Die Entstehung von Thomas Manns Roman "Doktor Faustus": Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten 9783111678849, 9783484180345


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German Pages 277 [280] Year 1975

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Table of contents :
Einleitung
I. Vorgeschichte und Beschreibung des Notizenkonvoluts
II. Die Ausbildung der Grundkonzeption
III. Die Konstituierung der Schauplätze
1. Allgemeines
2. Kaisersaschern
3. Buchel
4. Pfeiffering
5. Halle
6. Leipzig
IV. Die Konstituierung der Romanfiguren
1. Allgemeines
2. Die Lebensläufe der Hauptfiguren als Handlungsgerüst
3. Die Nebenfiguren
4. Die Liebesgeschichte
5. Echo
V. Die Konstituierung der verschiedenen Zeitebenen
1. Allgemeines
2. Die Reformationszeit
3. Die eigentliche Handlungszeit
4. Zeitbloms Schreibzeit
VI. Das Teufelsgespräch
VII. »Apocalipsis cum figuris« und »Dr. Fausti Weheklag«
VIII. Zusammenladen der Freunde und letzte Ansprache
IX. Einteilung des Romans in Bücher. Motto
Schluß
1. Die drei Arbeitsstadien
2. Skala der benutzten Quellen
3. Die Art der Materialauswahl
4. Vita und Mythos
5. Das Notizenkonvolut und »Die Entstehung des Doktor Faustus«: Vergleich der Ergebnisse dieser Untersuchung mit Thomas Manns eigenem Bericht
Anmerkungen
Bibliographie
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Die Entstehung von Thomas Manns Roman "Doktor Faustus": Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten
 9783111678849, 9783484180345

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STUDIEN ZUR DEUTSCHEN LITERATUR

Herausgegeben von Richard Brinkmann, Friedrich Sengle und Klaus Ziegler

Band 39

LIESELOTTE VOSS

Die Entstehung von Thomas Manns Roman »Doktor Faustus« Dargestellt anhand von unveröffentlichten Vorarbeiten

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975

ISBN 3—484-18034—Χ © Max Niemeyer Verlag Tübingen 1975 Alle Redite vorbehalten. Printed in Germany Herstellung: Büdierdrudt Wenzlaff, Kempten Einband von Heinr. Koch Tübingen

INHALT

Einleitung I. Vorgeschichte und Beschreibung des Notizenkonvoluts

ι . . .

II. Die Ausbildung der Grundkonzeption

15

III. Die Konstituierung der Schauplätze 1. 2. 3. 4. j. 6.

43

Allgemeines Kaisersaschern Büchel PfeifFering Halle Leipzig

43 47 JJ $8 60 69

I V . Die Konstituierung der Romanfiguren 1. Allgemeines 2. Die Lebensläufe der Hauptfiguren als Handlungsgerüst a) Leverkühn b) Zeitblom 3. Die Nebenfiguren 4. Die Liebesgeschichte a) Allgemeines b) Institoris und Ines c) Ines und Rudi d) Adrian und Rudi e) Marie 5. Echo V . Die Konstituierung der verschiedenen Zeitebenen 1. Allgemeines 2. Die Reformationszeit 3. Die eigentliche Handlungszeit a) Der Erste Weltkrieg. Faschistische Tendenzen b) Die Republik der zwanziger Jahre c) Zusammenfassende Zeittafel 4. Zeitbloms Schreibzeit V I . Das Teufelsgespräch

6

74 . . . .

74 79 79 84 87 92 92 92 9J 102 108 120 128 128 131 iji 151 159 164 166 177

V

V I I . »Apocalipsis cum figuris« und »Dr. Fausti Weheklag« . . . . V I I I . Zusammenladen der Freunde und letzte Anspradie I X . Einteilung des Romans in Bücher. Motto Sdiluß

184 203 214 219

1. Die drei Arbeitsstadien 2. Skala der benutzten Quellen a) Lexikonartikel b) Sachbüdier c) Persönliche Ratgeber d) Kuriosa e) Briefe, Memoiren, Biographien f) Poetische Werke 3. Die Art der Materialauswahl 4. Vita und Mythos 5. Das Notizenkonvolut und »Die Entstehung des Doktor Faustus«: Vergleich der Ergebnisse dieser Untersuchung mit Thomas Manns eigenem Bericht

219 224 224 22 5 22 j 226 226 228 228 232

241

Anmerkungen

248

Bibliographie

259

VI

EINLEITUNG

Drei Jahre und acht Monate hat Thomas Mann am »Doktor Faustus« geschrieben." Anfang Februar 1947 war der Roman beendet. Ende April trat Thomas Mann eine Reise an, die ihn zu Vorträgen und Lesungen zunächst in den Osten der USA, dann nach England und in die Schweiz führte. Ein mehrwöchiger Erholungsaufenthalt in Graubünden schloß sidi an, über den es in der »Entstehung des Doktor Faustus« heißt: »Wir verbrachten einige Wochen dieses sonnenstarken Sommers in Flims, Graubünden, und dort las ich die täglich aus der Druckerei von Winterthur einströmenden Korrekturen des >Doktor Faustusja nicht von Thomas Mann selbst stammtkalter MacherDr. FaustFaust< ist ein Menschheitssymbol, und zu etwas dergleichen wollte mir unter den Händen die Josephsgeschichte werden [ . . . ] « Neue Studien, S. 1 7 2 . c

Diese sowie alle anderen von Thomas Mann für den »Doktor Faustus« benutzten Quellen erscheinen mit vollem Titel im Literaturverzeichnis. d D . h . also, am 1 7 . M ä r z 1 9 4 3 , nicht am 27., wie es in der »Entstehung« ( S . 2 1 ) heißt. Das richtige Datum geht aus den Notizen zur »Entstehung« hervor. e Thomas Mann spricht in der »Entstehung« (S. 2 1 ) von dem Plan aus dem Jahre 1901. Hans Wysling hat nachgewiesen, daß das Notizbuch, in dem sidi die beiden Notizen befinden, zwar 1901 begonnen wurde, daß die Notizen selbst aber aus dem Jahre 1905 stammen (Hans Wysling: Z u Thomas Manns »Maja»Projekt. In: Paul Scherrer u. H . W., Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns, Anmerkung 29 zu S. 39).

7

nannte »Drei-Zeilen-Plan« und seine erweiterte, für den Roman fruchtbar werdende Form. Die erste alte Notiz lautet im Notizbuch 7: »Der syphilitische Künstler nähert sich von Sehnsucht getrieben einem reinen, süßen jungen Mädchen, betreibt die Verlobung mit der Ahnungslosen und ersdiießt sich dicht vor der Hochzeit.« a

Es ist das alte Thema des Künstlers als outcast mit der Sehnsucht nach Annäherung an das Leben, die nur illusionär erlebt, nicht aber verwirklicht werden kann. In der zweiten alten Notiz ist dieses noch relativ privat anmutende Schicksal durch das Faust-Symbol überhöht. Die Liebesgeschichte tritt an den Rand, im Mittelpunkt steht das Werk. Die Krankheit, die in der ersten Notiz nur Ausdruck des Ausgesdilossenseins war, ist hier sdion auf die Produktion und ihre schwierigen Bedingungen bezogen: »Novelle oder zu >Maja< Figur des syphilitischen Künstlers: als Dr. Faust und dem Teufel Verschriebener. Das Gift wirkt als Rausch, Stimulans, Inspiration; er darf in entzückter Begeisterung geniale, wunderbare Werke schaffen, der Teufel führt ihm die Hand. Schließlich aber holt ihn der Teufels Paralyse. Die Sadie mit dem reinen jungen Mädchen, mit der er es bis zur Hochzeit treibt, geht vorher.« b Der Zugang zu den frühen Notizbüchern wurde uns nicht gewährt; wir verweisen deshalb auf den schon angeführten Aufsatz Hans Wyslings, der aus der Kenntnis der Notizbücher über Thomas Manns alte Pläne »Die Geliebten« und »Maja« berichtet: 0 In der Novelle »Die Geliebten«, die in der Zeit nach den »Buddenbrooks« geplant wurde, sollte die unglückliche und mit einem Eifersuchtsmord endende Liebe einer verheirateten Frau, Adelaide, zu einem jungen Maler, Rudolf Müller, gestaltet werden; die Heldin, die leidend-wissendmelancholisch gedacht war, sollte dabei in dem jungen Mann das »liebe Leben« in seiner verführerischen Banalität zugleich lieben und verachten. In die Novelle wäre im wesentlichen das Erlebnis der Freundschaft Thomas Manns mit dem Maler Paul Ehrenberg eingegangen, einer Freundschaft, deren Bedeutung für Thomas Manns Biographie der Forschung erst relativ spät bekannt geworden ist.7 Die Notizbücher enthalten eine große Anzahl von Aufzeichnungen zur Person Paul Ehrenbergs, der als Modell für den Liebhaber in den »Geliebten« dienen sollte. In der Person des Gatten der Heldin, eines kraft- und schönheitsanbetenden Schwächlings, sollte die Renaissance-Schwärmerei der zeitgenössischen Literaten, a b 0

8

Zitiert nach Wysling, ebda., S. 38. Zitiert nach Wysling, ebda., S. 37. Wysling, ebda., S. 23 f.

u. a. auch des Bruders Heinrich, karikiert werden. Was den äußeren Handlungsrahmen, vor allem die Katastrophe des Schlusses angeht - die Frau ersdiießt den Liebhaber in der Trambahn so gedachte Thomas Mann einem Vorfall zu folgen, der sich um die Jahrhundertwende in Dresden wirklich ereignet hatte und auf den er durch eine Zeitungsnotiz aufmerksam geworden war. Von einer Bekannten, Hilde Distel, die die beteiligten Personen gekannt hatte, erbat er sich einen Bericht mit allen Details. Dieser Brief an Hilde Distel vom 14. März 1902 ist im ersten Band der Briefe abgedruckt 8 und wurde natürlich gleich mit dem »Doktor Faustus« in Zusammenhang gebracht. Aber erst aus dem Bericht Wyslings, der die frühen Notizbücher kennt, wissen wir von der Rolle, die jener Vorfall schon in dem frühen Plan spielen sollte. Der Plan wurde nie ausgeführt, weil - so vermutet Wysling wahrscheinlich mit Recht® - das Thema in »Tonio Kröger« gültig gestaltet war. D a sich überdies die Notizbücher mit Aufzeichnungen zu einer großen Anzahl von Figuren gefüllt hatten, beabsichtigte Thomas Mann eine Zeitlang, den »Geliebten«-Stoff zu einem Gesellschaftsroman mit zahlreichen N e benfiguren und Episoden auszuweiten. Diesen Roman, der den Titel »Maja« tragen sollte, hat Thomas Mann andeutungsweise charakterisiert, als er ihn im »Tod in Venedig« unter den Werken Gustav Aschenbachs aufführte; es ist dort die Rede von dem »figurenreichen, so vielerlei Menschenschicksal im Schatten einer Idee versammelnden Romanteppich, >Maja< mit Namen«. 10 Die »Idee«, in deren Schatten sich die zahlreichen Schicksale versammeln sollten, gibt der Titel an: £s ist die Scheinhaftigkeit, der illusionäre Charakter des menschlichen Daseins, wie er sich in Schopenhauers Philosophie im Bilde des Schleiers der Maja findet. In diesem Umkreis also fand Thomas Mann die beiden zitierten Notizen wieder. Die »Entstehung des Doktor Faustus« berichtet von der Bewegung, die ihn bei der Lektüre der Notizbücher, die die Lebensstimmung jener frühen Jahre enthielten, vor allem aber bei dem Wiederbedenken des alten Plans erfüllte: »Zweiundvierzig Jahre waren vergangen, seit ich mir etwas vom Teufelspakt eines Künstlers als mögliches Arbeitsvorhaben notiert, und mit dem Wiederaufsuchen, Wiederauffinden geht eine Gemütsbewegung, um nicht zu sagen: Aufgewühltheit einher, die mir sehr deutlich macht, wie um den dürftigen und vagen thematischen Kern von A n f a n g an eine Aura von Lebensgefühl, eine Lufthülle biographischer Stimmung lag, die die Ν ο ν e 11 e a , meiner Einsicht recht weit voran, zum Roman vorherbestimmte.« 11

Unmittelbar zuvor hat Thomas Mann die folgenden Sätze aus seinem Tagebuch vom 17. März 1943 zitiert: a

Hervorhebung von Thomas Mann.

9

»Berührung mit der Tonio Kröger-Zeit, den Münchener Tagen, den nie verwirklichten Romanplänen »Die Geliebten< und >MajaVetter< zu Wittenberg seßhaft, ein Bürger, wohlvermögend. Dieser, ohne Erben, zieht Fausten auf u. hält ihn wie sein Kind (ist wohl sein Onkel), nimmt ihn zum Kind u. Erben auf, läßt ihn in die Sdiul gehen, Theologiam zu studieren. Die Eltern schuldlos, insofern als sie des gottlosen Kindes Greuel nicht gesehen noch erlebt haben. Sie sind, wie in Wittenberg allgemein bekannt, herzlich erfreut, daß ihr Vetter ihn als Kind aufnahm. Als sie danach sein trefflidi ingenium und memoriam an ihm spüren, tragen sie desto größere Fürsorge für ihn, damit er sich am Herrn nidit versündige. Fromme Eltern haben oft gottlose, ungeratene Kinder. Allerdings haben sie ihm vielleicht zuviel Mutwillen in der Jugend zugelassen und ihn nicht fleißig zum Studieren gehalten [ . . . ] . Es ist aber begreiflich gerade vermöge seines ingenium und memoriae, der ihm gegenüber den einfachen Leuten eine gewisse Autorität verleiht u. ihm Selbstbestimmungsredit zu geben scheint. Item, da die Freunde seinen geschwinden Kopf gesehen haben, und er zu der Theologia nicht viel Lust gehabt, auch ein öffentl. Gerede gewesen, daß er sich mit Zauberei abgebe, haben sie ihn beizeiten gewarnt u. davon abgemahnt. Faust, ganz gelernigen und geschwinden Kopfes, zum Studieren qualifiziert u. geneigt, besteht glänzende Examina und wird Doctor Theologiae. Hat aber daneben einen dummen, unsinnigen u. hoffärtigen Kopf, wie man ihn denn allezeit den Spekulierer nannte. Gerät in böse Gesellschaft und legt die h. Schrift hinter die Tür und unter die Bank, lebt ruch- und gottlos. Ein wahr Sprichwort: >Was zum Teufel will, das läßt sidi nicht aufhalten noch ihm wehren.< - Er fand seinesgleichen, die mit chaldeisdien, persischen, arabischen und griechischen Worten umgingen mit figuris diarac-a [Bl. i2]teribus, cona Am Schluß der letzten Zeile von Bl. n hat Thomas Mann hinzugefügt: »Musik«.

29

iurationibus, incantationibus und wie solche N a m e n der Beschwörung und Zauberei genannt sein mögen. Es waren Nigromantiae, carmina, veneficium, vaticinium, incantatio, und wie solche Bücher, Wörter und N a m e n genannt werden mögen. Das gefiel ihm wohl, speculiert und studiert Nacht und Tag darin. Will sich keinen Theologum mehr nennen lassen, wird ein Weltmensch, nennt sidi D. Medicinae, wird Astrologus, Mathematicus, Arzt. Hilft erstlich vielen Leuten, mit der Artzeney, mit Kräutern, Wurzeln, Wassern, Tränken, Recepten und Clistiern, ist übrigens, wie man zugeben muß, redsprechig u. in der h. Schrift bewandert. Desto schlimmer. -« 2 0

Die wesentlichste Idee, die Thomas Mann aus dem Volksbuch gewann, war, daß Faust ein »gelerniger und geschwinder K o p f « ist, der sidi der Zauberei ergibt. Es stellte sich damit eine Korrespondenz her zu der allerersten Notiz über das Verlangen des »syphilitischen Künstlers«, »aus dem Bürgerlichen, Mäßigen, Klassischen, Apollinischen, Nüchternen, Fleißigen und Getreuen hinüber ins Rauschhaft-Gelöste, Kühne, Dionysische, Geniale, Über-Bürgerliche, ja Übermenschliche« zu gelangen, bei dem Thomas Mann offenbar schon Nietzsche im Auge gehabt hatte. Dieser am Beginn der Konzeption stehende Gedanke wird durdi das Volksbuchexzerpt noch einmal intensiviert und aktualisiert, und der Umstand, daß sidi Faust der Magie verschreibt, wird mit Nietzsches Drängen nach dem Inspiratorisch-Gehobenen in Verbindung gebracht. Denn von Nietzsche ist in dem folgenden Passus ganz offenbar die Rede. Die Gleichung: >Nietzsdie als ein zweiter Doktor Faust< bildet sich immer deutlicher heraus. Die Gedanken kreisen nun weiter um Goethe und Nietzsche. Das Problematische von Goethes Natur hatte Thomas Mann immer gesehen. Er hatte nie an den angeblich so ganz harmonischen Goethe geglaubt, und eine gewisse Starrheit, etwas Erkältendes, das vom älteren Goethe ausging, war in »Lotte in Weimar« scharf ins Licht gerückt worden; in den Notizen zum »Doktor Faustus« wird es noch stärker pointiert, wenn vom »Pathologischen« die Rede ist. Das »Pathologische« von Nietzsches Person liegt dagegen auf der Hand. Der Gedanke, daß das kranke Genie dieselben »creativen [ . . . ] Wirkungen« haben kann wie das gesunde, ist ganz im Sinne von Nietzsches Philosophie. 3 »[Bl. 12] Das N o r m a l e und Artige, Musterhafte seiner Natur. Primus-Charakter, vorzügliche, einwandfreie Begabung, - die er im Tiefsten selbst vera An einer wichtigen Stelle im Roman, im Teufelsgespräch, in dem alle zentralen Themen des Romans zusammenklingen, werden diese Reflexionen verwendet. Leverkühn hat von Goethes »heiler Größe« gesprochen, worauf der Teufel antwortet: »Und heile Größe! Wenn ich davon nur höre! Glaubst du an sowas, ein Ingenium, das gar nichts mit der Höllen zu tun hat? Non datur!« (S. 366). Und: »Vor dem Faktum der Lebenswirksamkeit [ . . . ] wird jeder Unterscheidt von Krankheit und Gesundheit zunidite. (S. 375).



achtet, besonders da sie mit großer Ermüdbarkeit und Notwendigkeit verbunden, Fleiß zu erzwingen. Geringschätzung der Gesetztheit, der Klassizität, der Mühe. Sehnsucht nach dem Genialen, Inspirativen, Rauschhaften, Exzentrischen, Kühnen, Ausgefallenen. Langeweile an sich selbst, wesentlich unbewußt. Blasiert durch Superiorität. Aus begabter Normalität durch die Intoxikation hinaufgetrieben in eisige und groteske Sphären des Genialen, in die er nidit eigentlich paßt, f ü r die er nicht geboren ist, und die auf immer mit den schneidenden Schmerzen der kleinen Seejungfrau verbunden sind. Gefühl des Verbrecherischen. Unterschied zwischen dem >romantisdien< und dem »klassischem (gesunden und natürlichen?) Genie k la Goethe. Dieses ist bizarr u. problematisch in der Jugend, läutert sich dann, wird würdig, pedantisch, zeremoniell, obgleich immer viel Kühnes, Gewagtes, Neues in seinem produktiven Wesen bleibt. Das romantische, auf Krankheit, Desintegration beruhend, ist vorher, in der Jugend >klassischgesunde< - und zweitens ist die >Gesundheit< der Entwicklung des klassischen Genies in Frage zu stellen: Ist nicht in Goethes Leben ein Bruch, eine Erkältung, Versteifung, Verstockung, ein Verrat an seiner menschlich vollen und warmen Jugend, dem so gut etwas Pathologisches anhaftet (Schwester, Vater; Erbteil) wie der gift-inspirierten Entwicklung des >romantischen< Genies?« Völlig durdidringen sich die beiden Stränge »Faust« und »syphilitischer Künstler« in der lakonischen Notiz: »[Bl. 1 3 ] Die 24 Teufelsjahre des Faust entsprechen der Inkubationszeit der luetischen Paralyse.« Wie Thomas Mann die Selbstmordversuche der kranken Künstler mit der bei Luther geäußerten Auffassung, daß durch einen freiwilligen T o d die Seele vor der Verdammnis zu erretten sei, in Verbindung gebracht hatte, so setzte er jetzt die im Volksbuch vom Teufel gewährte Frist von 24 J a h ren mit dem Zeitraum zwischen Ansteckung und Ausbruch der luetischen Paralyse in Beziehung. Bei der Prüfung der Lebensläufe Schumanns und Nietzsches hatte er festgestellt, daß dieser Prozeß im einen Fall 25, im anderen 22 Jahre betrug. W o sich diese A r t der Herstellung einer Verbindung beobachten läßt, w o diese Gelenkstellen sichtbar werden, befindet man sich am innersten Kern der Konzeption des Romans, der ja aus »Kulturprodukten«, 21 wie Thomas Mann in der »Entstehung des Doktor Faustus« sagt, aus bereits mehr oder weniger mit Bedeutung aufgeladenem Material besteht, zu dem Bildungsbestände wie der Fauststoff und dessen Ausformung im Volksbuch wie auch Nietzsches Biographie gehören. Das »Zitieren« dieser »Kulturprodukte« soll dabei erkannt werden. Wenn es von Joseph heißt, er wandle wie auf Glas, durch das sich das Muster 31

des Mythos abzeidine und ihm die Spuren vorgebe, in denen er gehe,22 so trifft das auch ganz auf den Helden des »Doktor Faustus« zu und kommt überdies in der Arbeitsweise Thomas Manns zum Ausdruck. Hinter dem Helden des »Doktor Faustus« wird Nietzsches geistige Gestalt sichtbar, die ihrerseits transparent wird für die dahinterstehende Gestalt des alten Faust: »[Bl. 1 3 ] Das Versprechen des bösen Geistes schließt viele Schmerzen und Hinfälligkeiten ein, die aber aufgewogen werden durch eine, gerade durch sie vertiefte, befeuerte, stimulierte Steigerung ins Geniale und die damit verbundenen inspirativen Freuden und Räusche. (Schneidende Schmerzen wie v o n Messern in den Mensdienbeinen der kl. Seejungfrau - mit der der Teufel ihm eine traurig-geschwisterliche Liebschaft vermitteln muß). A u d i kann der Teufel versprechen, daß das inspirative Glück und Selbstgefühl gegen das Ende hin mehr u. mehr die Leiden überwiegt und der äußerste Zustand vor dem >Geholt-werden< mit triumphalem Gesundheitsgefühl verbunden ist (volle Euphorie) Der Wahnsinn, das Visionäre, das Dialogisieren mit dem Teufel im Geheimen schon sehr früh nach dem >Empfang< ein Element seines Lebens. Es ist aber bis gegen das Ende unter Anstandskontrolle der Vernunft und [Bl. 1 4 ] sozialen Rücksicht (Menschenfreundlichkeit, die dem Teufel nicht lieb ist, und die er ihm, unter pädagogischen Begründungen — Wie willst D u sie vorwärtsbringen? - auszureden sucht.)«

Die nächsten Seiten sind mit Exzerpten aus dem Volksbuch angefüllt. Es handelt sich um die Beschwörungsszene im Spesser Wald, die Promission, d. h. den Teufelsvertrag, und im weiteren um Abschnitte über Teufelsgaukeleien, den Famulus Wagner und über Fausts Wohlleben. Die Namen der Hölle wie »Career«, »Damnatio« sind auf Bl. 18 notiert. Weitere Exzerpte betreffen die Höllenleiden. Dieses wie jenes stammt aus den Disputationen Fausts mit dem Geist. Als sich dann Thomas Mann wieder dem anderen Bereich, dem des »syphilitischen Künstlers«, zuwendet, geschieht das nidit ohne Beziehung auf das Volksbuch. Wieder scheint die eine Quelle die andere zu bestätigen. Die vom Handlungsschema des Volksbuches vorgeschriebene Tatsache, daß Faust seine »vertrauten Gesellen« in seinen letzten Stunden zu sich bestellt, findet in einer Einladung Hugo Wolfs ihre Entsprechung. Im Roman lädt Leverkühn seine Bekannten ein, um ihnen aus seinem neuen Werk »Dr. Fausti Weheklag« vorzuspielen, und dabei kommt es zu seinem paralytischen Zusammenbrudi. In seiner letzten Rede spielt Leverkühn auf Faustens Rede an seine Freunde an. «[Bl. 1 9 ] H u g o Wolf ist mit der Komposition des >Manuel Venegas< >flott im ZugeLeider fühle ich mich körperlich sowohl als geistig äußerst ermattet. Vom Komponieren zumal habe idi nicht mehr die geringste Vorstellung. Gott weiß, wie das enden wird. Beten Sie für meine arme Seele. — « s o Noch einmal setzen Exzerpte aus dem Volksbuch ein. Erwähnenswert ist die Stelle, da die Rede davon ist, daß der Teufel eisige Kälte ausströmt. Dieser Zug mußte gut in Thomas Manns Konzept passen. Er verband sich mit dem Motiv der Kälte des Künstlers, mit Leverkühns Mangel an Seele, jener »mittleren, vermittelnden [ . . . ] Instanz, in der Geist und Trieb einander durchdringen«, 31 mit seinem Schwanken zwischen den Extremen, zwischen Kälte und Glut, zwischen inspiratorisch-gehobener Produktivität und Zuständen der völligen Unfähigkeit und Qual. Beim Gespräch in Palestrina strömt der Teufel diese Kälte aus: »[Bl. 30) Dr. Fausti Fürst und rechter Meister kam zu ihm, wollt ihn visitieren. F. erschrak nidit wenig vor seiner Greulidikeit. Denn unangesehen, daß es im Sommer war, ging doch eine solche kalte Luft vom Teufel, daß F. meinte, er müsse erfrieren.« 32 Wenn Thomas Mann im Volksbuch las, daß die Höllenbewohner nur die Wahl zwischen extremer Kälte und brennender Glut hätten, ss so verband sich ihm damit der Wechsel von Euphorie und Depression, wie er ihn bei Hugo Wolf, Robert Schumann und Nietzsche fand, und den er moralisch 33

weiter ausdeutete: Das gehobene Dasein schließt neben Gipfeln auch Abgründe ein, während sich das durchschnittliche Leben ohne besondere Höhen und Tiefen abspielt. »[Bl. 3 1 ] Die Bewohrfer bilden keine Gemeinschaft, sind unter einander voller Hohn u. Verachtung, schimpfen einander. Ewige Hoffnungslosigkeit. Haben nur die Wahl zwischen extremer Kälte und brennender Glut, flüchten vom einen ins andere, im einen erscheint das andere als Labsal, ist aber sofort unerträglich. Dies ewig. Das Extreme gefällt ihm [ . . . ] «

An späterer Stelle (Bl. 48-59) erscheinen noch einmal und zum letzten Male Exzerpte aus dem Volksbuch. Natürlich hat Thomas Mann das ganze Volksbuch aufmerksam gelesen. Sein Interesse aber galt vor allem einmal direkt der Kindheit und Jugend und im weiteren allem, was in den Anfangskapiteln mit Beschwörung, Verschreibung und Disputation zu tun hat. Nicht interessant waren für Thomas Mann die oft recht platten schwankhaft-volkstümlichen Kapitel des Mittelteils in der Art von »D. Faustus frißt ein Fuder Heu.« Interessant wird das Volksbuch wieder, wenn die Zeit der Verschreibung dem Ende zugeht. Die Kapitel über Fausts verzweifelte Klagen werden ausgiebig exzerpiert, a ebenso die »Oratio Fausti ad Studiosos« und das eigentliche Ende. An das zuletzt zitierte Volksbuch-Exzerpt über die Hölle schließen sich Exzerpte aus einer weiteren Quelle an, die zentrale Wichtigkeit für den Roman gewinnt, nämlich Paul Julius Möbius' »Nietzsche«. Thomas Mann mußte das Buch als besonders einschlägig empfinden, da der Verfasser, Mediziner von Beruf und in der Philosophie nur dilettierend, Nietzsches Krankheit ausführlich behandelt und deren Verhältnis zu Nietzsches Philosophie erörtert. Das Buch wird dem geistigen Rang Nietzsches kaum gerecht, und der Ton der Darstellung ist dem Gegenstand oft wenig angemessen. Aber gerade bei diesem »unbefangenen« Vorgehen ergeben sich, vor dem Hintergrunde der medizinischen Kenntnisse des Verfassers, überraschende und zumindest bedenkenswerte Aspekte, die in der eigentlich philosophischen Fachliteratur nicht begegnen, und dies war zweifellos der Grund, warum Thomas Mann, den das Verhältnis von Geist und Krankheit von jeher beschäftigt hatte, Möbius' Darstellung aufmerksam las. Er besaß das Buch in der 1909 erschienenen 3. Auflage, und die zahlreichen Anstreichungen sowie gewisse Randnotizen, die das im Züricher Archiv aufbewahrte Exemplar aufweist und die übrigens aus jenen frühen a

Es handelt sich um die folgenden Kapitel: »Doctor Fausti Weheklag, daß er noch in gutem Leben vnd jungen Tagen sterben müste.« - »Widerumb eine Klage D . Fausti.« - »Wie der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltzamen spöttischen Schertzreden vnd Sprichwörtern zusetzt.« - »Doctor Fausti Weheklag von der Hellen, vnd jrer vnaußspredilichen Pein vnd Quaal.« 34

Jahren zu stammen scheinen, dokumentieren sein Interesse ebenso wie seine Ungeduld über die Banalitäten, deren sich Möbius zuweilen schuldig madit. So heißt es ζ. B. einmal bei Möbius: »Für einen Feuilletonisten mag der Aphorismus recht gut sein, für einen ernsthaften Denker, dem nidits mehr am Herzen liegen muß, als der Zusammenhang seiner Gedanken und der auf Stilisten-Kunststücke nidits gibt, taugt er gar nichts.«34 Thomas Mann hat die Worte »der auf Stilisten-Kunststücke nidits gibt« unterstrichen und an den Rand geschrieben: »Das sollte er lassen.« In der »Entstehung des Doktor Faustus«, in der zahlreiche periphere Quellen gewissenhaft aufgezählt werden, fehlt übrigens der Hinweis auf Möbius. Daß gerade dieses Buch, dem der Roman sehr viel verdankt, Thomas Mann ganz aus dem Sinn gekommen sein sollte, ist unwahrscheinlich. Vermutlich hat er es deshalb nidit genannt, weil er hier seine eigene Thematik erörtert, zugleich aber auch trivialisiert fand. Erwähnt aber wird das Buch in dem im Juni 1947 bei der Tagung des Pen-Clubs in Zürich gehaltenen Vortrag »Nietzsches Philosophie im Lidite unserer Erfahrung«. Thomas Mann deutet hier an, was ihn an dem Buch von Möbius interessiert hat: »Das Medizinisch-Pathologische ist e i n e Sache der Wahrheit, ihre naturalistische sozusagen, und wer die Wahrheit als Ganzes liebt und willens ist, ihr unbedingt die Ehre zu geben, wird nicht aus geistiger Prüderie irgendeinen Gesichtspunkt verleugnen, unter dem sie gesehen werden kann. Man hat es dem Arzte Möbius sehr verübelt, daß er ein Buch geschrieben hat, worin er die Entwicklungsgeschichte Nietzsches als die Geschichte einer progressiven Paralyse fachmännisch darstellt. Ich habe an der Entrüstung darüber nie teilnehmen können. Der Mann sagt, auf seine Weise, die unbestreitbare Wahrheit.« 35

Zunädist vermittelte die Darstellung des Mediziners direkte Symptome, die in den Roman übernommen werden konnten: »[Bl. 36] Weite Öffnung der Lidspalte: man sah über der Regenbogenhaut einen Streifen der weißen Augenhaut. Bewegt die Augen rasdi hin u. her, >rolItAber welche Veränderungen waren in dieser Zeit (14 Jahren) mit ihm vorgegangen. Das w a r nicht mehr die stolze Haltung, der elastische Gang, die fließende Rede von ehedem. N u r mühsam u. etwas nach der Seite hängend, schien er sich zu schleppen, u. seine Rede wurde öfter schwerfällig u. stockend a .« 3 7

Über Nietzsches Migräne exzerpiert er: »[Bl. 32] Migräne von solchem Schmerz u. Hartnäckigkeit mag spezielle U r sache haben. Ist oft frühes Symptom der Paralyse. Wenn sie schon besteht, a

Diese Krankheitssymptome werden auf Adrian Leverkühn übertragen (vgl. Doktor Faustus, S. 733 f.). 35

mag sie durch die Wirkung des die Pfaralyse] verursachenden Giftes versdilim-[Bl.33]mert werden 38 [ . . . ] - Die der Giftwirkung folgende Nervosität häufig mit Magenbesdiwerden verknüpft.®» Reihenfolge der Symptome verschieden. Hier bleiben die intellektuellen Funktionen auffallend lange ungestört. Die Veränderungen betreffen mehr das Gefühlsleben. Typisch: Krankhaftes Wohlgefühl, Euphorie. Tritt deutlicher hervor als die Abstumpfung der feinsten Gefühle. Kleine Taktlosigkeiten. -« 4 0 Die Vorlage modifizierend, fügt Thomas Mann die folgende Bemerkung an, in der der Name des Helden zum erstenmal und unvermittelt erscheint: »[Bl. 32] Bei Leverkühn kann es sidi um eine Gesamterkältung des Lebens und seines Verhältnisses zu den Menschen handeln, Kälte wie die, die vom Teufel ausgeht, und in der er so friert, daß die Flammen der Produktion nur warm genug sind, um sidi darin zu wärmen. (Audi die Kälte vorgebildet, wie die Migräne).« Die paralytischen Veränderungen werden dabei dem schon so früh ausgebildeten, zentralen Kältemotiv, von dem schon wiederholt die Rede war, zugeordnet. Quelle und Eigenes gehen ineinander über, das Aufgenommene wird dem Eigenen eingefügt und mit unzähligen Fäden damit verbunden. Es sei hier auch die entsprechende Stelle aus dem Roman angeführt, die Thomas Manns außerordentliche Fähigkeit beweist, das Fremde auch sprachlich dem Eigenen so einzuverleiben, daß es wie spontan und mühelos in einem bestimmten Zusammenhang erdacht scheint und der Leser kaum annehmen möchte, daß etwas Angelesenes eingearbeitet ist. Im Gespräch in Palestrina sagt der Teufel: »[S. 385] Die Illumination läßt deine Geisteskräfte bis zum Letzten intakt, ja steigert sie zeitweise bis zur heilichten Verzückung, - woran soll es am Ende denn ausgehen, als an der lieben Seele a und am werten Gefühlsleben? Eine Gesamterkältung deines Lebens und deines Verhältnisses zu den Menschen liegt in der Natur der Dinge, - vielmehr sie Hegt bereits in deiner Natur, wir auferlegen nichts Neues, die Kleinen machen nichts Neues und Fremdes aus dir, sie verstärken und übertreiben nur sinnreich alles, was du bist. Ist etwa die Kälte bei dir nicht vorgebildet, so gut wie das väterliche Haupta Wenn der Teufel hier von der »lieben Seele« spricht, so paßt dies natürlich ganz zu dem schnoddrig-zynischen Ton, in dem er sidi gefällt. Gleichzeitig jedoch scheint Thomas Mann auf einen Brief Nietzsches anzuspielen, den Möbius auf S. 168 f. seines Buches zitiert: »Warum fehlt mir jeder Zuspruch, jede tiefe Teilnahme, jede herzliche Verehrung? Meine Gesundheit hat sich unter der Gunst eines außerordentlich schönen Winters, guter Nahrung und starken Spazierengehens gut aufrecht erhalten. Nichts ist krank, nur die liebe Seele. Audi will ich nicht verschweigen, daß der Winter an geistigem Gewinn für meine Hauptsache sehr reich gewesen ist: also audi der Geist ist nidit krank, nichts ist krank, nur die liebe Seele.* (An die Schwester, vom 10. Februar 1888).

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•wee, aus dem die Schmerzen der kleinen Seejungfrau werden sollen? Kalt wollen wir dich, daß kaum die Flammen der Produktion heiß genug sein sollen, dich darin zu wärmen.« Thomas Mann notiert sich mehr, als zur glaubhaften und exakten Schilderung des Verlaufs der Krankheit nötig gewesen wäre. E r macht E x zerpte über die Bedingungen und Ursachen ihrer Entstehung, da ihn die Krankheit als Problem interessiert. »[Bl. 3 1 ] Nur ein Teil der spezifisch Geschädigten erkrankt an progressiver Paralyse. - Der Vorgang ist der, daß hauptsächlich bestimmte Bestandteile der Großhirnrinde allmählich absterben; Tempo sehr verschieden. Die ersten Anfänge entwickeln sich ganz langsam. Ehe die Krankheit der Umgebung offenbar wird, ist immer eine lange Zeit verflossen. 41 - Ungewöhnliche Gehirnbeschaffenheit und Überreizung brauchte die Pfaralyse] nicht zu befördern. Es werden audi ganz normale und durchsdinittlidie Leute paralytisch, die ihr Gehirn nie besonders in Anspruch genommen haben. 42 - Deutliche Zeichen treten erst Jahre lang nadi Ein-[Bl. 32]dringen des Giftes auf. Intervall wechselnd, 2-3 oder audi 25 Jahre. Bei Nietzsche ca. 15. Verschiedener Verlauf. Bald gehen körperliche Zeichen (Veränderungen der Pupillen oder Zittern) um Jahre den ersten seelischen Störungen voraus, bald machen diese den Anfang; manchmal zuerst Stimmungsveränderungen, oder Gedächtnisschwund etc.4» Die Krankheit schafft nichts Neues, sondern macht hier ein Mehr, dort ein Weniger, macht zuweilen nur das vorher schon Vorhandene offenbar. Kommt in Wellen heran, schlechte Zeiten wechseln mit guten.44 Kein >Keim zur Geisteskrankheit.< N[ietzsche] wäre nidit geisteskrank geworden, wenn sidi nicht die auf infektiöser Grundlage beruhende Gehirnkrankheit entwickelt hätte. Die urspr. nervöse Anlage Ferment, das bei der Entstehung des N.Gehirns eigentümliche Kombinationen hervorrief u. verhinderte, daß N . wie seine Vorfahren ein ehrsamer Pfarrer wurde, ihn zum unglücklich genialen Menschen machte.«45 Stößt man bei Möbius auf den Satz, daß »die Krankheit nichts Neues schafft, sondern hier ein Mehr, dort ein Weniger, zuweilen nur das vorher schon Vorhandene offenbar macht«, 46 so ist man überrascht, auch diesen für den Roman so entscheidenden Gedanken hier schon präformiert zu finden. Was hier nur für einen medizinischen Sachverhalt gilt, wird im Roman ausgeweitet zu der Zentralidee, daß Leverkühns Leben von vornherein determiniert ist, daß sidi sein Wesen und Werk zwar wie in Ringen ausbreiten kann, daß aber nichts wesentlich Neues geschieht. Dem entspricht die Struktur des Romans: In einer relativ kurzen Exposition werden alle Motive angelegt, die im weiteren Verlauf des Romans wiederkehren. Sie werden zuweilen in ihrer Bedeutung erweitert, aber sie sind bereits alle zu Anfang da und falten sich nur aus. Auf diese Weise entsteht jene kreisende Bewegung des Romans, der in der T a t zugleich »ist«, wovon er »handelt«. 47 37

D i e betreffende Stelle w i r d im R o m a n dem T e u f e l in den M u n d gelegt, der z u L e v e r k ü h n sagt: »[S. 366] W o nidus ist, hat auch der Teufel sein Recht verloren, und keine bleiche Venus riditet da was Gescheites aus. Wir schaffen nichts Neues - das ist andrer Leute Sache. Wir entbinden nur und setzen frei.* V ö l l i g aber gehen Q u e l l e und a u f k e i m e n d e r R o m a n ineinander über angesichts d e r E r ö r t e r u n g d e r F r a g e , o b eine S t e i g e r u n g d e r G e i s t e s k r ä f t e d u r c h diese s p e z i e l l e K r a n k h e i t m ö g l i c h o d e r w a h r s c h e i n l i c h ist. M i t I n t e r esse n o t i e r t T h o m a s M a n n die bei M ö b i u s r e f e r i e r t e n m e d i z i n i s c h e n T h e o rien, d e r e n E i n s d i l ä g i g k e i t s o f o r t d e u t l i c h w i r d : »[Bl. 34] >Ja, es könnte Einer die Meinung aufstellen, unter Umständen würden durch eine Gehirnkrankheit die Geisteskräfte gesteigert. Denkbar, daß das krankhafte Feuer Leistungen hervorbringt, die sonst unmöglich wären. Ü b e r Z u n a h m e der geistigen Fähigkeiten im Beginn der progr. Paral. hat V . Parant geschrieben (De la suractivite intellectuelle sans dilire ni demence dans la ρέΓκ^ε prodromique de la paralyse progressive). Fälle, in denen die vorher geistig nicht hervorragenden Patienten plötzlich sidi geistig lebhaft, dabei besonnen und urteilskräftig zeigten, bis dann nadi Monaten oder erst nach Jahren eigentlich krankhafte Aufregung u. Schwachsinn folgten. Angezweifelt, aber nicht undenkbar. Man wird sagen, es handle sich von vornherein um ein Absterben nervöser Teile, es könne also immer nur ein Minus, nie ein Plus erwartet werden. A b e r bei der Tabes ist der Vorgang der gleiche, u. dodi tritt, wenn eine Empfindungsfaser abstirbt, nicht gleich U n empfindlichkeit, sondern durdi lange Zeit Schmerz ein . . . Indirekte Steigerung der Leistungen möglich. Wäre die Paralyse eine diffuse E r k r a n k u n g der Hirnrinde, so wäre nur ein Sinken des geistigen Niveaus möglich. Sie ist eine lokalisierte E r k r a n k u n g , die sich ihre Stellung aussucht. Im A n f a n g durdi -Erkrankung bestimmter Fasern nur die H e m m u n g e n ausgeschaltet, deren Wegfall Fehlen des Ermüdungsgefühls und Euphorie ergibt: gesteigerte Leistung der arbeitenden Teile. Durch die v o n den kranken Stellen ausgehende R e i z u n g wird der Blutzufluß im G a n z e n gesteigert u. die Hyperämie begünstigt die Mehrarbeit. A l k o h o l : er lähmt v o n A n f a n g an, trotzdem können unter seinem Einfluß vermehrte Leistungen Zustandekommen. Auch hier das Entscheidende Fehlen der E r m ü d u n g u n d Euphorie, u. die Leistungen können nicht nur vermehrt sein, sondern auch ein glänzenderes Aussehen haben . . .Die Bekenntnisse Rousseaus sind zweifellos das Werk eines Geisteskranken und doch eines der wertvollsten [Zusatz von Thomas Mann: (einflußreichsten, folgenreichsten)] Bücher.«49 Thomas Mann notiert sich dazu: »[Bl. 33] (Wirkung auf Goethe. Das Produkt genialer Krankheit, aufgenommen und der Entwicklung einverleibt durdi das gesunde Genie - sofern eben Genie gesund ist).« Zwischen den Exzerpten notiert sich Thomas Mann die folgende Problematik, die im Roman eine wichtige Rolle spielt: »[Bl. 35] Quelle der Intoxikation ist sdiließlich die Liebe, wenn auch die vergiftete, von Satan mit Zulassung Gottes. Sein Teufelsbündnis, das ihn von Gott u. dem Heil scheidet, hat also doch mit Liebe zu tun, - was er gegen den Teufel ausspielt. Wie er ja audi den Fluch um seines Werkes willen auf sich genommen hat, - und auch Werk hat mit Liebe zu tun.« a Unmittelbar darunter ist schon ganz konkret angemerkt: [Bl. 35] Liebe zu seinem kleinen Neffen, - den der Teufel durdi Diphtheritis oder Kinderlähmung tötet.« Charakteristisch für Thomas Manns Verfahrensweise ist die Verbindung 4 Im Roman sagt Leverkühn zum Teufel: »Was ich mir zugezogen, und weswegen du willst, ich sei dir versprochen, - was ist denn die Quelle davon, sag, als die Liebe, wenn auch die von dir mit Zulassung Gottes vergiftete? Das Bündnis, worin wir nadh deiner Behauptung stehen, hat ja selbst mit Liebe zu tun, du Dummkopf. Willst, daß ich's wollte und in den Wald ging, an den vierigen Wegsdieid, um Werkes willen. Aber man sagt ja, Werk habe selbst mit Liebe zu tun.« (S. 384-385).

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des Pragmatischen mit dem Produktiven: E r exzerpiert ihm längst vertraute Gedankengänge Nietzsches noch einmal, wenn sie ihm, bequem zusammengestellt, begegnen. Zugleich aber werden sie produktiv weiterentwickelt und gemäß der Konzeption des Romans, wie sie sich in den allerersten Notizen findet, auf den Faschismus bezogen: »[Bl-37] N[ietzsche] und der Fascismus: Gut ist das aufsteigende, sdiledit das absteigende Leben, u. weil das Leben Wille u. Macht ist, so ist alles gut, was das Gefühl der Madit vermehrt, die Sphäre des Ich vergrößert, schlecht alles, was aus der Schwäche stammt. - Warum Wahrheit? Warum nicht lieber Unwahrheit? Auch der Wert der Meinungen kann nur an der Steigerung der Macht gemes-[Bl. 38]sen werden; eine kraftsteigernde Unwahrheit hat mehr Wert als eine niederdrückende Wahrheit. - Religion, Philosophie u. Moral nichts als Symptome der Lebensschwäche und Entartung, Formen des Nihilismus. - Der Mensch wird nicht durch falsche Gedanken krank, sondern er nimmt falsche Gedanken an, weil er krank ist. Oder umgekehrt? Schwanken zwischen einer physiologischen u. einer rationalistischen Anschauung.«50 Daß diese Gedankengänge im Roman eine zentrale Rolle spielen, bedarf nach allem bisher Gesagten keiner besonderen Betonung mehr. Beim Disput in Palestrina vernimmt Adrian Leverkühn sie aus dem Munde des Teufels, und es ist natürlich kein Zufall, daß gerade dieser sich zu ihrem Anwalt macht. Wir führen nur diese eine, wichtigste Belegstelle an: »[S. 375] Deine Neigung, Freund, dem Objektiven, der sogenannten Wahrheit nachzufragen, das Subjektive, das reine Erlebnis als unwert zu verdächtigen, ist wahrhaft spießbürgerlich und überwindenswert. Du siehst midi, also bin ich dir. Lohnt es zu fragen, ob ich wirklich bin? Ist wirklich nicht, was wirkt, und Wahrheit nicht Erlebnis und Gefühl? Was dich erhöht, was dein Gefühl von Kraft und Macht und Herrschaft vermehrt, zum Teufel, das ist die Wahrheit, - und wär es unterm tugendlichen Winkel gesehen zehnmal eine Lüge. Das will idi meinen, daß eine Unwahrheit von kraftsteigernder Beschaffenheit es aufnimmt mit jeder unersprießlich tugendhaften Wahrheit.* Auch einige nicht exzerpierte Stellen aus Möbius sind in den »Doktor Faustus« eingegangen, u. a. die folgende: »Es hat sich die Sage gebildet, geschlechtlichen Verkehr im eigentlichen Sinne des Wortes habe Nietzsche nicht gehabt. Deussen, um nur Einen zu nennen, meint (Erinnerungen, S. 24), auf ihn habe das Wort Anwendung gefunden: mulierem nunquam attigit. Er erzählt eine wunderliche Geschichte, die er von Nietzsche selbst hat. Ein Dienstmann habe Nietzsche 1865 in Köln in ein Bordell geführt. >Ich sah midi plötzlich umgeben von einem halben Dutzend Erscheinungen in Flitter und Gaze, welche midi erwartungsvoll ansahen. Sprachlos stand ich eine Weile. Dann ging ich instinctmäßig auf das Klavier als auf das einzige seelenhafte Wesen in der Gesellschaft los und schlug einige Akkorde an. Sie lösten meine Erstarrung und ich gewann das Freie.< Man kann unbedenklich zugeben, daß Nietzsche bis 1865 jede bedenkliche Be-

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riihrung vermieden habe. Es ist aber von vornherein höchst unwahrscheinlich, daß es immer so geblieben sei. Man muß sich doch sagen, daß ein Philosoph, ein Moralist schon aus Wißbegierde vom A p f e l zu essen gezwungen war. Nietzsche spricht ja selbst oft von seiner gefährlidien Neugierde, und nun sollen wir glauben, daß sie vor der interessantesten Angelegenheit Halt gemacht habe. Die Lust hätte er überwinden können, die Wißbegierde nicht.« 51 D i e Schilderung v o n Nietzsches B o r d e l l - E r l e b n i s w i r d T h o m a s M a n n gew i ß aus Deussens Buch selbst g e k a n n t haben. W i r f ü h r e n hier die entsprechende Stelle aus d e m R o m a n a n : » [S. 220] Ich sdielle, die Thür geht von selber auf, und auf dem Flur kommt mir eine geputzte Madam entgegen, mit rosinfarbenen Backen, einen Rosenkranz wachsfarbener Perlen auf ihrem Speck, und begrüßt mich fast züchtiger berden, hocherfreut flötend und scharmutzierend, wie einen Langerwarteten, [S. 221] komplimentiert midi danach durch Portieren in ein schimmernd Gemach mit eingefaßter Bespannung, einem Kristall-Lüster, Wandleuchtern vor Spiegeln, und seidnen Gautschen, darauf sitzen dir Nymphen und Töchter der Wüste, sechs oder sieben, wie soll ich sagen, Morphos, Glasflügler, Esmeralden, wenig gekleidet, durchsichtig gekleidet, in Tüll, Gaze und Glitzerwerk, das Haar lang offen, kurzlockig das Haar, gepuderte Halbkugeln, Arme mit Spangen, und sehen dich mit erwartungsvollen, vom Lüster gleißenden Augen an. Mich sehen sie an, nicht dich. Hat mich der Kerl, der Gose-Schleppfuß in eine Sdilupfbude geführt! Idi stand und verbarg meine Affekten, sehe mir gegenüber ein offen Klavier, einen Freund, geh über den Teppidi drauf los und schlage im Stehen zwei, drei Akkorde an [...]« A u f die F o r m u l i e r u n g »mulierem n u n q u a m a t t i g i t « geht o f f e n b a r Z e i t bloms B e m e r k u n g z u r ü c k : » D a ß er bis d a t o k e i n W e i b >berührt< hatte, w a r und ist mir eine unumstößliche G e w i ß h e i t . N u n h a t t e das W e i b ihn berührt [ . . .].« 5 2 A u c h die bei M ö b i u s e t w a s lächerlich a n m u t e n d e W e n d u n g » v o m A p f e l essen« w i r d v o n T h o m a s M a n n a u f g e n o m m e n u n d i r o nisch gebraucht, u n d z w a r i n d e m sie nicht a u f L e v e r k ü h n , sondern auf Z e i t b l o m b e z o g e n w i r d ; M ö b i u s ' psychologische B e g r ü n d u n g w i r d dabei m i t ü b e r n o m m e n . Z e i t b l o m sagt v o n sich: »[S. 228] Was mich selbst betrifft, so will idi nur gestehen, daß ich vom Apfel gekostet hatte und damals sieben oder acht Monate lang Beziehungen zu einem Mädchen aus dem Volk, einer Küferstoditer, unterhielt, - ein Verhältnis, [ . . . ] das ich nach dieser Frist auf gute A r t wieder löste, da der Bildungstiefstand des Dinges midi ennuyierte [ . . . ] · N i d i t sowohl Heißblütigkeit, als Neugier, Eitelkeit und der Wunsch, den antikischen Freimut im Verhalten zum Geschlechtlichen, der zu meinen theoretischen Uberzeugungen gehörte, in die Praxis zu übersetzen, hatten mich vermocht, diese Bindung einzugehen.« W i r geben noch ein weiteres Beispiel eines Fundes, d e n T h o m a s M a n n bei M ö b i u s gemacht, aber nicht e x z e r p i e r t h a t : 41

»Am allerschwächsten war Nietzsche in der Mathematik. Er selbst sagt als Abiturient, er habe für alles Interesse gehabt, >wenn ich von der allzuverstandesmäßigen Wissenschaft der mir allzulangweiligen Mathematik abseheDa er der Mathematik nie gleichmäßigen Fleiß zugewandt hat, so ist er in seinen schriftlichen wie mündlichen Leistungen immer mehr zurück gegangen sodaß sich dieselben nicht mehr als befriedigend bezeichnen lassen und seine ungenügenden Leistungen hierin nur durch die vorzüglichen Leistungen im Deutschen und Lateinisdien ausgeglichen werden können.« 53 Leverkühn zwar ist ein ausgezeichneter Mathematiker, aber die »Schwäche auf diesem Felde, die nur durch freudige Tüchtigkeit im Philologischen leidlich kompensiert wurde«, 54 wird auf Zeitblom übertragen, wie bekanntlich auch das Altphilologentum und das militärische Dienstjahr in Naumburg.

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III.

DIE KONSTITUIERUNG DER

SCHAUPLÄTZE

i. Allgemeines Thomas Mann hat die beiden Stränge »syphilitischer Künstler« und »Faust« verfolgt, indem er sidi, wie wir gezeigt haben, in die Biographien Schumanns, Hugo Wolfs und Nietzsches einerseits, andrerseits in das Volksbuch vertiefte und daraus exzerpierte. Fakten und Ideen aus diesen beiden Gebieten verknüpften sich dabei zu neuen Einheiten. An den Exzerpten aus Möbius und den daran anschließenden eigenen Äußerungen Thomas Manns war dieser Prozeß besonders deutlich geworden; überdies werden die Fakten und Ideen aus den Quellen nun schon auf die fiktive Geschichte übertragen. Der Plan hatte sich, zumindest bis zu einem gewissen Grade, angereichert; die Geschichte begann sich zu bilden und drängte auf Konkretion. Zwar zeigte sich später, daß doch noch direktes Sachwissen fehlte und daß dieses noch zu erarbeiten war. Aber das geschah dann doch schon als bloße Ausführungsarbeit, auf der Basis der dann schon konzipierten Handlung. In der »Entstehung des Doktor Faustus« betont Thomas Mann die »gänzliche Fraglichkeit von Form, Handlung, Vortragsart, ja Zeit und Ort«, 1 die bei der Konzeption des »Doktor Faustus« zunächst bestanden habe. Schließlich aber wird der Ausgangspunkt des Helden, die Gegend seiner Heimat, nicht zufällig gewählt, sondern ist von großer symbolischer Bedeutung. Zahllose Beziehungen, tief in Thomas Manns Denken verwurzelt, treffen hier zusammen. Wir müssen zuerst diesen Verständnishintergrund skizzieren, bevor wir Thomas Manns direkte Vorarbeiten zur genauen Situierung verfolgen. Den Anfang des Volksbuch^, der über Fausts Herkunft berichtet, hatte Thomas Mann, wie bereits gezeigt, sorgfältig gelesen und exzerpiert. Die Stelle lautet im Volksbuch wie folgt: »Doctor Faustus ist eines Bauwern Sohn gewest, zu Rod, bey Weinmar bürtig, der zu Wittenberg eine grosse Freundschafft gehabt, deßgleichen seine Eltern Gottselige vnnd Christliche Leut, ja sein Vetter, der zu Wittenberg seßhafft, ein Bürger, vnd wol Vermögens gewest, weldier D. Fausten aufferzogen, vnd gehalten wie sein Kind, dann dieweil er ohne Erben war, nam er diesen Faustum zu einem 43

Kind vnd Erben auff, ließ jhn auch in die Schul gehen, Theologiam zu studieren.« 2 Die Heimat des alten Faust aber ist zugleich die Heimat des heimlichen Helden des Buches, die Heimat Nietzsches. Zugleich erweckt der Name Wittenberg Assoziationen an Luther. Das Stichwort »Weimar« dagegen wurde nicht aufgegriffen, vielmehr wurde jede Anspielung auf die Stadt, deren Name sich ein für allemal mit der deutschen Klassik verbindet, sorgfältig vermieden. Die Namen Faust, Nietzsche und Luther aber treten in ein höchst kompliziertes Spiel miteinander. Die Verknüpfungen sind dabei vielfältig und reichen, sehr subjektiv, wie sie zum Teil sind, zeitlich weit zurück in Thomas Manns Vorstellungswelt. Wir lassen hier einen Passus aus den »Betrachtungen eines Unpolitischen« folgen, der alle diese Elemente bereits enthält und wie ein heimlicher Vor-Entwurf des »Doktor Faustus« anmutet. Es heißt dort über Nietzsche: »Die seelischen Voraussetzungen und Ursprünge [ . . . ] der e t h i s c h e n Tragödie seines Lebens, dieses unsterblichen europäischen Schauspiels von Selbstüberwindung, Selbstzüchtigung, Selbstkreuzigung mit dem geistigen Opfertode als herzund hirnzerreißendem Absdiluß, - wo anders sind sie zu finden, als in dem P r o t e s t a n t i s m u s des N a u m b u r g e r P a s t o r s o h n s , als in jener nordisch-deutschen, bürgerlich-dürerisch-moralistischen Sphäre, in der das Griffelwerk > R i t t e r , T o d u n d T e u f e l < a steht, und die immer die Heimatsphäre dieser strengen, durchaus nicht >südlidien< Seele geblieben ist?«3 War in der alten Notiz und in deren Ausfaltung vor allem von dem euphorischen Nietzsche die Rede, so verdeutlicht die angeführte Stelle die andere Seite von Thomas Manns Nietzsche-Bild. Wir deuteten bereits an, daß dieses Bild ein Doppelbild ist. Nietzsche wird hier als Ethiker, als Moralist verstanden, als letzter Nachfahre einer Familie protestantischer Geistlicher, geprägt von platonisch-christlicher Tradition, ganz im Sinne seiner tiefsten Selbstdeutung, die er in der dritten Abhandlung der »Genealogie der Moral« unter der bezeichnenden Überschrift »Was bedeuten asketische Ideale?« gegeben hat. Damit aber ist die Beziehung zu Luther hergestellt. Thomas Mann folgt hier ganz dem Bilde, das Ernst Bertram in seinem im gleichen Jahr wie die »Betrachtungen eines Unpolitischen« erschienenen Budi »Nietzsdie. Versuch einer Mythologie« von Nietzsche gibt. Die zitierte Stelle aus den »Betrachtungen eines Unpolitischen« ist im Grunde ein bloßes Referat von Bertramschen Gedanken. Die Zusammenstellung Nietzsches, Luthers und Dürers geht ganz auf Bertram zurück; auch bei ihm spielt dabei der von Thomas Mann erwähnte Kupferstich a

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Hervorhebungen von uns.

eine wichtige Rolle. Das zweite Kapitel des Bertramsdien Buches heißt geradezu »Ritter, Tod und Teufel«. Luther bedeutet für Bertram »den ältesten deutschen Namen in Nietzsches geistiger Ahnentafel«. 4 Weiter heißt es über Nietzsdies »Christlichkeit«: »Fraglos ist der Dichter des Propheten Zarathustra, von der geziemenden Höhe aus betrachtet, eines der großartigsten Phänomene innerhalb der Geschichte nordisdien Christentums, ja mit dem nötigen Zartgeist verstanden, selbst innerhalb der >KirchengeschichteRitter, Tod und Teufel·, dieses am meisten >protestantisdie< Blatt Dürers, voll Paulustapferkeit und Pauluszuversicht - >Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?< - m u ß t e wohl wie kein anderes dürersches Werk eine Funkenbrücke hinüberschlagen zwischen diesen beiden reformatorischen Meistern, welche als Künstler freilich k e i n e n Sinn, k e i n b Organ, kaum einen Zug gemeinsam haben - es sei denn ihrer beider tiefe Südsehnsucht, mit der sie so deutsch, so verhängnisvoll deutsch in der Geschichte der Kunst wie des Geistes verzeichnet stehen.«7 So vage die Beziehung zwischen Nietzsche und Dürer sachlich ist, so eng ist sie subjektiv für Thomas Mann. Ein zu Dürers 400. Todestag 1928 für a »Da möchte sich ein trostlos Vereinsamter kein besseres Symbol wählen können, als den Ritter mit Tod und Teufel, wie ihn uns Dürer gezeichnet hat, den geharnischten Ritter mit dem erzenen, harten Blicke, der seinen Schreckensweg, unbeirrt durch seine grausen Gefährten, und doch hoffnungslos, allein mit Roß und Hund zu nehmen weiß. Ein solcher Dürerscher Ritter war unser Schopenhauer: ihm fehlte jede Hoffnung, aber er wollte die Wahrheit.« (Die Geburt der Tragödie. Abschn. 20, zit. n.: Friedrich Nietzsche. Werke. Hrsg. v. Karl Sdilechta. München: Hanser 1954, Bd. I, S. 113.) b Hervorhebungen bei Bertram.

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die »Hamburger Nachrichten« gesdiriebener Aufsatz Manns beginnt mit den Worten: »Dürer kann ich nicht denken, ohne daß ein anderer, näherer Name sich zugesellt: Nietzsches reiner und heiliger Name.« 8 Der zitierte Passus aus den »Betrachtungen« über Nietzsche und seine protestantische Herkunft, zu deren Kennzeichnung der Dürersche Stich herangezogen wurde, kehrt darin fast wörtlich wieder, nun unter die Uberschrift »Dürer« gestellt, während die Erwähnung Nietzsches jetzt der näheren Verdeutlichung dient. Zwar muß man in Rechnung stellen, daß es sich bei dem kleinen Düreraufsatz - er umfaßt wenig mehr als drei Druckseiten - um eine Auftragsarbeit handelt, für die Thomas Mann die »Betrachtungen eines Unpolitischen« ausschrieb, aber dieses Austauschen wäre nicht möglich gewesen, wenn für Thomas Mann diese beiden geistigen Gestalten - und wieder wird Luther als Dritter genannt - nicht zusammengehörten. Zehn Jahre nach dem Abschluß der »Betrachtungen eines Unpolitischen« hält Thomas Mann also noch an diesem Gedanken- und Gefühlskomplex fest, der dann spät im »Doktor Faustus« gestaltet wird. Im Zusammenhang des hier in Rede stehenden Beziehungskomplexes fällt sogar schon das Stichwort »faustisch«. Im unmittelbaren Anschluß an die zitierte Stelle aus den »Betrachtungen eines Unpolitischen« heißt es: »>Mir behagt an Wagnerwas mir an Schopenhauer behagt: die ethische Luft, der f a u s t i s c h e D u f t , a Kreuz, Tod und Gruft.< Das war um jene Zeit, als er zu Basel dreimal in einer Woche - der Karwoche - die Matthäus-Passion hörte.. .«9 Auch dieses Nietzsche-Zitat findet sich bereits in dem Kapitel »Ritter, Tod und Teufel« 1 0 von Bertrams Buch und enthält nun wirklich fast schon ausgesprochenermaßen wenn nicht den Plan, so doch die geistige Welt und Stimmung des Romans. Nicht besser als mit den zitierten Worten könnte die altdeutsch-theologische Atmosphäre gekennzeichnet werden, die die Heimatstadt Kaisersaschern, aber auch im weiteren die geistige Welt des neuen Faustus bezeichnet. Wird zum einen Nietzsches krankhafte Euphorie zu der vom alten Doktor Faust durch den Teufelspakt gewonnenen Omnipotenz in Beziehung gesetzt, so erscheint hier, da Nietzsche als Ethiker begriffen wird, auch Faust in einem anderen Licht. Wenn es heißt: »die ethische Luft, der faustische Duft, Kreuz, Tod und Gruft«, so ist auch Faust ganz in eine Welt christlich-protestantischer Ethik gerückt.

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Hervorhebung von uns.

ζ. Kaisersasdiern Die erste Notiz zur Situierung der Geschichte lautet: »[Bl. 46] Dorf Pfeiffering oder Pfeffering, in der N ä h e Berg Rohmbühel Gut Büchel, nahe bei der Stadt X . «

Offenbar war Thomas Mann zu diesem Zeitpunkt schon entschlossen, dem Volksbuch in bezug auf Herkunft und Jugend seines Helden zu folgen und ihn also auf einem Bauernhof oder auf einem Gut aufwachsen zu lassen. Wir finden hier nebeneinander zum einen den Namen Pfeiffering, der im Roman das oberbayerische Dorf bezeichnet, zu dem der Schweigestillsche Hof gehört und in dessen Nähe der Rohmbühel liegt, zum andern den Namen des Leverkühnschen Hofes, Büchel. Es ist nicht festzustellen, ob das Zusammenstehen dieser Namen bedeutet, daß Thomas Mann schon zu diesem Zeitpunkt die Identität der beiden Schauplätze von Leverkühns Leben im Auge hatte oder ob »Pfeiffering« hier noch für das spätere Oberweiler, den Ort, zu dem der Leverkühnsche Hof gehört, vorgesehen war und »Rohmbühel« für den späteren Zionsberg. Sowohl den Namen Pfeiffering wie auch den des Berges Rohmbühel fand Thomas Mann im Volksbuch." Wir haben hier zunächst mit der Notiz »Gut Büchel, nahe bei der Stadt X.« zu tun. Hier durchdringen sich zwei Quellen. In einer Quelle, auf die wir noch eingehender zu sprechen kommen werden,12 in dem 1494 erschienenen, von den Inquisitoren Jakob Sprenger und Heinrich Institoris verfaßten berüchtigten »Hexenhammer« findet sich der Name Büchel. Es heißt dort: »Ähnlidies ereignete sich in der Diözese Basel, auf dem Gute Büchel, nahe bei der Stadt Gewyll.«13 Der »Hexenhammer« - dies sei hier in aller Kürze schon angedeutet - diente Thomas Mann dazu, den mittelalterlichen Hexenwahn zu schildern, der angesichts der mittelalterlichen Monumente und der »mittelalterlichen« Atmosphäre Kaisersasdierns nidit mehr so ganz unvorstellbar erscheint, wie der Erzähler im Roman sagt. Die andere Quelle, die hier wichtig wird, ist natürlich das Volksbuch. Wir zitierten schon die Stelle, wo es heißt, Faust sei »eines Bauwern Sohn gewest, zu Rod, bei Weinmar bürtig, der zu Wittenberg eine grosse Freundschafft gehabt«. Wie der Plan sich ausgebildet hatte, war Weimar, das Assoziationen an die deutsche Klassik, nicht aber an die Reformationszeit hervorrief, nicht geeignet. Es war also die »Stadt X.« in der Luthergegend, die realisiert werden mußte, und dieses Streben nach Realisierung stellt einen für Thomas Manns Arbeitsweise exemplarischen Vorgang dar. Was er zunächst befragt, ist - das Konversationslexikon. Es handelt sich um Meyers dreibändiges Lexikon (8. Auflage, 1931/32). War 47

die erste Idee »sagenhaft, märchenhaft«, war sie dann durch bestimmte Ideenassoziationen bereichert worden, so galt es nun - und das sdieint uns nidit untypisch für Thomas Manns Arbeitsweise - ganz genau zu sein, sich eine ganz konkrete Vorstellung zu verschaffen. Eine Reihe der so gewonnenen Details, die zunädist nötig waren, konnte bei der Niederschrift des Romans schließlich wieder entbehrt werden. Unmittelbar an die N o t i z »nahe bei der Stadt X . « schließt sich das folgende Exzerpt aus Meyers Lexikon an: »[Bl. 46] Wittenberg im Regbz. Merseburg, an der Elbe, hat (19zj) 23000 Einwohner, ist Bahnknoten. Hat Eisenindustrie, Chemikalien, Mühlen, Gärtnerei. Hafen. Luthermuseum. Schloßkirche mit Luthers und Melandithons Grab. Seit 1260 Hauptstadt von Sachsen-Weimar. 1502-1817 Universität. Merseburg Hauptstadt des Regbezs, an der Saale, hat (1925) 26000 Einwohner. Bahnknoten, Masdiinen-diem.-Papier-Industrie, Gießereien, Leder, Bier. Museum, Bibliothek. Schloß und Dom. Ungarnsdhlacht 933 bei Ritterburg. Bistum 968-81 und 1004-1561. Sachsen-Merseburg, albertinische Nebenlinie 1657-1738. - Aus dem 10. Jahrhundert Merseburger Zaubersprüche., zwei nach dem Fundort genannte Zaubersprüdie, alliterierend, Fuldaer Mundart, 10. Jahrh. Eisleben, Provinz Sachsen, bei Merseburg, hat (1925) 24000 Einwohner. Bahnknoten. Kali- Kupfer- Silberbergbau (z.T. von den heute wirtsdiaftl. unbedeutenden Gruben unterteuft). Mansfeld Akt.Ges. für Bergbau u. Hüttenbetrieb. Fabrikation von Maschinen und Möbeln. Museen. Wird 944 zuerst genannt, in der Grafschaft Mansfeld. 1780 sächsisch 1815 preußisch. Geburtsund Sterbeort Luthers.« Es folgen die gleidifalls vollständigen Exzerpte der Lexikon-Artikel über Mansfeld und Sangerhausen. Auf Bl. 60 werden, ohne daß allerdings E x zerpte angefertigt werden, die Orte Eisenberg, Spangenberg, Tolleth, Möhra, Celle, Eisleben, Borna, Herford, Schlitz im Voigtland genannt. D a ß der Artikel über Schmalkalden und der über den Schmalkaldischen Bund abgeschrieben werden, geschieht wegen der Einschlägigkeit für den Luther-Bereich. Im Roman heißt es dann schließlich: »Die Leverkühns waren ein Geschlecht von gehobenen Handwerkern und Landwirten, das teils im Schmalkaldischen, teils in der Provinz Sachsen, am Lauf der Saale blühte.« 14 Die beiden letzten Lexikonartikel, die abgeschrieben werden, sind die über Quedlinburg und Wolfenbüttel: »[Bl. 60] Quedlinburg: im Regbez. Magdeburg, an der Bode, 27 000 Einw., Bahnknoten, Samenhandel, Gärtnereien, Armaturen, Tuch, Maschinen, Glas, Leder, Bibliothek, Museum. Alte Kirche, Schloßkirdie mit Grabmälern Heinrichs I. u. Gemahlin, Burg. Südlich von Halberstadt, nördlich von Aschersleben, dieses nördlich von Eisleben. Nordwestlich Braunsdiweig und Wolfenbüttel, an der Oker, 19000 Einwohner, Bahnknoten, Flachs- u. Jutespinnerei, Maschinen, Leder, Tabak, 48

Konserven, Museen, Archiv, Bibliothek (300000 Bde, 10000 Handschriften). Marienkirche, Schloß. Bis 1754 Residenz.« Greifen wir aus diesem Exzerpt die Stelle heraus: »Schloßkirche mit Grabmälern Heinrichs I. u. Gemahlin, Burg. Südlich von Halberstadt, nördlich von Aschersleben [...]«, so liegt die Vermutung nahe, daß die hier vorliegende zufällige Verbindung von »Kaisergrah« und »Asch ersieben« Thomas Mann die Idee eingab, die »Stadt X . « Kaisersasdoern zu nennen. Gerade hier liegt nun der glückliche Fall vor, daß nicht bloß zum einen diese Exzerpte und zum andern der fertige Text, wie er sidi im Roman findet, vorliegen. Im Notizenkonvolut befindet sich auch ein Blatt, das die Beschreibung von Kaisersaschern enthält. Sie ist recht weit ausgearbeitet, lehnt sich aber im Vergleich mit den entsprechenden Partien des Romans nodi enger an die Exzerpte an: »fBl. 113] Kaisersaschern: an der Saale, Reg.bezk. Merseburg, südlich von Halle, gegen das Thüringische hin. Weder Halle noch Leipzig, noch auch Weimar, noch selbst Dessau und Magdeburg sind fern, aber die Stadt, mit ihren 27000 Einwohnern, Bahnknotenpunkt ist durchaus komplett und sich selbst genug, fühlt sidi wie jede deutsche Stadt als ein Kulturcentrum von geschichtlicher Würde. Nährt sich von versch. Industrieen, wie Maschinen, Leder, Spinnereien, Samenhandel u. Gärtnereien, Armaturen, Chemikalien und Mühlen. Hat ein Museum, sehr schätzenswerte Bibliothek von 25 000 Bänden und f 000 Handschriften, mit zwei alliterierenden Zaubersprüchen aus dem 10. Jahrhundert, Fuldaer Mundart. Schloß und Dom. War Bistum 968-81 und 1004-1561. Im Dom (oder der Pankratius-Kirche) Grabmal Kaiser Ottos III., Sohnes der Adelheid und Gemahls der Theophano, Imperator Romanorum, Saxonicus, der 1002 nach seiner Vertreibung aus Rom, dem geliebten, starb, und dessen Reste, obgleich er zeit seines Lebens so sehr unter seinem Deutschtum gelitten hatte, nach Kaisersaschern gebracht wurden. Die Stadt hatte oder hat Kali-, Kupfer-, Silberbergbau und ist ζ. T. von den heute wirtschafll. unbedeutenden Gruben unterteuft. Aktiengesellschaft für Bergbau und Hüttenbetrieb. K. hat atmosphärisch u. selbst in seiner Architektur etwas stark Mittelalterliches bewahrt. Alte Kirchen. Konservierte Bürgerhäuser und Speicher, Bauten mit offen sichtbarem Holzgebälk und überhängenden Stockwerken. Dergleichen stellt für das Lebensgefühl die Kontinuität mit der Vergangenheit her: es ist derselbe Ort, wie i. J. 1600, i.J. 1000, und die Identität des Ortes behauptet sich gegen den Fluß der Zeit, der fBl. 114] darüber hingeht und vieles fortwährend verändert, während einiges, aus Pietät, aber auch aus einem gewissen Trotz gegen die Zeit, zur Erinnerung stehen bleibt. In der Luft ist etwas hängen geblieben von der Verfassung des Menschengemüts in den letzten Jahrzehnten des 1 J.Jahrhunderts, Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie: man könnte sich denken, daß plötzlich eine Kinderzug-Bewegung, St. Veitstanz, die visionär-kommunistischen

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Predigten irgend eines >HänseleinOriginale< und Sonderlinge, harmlos-halb Geisteskranke, die in ihren Mauern leben und gleichsam, wie die alten Gebäude, zum Stadtbilde gehören. Ihr Gegenstück bilden die Kinder, die >Jungensaltem Weib< stand zu gewissen Zeiten ohne Weiteres im Verdacht der Hexerei; es ergab sich einfach aus einem pittoreskschlimmen Aeußeren, das sich aber wohl unter dem Einfluß des Verdachtes erst recht ausbildete u. volkstümlich-wie es im Buche steht, bildgerecht wurde: klein, greis, gebückt, tückisch, mit Triefaugen, Schnabelnase, dünnen Lippen, Krückstock, der drohend erhoben wird, womöglich im Besitz von Katzen, einer Eule, eines redenden Vogels. Kaisersaschern umschließt immer mehrere Exemplare dieses Typs, die populärste, gefürchtetste ist die Keller-Liese, die auch dem ganz Ungestimmten Grauen [Bl. 1 1 5 ] erregt. - Dann der Mann unbestimmten Alters, der bei jedem plötzlichen Ruf eine Art von zuckendem Tanz, mit hochgezogenem Bein ausführen muß und traurig-häßlich-entschuldigend den Gassenkindern zulächelt, die ihn johlend verfolgen. - Dann Mathilde Spiegel, mit Schleppkleid und >Fladus< (>SchmeicheleiTüdelüt!< hinzuzufügen, wonach er auch heißt.« Kaisersaschern ist also aus mehreren realen Orten zusammengestückt, das Eigentümliche aber ist dabei, daß Thomas Mann nicht etwa mehrere reale Orte, die er aus Anschauung kennt, zu einem einzigen zusammenzieht, sondern daß er von einer Beschreibung dieser Orte, wie sie im Konversationslexikon erscheint, ausgeht. E s ist kaum nötig, auf alle Übernahmen im einzelnen zu verweisen. Es seien hier nur die auffallendsten hervorgehoben: »Zaubersprüche« und »Bistum« stammen aus dem Artikel »Merseburg«, die »Bibliothek« aus dem Artikel »Wolfenbüttel«, das »Kaisergrab« aus dem Artikel »Quedlinburg« und der Bergbau aus dem Artikel »Eisleben«. Es entsteht eine eigentümliche A r t von Schein- oder H a l b realität, die am deutlichsten an der Stelle wird, da der historische Kaiser Otto I I I . an einem imaginären Ort beigesetzt ist. Bekanntlich befindet sich ja das Grab Ottos I I I . in Wirklichkeit in der Kaiserstadt Aachen. A n Felix Krulls A r t , das gerade »Aufgeschnappte« gleich weiter zu verwerten, mag man sich erinnert fühlen, wenn Thomas Mann, soeben durch das Lexikon über die Merseburger Zaubersprüche belehrt, die Quelle nicht

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nur verwertet, sondern humoristisch überbietet, indem er Zeitblom berichten läßt, die in Kaisersasdiern aufbewahrten Zaubersprüche würden von einigen Gelehrten f ü r »noch älter erachtet [ . . . ] als die Merseburger«. 15 Das so zusammengesetzte Kaisersasdiern wird dann aber genau situiert, d. h. zu realen Orten in Beziehung gesetzt. Zeitblom macht sich ja besondere Mühe, den »Ausländer« zu »bedeuten«, 16 wo seine und Leverkühns Heimatstadt liegt. Nicht gerade an der Stelle, wo sich im Roman die Beschreibung Kaisersascherns findet, sondern 3$ Seiten vorher heißt es, Kaisersaschern sei gelegen »im Herzen der Luther-Gegend, welche die Städtenamen Eisleben, Wittenberg, Quedlinburg, auch Grimma, Wolfenbüttel und Eisenach umschreiben«. 17 Dies aber sind fast genau die Orte, über die Thomas Mann sich die Lexikonexzerpte machte, aus denen er sein Kaisersaschern zusammensetzte. Ein Stichwort aus dem Konversationslexikon verhilft dazu, die H a u p t idee des Buches zum Ausdruck zu bringen. In dem Artikel über Eisleben hatte es geheißen: » [ . . . ] z . T . von den heute wirtschaftl. unbedeutenden Gruben unterteufl.« Dieser hier in ganz prosaischem Zusammenhang stehende, allerdings ungewöhnliche Ausdruck wird von Thomas Mann aufgenommen und ins Symbolische ausgeweitet: Kennzeichen Kaisersascherns sei eine »altertümlich-neurotische Unterteuflheit«, heißt es nun mit einer berühmt gewordenen und in jeder Interpretation des »Doktor Faustus« zitierten Wendung. Mit »Unterteuflheit« aber wird die Tatsache bezeichnet, daß die scheinbar moderne deutsche Stadt, die Handel treibt und moderne Fabriken hat, in Wahrheit einen mittelalterlichen oder archaischen Untergrund hat. Schon in den ersten beiden Abschnitten der Kaisersaschern-Notiz, die rein Faktisches vermitteln, findet sich diese Doppelheit angedeutet, wenn von der modernen Industrie einerseits und den Zaubersprüchen und dem Kaisergrab andrerseits die Rede ist: » [ . . . ] die Identität des Ortes behauptet sich gegen den Fluß der Zeit, der darüber hingeht und vieles fortwährend verändert, während einiges, aus Pietät, aber auch aus einem gewissen Trotz gegen die Zeit, zur Erinnerung stehen bleibt.« Die Vergangenheit ist jeden Augenblick bereit, aus dem »Unterirdischen« wieder hervorzubrechen, während Gewerbefleiß und Industrie scheinbar die Modernität beweisen. Offensichtlich hat Thomas Mann bei den Exzerpten der merkwürdig ähnlichen Lexikon-Artikel schon die Gleichzeitigkeit der Gegebenheiten fasziniert: Industrie und historische »Reste« jeder Art wie Museum, Dom, Schloß, Grabmäler, die in keiner dieser deutschen Städte fehlen. Die Angabe über den Eislebener Bergbau schließlich bringt mittels des Ausdrucks »Unterteuflheit« die Bereiche von Industrie und »Unterirdischem« zusammen. D a ß an die Stelle von Heinrich I., der in

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Quedlinburg begraben ist, im Roman Otto III. a getreten ist, von dem es heißt, daß er unter seinem Deutschtum gelitten habe, geschah nicht ohne Grund: Ein weiteres zentrales Motiv, die »deutsche Selbst-Antipathie«, 18 die dem Helden des Romans wie seinem realen Modell Nietzsche in so hohem Maße eigen ist, wurde auf diese Weise geschickt in das Ideengeflecht des Romans verknüpft. Es bleibt noch eine weitere Quelle zu nennen, die bei der Schilderung von Kaisersaschern Verwendung fand. Welche Rolle Dürer bei der Konstituierung der »altdeutschen« Atmosphäre der Geburtsstadt des Helden spielt, deuteten wir bereits an. Thomas Mann hat es nicht mit den ungefähren Anmutungen gut sein lassen, die er in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« und in der Dürer-Skizze zum Ausdrude brachte, sondern hat sich näher über den Gegenstand unterrichtet, indem er das damals populärste Dürerbuch, Wilhelm Waetzoldts »Dürer und seine Zeit« »mit dem Bleistift« 19 studierte. Auf das Waetzoldtsche Budi werden wir übrigens in einem späteren Kapitel, in dem die Konstituierung der Zeitebenen verfolgt wird, noch eingehender zu sprechen kommen.20 Hier vorerst nur soviel. Wenn es in der zitierten Kaisersaschern-Notfc heißt: »[Bl. 1 1 4 ] In der Luft ist etwas hängen geblieben von der Verfassung des Menschengemüts in den letzten Jahrzehnten des 1 J.Jahrhunderts, Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie: man könnte sich denken, daß plötzlich eine Kinderzug-Bewegung, St. Veitstanz, die visionär-kommunistischen Predigten irgend eines >HänseleinHänseleinNürnberg< gesagt, wo Nietzsche das unberührtere Rothenburg nennt); das Deutschland Luthers, Dürers und der ältesten deutschen Musik, das winklig fromme und zugleich unbeugsam protestierende Deutschland, aus dem Nietzsche seine ältesten Ahnenkräfte zieht, dem er den eigentlichen Rhythmus seines theologischen und reformatorischen Blutes verdankt - das meistersingerliche Deutschland, dem er im >Jenseits< das schönste Denkmal geformt hat mit der großen Analyse des Meistersinger-Vorspiels, als eines Gleichnisses deutschen Wesens und im innersten heimlichen Schatten seiner selbst.« 23 Die zitierte Stelle ist übrigens in Thomas Manns eigenem Exemplar, das er von Bertram gleich nach dem Erscheinen, mit einer Widmung versehen, erhielt, angestrichen, wobei natürlich nicht festzustellen ist, ob die Anstreichung aus der Zeit der ersten Lektüre oder aus der Zeit der Arbeit am »Doktor Faustus« stammt. In der »Entstehung des Doktor Faustus«, in der so viele Quellen genannt werden, wird übrigens gerade das Thomas Mann so vertraute Bertramsche Budi nicht erwähnt. Im Roman schließt sich an die Schilderung der Originale die Beschreibung von Nikolaus Leverkühns Haus an, in dem Adrian Leverkühn seine G y m nasiastenjahre verbringt: »[S. 61 ] Es war eine stille Lage, abseits der Geschäftsgegend von Kaisersaschern, der Marktstraße, der Grieskrämerzeile: eine winklige Gasse ohne Trottoir, nahe dem Dom, in der Nikolaus Leverkühns Haus sich als das stattlichste hervortat. Dreistöckig, die Räume des abgesetzten und erkerförmig ausgebauten Daches nicht mitgezählt, war es ein Bürgerhaus aus dem 16. Jahrhundert, das schon dem Großvater des Besitzers gehört hatte, mit fünf Fenstern Front im ersten Stock über dem Eingangstor, und nur vieren, mit Läden versehenen, im zweiten, wo erst die Wohnräume lagen und außen, über dem schmucklosen, ungetünchten Unterbau, die Holzwerk-[62] dekoration begann. Selbst die Stiege verbreiterte sich erst nach dem Podest des ziemlich hoch über der steinernen Diele gelegenen Halbgeschosses, so daß Besucher und Käufer - und es kamen solche auch vielfach von auswärts, von Halle und selbst von Leipzig - einen nicht unbeschwerlichen Aufgang zu dem Ziel ihrer Wünsche, dem Instrumenten-Magazin hatten, welches, wie ich gleich zu zeigen gedenke, allerdings eine steile Treppe wert war.« Die merkwürdig

genaue Beschreibung

dieses

»Bürgerhauses aus

dem

16. Jahrhundert« mag manchem Leser des »Doktor Faustus« vertraut vorgekommen sein, und nicht ohne Grund. J . Elema hat in seinem Aufsatz »Thomas Mann, Dürer und >Doktor FaustusLindenbaum< gelinde gesagt. Ich habe in der Neuen Freien Presse [v. IJ. 3. 1925: »Deutschland und die Demokratie«] gegen die schändliche Ausbeutung der romantischen Triebe des deutschen Volkes geschrieben und gesagt, daß ich >stolz sein werde auf die politische Zucht und den Lebens- und Zukunftsinstinkt unseres Volkes, wenn es am Sonntag darauf verzichtet, einen Recken der Vorzeit zu seinem Oberhaupt zu wählen.< Soweit hat der kleine Hans [Castorp] es gebracht!« 57

durdi das Kanonsingen mit der Magd in die Musik eingeführt. Zu ähnlichen Verhältnissen fühlt er sich stets hingezogen, und schließlich kehrt er zu diesem Ausgangspunkt, dem »Lindenbaum«, zurück. Geistig umnachtet, wieder zum Kind geworden, sitzt er am Sdiluß des Romans wieder unter der Linde. In schauerlicher Weise scheint sidi der Vers aus dem Lied bewahrheitet zu haben: »Komm her zu mir, Geselle - hier findst du deine Ruh«. - Es heißt im Roman: »Viel saß er auch, seinem Hindämmern von den Hofleuten bereits mit Seelenruhe überlassen, im Schatten des Baumes auf der Ruhebank, dort, wo einst die plärrende Stallhanne Kanons mit uns Kindern geübt hatte.«27 Zeitblom berichtet von seinem vorletzten Besuch bei dem umnachteten Freund: »Für meine Person sah ich den teueren Mann wieder im Jahre 1935, als ich [ . . . ] zu seinem fünfzigsten Geburtstag als trauernder Gratulant mich auf dem Buchelhof einfand. Die Linde blühte, er saß darunter.«28 Im »Zauberberg« ist im Symbol des Liedes vom »Lindenbaum« von der zweifelnden Liebe des Autors zu Deutschland die Rede, und diese ist auch ein Grundthema des »Doktor Faustus«. Beim »Zauberberg« wie beim »Doktor Faustus« handelt es sich um die Geschichte einer Selbstüberwindung, zwar nicht um ein Verneinen, aber doch ein Eindämmen von früh Geliebtem. Nicht zufällig ähneln sich die Schlüsse der beiden Romane, mit dem Ausdruck der zagen Hoffnung auf die Zukunft. Das Lied vom »Lindenbaum« vor sich hinsingend, entschwindet der »einfache Held« des »Zauberbergs« den Augen des Lesers. Beim Hören der Schubert-Platte hatte er sein Verhältnis zu dem Lied bedacht und sich selbst gesagt: »Aber wer dafür starb, der starb schon eigentlich nicht mehr dafür und war ein Held nur, weil er im Grunde schon für das Neue starb, das neue Wort der Liebe und der Zukunft in seinem Herzen — . « 2 9 Der »Zauberberg« klingt aus mit der Frage: »Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?«,30 und am Schluß des »Doktor Faustus« steht ganz ähnlich die Frage: »Wann wird aus letzter Hoffnungslosigkeit, ein Wunder, das über den Glauben geht, das Licht der Hoffnung tagen?« 81

4. Pfeiffering Auch bei der Konstituierung des Ortes Pfeiffering und des Hofes Schweigestill begegnet die Durchdringung von Persönlichem und Literarischem. So erscheint der reale Ort Polling in Oberbayern, wo Thomas Manns Mutter einige Jahre lebte und sein Bruder Viktor ein Jahr als landwirtschaftlicher Volontär auf dem Hof Schweighart verbrachte,32 unter einem Namen, der

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ihn der faustischen Sphäre zuordnet. Der reale Name des Hofbesitzers wird leicht, aber bedeutungsvoll in »Schweigestill« geändert und kann so zu einem wichtigen Leitmotiv des Romans werden. Es wird damit angespielt auf das »ruhige Verständnis«,88 mit dem Leverkühns Wirtsleute, besonders Frau Schweigestill, ihrem schwierigen Mieter begegnen. Der Hof Schweigestill bietet sich für Leverkühn als Ort der Zurückgezogenheit und der Weltflucht an. a Das Motiv des Schweigens wird an bedeutsamer Stelle, im Teufelsgespräch, aufgenommen, in dem ja der stillschweigend - durch die Ansteckung - geschlossene Pakt zum erstenmal mit Worten bestätigt wird. Indem der Böse erscheint - mag man die Begegnung nun als »real« oder von Leverkühn imaginiert ansehen - , wird das seit Jahren herrschende Schweigen zwischen den beiden Vertragspartnern erstmals gebrochen. »Aber gesehen hab ich Ihn doch, endlich, endlich; [ . . . ] bin recht ausgiebig mit Ihm zusprach kommen«,34 notiert sich Leverkühn nach der Begegnung, aber als im Gespräch der Böse - oder er sich selbst - die Dinge beim Namen nennt, reagiert er immer wieder mit dem abwehrenden Ausruf: »Schweig!«,35 worauf ihm sein Besucher erwidert: »Ich bin doch nicht von der Familie Schweigestill.«36 »Weistu was so schweig.«37 Mit diesen Worten beginnen programmatisch Leverkühns Aufzeichnungen über das Gespräch, und die Tatsache, daß er die problematischen Bewandtnisse seines Lebens nur dem Papier, keinem Mitmenschen anvertraut, bedeutet schon, daß er sich an das Gebot hält, das er sich damit auferlegt hat; er schweigt, um seine Mitmenschen mit seinen »teuflischen« Angelegenheiten zu verschonen. Die Worte »Weistu was so schweig« aber stammen aus dem Volksbuch, und zwar bezeichnenderweise aus dem Kapitel »Wie der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltzamen spöttischen Schertzreden und Sprichwörtern zusetzt«, in Antwort auf Fausts verzweifelte Klagen darüber, daß er den Pakt geschlossen und auf sein Seelenheil verziditet hat. Seine Verzweiflung wird von dem bösen Geist mit harten Worten nur nodi verstärkt, unter anderem mit den Versen, von denen der zitierte den Anfang bildet: »Weistu was so schweig, / Ist dir wol so bleib. / Hastu was, so behalt, / Vnglück kompt bald. / Drumb schweig, leyd, meyd vnd vertrag, / Dein Vnglück keinem Menschen klag. / Es ist zu spat, an Gott verzag, /Dein Vnglück läufft herein all tag.« 38 Für die Beschreibung des Hofes wird die Erinnerung mobilisiert und Details wie »Knastergeruch« und »etwas modrige Korridorgänge« notiert: a

Andre von Gronicka sieht in Leverkühns Abgeschiedenheit in Pfeiffering eine Parallele zu der Nietzsches in Sils Maria ( A . v . G., Thomas Mann's Doktor Faustus. Prolegomena to an Interpretation. In: The Germanic Review 2 3 , 1948, S. 2 0 6 - 2 1 8 , vgl. bes. S. 210). 59

» [Pag. Arch. Bl. 1 6 2 ] Pfeiffering bei Waldshut a . Rohmbühel, Klammerweiher. Schweigestills. Ulmen auf dem H o f . Klostergebäude mit dicken Mauern, gewölbten Fensternisdien, etwas modrigen Korridorgängen. Knastergeruch, der Erbsohn Gereon. Jüngere Tochter Clementine. Hofhund Kaschperl. Stallmagd Waltpurgis. ca. 50 Morgen Aecker u. Wiesen. Ein Wald.«

Adrian Leverkühns Arbeitszimmer in diesem Hause aber ist ganz und gar nicht nach privaten Erinnerungen geschildert. Bei der Vergegenwärtigung von Leverkühns persönlichem Lebensrahmen hat Thomas Mann vielmehr abermals auf Traditionsbestände zurückgegriffen. In Waetzoldts Dürerbuch findet man nach S. 192 eine Photographie von Dürers Arbeitszimmer und kann feststellen, daß die »Abtsstube« bis ins geringste Detail hinein nach dieser Abbildung beschrieben ist - von der »gepreßten Ledertapete unter der Balkendecke«, der »Wandnische«, in der ein »kupferner Wasserkessel über einem ebensolchen Becken« hängt, dem »Wandschrank, der mit eisernen Spangen und Schlössern beschlagen« ist, bis zu der »Edibank, mit Lederkissen belegt« und dem Tisch mit dem aufgesetzten »geschnitzten Studierpult« und dem ausladenden »Kronleuchter b «. 39 Angesichts der Tatsadie, daß es sich bei Leverkühns Arbeitszimmer in Wahrheit um das Dürerzimmer handelt, mag Thomas Mann dann nicht ohne geheimen Spaß von der Niederlassung und dem Sich-Einrichten seines Helden erzählt haben, von der »Elektrifizierung des Kronleuchters«, dem Aufstellen von Bücherborden - »nicht höher jedoch, als die alte Holzverkleidung unter der Ledertapete« - , der Anschaffung eines Teppidis, der, »im Winter nur allzu notwendig«, die »schadhaften Bretterdielen« bedeckt, sowie eines modernen, samtbezogenen Sessels, der, »ohne Stilzärtelei, die nicht Adrians Sache war«, 40 in diese Umgebung hineingestellt wird. j . Halle Der Faust des Volksbuches wächst in Wittenberg auf, geht dort »zur Schul«, lehrt später an der Universität und verbringt die längste Zeit seines Lebens dort. Wittenberg erweckt ferner die Assoziation an Luther, die Stadt fügt sich damit dem von Thomas Mann geschaffenen System von Bedeutsamkeiten ein. Trotzdem hat er Wittenberg nicht direkt zum Ort a Der Schweighartsdie H o f liegt in der Nähe von Waldshut wie das Pfeiffering des Romans. Bemerkenswert ist nur, daß Thomas Mann in seinem Exemplar des »Hexenhammers« (Bd. 2, S. 49) die Worte »Stadt Waldshut« unterstrichen und später audi in die Notizen übertragen hat (Bl. 109). b Vgl. auch den w. o. zitierten Aufsatz von Elema, S. 98 f.

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der Handlung gemacht. Die Beziehung war möglicherweise zu direkt, überdies wäre die Vorstellung des Lesers zu sehr auf Luther fixiert worden, was nidit im Sinne des Romans sein konnte, da der Nietzsche-Bezug der wichtigere war und Luther erst über Nietzsche, durch die von Bertram hergestellte, von Thomas Mann früh übernommene Beziehung in den ideellen Zusammenhang des sich bildenden Romans gerückt war. Es hatte also gegolten, die »Stadt X . « in der »Luthergegend«, die zugleich »Nietzschegegend« war, zu finden. Thomas Mann hatte sich entschlossen, keine wirkliche Stadt zum Schauplatz der Handlung zu machen, sondern eine imaginäre zu erschaffen, die alle beziehungsvollen Elemente in sich barg Kaisersaschern, w o der neue Faust seine Gymnasiastenjahre verbringt. Inzwischen war auch schon beschlossen worden, den Helden, dem Volksbuch folgend, »Theologiam« studieren zu lassen - wie däs auf Bl. 43 befindliche Exzerpt des Artikels »Theologie« aus Meyers Kleinem Lexikon a beweist - ; es mußte also ein Studienort für ihn gefunden werden.

a »[Bl. 43] Theologie: >Lehre von Gott< hatte als Wissenschaft des christl. Kulturkreises >Gott u. die göttlichen Dinge< zum Gegenstand (Scholastik im Mittelalter, protest. Orthodoxie im 16. u. 17. Jahrhundert), u. so noch vorwiegend im Katholizismus, während sie im Protestantismus zur wissenschaftl. Selbstbesinnung des diristl. Glaubens wird (Schleiermacher). Theologie als Wissenschaft steht der Philosophie nahe und ist stets abhängig von der wissenschaftlichen Grundhaltung der Zeit. So war im Zeitalter des Historismus Harnadc die repräsent. Gestalt der deutschen protest. Theologie, in der Zeit der geistigen Krise nach dem Weltkrieg etwa K. Barth. In den Lehr- und Forschungsbetrieb der Universität eingefügt, hat sich die Theologie allmählich in Teilgebiete ausgegliedert: Historische Th. (Bibelwissenschaft, Kirchen- und Dogmengesdiichte, Konfessionskunde); Systematische Theologie (Religionsphilosophie, Dogmatik, Ethik, Apologetik); Praktische Theologie (Liturgik, Homiletik [Predigtlehre], Katechetik [Unterrichtslehre], Seelsorge, Ekklesiastik [Kirdienkunde], Kirchenrecht). Katholische Theologie versteht sich als Lehre von Gott u. den göttlichen Dingen in den Stufen der >natürlichenübernatürlichen< Theologie. Der Schatz der kirchlichen Lehrverkündigung dagegen bezeichnet für beide den Rahmen, ohne jedoch die Möglichkeit verschiedener theol. Systeme zu unterbinden. Wie stark audi die kath. Th. >Glaubenswissenschaft< sein will, zeigt etwa K . Adam. Aufbau der kath. Th.: Historische (Bibelwiss., Kirchen- u. Dogmengeschichte, bes. Patristik), Systematische (Apologetik [Fundamental-Th.], Dogmatik, Moral-Theol., Kirchenrecht). [ . . . ] « . Es entspricht Thomas Manns Grundverdacht gegen die Theologie, daß sidi gleich an dieses Exzerpt das des Artikels »Teufel« aus dem gleichen Lexikon anschließt, in dem sich übrigens der hebräische Name Sammael oder Samiel und seine Verdeutschung »Engel des Giftes« findet, die im Roman wichtig wird (vgl. Teufelsgespräch, S. 353): »[Bl. 43] Teufel, griechisch Diabolus, >VerleumderWidersachern Im späteren Judentum: Sammael, Samiel, >Engel des Giftes< (d. h. des bösen Prinzips). Personifiziertes Prinzip des Bösen, im

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Anders als der Faust des Volksbuches verbringt der Held des »Doktor Faustus« seine Knaben- und Studienjahre nidit am gleichen Ort. Dies war offenbar von Thomas Mann schon gleich besdilossen, denn die Städte, zu denen er sich Material aus dem Lexikon zusammenstellt und die zur Konstituierung von Kaisersaschern beitragen, haben ausnahmslos keine Universität. Direkt unter dem Exzerpt des Artikels »Sangerhausen« findet sich die Notiz: »[Bl. 46]

Universitäten Göttingen, Greifswald, Halle, Jena, Leipzig.«

Von den hier erwogenen Universitätsstädten schieden Göttingen und Greifswald wohl bald aus, weil sie nicht die einschlägigen Assoziationen auslösen; Leipzig wird Leverkühns zweiter Studienort, und in Jena studiert Zeitblom zeitweilig. Die Universitätsstadt, die im Roman an die Stelle des Studienortes des alten Faust, Wittenberg, trat, mußte in gewissem Sinne ein ebenso altertümliches Gepräge haben wie Kaisersaschern, mußte in gewissem Sinne sogar mit diesem identisch sein. Der Held sollte noch ein wenig in der Atmosphäre der Luthergegend verweilen. Sein Lebenskreis sollte sich, wie es später im Roman heißt, »erweitern«, »aber nicht wesentlich verändern«. 41 So fiel denn die Wahl auf Halle, eine »große Stadt«, aber - noch - »keine Großstadt«, 42 an der Saale gelegen wie das imaginäre Kaiseraschern. Für die Wahl von Halle mag audi die Tatsache gesprochen haben, daß Thomas Manns theologischer Gewährsmann Paul Tillich eine Zeitlang in Halle studiert hat. In seinem ausführlichen Antwortsdireiben auf Thomas Manns Fragebrief über den Aufbau des Theologiestudiums erwähnt Tillich auch seine Zugehörigkeit zur Studentenverbindung »Wingolf« und die gemeinsam mit seinen »Bundesbrüdern« unternommenen »Wanderungen durch Thüringen und zur Wartburg«.® An die Notiz über die Universitäten schließt sich ein Exzerpt aus Meyers Kleinem Lexikon über Halle an, dem wiederum ein Hinweis auf die Exzerpte zu den Städten »Quedlinburg« etc. folgt, die zur Konstituierung Judentum unter Einfluß des Parsismus ausgebildet; vom Urchristentum übernommen als mystische Gestalt des Verführers, Verderbers der Mensdien u. als ihr A n kläger vor dem göttlichen Richter.« Im Zusammenhang mit Leverkühns Studium steht audi ein Exzerpt des Artikels über den protestantischen Theologen Albrecht Ritsdil aus dem Kleinen Meyer

(Bl. 47)a

Aus den Materialien zum »Dr. Faustus«: Paul Tillichs Brief an Thomas Mann 23. j . 43. In: Blätter der Thomas-Mann-Gesellschaft Zürich N r . 5, 1965, S. 4 8 - J 2 , vgl. auch G. Bergsten, S. 4 3 - 4 7 .

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von Kaisersaschern beitrugen. Das Exzerpt über Halle findet sich also ganz im Umkreis der Konstituierung von Kaisersaschern. »[Bl. 46] Halle a. d. Saale, Reg.Bez. Merseburg 1 9 5 0 0 0 Einwohner, [Bl. 4 7 ] Flughafen Halle-Leipzig. Braunkohlengruben in der Umgebung. Salzgewinnung, ehem. von den Halloren betrieben (aus den Salinenarbeitern in Halle hervorgegangener Bevölkerungsanteil mit altertüml. Kleidung und Gebräuchen) Metall- Papier- H o l z - ehem. Industrie. Franckesdie Stiftungen. Universität, gegr. 1694, mit 2200 Studenten. Naturforscher-Akademie (Leopoldina Carolina), Bibliotheken, Museen, Zoologischer und Botanischer Garten. Marktplatz mit Marienkirche (16. Jahrh.) Rathaus und Roter Turm (84 m) Rolandsstandbild, Ruine Moritzburg ( i j 16. Jahrh.) mit Sammlungen. Im Stadtbezirk Solbad Wittekind und Ruine Giebichenstein. W a r Hansestadt bis 1478, kam 1680 an Brandenburg, 1 8 0 7 - 1 3 westfälisch, dann preußisch.«

Vermutlich war zum damaligen Zeitpunkt schon beabsichtigt, den Helden auch an einen zweiten Studienort - im Roman die Großstadt Leipzig — zu führen, denn schließlich war nicht nur das Volksbuch konstituierende Quelle des Romans, sondern auch Nietzsches Leben: Daß Nietzsches Infektion und vermutlich audi die Art, wie er sich diese zuzog, zu den frühesten Ideen gehörte, aus denen sich der Roman speiste, versteht sich nach allem. Nietzsches verhängnisvolles Erlebnis ereignete sidi bei einem Besuch in Köln. Im Roman selbst wird die Anspielung auf Ninive und Babel gebraucht, und eine Großstadt bot sich als Ort eines solchen Erlebnisses eher an als ein erweitertes Kaisersaschern. Ohnehin ließ sich dem Volksbuch nur folgen in bezug auf Jugend und Ende des Helden, in bezug auf Verschreibung, Disputationen und einige Episoden. Was die Erwachsenenjahre des Helden betrifft, so mußte der Faden der Handlung wegführen vom Volksbuch, wenn dieses als allgemeiner Hintergrund auch immer mitverstanden werden muß. Was zwischen Anfang und Ende des alten Faust eingepaßt ist, ist das Leben eines »syphilitischen Künstlers«, im ganzen nach Nietzsches Leben gestaltet, aber sonst durchaus das Leben eines frei erfundenen Helden, des Komponisten Leverkühn. Vermutlich in einem späteren Stadium der Arbeit - das betreffende Exzerpt befindet sich auf der Rückseite von Blatt 46, während sonst die Blätter einseitig beschrieben sind - hat Thomas Mann sich weiteres Material zu Halle zusammengestellt. Hatte er sich bei der Konstituierung von Kaisersaschern mit den Artikeln aus Meyers Lexikon begnügt, so zog er bei der Konstituierung von Halle noch eine weitere Quelle heran. Die lexikographische Kürze, das Aneinanderreihen von Daten und die daraus resultierende Abstraktheit war Thomas Mann vielleicht gerade zugute gekommen, da es darum ging, einen fiktiven Ort zu konstituieren, der etwas wie die Summe der betreffenden realen Orte sein sollte. Größere Ausführlich-

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keit und Anschaulichkeit der Quelle hätten keinen Vorteil gebracht, da es darauf ankam, gerade das Typische einer solchen kleinen, mit Historie beladenen Stadt darzustellen. Mit Halle dagegen sollte eine reale Stadt geschildert werden, und dabei w a r Konkretheit der Quelle von Nutzen: »[Bl. 46, Rückseite] Halle, Provinz Sachsen, in sandiger Ebene am rechten U f e r der Saale, 208 000 Einwohner. Erst 806 erriditet als Festung an der Saale. In [ ! ] 968 wurde Halle mit seinen wertvollen Salzwerken von Otto I. der neugegründeten Erzdiözese Magdeburg gegeben, 981 gab ihm Otto II. den Charakter einer Stadt. Von Anfang an verschiedene Jurisdiktion für die Halloren u. die deutschen Siedler. Interessenkonflikte und Rechtsprechungen führten zu der üblichen gegenseitigen Befehdung während des Mittelalters bei gemeinsamem Widerstand gegen die Ansprüche der Erzbischöfe. Im 13. u. 14. Jahrh. Mitglied des Hanse-Bundes[!]. Seine Freiheit ging unter durch den internen Zwist zwischen den demokratischen Gilden und den patrizischen (panners) [!]. 1478 eröffnete ein demagogisches Mitglied des Stadtrats mit Genossen die Tore den erzbischöfl. magdeburgischen Soldaten. Die Städter unterworfen, u. um sie in check [!] zu halten baute der Erzbisdiof die Moritzburg. Trotz der Gegenanstrengungen der Erzbischöfe von Mainz und Magdeburg drang die Reformation 1522 in die Stadt ein. Durch den Westfälischen Frieden 1648 kam H . ans Haus Brandenburg. Alte, innere Stadt und 2 kleine Städte, Glaudia südlich und Neumarkt nördlich. Im Centrum der Marktplatz mit mittelalterlichem Rathaus u. der gothisdien Marienkirche, datierend hauptsächlich aus dem 16. Jahrh., mit 2 Türmen, die durch Brücke verbunden. Auf dem Platz Bronzestatue Händeis. Moritzkirche (12. Jahrh.) mit schönen Holz-Schnitzereien u. Skulpturen. Dom (gehört seit 1689 zur reformierten, Calvinistischen Kirche, gebaut im 16. Jahrh.). Universität gegründet vom K u r f . Friedr. I I I v. Brandenb. in[!] 1694. Geschlossen von Napoleon 1806 u. 1 8 1 3 , aber 1 8 1 j wieder eröffnet und mit der Universität Wittenberg verbunden. Anerkannt als einer der Hauptsitze der protest. Theologie, ursprünglich der pietistischen, dann der rationalistischen u. kritischen Schule. Castein'sche Bibelanstalt, Centrai-Autorität für die Revision von Luthers Bibel, von der sie jährlich tausende von Copien verkauft.« G a n z offensichtlich handelt es sich auch hier um das Exzerpt eines Lexikonartikels, und die stehengebliebenen Anglizismen legen gleich die V e r mutung nahe, daß es ein englisches Lexikon war, das Thomas Mann hier zu Rate zog. Eine Nachforschung ergab, daß Thomas Mann diese detaillierten Auskünfte über Halle in der »Encyclopaedia Britannica« ( 1 4 . Aufl., 1 9 3 6 ) gefunden hat. Der Artikel lautet dort: »Halle (known as Halle-an-der-Saale, to distinguish it from the small town of Halle in Westphalia), a town in the Prussian province of Saxony, situated in a sandy plain on the right bank of the Saale, which here divides into several arms, 21 m. N.W. from Leipzig by the railway to Magdeburg. Pop. (1933) 208,905.

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Halle is first mentioned as a fortress erected on the Saale in 806. In 968 Halle, with the valuable salt works, was given by the emperor Otto I. to the newly founded archdiocese of Magdeburg, and in 981 Otto II. gave it a charter as a town. From the first there were separate jurisdictions for the Halloren and the German settlers in the town. The conflict of interests and jurisdictions led to the usual internecine strife during the middle ages, and both resisted the pretensions of the archbishops. In the 13th and 14th centuries it was a member of the Hanseatic League. Its liberty perished, however, as a result of the internal feud between the democratic gilds and the patrician panners. In 1478 a demagogue member of the town council, with his confederates opened the gates to the soldiers of the archbishop. The townsmen were subdued, and to hold them in check the archbishop built the castle of Moritzburg. Notwithstanding the efforts of the archbishops of Mainz and Magdeburg, the Reformation found an entrance into the city in 1522. After the peace of Westphalia in 1648 the city came into the possession of the house of Brandenburg. Its situation at the junction of railway lines from Berlin, Breslau, Leipzig, Frankfort-on-Main, the Harz country and Hanover, has developed the commercial and industrial importance of Halle. It consists of the old, inner town and two small towns, Glaucha in the south and Neumarkt in the north. The centre of the town is occupied by the market square, on which stand the mediaeval town hall (restored in 1883) and the Gothic Marienkirche, dating mainly from the 16th century, with two towers connected by a bridge. In the square is a bronze statue of Handel, the composer, a native of Halle. Among the churches, the St. Moritzkirche, dating from the 12th century, with fine wood carvings and sculptures, and the cathedral (belonging since 1689 to the Reformed or Calvinistic diurch), built in the 16th century are worthy of note. The castle of Moritzburg, formerly the residence of the archbishops of Magdeburg was destroyed by fire in the Thirty Years' War, with the exception of the left wing. The university was founded by the elector Frederick III. of Brandenburg (afterwards king of Prussia), in 1694, was closed by Napoleon in 1806 and again in 1 8 1 3 , but in 181 j was re-established and united with the university of Wittenberg. From the first it has been recognized as one of the principal seats of Protestant theology, originally of the pietistic and latterly of the rationalistic and critical school. It is a famous centre of agricultural research. The salt-springs of Halle whidi have been known from a very early period, rise within the town and on an island in the Saale. The workmen employed at the salt works are known as the Halloren. Among the industries of Halle are sugar refining, machine building, the manufacture of spirits, malt, chocolate, cocoa, rubber, confectionery, cement, paper, chicory, lubricating and illuminating oil, wagon grease, carriages and playing cards, printing, dyeing and coal mining (soft brown coal). The trade is considerable, the principal exports being machinery, raw sugar and petroleum. Halle is the seat of several important publishing firms. The Bibelanstalt (Bible institution) of von Castein is .the central authority for the revision of Luther's Bible, of which it sells annually thousands of copies.« Die Schilderung dieser mit deutscher Tradition beladenen Stadt kam also dadurch zustande, daß der Autor in den U S A nach einem englischen Lexikon griff. Dieses lieferte ihm die beziehungsreichen Fakten, die Halle zu

einem wesentlichen Element in jenem Roman machen, der die deutsche Geistesgeschichte seit dem Ausgang des Mittelalters zumindest in einigen wichtigen Grundzügen zur Erscheinung zu bringen versucht. Aus der Vielfalt verschiedenartiger Fakten, die der Artikel aus der »Encyclopaedia Britannica« bot, hat Thomas Mann mit sicherem Blick gerade die Elemente herausgefunden, die in das von ihm ausgebildete Beziehungssystem paßten und dieses bestätigten. Alles, was sich in der »Encyclopaedia« über Industrie und Handel findet, hat er bereits beim Abschreiben weggelassen. Wichtig ist ihm die »Zeitentiefe« der Stadt. Die ersten beiden Sätze des zweiten Abschnitts des Lexikonartikels sind teilweise wörtlich eingegangen in die Beschreibung von Halle, wie sie sich zu Beginn des X I I . Kapitels des Romans findet: »[S. 146] Halle war, wenn audi keine Großstadt, so doch eine große Stadt von mehr als zweihunderttausend Einwohnern, aber trotz allen neuzeitlichen Massenbetriebes verleugnete es, wenigstens im Stadtkern, wo wir beide wohnten, nicht den Stempel hoher Alterswürde. Schließlich sind es tausend Jahre, seit der feste Platz an der Saale mit seinen kostbaren Salzwerken zur neugegründeten Erzdiözese Magdeburg geschlagen wurde, und daß Otto II. ihm den Charakter a einer Stadt verlieh. Hier ebenfalls erfuhr man es, wie eine solche hinter der Aktualität liegende Zeitentiefe beständig mit leiser Geisterstimme in sie hineinspricht, nicht ohne durch beharrende architektonische Male auch dem Auge sidi unmittelbar darzustellen [ . . .].« b

Von noch größerer Einsdilägigkeit aber war der Hinweis: »it has been recognized as one of the principal seats of Protestant theology«, »anerkannt als einer der Hauptsitze der protestantischen Theologie«, wie Thomas Mann verdeutscht. An einen passenderen Ort konnte der Held gar nicht geführt werden. Damit war nidit nur den realistischen Erfordernissen des Erzählens Genüge getan - der Held studiert an einer Universität, an der die von ihm gewählte Fakultät seit jeher in hohem Ansehen stand - , sondern es ergab sich darüber hinaus die Möglichkeit, durch die Ausbreitung der Tradition der Universität den Roman mit »theologischer Atmosphäre« anzureichern. Ganz besonders mußte Thomas Mann der in einem kurzen Satz fast versteckte Hinweis zugute kommen, daß die Universität Halle im Jahre 1815 mit der Universität Wittenberg vereinigt wurde. Wittenberg war ja der Ort des alten Faust und nebenbei Lutherstadt gewesen, und der Artikel »Wittenberg« war der erste, den Thomas a

Wenn es hier etwas unverständlich heißt, daß Otto II. Halle den »Charakter einer Stadt« verliehen habe, so geht dies auf einen Abschreibfehler Thomas Manns - vgl. sein Exzerpt - zurück. In der »Encyclopaedia Britannica« hatte es geheißen: »a charter as a town«, das Stadtrecht also. b Die letzten beiden Sätze sind übrigens in der Wiener Ausgabe (BermannFischer 1948) und allen weiteren Ausgaben nicht mehr enthalten.

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Mann sidi bei der Konstituierung von Kaisersaschern aus Meyers Lexikon exzerpiert hatte. Es war hier schon verschiedentlich davon die Rede, daß »Identität« eines der Schlüsselworte des Romans ist. In dem oben angedeuteten Zusammenhang wird es sogar von Thomas Mann selbst gebraucht. Zeitblom begründet durch den Hinweis auf die »philologisch-pädagogisdien Überlieferungen der Universität«, daß er » [ . . . ] die Brust der A l m a Mater Hallensis anzunehmen besdiloß, die übrigens für die Einbildungskraft den Vorzug der Identität mit der Universität Wittenberg besitzt; denn mit dieser wurde sie bei ihrer Wiedereröffnung nach den napoleonischen Kriegen zusammengelegt.^

Von einem »Vorzug« kann man übrigens nur sprechen im Zusammenhang des von Thomas Mann geknüpften Gedanken- und Anspielungsnetzes. Die Assoziation an Hamlet, die sich bei dem Namen Wittenberg einstellt, wird überraschenderweise von Thomas Mann nicht benützt. In jedem Fall aber ist der Held hier wahrhaft am rechten Ort. Hier ist die Atmosphäre mit Theologie gesättigt, und hier kann Professor Ehrenfried Kumpf, die Luther-Imitation und Luther-Parodie, ebenso glaubhaft werden wie der Dozent Schleppfuß, bei dem die Theologie zur Dämonologie wird. In dieser Stadt, die die gleiche »Zeitentiefe«, die gleiche tausendjährige Geschichte und die gleichen alten Monumente wie Kaisersasdiern besitzt, ist Theologie - so jedenfalls, wie sie in diesem Roman verstanden wird nur möglich und glaubhaft. Theologie nämlich ist nach des Erzählers Auffassung selbst etwas Mittelalterliches, Stehengebliebenes, das noch in die moderne Zeit hineinragt und sich mit deren rückschlägigen Tendenzen aufs verhängnisvollste verbinden kann. Wie Zeitblom anläßlich der Schilderung von Kaisersasdiern die Verbindung herstellt zwischen mittelalterlichem Hexenglauben, den man sich angesichts der mittelalterlidien Baudenkmäler der Stadt noch gut vorstellen könne, und den neueren rückschlägigen Tendenzen, Bücherverbrennungen und modernem, faschistischem Hexenwahn, 44 so sagt er bei Gelegenheit von Schleppfußens Hallenser Kolleg über die Theologie, daß sie, verbunden mit dem Geist der Lebensphilosophie, die Tendenz habe, zur Dämonologie zu werden oder sogar notwendig dazu werden müsse.45 Es bezeichnet den Charakter dieses Romans, das hodibewußte und sehr mittelbare Arbeiten mit Anspielungen, dieses so gar nicht naive Umgehen mit Bildungsbeständen, daß Thomas Mann seinen Helden zum Teufel, der ihm in Palestrina erscheint, geradezu sagen läßt: »[S. 350] Ausgeredinet hier in Welschland wollt ihr midi visitieren, w o ihr gänzlich aus euerer Zone seid und nicht im geringsten populär? Was für eine absurde Stillosigkeit! In Kaisersasdiern hätt ich euch mir gefallen lassen. Z u Wittenberg oder auf der Wartburg, sogar in Leipzig nodi wärt ihr mir glaubhaft gewesen. Aber doch hier nicht, unter heidnisch-katholischem Himmel!«

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Hier nun ist, gemäß dem im Roman herrschenden Gesetz der Vertauschbarkeit, nicht Halle genannt, sondern das Wittenberg Fausts und Luthers, an dessen Stelle im Roman Halle als erster Studienort des Theologiestudenten Leverkühn getreten war. Mit Hilfe der »Encyclopaedia Britannica« war also Halle als die Stadt mit »Zeitentiefe« und »Hauptsitz der protestantischenTheologie« konstituiert worden. In diesem Zusammenhang ist noch hinzuweisen auf eine Einzelheit, die auf ihre Weise bezeichnend ist für Thomas Manns Umgang mit den Quellen. Den Text des Lexikons ins Deutsche übertragend, hatte er sich notiert: »[Bl. 46] Castein'sdie Bibelanstalt, Central-Autorität für die Revision von Luthers Bibel, von der sie jährlich tausende von Copien verkauft« -

eine sehr wörtliche und ohne viel Achtsamkeit angefertigte Ubersetzung, von der man nicht glauben möchte, daß sie von einem erstrangigen Stilisten wie Thomas Mann stammt. Im Roman aber hat er das flüchtig notierte Rohmaterial auf die stilistische Höhe des Gesamttextes gebracht. Die betreffende Stelle im Roman lautet: »[S. 137] Stellt nicht auch die Castein'sche Bibelanstalt, diese erste Autorität für die Revision von Luthers Sprachwerk, die Verbindung von Religion und Textkritik her?«

Was Thomas Mann außerdem aus dem Lexikonartikel gewann, war die Information über einige charakteristische Monumente der Stadt, ihre »Wahrzeichen«. Er hatte aus der »Encyclopaedia Britannica« exzerpiert: »[Bl. 46, Rückseite] [. ..] Im Centrum der Marktplatz mit mittelalterlichem Rathaus u. der gothischen Marienkirche, datierend hauptsächlich aus dem 16. Jahrh., mit 2 Türmen, die durch Brücke verbunden. Auf dem Platz Bronzestatue Händeis. - Moritzkirdie (12. Jh.) mit schönen Holz-Schnitzereien u. Skulpturen [ . . . ] «

In dem zitierten Exzerpt aus dem Kleinen Meyer hatte es geheißen: »[Bl. 46] [ . . . ] Marktplatz mit Marienkirche (16. Jh.) Rathaus und Roter Turm (84 m) Rolandsstandbild [ . . . ] «

Diese Lexikonartikel gehen fast wörtlich in den Roman ein. Thomas Mann spart sich eine eigentliche Beschreibung der Stadt und zählt statt dessen die »Sehenswürdigkeiten« auf, wie das Lexikon sie nennt. Das Stadtbild von Halle wird auf die denkbar einfachste Weise anwesend gemacht. Adrian Leverkühn bewohnt ein Zimmer, von dem aus man den Marktplatz und die historischen Monumente überschaut: »[S. 146] Meine >BudeRoten TtirmGott vertrauen, landt und leut beschauen, thut niemand gerauen.< Ist an der Pleiße, Parthe und Elster doch unleugbar ein ander Dasein und geht ein anderer Puls, als an der Saala, weil nämlich ein ziemlich groß Volk hier versammlet ist, mehr als siebenhunderttausend, was von vornherein zu einer gewissen Sympathie und Duldung stimmt, wie der Prophet schon für Ninives Sünde ein wissend und humorhaft verstehend Herz hat, wenn er entschuldigend sagt: >Solche große Stadt, darinnen mehr als hunderttausend Menschen.< Da magstu denken, wies erst bei siebenhunderttausend Nachsicht erheischend zugeht, wo sie in den Λ/eise-Zeiten, von deren herbstlicher ich als Neu-Kömmling eben noch eine Probe hatte, aus allen Teilen Europas, dazu aus Persien, Armenien und anderen asiatisdien Ländern noch erklecklichen Zustrom haben. Nicht als ob mir dies Ninive sonderlich gefiele, ist gewiß nicht die sdiönste Stadt meines Vaterlandis, Kaisersaschern ist schöner, hat aber auch leiditer schön [217] sein und würdig, da es nichts weiter als alt und still zu sein braucht und keinen Puls hat. Ist schon prächtig gebaut, mein Leipzig, redit wie aus einem teueren Steinbaukasten, und dazu reden die Leute überaus teuflisch gemein, daß man vor jedem Laden scheut, ehe man was erhandelt, ist als ob unser sanft verschlafenes Thüringisch aufgeweckt wäre zu einer Siebenhunderttausend-Mann-Frechheit und Rudilosigkeit des Maulwerks mit vorgeschobenem Unterkiefer, greulich, greulich, aber bewahre Gott, gewißlich nicht böse gemeint und mit Selbstverspottung vermischt, die sie sidi leisten können auf Grund ihres Weltpulses. Centrum musicae, centrum des Druckwesens und der Buchgremplerei, hochleuchtende universitet, - übrigens baulidi zersplittert: das Hauptgebäude ist am Augustusplatz, die Bibliothek beim Gewandhaus, und zu den unterschiedlichen Facultäten gehören besondre Collegiengebäude, wie zu der philosophischen das Rothe Haus an der Promenade und zur juristischen das Collegium beatae Virginis, in meiner Petersstraße, wo ich sogleich, nur frisch vom Hauptbahnhof, auf dem ersten Weg in die Stadt, passende Herberg und Unterkunft fand. [ . . . ]

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[219] Item, wir wurden der Sachen eins, und hat der Kerl mir zwei Stunden lang alles geeigt und gezeigt, mich überall hingeführt: zu der Pauluskirchen mit wunderlich gekehltem Kreuzgang, zu der Thomaskirchen, wegen Johann Sebastians, und zu seinem Grabe in der [220] ]ohanniskirWas nodi fast völlig fehlt, ist die menschenfigürliche Ausstattung des Buches, die Füllung mit prägnanten Umgebungsfiguren. Beim >Zauberberg< war sie durdi das Sanatoriumspersonal gegeben, beim >Joseph< durdi die Bibel, deren Gestalten realisierend heranzubringen waren. Beim >Krull< hätte die Welt phantasmagorisch sein dürfen. Sie darf es bis zu einem gewissen Grade audi hier, doch ist mehrfache Vollrealität erfordert, und da fehlt es an Anschauungsstütze . . . Irgendwie muß aus der Vergangenheit, ails Erinnerung, Bildern, Intuition geschöpft werden. Aber die Entourage ist erst zu erfinden und festzustellen . . ,^«1

So heißt es in der »Entstehung des Doktor Faustus«, und wir werden im einzelnen nachzuweisen haben, wie auch in bezug auf die Personen ein kompliziertes Zusammensetzspiel stattfindet, wie sie tatsächlich aus Erinnerung, Intuition, aus Abbildungen und Literatur entstehen. Die ersten Notizen zu den Figuren des Romans handeln bezeichnenderweise nicht eigentlich von Personen. Vielmehr hat Thomas Mann zunächst bloße Listen von Namen zusammengestellt, die sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht mit bestimmten fiktiven Personen verbinden. Es handelt sich um typisch »altdeutsche« Namen, die sich Thomas Mann im wesentlichen aus Luthers Briefen, aus Waetzoldts Dürer-Monographie und aus der Riemenschneider-Monographie von Karl Stein herausgeschrieben hat und die den Roman mit der Atmosphäre des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts anreichern sollten. Dieses Zusammenstellen von Namen, bevor noch die Personen, die sie tragen sollen, imaginiert sind, ist typisch für die Entstehungsweise des »Doktor Faustus«, an dessen Beginn eine Idee und eine gewisse Atmosphäre standen, die nicht zuletzt von Literatur angeregt waren. Hatten sich die Namen zunächst noch gar nicht mit bestimmten Personen verbunden, so überrascht am fertigen Roman gerade, wie gut manche Namen auf bestimmte Personen passen, so daß man ohne die Kenntnis der Quelle angenommen hätte, sie seien eigens für sie erdacht worden. So ist der Name Vogler, den jener Literarhistoriker trägt, »der eine vielbeachtete Geschichte des deutschen Schrifttums unter dem Gesichtspunkt der Stammeszugehörigkeit geschrieben hatte«, 2 eine nur leichte 74

Verschleierung des Namens des Modells, Josef Nadler. Der N a m e Vogler aber stammt aus Luthers Briefen. Zum Teil lassen die Notizen erkennen, wie die Namen versuchsweise verschiedenen Personen angepaßt werden. Manchmal wird ein Name mit dem Vornamen der Quelle direkt übernommen, wie ζ. B. »Ursula Schneidewein« aus Luthers Briefen. In anderen Fällen wird der Vorname ausgetauscht; so kommt in Luthers Briefen ein »Sixtus Ölhafen« aus Grimma vor, der im Roman seinen Familiennamen an Zeitbloms »fades Eheweib«, 8 seinen Vornamen an Kridwiß abgeben muß. »[61.59] Deutsche Namen a Johann Rühel Hans Otternsaß Heinz Luder Else von Kanitz Urban Rhegius b Jakob Montanus Bleikard Johann Brenz

Adrian 0 Leverkühn Rudolf d Schwerdtfeger

»[Bl. 6 1 ] Deutsche Namen

Nikolaus Hausmann Michael Stiefel Johann Agricola Hanna von Plausig Margarete Göritz Georg Vogler Doktor Brück Andreas Oslander

e

Walpurgis**** Vorname: Wolgemut*** Kaspar von Teutleben* Nachname: Hesekiel Leo Zink Lazarus Spengler'' Das Zapfenstösser-Orchester in München Thomas Zink in Hofheim* Johann von Riedesel*

a Alle Namen in dieser ersten Liste, mit Ausnahme der Leverkühns und Schwerdtfegers, sind aus Luthers Briefen entnommen. - Die Namen Luder, Rhegius und Oslander sind durchgestridien. b Johannes Rhegius heißt ein Professor für Religionsgeschichte, den Thomas Mann in der »Entstehung« (S. 179) meint, wenn er sagt, seine Tochter Erika habe bei der Redaktion des »Doktor Faustus« einen »Professor mitsamt seinem Kolleg hinausgeworfen«. Vgl. audi den Aufsatz von Herbert Lehnert, Zur Theologie in Thomas Manns Doktor Faustus. Zwei gestrichene Stellen der Handschrift. In: DVjs. 40, 1966, S. 248-256. c Verbessert aus: »Anselm«, d Verbessert aus: »Arnold«. e Für die zweite Liste gelten die folgenden Zeichen: * = Luthers Briefe ** = Stein, Riemensdineider *** = Waetzoldt, Dürer **** = Hexenhammer Die Entlehnungen aus Luthers Briefen hat G. Bergsten (vgl. ebda., S. 41) bereits anhand von Thomas Manns Anstreidiungen festgestellt. Unsere Nachweise der

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Johann Schlaginhaufen* Nackedey. Stadlin****. Gabriel Zwilling, Pfarrer in Torgau 1 Nachn.: zur Höhe Heinrich Bullinger in Zürich*. V o m Lande Jakob Probst in Bremen*. Prof. Nicolovius Sixtus Ölhafen in Grimma* Bartholomäus Zeitblom*** [Rückseite von Bl. 61] Meldiior Nonnenmacher** Gilgen Essig** Philipp Dietmar** Friedrich Süß** Hans Bermeter**

Hans Kohlhase* Benedikt Baworinski* Gereon Sailer* Griepenkerl A n t o n Unruhe, Richter in Torgau' Hieronymus Dungersheim* Ursula Schneidewein in Stolberg* Hans Kegel in Schlettstadt* Dr. Unkraut

Hans Greiffenberger** Hans Platner*** Hieronymus Andreae* Paul Lautensack*** Nachtrieb

Ehrenfried Kumpf** (Thomas Münzer studiert mit ι j zu Halle Theologie**) Sdiappeler**, Hubmayer**, Deutschlin**, Ulrich A r z t * * (Mittwoch nach Judica: der j . A p r i l ) Vorname Kolonat** Ebner*** Staupitz*** Holzschuher*** Nützel*** Scheurl*** Jüd. Name Efrem Zimbalist« A u s f ü h r l i c h e N o t i z e n sind nur z u w e n i g e n Personen v o r h a n d e n , nämlich z u L e v e r k ü h n u n d z u Z e i t b l o m s o w i e z u L e v e r k ü h n s Schwester U r s u l a , deren B i o g r a p h i e w e g e n N e p o m u k u n d der R o l l e , die er in L e v e r k ü h n s L e b e n spielen sollte, w i c h t i g ist. Einen besonderen K o m p l e x bilden die N o t i z e n z u R u d i S c h w e r d t f e g e r u n d seinem V e r h ä l t n i s z u Ines, die aus d e m schon e r w ä h n t e n f r ü h e n N o t i z b u c h ü b e r t r a g e n w o r d e n sind.® H i e r Quellen Stein, Waetzoldt und Hexenhammer wurden ebenfalls durch die im Thomas-Mann-Ardiiv in Züridi aufbewahrte Bibliothek Thomas Manns ermöglicht. In dieser Liste sind die folgenden Namen durchgestrichen: von Teutleben, Wolgemut, Thomas Zink in Hofheim, Johann von Riedesel, Schlaginhaufen, Prof. Nicolovius, Hans Kegel, Bartholomäus, Melchior Nonnenmacher, Philipp Dietmar, Hieronymus Andreae, Ehrenfried Kumpf, Kolonat. a In dem eingangs (S. 7 ff.) erwähnten Aufsatz Hans Wyslings »Zu Thomas Manns >MajaBuddenbrooksVerschreibung< kann nach 10 Jahren, 1 9 1 6 , stattfinden. [Rückseite Bl. 60] Nach 4 Jahren Leipzig t> geht Leverkühn, 0 nach einem kurzen Aufenthalt in München, mit Rüdiger Schildknapp nach Italien und verbringt mit ihm zwei d Jahre in Rom und Umgegend, Palestrina, im Hause a

Darüber: »Halle«. Darüber: » 1 9 1 0 « . c Darüber: »2jjährig«. d Verbessert aus: »ein«.

b

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der Bernardinis, 3 Geschwister, Signora, Avvocato und Contadino, nebst Tochter der Witwe, Amalia. Kloster-Garten. In Rom Via Torre Argentina. Abende mit Punsdi und Domino. Platzkonzerte Piazza Colonna. MalvasierKneipe. Villa Doria Panphili. Brunnen mit trinkenden Kühen u. Pferden. 1912 Niederlassung in Ober-Bayern. Nodi 2 Jahre Vorkriegs-München. Dann bei verloren gehendem Krieg und nachher seine künstlerisdi kühnste und, unter äußerer Besserung seiner Gesundheit, erregteste Zeit. Episode mit Nepomuk ca. 1928 Die Vorgänge mit Paul und Marie etwa 1924.« a

Zu einem späteren Zeitpunkt wurden auch die Kindheit und die Jugend Leverkühns, der hier noch den Vornamen Anselm trägt, skizziert, die Jahre auf dem elterlichen Hof und die im Harne des Onkels. Im Vergleich mit dem hier angeführten Entwurf ist dieser andere sdion bedeutend mehr angefüllt mit Personen und Atmosphäre. Die Eltern und die Geschwister und die ihnen entsprechenden Figuren in Pfeiffering sind schon imaginiert, und es steht sdion fest, daß der Hof nahe bei der Stadt Kaisersasdiern liegen soll. Audi der Onkel ist schon vorgesehen, in dessen Haus Adrian Leverkühn nach diesem Entwurf sdion 7jährig - im Roman ist er iojährig - kommen soll. Wenn man den Roman kennt, hätte man übrigens denken können, für den Onkel sei gleich der Beruf des Instrumentenhändlers und Geigenbauers vorgesehen gewesen, es sei also gleidi geplant gewesen, Musikalisches in so natürlidier und zwangloser Weise in den Roman einfließen zu lassen. Aber tatsächlich sollte Nikolaus Leverkühn zunächst Optiker sein. Der Vorteil, der sich mit dem Beruf des Musikalienhändlers bietet, wird jedoch gleich erkannt (Thomas Mann schreibt: »besser«), allerdings betreibt der Onkel nach diesem Entwurf noch kein reines Instrumentengesdiäft, sondern dieses ist gleichzeitig Waffenhandlung. Daß Leverkühn ein Bauernsohn ist, ist natürlich aus dem Volksbudi übernommen, die Neigung seines Vaters zur Naturbetrachtung, die einen »gewissen mystischen Einschlag«6 hat, weist auf Goethes »Faust« zurück, die Beschreibung der Eltern ist bekanntlich nach Dürersdien Bildnissen ausgeführt, 7 wobei besonders der Vater das für Leverkühns geistige Person so wichtige Element des »Altdeutschen« vertritt.13 Die Konzeption der Eltern stammt also ganz aus Literatur, ergänzt durch die Bildende Kunst. a

Verbessert aus: »1923 bis 1925. In diesem Jahre heiraten die beiden.« Der ganze letzte Abschnitt (Rückseite Bl. 60) ist von Thomas Mann am Rande rot angestrichen und angekreuzt. b Gerade die Gestalt des Vaters weist auf die Vorstellungswelt der »Betrachtungen eines Unpolitischen« zurück. Auf die Ähnlichkeit des Vaters mit dem in den »Betrachtungen« (S. 20 f.) imaginierten Künstlertyp weist sdion Walter Boehlich (Merkur 2, 1948, S. 600 f.) hin. 80

Auch der Onkel, der ebenfalls aus dem Volksbuch stammt, ist nach einem Dürerschen Bildnis beschrieben. Im weiteren Verlauf des Romans hat Thomas Mann übrigens diese Gestalt, die ihm offenbar nie recht lebendig war, völllig aus den Augen verloren. »[Bl. 1 1 2 ] Anselm wächst auf auf dem Hof Budiel, mit dem später Pfeiffering in Oberbayern korrespondiert. Nahe der Stadt Kaisersaschern. Die Schweigestills in Pfeiffering haben als Typen Verwandtschaft mit seinen Eltern. Der ältere Bruder, Georg Leverkühn, landwirtschaftlich fortschrittlich im Verhältnis zum Vater, wie später der junge Schweigestill, Gereon a (der Alte heißt Max), übernimmt nach dem Tode des Vaters Leverkühn den H o f . Die Schwester Ursula, 5 Jahre jünger als Anselm, geb. 1890, heiratet mit 20, also i. J . 1910 ein Jahr (bevor Anselm nach Halle geht) b den Optiker Johannes Schneidewein c in Kaisersaschern (oder Merseburg). Ihr Söhnchen Nepomuk ist Anselms letzte Liebesmöglichkeit (der Vater ist Schweizer, Berner Herkunft), muß also erst nach der Episode mit Schwerdtfeger und Marie Godeau nach Pfeiffering kommen, ca. 1928, mag damals 5 Jahre alt sein, also geboren 1923, als Ursula 33 Jahre alt ist. Spät geborenes Kind. Wenn Ursula 1904 eine Tochter bekommt, Nichte Anselms, die mit 18 heiratet, 1922, und 1923 ein Söhnchen zur Welt bringt, so ist Nepomuk der Groß-Neffe Anselms,® ebenfalls 5, als er nach Pfeiffering kommt. Die Ernährungslage kann der Grund seines Kommens kaum noch sein. Vielleicht wird seine Mutter, Hanna Schneidewein, wegen einer leichten Lungenerkrankung in den Harz geschickt. Das schweizerische Element mag dann erst durch des Kindes Vater (statt Schneidewein vielleicht Stadlin, Lazarus oder Gereon, auch Wolgemut), der Mühlenbesitzer ist (Säge- oder Wassermühle) in die Familie gekommen sein. Anselm, kurzes, gewaltsames Leben, rückt früh, mit 38 Jahren, in den Generationsrang des Großvaters, eigentlich Großonkels auf J Anselm verbringt nur die ersten 7 Jahre seines Lebens auf dem H o f e Büchel, kommt dann nach Kaisersaschern [Bl. 1 1 3 ] in das Haus eines Onkels väterlicherseits, also ebenfalls Leverkühn, Anton oder Gabriel,ε der seinerseits (Optiker) sein mag, besser vielleicht Instrumenten- und Waffenhändler. Zeitblom hat seine Viola d'amore von ihm, der auch Geigenbauer ist.« Eine andere Notiz (Pag. Arch. Bl. 1) bietet nur die Reinschrift der hier bereits mitgeteilten Bemerkungen über die Schwester Ursula. N e u darin ist nur eine Leverkühn betreffende Bemerkung. W o es zuerst hieß: » 1 9 1 0 a

Verbessert aus: »Michael«. Gestrichen von: »ein Jahr« bis: »geht)«. c Verbessert aus: »Sailer«. d Verbessert aus: »40«. e Verbessert aus: »Enkel Anselms«. f Von: »Spät geborenes Kind.« bis: »Großonkels auf.« von Thomas Mann quer durchgestrichen. S Verbessert aus: »Gereon«. b

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ein J a h r (bevor Anselm nach Halle geht)«, heißt es jetzt berichtigend: » 1 9 1 0 , also etwa wenn A . von Leipzig nach München geht«. V o n den weiteren vier Notizen zu Ursula und ihrer Familie lassen wir hier nur diejenige folgen, in die die anderen eingegangen sind: »[Pag. Arch. Bl. 199, 2. Seite des Faltblattes] Ursula L. geb. 1890, heiratet 1 9 1 0 den Optiker Johannes Schneidewein von Langensalza. Er ist 10 oder 1 2 Jahre älter, Schweizer von Geburt, Berner Bauernblut. Brillensdileiferei. Ladengeschäft mit Augengläsern u. Optischen Apparaten. Sehr gutes Aussehen. Angenehm zu hörende, bedächtig würdige, mit stehen geblieben-altdeutsdien Ausdrücken von feierlichem Klang durchsetzte Redeweise, die Ursel von ihm annimmt. Auch Nepomuk hat sie. - Audi Ursel anziehende Erscheinung, obgleich keine Schönheit; Gesichtszüge dem Vater, Gehaben der Mutter ähnlich, braunäugig, schlank, freundlich. (Clementine) Von 1 9 1 1 bis 1923 haben sie 4 Kinder: Rosa, Ezechiel, Raimund und Nepomuk. Dieser 1923 geboren, ist 1928 fünf. Rosa, von 1 9 1 1 , ist 1 7 und führt dem Vater den Haushalt während der Krankheit der Mutter. Ezechiel 16, im väterlichen Geschäft, Raimund 15, geht zur Schule. Nepomuk wird geboren, als Ursel 33 ist. Ihre Lunge ist schon seit Raimunds Geburt ( 1 9 1 3 ) nicht ganz in Ordnung. Akuter Spitzenkatarrh nach Nepomuk (Pause von 10 Jahren).« Dieses so zusammengestellte Material wird im Roman en bloc und teilweise wörtlich übernommen oder beinahe ausgeschüttet: A l l e Kinder werden sdion bei der Schilderung der Hochzeit genannt; vermerkt wird bei der gleichen Gelegenheit auch schon der Umstand, daß Ursula ihres M a n nes Schweizer Redeweise annimmt, was hier ebenfalls etwas verfrüht wirkt, denn offensichtlich hatte Thomas Mann ja beim Aufschreiben der N o t i z an einen Vorgang während langer Ehejahre gedacht. »[S. 287] Ursula, nun zwanzigjährig, vermählte sich dem Optiker Johannes Schneidewein von Langensalza, einem vortrefflichen Mann, dessen Bekanntschaft sie bei dem Besuch einer Freundin in dem reizenden Salza-Städtneueren Ph.< u. der verfeinerten Sprachwissenschaft verbreiterten u. vertieften sich die Aufgaben. E. Rohde über den antiken Seelenglauben. H . Diels über frühgriechische Philosophie. Meister der Latinistik Th. Mommsen, F. Leo.« Im Zusammenhang mit Zeitblom steht auch das (hier nicht mitgeteilte) Exzerpt des Artikels »Pädagogik« aus dem Kleinen Meyer (Bl. 149 f.). Zwischen diesen beiden Exzerpten (Bl. 147-149) steht das Exzerpt des Lexikonartikels »Philosophie«, der sowohl für Zeitbloms wie für Leverkühns Studiengebiet einschlägig war.

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»[Pag. Arch.Bl. 164, Rückseite] Zeitblom hat schon vor Adrian 2 Jahre studiert, dazu 2 in Halle. Nadi seinem Dienstjahr mag auch er nach Leipzig gehen und nach einem weiteren Jahr die Staatsprüfung machen. Danach geht er auf die italienisch-griechische Studienreise. Von ihr zurückgekehrt geht er als Lehrer ans Bonifatius-Gymnasium nach Kaisersaschern und bleibt dort, angestellt, bis Adrian aus Italien nach Oberbayern zurückgekehrt ist. Sein Dienstjahr ist 1905-6. Bis 1907 in Leipzig. 1908-9 Reise. Um 1910, als Adrian zuerst nach München geht, nimmt er seinen Probekandidaten-Dienst in der Heimat auf. Ist von Adrian getrennt: während seines Militärjahrs; dann für die Dauer seiner klassischen Reise. Sieht ihn wieder bei seiner Rückkehr, als A . L . sich darauf vorbereitet, Leipzig zu verlassen. Getrennt dann wieder von 1909 bis 1 9 1 2 oder 13 bis er nach Freising geht. Gelangt wieder in A.s Nähe um die Zeit, als dessen erregteste Produktionsperiode beginnt.« Diese Zusammenstellung hat sich Thomas Mann offensichtlich gemadit, um beim Erzählen - es handelt sich schließlich um einen Ich-Erzähler

-

Fehler zu vermeiden. Im Zusammenhang mit Leverkühns Erlebnis an seinem ersten Leipziger T a g und dem Besuch in Preßburg, diesen beiden Ereignissen, bei denen Zeitblom natürlich nicht dabei ist, die er aber nichtsdestoweniger so schildert, als sei er dabei gewesen, wird im Roman der letzte Abschnitt der zitierten N o t i z verwertet: »[S. 2 3 1 ] Bei meiner Darstellung, meinen Berichten möge der Leser nicht fragen, woher denn das Einzelne mir so genau bekannt ist, da ich ja nicht immer dabei, dem verewigten Helden dieser Biographie nicht immer zur Seite war. Es ist richtig, daß ich wiederholt durch längere Zeiträume getrennt von ihm lebte: so während meines Militärjahrs, nach dessen Ablauf ich allerdings an der Universität Leipzig meine Studien wieder aufnahm und seinen dortigen Lebenskreis genau kennen lernte. So auch für die Dauer meiner klassischen Bildungsreise, die in die Jahre 1908 und 9 fiel. Nur flüchtig war unsere Wiederbegegnung bei meiner Rückkehr von dieser, als er bereits die Absiebt hegte, Leipzig zu verlassen und nach Süddeutschland zu gehen. Und daran Schloß sich sogar die längste Periode unserer Trennung: es waren die Jahre, die er, nach einem kurzen Aufenthalt in München, mit seinem Freunde, dem Schlesier Schildknapp, in Italien verbrachte, während ich am BonifatiusGymnasium zu Kaisersaschern zuerst meine Probe-Kandidatur absolvierte und dann in fester Anstellung mein Lehramt ausübte. Erst 1913, als Adrian seinen Wohnsitz im oberbayerischen Pfeiffering genommen hatte und ich nach Freising übersiedelte, gelangte ich wieder in seine Nähe, um dann freilich sein längst verhängnishaft tingiertes Leben, sein zunehmend erregtes Schaffen siebzehn Jahre lang, bis zur Katastrophe von 1930, ohne - oder so gut wie ohne - Unterbrechung unter meinen Augen sich abspielen zu sehen.« Schon aus der Zeit von Thomas Manns Schreiben am Roman stammt eine Notiz, die speziell mit Zeibloms Erzählen zu tun hat und die das V e r hältnis von Sdireibaugenblick und Biographie Leverkühns bedenkt. Es ist übrigens die einzige Notiz, die das komplizierte Verhältnis der beiden Zeitebenen zum Gegenstand hat: 86

»[Pag. Arch. Bl. 3] Zeitblom beginnt Mai 1943, zwei Jahre nach Leverkühns Tod (1941 mit j 6) Als er das politische Intermezzo (Kap. X X I ) schreibt, hat er den Sommer über und einen guten Teil des Herbstes an der Biographie gearbeitet. Die Niederschrift der Abschnitte >LeipzigBuchelMünchenPalestrina< und >Dokument< wird nicht a abgekürzt dadurch, daß der längste, >Dokument< nur Abschrift ist. Er steht also bei der >Rückkehr nach München< in seiner Zeit kaum weiter als b Januar oder Februar 1944. März, ja April.«

3. Die Nebenfiguren Da bei der Konstituierung der Biographie des Helden inzwischen beschlossen worden war, ihn nach München zu führen, wurde zu einem späten Zeitpunkt der Konzeption das alte Notizbuch nodi einmal geöffnet und die alten Aufzeichnungen auf Verwendbarkeit für den Roman durchgesehen. Eine Vielzahl von Notizen schien brauchbar und wurde in das Konvolut zum »Doktor Faustus« übertragen und so diesem Unternehmen schon gewissermaßen einverleibt. Im Anschluß daran findet sich eine große Personenübersicht zum Roman, in der zwar auch bereits konzipierte Personen aus Leverkühns Jugend erscheinen, die Münchener Figuren aber dominieren, die z . T . schon zu gewissen Kreisen zusammengestellt sind. Vor allem aber erscheinen die zur alten Liebesgeschichte gehörigen Figuren. Die Liebesgeschichte soll also hier so spät doch nodi gestaltet werden. Eine Erweiterung gegenüber dem alten Plan bedeutet es, daß Marie in der ersten Notiz zu Leverkühns Biographie und ebenso in der vorliegenden Personenaufstellung bereits mit Namen aufgeführt ist und also wohl schon als Figur von eigenem Interesse, nicht bloß als die notwendige dritte Figur, die das Eifersuchtsdrama auslöst, vorgestellt war. Dies könnte vermuten lassen, daß auch die Verflechtung Leverkühns in die Liebesgeschichte schon geplant war. Da der Salon Rodde noch nicht erscheint, ist dagegen zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich noch nidit geplant, das Schicksal der Schwester Julia mit der Liebesgesdiichte zu verknüpfen. Diese weitere persönliche Dimension trat erst später hinzu. Mit der schließliciien Wahl dieses Modells, dessen Lebenswirklichkeit Thomas Mann vertraut war und ihm individuelle Züge vorgab, denen sich folgen ließ, mußte der Plan, der zunächst nur in einer Transponierung eigener seelischer Erlebnisse in eine Liebesgeschidite bestanden hatte, an konkretem Leben gewinnen. a b

Verbessert aus: »einigermaßen.« »kaum weiter als« gestrichen.

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I m R e i g e n der N e b e n f i g u r e n ist v o r a l l e m die Ü b e r t r a g u n g der an früherer Stelle v o n T h o m a s M a n n zusammengestellten »altdeutsdien« N a m e n auf die Personen seiner E r i n n e r u n g b e m e r k e n s w e r t . So erscheinen die M a l e r L e o P u t z u n d Baptist Sdierer, die in M ü n c h e n im H a u s e v o n T h o m a s M a n n s M u t t e r v e r k e h r t e n , unter den N a m e n L e o Z i n k u n d B a p t i s t S p e n g ler, der P a l ä o n t o l o g e D a c q u £ heißt U n r u h e , w ä h r e n d der G a t t e der H e l d i n n a d i einem der V e r f a s s e r des » H e x e n h a m m e r s « b e n a n n t w i r d . D i e v o m V o l k s b u c h angeregte A t m o s p h ä r e u n d die alten E r i n n e r u n g e n u n d A r b e i t s p l ä n e v e r b i n d e n sich also a u d i in den N a m e n . »[Bl.95] Personen: Herausgeber: Serenus a Zeitblom, Lehrer Adrian b Leverkühn Seine Eltern. Seine Schwester Ursula, die einen Mann namens Schneidewein heiratet. (Dieser kann audi Mitglied des Zapfenstösser-Ordiesters sein) 0 Der kleine Neffe N e p o m u k Der Übersetzer Rüdiger d Schildknapp Der Geiger Rudolf β Schwerdtfeger' Marie Godeau, die Dekorationen für das Thiätre du Trianon Lyrique oder de la Gait£ Lyrique in Paris entwirft. - Ihr Tantchen. Die Sängerin Tanja Orlanda Die Ackerbürger Schweigestill, in deren Haus zu Pfeiffering oder Pfeffering er wohnt (Auch Bleikard) Die Maler (Leo) S Zink und Baptist Spengler Der adelige Intendant, Baron (von Riedesel) 11 Diese in dem Salon (Sdilaginhaufen) i Die Frau eine geb. von Plausig Dr. Eugen Institoris i und seine Frau Gertrud, geb. Rhegius aus Dresden, die Mörderin Schwerdtfegers. k [Leverkühns 1 geistiger Zusammenbrudi ereignet sich 1930 (mit 45 Jahren). Lebt in Pfeiffering-München etwa von 1910 (12) bis 1930] m Verbessert aus: »Urban«, dieses verbessert aus: »Hieronymus«. Verbessert aus: »Anselm«. 0 Der Satz in der Klammer gestrichen. d Verbessert aus: »Hellmut«. e Darüber: »Paul«. f Dahinter, gestrichen: »Arnold«. S Über: »Sixtus«, h Verbessert aus: »von Teutleben«. 1 Über: »Sdiwäbeli«. i D a v o r : »(Agricola)«, dieses verbessert aus: »Oslander«. k V o n : »und seine Frau« bis: »die Mörderin Sdiwerdtfegers« gestrichen. 1 Verbessert aus: »Sdiwerdtfegers«. Hier handelt es sidi offenbar um einen reinen Schreibfehler. m Die eckige Klammer stammt von Thomas Mann. a

b

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Der jüdische Gelehrte Dr. Chaim Breisadier a oder Rüdesheimer oder Mondstein, Karfunkelstein. Mystiker und Faschist. Weibliche Wesen, die ihn verehren, betreuen, mit Eßwaren, Leckereien versehen, ihn anbeten und einander [Bl. 96] nidit leiden können. Meta Nackedey,t> hinkend, verhuscht. Psydioanalytikerin. Trauernde, wohlgesetzt sprechende u. schreibende Jüdin. George-Kreis in Schwabing. Dr. Löwenherz und Anhang. (Derleth c , Sterlet, Stilett) und seine Schwester. Der Zeichner und vortragende Denker Nicolovius, d E n t w ü r f e f ü r Dekorationen und Figurinen. H a t bei sich einen Prinzen, den Stammes-Literaturhistoriker Prof. Georg Vogler, den Paläontologen u. Philosophen Dr. Unruhe, einen reichen, geistig interessierten Fabrikanten Bullinger (PapierIndustrie) audi den Privatgelehrten Mainzer (Breisadier) Boheme-Salon der Dame aus Budapest, Lustspiel-Verfasserin, wo junge Maler, Sdiauspieler, leichtere Damen verkehren. Die Kreise überschneiden sidi. Rotary-Club, wo ein amerikanischer Gast eine wohlmeinende Rede hält und von einem einheimischen Mitglied nationalistisch abgefertigt wird. Namen: Johannes Vörde. Udalricus Kridwiß. Theoderich de Bummel. Heinrich Institor(is). Kapellmeister Wetzler, Amerikaner, sehr gebildet, tritt f ü r seine Musik ein, veranstaltet Aufführungen, die schlechten Erfolg haben und die er stotternd verteidigt. Dr. Habidi Der Sprech-Sdiriftsteller« Was sich in dieser Übersicht in Keimform findet, ist in den späteren N o tizen, die bereits zur Zeit der Niederschrift des Romans gemacht sind, weiter ausgefaltet. Thomas Mann stellt sich in diesem Stadium die Personen bereits nach bestimmten Kreisen und Salons geordnet zusammen, die Notizen betreffen also schon die Komposition und stellen direkte V o r arbeiten zu bestimmten Kapiteln dar. Durch die Einführung der Salons enthebt sich Thomas Mann der Notwendigkeit, eine Vielzahl von Personen individuell einzuführen. Im N u ist auf diese Weise ein großes gesellschaftliches Szenarium geschaffen, in das die Hauptfiguren hineingestellt werden a

Über: »Sdialom Mainzer«. Über: »Rühel«. c Darüber: »Zur Höhe«. - Das Modell des »Propheten« Daniel in der gleichnamigen Erzählung Thomas Manns ist bekanntlich Ludwig Derleth; auf den Namen »zur Höhe« spielt darin schon die Wendung an »aus höchster Höhe, aus Daniels Reich«. Hans Wysling, der als erster darauf aufmerksam gemacht hat, teilt audi mit, daß sidi der Name »zur Höhe« sdion in den Notizen zu den »Geliebten« (in Notizbuch 7) findet (H. Wysling, Z u Thomas Manns »Maja«-Projekt, Anm. 19. In: P. Scherrer u. H . Wysling, Quellenkritisdie Studien, S. 329). d Gestrichen, verbessert aus: »Zur Höhe«. b

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k ö n n e n . A u f diese Weise w i r d übrigens eine g r ö ß e r e P e r s o n e n f ü l l e suggeriert, als der R o m a n w i r k l i c h a u f w e i s t . A u f B l . 3 ( P a g . A r d i . ) h a t sich T h o m a s M a n n die Personen z u s a m m e n g e stellt, die im S a l o n R o d d e v e r k e h r e n u n d die L e v e r k ü h n s ersten geselligen V e r k e h r nach seiner Ü b e r s i e d l u n g nach München bilden u n d

übrigens

ü b e r h a u p t den R a h m e n festlegen, in d e m er sich w e i t e r b e w e g e n w i r d . I m entsprechenden K a p i t e l des R o m a n s , dem X X I I I . , 1 3 w e r d e n die P e r sonen in der gleichen R e i h e n f o l g e w i e in der hier mitgeteilten A u f s t e l l u n g vorgeführt. »[Pag. Arch. Bl. 3] Gesellschaftliches Leben, unter Teilnahme Zeitbloms vor dem Kriege u. bis in den Krieg hinein. Ines und Clarissa Rodde. Ehepaar Knöterich [Konrad u. Natalia] a Dr. Kranich, Numismatiker Leo Zink und Baptist Spengler Schildknapp u. seine Leute: Radbruch u. Comp., Fürstenstraße. Schlaginhaufen [geb. von Plausig] a Fabrikant Bullinger. Direktor der Pschorrbräu-A.G.« Z u diesen Personen f a n d e n sich A u f z e i c h n u n g e n in den a l t e n N o t i z b ü c h e r n , auf die T h o m a s M a n n jetzt z u r ü c k g r e i f e n k o n n t e . S o hatte er sich die N o t i z übertragen: »[Bl. 8$] Dr. Habich, der Klare, Feste, Intelligente als komische Figur.« W e n i g e B l ä t t e r später findet sich die N o t i z : »[Bl. 89] Baptist Scherer, kultivierter, aber passionsloser Maler, kränkelnd da und dort, luetisch, vermögend, empfänglich, gebildet, humorsinnig, blinzelnd, - deutliche Figur. Sein Freund Putz, einschmeichelnder Clown, alle Welt zum Lachen reizend, sehr glücklich bei Frauen, ohne Malheur davon gekommen. Begabter als jener.« b Eckige Klammer von Thomas Mann. Viktor Mann berichtet in seinen Erinnerungen »Wir waren fünf« (S. 38-39) über die beiden Maler, die für Zink und Spengler Modell standen und erwähnt im gleichen Zusammenhang einen weiteren Freund des Hauses namens Knötzinger, der offenbar als Vorbild für Konrad Knöterich diente. »Es gab noch eine Menge Onkels und Tanten, die abwechselnd und manchmal alle auf einmal zu Mama kamen. Als ersten unterschied ich aus ihrer Vielfalt den Onkel Leo, Leo Putz, den Maler mit der grotesken langen Nase, deren humoristischer Wirkung sein ganzes Wesen angepaßt war. Er war der Lustigste von allen und gab sich immer besonders viel mit mir ab. Mit Mund und Händen konnte er alle möglichen knallenden und knackenden Geräusche veranstalten, zauberte mit dem Taschentuch, ahmte Schweine, Enten a

b

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Neben dem Roddesdien wird im gleidien Kapitel des Romans der Salon Schlaginhaufen vorgeführt, w o Leverkühn sich gleichfalls einführen läßt. »[S. 3 1 2 ] [ . . . ] bei den Schlaginhaufens, einem älteren, vermögenden und kinderlosen Ehepaar, welches, der Mann von schwäbischer Herkunft a und Privatgelehrter, die Frau aus Münchener Familie, in der Briennerstraße eine etwas düstere, aber prächtige Wohnung innehatte. Ihr säulengeschmückter Salon war der Treffpunkt einer das Künstlerische und das Aristokratische umfassenden Gesellschaft, wobei es der Hausfrau, einer geborenen von Plausig, das Liebste war, wenn beide Elemente sich in ein und derselben Person vereinigten, wie in der des Generalintendanten der königlichen Sdiauspiele, Exzellenz von Riedesel, der dort verkehrte.« »[Pag. Arch. Bl. 4] Bei Schlaginhaufens: Generalintendant von Riedesel Geadelte Malergrößen Tanja Orlanda Bayerische Hofdamen Gleichen-Ruß wurm Sprech-Literaten (Breisadier) Jeanette Scheurl« Im Roman lautet der entsprechende Passus: »[S. 312] Bei Schlaginhaufens hatte Rüdiger auch Adrian eingeführt, der dort denn also, ein einsilbiger Fremdling, mit geadelten Malergrößen, der WagnerHeroine Tanja Orlanda, auch noch mit Felix Mottl, bayerischen Hofdamen, dem >Urenkel Schillerst Herrn von Gleichen-Rußwurm, der kulturgeschichtliche Büdier schrieb, und mit solchen Schriftstellern, die überhaupt nichts schrieben, sondern sich nur als Sprechliteraten gesellschaftlich interessant verausgabten, oberflächlich und folgenlos zusammentraf. Allerdings war es audi hier, und Hühner nach und legte gackernd vor meinen sehenden Augen Eier in Mamas Lehnstühle. Manchmal waren sie aus Schokolade! Leo Putz, ein Tiroler, gehörte zu den Intimen des Hauses und verkehrte bei uns, solange Mama in der Stadt lebte. Er war einer der amüsantesten Gesellschafter Münchens und verdankte diesem seinem Charme nicht viel weniger Erfolge, als seiner Malkunst, die ihm später den Professorentitel einbrachte. Sein Freund und Malerkollege, Baptist Sdierer, an dem mir vor allem ein außerordentlich starker und langer blonder Schnurrbart gefiel, war audi ein treuer Hausfreund und netter Onkel. Für mich stand er damals zwar im Schatten des unübertrefflichen Onkels Leo, tatsächlich aber war er ein überaus gebildeter, feinsinniger und eleganter Herr, der seinen Freund an geistigem Fond und vornehmer Weltgewandtheit übertraf. Audi als Künstler war er hochbegabt, und sein allzufrüher Tod hat uns alle sehr betrübt. Dann gab es noch den Onkel Knötzinger, einen Urbayern, Postrat und Künstler auf allen Streidiinstrumenten, mit dem ich münchnerisdi reden durfte [ . . . ] . « a Für die Schlaginhaufens war, wie die Personenübersicht auf Bl. 95-96 zeigt, zunächst der Name »Schwäbeli« vorgesehen.

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wo er zuerst die Bekanntschaft Jeanette Scheurls machte, einer vertrauenswürdigen Person von eigentümlichem Charme, gute zehn Jahre älter als er, Toditer eines verstorbenen bayerischen Verwaltungsbeamten und einer Pariserin [...].«

4. Die Liebesgeschichte a)

Allgemeines

Die Liebesgeschidite, die nach dem alten Plan relativ einfach und übersichtlich ausgesehen hatte, wird im »Doktor Faustus« auf komplizierte Art erweitert. Sie wird in den mit dem Faust-Symbol geschaffenen größeren Zusammenhang gestellt und gewinnt dadurdi an Bedeutsamkeit und Hintergründigkeit. Eine Fülle von Anspielungen, aus den verschiedenartigsten Quellenbereichen geschöpft, trifft in der Liebesgeschichte - wie sie jetzt, um einige Personen erweitert, vorliegt - zusammen und verleiht ihr eine Tiefenperspektive, die im ursprünglichen Plan keineswegs angelegt war. Infolge dieses Anspielungsreichtums und der symbolisdien Uberhöhung, die sie erfährt, nimmt die Handlung, äußerlich betrachtet, ein recht kolportagehaftes Aussehen an. Sie erscheint nun in folgender Gestalt: Zunächst wirbt Institoris um Ines und verheiratet sich mit ihr, sie aber verliebt sich fast gleichzeitig in Rudi Sdiwerdtfeger und knüpft ein Liebesverhältnis mit ihm an; Rudi löst das Verhältnis schließlich und tritt seinerseits zu Adrian in Beziehung; Adrian wendet sich Marie Godeau zu und möchte sie heiraten, er schickt Sdiwerdtfeger als Werber zu ihr, der aber für sich selbst wirbt und ihre Liebe gewinnt; auf die Nachricht von der Verlobung Rudis mit Marie schließlich erschießt Ines ihren früheren Liebhaber aus Eifersucht. Thomas Mann skizziert: »[Pag. Arch. Bl. 4] Ihre Schwester Ines heiratet um diese Zeit, a der bürgerl. Unterkunft wegen, den Institoris. Sexuell unbefriedigt, aber erweckt. Leidenschaft für Sdiwerdtfeger, wohl schon vor der Heirat. Der Gelehrte mangelhafter Ersatz. Morphium mit der Rumänin b Natalia Knoterich, einer Hofsdiauspielerin und anderen. 1924 Marie Godeau in München. Adrian und Rudolf. Adrian und Marie. Rudolf und Marie. Der Schuß in der Trambahn. - «

b) Institoris und Ines J e mehr sich die hier angedeutete Geschichte ihrem Ende nähert, desto stärker machen sich die neuhinzugekommenen Elemente bemerkbar, die in der Marie-Handlung gipfeln. Für den Anfang der Geschichte dagegen a b

9*

Darüber: »schon früher, während des Krieges«. Verbessert aus: »Ungarin«.

konnte Thomas Mann noch ganz auf altes Material zurückgreifen und die früh angelegte Problematik gestalten. So ist Helmut Institoris, wenn auch unter anderem Namen, im alten Notizbudi schon ganz konzipiert. Die Beschreibung seines Äußeren wird nach vier Jahrzehnten nahezu wörtlich übernommen. Auf Bl. 87 erscheint das Exzerpt aus dem alten Notizbuch: »[Bl. 87] Eugen, blonder Langschädel, elegant, mit glattem, gesdieiteltem, etwas geöltem Haar. Blonder Sdinurrbart, den Mund überhängend, blaue Augen von edlem Ausdruck. (Goldene Brille) Typ des eleganten jungen Gelehrten mit Anstrich von Anglicismus. Dabei Koketterie mit Romanentum.«

Im Roman heißt es dann ganz entsprechend: »[S. 441] Er war ein blonder Langschädel, eher klein und redit elegant, mit glattem, gescheiteltem, etwas geöltem Haar. Den Mund überhing leicht ein blonder Sdinurrbart, und hinter der goldenen Brille bildeten die blauen Augen mit zartem, edlem Ausdruck, der es schwer verständlich - oder vielleicht eben gerade verständlich - machte, daß er die Brutalität verehrte, natürlich nur, wenn sie sdiön war.«

Alt ist auch die Problematik, die im Verhältnis von Ines und Institoris gestaltet wird und die der letzte Halbsatz des angeführten Zitats bereits andeutet: Es ist der alte Streit um die richtige Nietzsche-Rezeption, der um die Jahrhundertwende die Geister beschäftigt hatte und der in den dreißiger und vierziger Jahren zu erneuter Aktualität gekommen war. Thomas Mann hatte Nietzsche stets als Moralisten verstanden, während Heinrich Mann wie viele andere in ihm den Immoralisten, den Künder des schönen, starken, an keine Moralgesetze gebundenen Lebens, nach Art der italienischen Renaissance, verehrte. Dieser vielberedete Gegensatz wird hier noch einmal im Verhältnis von Ines und Institoris gestaltet, wobei die Sympathie des Erzählers sehr deutlidi der leidend-pessimistisch gestimmten Ines gehört, während die Gegenposition in Institoris lächerlich gemacht wird. Fast zu schematisch wird dieser Gegensatz von »Ästhetik und Moral« 14 im Roman auf die beiden Personen verteilt. Aber dann heißt es in geschickter Wendung - so als habe umgekehrt Zeitblom aus der Beobachtung der beiden Personen dieses Prinzip gewonnen-, dieser Gegensatz, der die Diskussion der Zeit beherrscht habe, habe sich in Ines und ihrem Bewerber »gewissermaßen personifiziert«. 15 Mit deutlicher Anspielung auf Nietzsche, dessen Name in den Erörterungen der beiden jungen Leute nicht fällt und überhaupt, wie Thomas Mann in der »Entstehung« sagt, 16 im ganzen Roman nicht vorkommen darf, heißt es, »an seiner schöpferischen Quelle« habe dieser Gegensatz »eine persönliche Einheit« gebildet und sei erst »in der Zeit streitbar auseinander gefallen«. 17 93

Dieser Gegensatz aber, der hier auf einer realistischen Ebene erörtert wird, ist noch nicht »in der Zeit streitbar auseinander gefallen«, sondern bildet noch eine Einheit in dem anderen Nietzsche, im Helden des Romans Adrian Leverkühn. Man stößt hier also auf die Eigentümlichkeit, daß Nietzsdie zum einen in mythisdier Wiederholung als Adrian Leverkühn durch den Roman geht und daß zum andern in den Münchener Diskussionen von Nietzsches widersprüchlicher Wirkung in der Zeit die Rede ist. Die folgende frühe Notiz ist ganz aus jener Polemik geboren und wurde von Thomas Mann selbst vermutlich als wohlgelungen empfunden: »[Bl. 87] Bemerkung von 1901: Ein furchtbarer Typus, den Nietzsdie gezüchtet hat; er schreit, während ihm die Schwindsucht auf den Wangenknochen glüht, beständig: Wie ist das Leben so stark und schön.«

Sie konnte in ihrer pointierten Form übernommen werden, indem sie ausdrücklich als eine Formulierung Baptist Spenglers eingeführt wird. Natürlich bezieht sie sich auf Institoris. Die betreffende Stelle im Roman lautet: »[S. 441] Er gehörte dem von jenen Jahrzehnten gezüchteten Typ an, der, wie Baptist Spengler es einmal treffend ausdrückte, während ihm die Schwindsucht auf den Wangenknochen glüht, beständig schreit: Wie ist das Leben so stark und schön!Nur Menschen mit starken, brutalen Instinkten können große Werke schaffen^ Man widerspricht: >Werke wie das Jüngste Gericht und Anna Karenina sind aus höchst moralistischen, skrupulösen Verfassungen hervorgegangene - Die Mischung von Robustheit, ausharrender Zähigkeit, Tüditigkeit - und Verfeinerung, ja Morbidität oder doch Infirmität, die das Genie ausmacht oder doch bedingt.«

Wir führen die entsprechende Stelle aus dem Roman an, die nicht nur zeigt, daß Thomas Mann hier früh gesammelte Schätze einbringt, sondern auch deutlich werden läßt, mit welcher Meisterschaft und überlegenen Leichtigkeit das früh Notierte der Handlung eingefügt wird: »[S. 444] Ich bezweifle, daß die beiden sich in weltanschaulichen Kontroversen ergingen, wenn sie allein waren. Sie sprachen dann wohl von näher liegenden Dingen und versuchten einfach, wie es sein würde, wenn sie sich verlobten. Die Philosophie war mehr ein Gegenstand höherer gesellschaftlicher a

Hans Wysling macht darauf aufmerksam, daß die Notiz schon in »Königliche Hoheit« verwendet wird (»Zu Thomas Manns >MajaLebenin netter WeiseEs sind schon so viele unglücklich -< (In Siegerstimmung)« »[Bl. 92] Zuweilen kann man ihn in Gesellschaft mit einer gedämpften Antwort, einem stillen u. fremden Blick der lauten gewöhnlidien Stimmung entreißen.« »[Bl. 9 1 ] R.'s Beeinflußbarkeit. Man hat ihn manchmal durch sein Wort, seinen Geist, in seinem Bannkreis, - kein Zweifel, er gehört dir. Alle anderen sind dann in seiner Vorstellung Sdiatten und Schemen. Dann, wenn er andere Luft geatmet, anderen Einflüssen ausgesetzt gewesen, vollständige Entfremdung, hoffnungslose Fernheit.« »[Bl. 9 1 ] Wenn R. eine eingetretene Entfremdung fühlt, wendet er [Bl. 92] irgend ein gutes Wort an, dass[!] er von X . gehört, um sich wieder in Beziehung zu bringen.« »[Bl. 92] Abschied - mit Dialektredensarten, auf die die Müdigkeit leidend reagiert. Nachdem er von den anderen Abschied genommen, kehrt er noch einmal zurück u. sagt einfach, herzlich Adieu, was besser zu erwidern. Muß einen guten Absdiluß haben. Gewiß auch in den 2 Gesellschaften, die er danach noch besucht.« Durch einen geschickten Kunstgriff gelingt es, diese so pointierten und subjektiven Notizen in den Roman hinüberzuretten. Sie werden einer Romanfigur, Ines, in den Mund gelegt, die all diese Beobachtungen in einem langen Gespräch mit Zeitblom äußert, aus dem für diesen wie für den Leser hervorgeht, daß sie Rudi liebt. Uber vier Seiten hin werden die soeben mitgeteilten Notizen - wie Perlen auf einer Schnur - aneinandergereiht. Die betreffenden Partien aus dem Roman seien hier relativ ausführlich zitiert: »[S. 4$o] E r sei ein Mensch ohne Laster, sagte sie [ . . . ] , ein reiner Mensch daher seine Zutraulichkeit; denn Reinheit ist zutraulich. (Ein ergreifendes Wort in ihrem Munde, da sie selber ja keineswegs zutraulich war, wenn audi ausnahmsweise zu mir.) Er trinke nicht [.. .] und rauche nidit, - höchstens nur ganz gelegentlich und in völliger Unabhängigkeit von einem Gewohnheitszwange. Für all solche Mannesbetäubung (ich glaube mich zu erinnern, daß sie sich so ausdrückte), für jene Narkotika also trete bei ihm der Flirt ein, dem er allerdings ganz ergeben, und für den er geboren sei - nicht für Liebe und Freundschaft [...]. [ . . . ] [S. 4 j 1 ] Ob idi nicht fände, fragte sie, daß dieses ganze aufgeräumte und schmudchafte Künstlerwesen hier am Ort, das zierliche Biedermeierfest zum Beispiel im Cococello-CIub, das wir neulich mitgemacht hätten, in einem quälenden Kontrast stände zu der Traurigkeit und Verdäditigkeit des Lebens. Ob ich es nicht auch kennte, das Grauen vor der geistigen Leere und Nichtigkeit, die bei einer durchschnittlichen >Einladung< herrschten, in grellem Gegen-

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satz zu der damit verbundenen fieberhaften Erregung infolge des Weins, der Musik und des Unterstroms von Beziehungen zwischen den Menschen. Manchmal könne man mit Augen sehen, wie Einer sich mit Jemandem unter mechanischer Wahrung der gesellschaftlichen Formen unterhalte und dabei mit seinen Gedanken völlig abwesend sei, nämlich bei einer anderen Person, die er beobachte . .. Und dabei der Verfall des Sdiauplatzes, das fortschreitende Derangement, das aufgelöste und unsaubere Bild eines Salons gegen Ende der >EinladungWenn ich das Wort >rassig< höre, wird mir schon angst und bangeEinmal mußte ich mich auch dort wieder sehen lassenin netter Weise< und weil er es für passend, für gesellschaftlich angezeigt halte, niEs sind schon so viele unglücklich!< Das habe sie mit eigenen Ohren von ihm gehört. Jemand habe ihn im Scherz gewarnt, ein Mädchen, oder vielleicht habe es sich auch um eine verheiratete Frau gehandelt, nicht unglücklich zu machen, und darauf habe er tatsächlich im Übermut geantwortet: >Ach, es sind schon so viele unglücklich!< Man habe da nur bei sich denken können: >Bewahre der Himmel einen jeden! Welche lächerliche Schmach, zu denen zu gehörend Übrigens wolle sie nicht zu hart sein, - was sie mit dem Worte >Sdimadi< vielleicht gewesen sei. Ich möge sie nicht mißverstehen: an einem gewissen edleren Fond von Rudolfs Wesen sei nicht zu zweifeln. Zuweilen könne man ihn in Gesellschaft mit einer gedämpften Antwort, einem einzigen stillen und fremden Blick der [S. 454] lauten, gewöhnlichen Stimmung entreißen, ihn gewissermaßen dem ernsteren Geiste gewinnen. O, dem scheine er so manches Mal wirklich gewonnen, außerordentlich beeinflußbar wie er ja sei. Langewiesches und Rollwagens, und wie sie hießen, seien dann nur noch Schatten 99

und Schemen für ihn. Aber freilich, es genüge, daß er andere Luft geatmet habe, anderen Einflüssen ausgesetzt gewesen sei, damit vollständige Entfremdung, hoffnungslose Fernheit an die Stelle des Vertrauens, des Einander Verstehens träten. Das fühle er dann, denn er sei ja feinfühlig, und suche reuig, es gut zu machen. Es sei komisdi-rührend, aber um sich wieder in Beziehung zu bringen, wiederhole er dann wohl irgend ein mehr oder weniger gutes Wort, das man selbst einmal gesprochen, oder das Wort eines Buches, das man gelegentlich angeführt, - zum Zeidien, daß er es nicht vergessen habe und im Höheren zu Hause sei. Im Grunde sei es zum Tränenvergießen. Und schließlich sein Abschiednehmen für diesen Abend, - dabei zeigte sich auch wohl seine Bereitschaft zur Reue und Korrektur. Er komme und verabschiede sich mit Dialekt-Jökeleien, die einem die Miene verzögen, und auf die die Müdigkeit vielleicht etwas leidend reagiere. Nachdem er dann aber rundum den andern die Hand gegeben, kehre er noch einmal zurüde und sage einfach und herzlich Adieu, worauf natürlich ein besser Erwidern sei. So habe er einen guten Abschluß, denn den müsse er haben. Auf den zwei Gesellschaften, die er danach noch besuche, mache er's wahrscheinlich wieder so . . . « Es gelang also, Rudi in zweifacher Perspektive zu zeigen. Erscheint er in Zeitbloms Betrachtungsweise als liebenswürdig und unbedeutend, was wohl audi dem Urteil des älteren Thomas Mann entspricht, so wird es durch Ines' Perspektive möglich, alles schmerzliche Leiden des Geistes am »lieben Leben« unverfälscht, ohne die störende Einschaltung eines fremden Mediums, in den Roman zu bringen. Weitere Notizen werden an der Stelle verwertet, da Zeitblom sich G e danken über das von Ines Mitgeteilte madit und dieses durdi Beobachtungen ergänzt, die er selbst gemacht haben will. Im alten Notizbuch hatte Thomas Mann die Bemerkung gefunden: »[Bl. 9 1 ] Die Person des Geliebten wird natürlich dadurch erhöht, u. die Gefühle für ihn bekommen dadurch immer wieder sentimentale Nahrung, daß mit dem Eindruck seiner Person fast immer starke Kunsteindrücke verbunden sind.« Diese N o t i z wird im Roman mit der Handlung und der Charakterisierung der Personen verknüpft: Der Bräutigam der Heldin ist bekanntlich Kunsthistoriker und im übrigen ein Mann, dem Zeitblom »keinen Appell für das andere Geschlecht zuschreiben« kann, 20 »ein bloßer Dozent des Schönen«. Seine Unterlegenheit dem Künstler Rudi gegenüber kommt also in zweifacher Hinsicht zum Ausdruck: »[S. 457] Gegen Institoris, einen bloßen Dozenten des Schönen, hatte er den Vorteil der Kunst selbst, dieser Nährerin der Leidenschaft und Verklärerin des Menschlichen, auf seiner Seite. Denn die Person des Geliebten wird natürlich dadurch erhöht, und die Gefühle für ihn ziehen begreiflicher Weise immer wieder neue Nahrung daraus, wenn mit dem Eindruck seiner Person fast stets berauschende Kunsteindrücke verbunden sind.* 100

Eine andere alte Notiz lautet: »[BI. 88] Nach dem Konzert, im Saal: Nähert sich ihm zwischen den verrückten Stühlen hindurdi, ihn fixierend. Er applaudiert nach dem Podium, ohne verhehlen zu können, daß er sie, seitwärts, aus den Winkeln seiner Augen, sieht. Dies dauert fort, während [sie] einen Schritt von ihm entfernt steht u. ihn unverwandt anblickt. Streckt ihm später die Hand hin. Bereut später qualvoll, sich nicht mit einem sdiarfen Ruck umgewandt zu haben u. weggegangen zu sein.« Diese Notiz wird im Roman verwertet und dabei noch mehr ausgefaltet. Was die Heldin in der frühen Notiz nur »bedauert«, nidit getan zu haben, tut Ines nun wirklich. Zeitblom erinnert sich: »[S. 458] Ich sehe Rudolf selbst, enthusiasmiert von der Standard-Leistung eines gastierenden Kunstgenossen, im Vordergrund eines schon fast entleerten Saales stehen und eifrig zum Podium emporklatschen, wo jener Virtuos sich zum zehnten Mal verneigt. Zwei Sdiritte von ihm entfernt, zwischen den durdoeinandergerückten Stühlen, steht Ines, die an diesem Abend so wenig wie wir anderen mit ihm in Berührung gekommen, sieht ihn an und wartet darauf, daß er's genug sein lasse, sich wende, sie bemerke und sie begrüße. Er läßt nicht ab und bemerkt sie nicht. Vielmehr, aus dem Augenwinkel sieht er dennoch nach ihr, oder, wenn das zu viel gesagt ist: seine blauen Augen haben keinen ganz ungestörten [S. 459] Blick auf den Helden dort oben, sie werden, ohne daß sie wirklich in den Winkel gingen, leicht nadi der Seite abgezogen, wo sie steht und wartet, aber ohne daß er sein begeistertes Tun unterbräche. Noch ein paar Sekunden, und sie wendet sich, bleidi, Zornesfalten zwischen den Brauen, auf dem Fleck und eilt davon. Sogleich gibt er es auf, den Star noch einmal hervorzuklatsdien und folgt ihr. An der Tür holt er sie ein. Sie setzt eine Miene auf, die kalte Überraschung bekundet, darüber, daß er hier, daß er überhaupt auf der Welt ist, verweigert ihm Hand, Blick und Wort und eilt weiter.« Vermutlich war Thomas Manns Notizbuch noch voll von ähnlichen N o tizen; wenigstens scheint darauf eine Bemerkung Zeitbloms anzuspielen, mit der er die Mitteilung eigener Beobachtungen in bezug auf die sich entwickelnde Liebesgeschichte abschließt, ein Scherz, der freilich einstweilen nur dem Autor selbst verständlich war: *[S· 4J9] Idi sehe ein, daß idi diese Quisquilien und Krümel-Abfälle meiner Beobachtung hier gar nidit hätte aufnehmen dürfen. Sie sind nicht buchgeredit, sie mögen in den Augen des Lesers etwas Läppisches haben, und er mag sie mir als lästige Zumutungen verargen. Er rechne es mir wenigstens an, daß ich hundert andere, ähnliche unterdrücke, die sich ebenfalls in meiner Wahrnehmung, derjenigen eines mitleidigen Menschenfreundes, gleichsam verfingen [ . . . ] . « Übrigens hat er sie trotzdem nidit alle unterdrückt. Vielmehr erweisen sich eine Reihe von Notizen über Paul Ehrenberg als sehr brauchbar bei der Darstellung des Verhältnisses von Adrian und Rudi.

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d) Adrian und Rudi Mit der Beziehung zwischen Ines und Rudi wurde die eigentliche alte Liebesgeschichte gestaltet, deren biographische Quelle die Freundschaft Thomas Manns mit Paul Ehrenberg bildete, die übrigens schon im Erleben von dem Gegensatz von Geist und Leben geprägt war. Wenn Ines - der Philosophie ihres Mannes folgend - in Rudi »das Leben« liebte, so war es doch nicht das prangend-gewalttätige, sondern das »liebe Leben«, das harmlose und frische in all seiner Banalität. So könnte es so aussehen, als sei ein früher Plan nun im Alter gestaltet worden, ein Fall, der sich häufig ereignet. Hier aber geschieht etwas sehr viel Eigentümlicheres, denn in einer Parallelhandlung wird dasselbe autobiographische Erlebnis, diesmal mit etwas anderer Betonung, noch einmal gestaltet; die beiden Handlungen bleiben dabei nicht in parallelem Abstand, sondern verschränken sich auf eine höchst sonderbare Weise. Selbst der ursprünglich vorgesehene tödliche Ausgang der Liebesgeschichte kann beibehalten werden, ebenso wie die Motivation - die verlassene Frau erschießt den Geliebten - , aber durch die neu hinzugekommene und dazwischengefügte Parallelhandlung hat die Geschichte eine Umpolung erfahren. Die frühere Haupthandlung ist jetzt fast zu einer Nebenaktion geworden. In bezug auf das biographische Erlebnis, die Freundschaft mit Paul Ehrenberg, findet eine gewisse Verteilung statt: Thomas Mann spiegelt sein Erlebnis im Verhältnis Ines' zu Rudi, aber auch in Adrians Verhältnis zu Rudi, das wieder mehr auf das biographische Erlebnis zurückweist, während im alten Plan an die Stelle Thomas Manns eine Frau als Heldin getreten war. Die alte Problematik ist in verschiedenen Figuren herausgestellt, die nun miteinander und gegeneinander agieren. Ines tötet Rudi letztlich auf Leverkühns Veranlassung. In Ines' Verhältnis zu Rudi wird Tonio Krögers Sehnsucht nach dem Leben und seinen »Wonnen der Gewöhnlichkeit«21 dargestellt; in Adrian Leverkühn, der ein tieferer, überlegenerer, zugleich aber auch ein unheimlicherer Tonio ist, ist das Problem gesteigert und verschärft. Die Sehnsucht des Geistes nach dem Leben ist sehr viel leidender geworden, sehr viel stärker betont aber ist auch die Verachtung, der Abstand zwischen ihm selbst und dem »Blonden und Blauäugigen«.22 Eine weitere Dimension der Liebesgeschichte kann erst angesichts der Marie-Handlung erörtert werden. - War in »Tonio Kröger« nur die Sehnsucht des Geistes nach dem Leben dargestellt worden, so wird nun auch die des Lebens nach dem Geist gestaltet. Rudis Bestreben, sich durch Adrian »zu heben, zu vervollkommnen«,23 wird ja von Zeitblom immer wieder betont, der freilich auch die zutreffende Bemerkung macht, daß 102

Rudi zu dieser Annäherung das falsche Mittel, das des Flirts, gewählt habe.24 So wird denn diese Sehnsucht dem »lieben Leben«, das die unheimliche Tiefe des Gegenspielers nicht ahnen kann, schließlich zum Verderben. Wenn Thomas Mann in der »Entstehung des Doktor Faustus« sagt, Leverkühn und Zeitblom hätten ein Geheimnis zu hüten, nämlich das ihrer Identität, 25 so gilt das in bezug auf die Rudi-Handlung audi für Ines und Adrian. »Erotische Ironie«, sagt Zeitblom, 20 habe Leverkühns Verhältnis zu Rudi gekennzeichnet. Die Wendung ist ein Selbstzitat, das ziemlich versteckt auf einen frühen Ideenbereich Thomas Manns hinweist. In den »Betrachtungen eines Unpolitischen« hatte es geheißen: »Das Verhältnis von Leben und Geist ist ein äußerst delikates, schwieriges, erregendes, schmerzliches, mit Ironie und Erotik geladenes Verhältnis [ . . . ] . Sehnsucht nämlich geht zwischen Geist und Leben hin und wieder. Audi das Leben verlangt nadi dem Geiste. Z w e i Welten, deren Beziehung erotisch ist, ohne daß die Geschlechtspolarität deutlich wäre, ohne daß die eine das männlidie, die andere das weibliche Prinzip darstellte: das sind Leben und Geist.« 2 7

In einem Brief an Carl Maria Weber vom 4. Juli 1920, in dem er über den »Tod in Venedig« und über das Phänomen der Homosexualität spricht, zitiert Thomas Mann diese Stelle und bestätigt sie noch einmal: »Das Problem des Erotischen [ . . . ] scheint mir beschlossen in dem Spannungsverhältnis von Leben und Geist.« 28 Nicht ohne Zustimmung zitiert er in dem gleichen Brief Hans Blühers Definition des Erotischen als der »Bejahung eines Menschen, abgesehen von seinem Wert«, 29 eine Definition, die das Element der Ironie einschließt. Ironie, Herablassung und Verachtung bezeichnen denn auch Leverkühns Neigung zu Rudi. Das für diesen auf dessen Drängen hin geschriebene Violinkonzert hält sich denn auch nicht auf der Höhe von Leverkühns sonst so kompromißlosem CEuvre, sondern hat etwas Gefälliges und Verbindliches und wird von Zeitblom dem Komponisten gegenüber als eine »Apotheose der Salonmusik« 30 bezeichnet. - Die Neigung des Geistes zum Ungeistigen, zur Schönheit, zum Sinnlichen, einbezogen und so schließlich dem Künstlerischen fruchtbar gemacht von Tonio Kröger, lebenszerstörend für Gustav von Aschenbach, wird in der Geschichte Adrian Leverkühns noch einmal zum Thema, und zwar in einer sehr komplizierten Art. Ganz zu Beginn des Notizenkonvoluts 31 findet sich das folgende SchillerZitat: »Gemein ist Alles, was nicht zu dem Geiste spricht und kein anderes als ein sinnliches Interesse erregt.« 32

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Es steht übrigens zusammen mit dem Sdiillersdien Distichon »Tonkunst«, das für den Musikerroman höchst einschlägig ist: »Leben athme die bildende Kunst, Geist fodr' idi vom Dichter; Aber die Seele spridit nur Polyhymnia aus.« 3 ' Diese beiden Schiller-Zitate bildeten schon den A n f a n g der Notizen zu dem Essay »Geist und Kunst« und stehen in Thomas Manns frühem N o tizbudi 7 aus der Zeit um 1905. 3 4 Scheint Schillers Diktum von der G e meinheit bloß sinnlicher Anziehung im »Literatur-Essay« noch ganz zustimmend zitiert, so wird es jetzt in Frage gestellt und zum Anlaß von Ausführungen über die Neigung des Geistes zum Ungeistigen genommen. Bemerkenswert dabei ist wieder, wie lange Thomas Mann mit bestimmten Dingen, die ihn einmal interessiert haben, umgeht und sich mit ihnen auseinandersetzt. Sie haben nach fast 40 Jahren ihre Anziehungskraft auf ihn noch nicht verloren. In den Notizen zum »Doktor Faustus« heißt es: » [Pag. Arch. Bl. 193] Musikalische Duldsamkeit und Vorurteilslosigkeit, völliger Mangel an Hochmut, den der im Strengen und Schweren Wohlerfahrene vor dem Leichten, selbst vor primitiver Tanzmusik an den Tag legt. Musik ist Musik, wenn es eben nur welche ist. An Goethes >Die Kunst beschäftigt sich mit dem Schweren u. Guten< auszusetzen, daß das Leichte auch schwer ist, wenn es gut ist, was es ebensowohl sein kann, wie das Schwere. Eigentümlich leidenschaftliches Verhalten zu einem Stück wie der Des-durArie der Delila aus >Samson< von Saint Saens, jenem Ma tante< dazu. Unterhaltung zu dritt. Für Marie Adrian natürlich geistig eindrucksvoller, aber Rudolf anziehender. Adrian ist sich darüber klar: Seine Werbung ist im Grunde hoffnungslos, zielt geradezu auf Rudolfs Erfolg und sein Ende ab, das er durch Ines erwartet. Rudolfs Verrat aus Flirt-Leidenschaft und Eroberungslust. Audi aus Eifersucht, Rache. Der Vorgang ist Anfang 1925 in München, wohin Marie durch eine künstlerische Berufung kommt. Wohnt in Pension Gisella. Begegnungen bei Schlaginhaufens, evtl. nodi woanders. Ausflug nach Füssen (Oberammergau?), der gleidiäugige Schildknapp zugegen, sodaß die sdiwarzen, blauen und indifferenten Augen beisammen sind. Rudi's >Untreue< ist [dadurch] gerechtfertigt, daß A . an ihm untreu wird, indem er ihn als Werber beim andern Gesdilecht gebrauchen will.« Weitere N o t i z e n halten bestimmte Personenkonstellationen der M a r i e H a n d l u n g fest. Z u r Begegnung im H a u s e Reiff gibt es eine genaue Z u sammenstellung der Personen: 108

»[Pag. Arch. Bl. 19$] Reiff» dramat. Sopran Bariton (Helden) Paul Sacher 1 . D r Andreä I m i t Musik-Kritiker Dr. X Marie Godeau Ma tante Adrian Sdiwerdtfeger Frau Reiff Jeanette«

b

Damen und Frau

G a n z entsprechend h a t sich T h o m a s M a n n die P e r s o n e n z u s a m m e n g e s t e l l t , die a n d e m A u s f l u g m i t den beiden D a m e n t e i l n e h m e n : »[Pag. Arch. Bl. 1 9 j ] Schlittenfahrt Serenus (und Frau) Marie Tantchen Adrian Sdiwerdtfeger Schildknapp Ettal: Benediktinerabtei mit Barock-Kirche. Linderhof, Rokoko-Schloß.« E i n e andere N o t i z charakterisiert M a r i e G o d e a u s Beschäftigung u n d die geistige W e l t , in der sie l e b t : »[Pag. Arch. Bl. 4] Marie Godeau, der Welt der franz. Oper und des Balletts nahestehend. (Lully, Tschaikowsky, Ravel. Russ. Ballett unter Monteux. Ballett >Jeux< von Debussy. Tsdiaikowskys >DornröschenBiches< von Francis Poulenc, >Les Facheux< von Georges Auric.) Sie ist >WeltLes Fächeux< von Georges Auric, Komposition voll Feuer und Spott; Dekorationen u. Kostüme von Georges Braque. - Die jugendlichen und zarten >Biches< von Francis Poulenc, zu denen Marie Laurencin einen pastellartigen szenischen Rahmen entworfen hatte.« 39 Nachträglich hat Thomas Mann den Namen »Marie« mit Kopierstift an den Beginn des Abschnitts geschrieben und ihn durch einen Kreis hervorgehoben. Nicht bloß Details 4 also hat Thomas Mann den Memoiren Strawinskys entnommen. Vielmehr scheint überhaupt die Gestalt Maries, deren Vorname direkt übernommen wird, von dieser Quelle angeregt zu sein. In ihrer beruflichen Tätigkeit ist die »natürlich-sachliche Annehmlichkeit« 87 ihres Wesens begründet, die der Erzähler so sehr rühmt. D a sie Westschweizerin und geistig in der Welt der französischen Oper beheimatet ist, ist sie für Leverkühn, den Sohn von Kaisersaschern und weltscheuen Deutschen, »Welt« in sympathischster Gestalt. Das Verhältnis Leverkühns und des Deutschen zur Welt aber ist eines der Zentralthemen des Romans. Wir werden es in weiterem Zusammenhang noch eingehender zu erörtern haben und dabei auf die Tatsache stoßen, daß überall da, w o von der »Welt« in diesem Sinne die Rede ist, Thomas Mann auf Strawinskys Memoiren als Quelle zurückgreift. Wie sehr die scheinbar selbständige Liebesgeschichte mit dem Geist des Volksbuches verbunden ist, zeigt die folgende Notiz. Scheinbar war der Roman ganz in die Gesellsdiaftsphase getreten, aber auch diese war der vom Volksbuch vorgegebenen Handlung eingefügt. »[Pag. Arch. Bl. 203] Ausbedungene Menschenfeindschaft. Sinnlichkeit (Liebe) darf durch kein menschliches Wesen, sondern nur durdi succubi, Buhlteufel gestillt werden. Dachte, dem Nicht-Weiblichen, weiblich nur durch Koketterie, werbende Vertraulichkeit, nachgeben zu dürfen (Mönch, Kloster). Muß den Verführer aber morden. - Verweigerung des Ehestandes als einer Form der Rettung. Wut des Teufels, weil er sich ehelich verheiraten will. Seinen Frieden mit Gott machen. Geist verhöhnt die mesquinen Sorgen u. die Gebundenheit des Ehestandes. Hält ihn schadlos durch Teufelsbuhlsdiaft. Treibt mit dem Teufel Unzucht (im Weiblichen steckt der Teufel, es ist homosexueller Verkehr). - Er ist gezwungen, seinen Ehewunsch gerade dazu zu gebrauchen, den Menschen zu töten, mit dem er Lust gehabt.« a Zwei weitere aus Strawinskys Memoiren entnommene Einzelheiten seien noch angeführt. Wenn in der soeben zitierten Notiz über Marie das »Russ. Ballett unter Monteux« genannt war, so verdankt Thomas Mann audi diese Information Strawinsky. Auf Bl. 66 heißt es in den Notizen: »Aufführung [von »Petruschka«] unter Monteux in Paris, Direktor des Russischen Balletts.« - Auch die Theater, für die Marie arbeitet - das »Tbiatre de la G a f t i Lyrique« bzw. »Theatre du Trianon« (Doktor Faustus, S. 639) - , stammen aus Strawinskys Memoiren (Notizen, Bl. 72).

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Wie der alte Faust, dem der Teufel jede menschliche Gemeinschaft verbietet, hatte auch Nietzsche, der in »eisig-genialischen einsamen Sphären« 38 Lebende, den Wunsch nach menschlicher Nähe. Auf Bl. 41 hatte sich Thomas Mann aus Podachs »Nietzsches Zusammenbruch« exzerpiert: » [ B l . 4 1 ] N . >Mag das Problem seiner Liebesfähigkeit noch so kompliziert sein - und es ist kompliziert genug - dem lockenden Gedanken, sein Leben mit einer ebenbürtigen Frau zu teilen, hat er sich nicht versagt.Beiden Veronesern< wird Proteus vom Herzog gebeten, Thurio's Werbung bei Claudia zu vertreten. Statt dessen bringt er seinen eigenen Antrag vor und wird abgewiesen (Proteus ist nidit der Freund Thurio's). Valentin überrascht Proteus, als er Sylvia Gewalt androht. >Du Ehrenräuber, frei laß deine Beute, D u Freund von schlechter Sitte. Gemeiner Freund, das heißt treulos und lieblos (denn so sind Freunde jetzt), Verräter du! Wem ist zu traun, wenn unsre rechte Hand Sich gegen unsre Brust empört? Ich fürchte, nie kann ich dir wieder traun — Ο schlimme Zeit, ο schmerzliches Verwunden, D a ß ich den Freund als schlimmsten Feind erfunden !Viel Lärm um Nidits< sagt Claudio (jung), daß er Hero liebt u. bittet um

des Freundes Unterstützung. >Euer Hoheit könnte mich jetzt sehr verpflichten^ Eigentlich kein Grund für Claudios Scheu. Warum sollte er den Prinzen in einem Fall, in dem die meisten Männer sidi auf ihre eigene Beredsamkeit 112

verlassen, um Hilfe bitten. Immerhin, fürstliche Fürsprache. Der Prinz verspricht bei Hero u. ihrem Vater (Tantdien) zu werben. >Du sollst sie haben.< 47 Claudios seltsame Rufe angesichts des > Verrätst >Es ist gewiß, der Prinz warb für sich selbst; Freundschaft hält stand in allen andern Dingen, Nur in der Liebe Dienst und Werbung nicht. Drum brauch ein Liebender die eigne Zunge, Es rede jeglich Auge für sidi selbst Und keiner trau' dem Anwalt: Schönheit weiß Durch Zauberkünste Treu' in Blut zu wandeln, Das ist ein Fall, der stündlich zu erproben Und dem ich doch vertraut: Hero, fahr hin.< Benedikt findet, Claudio habe nichts Besseres als Streiche, verdient. Don Pedro: >Was hat er denn begangen?< - >Die alberne Sünde eines Schulknaben, der voller Freuden über ein gefundenes Vogelnest es seinem Kameraden zeigt, und dieser stiehlt's ihm weg.< Don Pedro: >Willst du denn das Zutrauen zur Sünde machen? Die Sünde ist beim Stehler. >Was ihr wolltCesario . . . Du weißt nun alles, die geheimsten Blätter Schlug ich dir auf im Buche meines Herzens. Drum, guter Jüngling, mach dich zu ihr auf - Oh, dann entfalt' ihr meiner Liebe Macht, Laß sie erstaunen über meine Treu', Es wird dir wohl stehn, meinen Schmerz zu klagen, Sie wird geneigter deiner Jugend horchen Als einem Boten ernsten Angesichts.Was ihr wolltViel Lärm um nidits< und >Die beiden VeroneserDu könntest midi dir jetzt sehr verpflichten« ist eine Anführung und zwar aus >Viel Lärm um nichts«, dort, w o Claudio dem Prinzen seine Liebe zu Hero gesteht. Später spridit er das bittere >Denn so sind Freunde jetzt< aus den >Beiden Veronesern« und bringt so gut wie wörtlich die Verse an: >Wem ist zu traun, wenn unsre rechte Hand Sich gegen unsre Brust empört?< Er begründet auch, in der Uberredungsszene zwischen ihm und Rudi in Pfeiffering, die mir eine der liebsten des Buches ist, seine fatale Bitte mit Worten aus >Was ihr wollt«: >Sie wird geneigter deiner Jugend horchen, Als einem Boten ernsten Angesichts.« Und nachher, scheinbar seine Torheit beklagend, gebraudit er, wieder aus >Viel Lärm um nichts«, gegen Zeitblom das Bild von dem albernen Schulknaben, >der voller Freuden über ein gefundenes Vogelnest es seinem Kameraden zeigt, und der stiehlt's ihm weg.< Worauf Serenus audi noch, unbewußt mitzitierend antwortet: >Du wirst aus Zutrauen keine Sünde und Schande machen. Die sind doch wohl beim Diebe.« Er hat noch Glück, daß er nicht wörtlich sagt: >Die Sünde ist beim Stehler.««50 Diese A n g a b e n lassen sich noch ergänzen. T h o m a s M a n n hatte sich die V e r s e aus » W a s ihr w o l l t « abgeschrieben: »[Pag. Arch. Bl. 194] Cesario . . . D u weißt nun alles, die geheimsten Blätter Schlug ich dir auf im Buche meines Herzens. 114

Drum, guter Jüngling, mach didi zu ihr auf Oh, dann entfalt' ihr meiner Liebe Madit, Laß sie erstaunen über meine Treu'.«

Auf diese spielt Leverkühn an, wenn er in einer Mischung aus wörtlichem und kryptisdiem Zitat sagt: »[S. 667] Du bist es, nicht er,a dem ich midi anvertraut habe, der nun alles weiß, dem ich, wie man früher sagte, die geheimsten Blätter im Buche meines Herzens aufgeschlagen habe. Wenn du dich nun zu ihr aufmachst, laß sie auch darin lesen, erzähle ihr von mir, spridi gut von mir, verrate ihr behutsam die Empfindungen, die ich für sie hege, [ . . . ] . «

Was das kryptische Zitat so reizvoll macht, ist nicht zuletzt die Tatsache, daß das Gleiche, was in Shakespeares Lustspiel im hohen Ton und nidit ohne Pathos gesagt wird, in Adrians Rede in bürgerlich-moderner Redeweise und mit bewußtem understatement wiederkehrt. Rudi versteht denn die Anspielung audi nicht, nur die zitierte wörtliche Wendung von den »Blättern im Buche [des] Herzens« ist ihm aufgefallen, die er »altpoetisch« nennt. Er nimmt nur Leverkühns Bitte auf, bei Marie Godeau für ihn zu werben und erwidert sie mit dem Geständnis, daß Marie auch ihm nicht gleichgültig sei: »Ich hätte dir's nie gestanden, wenn du midi nidit, wie du's altpoetisch ausdrücktest, im Buches deines Herzens hättest lesen lassen.«51 Leverkühn aber weiß, daß nun eine Handlung nach vorgeprägtem Muster ablaufen wird. Rudi wird zu Marie gehen und für sich selbst werben. Sein Geständnis bestätigt für Leverkühn den vorgesehenen oder - genauer - von ihm selbst in Gang gesetzten Verlauf. Anspielend auf das Verfahren seines Autors sagt er, was dieser selbst über die betreffende Stelle und im weiteren über den gesamten Roman hätte sagen können: »[S. 666] Man muß immer von vornherein annehmen, daß so ein Einfall nicht vollkommen neu ist. Was ist den Noten nach ganz und gar neu! Aber so, wie es sich hier ergibt, an dieser Stelle, in diesem Zusammenhang und dieser Beleuchtung mag das Dagewesene doch neu, lebensneu sozusagen, originell und einmalig sein.«

Das Gespräch könnte nicht doppelbödiger sein; es ist zugleich unheimlich und auf eine merkwürdige Art komisch. Rudi, der von der Hintergründigkeit und Mehrdeutigkeit, die die Worte seines Gesprächspartners haben, nicht das geringste ahnt, antwortet denn auf diese Bemerkung Leverkühns a D. i. Zeitblom, den Rudi zuerst vorschieben will, womit er Leverkühn das Stichwort gegeben hatte zu den - leicht abgewandelten - Versen aus »Was ihr wollt«: »sie wird geneigter deinen Worten lausdien, als einem Werber so steifen Angesidits« (S. 667).

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- und hat damit auf seine Weise ja auch wieder recht, da ihm schließlidi der Freund gerade mitgeteilt hat, daß er die Frau heiraten möchte, für die er sich selbst interessiert und daß er zum Werber ausersehen ist - , mit den Worten: »Die Neuheit ist meine letzte Sorge. Was du sagst, ist neu genug, mich zu verblüffen.« 52 Mehrdeutig bleibt die Handlung auch im weiteren. Das von Leverkühn in Gang gesetzte Geschehen läuft so ab, wie er es geplant hat. Rudi, ohne jegliche Ahnung, welches Spiel gespielt wird, spielt unbewußt seine Rolle ganz richtig und nach der Regel. Leverkühn hat seinen Charakter richtig eingeschätzt. Er tut das, was er nach Leverkühns Willen tun soll, trotzdemmacht dieser auf Zeitblom bei ihrer Wiederbegegnung nach Rudis Verlobung »den Eindruck eines Menschen, der einen schweren Schlag empfangen«53 hat. Seinem »finsteren Vergnügen«, 54 nun statt mit Rudi mit dem gleichfalls unwissenden Zeitblom sein Spiel zu treiben, tut dies allerdings keinen Abbruch. Wie Thomas Mann in dem zitierten Passus aus der »Entstehung« selbst ausführt, tut ihm Serenus sogar noch den Gefallen, ihm auf die aus »Viel Lärm um nichts« stammende Selbstanklage, er habe gehandelt wie ein törichter Schuljunge, der einem Freunde ein Vogelnest zeige und von ihm darum gebracht werde, wenn nicht wörtlich, so doch dem Sinne des Textes nach »richtig« zu antwortend - Schon einmal, noch vor der Unterredung mit Rudi, aber bereits in geheimem Zusammenhang mit der Werbungsgeschichte, hat Leverkühn sich im Gespräch mit Zeitblom eines bestimmten Shakespeare-Zitats bedient. Als eine »Vorübung zu etwas Späterem«, 55 nämlich der Werbung durch Rudi, schickt er nämlich Zeitblom zu Marie, um ihr die Einladung zum Ausflug in die Umgebung Münchens zu überbringen. Es ist bei dieser frühen Gelegenheit, daß Leverkühn das von Thomas Mann in der »Entstehung« erwähnte — etwas ungenaue - Zitat aus »Viel Lärm um nichts« gebraucht: »Du könntest mich durch diesen Freundschaftsdienst jetzt sehr verpflichten«, eine Wendung, deren »sonderbare Steifheit«5® Zeitblom allerdings bemerkt. Aufschlußreich für Thomas Manns Arbeitsweise ist ein weiteres Exzerpt aus Harris' Shakespearebuch, da hier beim Exzerpieren schon direkte Dispositionen für den Roman getroffen werden, wobei selbst der Ton Zeitbloms schon vorgebildet wird: a

Dieses Muster findet sich vorgebildet im »Walpurgisnacht«-Kapitel des »Zauberbergs«, w o Hans Castorp auf Settembrinis Zitat aus Goethes »Faust«: »Betrachte sie genau. Lilith ist das!« in aller geistigen Unschuld genau die »richtige« Frage stellt: »Wer?«, also wie Zeitblom »unbewußt mitzitiert«. - Die verborgene Zitatstruktur dieser Stelle hat zuerst Herman Meyer entdeckt und in seinem Buch »Das Zitat in der Erzählkunst« (Kapitel »Thomas Mann, >Der Zauberberg< und >Lotte in Weimardunkle DameIch brauche mir nur vorzustellen, ich hätte, statt selbst zu ihr zu reden, zu meiner geb. Oelhafen einen besonders attraktiven Freund geschickt, um recht der Absurdität der Sache inne zu werden.befreit< wird, die er doch nicht heiraten darf.«*

Diese Notiz bringt alle Fäden der komplizierten Liebesgeschichte und damit audi alle ihre Quellen und Aspekte zusammen. Leverkühns Ehewunsch ist auf einer Ebene der Betrachtung ernstzunehmen. Er stellt sich dar als der Versuch, sich der beschämenden Beziehung zu dem »Blonden und Blauäugigen«, 58 Rudi, zu entziehen und ein »strenges Glück«, 69 ein auf »Hoheit und Liebe«80 gegründetes Glück mit der dunkeläugigen Marie zu begründen, die von Zeitblom als außerordentlich a Vgl. Roman, S. 671: »Hätte ich seinen Selbstvorwürfen nur mit mehr Uberzeugung begegnen können! Indessen mußte idi sie in [672] meinem Herzen bestätigen, denn sein Verhalten, diese ganze Veranstaltung mit der Fürsprache, der Werbung, ausgerechnet durch Rudolf, erschien mix gesucht, gekünstelt, sträflich, und ich brauchte mir nur vorzustellen, ich hätte dereinst zu meiner Helene, statt meine eigene Zunge zu brauchen, einen attraktiven Freund geschickt, damit er ihr mein Herz eröffne, - um der ganzen rätselhaften Absurdität seiner Handlungsweise innezuwerden. [ . . . ] Zuweilen stieg mir die Vermutung auf, daß er, der es so hingestellt, als mute er dem andern ein Opfer zu, sich selber das größte Opfer erwählt habe, - daß er absichtlich habe zusammenfügen wollen, was der Liebenswürdigkeit nach zusammengehörte, um selbst verzichtend zurückzutreten in seine Einsamkeit. Aber der Gedanke sah mir ähnlicher als ihm. Es hätte mir und meiner Verehrung für ihn so passen können, daß dem Schein-Fehler, der sogenannten Dummheit, die er begangen haben wollte, ein Motiv so weicher, so schmerzlich-gütiger Art zum Grunde gelegen hätte! Die Ereignisse sollten mich Aug' in Auge mit einer Wahrheit stellen, härter, kälter, grausamer, als daß meine [673] Gutmütigkeit ihr gewachsen wäre, [ . . . ] . «

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»sympathisch« 81 bezeichnet wird. Auch vom Volksbuch her gesehen, muß der Ehewunsch ernstgenommen werden. Bedeutet er auf der psychologischen, realen Ebene »Rettung« aus dem beschämenden Glück der Banalität, so bedeutet er auch aus der Perspektive des Volksbuches »Rettung«, freilich in einem viel tieferen Sinn. Der Ehewunsch ist der Versuch, dem Teufelsbund zu entgehen, denn die Ehe bedeutet menschliche Gemeinschaft und widerspricht der vom Teufel ausbedungenen Menschenfeindschaft. Im Volksbuch hatte der Teufel Faust für das Liebesverbot und das Eheverbot durch »Buhlteufel« entschädigt, durch eine menschlich entleerte, allein auf das Sexuelle begründete Liebe, wie sie Leverkühn bei der Hetaera gefunden hatte. Der Ehewunsch erregt die Eifersucht des Teufels - die Eifersucht der Hölle wird ja im Teufelsgespräch stark betont der Böse zeigt sich ergrimmt über Leverkühns Versuch, dem Eheverbot zu entgehen und so den Pakt zu brechen. Seine Eifersucht richtet sich selbst gegen Rudi. In den Notizen heißt es, Leverkühn habe gemeint, die Liebe zu dem Nicht-Weiblichen sei ihm nicht verboten, aber der Teufel duldet die menschliche Wärme nicht, die auch in dieser Beziehung liegt. Er veranlaßt, daß Leverkühn den »Freund« und die Frau, um die er wirbt, gleichzeitig verliert. Leverkühn wird von ihm zu einem - wenn auch indirekten - Verbrechen gezwungen. E r muß den »töten, mit dem er Lust gehabt«. 62 Zu diesem Zweck setzt Leverkühn eine komplizierte Intrige in Gang, die er der Literatur entnimmt. Bei alledem ist der »Teufel« natürlich als Projektion aus Leverkühns eigener Seele zu verstehen. Der Teufelspakt, der das Liebesverbot einschließt, ist nichts anderes als die Kälte des Künstlers. Einerseits strebt Leverkühn aus dieser Kälte in menschliche Gemeinschaft, insofern ist also der Ehewunsch ernst gemeint. Andrerseits kann er sich nicht mit dem Leben einlassen, da er für seine Produktion fürchtet, und insofern ist der Ehewunsch nicht ernstzunehmen. Auf der einen Ebene ist das Motiv des falschen Freundes echt; Rudi betrügt Leverkühn wirklich. In Wahrheit aber will oder kann dieser ja überhaupt nicht heiraten. Wenn es heißt, daß der Teufel ihn zwinge, Rudi zu ermorden, so ist es seine »Kälte«, die ihn veranlaßt, zugleich der erlittenen Beschämung wegen Rudi zu »beseitigen« und in bezug auf Marie sich selbst den doch nicht ernstgemeinten Ehewunsch zu vereiteln. Noch ein Weiteres kommt hinzu, nämlich die bereits zu Anfang dieser Untersuchung zitierte Vorform der Faust-Notiz : e s »Der syphilitische Künstler nähert sidi von Sehnsucht getrieben einem reinen, süßen jungen Mäddien, betreibt die Verlobung mit der Ahnungslosen und erschießt sidi dicht vor der Hochzeit.«

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Sie sollte als »Episode« innerhalb des Faust-Plans gestaltet werden. »Die Sache mit dem reinen jungen Mädchen, mit dem er es bis zur Hochzeit treibt, als Episode«, hatte Thomas Mann hinter die Faustnotiz geschrieben,®4 ungeachtet der offenkundigen Tatsache, daß der geplante tödliche Ausgang dieser Gesdiidite es unmöglich machte, daß sie zu einer »Episode« im Leben des Künstlers wird, der schließlich in geistiger Umnachtung endet. Sieht man jedoch einmal von dem Ende ab, so läßt sich sagen, daß diese Geschichte wirklich als »Episode« in die Haupthandlung des »Doktor Faustus« eingefügt ist. Dietrich Assmann, der in seiner Rezension des Buches von Gunilla Bergsten 65 der Autorin zum Vorwurf gemacht hat, daß sie diese Notiz gar nicht erwähnt, meint, von diesem »GretchenThema« fände sich im Roman nur noch ein »Relikt«, nämlich in Zeitbloms Verhältnis mit »einem Mädchen aus dem Volke«. Tatsächlich aber ist das Motiv in der Marie-Handlung gestaltet. Zeitblom macht einmal die Bemerkung, daß seines Freundes Distanz zur Sphäre des Geschlechtlichen nach dem Hetaera-Erlebnis nicht mehr auf dem »Ethos der Reinheit, sondern dem Pathos der Unreinheit« 66 beruhe. Wie der syphilitische Künstler der Liebesgeschichte strebt auch Leverkühn die Verlobung an und kann doch die Heirat nicht wirklich wünschen. N u r ist das Motiv der Liebesgeschichte dem umfassenderen Hauptmotiv untergeordnet: Dieser Künstler tötet sich wegen der unglücklichen Liebesgeschichte nicht mehr, sondern er weiß das Zustandekommen der Verbindung auf eine andere, höchst mittelbare Weise zu verhindern. Die Krankheit ist nun ganz auf das Werk bezogen, sie ist es, die den Künstler illuminiert und die er letztlich des Werkes wegen empfängt; an ihr geht er zugrunde, nachdem er das Werk vollendet hat. Die letzte für die Liebesgeschichte verwendete Notiz aus dem alten Notizbuch lautet: »[Bl. 89] Liebesgesch. Das unheimliche elektrische Glühen unter den R ä dern der Tram, in der sie ihn tötet.«

Es ist diese Notiz, auf die sich Thomas Mann in der folgenden Bemerkung in der »Entstehung des Doktor Faustus bezieht: » [ . . . ] und führte nach Mitte Oktober [1946] mit Leichtigkeit (wie leicht ist das Katastrophale!) Kapitel X L I I , den Mord in der Trambahn, zu Ende. Als ich einige Tage später diese Abschnitte bei Neumanns in Hollywood vorlas, erinnerte ich mich, wie weit zurück in meinem Phantasieleben die Idee des elektrischen Feuers reicht, das unter den Rändern und an der Kontaktstange eines herankommenden Trambahnwagens zuckt und zischt, worin ein Mord begangen werden soll. Die Vorstellung gehörte zu den uralten, nie ausgeführten Romankonzeptionen, die ich zu A n f a n g dieses Referates erwähnte. A n fünfzig Jahre hatte ich die Vision dieser >kalten Flammen< mit mir herumgetragen, bevor idi sie nun in einem Spätwerk, das aus der Gefühlswelt jener frühen Tage manches aufgenommen hat, untergebracht hatte.« - e 7

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5. Echo An die Notizen zu Rudi, Ines, Adrian und Marie schließen sich Aufzeichnungen über Echo an, der nach der Geschichte mit Marie und Rudi Adrians »letzte Liebesmöglichkeit«®8 sein sollte. Die Notizen sind zu einem Zeitpunkt zusammengestellt, da der Handlungsablauf schon festgelegt war und Thomas Mann mit der Niederschrift schon fast bis zu dem betreffenden Kapitel gelangt war. Elemente aus verschiedenartigen Bereichen tragen zur Konstituierung der Figur Echo bei. Es ist bekannt, daß Echo auf ein reales Modell zurückgeht, nämlich auf Thomas Manns ältesten Enkel Frido, der sdion immer sein besonderer Liebling gewesen war. In einem Brief vom 22. Januar 1942, also noch vor der »Faustus«-Zeit, hatte Thomas Mann an Agnes E.Meyer geschrieben: »Ein reizenderes Baby hat es nie gegeben. Es ist meine letzte Liebe.«,69 eine Äußerung, in der sich das Häuslich-Familiäre - ein >reizendes Baby< mit Ernsthafterem - »meine letzte Liebe« - verbindet. Daß Echo schließlich Adrian Leverkühns letzte Liebe ist, weist auf den engen Bezug zwischen dem Autor und seinem problematischen Helden hin. Nun fiel ein Besuch des Kindes vom Mai 1943 in die produktive Phase der Konzeption des Romans, nun mischten sich, wie Thomas Mann in der »Entstehung« sagt, »zarteste, zärtlichste Eindrücke und Empfindungen in ein Mühen, Probieren, und Erfinden«, »das bereits existenzbeherrschend geworden war«. 70 In seinem Tagebudi, zitiert in der »Entstehung«, heißt es: »Bewegt, wie immer, von Fridos [ . . . ] schönen Augen. Ging vor Tische mit ihm spazieren. Er aß mit u n s . . . Viel Scherz mit dem etwas sprechenden Bürsdichen.«71 Die »Entstehung« berichtet: »Ein Brief an Bruno Walter nach N e w Y o r k fiel in diese Zeit, »nicht ohne Zusammenhang mit dem Gegenstandes das heißt mit dem Roman-Entwurf, und übrigens voll von Geschichten und Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem reizenden Kind. Seine Antwort bekundete freudiges Interesse an dem Plan eines >Musiker-Romanseine bemerkenswerte Anregung< nannte, nämlidi den Vorschlag, Frido solle darin eine Rolle spielen - er denke sich die Episode als ein >Allegro moderator Der liebe Freund und herrliche Musiker war sich nidit vermutend, welche Unmensdilidikeit das Buch des Endes kalt durchweht - , und daß ich gehalten sein würde, die Geschidite des Gotteskindes in ganz anderem Geist zu erzählen als in dem des Allegro moderato.« 72

Daß die Idee, Frido, in den neuen Roman aufzunehmen, von Walter ausgegangen sei, ist übrigens eine ungenaue Erinnerung Thomas Manns und zeigt, daß die »Entstehung« nicht immer ganz verläßlich ist. Der Brief an Bruno Walter sowie dessen Antwortbrief sind erhalten, 120

der erstere ist bereits im zweiten Band von Erika Manns dreibändiger Briefausgabe enthalten, der letztere in einer Nummer der Blätter der Thomas-Mann-Gesellschaft, 7S die den Briefwechsel mit Walter enthält, publiziert. In Manns Brief vom 6. Mai 1943 heißt es: »Aber für einige Wochen haben wir, da unser Schwyzer Sdiwiegertöchterdien einen defence job angenommen hat [...]> die beiden Bübchen aus San Francisco bei uns - beschwerlich für meine Frau [···]> aber auch eine heitere Belebung für das Haus. Tonio, der Jüngere, ist ja als Persönlichkeit noch unbedeutend, aber der reizende Frido, noch hübscher geworden gegen das vorige Mal, ist mein tägliches Entzücken. Mit schwerer Zunge lernt er jetzt sprechen und sagt, auf die betreffenden Stellen deutend: >Augi, Nasi, Muhnd - und Chien (Kinn)'habt!'habt< sagen. Sein Abschiedsgruß ist unter allen Umständen >Nadit!ItsdiItsch habt.« Ich muß entschieden über ihn schreiben, werde ihn vielleicht in meinen nächsten Roman aufnehmen; denn ich habe beschlossen, dem Krieg n o c h einen Roman lang Zeit zu geben, sodaß Bermann nachher mit 4 unbekannten Büchern von mir durchs Brandenburger Tor einziehen kann. [ . . . ] Jetzt schwebt mir etwas ganz anderes vor, etwas ziemlich Unheimliches und dem Theologischen-Dämonologischen nahe Stehendes, [ . . . ] der Roman einer pathologisch-illegitimen Inspiration, dessen Held übrigens nun wirklich einmal ein M u s i k e r « · (Komponist) sein soll. Ich will's riskieren, - sehe aber kommen, daß ich Sie noch gelegentlich um Rat und sachliche Information werde bitten müssen [ . . . ] .* 74 Daß Bruno Walter die Idee eines Musikerromans enthusiastisch aufnehmen würde, war zu erwarten, er schreibt denn auch in seinem Antwortbrief vom 3 1 . Mai 1943, Thomas Mann sei ihn »sich, uns und vor allem der Musik schuldig«, die doch eigentlich seine »Muse« sei und ihm in seinen »Umarmungen mit anderen« »gegenwärtig« gewesen sei »wie Ottilie es Eduard war in ähnlicher Lage«. 7 5 Z u Thomas Manns Plan, Frido in den Roman aufzunehmen, meint er: »Ein wundervolles >Intermezzo< oder >Allegretto moderato< in der Dämonie Ihres Musiker-Romans könnte der großväterliche >Gesang ans Kindchen* werden, der Ihre Frido-Freuden poetisch verewigt.« 76 Walters Brief hat Thomas Mann zu seinem Material zum Roman gelegt. Einige darin enthaltenen sachlichen Auskünfte sowohl wie die auf Frido bezügliche Stelle sind unterstrichen bzw. angestrichen. Als Thomas Mann viel später den hier zuletzt zitierten, im Brief hervorgehobenen Satz wieder las, der ja nicht ausdrücklich erkennen läßt, daß es sich bei dem Gedanken, Frido in den Roman aufzunehmen, um seinen eigea

Hervorhebungen von Thomas Mann.

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nen handelt, mag es ihm so ersdiienen sein, als stamme die Idee ursprünglich von Walter. Zwei Jahre später hat sich Thomas Mann übrigens seinen Brief von Walter zurückerbeten, da er einige darin festgehaltene Züge und Beobachtungen im Roman verwenden wollte. Eine in der »Entstehung« zitierte Tagebudinotiz lautet: »Vorsorge weit hinaus, über viel Schwieriges hinweg. Schrieb an Walter nach New York, mir leihweise meinen Brief über Frido zu überlassen, in Hinsicht auf Nepomuk Schneidewein.«77 Die Tagebuchnotiz ist nicht datiert, muß aber aus dem September 1945 stammen. Nachdem er sich entsprechende Notizen gemacht hat, gibt er den Brief am 22. September 1945 zurück: »Lieber Freund, daß idi nicht vergesse, Ihnen das so treu bewahrte und freundlich Geliehene wieder zuzustellen. [ . . . ] Mit Redit haben Sie Vermutungen. Aber freuen Sie sich nicht, es wird alles sehr melancholisch. Die Liebe zu einem Kinde, seinem kleinen Neffen, kommt ganz zuletzt in dem teuflisch erkälteten Leben meines Komponisten. Das wird ihm dann auch genommen. Ich weiß nidit, warum idi mir so traurige Geschichten ausdenke. Die Kunst soll uns doch erheitern und erheben.« 78

Übrigens ist überhaupt anzunehmen, daß Thomas Mann schon damals, als er jenen früheren Brief schrieb, genau wußte, welche Rolle das Kind in dem Roman spielen sollte, obwohl die Wendung, er müsse »entschieden über ihn schreiben«, er werde ihn »vielleicht« in seinen »nächsten Roman aufnehmen«, sehr vage klingt. Zwei Tage vorher hatte er nämlich in seinem Tagebuch vermerkt: »Mittags mit dem kleinen Fridolin auf der Promenade. Wenn es vorüber ist, sagt er >habtHalb-AlteWinfriedunvermögend< machte? Was hieß hier >Unvermögenklassischen Jahrhunderte des Glaubensklassisdien< Zeit gefänglich angenommen, prozessiert und eingeäschert worden, die volle sechs Jahre Kundschaft mit einem Inkuhus gehabt hatte, sogar an der Seite ihres schlafenden Mannes, dreimal die Woche, vorzüglich aber zu heiligen Zeiten. Sie hatte dem Teufel dergestalt Promeß gemacht, daß sie nach sieben Jahren ihm mit Leib und Seele anheimgefallen wäre. Sie hatte aber Stern gehabt, denn noch gerade vor Ablauf der Frist ließ Gott in seiner Liebe sie in die Hände der Inquisition fallen, und schon unter leichten Graden der Befragung legte sie ein volles und ergreifend reuiges Geständnis ab, sodaß sie höchstwahrscheinlich von Gott Verzeihung erlangte. Gar willig nämlich ging sie in den Tod, unter der ausdrücklichen Erklärung, daß, wenn sie auch loskommen könnte, sie doch ganz entschieden den Brandpfahl vorzöge, um nur der Macht des Dämons zu entgehen. So sehr war ihr das Leben durch die Unterworfenheit unter schmutzige Sünde zum Ekel geworden. Welche schöne Geschlossenheit der Kultur aber sprach aus diesem harmonischen Einvernehmen zwischen dem Richter und dem Delinquenten und welche warme Humanität aus der Genugtuung darüber, diese Seele noch im letzten Augenblick durch das Feuer dem Teufel entrissen und ihr die Verzeihung Gottes verschafft zu haben! Dies führte Schleppfuß uns zu Gemüte und ließ uns bemerken - nicht nur, was Humanität a u c h sein könne, sondern was sie e i g e n t l i c h sei. Ganz zwecklos wäre es gewesen, hier ein anderes Wort aus dem Vokabular des freien Geistes zu gebraudien und von trostlosem A b e r - [ 1 6 2 ] g l a u b e n a zu sprechen.« a Noch eine dritte Geschichte hat Thomas Mann aus dem »Hexenhammer« notiert, und auch sie geht in den Roman ein: »[Bl. 98] Petrus de Palude berichtet von einem Bräutigam, der ein Idol geheiratet und nichtsdestoweniger mit einem jungen Mäddien zu tun gehabt, das er jedennoch wegen des Teufels nicht erkennen konnte, der sich immer in einem angenommenen Körper dazwischen gelegt habe.«29 Diese Geschichte wird von Zeitblom nur am Rande erwähnt, ist audi nicht völlig kennzeichnend für Schleppfußens Kolleg, eben deshalb kann sich Thomas Manns Ironie an ihr bewähren: »[S. 167] Allerdings gab es nicht nur Inkubi, sondern audi Succubi, und tatsächlich hatte ein verworfener Jüngling des klassischen Zeitalters mit einem Idol gelebt, dessen teuflische Eifersucht er am Ende erfahren sollte. Denn nadi einigen Jahren hatte er, aus Nützlichkeitsgründen mehr, denn aus waha

Hervorhebungen von Thomas Mann.

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rer Neigung, mit einem anständigen Weibe die Ehe geschlossen, war aber gehindert gewesen, sie zu erkennen, weil stets das Idol sich dazwischen gelegt hatte. Darum hatte das Weib, in gerechter Verstimmung, ihn wieder verlassen, der sich denn Zeit seines Lebens auf das unduldsame Idol beschränkt gesehen hatte.« Thomas M a n n notiert sich nun, was ihm bei der Lektüre all dieser G e schiditen aufgefallen war, die Tatsache nämlich, daß immer Frauen für die »Fleischessünde« verantwortlich gemacht werden: »fBl. 1 0 3 ] Der Tadel des Weibes bezieht sidi allgemein auf die Begehrlichkeit des Fleisches, die beiden werden identifiziert, sodaß audi die Fleischlichkeit des Mannes dem Weibe angerechnet wird. >Idi fand das Weib bitterer als den Tod, u. selbst ein gutes Weib ist unterlegen der Begehrlidikeit des Fleisches.< »Ein schönes Weib ist wie ein goldener Ring in der Nase einer Sau.Ein schönes Weib ist wie ein goldner Reif in der Nase der Sau.< Wievieles dergleichen war nicht, aus tiefem Gefühl, von alters über das Weib gesagt worden! Es galt aber der Begehrlichkeit des Fleisches im Allgemeinen, die mit dem Weibe in eins zu setzen war, sodaß auch die Fleischlichkeit des Mannes aufs Konto des Weibes kam. Daher das Wort: 'Ich fand das Weib bitterer als den Tod, und selbst ein gutes Weib ist unterlegen der Begehrlichkeit des Fleischest Man hätte fragen können: Der gute Mann etwa nicht? Und der heilige Mann etwa nicht ganz besonders? J a , aber das war das Werk des Weibes, als welche die Repräsentantin sämtlicher Fleischlichkeit auf Erden war.« Im »Hexenhammer« fand Thomas Mann überdies die pseudogelehrte A n sammlung von Zitaten aus den Schriften der kirchlichen Autoritäten. A u f Bl. 105 und 106 finden sich die folgenden Exzerpte: »[Bl. IOJ] Gott erlaubt das Böse, mag er auch nicht wollen, daß dasselbe geschieht; und zwar wegen der Vollkommenheit des Universums. Dionysius: >Das Böse wird sein bei allem, nämlich beitragend zur Vollkommenheit des Universums.< Augustinus, Enchiridion: >Aus allem Guten und Bösen besteht die bewundernswerte Schönheit des Universums; insofern nämlich auch das, was 146

schlecht heißt, wohl geordnet und an seinen Platz gestellt, das Gute deutlicher hervortreten läßt, u. dieses mehr gefällt und lobenswürdiger ist, wenn es mit dem Schlechten verglichen wird.< a Theologie, Gottesrechtfertigung, Theodizee. S. Thomas bestreitet freilich, daß Gott wolle, daß das Böse geschehe. Gott will das weder, noch will er, daß Böses nidit geschehe, sondern er erlaubt, daß Böses geschehe; und dies ist gut wegen der Vollkommenheit. Aber irrig, zu behaupten, Gott wolle, daß Böses sei oder geschehe wegen des Guten des Universums, weil nichts für gut zu erachten ist, außer wenn es der Idee >gut< entspricht durch sidi, nicht durch Akzidenz b.ao Problem des Absoluten Guten und Sdiönen, ohne das Böse u. Häßliche. Wenn dieses nicht wäre, wäre das Gute nicht gut, sondern es wäre qualitätsloses Sein, was beinahe Nichtsein ist und diesem vielleicht nidit vorzuziehen. (Theologie) c Römer X I I I : >Was von Gott ist, das ist geordnete Alles von ihm geordnet. Item kennt Gott alles, im Allgemeinen u. im Einzelnen. Und wenn Gottes Kenntnis gemessen wird an den geschaffenen Dingen, wie die Kenntnis der Kunst an den Kunstwerken, so sind, wie alle Kunstwerke der Ordnung und Vorsehung der Kunst unterworfen sind, auch alle Dinge der Ordnung u. Vorsehung Gottes unterworfen. Es ist ein anderes, einem Besonderen vorzustehen oder dem Allgemeinen. Der besondere Vorsteher hat es nötig, das Böse so weit als möglich auszuschließen, weil er aus dem Bösen das Gute nicht hervorbringen kann. D a aber Gott der allgemeine Vorsteher der Welt ist und er aus den besonderen bösen Dingen sehr viel Gutes hervorbringen kann - , deshalb braucht Gott nicht alle Übel zu verhindern, damit es sich nidit ereignete, daß dem Universum viel Gutes entzogen würde.·! (Aus Gutem kann auch viel Böses kommen, sodaß [Bl. 106] Gott, um dieses zu vermeiden, auch das Gute verhindern miißte und überhaupt die Welt nidit sein lassen dürfte.) Augustinus, Enchiridion: >So erbarmed ist der allmächtige Gott, daß er nichts Böses in seinen Werken sein ließe, wenn er nicht so allmächtig und gütig wäre, daß er Gutes schüfe audi aus dem Schlechten.«^ Gott hat der Kreatur, dem Menschen nicht anschaffen können, daß er nicht sündigen könne, trotz Allmacht u. Allgüte. Nicht weil seine Macht unvollkommen wäre, sondern weil um der Freiheit e willen die Möglichkeit der Wahl und der Sünde im Schöpfungsakt selbst liegt. Sündigen können heißt: aus freiem Willen sich von Gott entfernen können; deshalb konnte weder Mensch noch Engel das von Gott empfangen, daß er zugleich Freiheit des Willens hätte und zugleich die Gabe, nicht sündigen zu können.« 32 Was uns hier im »Hexenhammer« entgegentritt, ist das Korrelat von G u t a Die folgenden drei Worte nachträglich mit Bleistift hinzugefügt. b Soweit nahezu wörtliche Abschrift aus dem »Hexenhammer«; das Folgende hat Thomas Mann hinzugefügt. c »(Theologie)« nachträglich mit blauem Stift eingefügt. d Soweit wieder der Text des »Hexenhammers«; der anschließende S a t z ist Thomas Manns eigener Einschub. 6 D a s Wort »Freiheit« ist durch einen Kreis hervorgehoben.

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und Böse, von Gott und Teufel; das Universum erscheint als wohlgeordnet, die Stimmigkeit des Systems scheint perfekt. Fern der humanistischen und aufklärerischen Auffassung, daß das Böse überwunden werden müsse, daß es Aufgabe und Sinn des Menschenlebens sein könne, diesem entgegenzutreten, erscheint das Böse hier als im Heilsplan Gottes wohl vorgesehen und an seinen festen Platz gestellt. Es hat sogar auch einen Sinn und einen höheren Zweck, nämlich den der Demonstration der Allmacht Gottes. Da Gut und Böse so eng aufeinander bezogen sind, da aus Gutem Böses, aber audi aus Bösem Gutes entstehen kann, und das Böse deshalb nicht verhindert werden darf, kommt es schließlich fast zu einer Identität von Gut und Böse. Identität aber ist bekanntlich einer der zentralen Begriffe des Romans; er korrespondiert mit dem der Zweideutigkeit. In engem Zusammenhang mit dem im »Hexenhammer« ausgedrückten Gedanken des Aufeinanderbezogenseins von Gut und Böse steht im Roman die Identität von Höllengelächter und Engelschor in Leverkühns »Apokalypse«. 33 In Leverkühns zweitem Hauptwerk, der Symphonischen Kantate »Dr. Fausti Weheklag«, kommt das Prinzip des »strengen Satzes«, das Prinzip der Identität und Vertauschbarkeit, auf den Gipfel. 34 Aber auch im weiteren, hinausgreifend über den Gegensatz von Gut und Böse, beherrscht das Prinzip der Identität den Roman. Schon Jonathan Leverkühn hatte identische Bildungen und Verhaltensweisen im Organischen und Anorganischen beobachtet.35 Als identisch ersdieinen später der Schmetterling und die Hetaera, um nur wenige Beispiele zu nennen. Der Roman ist voll davon. Identität von Gut und Böse - dieses Prinzip berührt sich aufs engste mit der Idee der Zweideutigkeit, die gleichfalls zentral bestimmend ist für den Roman. So war es etwas der Liebe Ähnliches, was Leverkühns Krankheit herbeiführte, die andererseits als Teufelspakt gedeutet wird. Gut und Böse sind also unentwirrbar verschlungen. Leverkühns Kälte erscheint als Schuld, ist aber andererseits wie die Verschreibung Voraussetzung des Werkes. Überhaupt hat ja der Faust-Stoff selbst etwas Janusköpfiges: Um eines letztlich Guten, um der Erkenntnis, des Werkes willen, wird ein Kontakt mit dem Bösen hergestellt. Nicht zufällig bilden die Worte aus dem Volksbuch »Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ« das Generalthema der »Weheklag«.36 Die oben angeführten Gedanken aus dem »Hexenhammer« waren also nicht ohne Affinität zum Faust-Stoff. Was über Faust gesagt wurde, gilt, wie schon früher angedeutet, notwendig auch für Deutschland, da im Roman auch die Gleichung »Deutschland ist Faust« gilt. Aber auch unabhängig vom Roman hat Thomas Mann ähnliche Gedanken über die in den Faschismus mündende deutsche Ge148

schichte zum Ausdruck gebracht. In der Rede »Deutschland und die Deutschen«, in der er die deutsche Geschichte als die Geschichte der deutschen Innerlichkeit deutet, spricht Thomas Mann davon, daß es das Verhängnis der Deutschen sei, daß gerade ihr Gutes ihnen häufig ins Böse und Böseste ausgesdilagen sei.37 Wenn Adrian Leverkühn den Satz »Was von Gott ist, ist geordnet«38 gerne im Munde führt, so hat sein Autor diesen aus dem »Hexenhammer«. Gerade die Ordnung schätzt Leverkühn ja an der Institution der Kirche, nicht weniger als an der Musik. Seine Bemerkung angesichts des primitiven und im Grunde lädierlidien Tonsystems des Sektierers Beißel, »sogar eine alberne Ordnung ist immer noch besser, als gar keine«,39 ist charakteristisch für diese seine Auffassung. Musik und Theologie sind außerdem durch ihre Unzuverlässigkeit im Bereich des Humanen,40, ihre Dämonie 41 - wie Zeitblom sagt - miteinander verbunden. Die Theologie ist also mit im Blick zu behalten, wenn es von der Musik heißt, sie sei »berechnetste Ordnung und chaosträchtige Wider-Vernunft zugleich«42 oder sie sei »etwas sehr Berechnetes, Stimmiges, Kluges«, und doch »gegen die Vernunft und Nüchternheit elementarisch gerichtet«.43 Der gleiche Sachverhalt wird im Roman auch im Bilde des Magischen Quadrats angedeutet.44 Musik erscheint im Roman auch im Bilde der Magie, 45 und in der mittelalterlichen Welt des Volksbuch-Faust stehen Theologie und Magie in enger Beziehung. Was von der Musik im allgemeinen gilt, das gilt in gesteigertem Maße von Leverkühns Musik. In seiner Musik des »strengen Satzes« gibt es bekanntlich »keine freie Note mehr«, die »Ordnung des Materials« ist »total«.4* Das einzelne Element besitzt keinerlei Eigenwert, es gewinnt nur Wert im Zusammenhang mit dem Ganzen und ist mit jedem anderen Element austauschbar. Dem entspricht der im Roman pointiert ausgesprochene Gedanke, daß auch der Faschismus eine Ordnungsmacht ist. Auch hier herrscht totale Ordnung, auch hier wird der einzelne mißachtet, gilt als Individuum für sich nichts. Wir haben hier schon gezeigt, wie Thomas Mann die Ideen aus dem »Hexenhammer« mit den Zentralmotiven und Hauptthemen des Romans verband, wie er aus dem »Hexenhammer« selbst entscheidende Motive für den Roman gewann. Zunächst aber galt es, die einzelnen Geschichten und Argumentationen im Roman unterzubringen. Im Roman sind es immerhin 16 Seiten, die mit Zitaten aus dem »Hexenhammer« gefüllt sind.47 Das Problem wurde auf eine ebenso einfache wie souveräne Weise gelöst. Eine Lehrerfigur wurde erfunden, die als vehiculum diente, die Gehalte 149

aus dem »Hexenhammer« in den Roman zu transferieren. Dies gesdiieht im X I I I . Kapitel, und es ist sicher kein Zufall, daß es gerade das dreizehnte ist, denn Dozent Schleppfuß ist nidit nur durch den Inhalt seiner Vorlesungen, sondern auch durch seinen Namen, sein Gehabe und seine Kleidung - er trägt ganz nach der Tradition einen schwarzen Umhang und eine Art Schlapphut mit seitlich gerollter Krempe - als eine Diabolusgestalt gekennzeichnet. Daß er sich nur zwei Semester in Halle aufhält - es sind die beiden Semester, die Leverkühn dort studiert - und danach wieder verschwindet, erweckt den Eindruck, als sei er nur Leverkühns wegen dagewesen. Unter dem Titel »Religionspsychologie« 48 bietet Sdileppfuß seine Lehren in Halle an, eine geschickte Disposition Thomas Manns, da der protestantische Theologe die katholisch-mittelalterlichen Lehrmeinungen ja nicht geradezu, im Wortsinne, vortragen konnte. Ziemlich wörtlich wird das aus dem »Hexenhammer« Exzerpierte nun in Schleppfußens Vorlesung aneinandergefügt, wobei das angesidits der weitgehend theoretischen Inhalte etwa abschweifende Interesse des Lesers immer wieder dadurch zurückgeholt wird, daß die Zuhörer Schleppfußens in den Blick gefaßt werden. Die gleiche Kunst der epischen Integration theoretischer Gehalte läßt sidi im »Doktor Faustus« immer wieder beobachten. Wir erinnern hier nur an die Erklärung des Prinzips des »strengen Satzes« bei dem Spaziergang um die Kuhmulde. Im Falle der Vorlesungen Schleppfußens wird das Interesse noch zusätzlich durch ein anderes Mittel gefesselt, nämlich durch Zeitbloms immanente Kritik. Zeitblom läßt ja keinen Zweifel daran, daß er Schleppfußens Gedankengänge, die er referiert, als anrüchig empfindet. Sein Bericht ist mit solchen Einwänden durchsetzt. Diese Art des Berichtens aber aktiviert den Leser, seinerseits an der Auseinandersetzung teilzunehmen, und läßt kein Nachlassen der Spannung zu. Als es Thomas Mann scheint, daß genug aus dem »Hexenhammer« mitgeteilt ist, gelingt es ihm, dem Kapitel mit bloßen 14 Zeilen eine vollkommene Abrundung zu geben. Hatte die Beschreibung von Schleppfußens Person am Anfang des Kapitels gestanden, war dann das lange, zusammenfassende Referat seiner Vorlesungen gefolgt, so nimmt der Schluß den Anfang wieder auf. Zu Anfang hatte es geheißen, daß Schleppfuß jenen Schlapphut »sehr tief zu ziehen pflegte, wobei er >Ganz ergebener Diener !< sagte«. 49 Mit dieser zum Leitmotiv erhobenen Geste verschwindet er auch aus dem Kapitel: »Wir legten in unseren Gruß, wenn wir Schleppfußen auf der Straße oder auf den Korridoren der Universität begegneten, die ganze Achtung, welche das hohe intellektuelle Niveau seiner Vorlesung uns Stunde für Stunde einflößte, aber noch tiefer, als wir, zog er dagegen den Hut und sagte: >Ihr ganz ergebener Dienerl·.« 5 0 IJO

3. Die eigentliche Handlungszeit α) Der Erste Weltkrieg. Faschistische Tendenzen

In den Aufzeichnungen Thomas Manns zur eigentlichen Handlungszeit aktualisiert sich die schon von Anfang an angelegte Anwendung der Idee der Intoxikation auf die Geschichte Deutschlands. Der sich vorbereitende Faschismus wird als eine Art Krankheit, eine Art Vergiftung angesehen, die die gleichen rauschhaften Enthemmungen auslöst wie die paralytische Erkrankung. Die Kriegsbegeisterung von 1914, die in Zeitbloms Schilderung auch, wenn nicht vornehmlich, als krankhafte Festivität gedeutet wird, stellt sich im Gesamtzusammenhang des Romans, in der Sicht des alten Zeitblom, als ein Symptom der nationalen Erkrankung dar, das schon vorausweist auf die in den dreißiger und beginnenden vierziger Jahren ausbrechende Euphorie. - Die Geschichte Deutschlands steht so in völliger Entsprechung zu Leverkühns Krankheit. Für Thomas Mann geht mit dem Jahre 1918 - oder eigentlich schon mit dem Jahre 1914 - eine ganze Geschichtsepoche zu Ende, die mit dem Humanismus und der Renaissance begann und die der Roman in gewisser Weise zu umspannen sucht. Es ist ein Zeitabschnitt, der von Zeitblom als der des »bürgerlichen Humanismus« 51 bezeichnet wird, für den die Begriffe der Freiheit des Individuums und der Bildung bestimmend waren, ein Zeitabschnitt, der mit der »Sprengung scholastischer Bindungen« 52 begann und den er von einer aufziehenden Barbarei bedroht sieht, für die jene Werte nicht mehr verpflichtend sind und die nach neuen, kollektiven Bindungen, d. h. aber nach einer neuen Unfreiheit sucht. Diese Unfreiheit aber wird als schlimmer erachtet als die mittelalterliche, da sie das schon einmal Erworbene und Erkämpfte, die Idee der Humanität, bewußt verleugnet. Dieser Gedanke hat Thomas Mann stark und angelegentlich beschäftigt; in den Diskussionen des Kridwiß-Kreises ist davon ausführlich die Rede. Die Beschreibung der bedenklichen Zeitsituation, ihrer barbarischen Tendenzen aber ist eng verknüpft mit der Darstellung von Leverkühns Kunst. Bei Kriegsausbruch entwickelt Zeitblom bei seinem Abschiedsbesuch in Pfeiffering Leverkühn und dem ebenfalls anwesenden Rüdiger Sdiildknapp seine Idee des nationalen Durchbruchs. Davon will Leverkühn zwar nichts wissen, nimmt aber doch den Ausdruck »Durchbruch« auf und wendet ihn aufs Künstlerische an: »[S. 474] Es gibt im Grunde nur e i η Problem in der Welt, und es hat diesen Namen. Wie bricht man durch? Wie kommt man ins Freie? Wie sprengt man die Puppe und wird zum Schmetterling? Die Gesamtsituation ist beherrscht von der Frage.« iji

Vollends ist, wie schon gezeigt, die Darstellung der Tendenzen der Zeit, die im Kridwiß-Kreis erörtert und gebilligt werden, aufs engste verschränkt mit der Beschreibung von Leverkühns »Apokalypse«. Es war schon davon die Rede, daß die Zeit nach 1918 vermittels der Wendung »geschwinde gefährliche Zeitläufte« mit dem ausgehenden Mittelalter in Zusammenhang gebracht wird. 53 Verbunden aber sind diese beiden Zeitebenen noch mit einer dritten, der Schreibzeit Zeitbloms. Dieser setzt die Zeit des staatlichen Zusammenbruchs von 1918 in Beziehung zum nahenden Ende des Zweiten Weltkrieges, indem er gleichzeitig das Unterscheidende der beiden Zeiten betont: 1918 ein »schmähliches Ende«,64 aber doch ein vernünftiges Aufgeben eines »verfehlten Unternehmens«,55 26 Jahre später aber ein nahendes »Strafgericht«.58 Mit diesem sich 1944 ankündigenden Strafgericht hat die »Apokalypse« weit mehr inneren Zusammenhang als mit dem »mäßigen Mißgeschick«67 von 1918. Ist die »Apokalypse« also durch die Zeit ihrer Entstehung mit der Zeit des politischen Zusammenbruchs von 1918 verbunden, so steht sie andererseits auch in engstem Zusammenhang mit dem 1944 herannahenden Ende, das den apokalyptischen Charakter, den Charakter des Strafgerichts, hat. Wenn der Roman, je mehr er sich dem Schluß nähert, desto mehr unter dem Motto steht: »In Endes Zeichen steht die Welt«, 58 so wird dies nicht zuletzt auch durch Zeitbloms Schilderung der »Apokalypse« bewirkt, bei der er in seiner Geschichte erst im Jahre 1918 steht. Es ist kein Zufall, daß Thomas Manns Notizen zur direkten Handlungszeit nicht weiter zurückreichen als bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges."1 Damals war auch sein eigenes politisches Interesse erwacht. In dem »Lebens- und Geheim werk«, 59 wie er den »Doktor Faustus« wiedera

W o die geistig-politische Situation von Leverkühns Studentenzeit, der Zeit um 1904/05, charakterisiert wird, geschieht es mit Hilfe fremden Materials, eines Dokumentes, das überdies aus einer späteren Zeit, dem Jahre 1 9 3 1 , stammt. Für die Gespräche der Studenten des Winfried-Bundes nämlich verwendet Thomas Mann ein von Hans-Joachim Schoeps herausgegebenes und zum größten Teil auch von ihm verfaßtes Heft der »Freideutschen Position. Rundbrief der Freideutsdien Kameradschaft« (Jan./Febr. 1 9 3 1 , N r . 4). Die »Freideutsche Kameradschaft« war eine größtenteils aus Studenten bestehende Gruppe, die sich der Jugendbewegung zurechnete. Das betreffende Einzelheft, das sich in einer der Materialmappen zum »Doktor Faustus« befindet, war Thomas Mann kurz nach dem Erscheinen vom Verfasser zugeschickt worden und hatte einen kurzen Briefwechsel eingeleitet. Dies geht aus dem Aufsatz »Bemerkungen zu einer Quelle des Romans >Doktor Faustus< von Thomas Mann« von H . - J . Sdioeps (Zeitsdir. f. Religions- und Geistesgesdiidite 22, 1970, S. 3 2 4 - 3 5 j ) hervor, der audi den ganzen Rundbrief wieder abdruckt. Bereits G . Bergsten (S. 49 f.) hatte festgestellt, daß der Rundbrief dem X I V . Kapitel des Romans zugrunde liegt, und hatte mehrere Stellen daraus zitiert.

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holt genannt hat, sollte auch seine eigene politische Entwicklung dargestellt werden, und seine frühen politischen Äußerungen — »Betrachtungen eines Unpolitischen«, »Friedrich und die große Koalition«, »Gedanken im Kriege« - revidiert, erklärt, an den rechten Platz gerückt werden. Dabei legte Thomas Mann großen Wert darauf, die Kriegsbegeisterung von 1 9 1 4 , die er ja selbst geteilt hatte, von dem zu unterscheiden, was sich 1 9 3 3 und 1939 ereignete. Vermutlich deshalb hat er seine eigene Kriegsbegeisterung von 1 9 1 4 gerade Zeitblom zugeschrieben, der sich nadi 1 9 3 3 wegen » N o n Konformität«® 0 pensionieren läßt. Die folgenden Aufzeichnungen gehören zu dem Teil der Notizen, die zustande gekommen sind, als der Roman schon bis zu der betreffenden Stelle gefördert war und vor dem Weiterschreiben jeweils der weitere Verlauf skizziert wurde, wobei neues Material herangebracht wurde. Bei der zunächst folgenden Notiz zum Kriegsausbruch von 1 9 1 4 hat Thomas Mann alte Tagebuchaufzeichnungen verwendet. In der »Entstehung des Doktor Faustus« heißt es: »Beschäftigung mit dem Weitergang des Romans (Kriegsausbruch) an Hand alter Tagebücher.« 81 »[Pag. Arch. Bl. 4] Sommer 1914 Ausbruch des Krieges. Verhältnis zu diesem. Nicht ganz gutes Gewissen, aber Glaube an Deutschlands historische Stunde u. seinen Durchbruch zur Welt. Zu bedenken, daß zwar des Kaisers Fuchteleien lächerlich u. peinlich gewesen, daß aber im Lande nichts vorgegangen war, was mit 1933 im Entferntesten zu vergleichen. Freie Kultur. DerStaat dieser gleichgültig. (Dies freilich eben fehlerhaft.)« Diese Notiz wird im X X X . Kapitel, das den Kriegsausbruch schildert, ausgefaltet: »[S. 461] Überhaupt will ich nicht leugnen, daß ich vollauf teilhatte an den volkstümlichen Hochgefühlen, die ich soeben zu kennzeichnen suchte, wenn auch das Rauschhafte daran meiner Natür fern lag und mich leise unheimlich berührte. Mein Gewissen - dies Wort hier in einem über-persönlichen Sinn gebraucht - war nicht ganz rein. Eine solche >Mobilisierung< zum Kriege, wie grimmig-eisern und allerfassend-pflichthaft sie sich geben möge, hat immer etwas vom Anbruch wilder Ferien, vom Hinwerfen des eigentlidi Pflichtgemäßen, von einem Hinter-die-Schule-laufen, einem Durchgehen zügel-uiiwilliger Triebe, - sie hat zu viel von alldem, als daß einem gesetzten Menschen, wie mir, ganz wohl dabei sein könnte; und moralische Zweifel, ob die Nation es bisher so gut gemacht, daß dieses blinde Hingerissensein von sich selbst ihr eigentlich erlaubt sei, verbinden sich mit solchen persönlichen Temperamentswiderständen. [ . . . ] [S. 462] Auch will ich nidit vergessen, daß wir damals vergleichsweise reinen Herzens zum Kriege aufbrachen und nicht meinten, es vorher zu Hause so getrieben zu haben, daß eine blutige WeltKatastrophe als die logisch-unvermeidliche Konsequenz unserer inneren A u f führung hätte betrachtet werden müssen. So war es, Gott sei's geklagt, vor fünf Jahren, aber nidit vor dreißig. Recht und Gesetz, das Habeas corpus, Freiheit und Menschenwürde hatten im Lande in leidlichen Ehren gestanden.

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Z w a r waren die Fucbteleien jenes im Grunde völlig unsoldatischen und für nichts weniger, als für den Krieg, geschaffenen Tänzers und Komödianten auf dem Kaiserthron dem Gebildeten peinlich - und seine Stellung zur Kultur die eines zurückgebliebenen Dummkopfes gewesen. Aber sein Einfluß auf diese hatte sidi in leeren Maßregelungsgesten erschöpft. Die Kultur war frei gewesen, sie hatte auf ansehnlicher Höhe gestanden, und war sie von langer Hand an ihre völlige Bezugslosigkeit zur Staatsmacht gewöhnt, so mochten ihre jugendlichen Träger gerade in einem großen Volkskrieg, wie er nun ausbrach, das Mittel sehen zum Durchbruch in eine Lebensform, in der Staat und Kultur Eines sein würden.« A n die N o t i z über den Kriegsausbruch f ü g t sidi in T h o m a s M a n n s Z u sammenstellung eine andere über den V e r l a u f des K r i e g e s a n : »[Pag. Arch. Bl. 4] Während der nächsten 4 Jahre die Enttäuschungen, Versagen des >Blitzes< (Marne). Nicht verstehen, daß danach die Niederlage nur noch eine Frage der Zeit, und des Jubels der Welt darüber. Versacken und Versagen, Verelendung, Abnutzung, Mangel, Hunger. Bayern, vorwiegend landwirtschaftlich, vergleichsweise gut daran. Adrian, der sidi kaum vom Fleck rührt, ist bei Schweigestills immer leidlich gut versorgt. Schreibt die Gesta. - Autoritätsverlust des unterliegenden Staates schon vor Zusammenbruch, Kapitulation, Revolution. Lockerung und Diskursivität, Debatten.« W a s hier stichwortartig notiert ist, w i r d im R o m a n breit a u s g e f ü h r t ; die verschiedenen S t i d i w o r t e finden dabei an g a n z verschiedenen Stellen V e r w e n d u n g . D i e N o t i z selbst geht o f f e n b a r auf ältere A u f z e i c h n u n g e n T h o mas M a n n s zurück, der den K r i e g ja in München erlebte. I m R o m a n macht Z e i t b l o m , der a m K r i e g e teilnimmt, ähnliche E r f a h r u n g e n . A u s seiner P e r s p e k t i v e w e r d e n die anfänglichen Siege Deutschlands u n d schließlich die W e n d e des K r i e g e s geschildert: »[S. 477] Wir verstanden nicht den frenetischen Jubel der Welt über den Ausgang der Marneschladit, und daß damit aus dem kurzen Krieg, an den unser Heil gebunden gewesen, ein langer geworden war, den wir nicht ertrugen. Unsere Niederlage war nur noch eine Frage der Zeit und der Kosten für die anderen [ . . . ] . [S. 478] Langsam wurde die Wahrheit in uns hineingequält, und der Krieg, ein verrottender, verfallender, verelendender, wenn auch immer von Zeit zu Zeit in trügerischen, die Hoffnung fristenden Halbsiegen aufleuchtender Krieg, - dieser Krieg, von dem auch ich gesagt hatte, daß er nur kurz sein dürfe, dauerte vier Jahre. Soll ich das Versacken und Versagen, die Abnutzung unserer Kräfte und Sachgüter, das Schäbig- und Lückenhaflwerden des Lebens, die Verarmung der Nahrung, den Verfall der Moral durdi Mangel, die Neigung zum Diebstahl, dabei die plumpe Prasserei reichgewordenen Pöbels, hier ausführlich erinnern? [. . . ] « D a s letztere hatte Z e i t b l o m schon w i e d e r zuhause, in Freising sein L e h r a m t versehend, erlebt. V o n L e v e r k ü h n sagt er im Z u s a m m e n h a n g mit der V e r a r m u n g des Lebens u n d den E r n ä h r u n g s s d i w i e r i g k e i t e n : 1

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»[S. 479] Sein Zuhause - und es war ja in sonderbar wiederholendem, irgendwie nicht ganz zu billigendem Sinn ein >Zuhause< - hatte er verhältnismäßig glücklich gewählt - gottlob! er war während der Jahre des Verfalls und der stetig schärfer nagenden Entbehrungen bei seinen Ackerbürgern, den Schweigestills, 50 leidlich, wie nur wünschbar, versorgt und, ohne es recht zu wissen und zu würdigen, fast unberührt von den auslaugenden Veränderungen, denen das blockierte und zernierte, wenn auch militärisch immer noch ausgreifende Land unterlag.« Bei Zeitbloms Schilderung des ausgehenden Krieges werden wie in den anderen angeführten Stellen einzelne Wendungen aus den Notizen wörtlich übernommen: »[S. $22] Was ich hier biographisch in Erinnerung bringe, ist der bei herannahender Niederlage schon fortgeschrittene und mit ihr sich vollendende Autoritätsverlust des monarchischen Müitixstaates, der so lange unsere Lebensform und -Gewohnheit gewesen war, sein Zusammenbruch, seine Abdankung und der bei fortdauerndem Darben, fortschreitendem Währungsverfall sich ergebende Zustand diskursiver Lockerung und spekulativer Freiheit, eine gewisse klägliche und unverdiente Ermächtigung zu bürgerlicher Selbständigkeit, die Auflösung eines so lange disziplinär gebundenen Staatsgefüges in debattierende Haufen herrenlos gewordener Untertanen.« Wie sehr Thomas Mann an einmal geprägten Formulierungen festhielt, zeigt die Tatsache, daß die gleichen Vokabeln an einer späteren Stelle im Roman noch einmal vorkommen: »[S. 539] Es kommt aber dieses Sich überstürzen und Sich verlieren meiner Ideen von der Erregung, in welche die Erinnerung an die Zeit midi versetzt, von der ich handle, die Zeit nach dem Zusammenbruch des deutschen Autoritätsstaates mit ihrer tief greifenden diskursiven Lockerung, die auch mein Denken in ihren Wirbel zog und meine gesetzte Weltanschauung mit Neuigkei-[S. j4o]ten bestürmte, die zu verarbeiten ihr nicht leicht fiel.« Auch bei den folgenden Notizen zum Kriegsende und zu den beginnenden zwanziger Jahren bedient sidi Thomas Mann alter Tagebuch-Aufzeidinungen. Dies teilt die »Entstehung des Doktor Faustus« mit, 62 doch geht es schon aus den Notizen selbst hervor, die in vielem nicht der politischen Position des alten Thomas Mann entsprechen. »[Pag. Arch. Bl. 4] 1918 das Ende, quälende Demütigung, in den Händen der Fremden, fortdauerndes Leiden u. Darben, aber geistige Bewegung, Spekulation. Kultur-Problem. Aufklingen des Motivs der Barbarei. Rückschlag gegen das Kultur-Zeitalter, alles berührend. Neigung zur Rückkehr zu einer kultischen Lebensform, welcher auch die emanzipierte und melancholisierte Kunst wieder dienend untergeordnet ist. (Auch zu Mythos und Mystik. Anti-Liberal.) Menschliche Entlastung u. Entfeierlichung der Kunst, Entromantisierung. Denn die Romantisierung begann mit Isolierung, der >Kultur< selbst. Nicht mehr Kultus des Kul-[2.Seite des Faltblattes]turellen, Abbau der Kultur1

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Idee - was, wenn man will, Barbarei zu nennen, Anti-Individualismus, Gemeinschaftsidee, die kultisch ist, weil sie die Kunst einbezieht. Auch keine Freiheit des Geistes, des Gedankens, sondern Unterordnung unter eine kollektivistische Autorität. (Das Diskursive, die An- und Aufgeregtheit erinnert an die Scheunen-Dispute der Studenten.) - Unter der Kultur-Idee erschien auch das Religiöse nur kulturell, humanistisch, als Bestandteil der Kulturgeschichte. Symptome: Im Elementar-Unterricht Abkommen von der universellen, nicht sprachgebundenen Buchstabenschrift, dem primären Erlernen der Buchstaben, des Lautierens: Es werden Wörter gelernt u. das Schreiben an die Anschauung der Dinge geknüpft (anti-abstrakt). Alte Wortschriften. - Oder die Neigung der Zahn-Mediziner zum Reißen - nach äußerster Entwicklung der Wurzelbehandlung. Hygienische Begründung ist Rationalisierung: es handelt sich um anti-humane Vereinfachung, Fallenlassen kultureller Errungenschaften. - Wertverlust des Individuums, Gleichgültigkeit gegen sein Leiden u. Untergehen, durch den Krieg gezüchtet. Nicht-Bewahrung des Kranken, Tötung Lebensunfähiger u. Geisteskranker, ebenfalls hygienisch begründet (Rassehygiene), eigentlich aber aus allgem. anti-humaner, schon inhuman-nazistischer Auffassung kommend. Anti-Liberalismus des jüdischen Schriftstellers Chaim Breisacher, Mystiker und Faschist im Voraus. [...] Der mittelalterl. Mensch meist mehr Phantasiemensch. Gerade weil das geistig Uniforme durch die Kirdie bei ihm von vornherein als selbstverständlich gegeben war, konnte er sich der individuellen Phantasie im einzelnen desto sorgloser überlassen. [...] Diskussionsort: Wohnung des Graphikers und vortragenden Kulturdenkers Sixtus Kridwiß, China-Spezialist, Theaterdekorationen und Figurinen. Sieht bei sich einen Kunstgeschichte studierenden Prinzen, den Stammes-Literaturhistoriker Prof. Georg Vogler, den Paläontologen u. Philosophen Dr. Unruhe (oder Vom Lande), den Fabrikanten Bullinger, Dr. Breisacher, Zeitblom und Adrian. Auch Heinrich Institoris, der Verlobte, dann Gatte der Ines Rodde kann zugegen sein.« Fast jede notierte Wendung wird für den Roman ausgenützt, die Formulierung »in den Händen der Fremden« fand Thomas Mann offenbar sehr treffend zur Charakterisierung der Zeitsituation; sie erscheint im Roman an zwei Stellen: » [S. $ 14] Die Zeit, von der idi schreibe, war f ü r uns Deutsche eine Aera des staatlichen Zusammenbruchs, der Kapitulation, der Erschöpfungsrevolte und des hilflosen Dahingegebenseins in die Hände der Fremden.« »[S. 518] Den Hintergrund meiner Erzählung selbst angehend, zu dem Zeitpunkt, bis zu welchem ich sie vorgetrieben, so habe ich ihn eingangs dieses Kapitels mit der Redewendung >In den Händen der Fremdem gekennzeichnete Es ist furchtbar, in die Hände der Fremden zu fallenPublikum< genannt, die es bald nicht mehr geben wird, die es schon nicht mehr gibt, sodaß also die Kunst bald völlig allein, zum Absterben allein sein wird, es sei denn, sie fände den Weg zum >VolkBildung< umfassen und Kultur nicht haben, vielleicht aber eine sein wird.«

Es hängt mit der komplizierten Anlage und mit der Vielschichtigkeit des Romans zusammen, daß die hier geäußerten Ideen zwar einerseits ganz den im Kridwiß-Kreis erörterten Zeittendenzen entsprechen, daß aber die gleichen Gedanken Leverkühns, kaum umgeformt, an anderer Stelle des Romans positiv gewertet werden. Als Kuriosität sei vermerkt, daß die soeben zitierten, Leverkühn in den Mund gelegten Ideen inspiriert scheinen von einem Artikel über den Jazz, der am 3 1 . August 1945 in der Züricher »Weltwoche« erschien. Thomas Mann hat diesen Artikel ausgiebig exzerpiert, in dem es u. a. heißt, der Jazz, befreie die Musik von Feierlichkeit, Pomp und »Literatur«, verwerte die Ergebnisse jahrhundertelanger Musikentwicklung und sei doch auch dem musikalisch Ungebildeten verständlich, wende sich also ebenso an die Eingeweihten wie an das breite Publikum. Diesen Gedanken weiterentwickelnd und auf seinen Zusammenhang beziehend, notierte sidi Thomas Mann: »[Pag. Arch. Bl. 178 Rüdeseite] Die Kunst, aus der melancholischen Isolierung der >Kultur< erlöst, die ein >Publikum< (bürgerliche Elite) hatte, aber dem Volke, d. h. heute den Massen, fremd war. Wird unschuldig, gewissermaßen harmlos, gemeinschaftsfroh, einfach-dienend, seelisch gesund, unfeierlich, untraurig.«

Ungeachtet der Ausfüllung durdi Atmosphärisches ist es bemerkenswert, wie eng sich Thomas Mann an das in den Vorarbeiten bereits Formulierte a

Hervorhebung von Thomas Mann. 157

gehalten hat. Nicht etwa wird das Notierte im Roman in Dialog aufgelöst, sondern es kann en bloc übernommen werden, da Zeitblom ein Resümee der Diskussionsabende, die er bei Kridwiß miterlebt hat, zu geben verspricht: »Ich werde versuchen, auf möglichst knappem Raum das Wesentliche dieser Ergebnisse zu umreißen [ . . .].« es Die epische Integration theoretischer Gehalte erfolgt hier also auf eine ganz raffinierte, weil ganz einfache Art. »[S. 557] Es wurde sehr stark empfunden und objektiv festgestellt: der ungeheuere Wertverlust, den durch das Kriegsgeschehen das Individuum als solches erlitten hatte, die Achtlosigkeit, mit der heutzutage das Leben über den Einzelnen hinwegschritt, und die sich denn audi als allgemeine Gleichgültigkeit gegen sein Leiden und Untergehen im Gemüte der Menschen niedersdilug. Diese Achtlosigkeit, diese Indifferenz gegen das Schicksal des Einzelwesens konnte als gezüchtet erscheinen durch die eben zurückliegende vierjährige Blut-Kirmes; aber man ließ sich nidit täuschen: wie in manch anderer Hinsicht hatte auch hier der Krieg nur vollendet, verdeutlicht und zur drastischen Erfahrung gemacht, was längst vorher sich angebahnt, einem neuen Lebensgefühl sich zugrundegelegt hatte.« »[S. 564] U m sich deutlich zu machen, was bevorstand, und um sich der törichten Furcht davor zu entschlagen, mußte man sich nur erinnern, daß die Unbedingtheit bestimmter Voraussetzungen und sakrosankter Bedingungen niemals ein Hindernis für die Phantasie und die individuelle Kühnheit des Gedankens gewesen waren. Im Gegenteil: gerade weil das geistig Uniforme und Geschlossene dem mittelalterlidoen Menschen durch die Kirche von vornherein als absolut selbstverständlid) gegeben gewesen, war er weit mehr Phantasiemensch gewesen, als der Bürger des individualistischen Zeitalters, hatte er sich der persönlichen Einbildungskraft im einzelnen desto sicherer und sorgloser überlassen können. Ο ja, die Gewalt schuf einen festen Boden unter den Füßen, sie war antiabstrakt, und sehr gut tat ich, mir in Zusammenarbeit mit Kridwissens Freunden vorzustellen, wie das Alt-Neue auf dem und jenem Gebiet das Leben methodisch verändern werde. Der Pädagog zum Beispiel wußte, daß schon heute im Elementar-Unterricht die Neigung bestand, vom primären Erlernen der Buchstaben, des Lautierens abzugehen und sich der Methode des WörterLernens zuzuwenden, das Schreiben an die konkrete Anschauung der Dinge zu knüpfen. Dies bedeutete gewissermaßen ein Abkommen von der abstraktuniversellen, sprachlich nicht gebundenen Buchstabenschrift, gewissermaßen die Rückkehr zu den Wortschriften der Urvölker.« »[S. 56$] Sie gaben sich mehr die Miene distanzierter Beobachter, und als >enorm wischtisch< faßten sie die allgemeine und schon deutlich hervortretende Bereitschaft ins Auge, sogenannte kulturelle Errungenschaften kurzerhand fallen zu lassen, um einer als notwendig und zeitgegeben empfundenen Vereinfachung willen, die man, wenn man wollte, als intentioneile Re-Barbarisierung bezeichnen konnte. [ . . . ] Idi glaube wirklich, ich hatte einen roten Kopf beim Mitlachen, als unter geistesfroher Heiterkeit die wachsende Neigung der Zahnärzte erörtert wurde, Zähne mit abgestorbenem N e r v kurzerhand auszureißen, da man zu dem Entsdiluß gekommen war, sie als infektiöse Fremdkörper zu betrachten - nach einer langen, mühevollen und ins RaffiIJ8

nierte gehenden Entwicklung der Wurzelbehandlungstechnik im 19ten Jahrhundert. Wohl gemerkt - und es war namentlidi Dr. Breisacher, der dies scharfsinnig und unter allgemeiner Zustimmung anmerkte: Der hygienische Gesichtspunkt hatte dabei mehr oder weniger als eine Rationalisierung der primär vorhandenen Tendenz zum Fallenlassen, Aufgeben, Abkommen und Vereinfachen zu gelten, - bei hygienischen Begründungen war jeder IdeologieVerdacht am Platze. Zweifellos würde man auch die Nicht- [S. y66] Bewahrung des Kranken im größeren Stil, die Tötung Lebensunfähiger und Schwachsinniger, wenn man eines Tages dazu überging, volks- und rassenhygienisch begründen, während es sich in Wirklichkeit - man wollte das gar nicht leugnen, sondern betonte es im Gegenteil - um weit tiefere Entschlüsse, um die Absage an alle humane Verweichlichung handeln würde, die das Werk der bürgerlichen Epoche gewesen war: um ein instinktives Sich in Form bringen der Mensdiheit für harte und finstere, der Humanität spottende Laufte [ . . . ] . « Der Zusammenhang zwischen dem Geist der Inquisition, wie er sich im »Hexenhammer« offenbart, und dem Faschismus zeigt sich hier noch einmal : das Kridwiß-Kapitel setzt das Sdileppfuß-Kapitel voraus und nimmt vieles daraus auf. So heißt es im Kridwiß-Kapitel: »[S. 563] Es war eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige Welt, in welcher die an die Idee des Individuums gebundenen Werte, sagen wir also: Wahrheit, Freiheit, Redit, Vernunft, völlig entkräftet und verworfen waren oder doch einen von dem der letzten Jahrhunderte ganz versdiiedenen Sinn angenommen hatten, indem sie nämlich der bleichen Theorie entrissen und blutvoll relativiert, auf die weit höhere Instanz der Gewalt, der Autorität, der Glaubensdiktatur bezogen waren, - nicht etwa auf eine reaktionäre, gestrige oder vorgestrige Weise, sondern so, daß es der neuigkeitsvollen Rückversetzung der Mensdiheit in theokratisdi mittelalterliche Zustände und Bedingungen gleichkam. Das war so wenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich herum-, d. h. zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. [ . . . ] Dem Gedanken war Freiheit gegeben, die Gewalt zu rechtfertigen, wie vor siebenhundert Jahren die Vernunft frei gewesen war, den Glauben zu erörtern, das Dogma zu beweisen [ . . . ] . «

b) Die Republik der zwanziger

Jahre

Daß die präfaschistisdien Tendenzen sdion in den Kapiteln des Romans zur Sprache kommen, in denen die Entwicklung unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg geschildert wird, hat seinen Grund in Thomas Manns Auffassung, daß mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches eine ganze Epoche zu Ende geht. Er hat darüber aber den positiven Ansatz, den die Geschichte Deutschlands mit der Weimarer Republik machte, nicht vergessen, wiewohl dieser in seiner Sicht leicht den Anschein gewinnt, als sei er von vornherein zum Scheitern verurteilt gewesen. Da Adrian Leverkühn audi der Repräsentant Deutschlands ist, wird seine - wenn auch flüchtige — Berührung mit der »Welt« in Beziehung gesetzt

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zur »Europäisierung« Deutschlands, wie sie sidi ansatzweise in den zwanziger Jahren vollzog. Anläßlidi der Marie-Handlung erwähnten wir bereits die zahlreichen Exzerpte, die sich Thomas Mann aus Strawinskys Memoiren gemacht hat. Strawinskys Memoiren vermittelten zum einen Information über das zeitgenössische Musikleben und gaben zum andern eine ganze Reihe von biographisdien Details vor, die von Strawinsky auf den fiktiven Helden übertragen werden konnten; so geht etwa der Umstand, daß Leverkühn nie ein Konservatorium besuchte, auf Strawinskys Biographie zurück. Überhaupt hat Leverkühn, der Zwölftonmusik ungeachtet, als Musiker mehr Züge mit Strawinsky als mit Schönberg gemein. Die Internationalität, die Weitläufigkeit von Strawinskys Lebens- und Schaffensverhältnissen ist der beherrschende Eindruck, der sich bei der Lektüre seiner Memoiren aufdrängt. Es war schon davon die Rede, daß diese Atmosphäre Thomas Mann anregte und daß überall da, wo von Leverkühns und Deutschlands Verhältnis zur Welt die Rede ist, diese Quelle eine Rolle spielt. Marie Godeau ist das erste Beispiel dafür. In ihrer Person liebt Leverkühn die Welt. Seine Berührung mit der Welt wird überdies gestaltet in den Kapiteln, die von Frau von Tolna und von Fitelberg handeln und mit dem Marie-Kapitel eine Gruppe bilden. Das X X X V I . Kapitel schildert das Verhältnis Leverkühns zu Frau von Tolna, die »eine Frau von Welt« ist, »welche dem Einsiedler von PfeifFering auch wirklich die Welt repräsentierte, - die Welt, wie er sie liebte, brauchte, ertrug, die Welt im Abstand, die aus intelligenter Schonung sich fern haltende Welt a .« e4 Das X X X V I I . Kapitel behandelt den Besuch des internationalen Agenten Fitelberg, des »Weltmannes«, der sich erbietet, Leverkühn den Zugang zur künstlerischen Weltöffentlichkeit zu verschaffen. Auch er verdankt der Strawinsky-Lektüre Thomas Manns sein Dasein. Der internationale Agent, der Konzerte zeitgenössischer Musik in den Hauptstädten Europas a

Thomas Mann hat in der »Entstehung« darauf hingewiesen, daß Frau von Tolnas Modell Tschaikowskys »unsichtbare Freundin, Frau von Meinternational< verachteten und gefürditeten künstler. Weltvorgängen. Weltscheu und -Fremdheit, Versponnenheit, Provinzialismus, Treue zu >KaisersasdiernErmutigung< ärgert gerade seinen Stolz; und er hält sein Schicksal zu einmalig, um es mit anderen zu vermischen, will von den anderen nichts wissen, sondern nur von seinem, als etwas Einzigem [Rückseite Bl. 142: »>Lebt man denn, wenn andere leben?< (Ohne Berührung mit anderen Musikern. Wolf-Brahms-Bruckner in Wien.)«]. Berufung Wiener (Fitelbergs) auf die deutsche Weltmusik des 18. Jahrhunderts Kosmopolitismus des Deutschtums, Weltbürgertum. Nationalismus des 19. Jahrhunderts sehr unbekömmlich f ü r das Deutschtum.« Die zweite Stelle aus den Strawinsky-Exzerpten, die Wiedergabe von Strawinskys eigener positiver Betonung der großen Rolle des Deutschlands der zwanziger Jahre im internationalen Musikleben, ist abermals mit einer schon offensichtlich späteren Skizzierung zum Fitelberg-Kapitel verbunden, hier aber schon ausdrücklich über die bloße Situation der Kunst hinaus auf die politische Situation der zwanziger Jahre, die Möglichkeit des Sichhineinfindens Deutschlands in die »Welt« bezogen: »[Pag. Ardi. Bl. 5] Die Republik der 20 e r Jahre: Versuch der »Demokratisierung^ Europäisierung Deutschlands, Einbeziehung in das internationale Kulturleben. Glaube in den anderen Ländern an diesen Prozeß; in Deutschland selbst hoffnungsvolle Bewegung in dieser Richtung - gegen die nationalistisch-wagnerisch-romantische Reaktion. (Pfitzner, Hausegger). Diese militant und kritisch aggressiv im Gefühl ihrer Rückständigkeit. Love's Labour< >Gesta< und Zugehöriges (auch >MeerleuditenAufblähung< deines £lends, jener betrunken zum Himmel kletternden Währungsinflation, einige Jahre lang bis zu einem gewissen Grade zu rechtfertigen schienest. [S. 592] Sie [die Republik] war ein Versuch, ein nidit ganz und gar aussichtsloser Versuch (der zweite nach dem fehlgeschlagenen Bismarcks und seines Einigungskunststücks), zur Normalisierung Deutschlands im Sinne seiner Europäisierung oder auch >DemokratisierungLebt man denn, wenn andre leben?< Ich habe die Frage irgendwo gelesen, ich bin nicht sicher, wo, es war bestimmt an sehr prominenter Stelle. Ausdrücklich oder im Stillen fragt ihr alle so, aus bloßer Höflichkeit und mehr zum Schein nehmt ihr von einander Kenntnis, — w e n n ® ihr Kenntnis nehmt von einander. Wolf, Brahms und Bruckner lebten Jahre lang in derselben Stadt, nämlich Wien, mieden sich aber wechselseitig die ganze Zeit, und keiner, soviel ich sehe, ist je dem andern begegnet. a

Hervorhebung von Thomas Mann. 163

f . . . ] [S. 6 1 9 ] - Sie wissen wohl garnidit, maitre, wie deutsch Ihre repugnance ist, die sich, wenn Sie mir erlauben, en psychologue zu sprechen, aus Hochmut und Inferioritätsgefühlen charakteristisch zusammensetzt, aus Verachtung und Furcht, - sie ist, mödite ich sagen, das ressentiment des Ernstes gegen den Salon der Welt. [ . . . ] [S. 6 2 1 ] Man spricht vom Zeitalter des Nationalismus. Aber in Wirklichkeit gibt es nur zwei Nationalismen, den deutschen und den jüdischen, und der aller anderen ist Kinderspiel dagegen - wie das Stockfranzosentum eines Anatole France die reine Mondänität ist [S. 622] im Vergleidi mit der deutschen Einsamkeit [ . . . ] . «

c) Zusammenfassende

Zeittafel

Hier wäre auch der Ort, eine Zeittafel mitzuteilen, die die Ereignisse von 1 9 1 2 bis zu Leverkühns geistigem Zusammenbrach festhält und die zusammengestellt wurde, als der erste Teil des Romans, einschließlidi des Teufelsgesprächs, schon geschrieben war. Jetzt kam es darauf an, in einer Übersicht, die beim Schreiben zur raschen Orientierung diente, den weiteren Gang der Handlung in großen Umrissen zu skizzieren. Diese Ubersicht setzt hier mitgeteilte ausführliche Notizen, etwa zur Zeitsituation und den Personen, schon voraus, die sie in abbrevierter Form zusammenfaßt: »[Pag. Arch. Bl. 209] Zeit-Tafel 1 9 1 2 ; Herbst-1913

1914: 1915: 1916: 1917: I9I8:J

1919:

164

Der Krieg

Adrian 28jährig. Niederlassung in Pfeiffering. Zeitblom wird in Freising angestellt. Wiederaufnahme des gesellschaftlichen Verkehrs. Spengler und Jeanette. Beendigung von Love's Labour. Abschrift etc. Fasching 13. Ines Rodde und Dr. Institoris. Sdiwerdtfeger. Adrian schreibt Lieder Eine kosmische Musik. Ausbruch. Zeitblom muß einrücken. Kehrt etwa nach Jahresfrist zurüdc. Versagen des Blitzes. Marne-Schlacht. Versacken und Versagen unter Siegen. Niederlage unglaubhaft bis zum Ende. Eingesperrtheit und Vereinsamung Deutschlands. Adrian zur Zeit der Verelendung und des Hungers bei Schw. aufgehoben, schreibt die Gesta-Spiele. Regression zu Love's Labour während die >Apokalypse< sich vorbereitet. München völlig ablehnend gegen seine Musik. Anderwärts halb skandalöse oder rein esoterische Aufführungen. Sein Name, seine Existenz gewinnt eine gewisse Aura. Weibl. Wesen, die ihn verehren, betreuen, beschenken: Meta Nackedey; trauernde und wohlgesetzt schreibende Jüdin. - Der Zusammenbruch. In den Händen der Fremden. Kapitulation, Revolution. Autoritätsbankerott des unterlegenen Staates, Lockerung und Diskursivität. Bei fort-

1920:

1921:

1922

1923:

1924:

1925:

1926: [Pag. Arch. Bl. 210]

dauerndem Leiden u. Entbehren. Zugleich bei A d r i a n Ansteigen der inspirativen Erregung, euphorische Welle: Wendet sich der >Apokalypsis< zu u n d bewältigt das a u f wühlende W e r k in unheimlich kurzer Zeit. Er ist 34. Clarissa R., seit den letzten Kriegsjahren in der P r o vinz tätig, geht zugrunde (Kölner R u n d f u n k bringt die Brentano-Lieder) a Brentano-Lieder unter A n d r e a e in Zürich 1922. In diesen J a h r e n finden einzelne A u f f ü h r u n g e n seiner W e r k e in Deutschland u. in der Schweiz statt. Sein N a m e wächst, aber mit unheimlichem, destruktivem N i m b u s ; W e r k wird als äußerst herausfordernd, verhöhnend, ja verbrecherisch e m p f u n d e n , von anderen als bedeutend u. neue Welten eröffnend. - Es schreibt ihm die reiche Witwe, die f o r t a n p a r distance seine Gönnerin, Freundin, Bewundererin, Ratgeberin wird. Gold. Ring. W o h n t auf ihrer Besitzung, wenn sie nicht da ist. Sieht sie nie. Briefwechsel. Sie ist für ihn >WeltRobott der Abänderungen^ - »Kennen Sie eine lustige Musik?< Das Lineare, K o n s t r u k t i v e phantastisch durchglüht. Gilt f ü r München. Aber kurze Epoche des Kunst-Liberalismus in D . A u f f ü h r u n g der Apokalypse in F r a n k f u r t

1927

1928:

1929 1930: 1885

N e p o m u k Schneidewein in Pfeiffering. Sein T o d . D a nach, unter zweiter großer Entfesselungswelle das Faustwerk, das als Konzeption schon v o n 1927 datieren mag. Paralytischer Zusammenbruch

4Jjährig (Knebelbart)«

a

D e r Satz in der Klammer gestrichen.

4· Zeitbloms Schreibzeit Zu Zeitbloms Schreibzeit bedurfte es keiner besonderen Studien. Im Notizenkonvolut finden sich drei Zeittafeln, die jeweils für einen bestimmten Zeitabschnitt die Kriegsereignisse, z.T. von Tag zu Tag, festhalten. Die erste, die sich von Juni bis Ende Dezember 1943 erstreckt, setzt also bald nadi Sdireibbeginn ein; Thomas Manns wirklicher und Zeitbloms fingierter Schreibbeginn fallen bekanntlich auf den gleichen Tag, den 23. Mai 1943 a.®8 Die zweite Zeittafel, vom 6. Juni bis zum 18. Juli 1944 reichend, enthält im wesentlichen Notizen zur Invasion. Warum Thomas Mann gerade die Ereignisse dieses Zeitabschnittes zur Aufnahme in den Roman bestimmte, versteht sich; die Invasion bezeichnet die Wende des Krieges und den Beginn der »Höllenfahrt« Deutschlands. Die dritte Zeittafel stellt die Ereignisse vom 25. März bis zum 2j.April 1945 zusammen, die Ereignisse beim Kriegsende also, mit dem audi der Absdiluß von Zeitbloms schriftstellerischem Unternehmen zusammenfällt. Die drei Zeittafeln sind von Thomas Mann jeweils dann zusammengestellt worden, wenn ein solches »Einblenden« der Sdireibzeit Zeitbloms angebracht schien, also jedesmal unmittelbar vorm Schreiben des betreffenden Kapitels. Wahrscheinlich hat sich Thomas Mann dabei seiner Tagebuchnotizen bedient.69 Wieder bemüht er sich um völlige Konkretion. Zeitbloms Sdireibzeit, die Zeit des Krieges gegen den Faschismus, sollte, wenn freilich auch nur punktuell, wirklich vergegenwärtigt, ja beschworen werden. Es war Thomas Mann offenbar wichtig, in den Roman selbst den Zeitpunkt seiner Niederschrift, ja der Niederschrift bestimmter Kapitel, einzugravieren. Die den Roman bezeichnende Tendenz, den Raum des Fiktiven immer wieder zu durchstoßen und das Fiktive ins Reale übergehen zu lassen, hat freilich audi wieder etwas Spielerisches, und die Realität dieses Fiktiven ist nicht in jedem Augenblick ganz wörtlich zu nehmen. So fallen zwar Thomas Manns und Zeitbloms Sdireibbeginn zusammen, aber Zeitblom schreibt viel schneller als sein Autor; er beendet seine Biographie bei Kriegsende, während Thomas Mann noch bis zum Februar 1947 mit dem Roman beschäftigt ist. Die beiden Schreiber beginnen sich also zeitlich voneinander zu entfernen. Zeitblom schreibt ζ. B. das X X I . Kapitel, für das die erste Zeittafel zusammengestellt wird, im Herbst 1943, Thomas Mann dagegen fast ein Jahr später; b die von Zeitblom als 3 In der Erstausgabe und im Manuskript des Romans steht als Tag von Zeitbloms Sdireibbeginn nodi der 27. Mai. b Aus Thomas Manns Brief vom 6. Juli 1944 an Agnes E . M e y e r geht hervor,

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unmittelbar gegenwärtig erwähnten Ereignisse sind für seinen Autor also schon historisch. Als Zeitblom am X X X I I I . Kapitel arbeitet, bezeichnen die Ereignisse von der Invasion bis zum Juli 1944 seine unmittelbare Schreibgegenwart; für Thomas Mann sind diese längst vergangen, da es schon Dezember 1945 ist, als er dieses Kapitel schreibt/ und die Schilderung der letzten Kriegswochen und -tage im vorletzten Kapitel ist von Thomas Mann lange nach Kriegsende, im Dezember 1946, geschrieben. Wenn auch nur an drei Stellen konkrete politische Ereignisse direkt beim Namen genannt werden, so bedeutet das nicht, daß sich Zeitblom sonst jeglicher Bemerkungen über seine Schreibzeit enthielte; diese sind dann jedoch allgemeiner gehalten. Als erste Zeittafel findet sich in den Notizen die folgende: »[Pag. Ardi. Bl. 163] Juni 43: Neue schwere Bombardements von Köln u. Hamburg. Kulturlamento der Nazis Juli 43 Deutsche Offensive in Rußland, schwach. Deutsches Weißbuch gegen die >Zerstörung Europas< 9. Juli 43 Landung amerik u. kanadischer Truppen an der SüdostKüste Siziliens. Schwere Kämpfe in Rußland Juli 43 Syrakus. Catania. Gegen Messina u. Taormina Mitte Juli Umschlagen der deutschen Offensive in eine russische Bombardement Neapels α j . J u l i 43 " Sturz Mussolinis 3. August Hamburg aufs neue bombardiert Zerstörung. Bedrohung Berlins 13. „ Evakuierung Berlins 21. „ Voller Text des Münchener Studenten-Manifests 28. „ fürchterl. Bombardement von Nürnberg Ende „ Vordringen der Russen in der Ukraine 1. Sept. Wieder Berlin 45 Minuten 4. „ Engländer avancieren in Süd-Italien Deutschen zurück gegen die Dnjepr-Linie 6. „ Unter dem stieren Schweigen des Führers allgem. Begreifen, daß der Krieg verloren. 8. „ Unbedingte Übergabe Italiens 9. „ Amerik. Landung in Neapel Invasionsproben im Kanal, der mit Schiffen bedeckt Scheint, daß die Deutschen, Gelände im Osten aufgebend, ihre Kräfte auf die Verteidigung Europas konzentrieren. daß er damals gerade das X I X . Kapitel beendet hatte (Briefe II, S. 376), aus dem Brief vom 1 1 . Oktober an die gleiche Adressatin, daß er am X X I I I . Kapitel schrieb (Briefe II, S. 394). a Vgl. den Brief an Agnes E. Meyer vom 14. Dezember 1945, der bezeugt, daß Thomas Mann damals am X X X I I I . Kapitel schrieb (Briefe II, S. 465).

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[Pag. Arch. Bl. 163, Rückseite] 13. Sept. 14. Sept. ff. 20. 26. Sept. 30. „

2. Okt.

7. Okt. 29. Dezember:

Der Krieg kann 44 überdauern Entführung Mussolinis Krise bei Salerno Sorrent, Isdiia, Capri genommen. Corsica von den Franzosen Dnjepr-Linie erweist sich als unhaltbar Räumung von Neapel, >wo ein kommunistischer den Alliierten behilflicher Aufstand ausgebrochenStalingradPsydioseStalingrad-Psychose< sprach und die Dnjepr-Linie um jeden Preis zu halten befahl. [ . . . ] [S. 270] Die Invasion unseres schönen Siziliens bewies alles andere, als daß auch ein Fußfassen des Feindes auf dem italienischen Haupt- und Festlande möglich sei. Unglücklicherweise hat es sich ermöglichen lassen, und vorige Woche ist in Neapel ein kommunistischer, den Alliierten behilflicher Aufstand ausgebrochen, der die Stadt nicht länger als einen deutscher Truppen würdigen Aufenthalt erscheinen ließ, so daß wir sie, nach gewissenhafter Zerstörung der Bibliothek und mit Hinterlassung einer Zeitbombe im Hauptpostamt, erhobenen Hauptes geräumt haben. Unterdessen spricht man von Invasionsproben im Kanal, der mit Schiffen bedeckt sein soll [ . . . ] . Es ist aus mit Deutschland, wird aus mit ihm sein, ein [S. 271] unnennbarer Zusammenbruch, ökonomisch, politisch, moralisch und geistig, kurz allumfassend, zeichnet sich ab, - ich will es nicht gewünscht haben, was droht, denn es ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn. [ . . . ] Nein, ich will's nicht gewünscht haben — und hab es doch wünschen müssen - und weiß auch, daß ich's gewünscht habe, es heute wünsche und es begrüßen werde: aus H a ß auf die frevlerische Vernunftverachtung, die sündhafte Renitenz gegen die Wahrheit, den ordinär schwelgerischen Kult eines Hintertreppenmythus, die sträfliche Verwechslung des Heruntergekommenen mit dem, was es einmal war, den schmierenhaften Mißbrauch und elenden Ausverkauf des A l t - und Echten, des Treulich-Traulichen, des Ur-Deutschen, woraus Laffen und Lügner uns einen sinnberaubenden Giftfusel bereitet. Der Riesenrausch, den wir immer Rauschlüsternen uns daran tranken, und in dem wir durch Jahre trügerischen Hoch-Lebens ein Übermaß des Schmählichen verübten, - er muß bezahlt sein. Womit? Ich habe das Wort schon genannt, in Verbindung mit dem Worte >Verzweiflung< sprach ich es [S. 272] aus. Ich werde es nicht wiederholen. Nicht zweimal überwindet man das Grauen [...].«

Es gelingt Thomas Mann hier, die Parallele zwischen dem Schicksal Deutschlands und dem des Helden anzudeuten, ohne daß das allerdings 169

mit Worten ausgesprochen wird. Ausdrücklich ist nur von der Situation Deutschlands die Rede, der Leser muß die Verbindung selbst herstellen. »Vernunftverachtung«, »Riesenrausch«, »Jahre trügerischen Hochlebens« sind die Stichworte, die ihm der Erzähler an die Hand gibt und die für den euphorischen Musiker ebenso gelten wie für das dem Faschismus verfallene Deutschland. Dazu gehört der Faustformel nach audi der zu entrichtende Preis. Hier ist der Zusammenhang ebenso raffiniert angedeutet wie verhüllt: »Der Riesenrausch. [ . . . ] - er muß bezahlt werden. Womit? Ich habe das Wort schon genannt, in der Verbindung mit dem Worte >Verzweiflung< sprach ich es aus.« Nimmt der Leser diesen Hinweis auf und geht noch einmal zurück, so findet er, daß tatsächlich schon einmal von Verzweiflung die Rede war, und zwar in höchst bezeichnendem Zusammenhang, nämlich mit »Wahnsinn«: » [ . . . ] ich will es nicht gewünscht haben, was droht, denn es ist die Verzweiflung, ist der Wahnsinn.« Damit aber ist das noch fehlende und abschließende Stidiwort der Faustformel gefallen. Im folgenden Beispiel sind die beiden Zeitebenen inhaltlich aufs engste verknüpft: Das Kriegsende von 1918 wird zu dem sich 1944 schon abzeichnenden Ende des Zweiten Weltkrieges in Beziehung gesetzt. »[Pag. Ardi. Bl. 179] 1944, 6. Juni, Invasion Frankreichs. Caen, Cherbourg. Schlechtes Wetter über dem Kanal. Kämpfe mit den ersten deutschen Reserven. Das Landen von Tanks, Material, Truppen geht weiter, hoffentlich schnell genug (8. VI) Die Deutschen offenbar unsicher, wo Weiteres erfolgen wird. 11. VI. Langs.Fortsdiritte bei Cherbourg. Anwachsen der Sabotage in Frankreich 12. VI. Russischer Durchbruch der finn. Mannerheimlinie i j . V I . de Gaulle in der Normandie. Vormarsch in Italien. Tokio bombardiert. Auftauchen der Robot-Bomben, zahlreich aus Frankreich abgelassen, gehen explodierend über Süd-England nieder. Wirksames Anti-Invasionsmittel, zu spät. 21. VI. Eindringen in Cherbourg, dessen Hafen zerstört. Einnahme von Perugia. Enorme Schwierigkeiten werden sich in Frankreich nodi bieten. Die Russen dringen gegen Helsinki vor. Die Deutschen blokkieren dort Bildung eines Friedenskabinetts. 22. VI. Die deutschen Bomben arge Calamität 25. Cherbourg genommen. Der deutsche General gefangen. Russische O f fensive im Rollen, Einnahme von Witebsk! - Die Kapitulation des deutschen Generals und Admirals in Cherbourg nach heroischem Radiogramm an den Führer. Sie beide zum Lunch eingeladen. Lassen ihre Leute unter Sterbebefehl. 28. VI. Kampf um Caen. Die Russen gegen Minsk. In Paris Ermordung des Vidiy-Proganda-Ministers

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[Pag. Arch. Bl. 179, Rückseite] Ersuchen um Ermäßigung des >Unconditionalan Ort und StelleDer Verdammte, üppig im FleischDoktor FaustusBernheimer< anmerkt: »Adrian ruht während Clementine Sdiweigestills Lesungen im Bernheimer-Stuhl [ . . . ] . Bernheimer (1850-1942) arbeitete über mittelalterliche Zeitansdiauung, Politik und Geschichtsschreibung«, so ist sie einem Irrtum erlegen. Nicht der Historiker Bernheimer ist gemeint, sondern der »Ausstattungspalast am Maximiliansplatz« (Doktor Faustus, S. 397) in München; das in Rede stehende Möbelstück ist »ein sehr tiefer, mit grauem Samt bezogener, bei Bernheimer in München erworbener Lese- und Ruhestuhl« (ebd.).

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VI. DAS

TEUFELSGESPRÄCH

Als sich Thomas Mann die Aufzeichnungen zum Teufelsgespräch macht, ist der Roman sdion fast bis zur Hälfte geschrieben. Die Ideen, die im Notizenkonvolut ausgebildet und fixiert waren, sind zu diesem Zeitpunkt bereits in Handlung umgesetzt und in Form von mehr oder minder großen Motiven dem Roman einverleibt. Da aber der komplizierte Ideenzusammenhang eben als erkennbarer Ideenzusammenhang Thomas Mann wichtig war, plante er eine Zusammenfassung aller seiner Ideen an einer Stelle des Romans, im Teufelsgespräch. Durch die Konstituierung des Dialogs mit dem Teufel gelingt es, die Ideen als Ideen deutlich hervortreten zu lassen und trotzdem einen Vorgang herzustellen. Die Disputationen des Faust im Volksbuch mögen Thomas Mann zum Teufelsgespräch angeregt haben. Der alte Faust stellt teilweise ähnliche Fragen an den Geist wie Leverkühn, so etwa über die »Substanz« 1 der Hölle und erhält ähnliche Antworten: »Knirschen der Zänen, Stande der Nasen [...].«* Selbst ein von Faust hinterlassenes Papier ist im Volksbuch erwähnt. 8 Die zahlreichen Disputationen des alten Faust zieht Thomas Mann in seinem Roman zu einem einzigen langen Gespräch von vierzig Druckseiten zusammen, das Leverkühn nachträglich zu Papier bringt. Daß Iwan Karamasows Gespräch mit dem Teufel überdies als Vorbild für die betreffende Szene im »Doktor Faustus« gedient hat, hat Thomas Mann in der »Entstehung des Doktor Faustus« selbst angedeutet. 4 Die Eigenart des Teufelsgesprächs ist es, daß es eigentlich für den Roman nichts Neues bringt, daß vielmehr alle Elemente, die schon immer in Leverkühns Leben anwesend waren, hier nur ausdrücklich genannt und miteinander in Zusammenhang gebracht werden. In der zweiten Hälfte von Leverkühns Leben werden die angelegten Tendenzen nur verschärft. Leverkühn erfährt im Grunde von seinem Unterredner nichts Neues, es werden ihm jedoch die einzelnen Elemente, deren jedes er schon kennt, miteinander in Verbindung gebracht. Die Problematik seines Daseins tritt deutlicher vor seine Augen: er zieht im Grunde genommen selbst das Resümee seines Lebens. Bei dem Material zum Teufelsgespräch handelt es sich zum großen Teil um Notizen, die sidi bereits an früheren Stellen des Notizenkonvoluts 177

finden und die hier also zusammengefaßt sind. Sie betreffen vor allem die zentralen und sinntragenden Ideen des Romans, die sich zu Beginn der Konzeption bildeten und zusammenfügten. Mit Seitenzahlen verweist Thomas Mann auf diese früheren Stellen. Im Teufelsgespräch geschieht im fertigen Roman das, was sich im Notizenkonvolut bei der Konzeption verfolgen ließ: Quellen verschiedenster Bereiche werden assoziativ miteinander in Verbindung gebradit. Daß die Elemente aus den so unterschiedlichen Quellen alle e i n e r Person - dem Teufel — in den Mund gelegt werden, ist Ausdruck dieses Aneignungsvorgangs: Der Teufel wahrt seine »Identität bei fließender Erscheinung«.5 Da dieser Aneignungsprozeß so vollkommen gelungen ist, kann es sich Thomas Mann sogar leisten, in einer gegenläufigen Bewegung wieder auf die Quellen zurückzuverweisen, also die Ausbildung der Konzeption zu spiegeln. Das geschieht durch das Auftreten des Teufels in drei Gestalten, deren jede einen bestimmten Quellenbereich repräsentiert: der Zuhälter den medizinischen - die Geschlechtskrankheit - , der Gelehrte den musikalischen und Schleppfuß den theologisch-dämonologischen Bereich, zu dessen Konstituierung vornehmlich der »Hexenhammer« diente. Durch die Verwandlung des Teufels ergab sich die Möglichkeit eines Wechsels im Ton. Umgekehrt ermöglicht es diese Verwandlung, daß sich e i n e Person adäquat, d. h. in dem dem Gegenstande angemessenen Ton über die verschiedenartigsten Themen äußern kann. Sie kann sich — in der Gestalt des Zuhälters - ordinär über alles auslassen, was mit dem Bordellerlebnis zusammenhängt, kann - als Musikgelehrter - kluge und gelehrte Analysen der Situation der modernen Kunst geben und - in der Maske Sdileppfußens, der schon von vornherein als Teufelsgestalt verstanden ist - innerhalb des Bezugssystems des Romans »glaubhaft« über die Hölle Auskunft geben. Wir teilen das Material im Zusammenhang mit; der Umfang der Notizen machte dabei Kürzungen notwendig. »[Pag. Ardi. Bl. 1 6 5 ] Z u m Besuch: Fleischliche Verbindung und Liebe. Liebeserweisung. Ich und Du. Widerspricht der Menschen- u. Gottesfeindschaft. 24 Teufelsjahre = Inkubationszeit. Viele Schmerzen u. Hinfälligkeiten, aufgewogen durch inspirative Freuden u. Räusche. (Messer-Schmerzen der kl. Seejungfrau.) Glück u. Selbstgefühl soll gegen das Ende mehr u. mehr überwiegen u. der äußerste Zustand vor dem Geholtwerden mit triumphalstem Gesundheitsgefühl verbunden sein. Das Dialogisieren mit dem Teufel schon früh nach dem >Empfang< ein Element seines Lebens. Aber bis spät unter Anstandskontrolle der Vernunft und sozialen Rücksicht. Menschenfreundlichkeit.

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die Teufelskinder (später) Namen der Hölle (18) Dort die Verbindung von Qual und Spott Kunst als Vampyr, >wenn wir in ihrem Dienste stehenEs< bestimmt, gegen den kompositorischen Willen, die Autonomie des Kunstwerks (die >FormWerks< aus dem Zustand der E r k e n n t n i s , der durch Travestie der Unschuld eingestanden w i r d !

- Ein Einfalt ist eine Sache von 2-4 T a k t e n . Alles Übrige ist Elaboration, ist ersessen. Als guter Kenner der Literatur merkt man häufig, dass der E i n f a l l nicht neu ist, zu sehr an etwas erinnert, was schon bei Rimsky-Korsakow o d e r 181

Brahms vorkommt. Dann ändert man ihn eben. Aber ein geänderter Einfalt, ist das überhaupt noch ein Einfalt? - Ein Trost sind Beethovens Skizzenbücher. Da bleibt keine thematische Konzeption wie Gott sie gab. Er modelt sie um u. schreibt hinzu: >MeiIleurMeilleurIch habe nie eine Wahl g e h a b t . . . Feine Schauer bis zu den FussspitzenDivina CommediaApocalipsis cum figuris< nadi den 1 5 Blättern von Dürer oder audi direkt nach dem Text der Offenbarung in unheimlich kurzer Zeit komponiert. Hier will ein Werk (das idi mir als ein sehr d e u t s c h e s Produkt, als Oratorium, mit Orchester, Chören, Soli, einem Erzähler denke) mit einiger Suggestiv-Kraft imaginiert, realisiert, gekennzeichnet sein, und ich schreibe diesen Brief eigentlich, um bei der Sache zu bleiben, an die ich midi noch nicht herantraue. Was idi brauche, sind ein paar charakterisierende, realisierende E x -

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a k t h e i t e n 1 (man kommt mit wenigen aus), die dem Leser ein plausibles, ja überzeugendes Bild geben. Wollen Sie mit mir darüber nachdenken, wie das Werk - ich meine Leverkühns Werk - ungefähr ins Werk zu setzen wäre; wie Sie es machen würden, wenn Sie im Pakt mit dem Teufel wären; mir ein oder das andere musikalische Merkmal zur Förderung der Illusion an die Hand geben? - Mir sdiwebt etwas Satanisch-Religiöses, Dämonisch-Frommes, zugleich Streng-Gebundenes und verbrecherisch Wirkendes, oft die Kunst Verhöhnendes vor, auch etwas aufs Primitiv-Elementare Zurückgreifendes (die Kretzschmar-Beissl-Erinnerung), die Takt-Einteilung, ja die Tonordnung Aufgebendes (Posaunenglissandi); ferner etwas praktisch kaum Exekutierbares: alte Kirchentonarten, A-capella-Chöre, die in untemperierter Stimmung gesungen werden müssen, sodaß kaum ein Ton oder Intervall auf dem Klavier überhaupt vorkommt etc. Aber >etc.< ist leicht gesagt. - Während ich diese Zeilen schrieb, erfuhr ich, daß ich Sie früher als gedacht sehen werde, eine Verabredung für Mittwoch Nachmittag schon getroffen ist. Nun, so hätte ich Ihnen dies alles audi mündlich sagen können! Aber es hat auch wieder sein Schickliches und mich Beruhigendes, daß Sie es Sdiwarz auf Weiß in Händen haben. Unserm Gespräch, nächstens, mag es vorarbeiten, und gibt es eine Nachwelt, so ist es etwas für sie.« 17 Adorno enttäuschte die in ihn gesetzten Erwartungen nicht. E r versah Thomas Mann nicht nur mit exakten Einzelheiten für das apokalyptische Werk, die vor allem der Intention dienten, »das Werk dem Vorwurf des blutigen Barbarismus sowohl wie dem des blutlosen Intellektualismus bloßzustellen« 18 - Einzelheiten, die Thomas Mann »fliegend« 19 mitschrieb —, sondern trug auch wesentliche Ideen bei. E r wurde, bei der Konstituierung der »Weheklag« noch mehr als bei der »Apokalypse«, aber auch hier schon, zu einem kongenialen Mitarbeiter. Wie bedeutend seine Rolle für bestimmte Partien des Romans war, läßt audi die »Entstehung« im dunkeln. Einige Seiten aber, die in der Drudefassung der »Entstehung« nicht erscheinen, die Thomas Mann noch aus dem Typoskript herausgenommen hat, die sich im Züricher Thomas-Mann-Archiv befinden und hier mitgeteilt werden, werfen volles Licht darauf. In bezug auf die »Apokalypse« heißt es dort: »Der sinnreichste und bestangepaßte Tip, den er mir gab, war die substantielle Identität des Höllengeläditers mit dem Engelskinderchor, deren bewegte Darstellung ich für den Kapitelschluß aufsparte. Es war so, daß ich zuerst das flüchtig Aufgenommene zu Hause >befestigte Ausgeschiedene Seiten der »Entstehung« S. 1 4 1 . - Der gestrichene Passus hätte seinen Ort auf S. 138 (vor dem zweiten Abschnitt) der »Entstehung«.

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Wir lassen hier die Notizen zur »Apokalypse« folgen, die das von Adorno Beigetragene, die Identität von Höllengeläditer und Engelschor, schon inkludieren: »[Pag. Ardi. Bl. 181] Zur Apokalypse Mit einem Testis, Zeugen, Erzähler, Soli, Duetten, Terzetten, Quartetten, Quintetten (kammermusikalisch begleitet). Chören, die durch alle Schattierungen des abgestuften Spredxens, Flüsterns, Halbsingens bis zum polyphonen Gesang gehen, begleitet von Klängen, die vom bloßen Geräusch bis zu hödister Musik reichen. Kritisch gesehen, hat sein Rhythmus bei aller Mannigfaltigkeit und Beweglichkeit (die die Takt-Einteilung illusorisch macht, sie besser ausfallen läßt) etwas Monotones, Gewaltsames, Massives, Schweres: dadurch, daß die Polyphonie jeden Takt-Teil (bei jedes der Achtel oder Sechzehntel) besonders akzentuiert und gleichsam keine Luft dazwischen bleibt, eine gewisse Klobigkeit entsteht. - Dies kann Jean Wiener bemerken, um ihm sein BodieDeutsditum zu demonstrieren. Es läßt sich auch von ihm sagen, daß sein Komponieren in dem Lösen von Kompositionsaufgaben besteht, ohne eigentliches Komponieren zu sein. Die Enthemmung steigert die Fähigkeit dazu, setzt sie frei, läßt sie ins Dämonisdi-Produktive wachsen. (Einfall). Sein Heraustreten aus der Kultur, sein Wille zum Kultischen, zur Gemeinschaft - ist es nicht doch schließlich Aesthetizismus, der ins Barbarische fällt bei aller Statuierung, daß das ablösende Gegenteil der Kultur nicht Barbarei, [Bl. 182] sondern Gemeinschaft ist? Der Titel >Apocalipsis cum figuris< von Dürer entliehen der Huldigung halber und um das Gesichthafte, audi das Graphisch-Minutiöse zu betonen. Aber mit der Johannes-Apokalypse allein nicht auszukommen, da sie zu Chören und kleineren Ensembles nicht genug Gelegenheit bietet. Alles Mögliche andere Apokalyptische hineingezogen, sodaß es auf die Erfindung, Schöpfung einer eigenen Apokalypse, gewissermaßen die Fingierung einer solchen hinausläuft. Als Ganzes erinnert es am meisten an Michelangelo: Charons Schiff, Engel, die Posaunen des Untergangs blasend, Damned and Demons, A u f erstehung der Toten, Minos, Saint Bartholomew, Fall der Verdammten (der Getragene, Gezogene, üppig im Fleisch, der ein Auge bedeckt, mit dem anderen entsetzensvoll starrt), die Heiligen Paulus, Peter, Laurentius, Sebastian, Martha, Maria Magdalena, der bartlose, breitkörperliche, muskulöse Christus mit der unbedeutenderen Jungfrau, kurz die Gruppen u. den Aufbau des Jüngsten Gerichtes. Der Gesamteindruck ist der des Hereinbrechens und des Sich-auftuns des Jenseits, der Abrechnung. Audi von einer Höllenfahrt, in der die Jenseitsvorstellungen früherer, primitiver Stufen und die von Antike u. Christentum entwickelten, bis zu Dante, visionär bearbeitet -sind. Vergil, Vertreter der Tradition antiker Hadesfahrten. (Thomas v. Aquino ist, mit Albertus Magnus, Richard von St. Victor und dem heiligen Bernhard, Siger von Brabant und Averroes, die maßgebende Quelle' Dantes für mittelalterl. Philosophieren und Theologisieren.) Die Hadesfahrt des Aeneas bei Vergil. 189

Im Rahmen der diristlidien Jenseitsvorstellungen: die keltisdie Visionsliteratur. Frühchristliche und mittelalterliche Jenseitsvisionen und -Fahrten. Eine erste Stufe bilden die frühchristlichen Apokalypsen, Johannes-Offenbarung und Apokryphen, [Bl. 1 8 3 ] mit den vorchristlichen Visionen der Bücher Henoch und Esra. Es folgen die keltischen Jenseitsvorstellungen, in erster Linie die Visionen der irisch-angelsächsischen Frühzeit, die zum Teil durch Beda Venerabiiis überliefert sind; dann die Visionen des Mönchs von Montecassino. O b Dante die Paulus-Vision, die Visionen des Beda Venerabiiis, diejenigen Adamnans, Tundals, Owens und Alberichs alle gekannt h a t . . . Auf jeden Fall geht eine unabgebrochene Tradition von der Paulusvision über Gregor den Großen, Beda und die großen Iren bis zu Alberida und Dante in Italien. Die Vision Alberichs ist das liter. Dokument, das am zwingendsten beweist, daß zwischen dem Italien Dantes und dem Irland der ersten diristlidien Blütezeit im europ. Norden eine Kulturbrücke besteht. Eine erste Etappe der Überlieferung stellt die Paulus-Vision dar, deren griechischer Text aus dem 4. Jahrhundert stammt u. für die eine französische Versübertragung aus dem 1 3 . Jahrhundert vorliegt. Im 2. Gesang des Inferno wird Paulus ausdrücklich neben Aeneas als ein zur Hölle Niedergestiegener erwähnt. Die zweite Etappe wären die Dialoge Gregors des Großen und die >Historia Ecclesiastica< des Beda Venerabiiis, in die die frühen irisdien Visionen teilweise aufgenommen sind. Eine f ü r Dante unmittelbar zugängliche Quelle: die >Visio Alberici Verbessert aus: »Mysterium«.

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getanes Frauenzimmer. Ihr ist nidit entgangen, daß idi für Leute, die >niedergestiegen< sind, was übrig habe. Ich meine: niedergestiegen zur Hölle. Das schafft Familiarität zwischen so weit auseinanderstehenden Figuren wie Paulus und dem Äneas des Vergil. Erinnerst du dich, daß Dante sie brüderlich zusammennennt, als Zweie, die drunten gewesen?« »[S. 546]) Waren es nicht die Entrückungen der Mechthild, die Clementine rezitierte, so waren es die der Hildegard von Bingen. Waren es diese nicht, so war es eine Verdeutschung der >Historia Ecclesiastica gentis Anglorumt des gelehrten Mönches Beda Venerabiiis, eines Werkes, in dem ein gut Teil der keltischen Jenseits-Phantasien, der Visionserlebnisse aus irisch-angelsächsischer christlicher Frühzeit überliefert ist. Dieses ganze ekstatische, das Gericht verkündende, die Furcht vor ewiger Strafe pädagogisch schürende Schrifttum von den vor- und frühchristlichen Eschatologieen, unter denen die Offenbarung des Johannes von Patmos nur ein parallelenreiches Beispiel ist, über jene Vermächtnisse aus dem europäischen Norden bis zu den italienischen Urkunden derselben Art, den Dialogen Gregors, des päpstlichen Sangesmeisters, und der Vision Alberichs, des Mönchs von Montecassino, deren Einfluß auf Dante deutlich ist, - diese Literatur, sage ich, bildet eine überaus dichte, von wiederkehrenden Motiven erfüllte Überlieferungssphäre [ . . . ] . « Nicht nur sind Leverkühns Vorbereitungen sehr »literarisch«, in seiner Arbeitsweise hat Thomas Mann auch sein eigenes Verfahren gespiegelt, so etwa, wenn es heißt: »Er schrieb, skizzierte, sammelte, studierte und kombinierte«, 25 oder wenn von der apokalyptischen »Uberlieferungssphäre« 2 ® die Rede ist, in die Leverkühn »sich einsdiloß, um sidi für ein Werk zu stimmen, das alle ihre Elemente in einem Brennpunkt sammelt, sie in später künstlerischer Synthese drohend zusammenfaßt«. 27 - Dürers H o l z schnitte werden immer wieder genannt, wobei in einzelnen Fällen Information von Waetzoldt mit verwendet wird, so etwa, wenn erwähnt wird, daß sich Dürer bei der Schilderung der »großen Erzhure« 28 »heiterer Weise geholfen hat, indem er die mitgebrachte Portraitstudie einer venezianischen Kurtisane dazu benutzte®« 29 . Auch gewisse Formulierungen wie das »Kentern« von Schiffen 30 bei der Lösung des Siebenten Siegels sind aus der Dürer-Monographie übernommen. Als anderes Werk der bildenden Kunst wird, wie schon gesagt, Michelangelos »Jüngstes Gericht« herangezogen, um einen Eindruck von Leverkühns apokalyptischem Werk zu vermitteln, wobei die Notizen selbstverständlich auf eine andere stilistische Ebene gehoben werden. »[S. 547] Der Titel >Apocalipsis cum figuris< ist eine Huldigung an Dürer und will wohl [ . . . ] das Visuell-Verwirklichende, dazu das Graphisch-Minutiöse, a »Aus Venedig hat Dürer die Zeichnung einer höchst eleganten Kurtisane mit nach Hause gebracht. [ . . . ] Als es nun galt, für die >BabyIonisdie Hure< die deckende Gestalt zu finden, griff Dürer zu dem >Ricordo di Venezia< und ließ die schöne Dame lässig-sicher ihr scheußlidies Ungetüm reiten.« (Waetzoldt, S. 59).

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die [S. 548] dichte Gefülltheit des Raumes mit phantastisch-exakter Einzelheit betonen, die beiden Werken gemeinsam sind. Aber es fehlt viel, daß Adrians ungeheueres Fresko den fünfzehn Illustrationen des Nürnbergers programmatisch folgte. Es legt zwar seinen furchtbar-kunstvollen Klängen viele Worte des geheimnisvollen Dokumentes unter, das auch jenen inspirierte; aber er hat den Spielraum der musikalischen Möglichkeiten, der diorischen, rezitativischen, ariosen, erweitert, indem er sowohl manches aus den düsteren Partieen des Psalters, zum Beispiel jenes durchdringende >Denn meine Seele ist voll Jammers und mein Leben nahe bei der HölleApocalipsis< bildet. Ich hasse, liebe und fürchte es; denn - man verzeihe dies allzu persönliche >dennHinüberWerkPanorameneiner nachfiebert, was andere vorgefiebert, und daß man unselbständig, anleiheweise und nach der Schablone verzückt istselbständigen< Erfindung vorzuziehen. Der >Faustus< zeigt davon so manche Spur.« 28 Er zeigt nicht nur manche Spur davon, sondern ist ganz aus diesem Lebensgefühl, aus dieser Betrachtungsweise entstanden. Audi Thomas Mann bediente sich vorgegebener Formen, die die Tradition zur Verfügung stellt und in die sein eigenes Erlebnis eingeht. Dieses erfüllt sich im Vorgegebenen. Thomas Mann sagt hier also nicht etwa bloß, daß er sich bei der literarischen Produktion der Literatur und nicht des Lebens bediene. Schon das wäre ein bemerkenswerter Sachverhalt. Er geht indes sehr viel weiter. Es ist das L e b e n , das ihm als Kulturprodukt erscheint wie umgekehrt das Kulturprodukt als Leben. Leben und vorgegebene zitierbare Form sind also eins. Mythos aber heißt nach Thomas Manns eigener Definition In-SpurenGehen, eine vorgelebte Vita noch einmal nachleben. Im Mythos ereignet sich etwas Vor geprägtes im Hier und Jetzt noch einmal. Der Mythos hebt also die Zeit auf. Das sich mythisch Ereignende ist zugleich gegenwärtig und vergangen. Es ereignet sich gewissermaßen gleichzeitig auf zwei Zeitebenen. Das Leben im Mythos ist immer ein »damit erfüllet werde, was geschrieben steht«. Das Leben im Mythos bedeutet das Spielen einer vorgegebenen Rolle. Der Mythos geht auf Anfängliches, Frühestes zurück. Er geht auf das Typische aus. Mythisch ist die »anfängliche Gründung einer a

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Hervorhebungen von uns.

geistigen Lebensform durch das Lebendig-Individuelle«, heißt es in Thomas Manns Lessingrede.27 Es ist darin weiter die Rede von einem »Schema des Produktiven, einer geistigen Lebensform«, 28 die Lessing erstmalig ausgebildet habe. In diesem Sinne wird Lessing schließlich ein »mythischer Typus« 29 genannt. All das trifft in verblüffender Weise auf den »Doktor Faustus« zu. Leverkühn geht in des alten Faust und in Nietzsches Spuren. Deren Leben ereignet sich noch einmal. Sie kehren in ihm mythisch wieder. Nietzsche wird wieder vom Dienstmann in das fatale Haus geführt, er geht wieder auf das Klavier zu und schlägt ein paar Töne an. Alles, was schon einmal geschehen ist, spielt sich, nach bekanntem Muster, noch einmal vor den Augen des Lesers ab. Es wird noch einmal Ereignis; der Dichter beschwört magische Wirklichkeit. Leverkühn »ist« Faust wie er Nietzsche »ist« in mythischer Wiederholung. In dieser Weise sind ja die beiden Quellen verwendet. Sie dienten ja nicht etwa bloß als Rohstoff, der im fertigen Roman keine Wichtigkeit mehr hätte. Sie sollten vielmehr hinter der Geschichte, zu deren Konstituierung sie gedient hatten, sichtbar bleiben. Wenn wir sagten: Leverkühn »ist« Faust und Nietzsche, so könnten wir auch sagen; er spielt ihre Rolle, wenn Rolle in dem oben bezeichneten Sinne verstanden wird. Indem Leverkühn mit Faust und Nietzsche identifiziert wird, wird Längstbekanntes noch einmal gespielt, wobei, wie gesagt, der Spiel- und Rollencharakter durchschaut werden soll. War schon Hans Castorps Geschichte nicht bloß seine Geschichte, so gilt das vollends für die Adrian Leverkühns. Diese weist jeden Augenblick über sich hinaus, bedeutet mehr als bloß sich selbst. Wenn in der Lessingrede von der »anfänglichen Gründüng einer geistigen Lebensform« die Rede ist, so läßt sich das auf den Helden des »Doktor Faustus« anwenden, der wie Nietzsche als »faustischer Geist« verstanden wird, also einem Schema folgt, das der alte Faust prägte und das Nietzsche wiederholte. Dies ist ja das Verhältnis, in dem die beiden Hauptquellen, das FaustVolksbuch und Nietzsches Biographie und geistige Gestalt, zueinander stehen. Sie spielen eine etwas verschiedene Rolle: Die Faust-Quelle gibt sich offener als die Nietzsche-Quelle zu erkennen. Leverkühn versteht sich selbst als Faust, selbstverständlich versteht er sich nicht selbst als Nietzsche, sondern nur Autor und Leser sehen ihn so; er ist vielmehr ein zweiter, ein anderer Nietzsche, der sich selbst als Faust versteht. Zwei mythische Klischees liegen übereinander. Faust ist dabei das ältere und geprägtere Muster, mit dessen Hilfe sich Nietzsches Existenz, die selbst schon zu einem Mythos geworden ist, deuten läßt. Sie bildet die innere Ausfüllung der sehr alten und immer wieder neu zu deutenden Faust-Formel. Nietzsche wird von Thomas Mann im Roman als der moderne Faust gedeutet, Faust

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erscheint danach in moderner Zeit in Nietzsches Gestalt und erlebt dessen Problematik. Zwei bedeutende »mythische Klischees« sind zueinander in Beziehung gesetzt. »Beziehung« aber war das Stichwort für die Entstehungsweise des »Doktor Faustus«, wie sidi vom einzelnen bis ins Große beobachten ließ; immer wieder wurden solche Beziehungen gesetzt und Identitäten geschaffen. Das Assoziieren ist überhaupt die Denkweise, mit der Thomas Mann der Welt gegenübertritt und die in gewisser Weise mit dem »Doktor Faustus« auf ihren Gipfel kommt. Fällt für Thomas Mann das Bedeutsame überhaupt mit dem Beziehungsreichen zusammen, so kommt es im »Doktor Faustus« zu einer Steigerung der Bedeutsamkeit wie des Beziehungsreichtums, indem ganze sdion für sidi selbst bedeutsame Komplexe, eben jene »mythisdien Klisdiees« Faust und Nietzsche, zueinander in Beziehung gesetzt werden. Wie wir sahen, überlagern sich die Quellen dabei, ohne daß eine Kongruenz angestrebt wird. Sie sind vielmehr gegeneinander verschoben. Überdies gehört es zum Charakter des Romans, daß die Vorlagen nicht völlig absorbiert werden, sondern daß diese neben und hinter der Geschichte, zu deren Konstituierung sie dienten, sichtbar bleiben. Daraus ergibt sich, daß bei diesem Roman keine strenge Sdieidung zwischen Material und Zitat möglich ist. Indem aber die — für sich schon bedeutenden — Vorlagen erkennbar bleiben und gegeneinander verschoben sind, ergibt sich mit dem Beziehungsreichtum zugleich audi die Vieldeutigkeit des Romans. Zuweilen kann sidi das als Schwäche auswirken. Wir sprachen schon davon, wie es durch die Übertragung des Faust-Symbols audi auf Deutschland und den Faschismus zu Aussagen kommt, die Thomas Mann wohl kaum ganz so gemeint haben kann. Es gibt auch andere Beispiele, da die für sich selbst ja schon bedeutungs- und ideengeladenen Komplexe gewissermaßen gegeneinander arbeiten. Im ganzen jedoch hat Thomas Mann es verstanden, diese so entstehende Mehrdeutigkeit zu einem bewußten Prinzip des Romans zu machen. Wenn Thomas Mann einmal sagt, der Roman wolle das, was er schildere, auch selbst sein,30 so möchten wir dieses Diktum hier einmal umkehren und sagen: Thomas Mann hat seine eigene Arbeitsweise im Roman beschrieben, indem er sie als diejenige seines Helden beschreibt. Bei seinen ersten Versuchen am Harmonium sagt dieser, der später seinem Hauptwerk die Worte aus dem Volksbuch zugrunde legen sollte »Denn ich sterbe als ein böser und guter Christ« 31 - : »Beziehung ist alles. Und willst du sie näher bei Namen nennen, so ist ihr Name >ZweideutigkeitFaustus