Nietzsche als Roman: Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns »Doktor Faustus« [Reprint 2014 ed.] 9783110937633, 9783484320864

The study proceeds from an inquiry into Thomas Mann's position with regard to tradition and the conviction that thi

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German Pages 235 [236] Year 1996

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Table of contents :
Vorwort
I. Thomas Mann und die Tradition: die Frage nach der Sinnkonstituierung
II. Die Problematik der Sinnkonstituierung im Roman: Realismus, Frühromantik, Schopenhauer, Wagner und Nietzsche
III. Sinnkonstituierung als Thema im Doktor Faustus
IV. Die realistische Schicht: Doktor Faustus als Biographie
V. Der Übergang von der realistischen zur thematisch-ideellen Ebene
VI. Die Funktionen des »Zitierens«: intertextuelle Sinnkonstituierung in einem »Montage-Werk«
VII. Das mythische »Wesensdenken«: Faust-Mythos und Deutsch-land-Allegorie
VIII. Die musikalische Struktur im Doktor Faustus: die Syntax der Themen
IX. Der Roman als Gesamtkunstwerk: Sinnkonstituierung unter dem Begriff der Kultur
Verzeichnis der zitierten Literatur
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Nietzsche als Roman: Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns »Doktor Faustus« [Reprint 2014 ed.]
 9783110937633, 9783484320864

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Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte Band 86

Liisa Saariluoma

Nietzsche als Roman Über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns »Doktor Faustus«

Max Niemeyer Verlag Tübingen 1996

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Finnischen Akademie

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Saariluoma, Liisa: Nietzsche als Roman : über die Sinnkonstituierung in Thomas Manns "Doktor Faustus" / Liisa Saariluoma. - Tübingen : Niemeyer, 1996 (Untersuchungen zur deutschen Literaturgeschichte ; Bd. 86) NE: GT ISBN 3-484-32086-9

ISSN 0083-4564

© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1996 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Allgäuer Zeitungsverlag, Kempten Einband: Hugo Nadele, Nehren

Inhalt

Vorwort

VII

I. Thomas Mann und die Tradition: die Frage nach der Sinnkonstituierung

i

II. Die Problematik der Sinnkonstituierung im Roman: Realismus, Frühromantik, Schopenhauer, Wagner und Nietzsche

.

28

III. Sinnkonstituierung als Thema im Doktor Faustus

73

IV. Die realistische Schicht: Doktor Faustus als Biographie . . . .

91

V. Der Ubergang von der realistischen zur thematisch-ideellen Ebene VI.

110

Die Funktionen des »Zitierens«: intertextuelle Sinnkonstituierung in einem »Montage-Werk«

VII.

Das mythische »Wesensdenken«: Faust-Mythos und Deutsch-

VIII.

Die musikalische Struktur im Doktor Faustus: die Syntax der

IX.

Der Roman als Gesamtkunstwerk: Sinnkonstituierung unter

122

land-Allegorie

151

Themen

185

dem Begriff der Kultur

207

Verzeichnis der zitierten Literatur

218

V

Vorwort

Die vorliegende Arbeit entstand aus dem Wunsch, die innere Logik von Thomas Manns äußerst kompliziertem Alterswerk Doktor Faustus zu verstehen. Denn

trotz der umfangreichen Forschungsliteratur,

die

einzelne

Aspekte des Romans erleuchten, fehlt es an einer synthetischen Gesamtschau, die die Tiefenlogik des Werkes in einen allgemeinen geistigen Zusammenhang bringt. Solch eine Synthese ist das Ziel der vorliegenden Arbeit. Es versteht sich, daß solch ein Versuch auf der früheren Forschungsliteratur fußen muß. Es handelt sich aber nicht um eine Synthese in dem Sinne, daß hier alles bisher Gewußte zusammengefaßt wird. Man m u ß viel elliptischer verfahren, um das Wichtigste, die Tiefenlogik des Werkes bzw. die Art der Sinnkonstituierung darin, in den Griff zu bekommen. Ein Ausgangspunkt der Arbeit ist die Uberzeugung, daß die literarischen Werke, die aus verschiedenen literarischen Epochen stammen, in ihrer inneren Logik voneinander abweichen: die Art der Sinnkonstituierung ist in einem realistischen Werk anders als in einem romantischen oder in einem modernistischen. Ein »Nebenziel« dieser Arbeit ist die Entwicklung dieser Hypothese. Thomas Manns Stellung als einer der großen Modernisten, aber auch als Fortsetzer der Tradition des neunzehnten Jahrhunderts, legt die Vermutung nahe, daß die innere Logik seiner Werke durch die Entwicklung der Literatur vom Realismus zum Modernismus zu verstehen ist. Das Ergebnis der Erforschung dieser Sinnkonstituierung in Doktor Faustus weicht aber von der Vermutung ab: das deutsche neunzehnte Jahrhundert — Schopenhauer, Wagner, Nietzsche - ist nicht nur auf der thematischen Ebene bedeutend, sondern bestimmt auch die Art der Sinnkonstituierung darin. Es zeigt sich, daß Doktor Faustus nicht nur dadurch ein Nietzsche-Roman ist, daß Adrian Leverkühn eine Nietzsche-Gestalt ist, sondern daß die verschiedenen Dimensionen der Sinnkonstituierung so wie auch die Gesamtstruktur des Werkes sich aus dem Zusammenhang mit dem »Dreigestirn« und insbesondere mit Nietzsche erklären lassen. VII

Die Arbeit wurde im Studienjahr 1 9 9 0 - 9 1 in Tübingen begonnen, wo ich mich als Stipendiatin der Alexander von Humboldt-Stiftung der Forschung widmen konnte. Mein Dank gilt der Humboldt-Stiftung so wie meinem Tübinger Gastgeber, Prof. Dr. Klaus-Detlef Müller, der mit Wohlwollen und Interesse meine Arbeit verfolgt und sie aufgrund der Lektüre des Manuskripts durch wertvolle Hinweise gefördert hat. Ein ebenso warmer Dank geht an den vorigen Inhaber des Lehrstuhls, Prof. Dr. Richard Brinkmann, bei dem ich früher als Doktorandin studiert habe und der dabei eine wichtige Rolle bei meiner Initiation in die deutsche Germanistik spielte. Dankbar vermerke ich auch einen Besuch im Thomas-Mann-Archiv in Zürich und ein informatives Gespräch mit Herrn Professor Hans Wysling. Von meinen finnischen Kollegen haben Prof. Dr. Leevi Valkama, Dr. Marja-Leena Hakkarainen, Dr. Siegfried Jäkel und Lektor Gerhard Schmitt das Manuskript gelesen und mit wertvollem Kommentar bedacht. Ganz besonderen Dank schulde ich Prof. Dr. Dietrich Aßmann, der, selber ein Thomas-Mann-Forscher, das Manuskript mehrmals gelesen und kommentiert und für die Korrektur der deutschen Sprache gesorgt hat. Turku, Finnland, im Oktober 1995 Liisa Saariluoma

VIII

I

Thomas Mann und die Tradition: die Frage nach der Sinnkonstituierung

Das Kunstwerk kann man streng genommen nur dann verstehen, wenn man die vom Künstler gefundenen formal-technischen Lösungen zu erkennen vermag. Das ist aber nur möglich, wenn man diese mit anderen Verfahrensweisen der Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert. Karol Sauerland:

Einführung in die

Ästhetik Adornos, S. 1 2 7 . Denn was wir dürftig und unzulänglich »Struktur« der Dichtung genannt, das ist ja nicht nur ein wohlgeordnetes, genußreiches Spiel von Formen, sondern immer auch eine geistige

Realität,

die

zur Auseinandersetzung

herausfordert.

Diese Struktur »meint« etwas, stellt in der Welt intentionalen Seins eine Wirklichkeit vor, die elementar den Menschen betrifft [ . . . ] . Richard Brinkmann: Z u m Begriff des Realismus, S. 2 3 1 .

Bei dem Bemühen, den Charakter von Thomas Manns Werk zu verstehen, bieten sich dem Literaturforscher als selbstverständlicher Ausgangspunkt die großen Periodenbegriffe der Literaturwissenschaft an. Thomas Mann wird im allgemeinen als einer der großen Modernisten der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts angesehen - aber als einer, der vielleicht tiefer als alle übrigen »klassischen Modernisten« des 20. Jahrhunderts in der Tradition des vorigen Jahrhunderts, d.h. in der realistischen Periode, verwurzelt ist. Eine solche Ubergangsstellung entspricht Thomas Manns Selbstverständnis, der sich als einen »Spätgekommenen und Letzten«, einen »Abschließenden« charakterisiert hat. 1 Die Charakterisierung offenbart zugleich das Problematische seiner Grenzposition. Sie zeigt nämlich, daß er nicht einfach die Romantradition des neunzehnten Jahrhunderts im zwanzigsten fortführt, sondern weiß, daß die Tradition nicht mehr — oder nach ihm

1

Bemerkungen zu dem Roman >Der Erwählte». Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Bd. X I , S. Ó9of.

I

nicht mehr - aufrechtzuerhalten ist. In diesem seinen Bewußtsein, daß er die Tradition abschließt, hat er diese in gewisser Weise schon überholt. Die Grenzposition erlaubt es, entweder die nach rückwärts oder aber die nach vorwärts gerichteten Bindungen hervorzuheben. Sowohl für Thomas Manns »Traditionalität« wie für seine »Modernität« lassen sich Belege ebenso in seinem literarischen Werk wie in seinen eigenen Kommentaren nachweisen. Häufig löst man das Problem durch die Vermutung, daß er sich die literaturgeschichtliche Linie entlang vom Realismus zum Modernismus entwickelt hat, indem er in den früheren Werken dem Realismus näher stand, sich aber immer weiter von ihm entfernte. So schreibt z. B. T. J . Reed in seinem Buch Thomas Mann. The Uses of Tradition ( 1 9 7 4 ) über Buddenbrooks: The reader can safely take Buddenbrooks, whatever may later be true of the complex wave of Der Zauberberg and Doktor Faustus, as a novel in the nineteenth-century manner, concerned with a story, character, psychology, and moral criticism, all of which give substance to a general thesis. 2

Er hält aber Buddenbrooks nicht für einen naturalistischen Roman, weil da statt »mere wallowing in real and sometimes sordid detail which naturalist writing offered« eine »intellectually underpinned re-creation of reality« geboten wird; 3 Ideen, die aus der »spekulativen Tradition« des 19. Jahrhunderts stammen, spielen darin eine große Rolle. 4 In Reeds Gründen dafür, daß Buddenbrooks zur Tradition des 1 9 . Jahrhunderts gehört, sind viele Aspekte enthalten, die oft im Zusammenhang mit der Traditionalität Thomas Manns genannt werden. Z u diesen Aspekten gehört seine »dem neunzehnten Jahrhundert verpflichtete Erzähltechnik«. 5 Sie bezieht sich auf die Gestaltung der Geschichte und die Charakterschilderung. Aus den Einzelheiten des Romans entsteht in der Form der G e -

2

T. J . Reed: Thomas Mann. The Uses of Tradition. Oxford 1 9 7 4 , S. 84. V g l . Erich Heller: The Ironie German. A Study of Thomas Mann. Boston und Toronto 1 9 5 8 , S. 27: »Thomas Mann's first novel, Buddenbrooks, a work entirely in the manner of literary realism [ . . . ] « ; S. 3 1 : »On the plane of literary history, then, it is a consistently realist, or, for what the term is worth, naturalist novel«; in der deutschen Ausgabe des Werkes (Thomas Mann. Der ironische Deutsche. Frankfurt a. M. 1 9 7 0 , S. 1 4 ) lautet es noch eindeutiger: »Widerstandslos also fügt sich das Werk in die Kategorie realistischer RomanBuddenbrooksBuddenbrooks< namentlich die großen skandinavischen und russischen Erzähler, Kielland, Lie,Jacobsen, Hamsun, Turgenjew, Puschkin, Gogol, weniger Dostojewski, meine Lehrmeister waren.« A n Joseph Warner Angell 1 1 . 5 . 1 9 3 7 ; zit. ebd., S. 97.

21

Grawe: Struktur und Erzählform, in: Ken Moulden und Gero von Wilpert (Hrsg.): Buddenbrooks-Handbuch. Stuttgart 1 9 8 8 , S. 1 0 1 . Lukäcs: Auf der Suche nach dem Bürger, in: G . L.: Thomas Mann. Berlin 1 9 5 3 , S. I 7 f . : »[D]as patrizistische Bürgertum der Buddenbrooks geht notwendig zugrunde, und die Hagenströms beherrschen das neue Deutschland. [ . . . ] Dann ist die Generationsfolge der Buddenbrooks eine Geschichte der Abwandlung der deutschen Kulturtraditionen im neunzehnten Jahrhundert.«

22

23

24

Siehe dazu die Besprechung der Frage bei Ridley (Kapitel 8: The Buddenbrooks' Decline: a Typical Story?, bes. S. 89—91). Rothenberg: Das Problem des Realismus bei Thomas Mann. Z u r Behandlung von Wirklichkeit in den »Buddenbrooks«. Wien 1 9 6 9 , S. 22f.; S. 22: » U m so merkwürdiger erscheint der Umstand, daß der Erzähler Küche und Kontorräume des Parterres mit der gleichen Konsequenz meidet, mit der er die Schlafzimmer im zweiten Stock zu umgehen versteht.«

6

rig.2'

In allen diesen kritischen Bemerkungen geht es aber lediglich um

Einschränkungen des realistischen »Gehalts«; die grundlegende Annahme der realistischen Schilderung eines bestimmten, wenn auch engen Bereichs der (sozialen) Wirklichkeit wird nicht in Frage gestellt. Rothenberg zeigt aber auch, daß trotz des Eindrucks der psychologischen Fülle in der Charakterschilderung die Personen eher durch einige feststehende Floskeln und einzelne charakteristische, immer gleich bleibende Züge dargestellt werden. 2 6 Diese »leitmotivische« Charakterisierung der Menschen zehre an ihrer »Realität« und weise auf die tiefere, motivische Schicht des Romans hin. Rothenberg kommt trotzdem zu dem Schluß, daß es Thomas Mann gelungen sei, das realistische Niveau und das tiefere, motivische Niveau, das »Sein« und die »Bedeutung«, hier enger miteinander zu verknüpfen als in den späteren Romanen, z. B. im

Zauberberg.21

Der Eindruck einer realistischen (psychologischen) Geschichte erweist sich aber bei näherer Betrachtung als falsch. Denn wie steht es eigentlich um den »Verfall« der Familie, und woher kommt er? Peter Pütz und Martin H . Ludwig haben gezeigt, daß es nicht um einen Abstieg im finanziellen Sinn geht, wie es ja beim Niedergang einer Kaufmannsfamilie zu erwarten wäre. 2 8 Die Familie ist am Ende ungefähr ebenso vermögend wie am Anfang, also vor dem »Verfall«; allerdings werden die finanziellen Verluste, wie z . B . die Schäden durch Mitgiften oder durch das einmalige Spekulieren Thomas Buddenbrooks, sehr stark betont. 2 9 Es gibt in Wahrheit keine zwingenden finanziellen Gründe für die Auflösung der Firma. Der »Verfall« liegt im Psychologischen und im Biologisch-Vitalen. In den vier Generationen der Familienoberhäupter nimmt die Lebenstüchtigkeit von Generation zu Generation ab, bis der kleine Hanno stirbt, ohne das Mannesalter erreicht zu haben. Der absinkenden Lebenstüchtigkeit und Robustheit entspricht aber eine steigende Verfeinerung in der kulturell-künstlerischen Sphäre und

25

Ludwig: Thomas Mann. Gesellschaftliche Wirklichkeit und Weltansicht in den Buddenbrooks. Hollfeld 1 9 7 9 , S. 5 6 - 6 1 , 7 6 ; ähnlich Grawe, ebd., S. 9 8 - 9 9 .

26

Rothenberg, ebd,. S. 9 3 , 98, I 5 6 f „ i 8 5 f . Ebd., S. 1 1 6 . Pütz: Die Stufen des Bewußtseins bei Schopenhauer und den Buddenbrooks, in: B . Allemann und H. Koppen (Hrsg.): Teilnahme und Spiegelung. Festschrift für Horst Rüdiger. Berlin 1 9 7 5 , S. 4 4 4 ; Ludwig, S. 48: »Die Untersuchung der Buddenbrooks in Hinsicht auf bürgerliche, kaufmännische Inhalte ergibt keine A n haltspunkte für einen bürgerlichen oder kaufmännischen Verfall.« V g l . auch Koopmann: Die Entwicklung des intellektuellen Romans, S. 1 1 8 .

27 28

29

Sie werden als »Schicksalsschläge« stilisiert; siehe Ludwig, S. 32ff.

7

in der Empfindsamkeit. Dies alles folgt, wie man allgemein erkannt hat, dem Nietzscheschen verfallspsychologischen Denkschema vom Z u s a m m e n hang der zunehmenden Geistigkeit mit der mangelnden

Lebenstüchtig-

keit. 3 0 Insoweit wäre Buddenbrooks kein soziologischer bzw. Gesellschaftsroman oder auch kein historischer R o m a n , weil darin ja keine historischen Gesetze bzw. Vorgänge geschildert w e r d e n , 3 1 sondern ein »Gedankenroman«, in dem eine philosophische Idee durch die Verfallsgeschichte einer Familie dargestellt wird. Auch das wäre unter bestimmten Bedingungen in einem realistischen R o m a n möglich. 3 2 Denn es brauchen nicht unbedingt soziologische oder zeithistorische Gesetzmäßigkeiten durch den R o m a n ausgedrückt werden, sondern es können auch allgemeinere Gesetzmäßigkeiten der menschlichen N a t u r oder des Lebens sein. Das entscheidende K r i t e r i u m ist, daß diese »Wahrheiten« durch eine realistisch erzählte Geschichte zur Anschauung gebracht werden. Das geschieht aber nicht, obwohl es so scheint, in Buddenbrooks. Ein realistischer Roman zeigt, wie aus den Ereignissen des Lebens ein rationales, sinnvolles Bild entsteht, wenn die Ereignisse in ihren realen, kausalen — psychologischen, gesellschaftlichen, biologischen - Z u s a m m e n hängen betrachtet werden. Solche Zusammenhänge werden in Buddenbrooks nicht aufgezeigt. Daß die Familie bzw. die Firma zugrunde geht, scheint eher durch mehrere Zufälle und Schicksalsschläge verursacht zu sein als durch eine natürlich-kausale Entwicklung. Es ist ein unvorhersehbarer, unwahrscheinlicher Z u f a l l , daß die Poppenrader Ernte vom Hagel zerstört wird; aber Thomas Buddenbrook deutet dieses als ein Zeichen seiner mangelnden Fähigkeit im modernen Geschäftsleben. Ebenso ist es ein Z u f a l l , daß die beiden Ehen Tony Buddenbrooks und darüber hinaus die ihrer Tochter Erika scheitern; das dreifache U n g l ü c k ist in keinem Vergehen der

30

31

,a

So z.B. Reed, S. 48; Helmut Jendreiek: Thomas Mann. Der demokratische Roman. Düsseldorf 1977, S. 128. Vgl. auch Ernst Nündel: Die Kunsttheorie Thomas Manns. Bonn 1972, S. 36—43. Erich Heller: The Ironie German, S. 39: »Yet the determinism at work in the novel cannot be defined after the fashion of »historical lawssagaein Kompendium, eine Enzyklopädie des ganzen geistigen Lebens eines genialischen Individuums< ist.« 72 Die Feststellung der Übereinstimmung führt nicht dazu, daß die Struktur der Romane im einzelnen, ihre innere Logik bzw. die Art der Sinnkonstituierung in ihnen, daraufhin analysiert wird. Die Ähnlichkeiten verbleiben in allgemeinen Charakterisierungen, und es wird vielleicht nicht einmal ein Wirkungszusammenhang vermutet. Diana Ipsen Behler stellt sich als erste die Aufgabe, die frühromantische Theorie im Zusammenhang mit Thomas Mann — hier Zauberberg — zu untersuchen, aber sie bemerkt trotzdem, etwas überraschend, daß kein eigentlicher Wirkungszusammenhang vorausgesetzt wird: »[T]his attempt does not include any claim for historical dependencies. [...] No more can be expected than a mutual illumination, a better understanding of the Romantics in the light of Mann and conversely, of Mann through Romantic ideas.« 73 Sie findet Ähnlichkeiten zwischen den einzelnen Auffassungen Thomas Manns und der Frühromantiker und untersucht die »>Romantic< elements« im Zauberberg, ohne die Poetik des Romans auf dieser Grundlage zu rekonstruieren. Schon ein oberflächlicher Blick auf die Romankonzeption der Frühromantiker zeigt aber Ähnlichkeiten mit der Romanpraxis Thomas Manns. Die Reflexion des poetischen Schaffens in das Werk mit einzuschließen, war, wie dieser wohl einsah, eine der wichtigen Ideen der Frühromantiker; 7 4 und insbesondere im Doktor Faustus hat er selbst diese Selbstreflexion so weit getrieben, daß, wie wir schon erwähnten, einige Forscher meinen, es bleibe der Kritik nichts mehr über das Werk zu sagen. Welcher Art die Beziehung der berühmten romantischen Ironie zu der ebenso berühmten Thomas Mannschen Ironie ist, sollte genauer erörtert werden. Der Begriff der Allegorie spielt eine wichtige Rolle in der Romankonzeption Friedrich 72

Koopmann: Die Entwicklung des »intellektuellen Romans« bei Thomas Mann, S. 26.

73

Diana Ipsen Behler: The Romantic Irony of the Novel and Its Implications for Thomas Mann's »Zauberberg«. Diss. Washington 1 9 7 0 , S. 1 5 7 .

1A

Die Stellung Freuds in der modernen Geistesgeschichte, X , 2Ö6ff.

20

Schlegels, so wie in einigen Romanen Thomas Manns. Gemeinsam ist ebenso die Idee von der »musikalischen Struktur« eines poetischen Werkes. Die Bedeutung des »Dreigestirns« für Thomas Manns Lebenseinstellung und Kunst wurde ebenso in gewisser Weise schon immer anerkannt: sie konnte ja nicht übersehen werden, weil der Autor selbst so oft daran erinnerte. Sie wurde an manchen wichtigen Ideen entdeckt: in der Triebpsychologie, in der Kunstphilosophie und Problematik des Künstlers, in der Dekadenzthematik oder gar in der Teilnahme an einer allgemeinen »fin-de-siecleStimmung«. 7 5 Ideengeschichtliche Zusammenhänge sind in allen Werken Thomas Manns nachgewiesen worden: die Nietzschesche Dekadenzproblematik in Buddenbrooks und natürlich auch das Schopenhauer-Erlebnis Thomas Buddenbrooks, der Wagner-Gehalt in Tristan, Wälsungenblut und Tod in Venedig, die Künstlerproblematik Nietzschescher Prägung im Tonio Kröger, aber auch in den Joseph-Romanen, im Doktor Faustus und im Felix Krull und ähnliches mehr. Auch die Kunstproblematik Nietzsches hat man eher als Thema in den Romanen und Novellen denn als eine Quelle formaler Entscheidungen entdeckt. Im allgemeinen hat man öfter thematische Z u sammenhänge mit Nietzsche als mit Schopenhauer gefunden, dessen Wirkung noch Anfang der siebziger Jahre als geringer eingeschätzt wurde als die Nietzsches. 76 Die Einwirkung des Dreigestirns auf Thomas Mann wurde in erster Linie in seiner Lebenseinstellung und im Ideengehalt seiner Werke gesucht. In der Form oder der inneren Logik der Romane glaubte man ihre Wirkung an zwei Punkten nachweisen zu können. Daß Thomas Mann die Technik der Leitmotive von Wagner »hat«, weiß man von ihm selbst. Aus der »Einführung in den >ZauberbergGanze
ZauberbergZauberbergRenée Mauperin< der Goncourts, es war, deren Lektüre mich ermutigte, nach novellistischen Versuchen es mit einer Romankomposition zu wagen.« 2 Er habe aus Renée Mauperin gelernt, wie man größere Stoffmassen handhabt, indem man sie in kurze Kapitel einteilt; 3 und als das Manuskript gegen alle Erwartungen anschwoll, habe er die schwankende Kraft mit der Lektüre von Turgenjew, Tolstoi und Gontscharow gestützt. 4 Hier zeigen sich keine Unterschiede zwischen seinen Zielen und den Zielen der Realisten; auch scheint für ihn kein Problem darin zu liegen, daß er gleichzeitig über Buddenbrooks als einen »von Wagner her beeinflußten Versuch eines Prosaepos« spricht.' Wenn man genauer die Art betrachtet, wie Thomas Mann von den realistischen bzw. in seinem Sprachgebrauch »naturalistischen« Autoren redet, denen er sich verpflichtet fühlt, merkt man, daß er sich auf das Technische 1

An William Sawitzky, November r 9 0 6 ; zit. nach Selbstkommentar zu >BuddenbrooksTypus< selbstverständlich kein »zoologischer«, sondern ein soziologisch-historischer war: Der historische Roman. Berlin 1 9 5 5 , insbes. das Kapitel über Walter Scott, wo er u. a. schreibt: »Scotts Größe ist die menschliche Verlebendigung historisch-sozialer Typen. Die typisch menschlichen Z ü g e , in denen sich große historische Strömungen sinnfällig äußern, sind vor Scott niemals mit dieser Großartigkeit, Eindeutigkeit und Prägnanz gestaltet worden. Und vor allem ist noch nie vor ihm diese Tendenz der Gestaltung bewußt in den Mittelpunkt der Darstellung der Wirklichkeit gerückt worden.« (S. 1 8 . )

32

Fall, dessen Geschichte erzählt wird. Die Geschichte, die uralte, vorliterarische G r u n d f o r m der sprachlichen Darstellung, wird damit in ihrer sinnstiftenden Struktur umgedeutet. Die zeitliche Folge in einer Geschichte, die die aufeinanderfolgenden Ereignisse miteinander verbindet, wird jetzt i m strikten Sinne der Kausalität verstanden. Die Zusammenhänge, die in einer Geschichte die einzelnen Ereignisse bzw. Phasen verbinden, werden als eine lückenlose K e t t e der (meistens psychologischen) Ursachen und W i r k u n g e n gesehen. Dadurch wird die Urform des Erzählens ins Wissenschaftliche u m gedeutet. Welchen Stellenwert die »lückenlose Kausalität« in der Darstellung der fiktiven Welt der Romane Thomas Manns einnimmt, muß zunächst eine offene Frage bleiben; unsere Analyse von Buddenbrooks läßt allerdings vermuten, daß die Gestaltung der Geschichte hier nicht der Kausalitätsidee folgt. Es ist dabei zu beachten, daß die beiden zentralen sinnstiftenden Strukturierungsverfahren der Realisten, Charakterschilderung und die auf Kausalität beruhende Geschichte, den realistischen Autoren nicht als solche erscheinen, sondern als Nachahmung der wahrnehmbaren Realität. Eine eingehende Darstellung von Thomas Manns Verhältnis zur literarischen Romantik liegt uns nicht vor. Von den Romantikern hat er, wie Kurzke feststellt, nur Platen und Heine gut gekannt; einen allgemeinen Überblick hat er aus Georg Brandes' (kritischer) Darstellung g e w o n n e n . ' 5 Er weist aber mehrfach auf Novalis hin, manchmal auch auf Friedrich Schlegel. Er findet in beiden den A n f a n g oder die Antizipierung des romantischen Denkens und der romantischen K u n s t , die er vor allem aus Wagners Werk kannte — das er wiederum gebrochen durch Nietzsches W a g n e r - K r i tik rezipierte.' 6 Er vergleicht Wagners Tristan m i t Schlegels Lucinde,11

und

er zitiert mehrmals aus Novalis' Fragmenten und weist auf seine Hymnen an die Nacht hin. In Novalis' »Sympathie mit dem Tode« findet er die »Formel und G r u n d s t i m m u n g aller Romantik« ausgesprochen.' 8 Tod, N a c h t , das »Reich der Sensibilität gegen die V e r n u n f t « , ' 9 und Krankheit als eine Form von Transzendenz 2 0 sind für ihn romantische Themen, bestimmend für die romantische Lebenseinstellung. Romantisch vor allem ist auch die Bewußt-

15 ,Ä 17 18 19 20

Kurzke: Thomas Mann, S. 180. Vgl. Kurzke, ebd. Leiden und Größe Richard Wagners, IX, 399—400. Von der Tugend, XII, 424. Leiden und Größe Richard Wagners, IX, 400. Zum sechzigsten Geburtstag Ricarda Huchs, X, 434.

33

werdung des Unbewußten: er bestimmt Novalis' Romantik als »Bewußtwerdungsphilosophie«, 2 1 wodurch für ihn das frühromantische Denken, wie schon festgestellt wurde, mit Schopenhauers und Nietzsches »Entlarvungspsychologie« und zuletzt mit Freuds Psychoanalyse verwandt ist. So wie Thomas Mann die romantische Neigung zum Irrationalen mit Freuds aufklärerischer Tendenz der Bewußtwerdung verbindet, bedeutet die romantische Dichtung für ihn eine bewußte Kunst, reflektierte Dichtung: »nie haben die Romantiker den Begriff der Kunst anders verstanden denn als Gegensatz des Instinktiven, Natürlichen, Unbewußten.« 2 2 Nach seiner Meinung bestand im Gegenteil die Gefahr, daß die Kunst bei ihnen überreflektiert war: »Es fehlte nicht viel, daß sie darin nach ihrer radikalen Art zu weit gegangen und das geist-körperliche Wesen der Kunst verkannt hätten, welche ja einer Proserpina gleicht, die den chthonischen Mächten und denen des Lichts zugleich gehört.« 2 3 Die Darstellung der romantischen Kunst geht hier in das Bekenntnis der eigenen Kunstauffassung über: die Reflexion, das Bewußtsein des »Künstlichen« in der Kunst, gehört zum künstlerischen Schaffen, aber auch das Unbewußt-Natürliche. Das hier dargestellte Problem der Kunst ist dasselbe, dem wir in Nietzsches Wagner-Kritik begegnen, die für Thomas Mann ein Modell für das Verständnis der Lage des modernen Künstlers überhaupt wurde: es geht um das Problem der Uberreflexivität, der Erlahmung des künstlerischen Schaffens durch Reflexion, welchem Problem wir im Doktor Faustus wiederbegegnen. Thomas Mann unterscheidet nicht prinzipiell die Problematik des dekadenten Künstlers im Nietzscheschen Sinne von der Kunstproblematik der (Früh-) Romantik. Das Thema der Reflexion finden wir in Thomas Manns Aufsatz »Die Kunst des Romans« wieder. Der Roman bedeutet für ihn das späte, unnaive, moderne Stadium der epischen Dichtung, 2 4 er bedeutet Ablösung der reinen »Poesie« durch die »Kritik«: »Der Roman repräsentiert als modernes Kunstwerk die Stufe der >Kritik< nach derjenigen der >Poesie Eifler, S. 2 3 . 30 So Behler: Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie ( 1 9 5 7 ) , in: Schanze (Hrsg.), S. 206.

35

bedeutet natürlich, daß ein Dichter nicht die Logik des Gegenstandes zum Aufbauprinzip seines Romans macht, wie ein realistischer Schriftsteller es nach seinem Selbstverständnis tut, sondern die Ordnung der Dinge schafft und aus dem unzusammenhängenden Material der Wirklichkeit ein Ganzes, einen Kosmos bildet. Der Realitätsbegriff, der hier erscheint, ist völlig anders als der positivistisch-empiristische der Realisten; mit Ernst Behlers Worten: »[S]o bahnt sich hier ein Realitätsbegriff an, der sich ganz auf die Kategorie der Bedeutung gründet und die im höchsten Sinne menschliche Welt darstellt.« 3 1 Die Arbeit des Dichters erscheint hier als »bedeutungsverleihender A k t des symbolischen und imaginierenden

Verstandes.« 32

Oder eigentlich, die Tätigkeit des Dichters ist keine besondere Tätigkeit, sondern sie ist — in gesteigerter Form — die Tätigkeit des Menschen schlechthin. Novalis läßt den Dichter Klingsor in Heinrich von Ofterdingen sagen: »Es ist recht übel [ . . . ] daß die Poesie einen besonderen Namen hat, und die Dichter eine besondere Zunft ausmachen. Es ist gar nichts Besonderes. Es ist die eigentümliche Handlungsweise des menschlichen Geistes. Dichtet und trachtet nicht jeder Mensch in jeder Minute?« 3 3 Die Konstruierung eines sinntragenden Universums heißt Poesie bzw. Poetisierung der Welt. 3 4 Die Prinzipien dieser Tätigkeit sollen in der romantischen Poesie

zugleich

reflektiert werden,

die deswegen

»Transzendentalpoesie«

heißt. 35 Auch für Thomas Mann (wie natürlich auch für Nietzsche) bestand das dichterische Schaffen darin, dem Material des Lebens Form und Sinn zu geben. Diese Sinngebung verstand er allerdings in der Phase der Buddenbrooks, in der er in Anlehnung an Schopenhauer proklamierte, nicht die Welt, sondern seine Vorstellung der Welt geschildert zu haben,' 6 anders als

" 32

"

Ebd., S. 208. Ebd. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Zweite, nach den Handschriften ergänzte, erweiterte und verbesserte Auflage. Hrsg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel. Stuttgart 1 9 6 0 — 1 9 6 8 , Bd. I, S. 287.

34

Siehe Behler, ebd. S. 199, 2 0 0 ; H u g o Kuhn: Poetische Synthesis oder ein Kritischer Versuch über romantische Philosophie und Poesie aus Novalis' Fragmenten ( 1 9 5 0 / 5 1 ) , in: Gerhard Schulz (Hrsg.). Novalis. Beiträge zu Werk und Persönlichkeit Friedrich von Hardenbergs. Darmstadt 1 9 8 6 .

35

Z u m B e g r i f f »Transzendentalpoesie« siehe Behler, ebd.; Heinz-Peter Weber: Friedrich Schlegels »Transzendentalpoesie«. Untersuchungen zum Funktionswandel der Literaturkritik im 1 8 . Jahrhundert. München 1 9 7 3 ; Lacoue-Labarthe und Nancy: L'absolu littéraire.

36

Bilse und ich, X , 1 6 .

36

später, als er sich für das mythische Gestalten der Wirklichkeit interessierte und sich in seinen Romanen daran anlehnte. Beide Orientierungen haben etwas mit dem frühromantischen Gedankengut gemeinsam: sowohl die Idee des Dichter-Ichs als Zentrum des poetischen Universums als auch das Interesse für Mythen. Es gibt noch weitere Berührungspunkte. Deshalb lohnt es sich, einen wenn auch nur flüchtigen Blick auf die frühromantische Theorie der Sinnkonstituierung im Roman zu werfen. Zuerst sei festgestellt, daß das kausale Ursache-Wirkung-Verhältnis der aufeinanderfolgenden Ereignisse nicht die Grundlage eines romantischen Werkes bildet. Der Roman ist überhaupt nicht in erster Linie auf der Grundlage der erzählten Geschichte organisiert: ein romantisches Werk intendiert, wie Margret Eifler sagt, »weniger Geschehniserzählung, als geistige Ideenbewegung«. 3 7 Nicht die »natürlichen«, kausalen Beziehungen der Sachen sind das Wichtige, sondern die (symbolischen) Bedeutungen, die ihnen zukommen, ihr Verweisungscharakter, und ihre Beziehungen zueinander auf der ideellen Ebene. Z. B. in Novalis' Heinrich von Ofterdingen sind die Personen nicht mit der Logik der (psychologischen) Kausalität miteinander verknüpft, sondern sie bilden »ein symbolisches Arrangement auf das Entwicklungsziel eines poetisierenden Geistes h i n « , ' 8 d.h., die Personen haben gewisse Funktionen in bezug auf die Entwicklung der Hauptperson zum Dichter. An die Stelle der Kausalität sind im Geschehen akausale Verbindungen getreten: Zufall und Schicksal verknüpfen die Dinge miteinander, oder die Ereignisse folgen der Logik des Märchens oder des Traums. Die Einheit des romantischen Romans entsteht nicht durch die Geschichte, sondern »durch das Band der Ideen, durch einen geistigen Zentralpunkt«, schreibt Friedrich Schlegel im Gespräch über die Poesie.™ Somit erweist sich der Begriff der epischen Integration als ungültig: in einem romantischen Roman wie z. B. in Lucinde findet keine epische Integration statt, stellt Esther Hudgins fest. 40 An die Stelle der innerlich kohärenten Geschichte

58 19

40

Eifler, ebd., S. 5. Eifler, S. 30. F. Schlegel: Gespräch über die Poesie. Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstellt und Hans Eichner. Kritische Neuausgabe, Paderborn 1 9 6 7 . Bd. II: Charakteristiken und Kritiken I ( 1 7 9 6 - 1 8 0 1 ) , S. 336. »Das Neue der Form der Lucinde muß also darin gesehen werden, daß die nichtepischen Abschnitte nicht in das Handlungsgerüst integriert erscheinen, sondern ein absolutes Eigenleben führen. Sie werden durch den Bezug auf die Idee, auf den >geistigen ZentralpunktZauberbergromantischen Ironie« aufzugreifen; es mag hier genügen, den Zusammenhang dieses Begriffs mit der Idee der künstlichen Konstruktion des Werkes hervorzuheben. Z u Schlegels Ironiebegriff siehe Raymond Immerwahr: Die Subjektivität oder Objektivität von Friedrich Schlegels poetischer Ironie, in: Schanze (Hrsg.); Peter Szondi: Friedrich Schlegel und die romantische Ironie, ebd.; Ingrid Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. Tübingen 1 9 7 7 (i960). Thomas Mann legt seinem Ironie-Begriff das Erlebnis Nietzsche zu Grund; siehe dazu unten Anm. 196. Z u m Ironie-Begriff Thomas Manns siehe auch Kurzke: Thomas Mann, S. 167 — 1 7 1 .

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müssen, aber legen doch die Vermutung eines Zusammenhangs nahe. Es leuchtet ein, daß Thomas Manns Kunstkonzeption eher in den Rahmen der (früh)romantischen Konzeption von »Durchdringung der idealen und realen Wirklichkeitssphären« fällt als in den der realistischen Nachahmungsidee. Für Thomas Mann bedeutete die Romantik bzw. das »romantische« neunzehnte Jahrhundert aber vor allem Schopenhauer, Wagner und Nietzsche. Wie er das frühromantische Gedankengut theoretisch rezipiert hat, leitet sich von diesen dreien ab; die Romantik war für Thomas Mann ein Ganzes. Schopenhauers Werk wirkt in die tiefsten Schichten der Lebenseinstellung Thomas Manns. Als er 1899 mit drei- oder vierundzwanzig Jahren Schopenhauers Welt als Wille und Vorstellung las, 59 fand die Lektüre in ihm einen fruchtbaren Nährboden, ja schon ein ähnliches Lebensgefühl; es ist zu vermuten, daß Thomas Mann seine eigene Schopenhauer-Begegnung schildert, wenn er über Wagners Schopenhauer-Erlebnis schreibt, dies sei »eine selig-unverhoffte Bekräftigung und Erläuterung des eigenen Seins«/' 0 Er schreibt später, daß Schopenhauer gerade etwas für junge Leute sei, 6 ' wohl weil er, hier Nietzsche zitierend, der Ansicht ist, daß »Schopenhauers Weltgedicht das Gepräge des Lebensalters trage, in welchem das Erotische dominiert.« 6 2 In Schopenhauers Begriff des Willens sieht er, auch wenn er seinen Zusammenhang mit dem Kantischen Begriff des >Dinges an sich< erkennt, den das Leben leitenden blinden Trieb, letztlich den Geschlechtstrieb. Schopenhauer ist für ihn ein »Psychologe des Willens« und somit der »Vater aller modernen Seelenkunde«, von der die Linie über Nietzsche zu Freud und seinen Nachfolgern geht. 6 ' Also nicht nur Nietzsche, den Thomas Mann als einen Nachfolger Schopenhauers rezipiert, sondern auch diesen selbst schätzt er als einen »Entlarvungspsychologen«; denn für ihn ist im Grunde »alle Psychologie Entlarvungspsychologie und ironisch-naturalistischer Scharfblick für das vexatorische Verhältnis von Geist und Trieb.« 6 4 Wie für Nietzsche, ist auch für Schopenhauer der Intellekt ein Diener des Triebes; es gibt keine interesselose, »reine« Erkenntnis.

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Hans Wysling: Thomas Manns unveröffentlichte Notizbücher, in: Thomas-MannJahrbuch 4, Frankfurt a.M. 1 9 9 1 , S. 124?. Leiden und Größe Richard Wagners, I X , 3 9 7 . 61 Thomas Mann: Schopenhauer, I X , S. 559. Ebd., S. 560. ^ Ebd., S. 5 7 7 . 64 Ebd., S. 5 7 7 f .

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In Schopenhauers Philosophie fand Thomas Mann eine metaphysische Bestätigung der psychologischen Einsicht vom irrationalen Charakter des Lebens. Diese Einsicht war ihm schon früh bei Nietzsche begegnet, dessen Werk ihn schon seit 1 8 9 4 beschäftigt hatte/' 5 aber die Wurzeln dieser Überzeugung stecken schon in der psychischen Tiefe des Jünglings, wie Thomas Mann sie im Schopenhauer-Aufsatz halb-autobiographisch schildert. In demselben Aufsatz wird Schopenhauers Dualismus völlig richtig mit Kant und Piaton verbunden. Es geht hier um den Dualismus von Vorstellungswelt und dem Ding an sich, das für Schopenhauer der Wille ist. Hier ist zugleich der Dualismus der einzelnen Dinge und der allgemeinen Ideen dadurch enthalten, daß die primären Objektivationen des Willens die (platonischen) Ideen sind, deren unvollkommene Abbilder wiederum die einzelnen Dinge der Erscheinungswelt sind. Die einzelnen Dinge erscheinen uns durch die Kategorien der Zeit, des Raumes und der Kausalität, d.h., wir sehen die einzelnen Dinge in ihren raum-zeitlichen Relationen und im Verhältnis des zureichenden Grundes zueinander. Könnten wir uns von unserem Leib befreien, von dessen Affektionen unsere Wahrnehmung mitbestimmt ist, und als reines, entindividualisiertes (bzw. überindividualisiertes) Erkenntnissubjekt die Dinge ansehen, dann würden wir »gar nicht mehr einzelne Dinge noch Begebenheiten, noch Wechsel, noch Vielheit erkennen, sondern nur Ideen, nur die Stufenleiter der Objektivationen jenes einen Willens, des wahren Dinges an sich, in reiner ungetrübter Erkenntnis auffassen, und folglich würde unsere Welt ein Nunc stans sein«/' 6 denn die »Zeit ist bloß die verteilte und zerstückelte Ansicht, welche ein individuelles Wesen von den Ideen hat, die außer der Zeit, mithin ewig sind: daher sagt Piaton, die Zeit sei das bewegte Bild der Ewigkeit«. 6 " 7 Es besteht also ein starker Antagonismus zwischen der Welt der Vorstellung, in die das Individuum, die Zeit und die Kausalität gehören, und der eigentlichen Wirklichkeit der allgemeinen, zeitlosen, in ihrem Wesen ruhenden Ideen. Wie diese Metaphysik nicht nur im Ideengehalt von Thomas Manns Werken vorkommt, sondern sich auch in ihrer inneren Logik, in der Art

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66

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Siehe Wysling: Thomas Manns unveröffentliche Notizbücher, in: Thomas-MannJahrbuch, Bd. 4, hrsg. von Eckhard Heftrich und Hans Wysling. Frankfurt a. M. 1 9 9 1 , S. 1 2 3 . Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung. Sämtliche Werke. Frankfurt am Main 1 9 8 6 . Bd. I, S. 2 5 3 . Ebd., S. 2 5 4 .

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der Sinnkonstituierung in ihnen, sichtbar macht, zeigen die Untersuchungen von Kristiansen und Dierks. Kristiansens Ziel ist es zu zeigen, daß die Hans-Castorp-Geschichte auf der »allegorischen« Ebene den Sieg der Auflösung der Formen, also des Triebes, der »Welt als Wille«, über die Formwelt der »humanistischen Mitte«, der »Welt als Vorstellung«, darstellt. Dierks ist bemüht zu beweisen, daß Thomas Mann auch in der späteren Phase, in den Joseph-Romanen, von Schopenhauer ausgeht, indem er seine Konzeption des mythischen Typus von Schopenhauers Begriff der Idee oder der Species ableitet. Obwohl Kristiansens Untersuchung sich auf die inhaltliche Analyse der »allegorischen« Geschichte konzentriert, tragen beide Untersuchungen wesentlich auch zum Verständnis der formalen Strukturen der beiden Werke bei: die Grundlage der »Zweischichtenstruktur« (Dierks) wird in der Metaphysik Schopenhauers entdeckt. Die fiktive Welt mit den individuellen Personen erscheint als die »Welt als Vorstellung«, während die »tiefere« Wirklichkeit in den allegorischen bzw. mythisch-typischen Inhalten in Erscheinung tritt. Die Hypothese der von Schopenhauer bestimmten Struktur des Romans — von Dierks und Kristiansen etwas unterschiedlich verstanden — muß in bezug auf Doktor Faustus überprüft werden. Wir müssen auch fragen, ob nicht noch andere Punkte in Schopenhauers Philosophie als seine Metaphysik relevant für das Verständnis der inneren Logik von Thomas Manns Werken sein können. Thomas Mann stellt auch Schopenhauers A u f fassung von Kunst dar, die tatsächlich eine wichtige Stellung in dessen Gedankenaufbau hat. Es gibt für Schopenhauer ein Gebiet, auf dem der Mensch es vermag, die wahre »Welt als Wille« zu betrachten. Das ist nicht die Wissenschaft, deren Erkenntnis sich auf die Vorstellungswelt bezieht, - wenn auch durch abstrakte Begriffe, die Verallgemeinerungen des Wahrgenommenen sind und die also »dem rast- und bestandlosen Strom vierfach gestalteter Gründe und Folgen« nachgehen 6 " —, sondern allein die Kunst. Das künstlerische Genie ist imstande, in einzelnen Dingen die Ideen zu sehen, was voraussetzt, daß es von seiner Individualität absieht und sich in ein reines, entindividualisiertes Subjekt der Erkenntnis verwandelt. Dieselbe Anschauung vermag es durch Kunstwerke in anderen Menschen zu erwecken. Im Anschauen

6S

Ebd., S. 2 6 5 . Z u den vier Arten des Grundes siehe Schopenhauers Aufsatz »Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde«. Sämtliche Werke, Bd. III.

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eines Kunstwerks »feiern wir den Sabbath der Zuchthausarbeit des Wollens, das Rad des Ixion steht still«/' 9 Das geschieht dadurch, daß uns in den Kunstwerken die reinen Ideen dargestellt werden. Der Gegenstand eines Kunstwerks ist also »eine Idee in Piatons Sinne« und »nicht das einzelne Ding, das Objekt der gemeinen Auffassung; auch nicht der Begriff, das Objekt des vernünftigen Denkens und der Wissenschaft«. 7 0 Die einzige Ausnahme davon ist die Musik, die nicht Ideen, also Objektivationen des Willens, abbildet, sondern unmittelbar den Willen selbst. 7 ' Statt Willen kann man hier ebensogut von (menschlichen) Emotionen sprechen. 72 Die Musik entspricht der allgemeinen Dynamik der menschlichen Gefühle: »Sie drückt [ . . . ] nicht diese oder jene einzelne und bestimmte Freude, diese oder jene Betrübnis oder Schmerz oder Entsetzen oder Jubel oder Lustigkeit oder Gemütsruhe aus; sondern die Freude, die Betrübnis, den Schmerz, das Entsetzen, den Jubel, die Lustigkeit, die Gemütsruhe selbst, gewissermaßen in abstracto, das Wesentliche derselben ohne alles Beiwerk, also auch ohne die Motive dazu.« 7 3 Also auch hier kommt es auf das Wesen an, das in abstracto rezipiert, ja gerade so am intensivsten empfunden wird. Die Gegensätzlichkeit von Kunst und Wissenschaft macht den Unterschied zum Realismus deutlich, ebenso wie auch die Auffassung, daß Kausalität nur in die Vorstellungswelt gehört, nicht in das »Ding an sich« oder die »tiefere« Wirklichkeit der (wesenhaften) Ideen. Schopenhauers Ansicht ist hier mit der ästhetischen Theorie der Frühromantiker — insbesondere Schellings Kunsttheorie -

verwandt. 7 4

Thomas Mann spricht von der Erscheinungswelt bei Schopenhauer als einem »Ballett, ein[em] Schauspiel«, dem nicht einmal soviel Wirklichkeit zukomme wie dem betrachtenden Subjekt. 7 '' Er bekennt, daß diese Auffas-

69

Ebd., S. 280. " Ebd., S. 328. 7 ' Ebd., S. 3 5 9 . 11 Schopenhauer beschreibt die Melodie so: »Sie erzählt folglich die Geschichte des von der Besonnenheit beleuchteten Willens, dessen Abdruck in der Wirklichkeit die Reihe seiner Taten ist; aber sie sagt mehr, sie erzählt seine geheimste G e schichte, malt jede Regung, jedes Streben, jede Bewegung des Willens, alles das, was die Vernunft unter den weiten und negativen Begriff Gefühl zusammenfaßt und nicht weiter in ihre Abstraktionen aufnehmen kann.« (Ebd., S. 362.) 7

" 74

"

Ebd., S. 364. Siehe dazu Nicolai Hartmann: Die Philosophie des deutschen Idealismus. Berlin i 9 6 0 , S. 1 3 1 . Das, weil das Subjekt sich selbst auch als Wille erscheint; T. Mann: Schopenhauer, I X , S. 5 5 2 .

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s u n g f ü r den K ü n s t l e r »einen u n g e m e i n sinnlich-artistischen Reiz und Z a u ber« hat: [D]enn die Auffassung der Welt als einer bunten und bewegten Phantasmagorie von Bildern, die für das Ideelle, Geistige durchscheinend sind, hat etwas eminent Künstlerisches und schenkt den Künstler erst gleichsam sich selbst: Er ist derjenige, der sich zwar lustvoll-sinnlich und sündig der Welt der Erscheinungen, der Welt der Abbilder verhaftet fühlen darf, da er sich zugleich der Welt der Idee und des Geistes zugehörig weiß, als der Magier, der die Erscheinung für diese durchsichtig macht. Die vermittelnde

Aufgabe des Künstlers, seine hermetisch-

zauberhafte Rolle als Mittler zwischen oberer und unterer Welt, zwischen Idee und Erscheinung, Geist und Sinnlichkeit kommt hier zum Vorschein [ . . .].7Musikdramatiker< wirkte er auf mich, sondern als Künstler überhaupt, als der moderne Künstler par excellence, wie Nietzsches Kritik mich gewöhnt hatte ihn zu sehen, und im besonderen als der große musikalischepische Prosaiker und Symboliker, der er ist.« ,o6 Nietzsche: Der Fall Wagner, Werke, II, S. 9 i 6 f . 107 108

109

Betrachtungen eines Unpolitischen, X I I , 74. Dahlhaus: Vorwort, in: C. D . (Hrsg.): Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk. Regensburg 1 9 7 0 , S. 8; vgl. auch Tibor Kneif: Die Idee des Organischen bei Richard Wagner, in: ebd., S. 6 5 . Diese Kritik ist ähnlich der der Romantiker oder Schillers. »Wagners Kulturkritik fußt auf der Beobachtung, daß die industrielle, in rationelle Arbeitsteilung und Spezialisierung zersplitterte Produktionsweise gewisse menschliche Teilfähigkeiten einseitig beansprucht, sie zu isolierten Momenten des Arbeitsvorganges werden läßt und einer gleichmäßigen Ausbildung der körperlichen und geistigen Kräfte im Wege steht«, schreibt Kneif, S. 66.

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Künstlers und in seinem Werk die Verkörperung der modernen Kunstproblematik findet,110 sieht er sein Werk durch Nietzsches Kritik. Er erkennt darin die Problematik der modernen, »nicht mehr unschuldigen« Kunst, d . h . seine eigene Kunstproblematik wieder. 111 Thomas Mann hält nämlich auch noch an der Forderung fest, daß das Kunstwerk den Eindruck eines organischen Ganzen machen soll. Zugleich ist er sich aber der technischen, »gemachten« Kunstgriffe bewußt, die zu dessen Hervorbringen nötig sind, und hat damit seine »Unschuld« verloren. 112 Aber während Wagners gewollte, gekonnte Effekthascherei für Nietzsche moralisch höchst verdächtig war (Thomas Mann scheint recht zu haben, wenn er Nietzsche immer für einen Ethiker h i e l t " 3 ) , ist das Bild des Effekte kalkulierenden Künstlers für Thomas Mann die adäquate Darstellung des unausweichlichen Zustands des modernen Künstlers. Darum kann er unumwunden und offen technische Kunstgriffe von Wagner übernehmen, die dieser verhehlen wollte, und somit den »ironischen Wagner« spielen." 4 Thomas Mann sagt zwar einmal, daß er von Wagner, dem er viel »an Kunstglück und Kunsterkenntnis« zu verdanken habe, »nichts Direktes und Handwerkliches zu lernen« hatte, fügt jedoch hinzu: »Aber die Künste 110

»Es war damals, daß mir zuerst die Kunst Richard Wagners entgegentrat, diese m o d e r n e K u n s t , die man erlebt, erkannt haben mu!3, wenn man von unserer Zeit irgend etwas verstehen will«, schreibt T h o m a s Mann in »Versuch über das Theater« (X, 37).

' " »Die K u n s t Wagners, so poetisch, so >deutsch< sie sich geben möge, ist ja an und für sich eine äußerst moderne, eine nicht eben unschuldige K u n s t [ . . . ] « . Betrachtungen eines Unpolitischen, XII, 74. Siehe Kurzke, ebd., S. 1 1 3 , 2 8 1 . Volker H a g e analysiert die Funktion des ironisierten Erzählers Zeitblom in der G e s t a l t u n g des Werkes zu einem Ganzen (Vom Einsatz und R ü c k z u g des fiktiven Ich-Erzählers, in: Text und Kritik 1976). 1,1

Th. Mann: Dürer, X, S. 2 3 1 : »Meine J u g e n d , so darf ich sagen, hinderte mich nicht, den Ethiker in Nietzsche zu erkennen zu einer Zeit, als seine Mode- und Gassenwirkung auf einen kindischen Mißbrauch des Ü b e r m e n s c h e n - N a m e n s hinauslief. Die seelischen Voraussetzungen und Ursprünge aber der ethischen Tragödie seines Lebens, dieses unsterblichen europäischen Schauspiels von Selbstüberw i n d u n g , Selbstzüchtigung, Selbstkreuzigung mit d e m geistigen O p f e r t o d e als herz- und hirnzerreißendem Abschluß, — wo anders sind sie zu finden, als in dem Protestantismus des N a u m b u r g e r Pastorssohns, als in jener nordisch-deutschen, bürgerlich-dürerisch-moralistischen Sphäre, in der das Griffelwerk >Ritter, Tod und Teufel< steht und die auf allen Fahrten die Heimatsphäre seiner Seele geblieben ist?«

1M

Kurzkes Begriff des »ironischen Wagners« bezieht sich allerdings nicht in erster Linie auf Anleihen von Wagner, sondern allgemeiner auf die Idee, m i t bewußten, kalkulierten M i t t e l n den Schein des Organischen hervorzubringen; siehe Kurzke, ebd., S. 113.

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sind ja nur die Erscheinungsformen der Kunst, welche in allen dieselbe ist, und Wagner hätte der große Vermischer der Künste nicht zu sein brauchen, der er war, um auf jede Art von Künstlertum lehrend und nährend wirken zu k ö n n e n . « " 5 Es bleibt aber nicht dabei, daß die Grenzen zwischen den verschiedenen Künsten relativiert werden. Thomas Mann erkennt in Wagner gerade einen epischen Künstler. An derselben Stelle schreibt er: »Was überdies meinem Verhältnis zu ihm etwas Unmittelbares und Intimes verlieh, war der Umstand, daß ich heimlich stets, dem Theater zum Trotz, einen großen Epiker in ihm sah und l i e b t e . « 1 ' 6 Ein Beleg dafür ist für ihn die Entstehung des Ringes des Nibelungen, die Art und Weise, wie Wagner immer tiefer auf die Vorgeschichte des Schicksals Siegfrieds zurückgriff und so seine Neigung zur groß angelegten epischen Gestaltung zeigt. »Was er schuf, war ein szenisches Epos, — etwas Wundervolles, aber kein Drama, im modernen nicht und gewiß nicht im Sinn der [klassischen] T r a g ö d i e . « " 7 Also szenische Epen, nicht Dramen habe Wagner in Töne gesetzt. Aber das Epische in Wagners Musikdramen beschränkt sich nach der Meinung Thomas Manns nicht auf die Geschichte auf der Bühne. Die musikalische Besonderheit der Kompositionen Wagners, die Leitmotivtechnik, interpretiert Thomas Mann gerade als ein nicht musikalisches, sondern episches Mittel: das Leitmotiv sei »homerischen U r s p r u n g s « , " 8 und er entdeckt es unter anderen bei T o l s t o i . " 9 Das wiederkehrende Leitmotiv, »die wörtliche und bedeutsame Rückbeziehung über weite Strecken h i n « , " " sei ein episches Mittel, das Ganze zu gestalten. Sein »musikalisches Dichtertum« zeige Wagner im Schaffen einer neuen »thematisch-motivischen Gewebstechnik«, durch das ein enormes »Beziehungsfest«, »eine ganze Welt von geistvoll-tiefsinnigen Anspielungen«, eine »Feier des Gedankens und des Gedenkens«, so wie sie in Siegfrieds Tod erscheine, erzeugt werde. 1 2 1 Nicht nur die Leitmotivtechnik hält Thomas Mann in Wagners Musik für »literarisch«: »Die unstillbare Chromatik des Liebestodes ist eine literarische Idee. Das Urströmen des Rheines, die sieben primitiven Akkord-

" 5 Über die Kunst Richard Wagners, X , 840. " 6 Ebd. " 7 Versuch über das Theater, X , 4 8 ; eine ähnliche Meinung äußert er an anderen Stellen. 118 Versuch über das Theater, X , 2 7 . 119 Leiden und Größe Richard Wagners, I X , 3 6 5 . Über die Kunst Richard Wagners, X , 840. 121 Richard Wagner und der >Ring des NibelungenRing des Nibelungen«, I X , 520. Nietzsche schreibt in »Der Fall Wagner«: »Wagner war nicht Musiker von Instinkt. Dies bewies er damit, daß er alle Gesetzlichkeit und, bestimmter geredet, allen Stil in der Musik preisgab, um aus ihr zu machen, was er nötig hatte, eine Theater-Rhetorik, ein Mittel des Ausdrucks, der Gebärden-Verstärkung, der Suggestion, des Psychologisch-Pittoresken. Wagner dürfte uns hier als Erfinder und Neuerer ersten Ranges gelten — er hat das Sprachvermögen der Musik ins Unermeßliche vermehrt — [...].« (Werke, II, S. 9 1 9 ) In Jenseits von Gut und Böse schreibt er: » [ . . . ] die französische Spät-Romantik der vierziger Jahre und Richard Wagner [gehören] auf das engste und innigste zueinander [ . . . ] . Allesamt beherrscht von der Literatur bis in ihre Augen und Ohren — die ersten Künstler von weltliterarischer B i l d u n g —, meistens sogar selber Schreibende, Dichtende, Vermittler und Vermischer der Künste und der Sinne (Wagner gehört als Musiker unter die Maler, als Dichter unter die Musiker, als Künstler überhaupt unter die Schauspieler) [ . . . ] « . Werke, II, S. 1 2 4 t E. Voß, S. 2 1 4 .

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nen, wie Egon Voß schreibt, der Absicht, »die Musik zu einer Tonsprache zu entwickeln, die sich an Deutlichkeit mit der Wortsprache messen k a n n . « ' 2 7 W i e bekannt, fing Wagners Entwicklung zum Schöpfer von »Musikdramen« nicht mit der M u s i k , sondern mit der Literatur a n . 1 2 8 Von A n f a n g an sieht man in seinen Texten, daß das Primäre für ihn der dramatische Text war, nach dem die Musik komponiert wurde. Die Komposition der Musik in seinen Musikdramen gleicht als Gewebe von Grundthemen im Prinzip einem Symphoniesatze, sagt er, aber der Unterschied liegt darin, daß die Wiederkehr der Themen durch die dramatische Handlung auf der Bühne bestimmt w i r d . ' 2 9 Also das Drama bestimmt die Struktur der M u sik. Es läßt sich auch zeigen, daß Wagner sich spätestens beim K o m p o n i e ren des Ringes des epischen Charakters der Leitmotivtechnik bewußt war.' Eine ähnliche Verwischung der Grenzen zwischen Musiker und Literat glaubt Thomas Mann in sich selbst zu finden. Er stellt das »Faktum« fest, »daß ich zwar Literat, aber mehr noch Musiker bin«, und bringt diese Tatsache mit dem »Dreigestirn« in Zusammenhang, denn alle drei waren es auch: »Literaten und Musiker, aber das letztere m e h r « . ' 3 ' Den Gegensatz 127 I2ii

129

130

1,1

Ebd. »In frühester Jugend machte ich Gedichte und Schauspiele; zu einem dieser Schauspiele verlangte es mich, Musik zu schreiben: um diese Kunst zu erlernen, ward ich Musiker. Später schrieb ich Opern, indem ich meine eigenen dramatischen Dichtungen in Musik setzte.« Wagner: Das Kunstwerk der Zukunft. Sämtliche Schriften und Dichtungen (Volksausgabe). Leipzig o.J., Bd. XII, S. 284. Wagner: Über die Anwendung der Musik auf das Drama, X , S. 185. Die Stelle wird von Rudolf Stephan kommentiert (Gibt es ein Geheimnis der Form bei Richard Wagner? in: Carl Dahlhaus (Hrsg.): Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk. Regensburg 1970, S. 9). Reinhold Brinkmann schreibt dazu: »Es darf als sicher gelten, daß die Auseinandersetzung Wagners mit den Einwänden Eduard Devrients eine wichtige Rolle in der komplizierten Entstehungsgeschichte des Ring spielte. Unzweifelhaft war es diese Kritik, die Wagner erstmals jene Position des Epischen in seiner Konzeption voll bewußt werden ließ, die dann sowohl zur Tetralogie führte wie zur Ausbildung des Leitmotivverfahrens [...]«. Brinkmann: Szenische Epik. Marginalien zu Wagners Dramenkonzeption im Ring des Nibelungen, in: Carl Dahlhaus (Hrsg.): Richard Wagner. Werk und Wirkung. Regensburg 1 9 7 1 , S. 90. Vgl. auch Carl Dahlhaus: Zur Geschichte der Leitmotivtechnik bei Wagner, in: Dahlhaus (Hrsg.): Das Drama Richard Wagners als musikalisches Kunstwerk. Regensburg 1970. Betrachtungen eines Unpolitischen, XII, 319. Vgl. Brief an B. Fucik von 15.4.1932: »Die Musik habe ich immer leidenschaftlich geliebt und betrachte sie gewissermaßen als das Paradigma alier Kunst. Ich habe mein Talent immer als eine Art versetztes Musikertum betrachtet und empfinde die Kunstform des Romans als eine Art von Symphonie, als ein Ideengewebe und eine musikalische Konstruktion [...]. Das Deutsch-Romantische in der Musik hat mir immer am

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von »Literat« und »Musiker« muß man hier selbstverständlich in einem übertragenen Sinn verstehen, und zwar in der besonderen Bedeutung, die die Begriffe für Nietzsche und Thomas Mann haben. Der »Literat« bezieht sich auf rational-aufklärerische Schriftstellerei, während der »Musiker« jemand ist, der aus dem Urgrund des irrationalen Unbewußten schafft. Wenn ein philosophisches oder literarisches Werk »musikalisch« konstruiert ist, bezieht sich die Bezeichnung auf die innere Logik desselben, die eher rhetorisch-ästhetisch als diskursiv-rational ist. Wenn Thomas Mann seine Werke als gute Partituren bezeichnet, gilt als Erklärung: »Die Kunst als tönende Ethik, als fuga und punctum contra punctum, als eine heitere und ernste Frommheit, als ein Gebäude von nicht profaner Bestimmung, wo eines ins andere greift, sinnig, verständig und ohne Mörtel verbunden und gehalten >von Gottes Hand IX, S. 370. 140 Leiden und Größe Richard Wagners, IX, 373—4; vgl. Über die Kunst Richard Wagners, X, 841. ,4 ' Ebd. Von 16.5.1934; Briefe, Bd. I, S. 360. ' 4 5 Oper und Drama II, Bd. IV, S. 6.

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äußeren Umständen bestimmt zeigt. 144 Diese eigentlich moderne Gattung wird aber in einer Bühnenvorstellung aufgehoben: »Im Streben nach wirkungsvollerer, unmittelbarerer Darstellung seines Stoffes, wird der Roman dramatisiert.«I45 Wagner dachte die höchste Wirkung dadurch zu erzielen, daß alle Sinne des Zuschauers angesprochen werden, indem in einem Musikdrama alle vereinzelten Kunstarten, Wort- und Tondichtung, visuelle Kunst (Malerei, Architektur) und Tanz (Gebärde), in einem Gesamtkunstwerk vereinigt werden. Im »Versuch über das Theater« und in dem geplanten »Geist und Kunst«, der eine »Abhandlung über das Literarische« werden sollte, 146 nimmt Thomas Mann sich vor, die Literatur bzw. den Roman gegen Wagners Behauptung zu verteidigen, dieser sei »einseitig« und soll im (musikalischen) Theater aufgehoben werden. Wagners Behauptung, das Theater vermag den Menschen vollständiger darzustellen als Literatur, weil anschaulich, kehrt Thomas Mann um: »Der Roman ist genauer, vollständiger, wissender, gewissenhafter, tiefer als das Drama, in allem, was die Erkenntnis der Menschen als Leib und Charakter betrifft, und im Gegensatz zu der Anschauung, als sei das Drama das eigentlich plastische Dichtwerk, bekenne ich, daß ich es vielmehr als eine Kunst der Silhouette und den erzählten Menschen allein als rund, ganz, wirklich und plastisch empfinde. Man ist Zuschauer bei einem Schauspiel; man ist mehr als das in einer erzählten Welt.« 1 4 7 Es liegt auf der Hand zu denken, daß das, was ein erzählerisches Werk mehr bietet als »Zuschauen«, vom Erzähler als Wissenden, als Kenner der fiktiven Welt kommt. Aber man sollte auch die Frage stellen, ob nicht im Falle von Thomas Manns eigenem Werk zu diesem »mehr als bloßen Zuschauen« auch die Leitmotivstruktur gehört, das thematische Gewebe, das das »Unbewußte« des Geschehens zeigt und das Vereinzelte auf die Ebene des Themengewebes hebt. Mit anderen Worten, könnte Thomas Mann Wagners Projekt der Aufhebung des Romans im musikalisch-dramatischen Gesamtkunstwerk umgekehrt und eine Romanart geschaffen haben, 144

Ebd, S. 2 8 , 48. Siehe dazu auch Dieter Borchmeyer: Das Theater Richard W a g ners. Idee — Dichtung — Wirkung. Stuttgart 1 9 8 2 , insbes. Kap. »Die >Erlösung< des Romans im musikalischen Drama«, und Anette Ingenhoff: Drama oder Epos? Richard Wagners Gattungstheorie des musikalischen Dramas. Tübingen 1 9 8 7 .

145

Ebd., S. 28. Siehe Hans Wysling: »Geist und K u n s t « . Thomas Manns Notizen zu einem »Literatur-Essay«, in: Paul Scherrer und Hans Wysling (Hrsg.): Quellenkritische Studien zum Werk Thomas Manns. Bern und München 1 9 6 7 , S. 1 4 1 . •4i Versuch über das Theater, I X , 29. 146

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in der die musikalischen Strukturen ins Epische zurücktransformiert worden sind, wodurch die Epik imstande ist, die Rolle der Musik zu übernehm e n ? 1 4 8 Die Frage kann nicht beantwortet werden ohne eine gründliche Analyse der Romane Thomas Manns (hier des Doktor Faustus). Es zeigt sich also, daß die Aneignung der Leitmotivtechnik von Wagner keine einfache Übernahme eines technischen Mittels bedeutet, sondern (wahrscheinlich) viel mehr beinhaltet. Ebenso verhält es sich mit dem »Leihen« der Fabel von Wagners Werken. Es ist gezeigt worden, daß mehrere von Thomas Manns Erzählungen und Romanen dem Handlungschema eines Wagnerschen Werkes folgen: Der kleine Herr Friedemann (Lohengrin), Tristan (Tristan und Isolde), Wälsungenblut (Die Walküre), Buddenbrooks (Der Ring des Nibelungen), Königliche Hoheit (Die Meistersinger von Nürnberg), (Tannhäuser).149

Zauberberg

Dabei kann man sich vorstellen, wie es James Northcote-

Bade in seiner Abhandlung tut, daß Thomas Mann der Idee in Nietzsches Der Fall

Wagner Folge leistet, daß man den »ewig gültigen« Gehalt der

Wagnerschen Mythen überprüfen sollte, indem man sie »ins Reale, ins Moderne«, ja »ins Bürgerliche« übersetzt. 1 5 0 Denn um solches nachprüfende Umsetzen des (angeblich) Ursprünglich-Menschlichen ins Moderne, Bürgerliche geht es natürlich in Thomas Manns Übernahme der Wagnerschen Mythen. Man findet hier also schon im Frühwerk Thomas Manns, ehe er nach seinen eigenen Worten von Bürgerlich-Individuellen zum MythischTypischen übergegangen war, 1 5 1 die Kombination Mythos und Psychologie. Allerdings erscheint hier der mythische Gehalt ins Bürgerlich-Individuelle, Psychologische übersetzt, während später der Mythos nicht nur in »Übersetzung«, sondern auch direkt als Mythos erscheint. Thomas Manns »Denken in Mythen« scheint daher früheren Ursprungs zu sein als die von Dierks analysierte Mythisierung des Erzählens im Tod in Venedig und im Zauberberg und zunächst nicht mit Schopenhauer, sondern mit Wagner und Nietzsche zu tun zu haben.

148

In diese Richtung geht Dieter Borchmeyers Gedanke, wenn er schreibt: »So wie Wagners Musikdramen sozusagen heimliche Romane sind, so sind Thomas Manns Romane (aus seiner eigenen Sicht) heimliche Musikdramen.« Borchmeyer: Thomas Mann und Richard Wagners Anti-Poetik des Romans, in: D. B . (Hrsg.): Poetik und Geschichte. Viktor Zmegac zum 60. Geburtstag. Tübingen 1 9 8 9 , S. 4 0 8 . •49 } { WysHng: »Mythus und Psychologie« bei Thomas Mann; J a m e s NorthcoteBade: Die Wagner-Mythen im Frühwerk Thomas Manns. Bonn 1 9 7 5 . 150 Nietzsche: Der Fall Wagner, Werke, II, S. 9 2 2 ; Northcote-Bade, S. 1 0 . 1,1 Freud und die Z u k u n f t , I X , 4 9 3 .

60

Wenn Wagner seine Musikdramen auf Mythen aufbaut, verwirklicht er die Forderung der Romantiker einer erneuten Verbindung der Kunst mit der Mythologie — auch wenn er keine neue, »moderne« Mythologie schafft, sondern die alte, allerdings nicht die antike, aufgreift. Das geschieht, ähnlich wie bei den Frühromantikern, aus dem Verlangen, die antike Funktion der Kunst wiederherzustellen. Durch den Mythos interpretiert und legitimiert die Gemeinschaft sich selbst und ihre Institutionen. 1 5 2 Daß die Kunst den Mythos als ihre Grundlage aufgreift bzw. wiederherstellt, bringt die Wiederherstellung der kultischen, gemeinschaftlichen Funktion der Kunst mit sich. - Von der »Volkstümlichkeit« der Kunst Wagners hat Thomas Mann nie viel gehalten.' 5 3 Inwieweit man trotzdem den Mythos und die damit verbundene Thematik des (kultischen) Festes in der Joseph-Tetralogie vom Wagnerschen Mythosbegriff her verstehen kann, kann hier nicht näher erörtert werden. Die gemeinschaftliche Funktion der Kunst so wie ihr Verhältnis zur Religion - selbstverständlich ebenso ein romantisches Thema — treten aber auch im Doktor Faustus als wichtige Themen auf. Daß Nietzsches kritische Perspektive sowohl Thomas Manns Schopenhauer-Rezeption als auch seine Wagner-Rezeption mitbestimmt hat, beweist schon dessen zentrale Stellung in seinem geistigen Leben. Von den Gewaltigen des Dreigestirns stand Nietzsche Thomas Mann am nächsten in der Hinsicht, daß sein Verhältnis zu ihm das persönlichste war. Dies Verhältnis war von inniglicher Liebe, schmerzhaftem Mitgefühl mit dem Leidenden, tiefer Verehrung vor dem Hochgeistigen und der Empfindung einer geistigen Verwandschaft gekennzeichnet. Es kann wohl behauptet werden, daß in Zeitbloms Verhältnis zu Leverkühn, der Nietzsche-Gestalt im Doktor Faustus, etwas von Thomas Manns verehrender und schmerzhafter Liebe für Nietzsche ist. Thomas Mann hatte Nietzsches Schriften schon sehr früh - von 1 8 9 4 an -

kennengelernt, und dessen Werk beschäftigte ihn sein Leben lang.

Während der Arbeit am Doktor Faustus, der ja nach seiner eigenen Angabe ein Nietzsche-Buch ist — der Name des Philosophen werde im Roman nicht 152

153

Dies wird am ausführlichsten in »Die Nibelungen. Weltgeschichte aus der Sage« (Bd. II) besprochen. Das mythische Denken wird hier auf den »Drang nach ideeller Rechtfertigung« zurückgeführt (ebd., S. 187). In den Notizen zu »Geist und K u n s t « schreibt er u.a.: »Moderne Ambition zum Volkstümlichen. [ . . . ] Eine romantische Velleität.« (Wysling: Geist und K u n s t , S. 1 6 1 ) . »Es fragt sich, ob das Volksmäßige überhaupt je etwas fürs Volk war und nicht vielmehr etwas für die >GebildetenLeben< als >Kunst< sich verstehen lassen, ist der Begriff der Kultur. In seinem großen Nietzsche-Essay »Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung« ver159

Notizen zu »Geist und K u n s t « , S. 208. ° Betrachtungen eines Unpolitischen, X I I , 7 4 . 161 Siehe Geburt der Tragödie, Werke, I, S. 7 7 ; Götzen-Dämmerung, Werke, II, S. 9 9 5 . ,6

l6a

So Nietzsche in Götzen-Dämmerung, Werke, II, S. 9 9 5 : »Der Rausch muß erst die Erregbarkeit der ganzen Maschine gesteigert haben: eher kommt es zu keiner Kunst. Alle noch so verschieden bedingten Arten des Rausches haben dazu die Kraft: vor allem der Rausch der Geschlechtserregung, diese älteste und ursprünglichste Form des Rausches.« 163 Betrachtungen eines Unpolitischen, X I I , 1 4 3 : »[.. .] Nietzsche, der sich >den letzten unpolitischen Deutschen« nannte [ . . .]«. • 6 * Ebd., S. 84.

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sucht Thomas Mann, dessen Denken durch eine Anzahl Begriffe zu charakterisieren: »Leben, Kultur, Bewußtsein oder Erkenntnis, Kunst, Vornehmheit, Moral, Instinkt. In diesem Ideenkomplex dominiert der Begriff der Kultur.«'6'

In diesem Begriff und in der zentralen Stellung, die Thomas Mann

ihm im Denken Nietzsches zuweist, kann man den Kern seiner Nietzscherezeption und der Bedeutung Nietzsches für sein eigenes Denken entdecken. Das Besondere in Nietzsches Begriff der Kultur ist das eigentümliche Verhältnis zu dem Gegenbegriff, bei Nietzsche »Leben« oder »Natur« genannt, d.h. dem nicht vom Menschen geschaffenen Seienden.' 6 6 Denn einerseits ist Kultur als geistig-menschliche Schöpfung eine »Wider-Natur«, die ohne Begründung von außerhalb der geistig-menschlichen Sphäre - in Gott, in absoluten Ideen bzw. absoluter Wahrheit — bleiben muß; andererseits muß die eigentliche Kultur aber im Bewußtsein des nicht-kulturellen, nicht-geistigen Lebensurgrundes geschaffen werden. Von Nietzsche hat Thomas Mann gelernt, wie wir es schon in bezug auf Schopenhauer gesehen haben, daß sich Philosophie und Kunst nicht wesensmäßig voneinander unterscheiden, weil auch die erstere keine absolute Wahrheit von der Welt ausspricht. Darauf beziehen sich seine Worte von Schopenhauers »Ideensymphonie« und Nietzsches »Erkenntnislyrik«. 1 6 7 Für Nietzsche ist der Erkenntnisgegenstand ein Produkt der geistig-schöpferischen Tätigkeit des Menschen. Daher kann es keine Grenze zwischen Erkennen und Schaffen, d. h. der Wissenschaft oder Philosophie einerseits und der Kunst andererseits geben. Das bedeutet auch, daß Wissenschaft, Philosophie oder die menschliche Erkenntnis überhaupt keine absolute Gültigkeit haben.' 6 8 Die »absolute« Wahrheit ist dem Menschen unerreichbar; alle Wahrheit ist Wahrheit »für ihn«, für den Menschen.' 6 9 Was wir als wahr ansehen, hängt von den Bedürfnissen, von der lebensbedingten Perspektive des Betrachtenden ab. Gerade diese Relativität, die Perspektivegebundenheit jeder »Wahrheit«, je-

,absoluten< Wahrheit ist unweigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden.« Nietzsche an Paul Deussen Ende April/Anfang Mai 1 8 6 8 ; zit. nach Thomas Böning: Metaphysik, Kunst und Sprache beim frühen Nietzsche. Berlin — N e w York 1 9 8 8 , S. 4. Siehe Böning, S. 4.

64

der begrifflichen Bestimmung oder Anschauung einer Sache, ist mit Nietzsches »Perspektivismus« gemeint. Der Perspektivismus als Einsicht der Unmöglichkeit der absoluten, »objektiven« Erkenntnis bzw. des Fehlens einer transzendenten Grundlage für die geistig-schöpferische Tätigkeit des Menschen gehört zum Denken der Moderne. Die Religion ist für Thomas Mann immer noch relevant, aber nicht als die gegebene Grundlage, sondern als ein Produkt des ethischkulturellen Schaffens des Menschen, wie w i r es am deutlichsten in der J o seph-Tetralogie sehen können. Daß Gott (als Grundlage des Wissens und des richtigen Tuns) tot ist und an seine Stelle allein der Mensch treten kann — Nietzsches individueller Mensch — ist der Zustand der Moderne. In der Negation der Transzendenz will Thomas Mann einen neuen H u manismus sehen, dessen Fürsprecher er nach seiner » W e n d e « zur Republik w u r d e . ' 7 0 Nietzsche ist für ihn der Inbegriff dessen, was der Humanismus der Moderne sein kann: » W e n n aber Nietzsche verkündete: >Gott ist tot< ein Beschluß, der für ihn das schwerste aller Opfer bedeutete —, zu wessen Ehrung, zu wessen Erhöhung tat er es, als zu der des Menschen? Wenn er Atheist war, wenn er es zu sein vermochte, so war er es, und klinge das Wort noch so pastoral-empfindsam, aus Menschenliebe. Er muß es sich gefallen lassen, ein Humanist genannt zu werden, wie er es dulden muß, daß man seine Moral-Kritik als eine letzte Form der Aufklärung begreift.« 1 7 1 Der Humanist Nietzsche bedeutet für Thomas Mann den Versuch einer Selbstüberwindung der Dekadenz, die Wende vom Schopenhauerschen Pessimismus zu einer neuen Lebensimmanenz, in der die humane W e l t der Menschen von diesen selbst gebaut wird. Die Aufgabe der Kulturschöpfer besteht gerade darin, daß sie »der Erde Sinn« schaffen, »einen Menschensinn«. 1 7 2 Daß der Sinn von der menschlichen Sinngebung allein kommt, hatte Nietzsche deutlich ausgesprochen. 1 7 3 170

171 172 173

In »Meine Zeit« schreibt er: »Bloß vier Jahre nach dem Erscheinen der B e t r a c h tungen < fand ich mich als Verteidiger der demokratischen Republik, dieses schwachen Geschöpfes der Niederlage, und als Anti-Nationalist, ohne daß ich irgendeines Bruches in meiner Existenz gewahr geworden wäre, ohne das leiseste G e f ü h l , daß ich irgend etwas abzuschwören gehabt hätte. Gerade der Antihumanismus der Zeit machte mir klar, daß ich nie etwas getan hatte — oder doch hatte tun wollen —, als die Humanität zu verteidigen. Ich werde nie etwas anderes tun.« XI, 314. Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, I X , 7 1 1 . Thomas Mann: Bekenntnis zum Sozialismus, X I I , 680, 6 8 1 . Nietzsche: Aus dem Nachlaß der 80er Jahre. Werke, Bd. III, S. 4 8 7 : »Ein >Ding an sich< ebenso verkehrt wie ein >Sinn an sich«, eine »Bedeutung an sich 180 181

Ebd. Ebd., S. 1 1 9 . Ebd., S. 1 1 5 . »>[A]ls was erscheint die Musik im Spiegel der Bildlichkeit und der Begriffe?< Sie erscheint ah Wille, [ . . . ] d. h. als Gegensatz der aesthetischen, rein beschaulichen willenlosen Stimmung.« Ebd., S. 43.

67

Aber die andere Komponente, die apollinische, ist für die Tragödie ebenso notwendig: sie funktioniert als eine vermenschlichende Vermittlungsinstanz zwischen dem zivilisierten Menschen und dem irrationalen Lebensgrund. Die apollinischen Formen sind notwendig, damit die ästhetische Verklärung des irrationalen Lebensgrundes entsteht, wodurch das Leben für den Menschen erst erträglich wird. Die künstlerische Tätigkeit versteht Nietzsche in Ubereinstimmung mit den Romantikern als Sinnkonstituierung, als Schöpfung eines Kosmos aus dem Chaos, als Vermenschlichung der Welt: »Der Gesamtcharakter der Welt ist [ . . . ] in alle Ewigkeit Chaos, nicht im Sinne der fehlenden Notwendigkeit, sondern der fehlenden Ordnung, Gliederung, Form, Schönheit, Weisheit, und wie alle unsere ästhetischen Menschlichkeiten heißen.« 1 8 2 Die Kunst kann somit keine Abbildung der Realität sein, sondern »[e]ine Weltcorrektion — das ist Religion oder Kunst. Wie muß die Welt erscheinen, um lebenswerth zu sein?« 1 "' »[D]enn nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt.«1*4

Der Unterschied zu den

Romantikern besteht natürlich darin, daß während für die Romantiker die »Poetisierung« der Welt die »Potenzierung« des in der Wirklichkeit — grundsätzlich in der Natur — Gegebenen bedeutet, in dem das Absolute sich ahnen läßt,' 8 5 für Nietzsche der Menschensinn und die ästhetische Verklärung vom menschlichen Geist allein herstammen. In der künstlerischen Sinngebung spielt der Mythos eine zentrale Rolle. Für Nietzsche ist Mythos eine Urbedingung der Kultur. Der sokratische Rationalismus hat den Mythos vernichten wollen, woraus eine Unbefriedigung des modernen, abstrakt denkenden Menschen folgt, dem abstrakte Erziehung, abstrakte Sitte, abstraktes Recht, abstrakter Staat geboten werden und der, des mythischen Mutterschoßes verlustig, »ewig hungernd« in »allen Vergangenheiten« nach seinen Wurzeln wühlen m u ß . 1 8 6 Denn [o]hne Mythus [ . . . ] geht jede K u l t u r ihrer gesunden schöpferischen Naturkraft verlustig: erst ein mit Mythen umstellter Horizont schließt eine ganze Kulturbeweg u n g zur Einheit ab. Alle Kräfte der Phantasie und des apollinischen Traumes werden erst durch den Mythus aus ihrem wahllosen Herumschweifen gerettet. Die Bil182 183

184 185

186

Fröhliche Wissenschaft, Aphorismus Nr. 1 0 9 . Werke, II, S. 1 1 5 . September 1 8 7 0 — Januar 1 8 7 1 , Manuskript Nr. 5 Fragment 3 2 , Kritische G e samtausgabe. A b t . V I I I , Bd. 3/3, S. 1 0 5 ; zit. Böning, S. 1 6 7 . Geburt der Tragödie, Werke, I, S. 4 7 . Die Einwirkung der Kunstphilosophie Schellings auf die Romantiker macht sich gerade hier bemerkbar. Geburt der Tragödie, Werke, I, 1 2 5 .

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der des Mythus müssen die unbemerkt allgegenwärtigen dämonischen Wächter sein, unter deren Hut die junge Seele heranwächst, an deren Zeichen der Mann sich sein Leben und seine K ä m p f e deutet: und selbst der Staat kennt keine mächtigeren ungeschriebenen Gesetze als das mythische Fundament, das seinen Zusammenhang mit der Religion, sein Herauswachsen aus mythischen Vorstellungen verbürgt. 1 8 7

D i e F u n k t i o n der M y t h e n in der K u l t u r wird hier deutlich ausgesprochen: sie bieten den Menschen Bilder u n d Vorbilder an, d u r c h die ihnen ihr Leben und ihre W e l t menschlich sinnvoll erscheinen k ö n n e n . Die T r a u m b i l d e r des menschlichen Geistes werden im M y t h o s d u r c h die Tradition legitimiert, was das Chaos in der kulturellen S i n n k o n s t i t u i e r u n g verhindert. G e r a d e dieser Auffassung von der F u n k t i o n der M y t h e n begegnen wir bei T h o m a s M a n n , auch in seinem Doktor Faustus, wieder. Selbst wenn seine N e i g u n g , h i n t e r einzelnen w a h r n e h m b a r e n P h ä n o m e n e n U r b i l d e r zu suchen, vielleicht

mit

Schopenhauers

Metaphysik

zusammenhängt,

wie

Dierks

m e i n t - oder aber auch m i t einer allgemeineren, traditionell platonischen D e n k a r t des deutschen Geisteslebens —, ist doch klar, d a ß er die F u n k t i o n der M y t h e n in der K u l t u r gerade in d e r Art Nietzsches versteht. Ebenso sind die M y t h e n f ü r ihn, wie f ü r Nietzsche, geistige S c h ö p f u n g e n ( » T r a u m b i l d e r « ) des Menschen und haben keine absolute L e g i t i m a t i o n in der Ideenwelt. Der Mythos ist f ü r T h o m a s M a n n , wie f ü r Nietzsche, ein zentrales M i t t e l der K u l t u r . In seiner g r o ß e n Auseinandersetzung m i t d e m Zeitgeschehen u n d d e m zeitgenössischen D e n k e n , Betrachtungen

eines Unpolitischen,

steht im M i t t e l -

p u n k t gerade der Nietzschesche Begriff der K u l t u r . D i e »deutsche K u l t u r « wird als Gegensatz zur »französischen Zivilisation« v e r s t a n d e n , ' 8 8 beziehungsweise eigentlich als M i t t l e r t u m zwischen d e m »asiatischen« Irrationalismus u n d d e m westlichen R a t i o n a l i s m u s . 1 8 9 Sie wird als die eigentliche

187 188

Ebd. Inwieweit die zentrale Fragestellung des Werkes auf Nietzsche zurückgeht, tritt deutlich an der folgenden Stelle hervor: »Im Nachlaß Nietzsches fand man eine unglaublich intuitionsvolle Bestimmung der »Meistersinger*. Sie lautet: >Meister-

singer — Gegensatz zur Zivilisation, das Deutsche gegen das Französische.< Die Aufzeichnung ist unschätzbar. Im blendenden Blitzschein genialischer Kritik steht hier auf eine Sekunde der Gegensatz, um den dieses ganze Buch sich müht [ . . . ] « . Betrachtungen eines Unpolitischen, X I I , 3 i f . 189

»Es ist für mich keine Frage, daß deutsche und russische Menschlichkeit einander näher sind als die russische und die französische, und unvergleichlich näher als die deutsche und die lateinische [ . . . ] « . Betrachtungen, X I I , 4 3 8 . Der Gegensatz zwischen »Asien« und dem »Westen« als Chiffre für das Gegensatzpaar »irrationaler Lebensgrund — aufklärerischer Rationalismus« gehört zur Grundstruktur des Zauberbergs, wie Kristiansen im einzelnen gezeigt hat.

69

Kultur, also Vermittler zwischen »Geist« und »Leben«, dargestellt, als die Kultur, die den Kontakt mit dem Urgründig-Irrationalen bewahrt, während dessen westliches Pendant, »Zivilisation«, allein auf dem

menschlichen

Geist beruhend, unvermeidlich in einen seichten Rationalismus und oberflächlich verstandenen Humanismus einmündet. Derselben Problematik begegnen wir im Doktor Faustus wieder, aber jetzt auf die inhärente Schwierigkeit der K u l t u r fokusiert. D i e N ä h e der K u l t u r zur Barbarei, die für die Problematik im Doktor Faustus zentral ist, erkennt man auch schon in der Geburt der Tragödie, im Bild des dionysischen Rausches. Auch wenn Thomas Mann sich zum Sozialismus »bekennt«, geschieht dies dadurch, daß er das Vorhaben der Sozialisten durch Nietzsches K u l t u r begriff versteht. Der Aufbau der menschlichen K u l t u r soll im K o n t a k t mit der »Erde« geschehen. In dieser Forderung findet er den zentralen Inhalt des Kulturbegriffs von Nietzsche. 1 9 0 Es ist wichtig zu sehen, daß für Thomas Mann kein Bruch zwischen der Romantik und Nietzsche besteht, so wie ihn Habermas im Philosophischen Diskurs der Moderne darstellt. Während die R o m a n t i k im Kontakt mit dem Urgründigen eine Erneuerung der K u l t u r sucht, erstrebt nach Habermas Nietzsche keine Erneuerung der Kultur, sondern sein Denken bedeutet einen radikalen Bruch mit der Moderne überhaupt: denn indem er das Dionysische — den entindividualisierenden Rausch — verabsolutiert, sagt er sich von den leitenden Prinzipien der Moderne, dem Individuum und der Rationalität, los. 1 '-" Für Thomas Mann aber bewahrt Nietzsche in seinem Begriff der K u l t u r sowohl das Rationale (Apollinische) als auch das Irrationale (Dionysische) und setzt dabei, ebenso wie Wagner, die Tradition der Romantik fort. Insofern Thomas Mann in Nietzsche später — in »Nietzsches Philoso190

»>An der Erde zu freveln, ist jetzt das Furchtbarstes hat Nietzsche gerufen. >Ich beschwöre euch, meine Brüder, bleibt der Erde treu. Nicht mehr den Kopf in den Sand der himmlischen Dinge stecken, sondern frei ihn tragen, einen Erdenkopf, der der Erde Sinn schafft. Eure schenkende Liebe und eure Erkenntnis diene dem Sinn der Erde! Führt, gleich mir, die verflogene Tugend zur Erde zurück — ja zurück zu Leib und Leben: daß sie der Erde einen Sinn gebe, einen Menschensinn!< Das ist der Materialismus des Geistes, die Wendung eines religiösen Menschen zur Erde hin. Und Sozialismus ist nichts anderes als der pflichtmäßige Entschluß, den Kopf nicht mehr vor den dringendsten Anforderungen der Materie, des gesellschaftlichen kollektiven Lebens in den Sand der himmlischen Dinge zu stecken, sondern sich auf die Seite derer zu schlagen, die der Erde einen Sinn geben wollen, einen Menschensinn. — In diesem Sinne bin ich Sozialist.« Bekenntnis zum Sozialismus, XII, 68of. "•" Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M. 1993 (1985), S. 1 1 7 .

70

phie im Licht unserer Erfahrung« — einen Befürworter des Irrationalismus entdeckt, nimmt er von ihm Abstand. Seine Nietzscherezeption ist somit der »postmodernen« Interpretation entgegengesetzt, die in Nietzsche den Philosophen des »Willens zur Macht« bejubelt. Der Zustand des modernen, dekadenten Künstlers, dessen Inbegriff für Thomas Mann der Wagner Nietzsches ist, ist vielfach problematisch, weil sein Schaffen nicht mehr »naiv«, sondern eher »sentimentalisch« im Sinne Schillers bzw. selbstreflexiv ist. 1 9 2 In einer Art und Weise ist für Nietzsche die Selbstreflexivität aber in der Kunst schon immer enthalten. Denn in der Kunst wird der Schein als Schein entlarvt: »Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich! - Mein Auge, geschlossen, sieht in sich zahllose wechselnde Bilder — diese producirt die Phantasie und ich weiss dass sie der Realität nicht entsprechen. Also ich glaube ihnen nur als Bildern, nicht als Realitäten. [ . . . ] Woher die Lust an der versuchten Täuschung, an dem Schein, der immer als Schein erkannt wird? Kunst behandelt also den Schein als Schein, will also gerade nicht täuschen, ist wahr.«t9h

Die Ehrlichkeit der Kunst be-

steht darin, daß sie nicht täuschen will, d. h. daß sie ihren Scheincharakter nicht verhehlt — anders als etwa die Wissenschaften, die ebenso Produkte der menschlichen schöpferischen Kräfte sind, aber den Stand der absoluten Wahrheit einnehmen wollen. Für Thomas Mann — und nach seiner Auffassung auch schon für Nietzsche -

bedeutet dieses das Enthaltensein der

Kritik in der Kunst, d.h. die Selbstreflexivität der K u n s t . 1 9 4 Die Kritik bzw. Selbstreflexivität hat mit dem Begriff der Ironie zu tun. Thomas Manns Ironiebegriff hat aber auch mit dem Vermittlertum der Kunst zwischen Geist und Leben zu t u n . ' 9 5 Manchmal scheint es, daß die Ironie zwischen den zwei entgegengesetzten, einander ausschließenden Polen, »Geist« und »Leben«, ihre Quelle hat;' 9 6 aber Thomas Mann sagt auch, 192

193

Dieter Borchmeyer: Nietzsches Decadence-Kritik als Fortsetzung der »Querelle des Anciens et des Modernes«, in: Kontroversen, alte und neue, Bd. 8, S. 1 7 9 . Sommer - Herbst 1 8 7 3 , Manuskript Nr. 3 Fragm. 29, Kritische Gesamtausgabe

Bd. 3/4, S. 240L; zit. Böning, S. 201. 194

»Hatte nicht Nietzsche die Zusammengehörigkeit, die Urverwandtschaft, die Identität von Lyrik und Kritik gelehrt? Wies nicht das apollinische DoppelSymbol von Bogen und Leier von Urzeiten darauf hin?« fragt Thomas Mann in den Notizen zu »Geist und Kunst« (Wysling, S. 138).

"->5 Schopenhauer, I X , 5 3 5 . 196 Ebd.: »Genau dies denn also ist die Stellung der Kunst zwischen Geist und Leben. Androgyn wie der Mond, weiblich im Verhältnis zum Geiste, aber männlich zeugend im Leben, die stofflich unreinste Manifestation der himmlischen, die übergänglich reinste und unverderblich geistigste der irdischen Sphäre, ist ihr

71

daß die letzten Endes bloß scheinbare Selbstverneinung des Geistes vor dem Leben die Quelle der Ironie ist. In diesem Sinne »ironisch« habe er eigentlich auch Nietzsches Denken rezipiert. 1 9 7 Bei Nietzsche erscheint der Künstler als ein höchst zweideutiges Wesen: manchmal wird er als Kulturschöpfer dem Heiligen gleichgestellt, manchmal ist er ein Schauspieler und Scharlatan. Beidem begegnen wir in seiner Einschätzung Wagners, der ihm zuletzt ein bloßer Effekthascher war, der nur scheinbar aus dem Urgrund des Lebens schöpft. Die Komplexität der K u n s t - und Künstlerproblematik — des Komplexes Kultur, K u n s t , Geist, Leben, Schein, Künstlichkeit, K r i t i k , Ironie — bei Nietzsche und Thomas Mann zeigt sich noch einmal darin, daß nach Thomas Manns Auffassung beide Aspekte, die Liebe und der Haß, die Vergöttlichung und die Entwürd i g u n g , in Nietzsches Einstellung zu Wagner immer da w a r e n . ' 9 8 W i e der hier in möglichster Kürze skizzierte, an sich sehr komplexe geistige Hintergrund vom Realismus und der Frühromantik bis zu Schopenhauer, Wagner und Nietzsche sich in Thomas Manns Werk zeigt, wäre zu klären eine enorme Aufgabe. Wir stellen uns hier eine viel beschränktere, vielleicht durchführbare Aufgabe, nämlich zu untersuchen, wie dieser geistig-künstlerische Hintergrund die Werkstruktur bzw. die Art der Sinnkonstituierung im Doktor Faustus bestimmt.

197

,yif

Wesen das eines mondhaft-zauberischen Mittlertums zwischen den beiden Regionen. Dies Mittlertum ist die Quelle ihrer Ironie.« Lebensabriß, XI, 1 1 0 ; Betrachtungen eines Unpolitischen, XII, 2;jf: »Nietzsche nämlich, der den Charakter der Epoche am schärfsten kritisch gekennzeichnet hat, bedeutete in gewissem Sinn eine solche Kulmination: Die Selbstverneinung des Geistes zugunsten des Lebens, des >starken< und namentlich >schönen< Lebens [...]. Es sind in geistig-dichterischer Hinsicht zwei brüderliche Möglichkeiten, die das Erlebnis Nietzsches zeitigt. Die eine ist jener Ruchlosigkeits- und Renaissance-Ästhetizismus, jener hysterische Macht-, Schönheits- und Lebenskult, worin eine gewisse Dichtung sich eine Weile gefiel. Die andere heißt Ironie, - und ich spreche damit von meinem Fall. In meinem Falle wurde das Erlebnis der Selbstverneinung des Geistes zugunsten des Lebens zur Ironie, — einer sittlichen Haltung, für die ich überhaupt keine andere Umschreibung und Bestimmung weiß als eben diese: daß sie die Selbstverneinung, der Selbstverrat des Geistes zugunsten des Lebens ist, — wobei unter dem >LebenFaustusFaust< — das will auch gesagt sein — hat mein Roman nichts gemein, außer der gemeinsamen Quelle, dem alten Volksbuch.« Dichter über ihre Dichtungen, S. 2 7 8 . Entstehung, X I , 1 5 7 . Entstehung, X I , S. 1 4 8 . Der Ausdruck k o m m t auch mehrfach in seinen Briefen vor. Siehe Kap. 2 A n m . 1 5 6 .

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Faust-Sage so deutlich, daß diese nicht übersehen werden kann; es muß also irgendwie um die Wiedererzählung der Faust-Sage gehen, den modernen Komponisten als Faust. Was bedeutet es aber, die Geschichte eines modernen Komponisten als Faust-Sage zu erzählen? Noch weitere Dimensionen des Romans treten unmittelbar hervor. Die erste Rezeption des Romans hob die — teilweise direkte, teilweise »allegorische« — Darstellung der Geschichte Deutschlands, des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges hervor. Es ist im Roman auch sehr viel von Musik und Musikgeschichte die Rede, und ein Leser, der Thomas Manns eigene Ansicht kennt, der Roman müsse selbst das werden, wovon er handele, »nämlich konstruktive M u s i k « , " ist geneigt, nach einer »musikalischen Struktur« im Roman zu suchen. Die Forschungsliteratur schlägt noch weitere Standpunkte vor, von denen aus der Roman gelesen werden kann: man soll ihn auch, wieder in Anlehnung an Thomas Manns eigene Worte, als eine »radikale Autobiographie« lesen können, 1 2 oder als einen religiösen R o m a n ; ' 3 nach einem anderen Vorschlag ist die Hagiographie das Vorbild für die Künstlerbiographie Adrian Leverkühns. 1 4 Kritik und Forschung bringen mehr Vermutungen hinsichtlich der Art vor, wie man den Roman als ein Ganzes verstehen sollte, als zu wünschen wäre. Die Pluralität auf nur eine Alternative zu reduzieren scheint schwierig, denn mehrere von den Vorschlägen scheinen sich gut belegen zu lassen. Glücklicherweise bleibt es aber nicht bei der Vielzahl der miteinander streitenden Meinungen, wie der Roman als ein Ganzes zu verstehen ist. Es steht in der Forschung seit längerer Zeit so gut wie fest, daß die Vielzahl zwar " 12

Entstehung, X I , 1 8 7 . Z . B . Entstehung, X I , 247: »Ein radikales Bekenntnis im Grunde.«; ebenso Tagebucheintragung vom 1 . 1 . 4 6 (Tagebücher 1 9 4 4 - 1 . 4 . 1 9 4 6 , hrsg. von Inge Jens. Frankfurt a. M. 1 9 8 6 , S. 295). Eckhard Heftrich: »Doktor Faustusc Die radikale Autobiographie, in: Beatrix Bludau, E. Heftrich und Helmut Koopmann (Hrsg.): Thomas Mann 1 8 7 5 — 1 9 7 5 . Vorträge in München - Zürich — Lübeck. Frankfurt a. M. 1 9 7 7 ; ders.: Vom Verfall zur Apokalypse. Über Thomas Mann, B d . II. Frankfurt a. M. 1 9 8 2 (das letzte Kapitel heißt »Radikale Autobiographie und Allegorie der Epoche: Doktor Faustus«); ders.: Apokalypse und Apocalipsis bei Thomas Mann, in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch, NF., Bd. 29, 1 9 8 8 , S. 2 7 4 .

"

Eberhard Scheiffele: Das Theologische, Mythologische, Religiöse als strukturbestimmendes Moment im Doktor Faustus, in: Doitsu B u n g a k u Kenkyu. Universität Kyoto, H . 30, 1 9 8 5 , S. 5 5 - 5 7 ; vgl. auch Lehnert: Thomas Mann. Fiktion, M y thos, Religion. Stuttgart - Berlin - Köln - Mainz 1 9 6 5 .

14

Hubert Oriowski: Prädestination des Dämonischen. Zur Frage des bürgerlichen Humanismus in Thomas Manns »Doktor Faustus«. Poznan 1 9 6 9 .

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nicht zu reduzieren ist, daß man aber gerade in dieser genuinen Pluralität das Strukturgesetz des Romans finden kann. Die Schwierigkeit der Romanform Thomas Manns läßt sich beseitigen, meint Heimut Koopmann, wenn man einsieht, daß seine Romane sich nicht einem Romantypus zuordnen lassen, »weil sich schon innerhalb eines Romans verschiedene Romantypen nebeneinander finden, die einander nicht ausschließen, sondern einander vielmehr durchdringen, ergänzen, erweitern.« 15 Nicht nur Doktor Faustus, sondern alle Romane Thomas Manns seien »immer mehrere in einem. Schon >Buddenbrooks< ist ein Gesellschaftsroman und ein Familienroman zugleich, der >Zauberberg< ein Zeitroman und ein eigenwillig neugefaßter Bildungsroman; die Josephsromane sind mythisches Romanwerk und biographischer Roman, >Doktor Faustus< ebenfalls Biographie und Künstlerroman, Zeitroman und Gesellschaftsroman und dabei in gewisser Weise auch noch eine im Thomas Mannschen Sinne mythologische Erzählung.«' 6 Ähnlich denkt Hermann Kurzke, für den »vier große, vielfältig miteinander verwobene Strukturschichten« den Text des Doktor Faustus konstituieren: »die des Künstlerromans, die des Faustromans, die des Gesellschaftsromans und die des Deutschlandromans«. 17 Die Idee der mehrfachen Strukturierung des Doktor Faustus — wieviele Strukturschichten es nun auch gibt und welche sie sind — hilft der Interpretation des Romans wesentlich. Sie gibt den Blick frei auf eine kompliziertere Strukturierungsart, als es unsere normalen Klassizifierungen des Romans erlauben — Klassifizierungen, denen auch Thomas Mann selbst noch anhängt, wenn er dem »westeuropäischen« Typus des Gesellschaftsromans den »deutschen« Bildungsroman gegenüberstellt. 1 8 Doktor Faustus zeigt, daß solche Klassifizierungen einander nicht ausschließen, sondern daß ein Roman verschiedene Strukturierungsarten oder -schichten gleichzeitig und durchgehend enthalten kann. Die vervielfachte Romanstruktur, die Idee von der Gleichzeitigkeit verschiedener Strukturierungsschichten, die man als den heutigen Stand der

15

16 17

18

Helmut Koopmann: Theorie und Praxis der epischen Ironie, in: Koopmann (Hrsg.): Thomas Mann. Darmstadt 1 9 7 5 , S. 357. Ebd. Kurzke: Dichtung und Politik im Werk Thomas Manns von 1 9 1 4 — 1955, in: Literatur in Wissenschaft und Unterricht, Bd. 16, 1983, S. 235. Die Darstellung des Doktor Faustus in Kurzkes Monographie folgt derselben Vierteilung (Thomas Mann. Epoche -Werk - Wirkung. München 1 9 9 1 , S. 276 — 280). [Der autobiographische Roman], XI, 7 0 i f .

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Forschung zur Struktur des Doktor Faustus bezeichnen kann, läßt aber mehrere Fragen unbeantwortet. Es bleibt zunächst die Frage nach dem Verhältnis der verschiedenen Strukturierungsarten zueinander und zu dem Ganzen des Romans. Wenn man nach der Struktur eines Werkes fragt, fragt man nach seiner Konstituierung als einem sinnvollen Ganzen. >Gesellschaftsroman< und ähnliche Begriffe geben gerade Hinweise darauf, wie man alle Einzelheiten des Erzählten auf einen Sammelpunkt hin lesen soll, damit das Ganze sinnvoll erscheint. Wenn die Struktur aber eine vielfache ist, bringt dies Probleme für das Verständnis des Ganzen mit sich. Wie kann ein Roman zugleich vielfach gegliedert werden, wenn die Gliederung das Material als Ganzes zeigt? Kann ein Roman mehrere sinnvolle Ganzheiten bilden? Eben das scheinen die Meinungen Koopmanns und Kurzkes zu implizieren: dasselbe Material läßt sich nicht einmal, sondern mehrfach als ein sinnvolles Ganzes gliedern. Die gleichzeitige Gliederung desselben Materials in verschiedene ganzheitliche Sinnstrukturen bringt unvermeidlich, wie Kurzke einsieht, eine »Polyphonie« der verschiedenen Strukturierungsarten sich:'

9

mit

eine Einzelheit evoziert gleichzeitig mehrere ganzheitliche sinntra-

gende Strukturen. Die Radikalität der Idee der Polyphonie in bezug auf die Idee des Werkganzen hat man meines Erachtens nicht bemerkt. Denn die Polyphonie besagt, daß die Strukturierungsschichten unabhängig voneinander sind und nur im »gleichzeitigen Klang« — denn das bedeutet die Polyphonie ja -

19

Koopmann, ebd. Jürgen J u n g geht noch viel weiter in der Aufzählung der alternativen Strukturen: » [ . . . ] ob es sich beim Doktor Faustus nun um einen politischen, sozialkritischen, kulturhistorischen, psychologischen, klinisch-psychiatrischen, medizinischen, mythischen, symbolischen, musiktheoretischen, intellektualen, Gesellschafts-, Zeit-, Epochen-, Bildungs-, Erziehungs-, Initiations- oder Entwicklungsroman, um einen Essay, eine philosophische, soziologische oder ästhetische Untersuchung handelt [ . . . ] « (Jung: Altes und Neues zu Thomas Manns Roman Doktor Faustus. Quellen und Modelle. Mythos, Psychologie, Musik, Theo-Dämonologie, Faschismus. Frankfurt a . M . , Bern, N e w York 1 9 8 5 , S. 394 — 5.) Diese Aufzählung zeigt, wie leicht die eigentliche Problematik der Romanform hinter dem Interesse an der vielfachen Facettierung verschwindet. Für J u n g ist die Bestimmung der verschiedenen »Romantypen« nur noch eine Frage des Inhalts und nicht der Romanform. Dies kann man daraus ersehen, daß er sich mit der Lösung begnügt, daß »Thomas Manns Produktionen, insbesondere sein Alters- und Endwerk [ . . . ] alle Kategorien vereinigen und >[...] sich nicht mehr einem bestimmten Romantypus zuordnen [lassen],< « (S. 395.) Das Zitat ist von Koopmann, aber man bemerkt, daß hier auch Koopmanns Idee von deutlich unterscheidbaren Strukturen und ihrer »Polyphonie « verlorengegangen ist und an ihre Stelle eine allgemeine Verschmelzung der Kategorien getreten ist.

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z u s a m m e n k o m m e n . D a s heißt, d a s W e r k erscheint als eine P l u r a l i t ä t voneinander u n a b h ä n g i g e r sinnkonstituierender Strukturen. Ist d i e » P o l y p h o n i e « die letzte A n t w o r t a u f die F r a g e nach der S t r u k t u r i e r u n g des W e r k g a n zen i m Doktor Faustus,

dann e r g i b t sich d a r a u s , daß der h e r k ö m m l i c h e B e -

g r i f f des Werkes a u f g e h o b e n wird. D a s E r g e b n i s ist radikal g e n u g ; es wird ja i m a l l g e m e i n e n v e r m u t e t , d a ß T h o m a s M a n n i m m e r an der Idee des W e r k g a n z e n , ja d e r » o r g a n i s c h e n « F o r m festgehalten hat. M a n m u ß sich d e s w e g e n fragen, o b der Verzicht a u f das K u n s t w e r k i m S i n n e eines sinnvollen, g e f o r m t e n G a n z e n im R a h m e n der Ä s t h e t i k T h o m a s M a n n s m ö g l i c h ist. S t a t t d i e » P o l y p h o n i e « als eine A n t w o r t a u f die F r a g e nach der S t r u k t u rierung des R o m a n g a n z e n anzusehen, sollte m a n in ihr eine radikale H y p o these über das N e b e n e i n a n d e r der verschiedenen S t r u k t u r i e r u n g s s c h i c h t e n sehen, der die alternative H y p o t h e s e zur Seite gestellt werden m u ß , daß sich i m R o m a n eine Logik

finden

läßt, d i e zwischen den verschiedenen

s i n n k o n s t i t u i e r e n d e n Strukturen ein andersartiges, » n o t w e n d i g e r e s «

Ver-

hältnis a u f z e i g t als d a s des » g l e i c h z e i t i g e n K l a n g e s « . E s wäre ja d e n k b a r , d a ß der A u t o r von einer R o m a n k o n z e p t i o n a u s g e h t , in der d i e verschiedenen S i n n s t r u k t u r e n z u s a m m e n ein höheres G a n z e s bilden. W e l c h e der beiden H y p o t h e s e n richtig ist, k a n n nur d u r c h die g e n a u e A n a l y s e des R o m a n s , im Z u s a m m e n h a n g m i t T h o m a s M a n n s a l l g e m e i n e m K u n s t d e n k e n , entschieden werden. U n a b h ä n g i g d a v o n , wie d i e A n t w o r t lauten wird, ist d i e vielfache S t r u k t u r i e r u n g nach traditionellen R o m a n t y p e n in einer g e w i s s e n W e i s e radikal. D e n n das g l e i c h z e i t i g e Organisieren des W e r k e s als K ü n s t l e r r o m a n , G e s e ü s c h a f t s r o m a n , m y t h i s c h e r R o m a n usw. z e i g t , daß keine dieser F o r m e n d i e e i n z i g e Art ist, d a s Material als ein natürliches G a n z e s zu organisieren. D i e Pluralität, d i e G l e i c h z e i t i g k e i t mehrerer S t r u k t u r i e r u n g s a r t e n h e b t die N a t ü r l i c h k e i t u n d Selbstverständlichkeit jeder einzelnen auf. A l l e erscheinen bloß als eine W a h l unter mehreren zur V e r f ü g u n g stehenden alternativen F o r m e n . D i e » P o l y p h o n i e « (die mehrfache S t r u k t u r i e r u n g , auch wenn d i e Pluralität nicht d i e ganze Wahrheit der S t r u k t u r des Doktor

Faustus

wäre) hebt s o m i t den künstlichen C h a r a k t e r der h e r k ö m m l i c h e n S t r u k t u r i e rungsarten des R o m a n s hervor. E s ist nicht schwer, eine » Q u e l l e « für T h o m a s M a n n s E n t l a r v u n g des G a n z e n als etwas N i c h t - N a t ü r l i c h e s , N i c h t - V o r g e g e b e n e s , K o n s t r u i e r t e s zu nennen. D a s ist selbstverständlich N i e t z s c h e , seine W a g n e r - K r i t i k und sein Verständnis des » G a n z e n « als eine K o n s t r u k t i o n des betrachtenden

78

Sub-

jekts. 2 0 Ein wohlgeordnetes Ganzes entsteht erst durch die schöpferische Kraft des Menschen, ebenso wie die Welt, so wie wir sie kennen, eine Schöpfung des Menschen ist. J 1 Es gibt keine einzige, richtige Weltkonstruktion, und auch keine richtige Art und Weise, die fiktive Welt des Romans als ein Ganzes zu bauen. Die Vielfalt sinnkonstituierender Strukturen in Doktor Faustus läßt sich dadurch erklären. Sie sind Konstruktionen desselben Materials zu einem Ganzen aus verschiedenen Perspektiven. Man könnte hier von einer Transformation des Perspektivismus Nietzsches in die Konstruktion des Romans sprechen. Allerdings bezieht sich hier die >Perspektive< nicht auf die Denkart des Individuums; auch wird hier nicht soviel der lebensphilosophische Grund des perspektivischen Konstruierens im Sinne Nietzsches hervorgehoben als vielmehr die kulturelle, traditionelle Bedingtheit desselben: die verschiedenen »Schichten« des Romans folgen verschiedenen, in der Tradition vermittelten Strukturierungsarten, wie z . B . der des (romantischen) Künstlerromans oder einer mythischen Geschichte. Die innere Logik der Sinnkonstituierung kann in den verschiedenen sinnkonstituierenden Schichten verschieden sein. Das Problem tritt nicht in Erscheinung, wenn man bloß von den verschiedenen Romantypen spricht, die alle im Doktor Faustus enthalten sein sollen. Spricht man von einem Roman als Gesellschaftsroman oder Künstlerroman, dann scheint der Typus des Romans vom Gegenstand der Erzählung bestimmt zu sein. Wie die innere Struktur bzw. die innere Logik des Gegenstandes die Struktur des Romans bestimmt, wird nicht problematisiert. Daß die Erörterung der Inhalte allein — etwa des biographischen Inhalts oder der dargestellten Gesellschaft - aber nicht ausreicht, um die Art der Sinnkonstituierung in einem Roman (oder also in einer Strukturierungsschicht des Doktor Faustus) zu bestimmen, sieht man vielleicht am deutlichsten am Beispiel der oft erwähnten »musikalischen Struktur« (obwohl diese in Koopmanns oder Kurzkes Liste der verschiedenen Strukturierungsschichten nicht enthalten ist). Die »musikalische Struktur« kann sich nicht einmal oberflächlich gesehen auf einen »Gegenstand« wie etwa der Gesellschaftsroman beziehen: sie besagt nicht, daß es um einen »Musikroman« bzw. »Musikerroman« geht. Es stellt sich die Frage, welcher Logik die »musikalische Strukturierung« folgt — und auch, welcher inneren Logik die anderen Strukturierungsarten folgen. ao 21

V g l . Kap. II A n m . 1 0 3 . Die fröhliche Wissenschaft, Werke, II, S. 1 7 7 : »Wir erst haben die Welt, die den Menschen etwas angeht, geschaffen!«

79

E i n weiteres P r o b l e m ist d i e » M o n t a g e - T e c h n i k « i m Doktor Faustus.

Der

T e r m i n u s k o m m t w i e d e r von T h o m a s M a n n selbst, d e r v o n der i h m » d a u ernd bestürzenden R ü c k s i c h t s l o s i g k e i t i m A u f m o n t i e r e n v o n f a k t i s c h e n , historischen, p e r s ö n l i c h e n , ja literarischen G e g e b e n h e i t e n « in d i e s e m seinem R o m a n r e d e t . 2 2 W i r wissen ja schon z i e m l i c h g e n a u , aus w e l c h e n Q u e l l e n T h o m a s M a n n in d i e s e m » M o n t a g e - W e r k « » z i t i e r t « hat u n d a u c h , w i e er b e i m » E i n m o n t i e r e n « verfahren i s t ; 2 3 a b e r w i e v e r h ä l t sich diese T e c h n i k zu den verschiedenen S t r u k t u r i e r u n g s s c h i c h t e n u n d d e m G a n z e n des R o m a n s ? W a s t r ä g t das M i t e i n b e z i e h e n der i n t e r t e x t u e l l e n Z u s a m m e n h ä n g e

-

w o r u m es ja in d e r » M o n t a g e - T e c h n i k « g e h t — zur S i n n k o n s t i t u i e r u n g i m Doktor Faustus

bei?

In unserer U n t e r s u c h u n g d e r S i n n k o n s t i t u i e r u n g i m Doktor Faustus

ge-

hen w i r v o n d e r A u f f a s s u n g aus, d e r R o m a n sei ein m e h r s c h i c h t i g e s

Ge-

b i l d e , oder v i e l m e h r , das Erzählte darin k a n n aus v e r s c h i e d e n e n D e u t u n g s p e r s p e k t i v e n m e h r f a c h als ein sinnvolles G a n z e s g e s t a l t e t w e r d e n . E s b l e i b t zu b e s t i m m e n , w e l c h e s die s i n n k o n s t i t u i e r e n d e n S c h i c h t e n oder D e u t u n g s p e r p e k t i v e n , oder d i e w i c h t i g s t e n v o n ihnen, s i n d ; es brauchen n i c h t u n b e d i n g t » R o m a n t y p e n « zu sein, w i e in K u r z k e s u n d K o o p m a n n s V o r s t e l l u n g . E s m u ß ebenso g e f r a g t w e r d e n , welcher A r t d i e S i n n k o n s t i t u i e r u n g in jeder d i e s e r S c h i c h t e n ist. K u r z k e und K o o p m a n n scheinen, w e n n sie d i e » R o mantypen«

vom

Gegenstand

her b e s t i m m e n , an eine t r a d i t i o n e l l e

Ge-

schichte u n d realistische D a r s t e l l u n g des G e g e n s t a n d e s zu d e n k e n (wie oder ob ü b e r h a u p t d i e L o g i k einer » m y t h o l o g i s c h e n E r z ä h l u n g «

(Koopmann)

e t w a davon a b w e i c h t , w i r d nicht thematisiert). In W a h r h e i t ist Doktor stus aber, w i e w i r sehen w e r d e n , eine V i e l f a l t v o n verschiedenen

Fau-

sinnkonstituie-

renden S t r u k t u r e n . D i e Vielheit ist n i c h t e i n f ö r m i g , sondern v i e l f ö r m i g . Z u l e t z t g i l t es a b e r auch noch zu f r a g e n , o b es bei der P l u r a l i t ä t v e r s c h i e d e ner D e u t u n g s p e r s p e k t i v e n

bzw. sinnkonstituierender Schichten bleibt

-

w i e sich m a n a u f g r u n d der A n a l o g i e zu N i e t z s c h e s p e r s p e k t i v i s c h e m Sehen d e n k e n k ö n n t e —, o d e r ob es v i e l l e i c h t d o c h einen G r u n d oder eine L o g i k d a f ü r g i b t , w i e d i e verschiedenen s i n n k o n s t i t u i e r e n d e n Schichten m i t e i n a n der verbunden sind. D i e E i n s i c h t , d a ß das sinnvolle G a n z e d e r W e l t , eines Lebens o d e r einer G e s c h i c h t e eine m e n s c h l i c h e K o n s t r u k t i o n ist, ist einer d e r H a u p t p u n k t e d e r M o d e r n i t ä t N i e t z s c h e s ; sie ist eine F o l g e d a v o n , daß G o t t t o t ist u n d

"

Entstehung, X I , 1 6 5 . Siehe z . B . Bergsten, ebd., und L. Voß, ebd.

80

mit ihm jede transzendente Begründung der Erkenntnis, der Moral usw. Es ist also kein Wunder, daß Thomas Mann nicht nur dieser Einsicht im Aufbau seines Nietzsche-Romans folgt, sondern daß die Sinnkonstituierung auch als Thema im Roman aufgenommen wird. Das Thema >Sinnkonstituierung< ist ein selbstreflexives Thema, das sich auf die Konstitution des Werkes selbst bezieht, aber darüber hinaus ist es ein zentrales Thema im Inhalt, in dem komplizierten Themengewebe des Romans. Es ist kennzeichnend für diesen komplexen Roman, daß das Inhaltliche einen Widerpart in der formalen Werkkonstitution hat und, aus der anderen Richtung gesehen, daß die formellen Probleme der Werkkonstitution auf der thematischen Ebene des Romans besprochen werden. Der Leser wird auf die Problematik der Sinnkonstituierung gleich am Anfang dadurch aufmerksam gemacht, daß der Titel des Romans ihm eine Verdoppelung der Romanstruktur deutlich macht. Dem Haupttitel »Doktor Faustus« folgt ein Untertitel, der in einen anderen Zusammenhang und auf eine andere Stilebene gehört: »Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde«. Während sich der Untertitel auf die von Zeitblom erzählte Biographie seines Freundes bezieht, ist der Haupttitel im Verhältnis dazu metaphorisch. Es stellt sich also gleich im Titel des Romans die Frage, wie sich der Leser zum Erzählten verhalten soll: ob er es als die Biographie eines deutschen Komponisten lesen soll — wohl eine ziemlich altertümliche: das Wort »Tonsetzer« weckt diese Stilerwartung — oder aber ob er es auf einer anderen, indirekteren Ebene lesen und mit der alten Faust-Sage verknüpfen soll. 2 4 Es ist eine Frage der Sinnkonstituierung: aus welcher Deutungsperspektive, der realistischen oder der sagenhaft-mythischen, bildet das Nachfolgende einen ganzheitlichen Sinn, oder macht es das vielleicht aus zwei Perspektiven zugleich? Die Sinnkonstituierung wird auch im eigentlichen Text als Thema aufgenommen und reflektiert. Das findet nicht nur einmal oder in einer einzigen Art und Weise statt, sondern es geschieht vielfach und in vielen verJ4

Gérard Genette nennt Titel Paratexte, also Texte, die zu dem eigentlichen Text des Werkes, der sich auf die fiktive Welt bezieht, noch nicht gehören, sondern ihre Funktion hauptsächlich darin haben, dass sie den Erwartungen des Lesers eine Richtung geben. (Genette: Palimpsestes. La littérature au second degré. Paris 1 9 8 2 , S. 9 - 10.) Der Titel im Doktor Faustus ist m.E. ein besonders interessanter Fall; denn während der Haupttitel deutlich ein »Romantitel« ist, scheint der Untertitel schon, wenn nicht gerade eine Formulierung Zeitbloms für den Titel seines Werkes, so doch wenigstens sehr stark zu seiner Denkart und Stilebene gehörig zu sein.

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schiedenen Formen und Zusammenhängen. Das Thema wird an einer prägnanten Stelle des Romans eingeführt, und zwar gleich nach den beiden einleitenden Anfangskapiteln. Im ersten Kapitel des Romans berichtet der Erzähler Serenus Zeitblom allgemein und einleitend — und recht verworren - von seinem Vorhaben, die Biographie seines Freundes, des genialen Komponisten Adrian Leverkühn, zu schreiben, dessen Person und Schicksal schon hier in nuce angedeutet wird; zugleich wird Zeitbloms Verhältnis zu ihm, so wie auch der Zeitpunkt der Niederschrift, der Zweite Weltkrieg, angeschnitten. Im zweiten Kapitel stellt Zeitblom sich selbst den Lesern vor. Im dritten Kapitel ist von Adrians Vater, Jonathan Leverkühn, die Rede. Hier fängt also das Erzählen der Biographie eigentlich an. Wovon dem Leser aber jetzt ausführlich berichtet wird, sind nicht Bräuche und Arbeiten in einem Bauernhaushalt oder die Eigenschaften Jonathan Leverkühns als Familienvater, sondern sein »Hobby«, sein Hang, »die elementa zu spekulieren«. Im langen dritten Kapitel wird das Mittel der szenischen Darstellung zum ersten Mal benutzt, und die ersten Szenen des Romans betreffen das besondere »Hobby« Vater Leverkühns; der junge Adrian und sein Freund Serenus sind dabei als Zuschauer beteiligt. Der Biograph sagt dem Leser nicht, welche Bedeutung er diesen Beschäftigungen des Vaters beimißt. Der Autor des Faustus-Romans kann allerdings erwarten, daß der Leser in dem Ausdruck ein Zitat aus dem alten Faust-Buch erkennt, dessen Held ebenso die »Elementa speculierte«/ 5 Die erste Szene bringt somit gleich die Faust-Thematik zum Vorschein, und zwar als etwas, was nicht nur Adrian Leverkühn betrifft, sondern als »Erbe« in seiner Familie gilt. Das wird aber von Zeitblom nicht direkt gesagt und reflektiert; vielmehr, wie in bezug auf die meisten in szenischer Form wiedergegebenen Stellen der Biographie, enthält sich der Erzähler überhaupt jeder Interpretation des Erzählten, obwohl die szenische Darstellung doch vermuten läßt, das Erzählte müsse besonders wichtig sein. Die Szene an sich und ihre Zusammenhänge mit dem übrigen Gehalt des Romans, die der Leser natürlich erst hinterher oder beim wiederholten Lesen erkennen kann, führen ihn aber auf die Spur mehrerer Themen, die mit den Beschäftigungen des Vaters verknüpft sind. Eine von ihnen, eine besonders wichtige, ist das Thema der Sinnkonstituierung.

25

Historia von D . J o h a n n Fausten, dem weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler. Stuttgart 1980, S. 1 5 .

82

Es geht in diesen Szenen, in denen Vater Leverkühn Experimente m i t Kristallen oder Flüßigkeiten macht oder aufgrund der Bücher über die »Wunder der N a t u r « grübelt, d a r u m , wie einige Phänomene der leblosen N a t u r die lebendige »nachahmen« können, oder wie einige einfache Lebewesen den Eindruck der Absichtlichkeit und des sinnvollen Tuns erwecken. Jonathan Leverkühn wundert sich über die fabelhaften Formen einiger Kristalle, z.B. der Schneeflocken, die den Formen der Pflanzenwelt nahekommen. Was ist hier N a c h a h m u n g , was das Nachgeahmte? Der »fressende Tropfen« — ein Tropfen Chloroform, der den Schellack um ein kleines Stäbchen in sich a u f n i m m t und das bloßgeleckte Stäbchen »ausspuckt« — erweckt sein Erstaunen durch die Ähnlichkeit mit sich ernährenden Tieren. Er wundert sich auch über die »Schrift« auf den Schalen von Muscheln und Schnecken und macht sogar den Versuch, sie durch den Vergleich m i t altertümlichen Schriftarten, etwa der altaramäischen, zu entziffern. Auf das besonders Altertümliche der Beschäftigungen Vater Leverkühns mit den Naturphänomenen wird schon hingewiesen, wenn Zeitblom sie dem Leser als »elementa spekulieren« vorstellt. Die Naturphänomene, die Jonathan Leverkühn beschäftigen, sind in erster Linie »spukhafte« Erscheinungen, in denen ein denkender Kopf einen geheimen, aber unverständlichen Zusammenhang mit anderen, höheren Wesen der N a t u r ahnen kann. Es versteht sich, daß solche Grübeleien und Ahnungen nicht zur Denkweise der modernen Naturwissenschaft gehören, sondern auf ein älteres Paradigma, etwa die Naturwissenschaften des Spätmittelalters oder der Renaissance, verweisen. Der moderne Mensch weiß, daß die N a t u r p h ä n o m e n e nichts »bedeuten«. Deswegen müssen die J u n g e n sich von der Denkart Vater Leverkühns distanzieren. Adrian wird beim Ansehen der Experimente des Vaters von unterdrücktem Lachen geschüttelt. Zeitblom weiß nicht, ob er über die spukhaften Erscheinungen lachen oder weinen soll, gerade weil er erkennt, daß es keinen Z u s a m m e n h a n g , keine Bedeutungen in ihnen gibt, wie Vater Leverkühn sie ausfindig zu machen versucht. Zeitblom hatte schon als Knabe begriffen, »daß die außerhumane N a t u r von G r u n d aus illiterat ist, was in meinen Augen eben gerade ihre Unheimlichkeit ausmacht.« (S. 28)26 Das große Thema der Gegensätzlichkeit von N a t u r und menschlicher Kultur tritt hier im Z u s a m m e n h a n g m i t den »Spekulationen« Vater Lever26

Die Seitenzahlen beziehen sich auf den sechsten Band der Gesammelten Werke (Doktor Faustus. Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn erzählt von einem Freunde. Frankfurt a. M. 1990).

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kühns auf. Der Sinn gehört allein zur menschlichen Kultur, der gegenüber die Natur sinnlos ist. Diese Einsicht Nietzsches, die den Zustand des modernen Menschen definiert, gilt auch für Thomas Mann und ist im Roman Doktor Faustus grundlegend. Zeitblom nennt die Natur »illiterat«; und später sehen wir, daß er geneigt ist, gerade in der Literatur, für ihn in der Bedeutung der Humaniora überhaupt, eine kulturbildende Macht zu sehen, die den irrationalen Lebensgrund bändigt. Die Thematik - schon in der unmittelbar dem Doktor Faustus vorausgehenden Novelle Das Gesetz zentral 2 7 — ist also völlig von Nietzsche bestimmt. Ein halb verstecktes »Zitat« aus Nietzsches Werken zeigt, daß Thomas Mann dem Leser beibringen will, die Problematik des Verhältnisses zwischen dem sinngebenden Menschen und der sinnlosen Natur im Zusammenhang Nietzsches zu sehen. Ein Experiment Vater Leverkühns, das er dann und wann wiederholt, ist die sichtbare Musik der »chladnischen Klangfiguren«: durch Streichen eines Cellobogens am Rande bringt man den Sand auf einer Glasplatte zur Bewegung, so daß »erstaunlich präzise und mannigfache Figuren und Arabesken« entstehen (S. 28). Es bleibt hier beim Erstaunen der Jungen ob dieser »Gesichtsakustik«. Nietzsche aber benutzt die chladnischen Klangfiguren in der Schrift »Uber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn« als eine Metapher, durch die er das Verhältnis der Sprache zu der außermenschlichen Welt, der Natur, auf die sich diese bezieht, verdeutlicht: Man kann sich einen Menschen denken, der ganz taub ist und nie eine Empfindung des Tones und der Musik gehabt hat: wie dieser etwa die chladnischen Klangfiguren im Sande anstaunt, ihre Ursachen im Erzittern der Saite findet und nun darauf schwören wird, jetzt müsse er wissen, was die Menschen den »Ton« nennen, so geht es uns allen mit der Sprache. W i r glauben etwas von den Dingen selbst zu wissen, wenn wir von Bäumen, Farben, Schnee und Blumen reden, und besitzen doch nichts als Metaphern der Dinge, die den ursprünglichen Wesenheiten ganz und gar nicht entsprechen. 28

Hier ist von der unüberbrückbaren K l u f t die Rede, die es zwischen der menschlichen Welt der Sprache und der unmenschlichen Natur gibt: die Dinge der Natur haben nur ein ganz schwaches, metaphorisches Verhältnis zu den Worten, womit wir sie zu bezeichnen beabsichtigen. Die menschliche Welt ist von einer ganz anderen Art als die der sinnlosen Natur. 11

jH

Entstehung, X I , 1 5 4 : »[..•] hatte ich den Titel >Das Gesetz« gegeben, womit nicht sowohl der Dekalog, als das Sittengesetz überhaupt, die menschliche Z i v i l i sation selbst bezeichnet sein sollte.« Werke, III, S. 3 1 2 t

84

Die kulturelle Sinngebung wird im dritten Kapitel des Doktor Faustus nicht nur als ein Thema aufgenommen, sondern auch an Beispielen dargestellt, die zugleich die Art der Sinnkonstituierung im Roman Doktor Faustus beleuchten. Die individuelle und die kulturelle Sinngebung erscheinen an dieser frühen Stelle schon als sehr kompliziert. Wir müssen wegen der Komplexität der Sache ziemlich extensiv zitieren: Gewiß, der Anblick dieser Geschöpfe, der Schnecken und Muscheln des Meeres also, war ebenfalls hochbedeutend, wenigstens wenn man unter Jonathans Führung durch ihre Abbildungen ging. Daß alle diese mit herrlicher Sicherheit und so kühnem wie delikatem Formgeschmack ausgeführten Gewinde und Gewölbe mit ihren rosigen Eingängen und der irisierenden Fayancepracht ihrer vielgestaltigen Wandungen das Eigenwerk ihrer gallerthaften Bewohner waren — wenigstens wenn man an der Vorstellung festhielt, daß die N a t u r sich selber macht, und nicht den Schöpfer heranzog, den als phantasievollen Kunstgewerbler und ehrgeizigen Künstler der Glasurtöpferei zu imaginieren denn doch sein Seltsames hat, so daß nirgends die Versuchung näher liegt als hier, einen werkmeisterlichen Zwischengott, den Demiurgos, einzuschalten, — ich wollte sagen: daß diese köstlichen Gehäuse das Produkt der Weichwesen selbst waren, die sie beschützten, das war dabei der erstaunlichste Gedanke. »Ihr«, sagte Jonathan zu uns, »habt, wie ihr leicht feststellen könnt, wenn ihr eure Ellbogen, eure Rippen befühlt, als ihr wurdet, in euerm Inneren ein festes Gestell, ein Skelett ausgebildet, das eurem Fleisch, eueren Muskeln Halt gewährt, und das ihr in euch herumtragt, wenn es nicht besser ist, zu sagen: es trägt euch herum. Hier nun ist es umgekehrt. Diese Geschöpfe haben ihre Festigkeit nach außen geschlagen, nicht als Gerüst, sondern als Haus, und eben daß sie ein Außen ist, und kein Innen, m u ß der Grund ihrer Schönheit sein.« Wir Knaben, Adrian und ich, sahen uns wohl mit halbem und verdutztem Lächeln an bei solchen Bemerkungen des Vaters wie dieser über die Eitelkeit des Sichtbaren. Zuweilen war sie tückisch, diese Außenästhetik; denn gewisse Kegelschnekken, reizend asymmetrische, in ein geädertes Blaßrosa oder weißgeflecktes Honigbrau getauchte Erscheinungen, waren wegen ihres Giftbisses berüchtigt -

und

überhaupt war, wenn man den Herrn des Buchelhofes hörte, eine gewisse Anrüchigkeit oder phantastische Zweideutigkeit von dieser ganzen wunderlichen Sektion des Lebens nicht fernzuhalten. Eine sonderbare Ambivalenz der Anschauung hatte sich immer in dem sehr verschiedenartigen Gebrauche kundgegeben, den man von den Prunkgeschöpfen machte. Sie hatten im Mittelalter zum stehenden Inventar der Hexenküchen und Alchimisten-Gewölbe gehört und waren als die passenden Gefässe für Gifte und Liebesgetränke befunden worden. Andererseits und zugleich aber hatten sie beim Gottesdienst zu Muschelschreinen für Hostien und Reliquien und sogar als Abendmahlskelche gedient. Wie vieles berührt sich hier - Gift und Schönheit, Gift und Zauberei, aber auch Zauberei und Liturgie. Wenn wir es nicht dachten, so gaben Jonathan Leverkühns Kommentare es uns doch unbestimmt zu empfinden. (S.

85

Zeitblom gibt hier keinen wissenschaftlichen Bericht über die Eigenschaften der Muscheln, sondern schildert ihr Aussehen, Vater Leverkühns Nachsinnen darüber und Kulturgeschichtliches über ihren Gebrauch und die Konnotationen, die ihnen gegeben worden sind. 2 9 Die Erinnerung an Alchimisten und Hexenküchen verbindet Vater Leverkühns Beschäftigungen wieder mit dem Faustischen. Wichtiger noch ist aber der Charakter der kulturellen Verwendungen und Interpretationen überhaupt, die mit den Muscheln und Schnecken zusammenhängen. Nicht nur, daß sie zueinander in tiefstem Widerspruch stehen. Der ganze kulturelle

Sinngebungsprozeß

scheint an diesem Beispiel bedenklich, denn ob Kultur unbedingt Vermenschlichung, Vergeistigung bedeutet, scheint aufgrund des Dargestellten zweifelhaft. Die tiefen, vorrationalen Schichten unserer Kultur werden hier bloßgelegt. Es liegt der Gedanke nahe, daß Kultur und Barbarei nicht unbedingt Gegensätze sind 30 - ein wichtiges Thema des Doktor Faustus. Die Widersprüche heben die Unzuverlässigkeit der individuellen und kulturellen Sinngebung hervor. Zeitblom spricht im Zusammenhang mit den Muschelschalen von der Zweideutigkeit der Naturphänomene. Es gibt keinen Verlaß auf die Interpretationen, weil der Sinn vom Menschen bestimmt ist, nicht vom Gegenstand selbst, und weil die jeweilige Interpretation vom Standpunkt des Interpretierenden abhängt, bzw. von dem Kontext, in dem er das Phänomen sieht. Zwei- oder Mehrdeutigkeit bezeichnet den Prozeß der Sinnkonstituierung überall im Roman. Wie die Sinnkonstituierung stattfindet, sehen wir eigentlich schon hier. In Jonathan Leverkühns und Zeitbloms Betrachtungen der Muscheln und Schnecken treten die Begriffe oft in Paaren verbunden auf. G i f t und Schönheit, G i f t und Zauberei, Zauberei und Liturgie sind solche Begriffspaare, die zugleich zusammen einen größeren Komplex bilden. Der Komplex zeigt, daß derselbe Begriff, wie hier G i f t oder Zauberei, in ganz verschiedenen, ja entgegengesetzten Zusammenhängen auftreten kann und dementsprechend einen verschiedenen Inhalt bekommt. Die Begriffe >Schönheit< und >Gift< traten schon früher in der Besprechung der Schmetterlinge zu2S>

io

Aus Gunilla Bergstens Untersuchung zu den Quellen von Doktor Faustus (S. 64) wissen wir, daß Thomas Mann dazu das Vorwort Paul A. Roberts' zum Buch Kunstgebilde des Meeres. Muscheln und Schneckengehäuse (Bern 1 9 3 6 ) verwendet hatte. Im Vorwort eines populärwissenschaftlichen Werkes ist das »humanistische« Interesse für alte Bräuche und Vorstellungen erhalten, das sonst aus naturwissenschaftlichen Werken getilgt ist. » K u l t u r ist offenbar nicht der Gegensatz von Barbarei, sie [ist] [ . . . ] vielmehr oft genug eine stylvolle Wildheit.« Notizen zu »Geist und K u n s t « , S. 2 1 5 .

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sammen auf, womit sie in weitere Beziehungen zu wichtigen Themen des Romans traten (Hetaera-Esmeralda-Thema). Es zeigt sich, daß das Kombinieren ein wichtiges, ja geradezu das Mittel der Sinnkonstituierung ist. W i r können dies am Beispiel von Gift und Schönheit verdeutlichen. Es könnte ja nur eine Tatsache sein, daß einige der schönen Schnecken (oder Schmetterlinge) giftig sind; aber durch das mehrfache Erwähnen der Schönheit und des Giftes zusammen entsteht zwischen ihnen eine Verbindung auf thematischer Ebene. Wie die Sinngebung durch das Verbinden geschieht, tritt hier deutlich hervor. Adrians Ausspruch »Beziehung ist alles« (S. 66) bezieht sich zwar auf die Musik, aber er drückt zugleich eine wichtige Maxime für den Sinnkonstituierungsprozeß aus. Durch das Verbinden verschiedener Dinge miteinander wird ein bedeutungsvolles, sinntragendes Verhältnis zwischen ihnen geschaffen. Es versteht sich zugleich, das es keinen Verlaß auf den durch Kombinieren erzielten Sinn gibt. Auch das wird schon am Beispiel Jonathan Leverkühns gezeigt. Der merkwürdige Gedanke, die Schönheit der Muscheln komme daher, daß sie ihr Gerüst außen tragen, überzeugt die Jungen nicht. Aber wenn Zeitblom auch skeptisch von Vater Leverkühns »Außenästhetik« redet, schiebt er sie nicht einfach beiseite, sondern hält sie für des Erzählens und des Uberlegens wert. Die Grenzen einer »vernünftigen« und »unvernünftigen« Sinngebung sind schwer oder überhaupt nicht zu ziehen. Zeitblom selbst phantasiert von einem »werkmeisterlichen Zwischengott«, den der Mensch sich eher als Schöpfer der schönen Muschelschalen vorstellen kann als das kleine Ding (»Weichwesen«) da drinnen. Der Prozeß der Sinngebung erscheint hier als durchaus unzuverlässig, ja ihm haftet etwas von der anrüchigen Zweideutigkeit des »Spekulierens« an — eine Mystifikation, die eher zur »altdeutschen« Atmosphäre des Romans gehört als zur Nietzsches Auffassung von der menschlichen Sinnkonstituierung. Die thematische Fülle an der zitierten Stelle und im dritten Kapitel überhaupt ist ein gutes Beispiel für die komplizierte Sinnkonstituierung im Doktor Faustus. Außer den Themen der individuellen und kulturellen Sinnkonstituierung und der damit zusammenhängenden »Kultur« und »Natur« erscheint hier das Thema des Faustischen (als Erbe bei den Leverkühns), das mit dem schon in der Beschreibung des Äußeren von Jonathan Leverkühn deutlich hervortretenden Themenkomplex >Altdeutsch< am innigsten verknüpft ist. Darüber hinaus »klingen« hier spezifischere einzelne Themen an, wie das Hetaera-Esmeralda-Thema; den Namen für die Dirne, von der sich Adrian die Syphilis holt, hat er ja von dem »nackten« Schmet87

terling im Buch seines Vaters. Mit diesem Thema sind die Motive der Täuschung, der Nacktheit, der Schönheit und des Giftes verbunden. Ein weiterer schon hier anklingender Themenkomplex ist der Gift-Teufel-ReligionKomplex, der natürlich mit den anderen zwei Themenkomplexen, dem Faustisch-Altdeutschen und der Schönheit als Trug, Schein, zusammenhängt. Es gehört zum Wesen dieses Romans, daß der Leser an jeder Stelle die Themen miteinander in ein ungemein kompliziertes, ja unübersichtliches Gewebe verknüpft findet. Wir können aufgrund des Gesagten schließen, daß die Art und Weise, wie Thomas Mann die individuelle und kulturelle Sinngebung im Doktor Faustus versteht, mit dem Denken Nietzsches übereinstimmt und mit seinen Begriffen >Kultur< und >Natur< zusammenhängt. Die Einsicht in die Stellung des Menschen als des allein nach dem Sinn fragenden Wesens in der Natur (zu der er ja auch gehört), und die Fragwürdigkeit seiner Sinngebungen ist aber auch gerade der Punkt, von dem aus die beiden Hauptgestalten Leverkühn und Zeitblom und ihr Antagonismus verstanden werden können. Zeitblom stellt sich im zweiten Kapitel den Lesern als Altphilologe und Humanist vor, der an der Idee der humanistischen Idee der Erziehung des Menschen festhält. Er gesteht allerdings ein, daß die Kultur ohne einen Einfluß der »unteren Gewalten«, ja »der befruchtenden Berührung« mit ihnen, kaum denkbar ist. Der Nietzschesche Inhalt dieser Idee wird ganz deutlich, wenn er erzählt, wie er während einer Bildungsreise auf der Akropolis von der Vorstellung des Zuges der »Mysten«, »den Namen Iacchus auf den Lippen«, also Dionysos-Anbeter, zu dieser Einsicht gekommen sei (S. 17). Zeitblom glaubt aber an die Erziehbarkeit des Menschen, an die Möglichkeit der Bändigung der »unteren Gewalten« durch die menschliche Kultur. Der Mensch ist imstande, eine Kultur und eine Lebenssphäre aufzubauen, in der sowohl die »Gottheiten der Tiefe«, der irrationale Lebensgrund, als auch die »oberen« Mächte der Vernunft, des Verstandes und der Menschenliebe berücksichtigt werden. Zeitblom ist ein Vertreter der Idee der »humanen Mitte«, die Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen mit der deutschen Kultur verbindet und die er in Joseph realisiert dargestellt hat; 3 ' genauer gesagt, der Studienrat Zeitblom ist natürlich ein ironisch gemeinter Vertreter dieser Idee. Sein Gegenspieler ist Leverkühn, der seinen Freund beschuldigt, ein

31

Z u r Entwicklung der »Philosophie der Mitte« siehe Koopmann: Der schwierige Deutsche, S. 80 — 92.

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»geozentrisches« Weltbild zu haben (S. 364). Für Zeitblom steht der Mensch immer noch im Mittelpunkt des Weltalls, um den herum das ganze Universum geordnet ist. Leverkühn erzählt von »seinen Fahrten« in die Tiefe des Meeres und in den Weltraum und was er dort »gesehen« habe. Der Kern dieser »Erfahrungen« ist, daß das Weltall, die »Wunder des Alls«, wie er seine diesbezügliche Komposition ironisch nennt, unmenschlich, Menschen-unmöglich, unheimlich ist. Leverkühns Erfahrung der Natur entspricht Thomas Manns Naturempfindung; er sehe »Mutter Natur« »in weitgehender Übereinstimmung mit Blake, der meinte: >Wer an die Natur glaubt, kann nicht an Gott glauben, denn die Natur ist des Teufels.< Recht wahr! Es ist alles in allem eine scheußliche Schweinerei damit, und gerade auch die Monstrosität des kosmischen Alls mit seinen Milliarden Lichtjahr-Maßen, zu denen man ebenso gut >Wenn schon!< wie >Hosianna!< sagen kann, erregt in mir nicht das geringste Ehrfurchtsgefühl. Ich reagiere, wie Gontscharow auf den hochgehenden Ozean, mit >Unfug! Unfug!Faustus< von meiner Lebenseinstimmung! Ein radikales Bekenntnis im Grunde. Das war das Aufwühlende, von A n beginn, an dem Buch.« (S. 2 4 7 . ) Typisch für die Forschungsliteratur ist etwa die Ansicht Ignace Feuerlichts: »Zeitblom ist ja Manns zweites, humanistisches Selbst« (Der Erzähler bei Thomas Mann. The German Quarterly 4 3 , 1 9 7 0 , S. 420).

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Entstehung, X I , 204. Herbert Lehnert: Der Narziß und die Welt. Z u m biographischen Hintergrund des Doktor Faustus von Thomas Mann, in: Orbis Litterarum 44, 1 9 8 9 , S. 240.

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sich also in Zeitbloms anbetender Liebe zu Leverkühn um eine Selbstliebe des Autors. Wie bei so manchen Stellen im Doktor Faustus, kann man für dasselbe Phänomen aber mehrere »Erklärungen« bzw. bedeutende Zusammenhänge nachweisen. Denn in Zeitbloms schmerzhafter, verehrender Liebe kann man bestimmt auch Thomas Manns Einstellung zu Nietzsche wiederfinden. Darüber hinaus kann man noch auf Nietzsche selbst hinweisen, der in einem Brief an seine Schwester den Wunsch ausdrückt, in seiner schöpferischen Einsamkeit doch geliebt zu werden; er brauche »Jemanden, der stolz auf meine Gesellschaft ist und die >Anderen< im richtigen Respekt mir gegenüber hält«. 7 Man könnte in der Zeitblom-Gestalt also auch ein Nietzsche-»Zitat« entdecken." Als verehrender Freund Leverkühns ist Zeitblom ein Augenzeugen-Erzähler, eine Person, die selbst zur fiktiven Welt gehört und die Geschichte eines seiner Bekannten erzählt. Geschieht das in einem traditionellen, realistischen Roman, dann muß die Erzählerperson ihre Rolle durchspielen, d . h . , sie muß eine glaubwürdige Gestalt der fiktiven Welt sein, während sie zugleich Erzähler ist. Die Forderung der Glaubwürdigkeit betrifft sowohl ihre Person als auch ihre Erzählerrolle: u.a. ihre Erkenntnisse von dem, was sie erzählt, müssen in der fiktiven Welt realistisch begründet sein. Zeitblom ist weder als Person noch als Erzähler glaubwürdig. Als Person ist er der geistig etwas altmodische und beschränkte Freund des von ihm angebeteten genialen Komponisten. Die Ironie ihm gegenüber ist am Anfang recht stark, wenn er zum Beispiel gesteht, daß er sich seine Frau unter anderem wegen ihres Namens Helene erwählt hatte (S. 18). Die Ironie wird allerdings später im ganzen milder. Das kann man teilweise dadurch erklären, daß der Autor das Komische an seiner Gestalt nicht mehr hervorzuheben braucht, nachdem er zu Anfang des Romans die ironische Einstellung des Lesers sichergestellt hat. Später ist auf weite Strecken von der Ironie kaum etwas spürbar. Nur an einzelnen Stellen wird sie deutlich, wie z.B. an der Stelle, wo Zeitblom nicht ohne Genugtuung schreibt, daß in »unserem« Unterseeboot-Krieg

»binnen vierundzwanzig Stunden nicht weniger als

zwölf Schiffe, darunter zwei große Passagierdampfer, ein englischer und ein

7

Nietzsche an die Schwester 2 3 . März 1 8 8 7 . Friedrich Nietzsches Briefe an Mutter und Schwester. Hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche. Bd. II. Leipzig 1 9 0 9 , S. 7 1 5 . Z u r Authentizität des Briefes siehe unten Kap. V I I A n m . 49.

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Es fehlte Nietzsche ja nicht dieser verehrende, liebende Freund; er hatte ihn, wie bekannt, in seinem Basler Kollegen Overbeck, an den Thomas Mann wahrscheinlich in der Gestaltung von Zeitblom ebenso gedacht hat.

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brasilianischer, mit fünfhundert Reisenden« dem deutschen Angriff zum Opfer gefallen waren (S. 229); oder wenn er gesteht, »aus purer Gewissenhaftigkeit« (S. 470) an den Zusammenkünften des Kridwiß-Kreises teilgenommen zu haben, in dessen Begrüßung der auftretenden Barbarei er als Humanist keineswegs einstimmen kann, aber seine Empörung darüber nicht zum Ausdruck bringt, um »nicht den Spielverderber [zu] machen« (S. 488), und aus Gram und Leid vierzehn Pfund abnimmt. Solche unübersehbar ironische Stellen erinnern den Leser daran, daß kein absoluter Verlaß auf Zeitblom ist, auch wenn er auf ihn als die Quelle der Erkenntnis der fiktiven Welt des Romans angewiesen ist. Ein weiterer Widerspruch in der Erzählergestalt entsteht aber dadurch, daß Zeitblom mit dem, was er als Berichterstatter leistet, die herablassende und lächelnde Einstellung des Lesers ihm gegenüber keineswegs rechtfertigt. Das gilt besonders für die musikalischen Partien, an denen Thomas Mann viel lag: er war bemüht, in ihnen sein Bestes zu geben und nahm dabei, um fachmännisch konkret zu sein, auch fremde Hilfe in Anspruch (Adornos Anteil ist bekannt). Der Leser kann hier Zeitbloms Sachkenntnisse und sein Verständnis für musikalisch-künstlerische Ideen und Probleme nur bewundern. Die bedeutendsten Beispiele sind seine Wiedergabe von Kretzschmars Musikvorträgen und seine Analysen der Kompositionen Leverkühns. Der etwas skurrile, ja der mangelnden Urteilskraft verdächtigte Studienrat am Anfang des Romans kann psychologisch gesehen nicht dieselbe Person sein, die die ausgezeichneten, technisch sachkennerischen und von tiefstem Verständnis des geistigen Gehalts der Werke zeugenden Analysen der Musikstücke vorlegt. Kretzschmars Vorträge sollen ja von diesem stammen; aber das geistige und musikalisch-fachmännische Niveau, das zum Verstehen, Erinnern und Wiedergeben dieser Vorträge notwendig ist, ist kaum weniger beachtenswert. Es hilft nichts, wenn Zeitblom hervorhebt, daß er und Adrian die Vorträge »so gern und mit so großen Augen« hörten, »wie Kinder das Unverständliche, eigentlich noch ganz Unzukömmliche hören« (S. 79). Dies betont eher den konventionellen Charakter des Wahrscheinlichkeitsanspruchs, als daß es die Bedenken des Lesers zerstreuen könnte; denn Zeitbloms Bericht enthält nichts von einem kindlichen Nichtverstandenhaben. Es gibt keinen Zweifel, daß er die Vorträge völlig adäquat wiedergibt. Zwei entgegengesetzte Absichten des Autors zeichnen sich hier ab. Einerseits ist es wichtig, daß der Leser den Erzähler ironisch sieht. Andererseits liegt ihm viel daran, daß die musikalische Problematik und Lever95

kühns Kompositionen adäquat und detailreich in Erscheinung treten, ja er will im Leser den Eindruck erwecken, daß die Kompositionen Leverkühns wirklich existieren. 9 Da er dies durch die gewählte Erzählergestalt erreichen muß, entsteht ein Widerspruch. Das kommt dem Autor aber nicht so wichtig vor, weil — wie wir hier beweisen wollen — Zeitblom für ihn eher eine Erzählinstanz und eine Perspektive auf das Geschehen ist als eine Person, eine Figur in der fiktiven Welt, deren Integrität er großen Wert beimäße. Es kann gezeigt werden, daß Zeitbloms wichtigste Funktion im Roman die erzählerische ist und daß dem Autor nicht sehr viel an seiner Person oder seiner Tätigkeit in der fiktiven Welt des Romans als Adrians Freund liegt. Das kann man zum Beispiel an der Textstelle bemerken, an der von Adrians Ärzten die Rede ist, die er nach der Ansteckung mit Syphilis aufsucht. Die kuriose Geschichte von zwei Ärzten, von denen der eine stirbt und der andere von der Polizei geholt wird, als die Behandlung der Krankheitssymptome Leverkühns gerade angefangen hatte, stammt angeblich von diesem selbst. Die Geschichte ist im Roman notwendig, damit es dem Leser plausibel erscheint, daß Leverkühns Krankheit nicht ärztlich behandelt wurde. Betrachtet man die Geschichte aber nach den Maßstäben der realen Welt — wie man eine realistische Geschichte ja beurteilen soll - , 1 0 kommt es einem psychologisch höchst unwahrscheinlich vor, daß ein Freund, der von der Sachlage unterrichtet worden ist, sich nicht einmischt und den Erkrankten zum Arzt schleppt. Zeitblom mischt sich aber nie in Adrians Angelegenheiten ein. Er ist tatsächlich eher ein bloßer Zuschauer und Berichterstatter. Zeitbloms Geständnis, daß es immer sein Hauptanliegen gewesen sei, das Leben seines Freundes zu verfolgen und ihn zu »bewachen«, und daß er sein eigenes Leben nur nebenbei, sozusagen mit der linken Hand, geführt habe (S. 4 1 5 ) , kann man realistisch als eine Tatsache in der fiktiven Welt des Romans hinnehmen; aber man kann es auch als einen Hinweis an den Leser verstehen, daß Zeitblom im Roman eigentlich nur

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»Nichts läppischer, in einem Künstler-Roman, als Kunst, Genie, Werk nur zu behaupten, nur anzupreisen, von ihren seelischen Wirkungen nur zu schwärmen. Hier galt es Realisierung, galt Exaktheit — nichts war mir klarer.« (Entstehung, X I , 1 7 0 — 1 7 1 . ) D i e Idee ist in ihrer Paradoxalität faszinierend: es wird als Künsderethos ausgesprochen, die Illusion des Nichtexistierenden, des Scheins, möglichst konkret zu bauen. Kuriose Zufälle hatten die Behandlung der unbestimmten Krankheit Beethovens verhindert, worin Gunilla Bergsten ein Vorbild für Adrians mißglückte Arztbesuche entdeckt (Bergsten, S. 82). Die »Quelle« in der Wirklichkeit ändert aber nichts daran, daß ein realistischer Roman solche Zufälle nicht erträgt.

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als Erzähler, als »Auge« auf das Geschehen und nicht wegen seiner Bedeutung in der fiktiven Welt da ist. Auch in der Erzählerrolle Zeitbloms kommen Züge vor, die mit seiner Zugehörigkeit zur fiktiven Welt des Romans nicht in Einklang stehen. Das häufig benutzte Mittel der szenischen Darstellung mit wortgenauer Wiedergabe der Dialoge ist, wie Margrit Henning bemerkt, in den eigentlichen Biographien selten benutzt. 1 1 Es ist vielmehr, können wir hinzufügen, eine für die Fiktion typische Darstellungsform. Eine solche Abweichung von der Authentizität nimmt der Leser deswegen ohne Bedenken in Kauf; denn er weiß ja von Anfang an, daß er einen Roman liest und nicht eine eigentliche Biographie. In seinem Urteil rechnet er - wenn auch wohl meistens unbewußt — mit den Konventionen des biographischen Romans. In den Rahmen dieser Konvention paßt auch der aufgeregte, manchmal mehr plauderhafte als objektive Stil des Biographen. Auch daß Zeitblom seinen Text anscheinend nachher nicht korrigiert hat - er bemerkt ja mehrmals, daß einige Formulierungen oder die Textgestaltung mißlungen seien - , wäre in einer eigentlichen Biographie nicht vorstellbar. 12 Im Roman ist es auch durchaus möglich, daß der Biograph nicht nur vom eigentlichen Gegenstand der Biographie erzählt, sondern daneben auch von sich selbst — ja daß er dem Leser eigentlich zwei Biographien zugleich vorlegt, die seines Freundes und seine eigene, wie es hier Zeitblom tut. Daß Zeitblom mehr von den Ereignissen der fiktiven Welt weiß, als er innerhalb dieser Welt wissen kann, hat man schon mehrmals bemerkt. Er sollte als Augenzeugen-Erzähler ja nur das erzählen, was er entweder aufgrund eigener Beteiligung an den Ereignissen oder aus den Berichten anderer weiß. Zeitbloms Erzählung beschränkt sich aber nicht darauf, was er als eine fiktive Figur wissen kann. 1 3 Zwar versucht er oft, seine Kenntnisse dadurch zu begründen, daß er erwähnt, aus welcher Quelle er etwas weiß. Aber das macht sein Vermögen, Gespräche und Szenen genau wiederzugeben, nicht wahrscheinlicher. Ein gutes Beispiel ist die oben erwähnte Stelle, die von Adrians Ärzten berichtet. Das Aussehen beider Ärzte wird genau

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Henning: Die Ich-Form und ihre Funktion in Thomas Manns >Doktor Faustus< und in der deutschen Literatur der Gegenwart. Tübingen 1 9 6 6 , S. 52.

12

»Ein ans Korrigieren gewöhnter Lehrer würde aber zum Beispiel niemals den Anakoluth im zweiten Satz stehen lassen«, bemerkt Feuerlicht (ebd., S. 430).

13

Siehe dazu z . B . Volker Hage: V o m Einsatz und Rückzug des fiktiven Ich-Erzählers, in: Text und Kritik 1 9 7 6 (Sonderband Thomas Mann); Feuerlicht, S. 429—

43°-

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geschildert, in der Art des traditionellen allwissenden Erzählers oder auch, als ob der Erzähler sie längere Zeit selber hätte beobachten können: z.B. charakteristische Gewohnheiten, Gebärden oder Redeweisen beider werden geschildert. Von Adrians letztem Besuch bei dem ersten der Ärzte wird folgendermaßen erzählt: Während er [Adrian] sonst an der Wohnungstür, drei steile Treppen hoch, in einem etwas düsteren Hause der Altstadt, stets hatte schellen müssen, worauf eine M a g d ihm geöffnet hatte, fand er diesmal jene Tür weit offenstehen, und ebenso verhielt es sich mit den Türen im Innern der Wohnung: Offen stand die Tür zum Warte- und darin wieder die zum Ordinationszimmer, offen aber auch, geradeaus, diejenige zum Wohnzimmer, einer zweifenstrigen »Guten Stube*. J a , hier standen auch die Fenster weit offen, und zum Zugwinde gebläht und aufgehoben, wurden alle vier Gardinen abwechselnd weit in den R a u m hineingetrieben und wieder in die Fensternischen zurückgezogen. Mitten im Z i m m e r aber lag Dr. Erasmi mit erhobenem Spitzbart und tief gesenkten Augenlidern, in weißem Manschettenhemd und auf einem Troddelkissen im offenen, auf zwei Böcken stehenden Sarge. W i e das zuging, warum der Tote da so allein und offen im Winde lag, [ . . . ] ist niemals klar geworden. (S. 2o8f.)

Zeitblom erzählt von dem Haus, der Einrichtung und den im Zugwind wehenden Gardinen wie jemand, der das alles gesehen hat, ja der jede Zeit fähig ist, die Szene konkret zu vergegenwärtigen: also wie ein »allwissender« Erzähler oder wie jemand, der dabei war. Dieselbe Erzähltechnik findet man überall im Werk, unabhängig davon, ob Zeitblom dabeigewesen war oder nicht. Das wichtige Gespräch zwischen Adrian und Schwerdtfeger über Adrians Heiratsabsicht wird in dialogischer Form wiedergegeben, obwohl Zeitblom davon nur von Adrian weiß, und der Erzähler schmückt es noch mit Landschaftsschilderung aus, in der sogar die tropfenden Zweige am Wegrand erwähnt werden. 1 4 Wenn man glauben soll, daß dieses alles von Adrian kommt, stimmt das nicht damit überein, was immer wieder von seiner Schweigsamkeit und Zurückhaltung gesagt wird. Das trifft z . B . auch auf die Szene zu, in der Adrian und sein Freund Schildknapp zum ersten Mal das G u t der Schweigestills besuchen. Die Reden Frau Schweigestills werden wortgenau zitiert, wobei sogar die dialektischen Besonderheiten ihrer Sprache wiedergegeben werden. Wenn das von Adrian stammen sollte, müßte er eine schauspielerische Neigung und Begabung haben, die zu seiner stolzen Natur überhaupt nicht paßt.

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S. 4 3 8 ; Hage, S. 90.

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Die Beteuerung, Zeitblom habe alles, was er nicht aus eigener Erfahrung weiß, von Adrian selbst, ist in Wahrheit eine zum biographischen Augenzeugenroman gehörende Konvention, an der in parodistischer Absicht festgehalten wird. Eine Stelle, an der dieses noch deutlicher als an den erwähnten zu sehen ist, ist die Ankunft Nepomuk Schneideweins, des kleinen Echo, auf dem Gut Schweigestill, von der Zeitblom angeblich wieder von Adrian gehört hat; in dieser Szene ist Adrian aber am Anfang überhaupt nicht da. Wir zitieren aus dem letzteren Teil der Szene, in der alle sich um den kleinen Echo versammelt haben und ihn bewundern: Auch kam mehreres würdig Stehengebliebene aus älterer Sprache in seiner Rede vor, wie er zum Beispiel von etwas, woran er sich nicht mehr erinnern konnte, sagte: »Es ist mir abgefallen«, und wie er schließlich erklärte: »Mehr neue Z i t i g « (für >Zeitungdabeigewesen< bin? Ich denke nicht.« (S. 442.) Hier meint Zeitblom bzw. der Autor, der Leser habe wohl schon verstanden, daß Zeitblom, wenn auch selber nicht Augenzeuge, immer imstande ist, alles Notwendige zu erzählen, als ob er ein Augenzeuge gewesen wäre. Die Stelle ist im Ganzen sehr bemerkenswert, denn hier gibt Zeitblom dem Leser zu verstehen, wie er verfährt. Er »weiß« ja, wie alles hat verlaufen müssen, weil er die Situation und die Charaktere der Personen (Rudi und Marie) kennt — und dann geht er ohne weiteres zum eigentlichen Bericht über, indem er das, was sein muß, als Geschehenes erzählt, mit einzelnen Mienen, Körperbewegungen und genauem Dialog der Beteiligten. Der Ubergang vom Nichtwissen zum Vermuten und von da aus weiter zum Erzählen des Vermuteten als Geschehenen hat nichts mehr mit dem Augenzeugenbericht zu tun. J a , Zeitblom spielt sogar ganz raffiniert mit seinem »Nichtwissen«: N i m m t man bittend die Hand, die man gern in die des Dritten legen zu wollen erklärt? Ich weiß es nicht. Ich habe nur die Einladung zu einem Ausflug und keinen Heiratsantrag zu überbringen gehabt. Alles, was ich weiß, ist, daß sie ihre Hand, sei es aus der Umfassung der seinen, oder nur von ihrem Schöße, wo sie frei gelegen, hastig zurückzog; daß eine flüchtige Röte die südliche Blässe ihrer Wangen überhauchte und das Lachen aus dem Dunkel ihrer Augen schwand. (S. 588.)

Zeitblom will also nicht wissen, wo Maries Hand lag, aber er weiß, daß sie sie zurückzog! In dem Übergang vom bloß Erdachten, Wahrscheinlichen und Vermuteten zum Bericht über das Geschehene verfährt Zeitblom natür-

' 5 Genette: Narrative Discourse (Discours du récit, 1 9 7 2 ) . Oxford 1 9 8 0 , S. 1 8 9 — 194.

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lieh nicht wie ein authentischer Biograph — sondern genau wie ein Romanautor. An dieser Stelle läßt Zeitblom durchblicken, daß er eigentlich ein Vertreter des Verfassers im Roman ist und die Sache mit dem »Augenzeugenbericht«, insoweit sie die Authentizität der Erzählung garantieren soll, nur ein Spiel mit einer erzählerischen Konvention ist. Aber der Erzähler Zeitblom, der als Adrians Freund über dessen Leben berichtet, weiß nicht nur zu viel, sondern auch zu wenig; und das kommt von derselben Erzähltechnik. Die Szenen werden immer vom Standpunkt eines Betrachtenden, nicht von dem des Beteiligten aus wiedergegeben, ob nun Zeitblom dabei war oder alles von Adrian haben will. Denn wie in der Szene, die Echos Ankunft bei Schweigestills betrifft, oder in der Schilderung von Adrians und Schildknapps erstem Besuch bei Schweigestills bedeutet der Standpunkt eines »dabeistehenden« Betrachters, daß nur das gegeben wird, was ein Beobachter der Situation bemerken kann. Die Bedeutung, die den Fällen in Adrians innerem Leben zukommt, wird nicht angegeben. Das gilt für das Erzählen im Doktor Faustus überhaupt: Zeitblom bietet dem Leser viele Einzelheiten, ohne ihren Anteil an der Lebensgeschichte Leverkühns zu verdeutlichen. Besonders auffallend ist der Widerspruch von nachdrücklicher Darstellungsform und mangelnder Information über die Bedeutung des Erzählten an manchen Stellen, die in Dialogform oder sonst in szenischer Darstellung wiedergegeben werden. Daß für eine Begebenheit die szenische Darstellungsform die adäquate ist, gibt an sich schon Anlaß zu denken, daß sie von besonderer Bedeutung ist. Welcher Art diese Bedeutung ist, das spricht Zeitblom aber nicht aus: die Erzählperspektive ist die des Zuschauers, nicht die des Biographen, der jede erzählte Einzelheit durch ihren Stellenwert in der Lebensgeschichte motiviert. Doppelt merkwürdig ist das Ausbleiben der Begründungen bei solchen Szenen, die Zeitblom allein durch Leverkühns Bericht kennt. Adrian soll ihm also — wie z. B. über seinen ersten Besuch bei Schweigestills — alles in szenischer Form und mit genauester Wiedergabe der Gebärden und Mienen der Beteiligten berichtet haben, ohne daß er ihm zugleich erklärt, warum er das tut. Die Bedeutung, die das Erlebte für Leverkühn hat, wird von ihm selbst oder auch von dem Biographen nicht ausgesprochen, was man von einer eigentlichen Biographie natürlich erwartet. Die Widersprüche in Zeitbloms Erzählen fallen dem Leser nicht so sehr auf, weil eine Beschränkung der Erzählerrolle, das Erzählen in szenischer Form und das »behavioristische« Erzählen, in dem von den inneren Vorgängen der Personen nichts direkt gesagt wird, typische Darstellungsmittel des IOI

Romans des 20. Jahrhunderts sind. Ein besonderer Grund dafür, daß der Leser die Zurückhaltung Zeitbloms in der Interpretation der Bedeutung der Dinge im Leben Leverkühns übersieht, ist darüber hinaus, daß diese Zurückhaltung gegen den Eindruck steht, den Zeitblom von sich als Erzähler gibt: er soll ja der sorgende, liebende, erschütterte Freund Leverkühns sein, der seine tiefe emotionelle Erregung beim Erzählen nicht verhehlen kann. Die Biographie Adrian Leberkühns wird nicht als eine »lückenlose Kette von Ursachen und Wirkungen« dargestellt. Die psychologische und milieugebundene Kausalität, die Grundlage des realistischen Erzählens und auch in einer Biographie der grundlegende kohärenzbildende Faktor, ist das in Zeitbloms Bericht nur lückenhaft, ja sehr mangelhaft. Eine realistische Begründung dafür in der fiktiven Welt des Romans ist, daß Adrian so zurückhaltend ist, daß Zeitblom von ihm selbst sehr wenig aus seinem inneren Leben erfährt. Zeitblom berichtet ausführlich über Milieu, einzelne Ereignisse, Vorträge und Personen, aber er ist nicht imstande - oder nicht gewillt —, die Bedeutung dieser Dinge für Adrian zu definieren. In der Tat, seine Schilderung kreist um Leverkühn herum, aber dieser selbst bleibt im Schatten; er ist eine Leerstelle, die vom Erzähler eigentlich nicht angetastet wird, sondern von dem man nur indirekt etwas weiß. Es wird dem Leser überlassen, nach dem fehlenden Zusammenhang, nach der geistig-seelischen Bedeutung der erzählten Ereignisse und Gespräche für Leverkühn zu suchen. Die Lücken in der biographischen Erzählung und die große Leerstelle mitten in der Biographie, an der Stelle ihres eigentlichen Gegenstandes, sind nicht nur Mängel, deren Grund in der fiktiven Welt des Romans liegt, sondern sie haben in der Gesamtstruktur des Romans eine andere, tiefere, ja wesentliche Funktion. Der prinzipielle Grund dafür, daß Zeitblom die Bedeutung einzelner Erfahrungen Leverkühns nicht definiert und ihn selbst eigentlich immer nur »indirekt« schildert, liegt darin, daß die Geschichte, die im Doktor Faustus erzählt wird, nicht allein die von Zeitblom gemeinte Biographie ist, sondern auch und sogar ganz wesentlich etwas anderes. Wir können dies wieder durch das Beispiel des Berichtes über Adrians Arzte erhellen. Der Leser des Romans erfährt in der großen Schlußrede Leverkühns, in der er über sein Leben als Faust Rechenschaft ablegt, daß Adrian den Tod und die Verhaftung der Arzte als dämonische Einwirkung ansah und deswegen darauf verzichtete, noch weiteren Menschen zu schaden, wie er meinte. Zeitblom kennt diese Deutung natürlich schon, wenn 102

er über die Begebenheit schreibt, aber er spricht sie nicht aus. Ein anderes Beispiel ist Adrians Bericht über »seine« Tiefsee- und Raumfahrten. Zeitblom übermittelt den Bericht, ohne mit einem Wort zu kommentieren, wie er zu verstehen sei, d. h., daß der Teufel Adrian die Welt gezeigt hat. Ebenso ist die Bedeutung, die Adrian dem Tod Schwerdtfegers und dem des kleinen Echo zumißt, nicht zu verstehen, ohne von seiner Faust-Identifikation zu sprechen. Indem Zeitblom über die Interpretation einzelner Szenen und Erlebnisse im Zusammenhang mit Adrians Faust-Identifikation schweigt, bleiben Adrians Reaktionen, ja der wesentliche Inhalt seiner Erlebnisse ungeklärt. Die Beispiele weisen in dieselbe Richtung, wenn wir nach einer Erklärung für Zeitbloms Zurückhaltung suchen: sein Bericht von Leverkühns Leben bleibt im wesentlichen lückenhaft, weil in diesem Leben etwas enthalten ist, was Zeitblom nicht direkt aufgreifen will, nämlich gerade Leverkühns Faust-Identifikation. Etwas Wesentliches in Leverkühns Leben bleibt dann im Dunkeln. Dasselbe gilt natürlich für Leverkühns Person beziehungsweise für das Porträt, das von einer Biographie erwartet wird. Wesentliche Seiten seines Charakters und seines geistigen Lebens bleiben ungeklärt, weil der Biograph die Faust-Problematik nicht berühren will. Es entsteht ein tiefes, aber geheimnisvolles, nicht durchleuchtetes Bild von diesem ungewöhnlichen Menschen. Zeitbloms Bericht über das Leben seines Freundes steht an den meisten Stellen in keinem offensichtlichen Verhältnis zu der im Titel des Romans genannten Faust-Sage. Unübersehbar ist der Zusammenhang eigentlich nur an zwei Stellen, im Teufelsgespräch und in der Abschiedsrede Leverkühns am Ende des Romans, in der er sich den empörten Zuhörern aus seiner Bekanntschaft als Faust und sein Leben als Faust-Schicksal zu erkennen gibt. Die Auffassung seiner Bekannten spricht Dr. Kranich, der Numismatiker, entschieden aus: »Dieser Mann ist wahnsinnig.« (S. 666) Das könnte die Auffassung des Lesers sein; denn der zusammengebrochene Leverkühn, von dem jetzt auch Zeitblom als einem Dementierten spricht (S. 670), wird in einer Nervenheilanstalt untergebracht, von wo er allerdings bald der privaten Pflege Frau Schweigestills und seiner eigenen Mutter überstellt wird. Was den Leser aber hindert, der Ansicht Dr. Kranichs völlig zuzustimmen, ist, daß der Zusammenbruch Leverkühns für ihn nicht wie für diesen als ein plötzliches Ausbrechen der Geisteskrankheit erscheint, sondern als die Bestätigung dessen, wovon zwischen Adrian und dem Teufel im Teufelsgespräch die Rede war und was dieser ihm vorausgesagt hatte. 103

Das Teufelsgespräch hat Zeitblom lediglich aus Adrians Aufzeichungen kopiert und in die chronologische Darstellung eingeordnet - das Gespräch soll in Italien vor Zeitbloms Besuch bei ihm dort stattgefunden haben —, ohne es sonst in seinen Bericht zu integrieren. Er kommentiert also nicht, welchen Stellenwert er diesem »Wahn« Leverkühns und überhaupt seiner Selbstidentifikation als Faust in seinem Leben beimißt. Warum Zeitblom die Faust-Thematik nicht aufgreift, ist in der fiktiven Welt des Romans psychologisch begründet: ihm, dem Humanisten, graut zu sehr vor dem »gräßlichen Kaufvertrag« (S. n ) . Er kennt seine Bedeutung für Leverkühn, aber die Vorstellung von einem Teufelspakt ist ihm zu unverständlich, zu unheimlich und zu un- oder antihumanistisch, als daß er ihn offen besprechen könnte. Man muß sich denken, daß seine Scheu, seine Sorge und sein K u m m e r und seine herzklopfende Erschütterung dem Gegenstand der Biographie gegenüber gerade aus dieser Erkenntnis stammen. Die Frage nach der Existenzform des Teufels im Teufelsgespräch kann man schon ein traditionelles Problem der Interpretation nennen. Ist der Teufel wirklich da, oder ist er eine Halluzination Leverkühns? Die Frage wurde von den ersten Rezensionen an immer wieder aufgenommen. Die Antwort war oft, daß seine Existenz in der Schwebe bleibt.' 6 Warum dies so sein muß, ist aber nicht deutlich festgestellt worden. Die Antwort ist aber recht offensichtlich: es handelt sich darum, daß der Modus der ganzen Erzählung bzw. die Art der Sinnkonstituierung darin von der Existenz des Teufels abhängt. Denn ist der Teufel »wirklich« da, dann wird der Rahmen einer realistischen Biographie gesprengt. Die Biographie, die der Humanist und Altphilologe über seinen Freund schreibt, kann nichts solch Irrationales, Außerhumanes enthalten. Aus diesem Grund ist klar, daß Zeitblom an die Realität des von Leverkühn gesehenen Teufels nicht glauben kann. Für ihn kann der Teufel nur eine Wahnvorstellung Leverkühns sein. Für die Logik des Romans, für die Sinnkonstituierung in ihm ist aber höchst bedeutend, daß Zeitblom das Teufelsgesicht und die Faust-Identifikation nicht in die Künstlerbiographie integriert, an der er schreibt. Denn das wäre nur dadurch möglich, daß er aus Leverkühn einen psychopathologischen Fall macht. N u r rational psychologisiert würden sie in den Rahmen der humanistisch-aufklärerischen Biographie passen. Die Psychopathologisierung der

Siehe z . B . Heinz Peter Pütz: Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Z u m Problem des ästhetischen Perspektivismus in der Moderne. Bonn 1 9 6 3 , S. 1 1 2 — 1 1 4 .

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Faust-Perspektive Leverkühns würde aber bedeuten, daß sie ihre Geltung einbüßt. Es liegt dem Autor daran, daß dies nicht der Fall ist, sondern die Faust-Perspektive eine eigenständige Perspektive auf das Geschehen neben der humanistischen Perspektive Zeitbloms ist, nicht eine dieser untergeordnete. Deswegen darf Zeitblom das Teufelsgesicht und die Faust-Problematik seines Freundes nicht aufgreifen und sie eindeutig als dessen subjektiven Wahn festlegen. Das Teufelsgespräch wirkt gerade deswegen so beunruhigend, weil es den Leser zwingt, das von Zeitblom bisher Erzählte aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Der Teufel interpretiert Ereignisse, die man schon als Bestandteile der von Zeitblom erzählten realistisch-psychologischen Biographie kennt, aus einer neuen Sicht und zwingt somit den Leser zu sehen, daß es auch alternative Möglichkeiten gibt, ihren Sinn zu verstehen. Auch zwingt der Teufel den Leser dadurch, daß er Zukünftiges voraussagt, diese Perspektive auf Zeitbloms weitere chronologische Darstellung vom Leben Leverkühns zu übertragen. Das Teufelsgespräch wirkt auf den Leser also als eine unübersehbare Aufforderung, »gegen den Strich« zu lesen, d.h. gegen die offensichtliche Absicht Zeitbloms, eine traditionelle Künstlerbiographie zu schreiben. Die Zurückhaltung Zeitbloms in bezug auf die Erscheinung des Teufels bedeutet, daß dessen Perspektive nicht widerlegt wird. Im Gegenteil, der Teufel, der die Ereignisse in seiner Art interpretiert, relativiert die Perspektive Zeitbloms in der Weise, daß diese sich als keine selbstverständliche, absolute Deutungsperspektive zeigt, sondern gerade als die eines altmodischen Humanisten. Das Auftreten des Teufels im X X V . Kapitel erfolgt nicht ganz ohne Vorbereitung, denn schon im ersten Kapitel weist Zeitblom auf den »gräßlichen Kaufvertrag« hin. Im zweiten Kapitel spricht er von den »Gottheiten der Tiefe« und von der humanistischen Kultur, die jene bändigt (S. 17). Die dunklen Hinweise dienen dem Leser als Warnung, daß hinter Zeitbloms Geschichte noch etwas anderes steckt, an das er sich nicht näher heranzutasten wagt. Eigentlich sollte der Leser also von Anfang an, auch mit Rücksicht auf den Titel des Romans, darauf achten, die Biographie nicht zu verabsolutieren und nach untergründigen Sinnzusammenhängen zu suchen. Die Biographenrolle Zeitbloms ist nicht so eindeutig, wie es scheint, wenn dieser sich dem Leser vorstellt. Das führt uns zur Frage nach der Funktion der Zeitblom-Gestalt und nach der Einstellung des Autors zu ihm zurück. Wie verhält sich der Autor zu der Absicht Zeitbloms, eine Biographie seines Freundes zu schreiben?

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Die Ironie des Lesers Zeitblom gegenüber, an der dem Autor so viel liegt, bezieht sich nicht nur auf seine Person, sondern ebenso auf seine Rolle als Erzähler einer traditionellen Biographie. Der tiefere Sinn der Ironie steckt gerade hier. Für Thomas Mann wäre es nicht möglich, selber so zu schreiben wie Z e i t b l o m . 1 7 Das bezieht sich nicht nur auf den Stil - in Zeitbloms Stil parodiert Thomas Mann ja, wie gesagt, seinen eigenen —, sondern auch auf die Idee, eine traditionelle Biographie zu schreiben. Denn die Biographie war für Thomas Mann als literarische Form schon fragwürdig, ja unmöglich geworden und eigentlich nur noch als Parodie möglich.' 8 Es ist zwar bekannt, daß er gerne in Biographien las und viele gerade während der Arbeit am Doktor Faustus seine Lektüre waren. Damit steht aber keineswegs in Widerspruch, daß er in der Biographie eine veraltete, traditionelle literarische Form des individualistischen, bürgerlichen Zeitalters sah. Er hatte ja schon vor den Joseph-Romanen »den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan«. 1 9 D.h., er hatte die individualistische Romanform zurückgewiesen, die um die Person, die Erfahrungen und die Entwicklung des »Helden« strukturiert ist und typischerweise gerade eine Art Biographie des Protagonisten ergibt. Wenn es so ist, dann ist es durchaus verständlich, daß Thomas Mann die Biographie seines »Helden« von einem altmodischen Humanisten schreiben läßt. Er braucht ihn dafür, den Gymnasiallehrer für Latein, der sich gerne als einen Nachfolger der deutschen Humanisten des 1 6 . Jahrhunderts vorstellt und dem das humanistische Erbe noch nicht problematisch geworden ist - oder der sich das Problematische dieser Tradition nicht eingestehen will; wir müssen ja berücksichtigen, daß Thomas Mann sich selber in Serenus Zeit17

Er schreibt über Bruno Franks Vorlesung aus seinem neuen Buch: »Er benutzt den humanistischen Erzählstil Zeitbloms vollkommen ernst, als seinen eigenen. Ich kenne im Stilistischen eigentlich nur noch die Parodie.« (Entstehung, I X , 1 8 0 . ) Von seinem Vorhaben den Faustus-Roman betreffend schreibt er: »Möglichst viel Scherz, Biographen-Mimik, das Pathos herabsetzende Selbstverspottung also - soviel wie irgend möglich davon!« (Entstehung, X I , 169.)

,s

»Dieselbe Idee der fingierten Biographie — mit den Einschlägen von Parodie, die diese Form mit sich bringt.« Entstehung, X I , 1 9 3 .

' 9 Freud und die Z u k u n f t , I X , 4 9 3 . Es ist zwar hier nicht völlig klar, wann Thomas Mann meint, den Schritt getan zu haben, in den Joseph-Romanen oder schon früher; die Stelle lautet: »Der gelebte Mythus aber ist die epische Idee meines Romans [Joseph und seine Brüder], und ich sehe wohl, daß, seit ich als Erzähler den Schritt vom Bürgerlich-Individuellen zum Mythisch-Typischen getan habe [.. .]« (kurs. von mir). Eine andere Frage ist, inwieweit Thomas Manns Selbstverständnis hier richtig ist; denn eigentlich hatte er ja schon in seinen frühesten Erzählungen, wie oben erwähnt, die Wagnerschen Mythen ins Bürgerliche übersetzt.

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blom ironisiert. Für den Autor des Doktor Faustus ist die Biographie eines Menschen nicht mehr die selbstverständliche, »natürliche« Art und Weise, das Erzählte zu strukturieren, wie sie es (anscheinend) für Zeitblom noch ist, sondern eine tradierte Form aus dem bürgerlichen Zeitalter, die nur noch ironisch, zitatweise verwendet werden kann. 2 0 So, als Zitat, hat die Biographie noch einen Platz in der Struktur des Doktor Faustus. Thomas Mann braucht sie zur Oberflächenstruktur seines Romans: sie strukturiert unserer alltäglichen Denkart folgend (denn darin besteht die »Natürlichkeit« dieser Form) die Ereignisse im Leben eines Menschen. Es bestehen im Roman aber auch tiefere sinnkonstituierende Strukturen, die der Erzähler nicht beabsichtigt, die aber dem Leser trotzdem zugänglich sind. Die anderen Sinnstrukturen des Romans kommen am auffallendsten gerade durch die Lücken in der biographischen Sinnkonstituierung zum Vorschein. Wenn man bemerkt, daß Thomas Mann die Lücken in der Biographie psychologisch motiviert, sieht man seine Doppelstrategie. Zeitbloms Zurückhaltung in der Interpretation der Ereignisse in Leverkühns Leben und insbesondere in bezug auf seine Faust-Identifikation sollen in der fiktiven Welt des Romans als glaubwürdig erscheinen; insofern beeinträchtigen die Lücken nicht die Integrität der fiktiven Welt. Zugleich haben die Lücken aber eine wichtige srukturelle Bedeutung; denn durch sie kommen andere Arten der Sinnkonstituierung neben der der Biographie zum Vorschein. Die Faust-Geschichte ist nicht das Einzige, was in Zeitbloms Erzählung über die traditionelle Künstlerbiographie hinausgeht. Eine zweite Zeitebene neben der des Lebens Leverkühns ist die des Niederschreibens seiner Biographie in den letzten beiden Jahren des Zweiten Weltkrieges. Dieses Mitnehmen des Zeitgeschehens kann man wieder psychologisch aus Zeitbloms tiefer Erregung angesichts der deutschen Katastrophe erklären. Zeitbloms Erfahrungen, Wahrnehmungen und Stimmungen während des Schreibens haben aber wieder auch eine strukturelle, sinnkonstituierende Funktion im Ganzen: sie gehören zur Deutschland-Thematik des Romans. Dies trifft ebenso auf die Berichte über Menschen zu, die Leverkühn nicht besonders nahe standen (Zeitblom weiß aus Erfahrung, daß Leverkühn kaum die Na-

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Volker Hage bringt dieses in Zusammenhang mit der Idee des Endes der Kunst (Hage, S. 92): » U m dem Widerspruch zu entgehen, in einem Roman, einem Kunstwerk, den >Endzustand< der Kunst darzustellen, schiebt der reale Autor einen Schreiber vor, dessen Zweifel noch nicht so weit fortgeschritten sind; auch aus diesem Grund kann — und will — Thomas Mann mit Zeitblom nicht auf einer Stufe stehen.«

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men der Bekannten kennt), oder auf Ereignisse, die er kaum bemerkt haben dürfte. Z u diesen zählen vor allem die Erzählungen aus dem Münchner Bekanntenkreis und die Ereignisse des Ersten Weltkrieges; den Zweiten Weltkrieg erlebte er ja überhaupt nicht mehr. In Zeitbloms Darstellung erkennt man — oder wenigstens ahnt man — den Zusammenhang dieser Ereignisse mit der Katastrophe Deutschlands; und man kann auch andeutungsweise erkennen, daß er einen Zusammenhang zwischen dem Schicksal seines genialen Freundes und des unglücklichen deutschen Volkes spürte, obwohl dieser Zusammenhang nicht näher erörtert oder begründet wird, sondern eher als eine »symbolische Parallele« (S. 454f.) erscheint. Wenn Thomas Mann mit Doktor Faustus einen Deutschland-Roman hatte schreiben wollen, so konnte dies ja nicht Zeitbloms Absicht sein. Das Material für diese Strukturierungsart des Romans konnte nur gegen die Intentionen des Biographen — durch seine Erschütterung während des Schreibens — in die Geschichte miteinbezogen werden. Die Analyse der »Biographie« zeigt, daß Thomas Mann sich in ein Spiel mit dem Leser eingelassen hat, in dem es diesem schwer fällt zu sagen, was was ist. Die Illusion des treuen Biographen an seiner Arbeit wird bis zum Schluß bewahrt; aber die Biographie erweist sich bei näherer Betrachtung als lückenhaft und das Erzählte als etwas anderes denn als bloße Biographie. Die verschiedenen Intentionen Thomas Manns mit dem Roman sprengen den Rahmen der viel bescheideneren Aufgabe, die Serenus Zeitblom als Biograph seines Freundes auf sich genommen hatte. Die aus der Humanistenperspektive verfaßte Künstlerbiographie erweist sich als nur eine mögliche Deutungsperspektive auf das Geschehen, eine Schicht der Sinnkonstituierung. 2 1 Aber auch wenn Thomas Mann vom Individuellen zum Allgemeinen, Typischen übergangen ist, bewahrt er die Schicht des Einzelnen, Individuellen. Das Allgemeine, Typische, Thematische ist da — wie und was, müssen wir genauer erörtern - , aber auch die Biographie des genialen Komponisten. Es ist zu früh, endgültig zu definieren, welche Bedeutung der Biographie als der Schicht der realistischen Sinnkonstituierung des Romans zukommt, weil wir die Gesamtstruktur des Werkes noch nicht untersucht haben. Das Bisherige stimmt aber mit den Ideen Schopenhauers und Nietz21

Die »geheime Identität« der beiden Protagonisten (Entstehung, X I , S. 204), die beide gemeinsam Thomas Mann selbst vertreten, kann man aber auch so verstehen, daß Zeitblom mehr von der komplexen Struktur der Geschichte »weiß«, als seine bescheidene Biographenrolle zugibt.

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sches über Kunst iiberein. Die Geschichte von den vereinzelten Dingen der (fiktiven) Welt - der Welt der Vorstellung Schopenhauers - stimmt mit Nietzsches Idee von der apollinischen Kunst, oder auch der apollinischen Schicht der Tragödie, überein. Die Möglichkeit, hinter der Bilderreihe andere Sinnstrukturen zu finden, kommt ebenso in Nietzsches Tragödientheorie vor.

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V

Der Übergang von der realistischen zur thematischideellen Ebene

D a s B e s o n d e r e an d e r S t e l l u n g der realistischen S c h i c h t bzw. der realistischen S i n n s t r u k t u r , d e r B i o g r a p h i e , i m Doktor Faustus w i r d nicht allein d a d u r c h b e l e g t , d a ß a u f die Existenz einer t h e m a t i s c h e n T i e f e n s c h i c h t h i n g e w i e s e n w i r d . A u c h in einem realistischen R o m a n k a n n aus der G e s c h i c h t e , d i e d a r i n erzählt w i r d , ein T h e m a , eine » a l l g e m e i n e W a h r h e i t « a b s t r a h i e r t w e r d e n , d i e k u r z z u s a m m e n g e f a ß t m e i s t e n s banal w i r k t , w i e e t w a

»eine

treue L i e b e w i r d b e l o h n t « (oder auch »eine treue L i e b e w i r d unter U m s t ä n d e n n i c h t b e l o h n t « ) . Selbst zu e i n e m realistischen R o m a n g e h ö r t also d i e t h e m a t i s c h e E b e n e , d i e m i t d e m Z w e c k bzw. Sinn des W e r k e s zu t u n hat. E b e n s o k a n n einzelnen D i n g e n u n d S a c h v e r h a l t e n in e i n e m Roman

eine

motivische

Bedeutung

zukommen,

wodurch

realistischen sie m i t

dem

T h e m a bzw. d e r thematischen E b e n e in V e r b i n d u n g treten. B e i T h o m a s M a n n ist das V e r h ä l t n i s z w i s c h e n d e r G e s c h i c h t e u n d d e r t h e m a t i s c h - m o t i v i s c h e n E b e n e aber anders. D i e t h e m a t i s c h e B e d e u t u n g einer E i n z e l h e i t ist nicht einfach die A b s t r a k t i o n oder die V e r a l l g e m e i n e r u n g ihrer B e d e u t u n g in d e r f i k t i v e n G e s c h i c h t e des R o m a n s . D a s T h e m a bzw. d i e t h e m a t i s c h e S t r u k t u r des G a n z e n ist nicht aus d e m V o r g a n g d e r G e s c h i c h t e zu ersehen; und die einzelnen M o t i v e unterstützen nicht e i n f a c h d i e » W a h r h e i t « , d i e sich aus d e r G e s c h i c h t e e r g i b t . D i e t h e m a t i s c h - m o t i v i sche E b e n e ist i m ganzen viel k o m p l i z i e r t e r als in e i n e m realistischen R o m a n , u n d sie f ü h r t ein relativ u n a b h ä n g i g e s » L e b e n « ü b e r oder h i n t e r d e r G e s c h i c h t e , d i e sich in der realistisch g e s c h i l d e r t e n

fiktiven

Welt abspielt.

W i r k ö n n t e n den U n t e r s c h i e d a n h a n d des oben e r w ä h n t e n B e g r i f f s >epische I n t e g r a t i o n

zu präzisieren v e r s u c h e n . In seinem b e k a n n t e n

b e m ü h t sich H e r m a n n M e y e r zu z e i g e n , d a ß im Zauberberg

Aufsatz

der S t o f f , trotz

d e r essayistischen E i n l a g e n , episch i n t e g r i e r t ist, d. h. d a ß jede T e x t s t e l l e als B e s t a n d t e i l d e r G e s c h i c h t e a u f t r i t t . A u c h d i e essayistischen

Einlagen

zerbrechen s o m i t nicht die Illusion der fiktiven W e l t . 1 E s s t i m m t , d a ß T h o ' Meyer: Z u m Problem der epischen Integration (1950), in: Koopmann (Hrsg.): Thomas Mann.

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mas Mann die Illusion bewahrt und die Themen nicht »entblößt«, ohne »Einbettung« in der Geschichte in Erscheinung treten läßt, wie etwa die Romane der Frühromantiker. In ihnen herrscht die symbolisch-allegorische Art der Darstellung so stark vor, daß die epische Integration typischerweise ausbleibt; 2 der Faden der Geschichte kann sehr dünn sein, wie etwa in Schlegels Lucinde, die eher eine Sammlung von Betrachtungen als eine Geschichte ist. Aber trotz der »heilen« - oder scheinbar heilen — Geschichte bei Thomas Mann, auch im Doktor Faustus, ist alles hier nicht in dem Sinne episch integriert, daß das Thematische der Geschichte untergeordnet ist, d.h. daß die thematische Bedeutung einer Sache von ihrem Stellenwert in der Geschichte bestimmt wird. Ebenso wie schon im Zauberberg werden die Themen nicht aus der Bedeutung einzelner Begebenheiten in der Geschichte abgeleitet, sondern die »Geschichte« ist allein die oberflächlichste Ebene, hinter der die bedeutendsten Sinnkonstituierungsprozesse stattfinden. Im Doktor Faustus wird die Geschichte, d. h. die Biographie Leverkühns, dadurch relativiert, daß sie als die Zeitblom-Perspektive auf das Geschehen gezeigt wird. Schon bei den Buddenbrooks haben wir gesehen, daß der eigentliche Inhalt des Verfalls nicht aus der kausal-realistischen Familiengeschichte ablesbar ist; ebenso sind Hans Castorps Erlebnisse im Lungensanatorium relativ nichtssagend verglichen damit, was das äußerst reiche thematische Gewebe des Romans beinhaltet. Unzählige Einzelheiten der fiktiven Welt weisen auf eine Bedeutung hin, die ihre Funktion in der realistisch geschilderten fiktiven Welt des Romans transzendiert. Die Entwicklung von Buddenbrooks zum Doktor Faustus ist der Weg zu einem immer dichteren thematischen Gewebe: während in Buddenbrooks viele Einzelheiten noch lediglich zur realistischen Illusion der fiktiven Welt beitragen, 3 kommen solche im Doktor Faustus nicht mehr vor. »Alles Detail ist langweilig, ohne ideelle Transpa-

J

Z . B. J u r i j Striedter schreibt (Die Komposition der >Lehrlinge zu SaisLehrlinge< deren Einheit in einem kontinuierlichen Handlungsablauf (wie er ihn bei einem Roman meint voraussetzen zu dürfen), dann muß er überall auf Lücken und Sprünge stoßen, die er als Mangel an einheitlicher Gestaltung auslegen wird. U n d hofft er dann, wenigstens den stetig fortschreitenden Gedankengang einer theoretischen Abhandlung vorzufinden, wird er ebenso enttäuscht sein.«

' So meint Kurzke (Thomas Mann, S. 8 1 ) : »Hier [in Buddenbrooks] gibt es noch viele Details, deren Funktion sich in ihrer mimetischen erschöpft.« Inwieweit dies stimmt, könnte nur eine nähere Untersuchung zeigen.

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renz«, schreibt Thomas Mann in »Pariser Rechenschaft«. 4 Doktor Faustus ist von dieser »Langenweile« völlig befreit. Gunter Reiss spricht in bezug auf Thomas Manns Werke von » Allegorisierung«. Er unterscheidet »Allegorisierung« von der eigentlichen Allegorie, in der ein kulturell festgelegtes Verhältnis zwischen den Dingen auf der realistischen Ebene und den Bedeutungen auf der thematischen Ebene besteht. In den »allegorisierenden« Werken Thomas Manns gebe es kein solches festes Verhältnis mehr, sondern das Verhältnis werde in den Werken selbst erst festgelegt. 5 Das gilt natürlich für alle modernen Autoren: die eigentliche Allegorie setzt ein gemeinsames Bedeutungsuniversum voraus, das den modernen Autoren nicht mehr zur Verfügung steht. Aber auch der Begriff >Allegorisierung< — u.a. von Kristiansen aufgenommen — enthält vielleicht eine zu starke Konnotation der Festlegung des Verhältnisses zwischen einem Ding und einer Idee, um das richtige Wort für Thomas Manns Verfahren zu sein. Denn bei ihm werden die »allegorischen« Bedeutungen der Dinge keineswegs eindeutig und absolut festgelegt; eher sind sie immer Deutungen aus einer Perspektive, von einem bestimmten Zusammenhang her und bleiben so in einem dauernden Zustand des Fließens. Das Positive im Begriff >Allegorisierung< ist aber, daß er das Tun, das Hervorbringen des bedeutungstragenden Verhältnisses betont. Hier unterscheidet er sich vom Begriff der Allegorie, aber selbstverständlich noch mehr von dem Begriff >Symbolasiatischen< Lässigkeit und Formlosigkeit finden, die den Charakter Chauchats ausmachen.«. 9 Es entstehe also eine Verbindung zwischen Hans Castorp und dem Themenkomplex Asien — Unfbrm - körperliche Liebe — Trieb, den Clawdia Chauchat vertritt. Es ist aber zu beachten, daß die thematische Bedeutung der Hände und also die Verbindung erst dadurch entsteht, daß die Hände mit etwas schon Gedeutetem - dem Themenkomplex, der den »allegorischen« Gehalt Frau Chauchats ausmacht — in Verbindung tritt. Woher kommt diese Deutung? Es ist klar, daß die Interpretation Frau Chauchats als Träger des genannten Themenkomplexes ein langer und verwickelter Prozeß ist, der eigentlich den ganzen Roman in Anspruch nimmt. Geht man also im Zirkel? W o findet man den Anfang dieses Prozesses, in dem den einzelnen Phänomenen eine ideelle Bedeutung zugeschrieben wird? Wenn auch kein absoluter Anfang zu nennen ist, wird der Leser von den Romanpersonen selbst auf die Ebene der ideellen Bedeutungen geleitet. Im Zauberberg sind solche Interpreten außer Hans Castorp selbst insbesondere sein geistiger Mentor, Settembrini, aber auch dessen Gegenspieler Naphta, die Arzte des Sanatoriums und natürlich der Erzähler, auch wenn sein Standpunkt selten von dem Hans Castorps weit entfernt ist. Im Doktor Faustus sind solche Deuter außer Zeitblom u.a. auch Leverkühn, der Teufel, die Professoren der Theologie und Adrians Musiklehrer Kretzschmar, dessen Passion es war, »Beziehungen aufzudecken«, »den verschränkten Zusammenhang der K u l tur bloßzulegen« (S. 104). Die Einleitung zur sinnkonstituierenden Interpretation des Geschehens bekommt der Leser also von den fiktiven Gestalten selbst. Die Neigung zu einer bestimmten »platonisierenden« Seh- und Denkweise, zur Betrachtung einzelner Dinge als Chiffren bzw. Vertreter des Allgemeinen, Ideellen, findet man also auch bei den fiktiven Personen des Romans; aber gleichzeitig erscheinen ihre Deutungsperspektiven als eigentümlich und beschränkt, die Interpretationen verschiedener Personen haben keine absolute Gültigkeit, und sie stehen oft zueinander im Widerspruch. Der menschliche Charakter der Interpretationen wird gezeigt: es wird dem Leser der Zugang zu einer thematisch-ideellen Ebene gezeigt, aber zu keiner absolut gültigen Welt der Ideen. Es gibt also drei zusammengehörige Mittel, durch die der Leser zur Entdeckung thematisch-ideeller Bedeutungen geleitet wird: Wiederholung, 9

Kristiansen: Unform — Form — Überform, S. 14.

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Verbindung und Deutung von jemandem in der fiktiven Welt oder vom Erzähler; die intertextuellen Anspielungen (»Zitate«) kommen als viertes dazu. Der Prozeß führt aber nicht zur Entdeckung eindeutiger (»allegorischer«) Verhältnisse zwischen den Einzelheiten der fiktiven Welt und den ideellen, thematisch-motivischen Bedeutungen. Alan D. Lattas Aufsatz zur »symbolischen Struktur« des Zauberbergs behandelt einleuchtend diesen Aspekt der thematischen Sinnkonstituierung. Er stellt fest, daß das Verhältnis zwischen dem »Symbol« X und dem »symbolischen Referenten« Y, d.h., der konkreten Sache und dem ideellen Gehalt, nicht immer so einfach ist, daß ein X immer auf ein Y hinweist oder dies »bedeutet«. Im Zauberberg kommt es häufig vor, daß ein Ding mehrere Bedeutungen hat; z . B . ein Pilz kann sowohl Sexualität als Tod »bedeuten«, d. h., ein X kann auf mehrere Y s hinweisen. Umgekehrt können verschiedene Dinge der realen Welt auf denselben ideellen Gehalt hinweisen: zum Beispiel der Sarg, der Bobschlitten, die Wachsfarbe und der Begriff >Uberform< verweisen alle auf den Tod; also mehrere X e können ein gemeinsames Y haben.' 0 Latta stellt auch fest, daß ein Thema oft durch ein Gegenthema ergänzt w i r d . " Gegensatzpaare sind z.B. Leben und Kunst, Trieb und Geist. Solchen Polaritäten entsprechend können auch einzelne Menschen der fiktiven Welt als Gegensatzpaare erscheinen: so z . B . vertritt Settembrini die humanistische Aufklärung und Madame Chauchat deren Gegensatz, Trieb und Auflösung aller Formen. Aber die verschiedenen Themen können auch kontinuierliche Skalen bzw. »spectra« (Latta) bilden, wie im Zauberberg die Themen >Unform< — >Form< - >Überform