu anderen Untersuchungen22 geht Heller weniger von Thomas Manns Selbstaussage über die vermittelnde Funktion der Ironie aus, noch sucht er die Ironie zum Schlüssel23 seiner Analysen zu machen. Heller stellt - selbst noch im Moment psychologisierender Interpretation - das ästhetische Werk in den Mittelpunkt. Für Thomas Mann jedoch, der eben erst allen Ernstes mit der Qual gespielt, den Künstler zu demaskieren und den pathologisch gereizten Heiligen, und dabei gelernt hat, daß es nichts ist mit der »wiedergeborenen UnbefangenheitParodieGeschichteLotte in Weimarobjectivity< is itself a construct and artifice, hopelessly arbitrary and compromised in its relation to the subjective structure. [...] The result is that opposites are considered interchangeable, following the pattern in the confusion of subject and object.«53 Kunst, die nicht mehr aus der Inspiration heraus lebt und deren symbolischer Gehalt keine außerästhetische Legitimation mehr erfährt, tendiert immer stärker zur Parodie. So zum Beispiel in der Form der Biographie, die mit ihrer eigenen Fiktionalität spielt. Dadurch wird die Form ambig mit der Tendenz zur Auflösung - man denke beim Doktor Faustus allein an die verschiedenen Erzählfunktionen. Die gleiche Tendenz zur Ambiguität findet sich in der inhaltlichen Darstellung wieder. »The dialectical direads of contrast and similarity which Mann winds through the actions of the book are present also in the ideas.«54 Kiremidjian sieht die Personenkonstellationen in einem spiegelbildlichen Verhältnis zueinander, wodurch sie sich gegenseitig relativieren und parodieren. So fällt es z.B. schwer, angesichts der grotesken Werbung in »Love's Labours Lost< die Werbung Leverkühns um Marie Godeau nicht im Lichte der Parodie zu sehen: Eine Parodie, die im Roman selber stattfindet, zu deren Erkenntnis es nicht der Biographie Nietzsches bedarf. Vielmehr scheint es, daß verschiedene Figurentypen unterschiedliche Masken annehmen. Am eklatantesten fuhrt dies die Figur des Teufels vor. Sie bedient sich zweier verschiedener Masken, unabhängig von seinem Symbolgehalt. Damit sei hier nur angedeutet, was in Kapitel 3.2.2. weiter ausgeführt werden wird.

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Ebd. S. 6. Ebd. S. 29f. Ebd. S. 226f. Ebd. S. 204. 68

2 Die Diskurse des Erzählens oder: Die Selbstaufhebung des Erzählers im Spiel der parodistischen Selbstkommentierung Ohne hier einer Theorie der parodistischen Schreibweise das Wort reden zu wollen - zumal eine normative Definition ihr ohnehin unzuträglich wäre -, lassen sich ihre vielfältigen Entfaltungsmöglichkeiten darstellen. Diese gilt es nun exemplarisch auf ihr Funktionieren hin zu überprüfen. Dabei ist es müßig, Postmoderne und Moderne als zwei literar-ästhetische Epochen zu unterscheiden, vor deren Hintergrund sich der Begriff der parodistischen Schreibweise entwickelt hat. Postmoderne soll hier also weniger im Sinne einer zeidichen Abgrenzung verstanden werden, als vielmehr als einer auf die Überwindung des Neuigkeitspostulats der Moderne gerichteter Diskurs, gegen eine rigorose Reduzierung und Minimalisiemng der Mittel und sicher auch in Auflehnung gegen einen »Kanon des Verbotenen«, der das unterhaltende Erzählen als ästhetisch nichtswürdig diskreditiert. Demgegenüber steht die Repluralisierung der Mittel, die schöpferische Auseinandersetzung mit dem überlieferten Gut der Traditionen in einer Zeit zerstörter Konventionen. Die postmoderne Perspektive eröffnet neue Lesarten, die nicht vom Entstehungsdatum der Literatur abhängig sind. So kann ein und derselbe Roman einmal als Kunst der Endzeit betrachtet werden, um ein andermal Ausdruck nie geahnter Potentialität zu sein. Doktor Faustus entfaltet seinen literarischen Anspielungsreichtum im intratextuellen Verweisungszusammenhang der nie rigoros von einander differenzierbaren Ebenen des erzählerischen und des ästhetischen Diskurses. Im parodistischen Verhältnis von Rede und Gegenrede entspinnt der Metakommentar seine eigene Gestaltungskraft und redet gegen den, der eigentlich gestaltet. Doch ohne den Biographen, ohne die Vermitdung durch das Wort kämen Leverkühns Kompositionen erst gar nicht zur Sprache. Aus diesem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis entsteht ein bizarres Mosaik der Selbstthematisierung und Selbstverneinung des Erzählens, das nur scheinbar im Bild des Erzählers seine vollständige Gestalt annimmt.

2.1 Die Bewegung des uneigendichen Sprechens Wendell Kretzschmar und die Diskurse des Erzählens Die Vorträge Wendeil Kretzschmars veranschaulichen bündig den alles in seinen Bann ziehenden Anspielungsreichtum der parodistischen Schreibweise. Sie zeigen, wie der Diskurs des Ästhetischen in die Diskurse des Erzählens eingebettet und von diesen kommentierend begleitet aber auch subversiv unterlaufen wird. So entsteht narrative Potentialität, gewissermaßen ein Subtext, der nicht erst mit den Vorträgen beginnt oder sich nur in diesen entfaltet, sondern Teil eines »regessus in infinitum< 69

ist, der den ganzen Roman wie ein Netz überspannt. Dies ist möglich, da die Vorträge nicht in der ihnen traditionell eigenen Form des Essays im Roman ihren Platz finden, sondern erzählerisch aufbereitet werden. Der Schein einer traditionellen Erzählhaltung, für die der Humanist Zeitblom als Rezipient und Sprachrohr eines konservativem Humanismus einsteht, wird also aufrechterhalten. Durch den Verzicht auf den die Romanform aufbrechenden Essayismus wird sich zeigen, daß die von Kretzschmar entwickelten ästhetischen Gedanken - von einer Theorie zu sprechen wäre in Anbetracht seines eklektizistischen, aphoristischen Denkens unangemessen - von der Art und Weise ihrer Präsentation gleichsam vereinnahmt und konterkariert werden. Die eigentliche Rede bzw. der Vortrag ist selbst ein Stück Erzählung, die spiegelbildlichen Charakter für die Bewegung des uneigentlichen Sprechens, das Hauptmerkmal der parodistischen Schreibweise, des Doktor Faustus selbst gewinnt. Gemeinhin werden Kretzschmars Vorträge in der Sekundärliteratur - wenn sie denn überhaupt erwähnt werden - als Einfuhrung in die eigentliche Thematik, der Auseinandersetzung Leverkühns mit der Musikgeschichte, gelesen. Sie werden ausschließlich als Vorbereitung auf die Hauptgeschichte interpretiert und bieten so wieder ein hervorragendes Beispiel für die verführerische Kraft der parodistischen Schreibweise. Ihre Metatextualität kommt dabei nicht zum Tragen. »Das Entsteigen ins Nicht-mehr-Geheure beschreibt Kretzschmar dann als einen Vorgang, mit dem durch die Parallelisierung von Werk und Leben bereits am Beispiel Beethovens signalisiert wird, was sich später mit der Kantate und durch diese als das Schicksal der Musik wie das Schicksal Leverkühns offenbart.«55 Heftrich nimmt die von Kretzschmar aufgezeigten Parallelen wortwörtlich, versteht sie als Hinweis auf das Motiv der Kohärenz von Werk und Leben und benutzt sie so als Direktive seiner weiteren Interpretation. Der Kontext der Vorträge, die Person des Vortragenden selbst und die Art des Vertrags spielen in Heftrichs thematisch orientierter Interpretation als »radikale Autobiographie und Allegorie der Epoche« keine Rolle. Ähnlich vernachlässigt - wenn auch immerhin schon anerkannt - wird der beziehungsstiftende Sinn der parodistischen Schreibweise, wenn die Vorträge nur als ein »Vorspiel auf den Roman« begriffen werden. Da hilft es auch nichts, diesem Vorspiel den Status der zweiten Potenz zuzuschreiben, da das eigentliche Vorspiel in den Romananfang verlagert wird.56 Die einmal errichteten Hierarchien sind wegweisend. »Eine Mehrdeutigkeit des Erzähleingangs< gründet die Vielschichtigkeit des

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Eckhart Heftrich, Vom Verfall zur Apokalypse. Über Thomas Mann Bd. 2. Frankfurt a. M. 1987. S. 241. So bei Gunter Reiss, Allegorisiemng und Erzählkunst. Eine Studie zum Werk Thomas Manns. München 1970. S. 224ff. 70

Themengewebes im Roman, indem sie anhand eines exemplarischen Modells den >allegorisierten< Verweisungszusammenhang zwischen Vorspiel und Roman einerseits sowie andererseits der Motivkomplexe untereinander erstellt. [...] Im Vorspiel wird bereits in nuce der thematische Beziehungskomplex sichtbar, den der Roman dann expliziert.«57 Derart die Komplexität des Romans auf ein exemplarisches Modell reduziert, müßte sich der Roman allein in der Entwicklung des im Vorspiel schon angelegten erschöpfen. Start dessen wird sich erweisen, daß die Metastrukturierung des Doktor Faustus als work-in-progress sich von jeder beliebigen Stelle aus neu entfalten kann. Dabei kommt dem sogenannten »Vorspiel« oder auch der Nachschrift eine die Interpretation eher inhaltlich lenkende Funktion zu, der der Befehl zum Widerspruch schon eingeschrieben ist.

2. L l Vor dem Erzählen liegt das zu Erzählende Die Bildung narrativer Leerstellen durch den Erzähler Zxitblom Die Erzählung über die musiktheoretischen Vorträge Kretzschmars beginnt mit der Beschreibung ihrer Verhinderung. In dieser doppelten Sprachbewegung entstehen narrative Leerstellen. Die Thematik wird von Anfang an in das Licht ihrer Negativität gestellt, das Pathos des Vortragenden parodistisch gebrochen und die Seriosität des Themas durch die übereifrige und seiner gestörten Sprachbeherrschung unangemessene Ernsthaftigkeit Kretzschmars konterkariert. »Erst diese Vermittlung der Poetik der Negation mit der Poetik des konkreten Textes eröffnet den Zugang zur Beschreibung der Weise, wie die ergriffenen Möglichkeiten der Negation sich in ihrer textkonstitutiven Funktion darstellen.«58 Wendell Kretzschmar ist ein Künstler mittleren Typs, Organist, Lehrer und Komponist von kleinen Orchesterstücken. Zudem »brachte er eine Oper, >Das MarmorbildDoktor FaustusEinheitsspracheEinheitssprache< wieder eine Norm der Gegenrede entgegensetzten: Die Vielfalt der Rede, die sich in diesen niederen Gattungen organisierte, war nicht eine Vielfalt in bezug auf die anerkannte Hochsprache [...] d.h. in bezug auf das sprachliche Zentrum des verbal-ideologischen Lebens der Nationen und der Epoche, sondern sie war dieser bewußt entgegengestellt. Sie war parodisüsch und polemisch gegen die offiziellen Sprachen der Gegenwart zugespitzt. Sie war eine dialogische Redevielfält.6'

In diesem Sinne unterstreicht Bachtin die Funktion dieser Sprachen als »Masken«, da sie nicht bloß rhetorische Wendungen, sondern poetische Erscheinungen seien. Der am monologischen Kontext ausgerichteten traditionellen Stilistik entginge so der »Widerhall« der Sprache in anderen Aussagen, ihre »Wechselseitigkeit«.66 In der Orientierung auf Einheit sei es der traditionellen Stilistik nicht möglich gewesen, »die spezifische Wahrnehmung der Sprache und des Wortes, welche in allen authentischen Werken der Romanprosa - in den Romanen von Grimmeishausen, 63

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Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. S. 154-251.

Ebd. S. 157. Ebd. S. 166. Ebd. S. 167. 80

Cervantes, Rabelais, Fielding, Smollett, Sterne u.a. - ihren Ausdruck in den Stilisierungen, im >skazStellen< der Erzählung überdeterminiert sind.«75 In dieser Studie geht es, wie gesagt, nicht darum, in welchem Verhältnis der Autor zum Material der Traditionen steht - Quellenuntersuchungen haben das schon erwiesen, ohne dabei einschlägig die Verfahrensart der Vertextung und die Auswahlkriterien zu untersuchen. Aber es sollte wenigstens auf die Parallele zwischen Thomas Manns literarischer Aneignung der Geschichte und der sprunghaften Kombinatorik Kretzschmars hingewiesen werden. »Abspringend und nebeneinanderstellend, kam er vom Hundertsten ins Tausendste, erstens weil er Unendliches im Kopfe hatte und ihm beim einen das andere einfiel, dann aber besonders, weil es seine Passion war, zu vergleichen, Beziehungen aufzudecken, Einflüsse nachzuweisen, den verschränkten Zusammenhang der Kultur bloßzulegen.« (S. 105) Kretzschmars Vorträge und Unterrichtsstunden haben vorbereitenden und vorwegnehmenden Charakter, der einem rückbezüglichen Lesen korrespondiert. Sie eröffnen einen Diskurs des Erzählens, der vor allem von Selbstnegation geprägt ist, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung des Scheins einer realistischen Erzählhaltung. In ihr offenbart sich ein Aufgehobensein in der Kulturtradition, ein selbstzufriedenes Auf- und Umgehen in und mit ihr. In den »Lehrunterhaltungen« wird das spröde Wissen nicht schlicht vermittelt. Lustvoll und sprunghaft erzählend unterweist der Lehrer Kretzschmar seinen Schüler. Waren seine Vorträge schon von der fehlenden Eignung zum Vortragenden geprägt, so stehen jetzt auch seine Unterrichtsstunden im Negationshorizont eines pädagogisch gestalteten Aufbaus. Allein: »[...] genau solche Äußerungen waren es nun, für die Adrian ein eigentümlich geschärftes Ohr harte.« (S. 106)

2.2 Maskenhafter Realismus - Serenus Zeitblom und die Diskurse des Erzählens Kretzschmars Vorträge sind bestimmt durch den ihnen eigenen Negationshorizont. Dieser wird teilweise vom Erzähler Zeitblom selbst evoziert. Er ist das erste Medium, durch das der Text vermittelt wird. Die Entstehungsbedingungen des Romans müssen nicht erst rekapituliert werden, um zu entdecken, daß er selbst die Modali-

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täten, unter denen Kunst in der Moderne erscheinen kann, thematisiert. Dies geschieht auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Das gilt es zunächst an den verschiedenen Erzählfunktionen darzustellen. Zeitblom ist zwar der erste Rezipient und somit Vermittler des Geschehens, doch mittels der parodistischen Schreibweise wird seine oberflächlich skizzierte Funktion als Biograph subversiv unterwanden. An der Textoberfläche erscheint so ein Realismus, den Berge Kristiansen zu Recht als »maskenhaft« benennt.76 Selbstverständlich findet sich der Ausdruck »Maske« in den Schriften Thomas Manns. Schon früh, in der Verteidigungsschrift Bilse und Ich, beschreibt Mann den Ausgangspunkt seines literarischen Verfahrens. Die reale Welt liefert Vorbilder und Material. Seine poetische Aufgabe sieht Mann aber nicht in deren mimetischer Abbildung, vielmehr in der »subjektiven Vertiefung des Abbildes einer Wirklichkeit.«77 Diese Wirklichkeit dient fortan nur noch als »Maske«, so daß »alle Objektivität, alle Aneignung und Kolportage [...] sich allein auf das Pitoreske, die Maske, die Geste, die Äußerlichkeit«78 bezieht. Die Wirklichkeit wird in der dichterischen Umsetzung zur Maske, zur Schablone. In »der subjektiven Vertiefung, der Benutzung eines Porträts zu höheren Zwecken« liegt das »eigendich Dichterische.«79 Damit beschreibt Kristiansen zunächst einmal die Nähe zum poetischen Realismus eines Fontäne oder Keller. Die bedeutende Differenz zu diesen ergebe sich allerdings nicht aus der subjektiven Vertiefung der dargestellten Wirklichkeit, sondern daraus, »daß dem Subjektiven bei Thomas Mann eine augenfällige Vorrangstellung vor allem Objektiven zuerkannt wird.«80 Der Dichter benutze eine dünne Realitätsschicht als Maske des Objektiven »zur Darstellung eines Problems, das ihr vielleicht ganz fremd ist.«81 »Das Subjekt-Objekt-Verhältnis des poetischen Realismus ist damit, recht besehen, umgekehrt, ja auf den Kopf gestellt worden.«82 Diese Schlußfolgerung ist für Kristiansens Interpretationsansatz von grundlegender Bedeutung, da er die Wurzeln von Manns poetologischer Konzeption in der Philosophie Arthur Schopenhauers angesiedelt sieht. »Zulässig ist die Lebenswirklichkeit

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Borge Kristiansen, Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. Leitmotiv-Zitat-Mythischc Wiederholungsstruktur. In: Thomas-Mann-Handbuch. S. 824-835. Meines Wissens wurde in der Forschungsliteratur der Begriff vom »maskenhaften Realismus« noch nicht weiter aufgegriffen, obgleich mit ihm äußerst prägnant das Problem des Realismus bei Thomas Mann beschrieben werden kann. Thomas Mann, Bilse und Ich. In: Autobiographisches. Thomas Mann. Werke. Das essayistische Werk in 8 Bänden. Hrsg. v. Hans Bürgin. Frankfurt a. M. 1968. S. 18. Ebd. S. 19. Berge Kristiansen, Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. S. 823. Ebd. Thomas Mann, Bilse und Ich. S. 19. Berge Kristiansen, Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. S. 824.

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nur als Vorwand und als Darstellungsmittel einer wesenhaft anderen Wirklichkeit.«83 Kristiansen mag den Zweck dieses maskenhaften Realismus im Zusammenfall von Ich und Welt sehen, indem das Werk auf einer höchsten Erzählebene die »Identität alles Seienden« leiste. Letztlich konstatiert er damit aber auch eine Konterkarierung verschiedener Erzählebenen vermittels einer ganz bestimmten Erzähltechnik, die einer idealistischen Lektüre bedarf. Durch die weitverzweigte Leitmotivik wird die realistisch dargebotene Wirklichkeit zur Maske und zur allegorisierenden pictura, die für einen Sinn steht, der nicht - wie im Symbol - in den dargestellten Dingen selbst wesenhaft enthalten, sondern dem Dargestellten äußerlich und wesensmäßig fremd ist.M

Die Funktion der Maske als scheinbarer Realitätsbeschreibung erfüllt sich nicht in der Decouvrierung der Wirklichkeit. Kristiansen hat sich mit dem Begriff der Maske schon an zentraler Stelle in seiner einschlägigen Studie über den Zauberber^ beschäftigt, ohne dort allerdings das Begriffspaar »maskenhafter Realismus« zu prägen. Ein Blick darauf ist lohnend, weil sich schon hier die reale Welt als Maske entpuppt: »Auf der Ebene des leitmotivischen Textgewebes bedeuten die Dinge und Phänomene nicht mehr das, was sie konkret-realistisch sind.*96 Die Leitmotivtechnik bildet eine strukturbestimmende Überperspektive, die jede realistische Erscheinung relativiert.87 Poetologische und inhaltliche Bedeutung erhält die Maske ganz konkret als Objekt der Maskierung. Daher darf Kristiansen das Geschehen der Walpurgisnacht nicht bloß als fröhlichen Maskenball interpretieren. Zuvor hatte er dem Leitmotiv Asien/asiatisch im Gegensatz zu seiner räumlichen Ausdehnung eine zeit- und raumaufhebende Funktion zuerkannt, die in der Walpurgisnacht ihre zentrale Ausformung erhält. »Die Maskierung bedeutet eine Infragestellung der Identität und Individualität der einzelnen Patienten. [...] Alles und alle imitieren einander mit dem Ergebnis, daß die Welt der Individualität und der Identität durch eine chaotische Einheit ersetzt wird. Zusammen mit der Auflösung der Identität durch die Maske wird auch die Zeit- und Raumdimension der Welt, in der sich die karnevalistischen Ereignisse abspielen, verflüchtigt.«88 Die Auflösung erfolgt durch die Imitation von Geschehnissen und Handlungsphasen sowohl auf intra- als auch auf

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Ebd. S. 826. Ebd. S. 830. Borge Kristiansen, Unform-Form-Überform. Thomas Manns Zauberberg und Schopenhauers Metaphysik. Kopenhagen 1978. Ebd. S. 12. Auf die Funktion der Leicmotivtcchnik wird im Kapitel 2.2.2. ausfuhrlicher eingegangen. Berge Kristiansen, Unform-Form-Überform. S. 189. 86

intertextueller Ebene. Das bedeutet, daß die realistisch-vordergründige Welt durch Spiegelgeschehen unterwandert wird, einmal auf der textuellen Romanebene selbst und dann auf der für Kristiansen wichtigeren Ebene des literarischen Zitats. Dahinter steht für Kristiansen der Faust-Mythos als Erklärungsmodell. In der Walpurgisnacht-Episode bleibt der Mythos als Zitat allerdings nur vordergründig, denn die Faust-Imitationen verweisen nicht auf den Mythos als »urbildhaftes Wirklichkeitsmuster«. Daraus folgert Kristiansen die »Scheinhaftigkeit aller zeiträumlichen Orientierung«, die zwar durch die Maskerade evoziert wird, aber von einer ganz anderen Qualität ist als die Relativierung der Identität zugunsten eines mythischen Urbildes. Der »maskierten« Wirklichkeit der Faschingsnacht ist gerade die »mythische Identifikation« fremd. Die »Maske« hat kein mythisches Urbild zur Verfügung, sondern enthält im Gegenteil eine unendliche Reihe potentieller Erscheinungen. Da sie nie wirklich ist, negiert die »Maske« den Identitätsbegriff.*9

Da der Maske keine urbildhafte Funktion zukommt, endarvt sie die Wirklichkeit allen Geschehens als nichtigen Schein. Doch in diesem Schein findet Kristiansen hier die wahre Wirklichkeit des Schopenhauerischen Willens wieder. Dieser philosophische Kontext, in dem Kristiansen den Zweck der »Maske« mit Hilfe von Thomas Manns Schopenhauer-Lektüre erfüllt sieht, muß in diesem Zusammenhang nicht weiter verfolgt werden. Vielmehr galt es an dieser Stelle zu zeigen, wie mit Hilfe des Begriffspaares »maskenhafter Realismus« die fiktionale Wirklichkeit als eine Scheinwelt demaskiert wird. Dazu braucht es nicht der real vorgehaltenen Maske auf einem Faschingsfest. In den folgenden Kapiteln wird nachgewiesen, wie im Doktor Faustus die Diskurse des Erzählens zunächst eine realistische Ebene aufbauen, die immer wieder und schließlich durch den »Geist der Erzählung« selbst destruiert wird. Die Authentizität des Erzählens wird als Schein entlarvt. In der allmählichen Auflösung der Erzählfunktion wird das Erzählen selbst zum Gegenstand der Erzählung.

2.2. l Der Erzähler als Biograph »Wer ist aber denn nun der Erzähler des Romans, ob er sich die Maske eines persönlichen Erzählers vorhält oder ein Schemen bleibt? [...] Hinter dieser Maske [des Erzählers] steht der Roman, der sich selber erzählt, steht der Geist dieses Romans [...].w90 Diese heute sicher altbacken klingende literaturwissenschaftliche Fragestel89

Ebd. S. 196.

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Wolfgang Kayscr, Das Problem des Erzählers im Roman. In: German Quarerly 29 (1956) S. 225-238. S. 127.

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lung Wolfgang Kaysers ist aber trotz der weit fortgeschrittenen Theoriediskussion immer noch grundlegend genug, daß nicht an ihr zu rütteln ist. Vordergründig verbirgt sich hinter der Maske des Erzählers im Doktor Faustus der Humanist Seren us Zeitblom in seiner Funktion als Biograph: Zeitblom is an onlooker; however much he would like to influence Leverkiihn, he is resigned to the fact that he cannot. [...] He is an onlooker, but not one without character or a position of his own."

Als Erzähler verbürgt sich Zeitblom fur ein Wertesystem, das durch nichts außerhalb ihm Stehendes legitimiert ist. Immer wieder beruft er sich auf seine humanistische Gesinnung zum Zeugnis und Beglaubigung seiner notwendigen Aufgabe. Obgleich er sich oft genug auch als Künstler betrachtet, legitimiert er seine biographische Schriftstellerei aus der tiefen Freundschaft, die ihn mit Leverkühn verbindet: »Letztens und erstens aber [...] ich habe ihn geliebt [...] und wenig dabei gefragt, ob er im mindesten mir das Gefühl zurückgäbe.« (S. 13) Ein hochherziges Postulat, das Zeitbloms Position als genuinen Autor und auch als genauen Biographen ironisch in Frage stellt. Sein bürgerlicher Humanismus steht Zeitblom allerdings mehr im Wege, als daß er ihn zum Erzähler befähigte. Er bemüht sich um Objektivität und verstrickt sich umso öfter in Wertungen, die er zu rechtfertigen vorgibt und sich dabei immer stärker in Über- und Untertreibungen verrennt. Sein unaufhaltsamer Rechtfertigungszwang versinnbildlicht geradezu, wie ungeeignet Zeitblom für die angestrebte Aufgabe ist. Gleichwohl hält die permanente Selbstbefragung den Schein des Realismus aufrecht. »Aber in meinem Zweifel, ob ich mich zu der hier in Angriff genommenen Aufgabe eigentlich berufen fühlen darf, kann mich diese Entschiedenheit oder, wenn man will, Beschränktheit meiner moralischen Person nur bestärken.« (S. 10) Gleich zu Anfang des Romans wird also die Verantwortung für das Geschriebene unterhöhlt. Dies aber in einem versöhnlichen Ton, den der auf Ausgleich bedachte Zeitblom selbst anschlägt. Der im ironischen Stil begründete »assoziative Realismus« verführt viele Interpreten dazu, Zeitblom entweder mit dem Autor Thomas Mann zu identifizieren, seine geheime Identität mit dem Künstler Leverkühn aufzuzeigen oder ihn in seinem Anliegen wortwörtlich zu nehmen. So zweifelt z.B. Margrit Henning92 an der psychologischen Kraft und nötigen Distanz des Ich-Erzählers, seinem Thema ge-

" William M. Honsa, Parody and narrator in Thomas Manns Dr. Faustus and The Holy Sinner. In: Orbis Litterarum 29 (1974) S. 61-76. S. 69. 92 Margrit Henning, Die Ich-Form und ihre Funktion in Thomas Manns Doktor Faustus und in der deutschen Literatur der Gegenwart. Tübingen 1966.

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wachsen zu sein - ein vom Autor, wie sie meint, beabsichtigter Effekt. »Das Phänomen der ironischen Distanzierung des Autors [...] [läßt sich] sprachlich und erzähltechnisch nicht fassen.«93 Zwar erkennt sie zu Recht, daß die biographische Perspektive das Auswahlkriterium für die dargestellten Fakten und Zeitabschnitte vorgibt, doch bedeute das noch lange nicht, in Zeitblom den Garanten für die »notwendige Totalität und Einheit des Romans zu erblicken,«94 hinter dem sich der Autor verbürge. Ihre Arbeit erschöpft sich darin, das Verhältnis des Erzählers zum Erzählten darzustellen. Dabei sieht sie eine der wichtigsten Funktionen der Figur des Erzählers in der »Integration des Lesers«, der Zeitbloms Schwächen bemerke und entsprechend korrigiere.95 Der poetologische Stellenwert des Ich-Erzählers ist damit nicht annähernd herausgearbeitet worden. Die Brüche der Konstruktion werden in dieser begrenzten Sicht ganz in der Manier Zeitbloms verschliffen, anstatt nach ihrer Funktion zu fragen. Henning ist zwar zuzustimmen, wenn sie erkennt, daß »der Ich-Erzähler [...] als Medium der Deutung [fungiert], indem er auf verschiedene Weisen zwischen der Bilderwelt des Romans und der zugrunde liegenden Wirklichkeit vermittelt, die er in persona repräsentiert.«96 Unverständlich wirkt dann aber ihre Feststellung, daß es sich bei dieser vermittelnden Funktion keineswegs um einen Vorgang der Distanzierung handle. Das gesamte erste Kapitel beschreibt nichts anderes als die Distanznahme des Erzählers vom Erzählten mittels der Uneigentlichkeit der Rede. Eine Negation reiht sich an die nächste: Zeitblom wolle seine Person nicht in den Mittelpunkt der Biographie stellen, und es bestehe zudem »nicht die geringste Aussicht« (S. 9) auf eine Veröffentlichung. Der Leser könne bezweifeln, gerade indem er sich diesen vorstelle, ob »er sich auch in den richtigen Händen befinde,« ob nicht gerade »die Beschränktheit meiner moralischen Person« ihn für die Aufgabe, das Dämonische zu beschreiben, ungeeignet mache. Schließlich hält Zeitblom auf den wenigen Seiten allein viermal inne, um sich selbst kommentierend ins Won zu fallen: »Ich überlese die vorstehenden Zeilen und kann nicht umhin, ihnen eine gewisse Unruhe und Beschwertheit des Atems anzumerken [...].« (S. 9) Sein impulsives Assoziieren läßt ihn von einem Thema zum anderen springen. Ganz im Gegensatz zu seinem gerade noch zuversichtlich beschriebenem Streben nach Harmonie und Vernunft. »Hier breche ich ab, mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit.« (S. 11) Zugleich statuiert Zeitblom die Opposition zwischen dem Künstler und seinem befreundeten Biographen. Er zeigt in seinen Kom-

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Ebd. S. 132. Ebd. S. 153. Ebd. S. 125ff. Ebd. S. 212. 89

mentaren, daß er über seine Aufgabe besser Bescheid weiß, als es ihm dann in seiner Beschränktheit möglich ist, sie überhaupt zu erfüllen. Zeitbloms Position als Biograph und Humanist, als Vertreter eines tradierten Wenesystems wird von Anfang an relativiert. Dazu bedarf es gar nicht so sehr der seinen Ansichten opponierenden kunsttheoretischen Überlegungen Leverkiihns, allein die metasprachliche Gegenrede seiner Erzählungen destruiert die Integrität seiner Person. »Der Krampfhaftigkeit, der beschwörenden Verzweiflung angesichts des wachsenden Unheils, mit der Serenus sich auf den Humanismus beruft und die das Parodistische ebenfalls in sich birgt, liegt dieses Wissen, um das Versagen einer bürgerlichen >Bildungsschicht< zugrunde, das sich aber auch ausdrückt in der resignativen Isolation des Biographen selbst.«97 Sogar eine derart wortwörtliche Lesart des Romans, die ihn als Paradigma des historisch-politischen und kulturellen Niedergangs Deutschlands interpretiert, kann nicht umhin, das parodistische Element in den ewigen Selbstkommentaren Zeitbloms zu erkennen. Thomet greift aber zu kurz, darin allein das Versagen des humanistischen Bildungsideals zu sehen. Statt dessen scheint dies mit seiner angeblich verbindlichen Orientierungsfunktion und als Garant von Wahrheit in der Maske des Biographen noch einmal auf, gleichermaßen wie der Erzähler nur als Medium der Interpretation und nicht als deren Garant fungiert. Als Biograph liegt Zeitblom viel daran, seine Glaubwürdigkeit zu versichern. Eigenartigerweise bedient er sich hierzu der Negation. Immer wieder streut er seine Zweifel ein, greift auf Dokumente zurück, weil er seinem Gedächtnis nicht trauen kann oder ergeht sich schulmeisterlich überkorrekt in der Erzählung von Details. Zeitblom bemüht sich einschlägiger »Kniffe«, um seine Zuverlässigkeit zu suggerieren. »Der Biograph relativiert zwar [...] den absoluten Wahrheitsgehalt seiner Informationen, doch erweist er sich gerade dadurch als zuverlässiger Vermittler, welcher dem Leser nichts vorzumachen versucht.«98 Dazu bedient er sich plastischer Ausführungen, wie »noch sehe ich mich«, wird besonders weitschweifig - z.B. im Schleppfuß-Kapitel - bei der Schilderung von Begebenheiten, die er selbst miterlebt hat und suggeriert Vertrauen, indem er auf bestimmte Mitteilungen bewußt verzichtet, dann aber wiederum seitenlang szenische Gespräche aus dem Gedächt-

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Ulrich Thomet, Das Problem der Bildung im Werke Thomas Manns. Frankfurt a. M. 1975. S. 147. Hubert Orlowski, Prädestination des Dämonischen. Zur Frage des bürgerlichen Humanismus in Thomas Manns Doktor Faustus. Poznan 1969. S. 62. Orlowski erstellt seitenlange Zitatlisten über mutmaßende Einschränkungen vorher getroffener »sicherer« Aussagen, denen die mit Sicherheit getroffenen Aussagen als ausreichender Beleg der Wahrhaftigkeit gegenüberstehen. Gleichzeitig weist er nach, daß Zeitblom im Umgang mit seinen dokumentarischen Quellen ungewöhlich zaghaft ist. »Indem er auf die Quellen hinweist, verstärkt er die Quasi-Wahrhaftigkeit seiner Mitteilungen.« S. 68. 90

nis zitiert, dem er all zu oft ja gar nicht traut. Darunter befinden sich plötzlich auch Gespräche, denen Zeitblom gar nicht beigewohnt haben konnte, wie die Unterhaltung zwischen Adrian und seinem Neffen Echo. Dann wieder zitiert er, unter Berufung auf sein phänomenales Gedächtnis, ganze Fragmente »nahezu wörtlich« aus Kretzschmars Brief an Adrian. Der Brief als Dokument, das für seine Objektivität selbst bürgt, wird unsinnig. Auf der anderen Seite fallen ihm simple Dinge wie der Titel von Kretzschmars letztem Vonrag nicht mehr ein. Infolge dieser »Kniffe« gelingt es Zeitblom, den Eindruck hervorzurufen, es handle sich tatsächlich um eine, wenn auch in der totalen Wahrhaftigkeit relativierte, so doch im Rahmen der Biographie glaubwürdige, begründete und haltbare Geschichte."

Der scheinbare Realismus verkommt zum Etikett. Was hier für den Biographen Zeitblom gilt, hat Klaus-Jürgen Rothenberg100 am Beispiel von Manns Roman Die Buddenbrooks minutiös nachgewiesen, daß nämlich der vermeintliche Wirklichkeitsbezug und die vielgelobte Detailtreue Manns gar nicht besteht. Er befindet, daß bei näherem Hinsehen sich immer nur eine Darstellung in Kontrasten, eine karikaturistische Verzeichnung der Wirklichkeit zeigt. Damit beschreibt er eine Merkwürdigkeit, die sich bei der Lektüre immer wieder einstellt, »daß man zwar [...] einen vollständigen, anschaulichen, realen Eindruck von der erzählten Wirklichkeit haben kann, daß dieser Eindruck sich aber bei genauerem Hinsehen als unbegründet erweist.«101 Unbegründet, weil die indirekte, uneigentliche Rede geradezu einen Subtext schreibt. «Die verstärkte Indirektheit des Erzählens« hebt Ulrich Dittmann als »verbindende Eigenart der letzten Werke Thomas Manns«102 hervor. »Die Sprachprobleme, an denen in den früheren Erzählungen und Romanen die Figuren scheiterten und die Sprachskepsis und das besondere erzählerische Verfahren des Erzählers bedingten, scheinen für die Erzählerfiguren nicht zu existieren.«103 Die Brüche, von denen das erste Kapitel nur so strotzt, glaubt auch er, Zeitblom anlasten zu können, der seinem komplizierten Gegenstand nicht mehr gewachsen sei. Dies sei das Resultat eines überaus beschränkten Sprachbewußtseins, was jedoch Zeitblom unentdeckt bliebe, so daß er hinreichende Sicherheit gewönne zur unbezweifelten Be-

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Ebd. S. 76. Klaus-Jürgen Rothenberg, Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. Zur Behandlung von Wirklichkeit in den Buddenbrooks. Köln 1969. Bernd Seiler, Ironischer Stil und realistischer Eindruck. S. 461. Ulrich Dittmann, Sprachbewußtsein und Rcdeform im Werk Thomas Manns. Untersuchungen zum Verhältnis des Schriftstellers zur Sprachkrise. Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1969. S. 168f. Ebd.

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Schreibung von Leverkühns Leben. Eine von Dirtmann sonderbar verkürzte Deutung, angesichts der beschriebenen Potenzierung der Indirektheit der Rede im Spätwerk. Dirtmann begründet seine Ansicht mit der erhöhten Distanz des Autors gegenüber seiner Erzählerfigur. Demgegenüber bleibt festzustellen, daß es gar nicht darum geht, ob der Erzähler seinem Sujet gewachsen ist, vielmehr darum, daß sich der Erzähler schon in der Rede als Biograph immer stärker verflüchtigt. Zeitblom ist eben nur Medium der Deutung. »Zeitbloms künstlerischer Standort und seine Weise zu erzählen, werden nachdrücklich in Frage gestellt. Nicht zuletzt geschieht dies aber gerade durch den Gegenstand dieses Erzählens. Leverkühns Musik bedeutet unter anderem auch Kritik an Zeitbloms Erzählen.«1** Das mag zweifelsohne stimmen. Gunter Reiss kann aber nicht zugestimmt werden, wenn er behauptet, daß sich Zeitbloms Aufgabe darin erschöpfe, »das Musik-Modell in seiner allegorisierenden Funktion sichtbar zu machen.«105 Über die Aporien der Kunst, an denen Leverkühns esoterisches Werk letztlich scheitert, weist der Diskurs des Erzählens hinaus. Schon in den Vorträgen Kretzschmars zeigt sich ja, daß die werkimmanente Selbstbezüglichkeit, die eigentlich ausreichen sollte, um das Kunstwerk zu legitimieren, eben nicht hinreicht, damit es gestaltet werden kann. Das Kunstwerk im Roman Doktor Faustus lebt von der Vermittlung und wird in deren Vollzug immer schon interpretiert. Zunächst aber ermöglicht die vermittelnde Funktion Zeitbloms eine verstärkte Reflexion des Erzählens auf sich selbst. Das trifft durchaus auch auf die Sprache und das Vokabular Zeitbloms zu, deren Herkunft aus der klassischen Bildungstradition ihm den Zugang der ihm wesensfremden Welt Leverkühns verwehrt. So stolpert er schon zu Beginn über das Wort »genial«. Erst in der Konnotation mit der Sphäre Leverkühns hafte ihm der Ruch des Dämonischen an. Die aber ist Zeitblom »entschieden wesensfremd«, sie hat er »instinktiv aus [...] [seinem] Weltbild ausgeschaltet.« (S. 10) Der Bruch zwischen Erzähler und Erzähltem bewirkt, daß »solche Begriffe nur mehr als verzerrte Masken lexikalischer Konservierung wirken.«106 Reiss bezieht sich jedoch viel zu einseitig auf das Humanistendeutsch, denn genau diesem Bereich entspringt ja auch das dämonische Gegenstück. Nur weil Zeitblom sich so unzweifelhaft der antiquiert wirkenden Humanistenwelt verschrieben hat, bleibt er einigermaßen glaubwürdig, wenn er Leverkühns Geisteskrankheit als Verschreibung an den Teufel deutet.

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Gunter Reiss, AJlcgorisicrung und moderne Erzählkunst. Eine Studie zum Werk Thomas Manns. München 1970. S. I40ff. Ebd. Ebd. S. 142.

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Der Gegenstand des Erzählens entlarvt die »Biographen-Mimik« dessen, der erzählt.107

Doch ohne »Biographen-Mimik«, ohne Maskeraden fänden jenseitige Spekulationen keinen Halt im Roman. Sie bedürfen der Aufrichtigkeit des Erzählers, um nicht schlicht aberwitzig zu wirken. Denn der dort erzählt, bedient sich erzählerischer Mittel, die keineswegs auf der Höhe ihrer Zeit sind. Unübersehbar orientiert sich Zeitblom an veralteten ästhetischen Normen. Der Konflikt mit den im Roman entwickelten Ansätzen zu einer ästhetischen Theorie ist vorprogrammiert. Dazu gehört auch Zeitbloms Koketterie mit dem Genre des Romans. Denn gerade als Romancier versteht er sich nicht. Er ist ein ganz herkömmlicher Biograph. Das erlaubt ihm dann auch mit allen Mitteln gegen die Regeln der Kunst zu verstoßen, nicht nur in dem oben schon skizzierten Maße, sondern besonders offensichtlich im Umgang mit den Figuren, seinen Zeitgenossen. So urteilt er einmal, als es um die seelischen Verirrungen Ines Roddes und dem daraus resultierenden Mord an Rudi Schwerdtfeger geht: »Dies ist kein Roman, bei dessen Komposition der Autor die Herzen seiner Personnagen dem Leser indirekt, durch szenische Darstellung erschließt. Als biographischer Erzähler steht es mir durchaus zu, die Dinge unmittelbar beim Namen zu nennen und einfach seelische Tatsachen zu konstatieren, welche auf die von mir darzustellende Lebenshandlung von Einfluß gewesen sind.« (S. 397) Seine Distanz gegenüber der Aufgabe des Romanciers wird einschlägig deutlich anhand der Figur der Frau von Tolna. Ich bin im Begriffe, eine Figur in meine Erzählung einzuführen, wie ein Romanvcrfasser sie seinen Lesern niemals bieten dürfte, da Unsichtbarkeit in offenbarem Widerspruch zu den Bedingungen des Künstlerischen und also auch der Romanerzählung steht. (S. 523}

Bisher wurde dieses Unvermögen Zeitbloms immer nur als sein Scheitern begriffen und nicht als eine Möglichkeit der textuellen Autoreflexivität, auch hier wieder Erzählebenen subtil zu unterlaufen. So auch Michael Schäfermeyer, der dieses Scheitern aus der Abhängigkeit Leverkühns von den Mitteilungen des Erzählers herleitet. »Alle bisherigen interpretatorischen Überlegungen deuten darauf hin, daß Leverkühn nicht zu seinem Ausdruck kommt, sondern von Zeitblom gerade um ihn verkürzt wird, womit das Scheitern der Biographie sich verbindet.«108 Zeitblom erfüllt für Schäfermeyer keine andere Funktion als diejenige, Verfasser der Biographie zu sein: »Er organisiert sein Material - nicht Thomas Mann, der vielmehr dem Erzähler seine Techniken zur Verfügung stellt.«109 Mit dem Verschwinden des Autors

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w

Ebd. S. 142. Michael Schäfermcyer, Thomas Mann. Die Biographie des Adrian Leverkühn und der Roman Doktor Faustus. Frankfurt a. M., Bern, New York 1984. S. 62. Ebd. S. 42.

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hinter dem Erzähler geht Schäfermeyer zwar weiter als die bisher erwähnten Interpreten, aber im Grunde ersetzt er nur den einen durch den anderen. »Erst das konsequente Festhalten an diesem Sachverhalt ermöglicht es, die Erzählverhältnisse der Biographie und deren Stellenwert für den Roman zu begreifen. [...] Weil also kein Autor zur Verfugung steht, der den Erzähler konstruiert haben könnte, bleibt nur, daß er sich selbst konstruiert.«110 Die Trennung zwischen Roman und Biographie nimmt Schäfermeyer zum Anlaß, das Scheitern des Biographen — der weder seinem Thema noch dem komplexen Montageverfahren gewachsen sei - vorzuführen, um im Scheitern des Erzählers ein Scheitern des Erzählens überhaupt zu erkennen. Hieraus resultiert für ihn eine fundamentale poetologische Differenz zwischen der Biographie und dem Roman: »Während in jener durch vergleichsweise konventionelle Mittel [...] und durch einen komplexen Aufbau die zentralen Themen vermittelt werden sollen, scheint der Roman als Gefäß der Negativität die unaufhebbaren Schwierigkeiten solcher Konzeption bis in die Verstümmelung der Gegenstände aufzunehmen und insgesamt mit seismographischer Genauigkeit die Demontage seiner eigenen Tradition zu registrieren.«"1 Zu diesem Resultat kann Schäfermeyer allerdings nur gelangen, weil er an der Figur des traditionellen Erzählers festhält, anstatt sie als eine Erzählfunktion zu betrachten, die als solche schon die These von der Trennung von Biographie und Roman widerlegt, indem sie das Erzählen thematisiert und nicht allein sein Scheitern vorfuhrt. Schließlich widerlegt Schäfermeyer seine eigene Theorie von der »objektiven Struktur des Romans«, die für sich selbst stehe, indem er die Entstehung des Doktor Faustus heranzieht nicht im Sinne einer autokorrigierenden Nachschrift Thomas Manns, sondern schon als eigenständiges fiktionales Werk. In dieser mißlungenen Verbesserung werde »auf der Ebene des Wahrheitsgehaltes« (was immer Schäfermeyer darunter verstehen mag) das Mißlingen der Biographie noch einmal unterstrichen und umso deutlicher herausgestellt, »wie der Roman das Zerbrechen seiner eigenen Tradition mittels der Biographie gleichsam selber ausstellt.«112 Als Resümee bleibt: Bisher wurden ZeJtbloms erzählerische Qualifikationen zwar durchweg angezweifelt und in Frage gestellt, aber nie als eine Funktion der parodistischen Schreibweise erkannt. Die geschickte Suggestion Zeitbloms, seinem Vorhaben nicht gewachsen zu sein, hat zu überzeugen vermocht. Hinter der realistischen Maske verschwindet die Vermittlungsfunktion. In den literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit der Figur des Biographen, wird der Roman un-

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Ebd. S. 42ff. Ebd. S. 67. Ebd. S. 74.

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weigerlich auf die Beantwortung der Frage nach dessen Gelingen oder Mißlingen reduziert. Dem Autor wird unterstellt, er habe eine Biographie schreiben wollen, in der dann auch Charaktere auftreten sollten. Eine Forderung, die wohl nur allein die zeitgenössische Literaturkritik stellen darf. Denn sie klingt ganz nach Emil Staiger. Der hat schon bei Erscheinen des Romans die inkonsequente Ausgestaltung der Figur Zeitbloms bemängelt, die in ihrer Sprache zwischen den Tönen des »pastoralen Gelehrten« und dem eines, »teils politisch engagierten Autors« oszilliere. Es ist nicht auszukommen mit ihm. Man wciss nicht, wen man da vor sich hat, und möchte beinahe das Urteil wagen, er sei, neben allem, was er bedeutet und leistet, doch auch ein Alibi für gewisse stilistische Nachlässigkeiten, die Thomas Mann sich hier gestattet."3

Den Erzähler als Biographen, den gibt es nicht. Er entwindet sich dem Leser und taucht unter im Beziehungszauber der parodistischen Schreibweise.

2.2.2 Der Erzähler als Künstler Nochmals, ich schreibe keinen Roman und spiegle nicht allwissende Autoreneinsicht in die dramatischen Phasen einer intimen, den Augen der Welt entzogenen Entwicklung vor. (S. 444)

Ungeachtet der Behauptung in erster Linie nur Biograph sein zu wollen, setzt sich Zeitblom unermüdlich mit der Romanform und den poetologischen Anforderungen an den Romancier auseinander. Zum einen gibt ihm das die Freiheit, durch den Verweis auf das künstlerische Genre dessen Normen zuwiderzuschreiben gewissermaßen in einer doppelten Perspektive -, zum anderen bietet seine zusätzliche Funktion als Künstler eine durchgehende intratextuelle Auseinandersetzung mit dem ästhetischen Diskurs des Romans, wovon die musiktheoretischen Reflexionen Leverkühns einen beträchtlichen Teil ausmachen. Hält er die Maske des Biographen vor, dann unterlaufen seine Reflexionen die verschiedenen thematischen Ebenen des Romans. Er verweist auf den Konstruktionscharakter und ihn als Konstrukteur, der auswählt, assoziiert und interpretiert. »Hier breche ich ab, mit dem beschämenden Gefühl artistischer Verfehlung und Unbeherrschtheit. Adrian selbst hätte wohl kaum, nehmen wir an: in einer Symphonie, ein solches Thema so vorzeitig auftreten - hätte es höchstens auf eine fein versteckte und kaum schon greifbare Art von ferne sich anmelden lassen.« (S. 11) So richtet Zeitblom die Aufmerksamkeit auf den Erzählvorgang und untergräbt die

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Emil Staiger, Thomas Manns Doktor Faustus. In: Neue Schweizerische Rundschau. Neue Folge 15. Jg. 7 (1947) S. 423-^30. S. 429. 95

Sinnfälligkeit des Erzählten. Hinter der vordergründig realistischen Maske offenbart sich der Konstruktionscharakter des Romans. Und dazu gehört auch die Suggestion eines systematischen Aufbaus, die so viele Interpreten verleitete, ein System vorauszusetzen, dessen Motivgeflecht es zu entwirren gelte. Indem der Bruch zwischen dem Erzähler und der Art der Darstellung so augenfällig wird, wird gerade der konstruktive Charakter des Romans betont und gleichzeitig die Geschichte seines Verfahrens vorgetragen. Zeitbloms manieristische Art des Erzählens, sein Fest- und Aufhalten am Detail untergräbt hingegen die Tendenz des Romans, total durchorganisiert zu sein. Zeitblom ist ja nun alles andere als ein Mann weniger Worte und genauer Formulierungen - im Gegenteil: stellenweise ist er geradezu geschwätzig. Zeitblom is more of a working hypothesis, a judgmental point of view from which the action of the story unfolds, as well as a full-fledged actor in the cast of characters. The introduction of the observer into the sphere of observation is a gesture of renunciation on the part of the author. Rather than exploit the traditional privilege of the realist author-narrator, i.e. the right to impose authoritative views and judgements, this author has merged with the novel as whole to become a function of its pronouncements."4

Unfreiwillig selbstparodistisch wirken so Zeitbloms Kommentare, und unfreiwillig selbstparodistisch sind auch seine Interpretationen. Ich breche aufs neue ab, indem ich mich daran erinnere, daß ich auf das Genie und seine jedenfalL· dämonisch beeinflußte Natur nur zu sprechen kam, um meinen Zweifel zu erläutern, ob ich zu meiner Aufgabe die nötige Affinität besitze. (S. 12)

Doch auch auf der konstruktiven Ebene unterläuft Zeitblom die Sinnstiftungen des Romans. Sein ausgeprägtes Spiel mit den Zahlen hat häufig genug dazu verfuhrt, der Zahlenmystik und der Kapiteleinteilung eine quasi-metaphysische oder magische Ordnungsstruktur zuzuschreiben.115 Zeitblom suggeriert Bedeutungstiefe und redet sich um Kopf und Kragen: »Zahlenmystik ist nicht meine Sache, [...]. Daß aber auf das vorige Kapitel gerade die allgemein mit Scheu betrachtete und für unheilvoll geltende Ziffer XIII gefallen ist, hat denn doch meinen unwillkürlichen Beifall, und fast bin ich versucht, es für mehr als Zufall zu halten.« (S. 151) Im selben Absatz noch entlarvt er dieses Spiel als eine rein rezeptionsfreundliche Konstruktion. »Um einen Zufall allerdings handelt es sich, vernünftig gesprochen, dennoch, und zwar weil im Grunde dieser ganze Komplex von Hallenser Universitäts1H

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Stephen D. Dowden, Sympathy for the abyss. A study in the novel of German modernism: Kafka, Broch, Musil, and Thomas Mann. Tübingen 1986. S. 150. Vgl. hierzu das ausfuhrliche Literaturverzeichnis in: Hermann Kurzke, Thomas Mann. Epoche—Werk—Wirkung und in: Helmut Koopmann (Hrsg.), Thomas-Mann-Handbuch sowie die im folgenden genannten Autoren.

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erfahrungen, so gut wie weiter oben die Vorträge Kretzschmars, eine natürliche Einheit bilden, und weil ich nur als Rücksicht auf den Leser, welcher immer nach Ruhepunkten, Zäsuren und Neubeginn ausschaut, in mehrere Kapitel aufgeteilt habe, was nach meiner, des Schriftstellers, wahrer Gewissensmeinung auf solche Gliederung gar keinen Anspruch hat. Ginge es also nach mir, so befänden wir uns immer noch im Kapitel XI, und nur meine Neigung zum Zugeständnis hat dem Doktor Schleppfuß die Ziffer XII verschafft.« (S. 151) Eine derartig frei verfügende Arithmethik muß schließlich dem »Teufelgespräch« seine exponierte Stellung als 25. Kapitel nehmen."6 Ganz und gar verabschiedet sich Zeitblom von einem strengen Konstrunktionsprinzip mit trivialen Bemerkungen wie: »Auch Sternchen sind eine Erquickung für Auge und Sinn des Lesers [...]«, (S. 237) um dann anzukündigen, mit welchen Details aus Leverkühns Leben er das Kapitel noch anzureichern gedenkt, obgleich ihm dabei auffällt, daß es »als Kapitel genommen, ein recht uneinheidiches Aussehen gewinnt, aus heterogenen Bestandteilen zusammengesetzt erscheint, - da es doch genug wäre, daß es mir schon mit dem vorigen nicht besser ergangen ist.« (S. 237) Ähnliches trifft für die Länge der Kapitel zu. Häufig genug bemerkt Zeitblom: »Da der vorige Abschnitt ohnedies über Gebühr angeschwollen ist, tue ich gut einen neuen zu eröffnen, [...]« (S. 32) oder: »Auch der eben abgeschlossene Abschnitt ist für meinen Geschmack viel zu sehr angeschwollen [...],« (S. 45) um dann im gleichen Abschnitt den Konstruktionsbruch durch sein persönliches Interesse zu legitimieren, indem er sich sogar vom Publikum höflich distanziert. »Mir selbst ist jedes Wort brennend interessant, das ich hier schreibe, aber wie sehr muß ich mich davor hüten, dies als Gewähr für die Anteilnahme Unbeteiligter zu betrachten! Allerdings sollte ich auch nicht vergessen, daß ich nicht für den Augenblick und nicht für Leser schreibe [...].« (S. 45) Mit solchen Äußerungen diskreditiert er jegliche ästhetische Norm. Sein Sujet und seine emotionale Verstrickung reichen ihm, um jeden noch so gravierenden Regelbruch zu legitimieren: »Fern sei es von mir, den Ernst der Kunst zu leugnen; aber wenn es ernst wird, verschmäht man die Kunst und ist ihrer nicht fähig.« (S. 238) Unbewußt fällt Zeitblom gleichzeitig ein ästhetisches Urteil. Der Kunst sei das Wahre und Echte, der authentische Ausdruck nicht mehr möglich — eine These Leverkühns, gegen die sich dieser mit seinen Kompositionen zu behaupten versucht, was ihm dann aber nur noch in der Maske des Wahnsinnigen gelingt. Und doch spricht er schon an, was ihm später

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Vgl. dagegen: Rosemarie Puschmann, Magisches Quadrat und Melancholie in Thomas Manns Doktor Faust us. Von der musikalischen Struktur zum scmantischen Beziehungsnetz. Bielefeld 1983. 97

zum Verhängnis werden wird. Angesichts von Leverkühns Wahnsinnsrede, der kein Vorspiel mehr folgt, seufzt er: Nie hatte ich stärker den Vorteil der Musik, die nichts und alles sagt, vor der Eindeutigkeit des Wortes empfunden, ja, die schützende Unverbindlichkeit der Kunst überhaupt, im Vergleich mit der bloßstellenden Krudheit des übertragenden Geständnisses. (S. 665)

Diese Unverbindlichkeit der Kunst produziert Zeitblom mit seinen sich gegenseitig relativierenden Kommentaren und Behauptungen in gewissem Maße selbst. Einmal ist die innere Geschlossenheit eines Kapitels, seine thematische Einheit, Maßgabe und Grund für dessen Länge: »Ich blicke nicht zurück und hüte mich nachzuzählen, wieviele Blätter ich aufgehäuft, [...]. Jede gesonderte Teil-Einheit eines Werkes bedarf eines gewissen Schwergehaltes, eines bestimmten Maßes förderlicher Bedeutung für das Ganze [...] - sie kommt nicht dem einzelnen zu,« (S. 97) dann wieder ist es die Länge des Nachzuerzählenden, die ein plötzliches Abbrechen fordert: »Hier kann ich nur >Und so weiter sagen, denn es ist Zeit, daß ich der Wiedergabe dieses Gesprächs — oder eines solchen Gesprächs - ein Ende setze.« (S. 169) Das geschieht allerdings nicht. Statt dessen gibt Zeitblom den Fortgang des Studentengesprächs nur leicht verkürzt resümierend wieder. Von konsequenter Strukturierung, gar noch nach Vorgabe des der Musik entliehenen »strengen Satzes« kann also bei seinem Erzählen keine Rede sein. Was für die äußere Organisation gilt, trifft auch auf den innerthematischen Zusammenhang zu. Die Chronologie der Biographie ist nur ein schwacher Leitfaden. Einzelne Themen und Motivkomplexe werden ihm folgend daran zwar aneinandergereiht, dessen ungeachtet immer schon durch Antizipationen vorweggenommen. Rückblickend erscheinen sie dann in einem oft allzu kuriosen Licht. Diese Freiheit nimmt sich der Biograph bewußt und gesteht lakonisch, daß er als Romancier dem Gesetz des Spannungsbogens folgen müßte. »Es scheint mir ratsam, selbst festzustellen, daß diese Anekdote von dem Mann mit dem Kinderarzt insofern eine Abschweifung darstellt, als weder der eine noch der andere in diesen Aufzeichnungen überhaupt je wieder vorkommen wird. Wenn das ein Fehler ist, und wenn es zweifellos schon ein Fehler war, daß ich, der Neigung zum Vorgreifen erliegend, schon hier auf Pfeiffering und die Schweigestills zu sprechen kam, so bitte ich den Leser, solche Unregelmäßigkeiten der Aufregung zugute zu halten, die mich seit Beginn dieses biographischen Unternehmens [...] beherrscht.« (S. 4l) Dabei gehört gerade das vorausgreifende Erzählen zum Strukturmerkmal des Doktor Faustus, ohne das unter anderem die Leitmotive nicht eine derart tragende Funktion haben könnten. Kristiansen stellt schon für den Zauberberg fest: Ja, durch die Transponierung aus einem Kontext in unzählige andere mit einander ergänzenden Bedeutungsschattierungen werden die leitmotivischen Elemente allmählich

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dem vorwiegend >realistischen< Kontext, der ihre Rezeption im Horizont der ersten Lektüre bestimmte, immer mehr entfremdet, bis schließlich Sein und Bedeutung der Dinge völlig auseinanderklaffen und ihre >idecile Transparenz«, auf die Thomas Mann wiederholt hingewiesen hat, auf Kosten ihrer sinnlichen Konkrethcit dominierend geworden ist. Die Leitmotivtechnik hat im Zauberberg so ganz klar eine allegorisierende Funktion. 117

Die »ideelle Transparenz« bleibt im Doktor Faustus zwar erhalten, doch ihre allegorisierende Funktion wird vom Wust des Anspielungsreichtums erdrückt. Eine Überforderung, die in einigen wenigen Fällen zu banalsten Szenen fuhrt. Die mythischdämonische Atmosphäre, die der Lutherdeutsch parlierende Leverkühn mit aufzubauen hilft, wird durch das mittelhochdeutsche Geplapper des Neffen Nepomuk konterkariert. Bevor er überhaupt als Kind auftreten darf, wird er schon zum Elfenwesen stilisiert. Die realistische Maske, die die Glaubwürdigkeit des Erzählten verbürgte, wird hier völlig konterkariert. Und es tritt genau das ein, wovor Leverkühn sich am meisten fürchtete. Der Kunstgriff gerät zum Kitsch. Die unverblühmte, durch nichts gemilderte Authentizität trägt nicht mehr. Da schützt auch der naive Kindermund nicht vor. Allerdings sind diese Ausrutscher selten so deutlich. Die vordergründig realistische Maske der Leitmotive entwickelt sich schließlich zu einer Überperspektive. Diese verleitet unter anderem Agnes Schlee von einer totalen Durchorganisation, der strengen Konstruktion der Antizipationen zu sprechen. »Von Anfang an liegt fest, was an welcher Stelle erzählt werden darf und muß, und wenn der Biograph diese Regel scheinbar immer und immer wieder verletzt, dann nur, um auf die Existenz und Wirksamkeit dieser Regel hinzuweisen.«"8 Die allzu zahlreichen, unmotivierten Regelverletzungen lassen diesen Umkehrschluß allerdings nicht mehr zu. Zudem kann Schlee nur jene Motive verfolgen, die sie in den Experimenten Jonathan Leverkühns ausmacht, als seien diese der Schlüssel. Wieder dürfte gegen diesen Rigorismus die Erzählung der Vorträge Kretzschmars als Metakommentar zum Roman gelesen werden: »Ich unterbreche mich in meiner Wiedergabe, nur, um aufmerksam zu machen, daß der Vortragende da von Dingen, Angelegen-

Berge Kristiansen, Unform-Forrh-Überform. S. XXf. Weil sich hier eben eine zweite Bedeutungscbcne über den Roman schiebt, weist Kristiansen seine Einordnung als Bildungsroman entschieden zurück. Im Vordergrund stehe nicht eine »Konsolidierung seines [des Helden Anm. d. Verf.] Wirklichkeitsverhältnisses« S. 51, sondern die Entgrenzung zwischen seiner Person und seiner Umwelt. Agnes Schlee, Wandlungen musikalischer Strukturen im Werke Thomas Manns. Vom Leitmotiv zur Zwölftonreihe. Frankfurt a. M., Bern 1981. S. 141. Als eine der Wenigen unternimmt es Schlee die Bedeutung des Leitmotivs aus seiner musikalischen Abstammung und seiner besonderen Verwendung bei Richard Wagner zu erläutern. Den Beweis, daß die Zwölftontechnik als strenges Konstruktionsmodell auf den Roman anwendbar ist, bleibt sie jedoch schuldig.

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heiten, Kunstverhältnissen sprach, die noch gar nicht in unseren Gesichtskreis fielen und nur am Rande desselben durch sein immerfort gefährdetes Sprechen schattenhaft für uns auftauchten.« (S. 80) Auch Zeitbloms Erzählen läuft permanent Gefahr, an seinem Thema zu zerbrechen oder von emotionalen Wallungen fortgetragen zu werden. Wie dicht das Netz des maskenhaften Realismus geküpft ist, erweist sich immer wieder in jenen Interpretationen, die versuchen musikalische Strukturen auf den Text zu übertragen. Subtexte des Romans werden als Handlungsanweisungen gelesen. Die Resultate bestätigen unwillentlich das gelungene Ineinander scheinhaften Erzählens und ästhetischen Theoretisierens. Alle Versuche, die Zwölfton-Montage auf den Roman zu übertragen, mußten demnach scheitern. Verleitet von der allseitigen thematischen Durchdringung des Materials, wurde vergeblich nach einer Organisation gesucht, die Schönbergs Zwölftontechnik entspräche. Für das Schönbergsche »System von Kontrasten« findet Wolf-Dietrich Förster im Doktor Faustus keine Entsprechungen. Die Identität des Materials in diesen Kompositionen erweist sich von hier gesehen als das extreme Gegenteil zu derjenigen des Doktor Faustus, da Mann ein totales Aufeinanderbezogensein seines motivisch-thematischen Materials konstruiert, zwischen den Kontrasten vermittelt und Unebenheiten durch Kommentierungen und reflektierende Erörterungen glättet.1"

Der Humanist Zeitblom ist als erster Leser der Biographie das Medium, das die Bezüge erst herstellt. Wesendicher noch: Er weist kommentierend auf seine eigenen Konstruktionen hin. Als Beispiel sei hier nur auf die »geheime Identität« der beiden Höfe, Buchel und Pfeiffering - Geburtsstätte und Todesort - hingewiesen, nicht um damit das »Geheimnis ihrer Identität« zu interpretieren oder gar zu lüften, sondern allein um darzustellen, wie Zeitblom in der Funktion des KünstlerKonstrukteurs diese Parallelität erst stiftet. Nachdem er ausführlich Hof Buchel, die Bewohner, die Atmosphäre und weniger genau die Landschaft beschrieben hat, drängt es ihn erneut zum Vorgreifen, ohne daß er sich diesmal für seinen Konstruktionsbruch im Fortgang der Biographie entschuldigte. »Nun stehe ich aber unter dem Zwang, das Folgende anzumerken. [...]: der Schauplatz seiner späteren Tage war eine kuriose Nachahmung desjenigen seiner Frühzeit. [...] Ich habe über 119

Wolf-Dietrich Förster, Lever kühn, Schönbcrg und Thomas Mann. Musikalische Strukturen und Kunstreflexion im Doktor Faustus. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975). S. 694-720. S. 716. Vgl. auch: Michael Schäfermeyer, Thomas Mann. Auch Schäfermeyer kommt zu dem Schluß, daß der »strenge Satz« literarisch nicht verwirklicht wird. Dies schreibt er jedoch dem Versagen Zeitbloms als Erzähler zu. Damit unterstellt er Zeitblom ein Konstruktionsmuster, das als solches erst in der >Entstehung des Doktor Faustus« hervorgehoben wird. 100

diesen ganzen sich aufdrängenden Parallelismus mit Adrian niemals gesprochen; ich tat es früher nicht und mochte es darum später nicht mehr tun; aber gefallen hat die Erscheinung mir niemals.« (S. 39f.) Und erklären kann Zeitblom sie sich genausowenig. Doch immerhin äußert er eine Vermutung, die seiner humanistischen Gesinnung jedoch nicht behagen will. »Handelte es sich bei jener künstlichen >Rückkehr< um ein bloßes Spiel? Ich kann es nicht glauben.« (S. 4l) Erneut kommentiert Zeitblom auf eine für den Biographen unangemessene Weise. Er formuliert einen Metakommentar, der über den bloßen Zufall hinaus, dem Motiv der geheimen Identität nachspürt. Das Zusammenfallen von Vergangenheit und Gegenwart wird Zeitblom einige Seiten später zum wiederholten Mal, diesmal angesichts der Architektur Kaisersascherns, sinnfällig: »- dergleichen stellt für das Lebensgefühl die ununterbrochene Verbindung mit der Vergangenheit her, mehr noch, es scheint jene berühmte Form der Zeitlosigkeit, das scholastische Nunc stans an der Stirn zu tragen. Die Identität des Ortes [...] behauptet sich gegen den Fluß der Zeit.« (S. 52) Die mehrdimensionale Funktion des Leitmotivs läßt sich auf den verschiedenen Ebenen des erzählerischen Diskurs nachzeichnen. 12° Dem Biographen erscheint die Identität schicksalhaft vorgegeben, der entwerfende Künsder hofft auf die allegorisierende Kraft seiner Setzung, doch erst im erzählerischen Diskurs der parodistischen Schreibweise gewinnt die geheime Identität jene Autonomie, die ihr Gemachtsein immer schon einbekennt. Durch die Wiederholung von Leitmotiven im Kontext verschiedener Bedeutungsschattierungen baut sich im Roman mit anderen Worten eine selbständige, von dem Personen- und Erzählerplan unabhängige Ebene des leitmotivischen Textgewebes auf.121

Zeitblom ist ja geradezu zwanghaft auf der Suche nach Entsprechungen, Gleichnissen, Bezügen und Parallelen. Da bilden die drei verschiedenen Zeitebenen keine Ausnahmen: die Zeit der Niederschrift, Leverkühns Lebensjahre und eben die Zeit des Rezipienten, - von den zahlreichen historischen Anspielungen auf das Mittelalter einmal ganz abgesehen. »Ich weiß nicht warum diese doppelte Zeitrechnung meine Aufmerksamkeit fesselt, und weshalb es mich drängt, auf sie hinzuweisen: [...]. Es ist dies eine ganz eigentümliche Verschränkung der Zeitläufe [...], so daß dieser [der Leser Anm. d. Verf.] es also mit einer dreifachen Zeitordnung zu tun hat: seiner eigenen, derjenigen des Chronisten und der historischen. Ich will mich

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Vgl. auch: Elisabeth Frcnzel, Der doppelgesichtige Leverkiihn. Motiwcrschränkungen in Thomas Manns Doktor Faustus. In: Theodor Wolpers (Hrsg.), Gclcbtc Literatur in der Literatur. Göttingen 1986. S. 311-320. Berge Kristiansen, Unform-Form-Überform. S. 12. 101

in diese Spekulationen [...] nicht weiter verlieren und nur hinzufügen, daß das Wort >historisch< mit weit düsterer Vehemenz auf die Zeit zutrifft, in welcher - als auf die, über welche ich schreibe.« (S. 338f.) Und wieder belegen die Interpreten, daß die allegorisierende Sinnstiftung funktioniert. Die Verschränkung der Zeitebenen wurde oft genug zum Anlaß genommen, Doktor Faustus als einen »Deutschlandroman« und »Faustroman« zu lesen.122 Dafür findet sich zwar eine Reihe wohlplazierter Anspielungen im Roman, doch die wesentlichen Assoziationen und Konnotationen werden vom Erzähler Zeitblom selbst vorgegeben. Im Gegensatz zu den Interpreten bleibt er die weitere Ausführung schuldig, ein typisches Phänomen seinens sprunghaften Erzählstils. »Dies alles sage ich, um den Leser daran zu erinnern, unter welchen zeitgeschichtlichen Umständen die Niederschrift von Leverkühns Lebensgeschichte vonstatten geht, wie die mit meiner Arbeit verbundene Unruhe ständig bis zur Ununterscheidbarkeit in eins verschmilzt mit derjenigen, die durch die Erschütterung des Tages erzeugt wird.« (S. 233) Und bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen sich für Zeitblom immer mal wieder die einzelnen Sphären, allerdings nicht ohne den Leser davon in Kenntnis zu setzen. Die privaten Äußerungen und Erklärungen Zeitbloms bilden einen beständigen Selbstkommentar, der sich als Metakommentar zu einem Netz des unermüdlichen Verweisens auf den Prozeß der Konstruktion verdichtet. So avanciert er zur subversiven Gegenrede gegen die subjektive Betroffenheit, für die Zeitblom mit seiner humanistischen Aufrichtigkeit einsteht. »Und dennoch! So wenig es möglich war, das Absinken seiner Gesundheit mit dem vaterländischen Unglück in gemüthafte Verbindung zu bringen, - meine Neigung, das eine mit dem anderen in objektivem Zusammenhang, symbolischer Parallele zu sehen, diese Neigung, die eben nur durch die Tatsache der Gleichzeitigkeit mir eingegeben sein mochte, war unbesieglich durch seine Ferne von den äußeren Dingen [...].« (S. 459) Zeitblom als Medium der persönlichen Anteilnahme überführt die historische Zeit in einen individuellen Begründungszusammenhang. Von einer tiefgreifenden zeitgeschichtlichen Analyse ist wenig zu erkennen. »Meine Erzählung eilt ihrem Ende zu - das tut alles. Alles drängt und stürzt dem Ende entgegen, in Endes Zeichen steht die Welt, steht darin wenigstens für uns Deutsche, deren tausendjährige Geschichte widerlegt, ad absurdum geführt, als unselig verfehlt [...].« (S. 605) Seine historische Determination, mit der Leverkühn ringt und die ihn beinahe zum Verstummen drängt, ist dem Schriftsteller Zeitblom nur kokettes Beiwerk, dessen ungeachtet er seine Biographie vorantreibt.123 Seine Weltsicht wird erst reziprok in den Werken und ästhetischen Überlegungen Leverkühns in Frage gestellt. 122 123

Vgl. u.a.: Hermann Kurzkc, Thomas Mann. S. 279f. Vgl. hierzu über Thomas Mann: Victor Lange, Thomas Mann: Tradition und Experi102

Denn wenn in allen Erzählungen Manns der problematische Künstler unablässig und in zahllosen Varianten vorgestellt wird, wenn diese Existenzform als im höchsten Maß labil, privat und exzentrisch erscheint, so ist der darstellende Erzähler im Gegenteil durch seine demonstrative Identifizierung mit der rituellen Gesinnung und Gestik der Gesellschaft eine öffentliche die Tradition der bürgerlichen Vergangenheit essentiell, wenn auch mit ironischem Tonfall repräsentierende Gestalt und Stimme.124

Der Humanist, der in seiner Bildungstraditon noch einigermaßen gesichert ist, kann so durchaus produktiv erzählen, im Erzählten überleben. Die Dekonstruktion des Erzählens durch die subversive Gegenrede unterbricht den Fluß der Erzählung nicht. »Im Erzählen überlebt der Erzähler, [...] die These vom Ende der bürgerlichen Kunst, des bürgerlichen Vertrauens auf den schönen Schein. Er konstruiert das Panorama seiner Epoche [...]«125 und den Blick auf sie. Besonders wichtig wird das, wenn Zeitblom vom Dämonischen handelt. Schon im ersten Kapitel stellt Zeitblom dem Genie das »Dämonische« an die Seite. »Das Dämonische [...] habe ich jederzeit als entschieden wesensfremd empfunden, es instinktiv aus meiner Welt ausgeschaltet.« (S. 10) Erst durch diese nachdrückliche Negation und im Glauben an eine vernuftgebundene Ethik ist es Zeitblom möglich, das Dämonische in einer befremdlichen Schattenwelt anzusiedeln und ihr jene Überzeugungskraft zu verleihen, die diese Sphäre davon befreit, außerordentlich legitimiert werden zu müssen. Warum soll nicht auch in einem Humanistenherzen ein Fünkchen Aberglauben schlagen, zumal Zeitblom nichts unterläßt, das Schicksal überall am Werk zu sehen. »Nachdem der Erzähler eingangs über das Genie und seine »Dämonisch beeinflußte Natur< geredet hat, läßt er diese Dämonie in verschiedenen Spiegelungen sich entfalten [...].«IM Die geziert und umständlich vorgetragenen Informationen und Begründungsversuche nehmen die Rolle eines Paravents ein, hinter dem die offen werdenen Fragmente wenigstens den Abglanz

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ment. »Dieses Erzählen ist in keinem Moment durch die Konfrontation mit seiner Thematik verunsichert, sondern behauptet in jeder Geste, ein bis zum Grotesken durchgeführtes Maß an Souveränität - eine Souveränität, die nicht so sehr das Ergebnis einer pathologischen Erfahrung ist [...], sondern die unendlich eindrucksvolle Dramatisierung und Theatralisierung einer erzählerischen Meisterschaft bietet, die es in solcher Vollendung und Selbstverleugnung jedenfalls in der deutschen Literatur kaum jemals gegeben hat.« S. 65. Ebd. S. 63.

Ebd. S. 67. Gerd Sautermeister, Zwischen Aufklärung und Mystifizierung. S. 80. Sautermeister ist in seiner geschichtskritischen Interpretation nicht darin zu folgen, daß der Widerspruch unentdeckt bleibt, den er doch selbst aufdeckt: »Das poetische Verfahren ist von idealtypischer Durchsichtigkeit: durch Aussparung der wirtschaftlichen Basis von Kaiscrsaschern und seiner »verschiedenen Industrien einige treuliche konservative Stadtteile zur ganzen Stadt zu erheben und ihr Zeitlosigkeit anzudichten.« S. 81. 103

von Allgemeingültigkeit erhalten sollen. Zeitblom liebt es, sich in dunkel gefärbten, stimmungsvollen Worten zu ergehen. »Auf diese Art und Weise werden zugleich Person und Werk des Tonsetzers einer wertenden Kritik unterworfen, da diese Gruppe von emotionell gefärbten Begriffen direkt auf das Hervorrufen bestimmter stimmungshafter Eindrücke zielt.«127 Und das geschieht um so mehr, je deutlicher sich Zeitblom von allem Mystischen und Mythischen distanziert. Sein abweisender Kommentar auf Leverkühns Brief, in dem dieser sein Bordellerlebnis schildert, manifestiert geradezu dessen Rätselhaftigkeit. Durch regelrechtes Herbeizitieren und Montieren wird die Fassade einer quasi-mythischen Struktur aufrechterhalten. So erkennt z.B. Glrard Schmidt, daß »die Realitätsbruchstücke [aus der Realität des Autors Mann Anm. d. Verf.] mit Hilfe der Montage als Verfahren, in einen ästhetischen Zusammenhang eingebettet werden«, durch den sie ihre ursprüngliche Bedeutung verlieren und »zu Stoffzweiten Grades« werden. Doch reicht ihm diese vorausgeschickte Einschränkung als Berechtigung, den Roman dann ganz von seiner »mythischen Durchdringung« her zu lesen.128 «Montage als Verfahren«, das ist ein weiterer Schlüsselbegriff für die ThomasMann-Forschung, insbesondere, wenn es darum geht, intertextuelle Bezüge aufzuzeigen. Das Mittel der Montage muß besonders gerne vorhalten, um die spezifische Modernität des literarischen Schaffens Manns zu beweisen.129 Sie läge in der durch die Montage geleisteten Absicherung des Erzählers. Entgegen den im Roman entwickelten Aporien der modernen Kunst werde der konservative Erzähler hier noch einmal bestätigt. »Die Erfindungen Manns, seine experimentellen Anreicherungen des traditionellen Erzählens realisieren nicht etwa die anderswo großartig inszenierte Liquidierung des Erzählers, sondern dessen Modernisierung.«130 Was kennzeich-

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Hubert Orlowski, Prädesdnadon des Dämonischen S. 94. Orlowski fuhrt seitenlange Beispiele aus dem Doktor Faust us auf, die die These vom Gemachtsein bestädgen. Orlowski zeigt damit, wie der Ich-Erzähler seine Befugnisse und Perspekdve permanent durchbricht und oft genug die Haltung des auktorialen Erzählers einnimmt. Somit gehört der Ich-Erzähler zu jenen »intellektuellen Tricks«, die den Roman konstituieren. 128 Ge'rard Schmidt, Zum Formgesetz des Doktor Faustus von Thomas Mann. Wiesbaden 1976. S. 9. Von Gesetz ist in Schmidts Interpretation dann auch so gut wie gar nicht mehr die Rede. 129 Dagegen u.a. Hans Rudolf Vaget, Thomas Mann und James Joyce. »Es darf als ein Kennzeichen dieser umfassenden Bezugnahme auf die deutsche Kulturtradition gedeutet werden sowie der Montage-Technik, mit der diese Bezugnahme verwirklicht ist, daß praktisch alle zentralen >Stcllen< der Erzählung überdeterminiert sind« S. 128. Damit relativieren sie sich im Konkurrenzkampf als Träger ideologischer oder mythischer Symbolik gegenseitig. 130 Victor Lange, Thomas Mann: Tradition und Experiment. S. 75. Leider versäumt es Lange, den Aspekt der Modernisierung stärker zu begründen, zumal er selbst erläutert, wie Zeitblom als Erzähler die Montage nivelliert und bis zur Unkenntlichkeit überspricht. 104

net aber diesen modernen Erzähler? Das alleinige Festhalten am Erzähler bei allen umstürzlerischen Vernichtungsversuchen kann nicht genügen. Der Erzähler, der sich selbst etabliert, verschwindet allmählich hinter den ihn eben nicht stützenden Metakommentaren. Sein Erscheinen ist abhängig von der unhintergehbaren Gegenrede, die der ästhetische Diskurs des Romans gestaltet. Erst dann kann von dem parodistischen Verfahren der Mehrstimmigkeit, das auf Transparenz und dem Echoeffekt basiert, behauptet werden: Nicht etwa Desavouierung also, sondern im Gegenteil Bestätigung der Romantradition will Manns parodistischcs Verfahren erzielen, jenes Incinandcrreflckdcrcn von Stilhaltungen, die, aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gelöst, den Aussagehorizont erweitern, ihn relativieren, ihn bewußt in ein schiefes, aber umso erheilenderes Licht rücken.131

Erst auf der intratextuellen Ebene wird die Montage als Maske der bürgerlichen Absicherung des Erzählers entlarvt. Parodierten Die Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull das Genre der Autobiographie, so parodiert Zeitblom das Genre der Biographie. Analyse ist nicht seine Angelegenheit. Zeitblom fungiert als Katalysator.132 Die dämonisierenden Tendenzen des Romans werden so untergraben, indem durch den fortlaufenden selbstreflexiven Verweisungscharakter auf unterschiedlichen Ebenen Relationen gestiftet werden, die das Konstruktive hervorheben und keinen Zweifel an dem ganz und gar undämonischen Charakter des Romans lassen. Zeitbloms zeitweiliges Abgleiten ins Trivial-Banale - »Auch Sternchen sind eine Erquickung für Auge und Sinn des Lesers« (S. 237) — gehört ganz sicher einer anderen Kategorie an, als Leverkühns künstlerischer Mut zum Banalen - konterkariert aber dennoch den ethischen Impetus des Romans. Gleichermaßen wie die dämonische gehört die ethische Sphäre zu den konstruierten Elementen des Romans. Sie ist allein in den weitschweifigen Kommentaren Zeitbloms verankert, worauf er einmal zumindest selbst deutlich hinweist. »Dringend bitte ich übrigens den Leser, was ich da mit Gefühl gesagt habe, durchaus auf meine, des Schreibenden Rechnung zu setzen und nicht etwa zu

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»Montage bedeutet für Mann nicht eine Widerlegung der Ästhetik des schönen Scheins, sondern liefert ein besonders reizvolles Mittel der perspektivischen Inszenierungskunst.« S. 76. Ebd. S. 70. Vgl. dazu Manns Kommentar in >Die Entstehung des Doktor Faustusc »Das Dämonische durch ein exemplarisch undämonisches Mittel gehen zu lassen, eine humanistisch fromme und schlichte Seele mit seiner Darstellung zu beauftragen, war an sich eine komische Idee, entlastend gewissermaßen, denn es erlaubte mir, die Erregung durch alles Direkte, Persönliche, Bekenntnishafte, das der unheimlichen Konzeption zugrunde lag, ins Indirekte zu schieben und sie in der Verwirrung, dem Händezittern jener bangen Seele travestierend sich malen zu lassen.« S. 25.

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glauben, es sei in Leverkühns Sinne gesprochen. Ich bin ein altmodischer Mensch, stehengeblieben bei gewissen mir lieben romantischen Anschauungen, zu denen auch der pathetisierende Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit gehört.« (S. 38) Dämonie als Travestie ist das Resultat einer derartigen humanisierenden Durchheiterung des Romans, die nichts ausspart und eine symbolische Lesart nicht länger zuläßt. Der Doktor Faustus negiert als Kunstwerk durch Komposition und Erzählpraxis, was er als geschichtlich sinnfällige und allein noch legitim erscheinende Kunsttendenz beschreibt, und versucht statt dessen, mit komödiantenhaft-vitalistischen Figuren wie Saul Fitelberg, vor allem aber mit dem für den >schwebcnden< Erzählstil bestimmenden Humanisten Serenus Zeitblom das Heiterkeitspostulat der klassisch-idealistischen Kunstdoktrin gegen die niederdrückende Erfahrung geschichtlichen Unheils zu wahren.133

Das gelingt aber nur bedingt, denn in den Metakommentaren werden Themen und Motive mit Bedeutung aufgeladen und wieder relativiert, miteinander verschränkt und wieder karikiert. Die Konstruktion der Zeitebenen wird immer wieder sinnfällig. Im 21. Kapitel, in dem Zeitblom über das Kriegsgeschehen und die deutsche Mentalität räsoniert, hält er plötzlich inne, um die Beziehung zu seinem biographischen Unterfangen wiederzufinden: - so frage ich mich mit Recht, ob so krause Elemente eigentlich eine Kapitel-Einheit zu bilden imstande sind. [...] Fern sei es von mir, den Ernst der Kunst zu leugnen; aber wenn es ernst wird, verschmäht man die Kunst und ist ihrer nicht fähig. Ich kann nur wiederholen, daß Paragraphen und Sternchen in diesem Buche ein reines Zugeständnis an die Augen des Lesers sind [...]. (S. 237f.)

Genauso ungezwungen kommt Zeitblom auf die Zahlenmystik134 zu sprechen, für die bekanntlich Leverkühn eine gewisse Vorliebe hegt. Als Humanist glaubt er nur

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Helmuth Kiesel, Reklamation der Heiterkeit. S. 729. Kiesel vertritt die These, daß besonders in der auffällig komischen Namensgebung der Roman dem Heiterkeitspostulat der Weimarer Klassik verpflichtet sei. Leider äußert sich Kiesel nicht darüber, welche Folgen diese »Durchheiterung« für die dämonische Ebene des Romans nach sich zieht. Vgl. dagegen u. a.: Helmut Koopmann, Doktor Faustus als Widerlegung der Weimarer Klassik. In: Ders., Der schwierige Deutsche. S. 109-125. Vgl. Rosemarie Puschmann, Magisches Quadrat und Melancholie in Thomas Manns Doktor Faustus. »Adrians ungewöhnliche Wahl der schwarzen Tasten als Ausgangsbasis seiner Modulationsversuche entlarvt die Musik, wie er sie betreibt, als schwarze Magie.« S. 18. Puschmann sieht denn auch überall im Roman Magie am Werk, indem sie nachzuweisen versucht, daß alle Motive miteinander in Beziehung stehen. Die Vielzahl und Verschränkung der Motive, die immer nur selektiv miteinander verbunden werden können, damit der Überblick nicht verloren geht, erlaubt es natürlich, daß immer hinreichende Beziehungen zu knüpfen sind. 106

allzu gerne an die Zufälligkeit der Kapiteleinteilung, als Schriftsteller ist er sich dieser Konstruktionselemente durchaus bewußt. So wird die mystische Ebene als ein Konstruktionselement des Romans herbeizitiert, taugt aber nicht mehr zur Sinnstiftung, da sie gleichzeitig entmystifiziert wird. Der schriftstellernde Künstler wirft ein schräges Licht auf den wohlmeinenden Biographen. Im Spiel mit Montage und Demontage erprobt sich ein zeitgemäßes Erzählen, das der Maskierung bedarf, um überhaupt noch vom Dämonischen sprechen zu können.

2.2.3 Der Erzähler a/s Idee Der Erzähler als Bürge für den Inhalt des Erzählten - selbst in der spielerischen Gegenrede oder Anrufung des Lesers - wird im Doktor Faustus schrittweise dieser Aufgabe enthoben, die dann nur noch eine unter anderen ist. Die begleitenden Metakommentare bilden die Substruktur des Erzählten. Die Auflösung der Erzählerfunktion tritt in Manns CEuvre nicht als singuläres Phänomen auf. Schon in der frühen Novelle Tod in Venedig entdeckt Dorrit Cohn den »second author.«135 Der Erzähler stellt sich am Anfang der Novelle zwar als enger Freund Aschenbachs vor, doch macht sich im Fortgang der Erzählung ein eigentümliches Mißverhältnis bemerkbar. Umso persönlicher er am Schicksal Aschenbachs teilnimmt, umso deutlicher distanziert er sich ideologisch von seinem Protagonisten. Zudem weist Cohn dezidiert nach, daß der Erzähler immer häufiger Innensichten gibt, die seinem Bewußtseinsgrad gar nicht zustehen. Schließlich bezieht er gegen Aschenbach selbst direkt Stellung. »Is it not, within its context, plainly contradictory? Having just revealed the sources of Aschenbach's newly created piece, what is the sense of now declaring that these sources had better remain hidden.«136 Auf der anderen Seite sei der Erzähler mit ungewöhnlicher Blindheit geschlagen, gegenüber äußerlich wahrnehmbaren Zeichen, die ihn ständig zur Mißinterpretation verleite. »This wilful blindness is the natural counterpart to the moralistic, realistic and rationalistic world view he voices throughout. (...) The narrators silence, in short, speaks louder than his word; it perhaps undercuts his trustworthiness even more effectively than his normative excesses. For nowhere else does it become quite as evident that the author behind die work is communicating a message that escapes the narrator he placed within the work.«137 Warum aber kann dieser zweite Erzähler mit dem Autor Thomas Mann nicht identisch sein? Cohn trifft diese Unter-

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Dorrit Cohn, The second author of Der Tod in Venedig. In: Inta M. Ezergalis (Hrsg.), Critical essays on Thomas Mann. Boston 1988. S. 124-143. Ebd. S. 132. Ebd. S. 137.

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Scheidung, damit sie in ihrer intratextuell angelegten Interpretation die Erzählung als in sich geschlossenes ästhetisches Gebilde begreifen kann. Ansonsten müßten alle Brüche der Konzeption dem Autor Mann angelastet werden, wobei dann noch offen bliebe, ob diese willentlich oder unbewußt vollzogen wurden. Das aber würde vom Text zu sehr weglenken. Die Personalisierung des Erzählens als »second author« stimmt jedoch bedenklich, als gäbe es immer noch eine alles ordnende Hand, die den Subtext schriebe. Die ideellen Verselbständigungstendenzen des Textes, die sich auf kein Schema reduzieren lassen, sollten nicht als lauernde Gefahr gefürchtet werden. Die Ambiguität des Doktor Faustw versandet nicht in einem wie auch immer gefaßten »höchsten Erzählbewußtsein.«138 Das ist eine vollkommen überflüssige Hierarchisierung. Die Perspcktivik des Faustus-Romans ruht auf einer anonymen Kombinatorik. Gewiß gibt es im Roman jemanden, den Erzähler, der die Kombinationen herstellt, aber er tut dies nicht in der Helle eines Bewußtseins und der Höhe einer Distanz, die ihm die Elemente und ihr Vertcilungsgesetz verfugbar halten [...].l39

Der Erzähler Zeitblom erinnert somit an den unsichtbaren Erzähler früherer Mannscher Werke. Als Ich-Erzähler ist er noch ausdrücklicher Medium und Interpret der Geschichte, durch die er erst zum Erzähler wird. »Das Verhalten des Erzählers (der nicht der Autor ist) bestimmt die Seinsweise der erdichteten Welt. [...] Der Leser kann sich auf den Weg machen, sie zu erforschen; am Anfang dieses Weges entdeckt er immer den Erzähler und seine spezifische Perspektive.«140 Nicht vom archimedischen Standpunkt aus beginnt seine Rede, sondern von Anfang an ist er das Medium, durch das die Möglichkeit, überhaupt noch zu erzählen, thematisiert wird. Hierin erinnert die Funktion Zeitbloms an Hermann Brochs »Erzähler als Idee«, wie er sie in seinem Joyce-Essay141 erläutert: Was Joyce tut, ist wesentlich komplizierter. Immer schwingt bei ihm die Erkenntnis mit, daß man das Objekt nicht einfach in den Beobachtungskegel stellen und einfach beschreiben dürfe, sondern daß das Darstellungssubjekt, also »der Erzähler als Idee« und nicht minder die Sprache, mit der er das Darstellungsobjekt beschreibt, als Darstellungsmedien hineingehören.142

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Gunter Reiss, Allegorisierung und moderne Erzählkunst. S. 146. Ulrich Kinzel, Zweideutigkeit als System. S. 28. Bruno Hillebrand, Zur Struktur des Romans. In: Bruno Hillebrand (Hrsg.), Zur Struktur des Romans. Darmstadt 1978. S. If. Daraus folgt aber nicht unweigerlich, daß der Erzähler für die Sinnkonstitution im Roman bürgt. Vielmehr kann sich der Modus des Erzählens gerade gegen ihn wenden. Hermann Broch, James Joyce und die Gegenwart. In: Ders., Schriften zur Literatur, Bd. 1. Hrsg. v. Paul Michael Lützeler. Frankfurt 1975. S. 63-94. Ebd. S. 78.

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In Abgrenzung zum Naturalismus, der sich damit begnügte, »mit den Mitteln der Sprache zu beschreiben«,143 gehe es Joyce darum, die Spannung zwischen dem Erzähler und seinem Gegenstand aufzuheben. Die Entpersönlichung des Erzählers dient Broch allerdings dazu, eine »unio mystica« des Romans zu insinuieren. Mit den inneren Monologen Vergils1*4 versucht er diese zu gestalten. Im Doktor Faustus hingegen bleibt die Spannung zwischen Erzählsubjekt und seinem Gegenstand erhalten. Die Schwierigkeiten des Erzählens werden anhand der diversen Vermittlungsstrategien problematisiert. Zeitbloms Zweifel an den Fähigkeiten zur künstlerischen Gestaltung entsprechen - und dies wird noch zu zeigen sein - Leverkühns Zweifel an der Möglichkeit von Kunst überhaupt. Allerdings gehen sie von zwei unterschiedlichen Voraussetzungen aus. Während Zeitblom zweifelsohne an die Kunst glaubt und skeptisch seine persönliche Kompetenz in Frage stellt, verzweifelt Leverkühn an der Situation der modernen Kunst generell. Die reflexiven Einschübe beider dienen nicht der psychischen Konstituierung. Sie beziehen sich auf die schöpferische Kraft der Kunst und richten sich somit immer auch auf den Roman selbst. Die Verknappung des Diskurses durch das Subjekt wird im Faustus-Roman aufgebrochen, das Sprechen wird durch die Ordnung der Motivassoziationen vervielfältigt. [...] Die Präsenz des Erzählers sichert nicht mehr die Verfügung über die Wörter und die Sachen.1«

In seiner Studie über Die Struktur dei modernen deutschen Romans sieht Ulf Eisele146 dessen Modernität gerade durch ein ähnliches Phänomen, daß das Erzählen selbst zum Gegenstand der Erzählung wird, gekennzeichnet. In dieser Entwicklung, weg vom »Schreiben von Abenteuern« hin zum »Abenteuer der Schreibweise«147 gründe die moderne Sprachkrise in der Ablösung vom Realismus. Kein Text besitzt Wirklichkeit (es sei denn seine eigene), er imitiert sie höchstens. Nicht eigendich Realität geht hier verloren, vielmehr beginnt deren Illusion sich allmählich aufzulösen und den Diskurs wieder in seine Rechte einzusetzen. [...] Nicht daß der persönliche oder allwissende Erzähler abgescharrt würde, ist das hervorstechende Merkmal der Moderne - das besorgt schon weitgehend der Realismus - sondern das Faktum, daß das zuvor so sorgsam verpackte Diskursive (wieder) hervortritt.14*

U3

Ebd. S. 78. < Hermann Broch, Der Tod des Vergil. Frankfurt a. M. 1980. H5 Ulrich Kinzel, Zweideutigkeit als System. S. 28. 146 Ulf Eisele, Die Struktur des modernen deutschen Romans. Tübingen 1984. M

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Ebd. S. 1.

"' Ebd. S. 11 f. Eisele betont hier die Potendalität der Romankrise, wenn es darum geht, den verschütteten Diskurs wieder aufzudecken. 109

Dies geschieht zum einen in der Auflösung der Erzählfunktion, dem Hervortreten von Vermittlungsstrukturen und zum anderen in der auffälligen Zunahme autoreferentieller Strukturen. So ist der Roman vor allen Dingen ein Diskurs über den Roman, wie es ja auch in der parodistischen Schreibweise sichtbar wird. Das Erzählen beschreibt ein Wechselspiel der Selbstversicherung und Selbstaufhebung und thematisiert sich in der Reflexion über das Erzählen selbst. Dieses erkenntnistheoretische Streben orientiere sich, laut Eisele, an den Diskursen des Wahren und Poetischen, womit er den Zweifel an der Abbildbarkeit der Realität allein theoretisch umschreibt. Die Potentialität der Romankrise bleibt dabei großenteils unbeachtet, da Eisele sich in seinen Analysen weitgehend an den theoretischen Aussagen der Autoren endanghangelt. Den Realitätsbegriff an sich stellt er nicht in Frage. Er hält an der Trennung zwischen Fiktion und Realität - nicht nur begrifflich - fest. Dabei sind gerade jene, die Erzählfunktion auflösenden Tendenzen im modernen Roman Zeichen für die Auflösung normativer Werte. Realität und Fiktion verlieren ihre Trennschärfe, - was z.B. Jorge Luis Borges in seinen Erzählungen exemplifiziert. Sicherlich erhält Kunst hier eine ganz andere Funktion, als sie ihr gemeinhin von den Apologeten des Authentischen und Wahren zuerkannt wird. Im Spiel mit Fiktion und Realität, Dokument und Zitat gibt der Roman Auskunft über seinen Kunstcharakter und stellt von hier aus die Realität in Frage besser zeigt deren Komplexität auf. Damit wird keiner Potenzierung der Poetologie wie in der Romantik das Wort geredet, sondern das Artifizielle in den Vordergrund gerückt. Bleibt zu fragen, wieso den Quellen und eben auch den literarischen Quellen mehr Realität zuzusprechen sei als dem Roman selbst, der selbst wieder zur Quelle von Die Entstehung des Doktor Faustus. Roman eines Romans wird. Auch Annegret Maack14' weist in ihrer Arbeit zum »experimentellen englischen Roman der Gegenwart« den Vorwurf zurück, die »intellektuellen Tricks«, mit denen im modernen Roman gearbeitet würde, um dessen Gemachtsein aufzuzeigen, wären die gleichen, die schon viel früher Autoren wie Sterne und Wieland benutzt hätten. Auf das artifizielle Jonglieren der frühen nichtrealistischen literarischen Tradition beziehen sich die modernen Autoren zwar ausdrücklich, aber im Gegensatz zu diesen Romanen des 18. Jahrhunderts zeigen sie, daß ein übergeordneter Wertehorizont nicht mehr existiert. Zugleich üben sie Kritik an der realistischen Romantradition, indem sie gerade im Verstoß gegen die Konventionen diese noch einmal bewußt machen.

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Annegret Maack, Der experimentelle englische Roman der Gegenwart. Darmstadt 1984. 110

Mit dem Bloßlegen der Konventionen wird gleichzeitig deutlich, daß die Darstellungsmittel des Genres nicht mehr ausreichen, um die neue Realität zu erfassen.150

Natürlich bestehen große Unterschiede zwischen den einzelnen Verfahren, Fiktionalität zu durchbrechen. Doch dem Künstlerroman wird dabei besondere Aufmerksamkeit geschenkt. »Der Roman imitiert nicht eine Wirklichkeit mit ihren Gesetzen und Ordnungen, er schafft selber Ordnungen und weist auf diesen Schaffensprozeß hin. [...] Das eigentlich Dargestellte und die Probleme beim Darstellungsvorgang gehen ineinander über.«151 Der Schriftsteller thematisiert das Problem der Verwandlung von Wirklichkeit in Kunst und betont den Kunstcharakter des literarischen Werkes. In dieser Beziehung erscheint Doktor Faustus ungleich traditioneller. Der Erzähler bleibt als Romanfigur erhalten, der die Problematik der modernen Kunst erst vermittelt. Der Künstler rückt aus dem Zentrum des Romans und bedarf zu seiner Gestaltwerdung immer erst des Erzählers. Die in der Fiktionalität bewahrte realistische Oberfläche wird erst im subtilen Netz von Rede und Gegenrede durchbrochen. So erhält sich in der parodistischen Schreibweise die Lesbarkeit des Romans. Auch wenn der Erzähler fragwürdig geworden ist, scheint er sich zunächst nur in eine höhere Instanz verflüchtigt zu haben, wie es Reinhard Klesczewski in einer Antwort auf Wolfgang Kayser resümiert: »Wer aber ist denn nun der Erzähler des Romans, ob er sich die Maske eines persönlichen Erzählers vorhält oder ein Schemen bleibt? Die Analogie zum Erzähler des täglichen Lebens mußten wir zerstören. [...] Hinter der Maske steht der Roman, der sich selber erzählt, steht der Geist dieses Romans, der allwissende, überall gegenwärtige und schaffende Geist dieser Welt.«152 Die Anrufung des Weltengeistes gerät zu einer versöhnlich stimmenden Hilfskonstruktion. Gleiches gilt für das Verfahren der Montage: »Thomas Manns Montage-Technik kennt nicht die Verfremdungspraktiken Döblins, geschweige denn von Joyce oder Dos Passos, bei denen Montage als solche und damit die Fiktionalität ihrer Texte gekennzeichnet ist. Die Distanz zu diesen genuin modernistischen Praktiken entspricht ziemlich genau Thomas Manns persönlicher Aversion gegen die Zwölftontechnik seines Helden.«153 Die Auflösung der Erzählfunktion aus einer scheinbar omnipräsenten Perspektive, wird in Thomas Manns Erzählung Der Erwählte noch einmal potenziert, in-

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Ebd. S. 14. Ebd. S. 45. Reinhard Klesczewski, Erzähler und Geist der Erzählung. Diskussion einer Theorie Wolfgang Kaysers und Bemerkungen zu Formen der Ironie bei Th. Mann. In: Orbis Litterarum. 29 (1974) S. 125-132. S. 127. Hans Rudolf Vagct, Thomas Mann und James Joyce. S. 128. 111

dem sich der »Geist der Erzählung« materialisiert. Erst im Akt des Sprechens konstituiert sich die Figur des Erzählers, die aber so einer Authentizität verbürgenden Funktion enthoben wird. So geistig ist dieser Geist und so abstrakt, daß grammatisch nur in der dritten Person die Rede sein und es lediglich heißen kann: »Er ist's.« Und doch kann er sich auch zusammenziehen zur Person, nämlich zur ersten, und sich verkörpern in jemandem, der in dieser spricht und spricht: Ich bin es. Ich bin der Geist der Erzählung, der, sitzend an seinem derzeitigen Ort [...] zur Unterhaltung und außerordentlichen Erbauung diese Geschichte erzählt. [...] — ein Körper demnach nicht in dem Grade, daß mein früheres Wort, es »verkörpere« sich etwas in mir, nämlich der Geist der Erzählung, ganz billigenswert gewesen wäre.154

Gleichermaßen konstituiert sich in diesem Sprechen erst der gesamte Roman. Helmut Koopmann, der Doktor Faustus vor allen Dingen als Werk der Montage zur Gewinnung höherer Realität liest, sieht in Der Erwählte zwar das gleiche Verfahren am Werk, doch erkennt er diesem nun eine völlig »andere Funktion zu als die, Wirklichkeit, Beglaubigung, Dokumentarisches zu schaffen. [...] Montage ist hier zu einem Prinzip geworden, ein Sprachwerk zu schaffen, das nur in sich selbst und aus sich selbst heraus existieren kann.«155 Die Montage selbst wird in der Erzählung nicht mehr thematisiert, wie es noch im Doktor Faustus der Fall ist. Der anachronistische Inhalt des Erzählten und die Maskeraden des Erzählers schaffen genügend Spielraum, so daß in einem theoretischen Diskurs über das Gemachtsein der Kunst auf diesen Umstand nicht extra hingewiesen werden müßte. Beschreibung ist an die Stelle von Abbildung getreten. Die dargestellte Welt wird zum Gegenstand des Bewußtseins, da der geistesgeschichtliche Giaubenskontext nicht mehr verbürgt werden kann. Als Legende kann die Erzählung nur innerhalb des Rahmens des Glaubenszusammenhangs angemessen verstanden werden, aus dem heraus sie entstanden ist und den zu stabilisieren sie mithilft. Weil das Wunderbare nur noch perspektivisch thematisiert werden kann, betont Mann den Erzählcharakter. In der Erzählung wird nun das Spiel in der Tat nicht ernst genommen: »die Kunstarbeit wird nicht wie im realistischen Roman verborgen, sondern parodistisch ans Licht gestellt.«156 Da aber die Erzählerfigur von Anfang an mit seinen Erscheinungsweisen spielt und als Geist ganz im Erzählten aufgeht, schafft Mann eine Fiktionalität zweiten Grades, die nicht mehr der dargestellten Welt entspricht, sondern allein der Ebene des darstellenden Mediums. »Indem Thomas Mann durch die doppelte

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Thomas Mann, Der Erwählte. Frankfurt a. M. 1990. S. 8ff. Helmut Koopmann, Der Erwählte. In: Thomas-Mann-Handbuch. S. 512. Thomas Mann, Freud und die Zukunft. In: Das essayistische Werk. Schriften und Reden zur Literatur und Kunst und Philosophie. Bd. 2. S. 213-231. S. 229. 112

Ebene dem prekären Widerstreit zwischen Leben und Geist erzähltechnisch Gestalt verleiht, hat er zugleich auch ein Mittel gefunden, die Überwindung dieses Widerspruchs zum Ausdruck zu bringen. [...] In Anwesenheit des Erzählaktes können alle Mittel der Wortkunst und der Parodie ohne pietätvolle Rücksicht auf den ursprünglichen Stoff eingesetzt werden. Die Versprachlichung drängt sich als eigentliches Thema in den Vordergrund.«157 Die verschiedenen Sprachstile, die in Der Erwählte auftreten, fungieren als Masken, hinter denen sich der »Geist der Erzählung« verbirgt. Weder werden die unterschiedlichen Sprachstile in Anbetracht ihres historischen Charakters parodiert, noch verbürgen sie sich für historische Realität. Vielmehr entpuppt sich im parodistischen Gestus ein spielerischer Umgang mit den Versatzstücken der Tradition der Legende, »ein Geistspiel«, das keiner äußeren Legitimation mehr bedarf, sondern die Potentialität des poetischen Spiels vorführt.158 Denn so verhält es sich, daß der Geist der Erzählung ein bis zur Abstraktion ungebundener Geist ist, dessen Mittel die Sprache an sich und als solche, die Sprache selbst ist, welche sich als absolut setzt und nicht viel nach Idiomen und sprachlichen Landcsgöttern fragt."9

Die einzelnen Diskurse, die im Doktor Faustus deutlicher unverbunden nebeneinanderstehen - auch wenn die Montage an sich verschliffen wird - folgen in völliger Unmittelbarkeit aufeinander. Sie stehen nicht länger für sich, und nicht im Dienst einer erzählerischen Funktion. Sie gehören zum Spiel. »[...] der Erzähler deckt dieses sich selbst verstellende Leben auf und macht das Maskenspiel des Lebens als Maskenspiel bewußt.«160 Nur noch selten wird der Fluß der Erzählung vom Kom-

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Hans Rudolf Picard, Der Geist der Erzählung: Dargestelltes Erzählen in literarischer Tradition. Bern, Frankfurt a. M., New York 1987. S. 130. Vgl. auch Ulrich Dittmann, Sprachbewußtsein und Redeformen im Werk Thomas Manns. »Der übergeordnete Erzähler [...] begrenzt den »Geist der ErzählungPicrre Menard, Autor des Quijotc< (In: Borges, Jorge Luis, Gesammelte Werke. Erzählungen Bd 1. München (1981) S. 112-123.) noch einen Schritt weiter. Menard nämlich erfindet nicht nur eine Maske, hinter der er die Geschichte des Don Quijotc parodistisch wiedererzählt, sondern er schreibt Cervantes Roman wortwörtlich neu. Die Kapitel, die ihm gelingen, erheben einen ganz anderen Anspruch als das Original, da sie als Produkt der Moderne aufgefaßt werden müssen. »Menard hat (vielleicht ohne es zu wollen) vermittels einer neuen Technik die abgestandene und rudimentäre Kunst des Lesens bereichert, nämlich durch die Technik des vorsätzlichen Anachronismus und der irrtümlichen Zuschreibungen.« S. 123. Thomas Mann, Der Erwählte. S. 12. Paul Böckmann, Der Widerstreit von Geist und Leben und seine Vermittlung in den Romanen Thomas Manns. In: Ironie und Dichtung. S. 143-173. S.145. Vgl. auch:

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mentar des Erzählers unterbrochen - und dann auch weniger erläuternd als im Sinne einer humoristischen Perspektivierung - während dies im Doktor Faustus ganz wesendich strukturbildend ist. Die Brüche, die aus der Selbstreflexivität des Textes resultieren, werden dort eben nur oberflächlich geglättet. Allwissenheit kennzeichnet im Doktor Faustus nicht die Idee des Erzählers. Die Verselbständigung der Sprache, aufgehoben in den zahlreichen Metakommentaren, entlarvt das sich selbst reflektierende Sprechen als Provisorium. Der »Erzähler als Idee« negiert konsequent jede als sicher erachtete Position. Doch in der parodistischen Schreibweise scheint der Erzähler in all seinen Maskeraden noch einmal auf.

2.2.4 Über eine Theorie der Parodie: Der Brief ab Widerlegung desflir Objektivität bürgenden Dokumentarischen Die Auflösung der Erzählfunktion durch die Gegenrede des Metakommentars wird besonders anschaulich in den Kapiteln, die von Leverkühns Bordellerlebnis handeln. Zunächst erstaunt, daß die Erzählung hierüber in zwei unverhältnismäßig kurze Kapitel zerfällt, ohne daß Zeitblom sich dazu kommentierend äußert, obgleich ihm doch gemeinhin der inhaltliche Zusammenhalt so sehr am Herzen liegt. Immer wieder stößt man auf diese offensichtlich konstruierte »Zahlenmystik«, die nicht inhaltlich motiviert ist. Zudem greift Zeitblom nun ganz deutlich mit seiner eigenen »Analyse« in den Erzählvorgang ein. Das Dokumentarische des Briefes wird kurzerhand seiner Objektivität beraubt, für die es gerade einstehen sollte. Die Negation des Dokumentarischen beginnt mit der Abschrift. Zeitblom gesteht, allerdings erst nachdem er ein eigenes Kapitel für sie geschaffen hat, daß es unlauter gewesen sei, sie auf diese Weise der Biographie einzuverleiben: »Der kategorialen Weisung, diesen Brief zu vernichten bin ich nicht gefolgt [...]«; (S. 194) und dies allein aus interpretatorischen Gründen: Ich lernte, es als ein Dokument zu betrachten, von dem der Vernichtungsbefehl ein Bestandteil war, so daß er eben durch seinen dokumentarischen Charakter sozusagen sich selbst aufhob. (S. 195)

Durch diese paradoxe Lesart nimmt Zeitblom dem Brief seinen imperativen, persönlichen Inhalt, obgleich dieser doch gerade für die Subjektivität der Aussage ste-

Otto Fiene, Das humoristisch-ironische Spiel des Erzählers bei Wielannd und Thomas Mann. Aachen 1974. »Wenn er [der Erzähler Anm. d. Verf.] in der Lage ist, sich sogar in eine Mehrzahl von erzählenden Medien zu verwandeln, metaphorisch gesprochen, in verschiedenen Masken aufzutreten, so wird dieses Verhältnis doch nicht erschöpfend dadurch charakterisiert, daß das Erzählen und das Erzählte die untrennbare Einheit der Totalität des Erzählens sei.« S. 14.

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hen sollte, hinter die sich der Biograph zurückziehen wollte. Mit dem Akt des Abschreibern beginnt die Zerstörung des Authentizität verbürgenden Bekenntnischarakters des Briefes. »Aber Zeitblom liest den Brief auch, zunächst pysiognomisch, indem er abschreibend den Konturen der Schrift nachfährt, und, indem er in einer nicht-hermetischen Arbeit die formale Struktur des Briefes, die Regeln, nach denen er konstruiert ist, rekonstruiert.«1" Mittels indirekter Hinweise sichert sich Zeitblom schon am Anfang des Brief-Kapitels ab. Er stellt die Objektivität des Dokumentarischen generell in Frage. Zeitblom verweist auf Leverkühns häufigen spöttischen Gebrauch des Zitats. Dieses erhält im Brief selbst eine exponierte Stellung, als Stilisierung und als parodistisch verstellende Nachahmung des »pittoreskaltertümlichen Sprachstils« (S. 130) von Ehrenfried Kumpf. Das Zitat ist Ausdruck einer genuinen Selbststilisierung und hat nichts mit bloßer Imitation gemein. Es ist sozusagen »zugleich [...] Kundgebung eigener innerer Form und Neigung, die auf eine höchst kennzeichnende Weise das Parodische verwendet, sich dahinter verbirgt und erfüllt.« (S. 187f.) AJs Dokument hebt Zeitblom den Brief auf eine vom subjektiven Bekenntnischarakter abstrahierende gemeingültige Ebene, die er im Akt des Abschreibens noch einmal potenziert. Das Zitat ist nicht länger Bruchstück der unmittelbaren literarischen Wirklichkeit, die das Werk konstituiert. Es wird zum intertextuellen Material, das vermittelt wird. Weil Zeitblom den »Vernichtungsbefehl« mißachtet und dem Brief seine eigene Schrift aufzwingt, entreißt er ihn seinem Freund, auch wenn er glaubt ihm dadurch näher zu kommen. Die Authentizität, die Auskunft geben soll über das Dämonische, wird ad absurdum geführt. Noch das Vergnügen am Erzählen und an der Literatur erscheint, wie zitiert und ist selber Zitat, die Authentizität und Unmittelbarkeit werden Zitat der Authentizität und Unmittelbarkeit. So ist dieses Erzählen, das ein Ziüeren ist, eher Sehnsucht nach dem Erzählen — und nach dem, was ihm zugrundeliegt: der Erfahrung — als wirkliche Rückkehr zum »Roman-Roman.«"2

Die intertextuellen Bezüge, die der Roman durch das Prinzip der Montage stiftet, werden als Verfahren auf der intratextuellen Ebene des Romans selber vorgeführt. Die Konstruktion arbeitet der Bedeutung der Zitate entgegen. Das reicht bis in den Brief hinein. Schon dort ist das Kernstück, der eigentliche Anlaß des Briefes, das

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Ulrich Kinzel, Zweideutigkeit als System. S. 99. Leonardo Lattarulo, Zwischen Mystizismus und Logik. In: Burkhart Kroeber (Hrsg.), Zeichen in Umberto Ecos Roman Der Name der Rose. München 1987. S. 70. Soweit mir bekannt ist, liegt noch keine vergleichende Untersuchung über das Prinzip der Montage bei Eco und Mann vor. Interessant wäre in diesem Zusammenhang zu fragen, welche Funktion das Zitat in den Werken beider Autoren erhält. 115

Esmeralda-Erlebnis, geschickt verschachtelt hinter einer langatmigen, das Anekdotische hervorhebenden Berichterstattung über die Ankunft in und die Atmosphäre von Leipzig, der Beschreibung des Dienstmannes - mit der Assoziation an Satan und Schleppfuß - und dem kurzen Bericht über die eigenen musikalischen Fortschritte. Diese Seite des Rahmens ist zudem in die Sprache des Lutherdeutschen eingekleidet, der Sprache von Schleppfuß und Kumpf, sodaß sie als Maske nicht allein als historischer Fundus auftaucht, sondern sich auf zwei übertrieben einseitig skizzierte Figuren des Romans selbst bezieht. Erst mittels dieser mehrfachen Distanzierung und einer mittelalterliche Archaik evozierenden Atmosphäre kann das eigentliche Erlebnis zur Sprache kommen. »Mich sehen sie [Esmeraldas Augen Anm. d. Verf.] an, nicht dich. Hat mich der Kerl, der Gose-Schleppfuß in eine Schlupfbude geführt! Ich stand und verbarg meine Affecten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund [...]. Da hast du den Fetzen, so mir begegnete, nach der lenge erzählt, zum Entgelt für den brüllenden Rottenführer, den du artem metrificandi lehrst. Amen hiermit und betet für mich!« (S. 192f.) Der dem Mittelalter enlehnte Sprachduktus, seine düstere Stimmung und der an Aberglauben gemahnende Tonfall beherrschen die Erzählung und stilisieren die Begegnung mit Esmerlada zum Sündenfall. Im ketzerischen Gewand wird das Unaussprechliche affirmiert. Der Rahmen des Briefes diktiert seine Sinnfälligkeit. Nur so wird auch das Mißverhältnis von Intellekt und Gefühl in der Figur Leverkühns einigermaßen plausibel, aber nur »sofern hier die Imitatio nur noch als Parodie und Travestie der abgelebten Formen begegnet und die Ungebundenheit des wachen Bewußtseins sich über die »kultisch gebundenen Ursprünge< erhebt.«163 Leverkühn benutzt die Parodie nicht zum Zwecke der Entlarvung, indem er Vorgängiges wiedererkennbar macht, jedoch nur noch entstellt zitiert. Vielmehr bezieht er sich im Akt des selbstreflexiven Parodierens gerade auf die Überlieferung, um diese verstellt im Ausdruck des Nicht-Authentischen zu präsentieren. Hinter diesem verbirgt sich das Authentische, das ohne diese Maskerade zum Klischee oder falschem Pathos verkommen würde. Das Material, das in den Doktor Faustus Eingang gefunden hat, dient gerade diesem verstellenden, nur noch selbstparodistischen Verharren. Die altertümliche Ausdrucksweise Leverkühns ist dann »Persönlichkeitsausdruck und Selbststilisierung, Kundgebung eigener innerer From und Neigung, die auf eine höchst kennzeichnende Weise das Parodische verwendet, sich dahinter verbirgt und erfüllt.« (S. 187f.) Zeitblom kommentiert hier das verfremdende Verfahren seines Freundes, Gefühle zu artikulieren, deren individu-

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Paul Böckmann, Der Widerstreit von Geist und Leben und seine ironische Vermittlung in den Romanen Thomas Manns. S. 169.

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eller Gehalt hinter ihren formelhaften Ausdruck zurückfällt. Leverkühn muß das Pathos des »reinen Seelenausdrucks« läutern, um nicht dem Banalen anheimzufallen. Bachtin spricht in diesem Sinne auch vom »doppelbödigen Pathos«, das seine einstige Intentionalität nur noch zitieren kann. Die Pathetik des Romans restauriert in ihm irgendeine andere Gattung, deren direkte und reine Gestalt bereits brüchig geworden ist. Das pathetische Wort im Roman ist fast immer das Surrogat jener Gattung, die der Zeit und der sozialen Kraft nicht mehr offensteht: [...] Das pathetische Wort und seine Bildlichkeit sind im entfernten Bild geboren und geprägt worden und hängen mit der werthierarchischen Kategorie der Vergangenheit zusammen. Die vertrauliche Zone des Kontakts mit der unvollendeten Gegenwart hat für diese Pathosformcn keinen Platz.164

Die Funktion der sprachlichen Masken, die gleichzeitig die Bewegung des uneigentlichen Sprechens versinnbildlichen, enthüllt Zeitblom, indem er den Brief interpretiert, den er dann allerdings gründlich gegen den Strich liest. In seiner >Analyse< führt Zeitblom vor, wie der Brief, als bewußte Konstruktion unterschwelliger Metakommentare zu entschlüsseln sei. Dessen ungeachtet weiß er ganz genau, wie er den Brief lesen und verstehen will. Zeitblom will den menschlichen Kern enthüllen. Das ist sein einziges Erkenntnisinteresse. Hinter der parodistischen Adaptation des Lutherdeutsch, und dies erkennt Zeitblom ausnahmsweise einmal richtig, verbirgt sich die Angst vor dem pathetischen Ausdruck. »Auf die Anekdote, um ein sehr sachliches Wort zu gebrauchen, steuert alles zu; sie steht im Hintergrund von Anfang an, meldet sich in den ersten Zeilen und wird verschoben.« (S. 195) So kommentiert Zeitblom den Brief nicht im eigentlichen Sinne, - obgleich er als Biograph daran keinen Zweifel läßt - sondern er führt vor, wie der Brief parodistisch zu lesen sei. Die Sekundärstrukturierung des Romans bleibt kein Geheimcode. Sie wird im Roman immer wieder sinnfällig und durch den Erzähler selbst entdeckt. Er zitiert und antizipiert seinen eigenen Charakter als Kunstwerk. Nichts anderes, das wurde ja schon herausgearbeitet, bietet das erste Kapitel. Zeitblom kommentiert das Erzählverfahren des Romans, ohne sich dessen bewußt zu sein. Gleich zu Anfang wird sein Anspruch, Herr seines Erzählens zu sein, als Fehlleistung entdeckt. Zeitblom übersieht, indem er die musiktheoretischen Einschübe des Briefschreibers als »Zutat, Einhüllung, Vorwand, Aufschub« (S. 195) klassifiziert, deren selbstkommentierende Absicht. Ihm liegt allein das persönliche Erlebnis am Herzen, das es hier zu entziffern gälte und zu dessen Gunsten alles andere nur Teil einer einzigen

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Michail M. Bachtin, Das Wort im Roman. In: Die Ästhetik des Wortes. S. 275f. 117

Maskerade sei; »denn ich glaube nicht, daß wirklich die Absicht bestand, ich, der Leser, möchte über das Kernstück des Briefes hinweglesen.« (S. 196)165 Zeitblom will sich durch die Maske nicht ablenken lassen. So verkennt er ihre Funktion als selbstreferentielle Stilisierung. Er nimmt an, sie diente tatsächlich allein zur Verhüllung und sei nicht selbst schon das Instrumentarium, um auf die genuine Aussage hinzuweisen. Die Maske demaskiert sich selbst. Denn als Persiflage zur schamhaften Verhüllung taugt sie nicht. Zudem liefern die restlichen Briefteile tatsächlich einen Kommentar zur »Anekdote«. Über Beethoven schreibt Leverkühn: Hast du je darüber nachgedacht, wie anders, wieviel leidend-bedeutender die Individualisierung der Summe in seinen höchsten Werken sich ausnimmt als in der älteren Musik, wo sie gekonnter isti (S. 193)

Selbst versagt sich Leverkühn die Individualisierung seiner Stimme und maskiert sie zunächst gekonnt, um sie im nächsten Atemzug gleich wieder zu demaskieren, indem er die Rede über das individuelle Leiden in einen Metakommentar verlegt. Die Gleichzeitigkeit des Ausdrucks bleibt ihm versagt. Denn nicht das Unverfälschte findet mehr zur Sprache, sondern das »Vexatorische, Vorenthaltende, Verleugnende, Schwebende, die Verspottung des Vorzeichens. Es geht weit, belustigend und ergreifend weit [...],« (S. 194) wie Leverkühn es in der Musik Chopins verwirklicht sieht. Die musiktheoretischen Betrachtungen sind also alles andere als bloßes Beiwerk, von dem es den Kern zu befreien gälte. Die Doppelbödigkeit der Metakommentierung wird allzu offenbar. Zeitblom »verliest« sich nicht im eigentlichen Sinne, sondern entnimmt dem Metakommentar diejenigen Momente, die seiner Interpretation dienlich sind. Er erkennt zwar alle Signale des Metakommentars, ihn selbst versteht er aber nicht. So kann er aus der Anspielung auf die Freundschaft zwischen Delacroix und Chopin die Legitimation herauslesen, den »Vernichtungsbefehl« des Briefes im Sinne eines Freundschaftdienstes zu ignorieren. In the hermeneutical configuration of DoktorFaustus, Zeitblom holds a place from which reality and its provisional borderlines are marked out. His voice is that of tradition, and it is he who eloquently reaffirms and reinforces the generally acknowledged versions of

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Vgl. Dittmanns Auffassung von der Sprache Thomas Manns, die im Spätwerk zum Menschlichen tendiere und so eine neue Unmittelbarkeit erlange. »Der Wandel in der Sprachauffassung des Autors mündet also in die Bejahung eines unmittelbaren Redens, das trotz der Zeitungemäßheit einzelner Formulierungen als Affirmation des Menschlichen gilt;« S. 186. Dittmann kann zu dieser Schlußfolgerung nur kommen, weil er sich Zeitbloms Interpretation aneignet und natürlich immer wieder auf die Reinterpretation Manns in der Entstehung zurückgreift. Eine Interpretation, der u.a. auch Wolf-Dietrich Förster folgt. Vgl. dort S. 708ff. 118

the Good, the True and the Beautiful. His point of view is that of the bourgeois humanist and enlightened liberal.166

Zeitblom ist derjenige, der Leverkühns Biographie immer wieder in eine quasireligiöse Sphäre rückt, die er als Humanist achtet und die er vor dem Dämonischen schützen will - ohne jedoch beide Bereiche strikt zu unterscheiden. Dementsprechend ernst reagiert er auf Leverkühns Aufforderung: »Wie hätte ohne das Spiel mit ihm [dem Reformationsdeutsch Anm. d. Verf.] das Wort hingeschrieben werden können, das doch hingeschrieben sein wollte: »Betet für mich!