Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte: unter Berücksichtigung von verfassungstheoretischen und massenpsychologischen Aspekten [1 ed.] 9783428451258, 9783428051250


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German Pages 189 Year 1982

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Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte: unter Berücksichtigung von verfassungstheoretischen und massenpsychologischen Aspekten [1 ed.]
 9783428451258, 9783428051250

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ALEXANDER P. KOSTARAS

Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte

Sc h rift e n zum Strafrecht

Band 46

Zur strafrechtlichen Problematik der Demonstrationsdelikte unter Berücksichtigung von verfassungstheoretischen und massenpsychologischen Aspekten

Von

Dr. Alexander P. Kostaras

DUNCKER & HUMBLOT I

BERLIN

Alle Rechte vorbehalten &; Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1982 bei Berliner Buchdruckerei Union GmbH., Berlin 61 Printed in Germany

© 1982 Duncker

ISBN 3 428 05125 4

Meinen Eltern Panajotis und Dimitra in Dankbarkeit gewidmet

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1981 von der Juristischen Fakultät der Universität München als Dissertation angenommen. Gesetzesänderungen - sehr häufig im Bereich des Demonstrationsstrafrechts - Rechtsprechung und Literatur sind bis einschließlich Januar 1981 berücksichtigt. Zweck dieser Arbeit ist die kritische Untersuchung der vielfältigen strafrechtlichen Probleme, die sich durch die "Entgleisung" einer Demonstration ergeben. Verfassungstheoretische, massen- und sozialpsychologische Gesichtspunkte ergänzen die Untersuchung und ermöglichen eine globale Betrachtung von Demonstrationen. Ich erlaube mir hier den Gedanken, das Versammlungsgrundrecht mit einem "Messer" zu vergleichen; damit kann man - je nach dem Gebrauch - entweder die Fangarme der Ungerechtigkeit oder die "Kehle" der Demokratie durchschneiden. Das Erlebnis, letztere nicht selten mit blutigem Gesicht zu sehen, ,ist sehr bitter. Blutige Auseinandersetzungen bei der Praktizierung des Demonstrationsrechts werden nur dann vermieden, wenn Demonstranten und Polizei ihr gegenseitiges Vorurteil preisgeben und sich nicht als Gegner, sondern als Partner für die Aufrechterhaltung und Innovation der Institutionen der Demokratie sehen. Meinem hochverehrten Lehrer und Doktorvater, Herrn Professor Dr. Dr. h. c. Arthur Kaufmann schulde ich in vielfacher Hinsicht herzlichen Dank; durch seine Ermutigung, seine wertvolle Hilfe, seine Anregungen und seine verständnisvolle Betreuung hat er zum Zustandekommen dieser Dissertation beigetragen. Danken möchte ich auch dem wissenschaftlichen Assistenten der Universität München, Herrn Dr. Ulfrid Neumann, der durch seine anregende Kritik mich an vielen Stellen zur Prüfung und bisweilen auch ~ur Korrektur des von mir bezogenen Standpunkts veranlaßt hat. Besonderer Dank gilt meiner Frau, die mir während der ganzen Zeit der Arbeit und zuletzt auch bei den Korrekturen geholfen hat. Karlsruhe, Februar 1982

Alexander P. Kostaras

Inhaltsverzeichnis Einleitung Erster Teil

Verfassungstheoretische Grundproblematik der Versammlungsfreiheit - Massen- und sozialpsychologische Betrachtung der Demonstrationen Erstes Kapitel

Die Versammlungsfreiheit in ihrer gesdlidltlichen Entwicklung und ihre Konzeption unter dem Bonner Grundgesetz 1. Geschichtliche Entwicklung ........................................

19

H. Die politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit und der Charakter des Versammlungsgrundrechts ...................... 21 H1. Die Bestimmungen des Art. 8 GG - Versammlungen in geschlossenen Räumen - Versammlungen unter freiem Himmel - Versammlungs- und Demonstrationsbegriff ................................ 24 IV. Die Schrankenproblematik der Versammlungsfreiheit ..............

28

A. Die Gewährleistungsschranken der Friedlichkeit und der Waffenlosigkeit des Art. 8 Abs. 1 GG ..................................

32

B. Die Vorbehalts schranke des Art. 8 Abs. 2 GG ....................

35

V. Der besondere Charakter der Spontandemonstration ..............

36

VI. Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung als Begleitbegriffe der Versammlungsfreiheit ............................................ 37 A. Die öffentliche Sicherheit ......................................

38

B. Die öffentliche Ordnung ........................................

39

Zweites Kapitel

Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie I. Die Massenpsychologie und die Lehre Le Bons ....................

42

A. Der Massebegriff ..............................................

44

B. Masse und Menge

46

Inhal tsverzeichnis

10

H. Wirkung und Kraft der Suggestion innerhalb der Masse

47

III. Die Gefährlichkeit der Masse ......................................

49

IV. Kritik der Le Bonschen Lehre mit Bezug auf die heutigen Demonstrationen .............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

V. Auf der Suche nach den Gründen der heutigen Unruhen - Soziologische und Sozialpsychologische Betrachtung von Demonstrationen ..

53

A. Der politisch bewußte Bürger und die Inanspruchnahme seiner Rechte in der heutigen Gesellschaft ............................ 53 B. Die Studentenbewegung und die Verneinung der etablierten Autorität .................. ... ... . ....... ....... .. . . .. ... ..... .. . ..

55

C. Anarchismus und die provokative Rolle radikaler Gruppen innerhalb der politischen Demonstration .............................. 59

Zweiter Teil

Demonstrationstäter und Strafrecht

Erstes Kapitel Die Gewalt als zentrales Problem bei den Demonstrationsdelikten - Gewalt und Gewalttätigkeiten 1. Allgemeines

62

II. Der Gewaltbegrüf ................................................ A. Vis absoluta -

63

Vis compulsiva .................................. 71

B. Gewalt an dritte Personen -

Gewalt gegen Sachen............

74

HI. Der Begriff von "Gewalttätigkeiten" ..............................

76

Zweites Kapitel Demonstrationstatbestände im einzelnen 1. Allgemeines

80

H. Typische Demonstrationstatbestände im StGB und im VersG ........

81

A. Der Landfriedensbruch § 125 StGB ..............................

81

B. Der schwere Hausfriedensbruch § 124 StGB ......................

85

C. Verhinderung oder Störung von Versammlungen oder Aufzügen § 21 VersG .................................................... 89 D. Widerstand gegen den Leiter oder Ordner einer Versammlung § 22 VersG .................................................... 90 E. Verwendung von bewaffneten Ordnern § 24 VersG ..............

91

Inhaltsverzeichnis

11

F. Abweichungen bei der Durchführung einer Versammlung unter freiem Himmel oder eines Aufzuges § 25 VersG ..................

92

G. Durchführung von verbotenen oder Fortsetzung von aufgelösten Versammlungen oder Aufzügen - Strafbarkeit der Nichtanmeldung § 26 VersG .............................................. 93 H. Bewaffnete Versammlungsteilnehmer § 27 VersG ................ IH. Ordnungswidrigkeiten

94

............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

94

A. Unerlaubte Ansammlung § 113 OWiG ..........................

94

B. Öffentliche Aufforderung zu Ordnungswidrigkeiten § 116 OWiG 97 C. § 29 VersG .................................................... IV. Allgemeine Tatbestände mit demonstrationsbezogenem Charakter..

97 98

A. Der Nöti.gungstatbestand § 240 StGB insbesondere

102

B. Das Problem der Güter- und Interessenabwägung

105

V. Konkurrenzprobleme .............................................. 107

Drittes KapiteL Demonstrationsdelikte und Rechtfertigungsgründe 1. Allgemeines

...................................................... 111

H. Demonstrationsdeliktische Probleme vom Standpunkt der positivrechtich anerkannten Rechtfertigungsgründe ...................... 111 IH. Die Wahrnehmung berechtigter Interessen als allgemeiner Rechtfertigungsgrund? ...................................................... 115

Viertes KapiteL Spezifische demonstrationsdeliktische Irrtumsprobleme 1. Allgemeines

...................................................... 122

H. Der Irrtum über die ..Rechtmäßigkeit" der Diensthandlung beim Widerstand gegen die Staatsgewalt § 113 Abs. 4 StGB ................ 122 IH. Irrtumsprobleme mit Bezug auf §§ 111, 240 Abs. 2 StGB und § 113 OWiG ............................................................ 129 IV. Das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG als vermeintlicher Rechtfertigungsgrund bei Demonstrationsausschreitungen und andere Probleme des Irrtums über Rechtfertigungsgründe .................... 132 V. Das Problem der Begründung des Unrechtsbewußtseins bei den in Gemütserregung begangenen Demonstrationsdelikten und die Frage der Behandlung des Überzeugungstäters nach der Verbotsirrtumslehre .............................................................. 135

12

Inhal tsverzeichnis Fünftes Kapitel

Beteiligungsformen bei den Demonstrationsdelikten I. Allgemeines

...................................................... 140

11. Täterschaft - Mittäterschaft - Der eigentümliche Mittäterschaftsbegriff der §§ 124, 125 StGB ...................................... 142 111. Teilnahme im engeren Sinne ...................................... 144 A. Anstiftung .................................................... a) Das Verhältnis der "Anstiftung" des § 26 StGB zu der "Aufforderung" des § 111 StGB .................................. b) Das Verhältnis der "Anstiftung" zu der "Einwirkung" des § 125 StGB ...................................................... c) Das Verhältnis der "Aufforderung" im § 111 StGB zu der "Einwirkung" des § 125 StGB ..................................

145 145 149 150

B. Beihilfe ........................................................ 151 IV. Abgrenzungsprobleme

153

V. Mehrfache Beteiligung

154

VI. Exzeß

155 Sechstes Kapitel

Schuldfähigkeit von Demonstrationstätern nnd Strafzumessungsprobleme I. Schuldfähigkeit .................................................... 157 11. Strafzumessungsprobleme

161

Exkurs

Die besondere Problematik der Sitzdemonstrationen

166

Literaturverzeichnis

179

Abkürzungsverzeichnis AG a.M. A.T. B.T. BGH BVerfG BVerwG DÖV DRiZ DVBI GA GG GR GS h.L. h.M. JA JR JuS JZ LG LK MDR NJW Ndrschr OLG OWiG RG RGBI RVG SK StAG StGB StpO Strafr. Abh. VersG WaffG ZRP ZPO ZStW

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Einleitung Demonstrationen gewinnen heute immer mehr an aktueller Brisanz nachdem Gruppen protestierender Menschen - meist Jugendliche das Bild des Alltags, sei es nun in Kalkar oder in Brokdorf, in Gorleben oder in vielen Großstädten prägen. Ihr gemeinsames Ziel ist es, ihre eigenen Ansichten der Öffentlichkeit darzustellen. Manchmal wird dieses Vorhaben mit der überzeugenden Kraft der geistigen Argumentation angestrebt, manchmal jedoch wird hierzu auch Gewalt gebraucht. Das gewalttätige Vorgehen stellt uns vor die Notwendigkeit, das Problem der Demonstrationen auch aus dem Blickwinkel des strafrechtlichen Schutzes der Rechtsgüter zu betrachten, die durch die Durchführung der Demonstration verletzt oder gefährdet werden können. Eine Lösung zum Problem des strafrechtlichen Schutzes von Rechtsgütern Dritter oder der Allgemeinheit wird nicht befriedigend zumindest aber einseitig - sein, wenn dabei nicht auch das Grundrecht des Art. 8 GG berücksichtigt wird, das mit diesem rechtsgutverletzenden Verhalten in Zusammenhang steht. Die optimale Kombination der Gewährleistung der verfassungsmäßigen Ausübung des Versammlungsgrundrechts mit dem strafrechtlichen Schutz von Rechtsgütern ist und muß die Hauptsorge des heutigen und des künftigen Gesetzgebers und Richters in dieser Angelegenheit sein. Das Problem ist nicht neu. Es ist ein grundsätzliches Problem des Rechts schlechthin. Neu ist nur die Weise wie sich dieses Problem der heutigen politisch engagierten Massengesellschaft stellt. Keine andere als die demokratische Gesellschaftsform hat je mehr Gelegenheiten für derartige politisch explosive Demonstrationen, von deren rechtlicher Würdigung die Aufrechterhaltung der Rechtsstaatlichkeit unserer pluralistischen Gesellschaft abhängt, geboten. Wenn man darüber hinaus bedenkt, daß die Kontrolle der praktischen Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit in bestimmten kritischen Situationen (beispielsweise kurzfristige Verbote und insbesondere Auflösungsverfügungen von Demonstrationen) nicht in den Händen der Justiz, sondern der Polizei liegt, kann man leicht verstehen, wie schwierig das Problem der rechtlichen Gesamtwürdigung von Demonstrationen angesichts der konfrontierenden oft mit

16

Einleitung

Vorurteilen versehenen Haltung VOn Polizei einerseits und Demonstranten andererseits zu lösen ist. Es ist daher wichtig, sich auch mit der verfassungs rechtlichen Seite dieses Problems auseinanderzusetzen, um die Funktion, den Charakter und auch die rechtlichen Grenzen des Art. 8 GG zu verstehen. Es muß sowohl den Demonstranten klar sein, daß sie sich außerhalb des verfassungsmäßig garantierten Bereichs nicht betätigen dürfen, wie auch dem Gesetzgeber und dem Strafrichter bewußt sein muß, daß sie ihre strafrechtliche Kompetenz nicht innerhalb des verfassungsrechtlichen Schutz raums wahrnelunen dürfen. An der Textstelle über die Psychologie der Massen und die Sozialpsychologie wird eine Analyse der den Demonstrationsdelikten zugrunde liegenden massen- und sozialpsychologischen Vorstellungen vorgenommen.

Die Behandlung der psychologischen Gesetze, die das Verhalten des einzelnen in der Anonymität der "Masse" bestimmen, bereitet den Boden für die Behandlung der Frage der Schuldfähigkeit von Demonstrationstätern. Die Klärung dann der Begriffe "Masse" und "Menge" stehen ebenfalls in Zusammenhang mit den Demonstrationstatbeständen, denn in vielen Demonstrationsdelikten wird von einer "Menschenmenge" gesprochen, z. B. §§ 124, 125 StGB. Es muß also auch deren Begriff erklärt und der Unterschied vom "Massenbegriff" unterstrichen werden. Die Ausführungen zu der Wirkung und der Kraft der Suggestion in der Masse stehen ebenfalls in Zusammenhang mit der Frage der Schuldfähigkeit bei Demonstrationsausschreitungen. Die abschließende Kritik an der Le Bonschen Lehre bringt die, nach Meinung des Verfassers, wichtigsten psychologischen Gesichtspunkte hervor (z. B. Verlust des Gefühls der Verantwortlichkeit), die sowohl vom Strafgesetzgeber wie auch vom Strafrichter berücksichtigt werden müssen. Nicht ausgeklammert werden darf auch die Suche nach den Gründen, die den heutigen Bürger und insbesonders den Jugendlichen zum Protestverhalten treiben, das manchmal, wie erwähnt, auf Grund von Gewalttätigkeiten ein strafrechtliches Nachspiel hat. Die zutreffenden Ausführungen nehmen zwar keinen unmittelbaren Bezug auf die rechtsdogmatischen Probleme der Demonstrationsdelikte, sie geben aber deren soziologische und sozialpsychologische Ralunen, die nicht ganz ohne irgend ein Interesse für die strafrechtliche Behandlung von Demonstrationstätern ist, (z. B. Strafzumessungsprobleme). Von diesem Aspekt aus sind auch alle Ausführungen des ersten Teils als Nebengedanken zur strafrechtlichen Hauptproblematik zu verstehen.

Einleitung

17

Im strafrechtlichen Hauptteil der Arbeit werden die möglichen sich bei den Demonstrationsdelikten ergebenden Probleme behandelt, wobei strafrechtsdogmatische und wo nötig auch rechtspolitische Ansichten bei den Lösungsversuchen zur Sprache kommen. Die Begriffe "Gewalt" und "Gewalttätigkeiten" gehen mit vielen Demonstrationsdelikten einher; ihre Klärung hat nicht bloß theoretische Bedeutung, sondern hilft auch bei der richtigen Bewertung und Anwendung dieser oder jener Vorschrift. Kennzeichnend ist hier das Problem der strafrechtlichen Qualifizierung von Sitzdemonstrationen hinsichtlich der Anwendung der Nötigung im § 240 StGB oder des Landfriedensbruchs im § 125 StGB - selbstverständlich nur für diejenigen, welche Strafwürdigkeit in einem solchen Verhalten von Demonstranten erblicken. Die häufigsten in Demonstrationen vorkommenden Delikte werden in der Arbeit in Deliktsgruppen eingeordnet, wobei das Hauptgewicht bei der Behandlung des Themas auf die typischen Demonstrationstatbestände im Strafgesetzbuch und im Versammlungsgesetz fällt. Hier vor allem § 124 StGB und insbesondere der allerwichtigste Landfriedensbruchparagraph § 125 StGB, der die ganze Problematik der Arbeit durchläuft. Vom Gesichtspunkt der allgemeinen Tatbestände werden in die Diskussion manche Delikte mit demonstrationsbezogenem Charakter herangezogen; zu nennen sind hier vor allem der Widerstandsparagraph § 113 StGB und der Nötigungstatbestand § 240 StGB. Im Rahmen des § 240 StGB wird weiterhin das Problem der Güterund Interessenabwägung und die zutreffenden Probleme behandelt, welche die Verwerflichkeitsklausel des § 240 Abs. 2 vorbringt. Unter dem Aspekt der Rechtfertigungsgründe werden bestimmte Verhaltensweisen von Demonstranten nicht nur mit Bezug auf die positiv-rechtlich anerkannten Gründe zur Aufhebung der Rechtswidrigkeit der Tat, sondern auch mit Bezug auf die Möglichkeit einer analogen Anwendung de lege lata oder der Normierung de lege ferenda eines allgemeinen Rechtfertigungsgrundes, sei es in der Form der Wahrnehmung berechtigter Interessen, in der Form der Sozialadäquanz oder des Prinzips der Güterabwägung, betrachtet. Es wird sehr oft behauptet, daß manche Demonstrationshandlungen rechtlich und sozialethisch durchaus nicht unredlich seien und daß die existierenden Rechtfertigungsgründe nicht imstande seien, auch diese Handlungen zu umfassen, nachdem sie auf Abwehr und Sicherung des Bestehenden ausgerichtet seien und ihnen das dynamische Element der Schaffung und Durchsetzung neuer Werte fehle, sie also nur unzureichend die 2 Kostaras

18

Einleitung

Möglichkeit böten, die im Recht auftauchenden Spannungen zwischen Beharrungs- und Wandlungstendenzen zu regulieren und die rechtliche Beurteilung schrittweise den Bedürfnissen und Wertvorstellungen der jeweiligen Zeit anzupassen. Nicht weniger problematisch ist der Begriff der "Rechtmäßigkeit der Amtshandlung", welcher sowohl hinsichtlich der Anwendung des Widerstandsparagraphen § 113 StGB, wie auch hinsichtlich der Interpretation von Strafvorschriften des Versammlungsgesetzes in Erscheinung tritt. Das Problem der "Rechtmäßigkeit der Amtshandlung" wird weiterhin auch in Zusammenhang mit Irrtumsproblemen betrachtet, denn nicht selten stellt sich die Frage der Qualifizierung des Irrtums über diese "Rechtmäßigkeit" . Inmitten der heiklen Irrtumsproblematik wird dann das Problem der Begründung des Unrechtsbewußtseins bei üblicherweise in Gemütserregung begehenden Straftaten während einer Demonstration behandelt. Vom Standpunkt der Irrtumslehre werden dann auch die Irrtumsprobleme mit Bezug auf die §§ 111, 240 Abs. 2 StGB und § 113 OWiG dargestellt, sowie das Widerstandsrecht des Art. 20 Abs. 4 GG als vermeintlicher Rechtfertigungsgrund geprüft. Mit der Prüfung der Beteiligungsformen und ihrer verwickelten Probleme bei den typischen Demonstrationsdelikten, welche als Konvergenzdelikt.e erscheinen, wird in der Arbeit die Beziehung mehrerer Demonstrationstäter zueinander, sowie gegenüber Dritten strafrechtlich geklärt. Besondere Beachtung finden in diesem Zusammenhang die Probleme, die sich aus der einheitstäterschaftlichen Regelung der §§ 124 und 125 StGB ergeben, sowie das Verhältnis des Anstiftungsparagraphen § 26 StGB zum Aufforderungsparagraphen § 111 StGB und zum § 125 Abs. 1, 2. Alt. StGB (Einwirkung auf die Menschenmenge). Die ganze Problematik der Demonstrationsdelikte wird mit der Behandlung der Frage der Schuldfähigkeit von Demonstrationstätern und von Strafzumessungsproblemen insbesonders in bezug auf den überzeugungstäter abgeschlossen. Als Exkurs wird zuletzt die besondere Problematik der Sitzdemonstrationen behandelt, wobei geprüft wird, ob diese eigentümlichen Demonstrationen den Gewaltcharakter aufweisen und ob sie "verwerflich" im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB sind.

Erster Teil

Verfassungstheoretische Grundproblematik der Versammlungsfreiheit - Massen- und sozial psychologische Betrachtung der Demonstrationen Erstes Kapitel

Die Versammlungsfreiheit in ihrer geschichtliche~ Entwicklung und ihre Konzeption unter dem Bonner Grundgesetz I. Geschichtliche Entwicklung Die erste positivrechtliche Gewährleistung der Versammlungsfreiheit! geht auf den Unabhängigkeitskampf von Nord Amerika! zurück. Durch die französische Revolution3 verbreitete sich dann die Forderung nach einem Recht auf freie Versammlung auch in Deutschland, doch das politische Klima begünstigte solche Freiheitsforderungen noch nicht. Das preußische Edikt vom 20. Oktober 1798 erklärte in § 2 hartnäckig Gesellschaften und Verbindungen für verbotene, "deren Zweck, Haupt- oder Nebengeschäft darin besteht, über gewünschte oder zu bewirkende Veränderungen in der Verfassung oder in der Verwaltung des Staates, oder über Mittel, wie solche Veränderungen bewirkt werden könnten, oder über die zu diesem Zweck zu ergreifenden Maaßregeln, Berathschlagungen, in welcher Absicht es sey, anzustellen"'. Ferner wurde der Versuch der "Stiftung" oder der "Theilnehmung" an solchen Verbindungen mit langjährigem "Festungsarrest" oder 1 Ausführliche historische Darstellung bei Küchenhofl, Die Geistesgeschichtliche Entwicklung der Vereins- und Versammlungsfreiheit, Schriften der Niedersächsischen Landeszentrale für politische Bildung, Bd. 2, S. 5, Hannover 1966; Loening, Vereins- und Versammlungsfreiheit, HStW Bd. VIII, 1928, S. 542 ff.; QuiZisch, Die demokratische Versammlung, Berlin 1970, S. 29. 2 Vgl. 1. Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten von 1791

"Congress shall make no law •.. abridging .•. the right 01 the people pecable to assemble", sowie die Verfassungen von Pensylvania (Art. 16), North Caro-

lina (Art. 18), Massachusetts (Art. 19), Maryland (Art. 8), Nachweise bei

QuiZisch, S. 40.

3 Vgl. Art. 62 des Gesetzes vom 17. Dezember 1789, Nachweise bei Quilisch, S.41. , Text bei Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. I, S. 58 u. 60.

2'

20

1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

Zuchthaus bestraft (§§ 5 und 7). Vom gleichen freiheitsfeindlichen Geist sind auch die im Jahre 1819 publizierten sog. "Karlsbader Beschlüsse"5, deren Ziel die Burschenschaften in den deutschen Universitäten waren. Es ist also nicht zu verwundern, daß die inmitten eines solchen politischen Klimas erscrnenenen ersten deutschen Verfassungen von Bayern (1818), Baden (1818), Württemberg (1819), Hessen (1831) und Sachsen (1831)G keine Versammungsfreiheit garantierten. Nach einer Welle von allgemeinen Unruhen wurden im Jahre 1832 die Bundesbeschlüsse, "über Maßregeln zur Aufrechterhaltung der gesetzlichen Ordnung und Ruhe", erlassen7 • Danach durften "außerordentliche Volksversammlungen und Volksfeste in keinem Bundesstaat ohne vorausgegangene Genehmigung der kompetenten Behörde stattfinden", während auch bei erlaubten Volksfesten streng verboten war, daß "öffentliche Reden politischen Inhalts gehalten werden". In solcher Atmosphäre verlief die Zeit bis 1848. In diesem Jahr entschloß sich der Bundestag, unter dem wachsenden Druck oppositioneller Stimmen, den sog. "Märzforderungen"8 Rechnung zu tragen. Eine Reihe von freiheitlichen Maßnahmen sollte für die Liberalisierung der obrigkeitlichen Ordnung sorgen. Durch den Bundesbeschluß9 vom 2. April 1848 wurden alle seit dem Jahre 1819 erlassenen Ausnahmegesetze des Deutschen Bundes aufgehoben. Das Reichsgesetz vom 27. Dezember 1848 vermochte dann die Grundrechte des deutschen Volkes "im ganzen Umfange des deutschen Reiches" in Kraft zu setzen10• Drei Monate später erschien die "Paulskirchenverfassung", deren Art. VIII § 161 die Bestimmungen des erwähnten Reichsgesetzes wiederholte: "Die Deutschen haben das Recht, sich friedlich und ohne Waffen zu versammeln; einer besonderen Erlaubnis dazu bedarf es nicht. Volksversammlungen unter freiem Himmel können bei dringender Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit verboten werden ll ." Allerdings erlangte diese Verfassung nie positivrechtliche Geltung, ihre Bestimmungen aber über die Versammlungsfreiheit wurden mit nur kleinen sprachlichen Veränderungen von der Weimarer Verfassung und später vom Grundgesetz adoptiert. Huber, Dokumente, S. 90 mit Anmerkung. Huber, Dokumente, S. 141 f., 157 f., 171 f., 201 f., 223 f. 7 Text bei Huber, Dokumente, S. 119 u. 120. 8 Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. H, S. 505 f. 9 Huber, Dokumente, S. 268 mit Fußn. 8. 10 Huber, Dokumente, S. 318 mit Fußn. 12. 11 Text bei Huber, Dokumente, S. 320.

5

6

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

21

Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wird von einem Reaktionismus charakterisiert, der auf die Beseitigung der Errungenschaften der bürgerlichen Revolution zielt. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts wird wieder ein liberaler Wind wehen. Das am 19. April 1908 erlassene Reichsvereinsgesetz12 vereinheitlicht das Versarnmlungsrecht in ganz Deutschland und der Aufruf des Rates der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 gibt ihm eine demokratische Orientierung, indem erwenn auch mit nicht geringen an der Verabsolutierung anknüpfenden Gefahren für eine schrankenlose Freiheit - anordnete: "Das Vereinsund Versarnmlungsrecht unterliegt keiner Beschränkung, auch nicht für Beamte und Staatsarbeiter13 ." Voll von Demokratieversprechungen begann schließlich die Weimarer Republik ihre schicksalhafte Laufbahn. Im Art. 123 der Weimarer Reichsverfassung14 tauchte eine schon seit 1849 bekannte Formulierung für die Versammlungsfreiheit auf. Doch das Ende der Demokratie kündigte sich schnell an, als der Reichspräsident oft nach dem ihm eingeräumten Notverordnungsrecht griff. Von dem Mißbrauch dieses Notverordnungsrechts wurde auch die Versammlungsfreiheit getroffen. Als dann die Nationalsozialisten an die Macht kamen, sorgten sie dafür, daß durch die Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 193311l neben den anderen Grundrechten auch die Versammlungsfreiheit in die Konzentrationslager geschickt wurde; nur nazistische Kundgebungen blieben frei, um den "Führer" dabei zu bejubeln, wie er Freiheit und Menschenwürde stranguliert. 11. Die politische und soziale Funktion der Versammlungsfreiheit und der Charakter des Versammlungsgrundrechts Bevor wir uns mit der Interpretation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen befassen, wollen wir an dieser Stelle gewisse Gedanken der politischen und sozialen Funktion der Versammlungsfreiheit, sowie dem Charakter des Versammlungsgrundrechts widmen. Es gehört zum Alltag, daß Demonstrationen immer irgendwo auftreten. Volksmengen, meistens politisch engagiert, versuchen am aktuellen Ort oder auf den verkehrsreichen Straßen der Großstadt die Öffentlichkeit anzusprechen. Anhänger der Idee des Weltfriedens oder 12 13 14 15

Huber, Verfassungsgeschichte, Bd. II, S. 374 f. RGBl, S. 1313. RGBl, S. 1383. Text bei Hofer (Hrsg.), Der Nationalsozialismus, Dokumente, 1975, S. 53,

54. Die Verletzung dieser Verordnung wurde mit schweren Strafen belegt,

die bis zur Todesstrafe reichten.

22

1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

der Unverletzlichkeit der Menschenrechte, Bürgerinitiativen für diese oder jene Angelegenheit, Atomenergiegegner, unzufriedene Arbeitnehmer, Reformisten, Studenten, die sich beim Studium benachteiligt fühlen oder sich mit der Politik des Establishments nicht einverstanden erklären. Vermittels der Demonstration gelingt es dem heutigen Menschen, Themen und Probleme, die sonst bei dem literarisch-politischen Interesse des Zeitungslesers kaum zu überleben vermochten, zur diskutablen Aktualität zu verwandeln. Politische und gesetzliche Maßnahmen oder Fehlentscheidungen der staatlichen Gewalt werden in Diskussion gestellt. Nicht im Parlament, sondern im demokratischen Forum der öffentlichen Meinung1t• Es wird zu Recht behauptet, daß eine Gesellschaft, die ihre Probleme offen diskutiert, imstande sei, sie auch zu lösen17• Diesem Zweck: dient die Versammlungsfreiheit, indem sie dem Staatsbürger die Möglichkeit bietet, Probleme aufzuwerfen und Lösungen vorzuschlagen. Ihre Funktion ist informativer und zugleich kritisch-konstituierender Natur. Sie eröffnet jedem die Möglichkeit, am komplexen Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes teilzunehmen. Sie ist eben Ausdruck und Realisierung des im Art. 20 Abs. 2 GG gelegten Prinzips der Volkssouveränität18 , nach dem der Volkswille den Willen des Staates bestimmt. Den Geschmack: einer Art direkter Demokratie gibt auch die Versammlungsfreiheit. Sie gewährt dem Bürger, was die heutige Demokratie in ihrer repräsentativen Form ihm entzogen hat, nämlich die ständige Unmittelbarkeit bei der Behandlung gemeinsamer Angelegenheiten. Die Stimmabgabe alle vier oder mehr Jahre muß den Bürger von jenen Interessen an der Gestaltung einer demokratischen menschenwürdigen Lebensform nicht entfremden. 18 Man nennt heute Demonstrationen "außerparlamentarische Opposition". Vgl. Ott, Das Recht auf freie Demonstration, S. 7; Denninger, Demonstrationsfreiheit und die öffentliche Ordnung in der rechtsstaatlichen Demokratie, Informationstagung für Richter und Staatsanwälte, Bad Homburg 1968, S. 6; ders., Zwölf Thesen zur Demonstrationsfreiheit, DRiZ 1969, S. 70; Dreher, Das 3. Strafrechtsreformgesetz und seine Probleme, NJW 1970, S. 1153 (1154); Heinitz, Demonstrationsfreiheit und Straftaten gegen die öffentliche Ordnung, Informationstagung, S. 17; Schwäble, Das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, Berlin 1975, S. 70. 17 Dietel / Gintzel, Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, Kommentar zum VersG, S. 1 u. Rdnr. 8 zu § 1 VersG. 18 Vgl. Gintzel, Demonstrationsfreiheit und polizeilicher Ordnungsauftrag, in: Demonstrationen, Aufruhr oder Element der Demokratie?, Bonn - Bad Godesberg 1969, S. 12; Ott (IV), S. 30.

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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über diese positive staatsaufbauende Funktion der Versammlungsfreiheit gibt es Übereinstimmung in der Literatur111, auch zwischen denen, die das Versammlungs recht nicht nur politisch in Anspruch nehmen. Die aktiv demokratische Funktion der Versammlungsfreiheit ist aber nun nicht die einzige. Die Versammlungsfreiheit hat richtiger und breiter gesehen auch persönlichkeits- und assoziationsverwirklichende Funktion in der Gemeinschaft20 • Der Mensch sei nicht ein in robinsonartiger Einsamkeit lebendes, sondern in eine Gemeinschaft hineingestelltes und auf sie angewiesenes Individuum!1. Das Versammlungsrecht ist demnach doppelwirkend. Es hat zugleich den demokratisch konstituierenden Charakter (status activus), aber auch den staatsabwehrenden und freiheitsschützenden Charakter (status negativus)22. Kern der Versammlungsfreiheit ist das Assoziationsbedürfnis des Menschen. Der status activus rückt in den Vordergrund und spielt die wichtigste Rolle bei den politischen Demonstrationen. Werden bei der Ausübung des Versammlungsrechts die Schranken des Art. 8 GG nicht respektiert, versteht es sich von selbst, daß die Versammlungsfreiheit ihre aufgezeigte konstruktive Funktion nicht mehr erfüllen kann. Ganz im Gegenteil übernimmt sie in diesem Fall eine negative, destruktive Funktion gegen die Institutionen der Demokratie. Gegen diese staatsabbauende Funktion der Versammlungsfreiheit ist es Aufgabe des Staates, sich in Wehr zu setzen.

19 Vgl. Denninger, Demonstrationsfreiheit und Polizeigewalt, ZRP 1968, S. 43; Gintzel, Das Demonstrationsrecht als Grundrecht, Die Polizei 1968, S. 213; Hannover, Demonstrationsfreiheit als demokratisches Grundrecht, Kritische Justiz 1968, S. 51; v. Hase, Probleme der Demonstrationsfreiheit, JA 1969, S. 25; Mangoldt I Klein, Das Bonner Grundgesetz, 2. Auf!. 1966, Anm. zu Art. 8 GG; v. Münch, Bonner Kommentar, 2. Bearbeitung 1964, Rdnr. 11 zu Art. 8; Maunz I Herzog I Dürig, Grundgesetzkommentar, Anm. 2 zu Art. 8. Schwäble, S. 71, betrachtet die Versammlungsfreiheit als Vehikel zur Übertragung von Gesellschaftskonflikten, während QuHisch, S. 150, die gruppenbildende und gruppenschützende Funktion der Versammlungsfreiheit betont. Es gehöre zu den Eigentümlichkeiten der modernen Massendemokratie, daß auch individuelle Interessen und Freiheitsrechte sich weiterhin nur kollektiv behaupten und durchsetzen ließen. 20 MüHer, Wirkungsbereich und Schranken der Versammlungsfreiheit im Verhältnis zur Meinungsfreiheit, Schriften zum öffentlichen Recht, Bd. 237, Berlin 1974, S. 48. 21 Maunz I Herzog I Dürig, Anm. 5 zu Art. 8 GG. 22 Vgl. JeUinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., Berlin 1914, S. 419 f.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

111. Die Bestimmungen des Art. 8 GG - Versammlungen in geschlossenen Räumen - Versammlungen unter freiem HimmelVersammlungs- und Demonstrationsbegriff Das Grundgesetz garantiert im Art. 8, in einer sprachverwandten Formulierung an seinen Vorläufern, d. h. Art. VIII § 161 der Paulskirchenverfassung und Art. 123 der Weimarer Reichsverfassung, die Versammlungsfreiheit als Grundrecht23 • Da wird der Begriff "Versammlung" gebraucht, dessen Definition aber nirgendwo vom positiven Recht gegeben wird. Der Gesetzgeber setzt diesen Versammlungsbegriff als bekannt voraus und er verwendet ihn als solchen. Ihn zu klären ist hauptsächlich Aufgabe der Rechtsprechung und der Literatur, in denen aber Unklarheit darüber herrscht. Die einen verengen den Versammlungsbegriff, indem sie Erörterung von öffentlichen Angelegenheiten als begriffsnotwendiges Merkmal verlangen24 • Die anderen erstrecken ihn auf jede zwischenmenschliche Zusammenkunft mit innerer und bewußter Verbindung der Versammelten am gemeinsamen Ort25 • Eine dritte Meinung!6 verlangt ge23 Art. 11 Abs. I der Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 20 Abs. I der Deklaration der Vereinten Nationen über die Menschenrechte, sowie Art. 18 der Berliner Landesverfassung gewährleisten die Versammlungsfreiheit als Menschenrecht. U Dietel I Gintzel, Kommentar zum VersG, Rdnr. 1 zu § 1 VersG; Füßlein, Vereins- und Versammlungsfreiheit, in: Neumann I Nipperdey I Scheuner, Die Grundrechte, Bd. II, S. 443; ders., Versammlungsgesetz, S. 22; Guradze, Demonstrationsfreiheit und Polizeigewalt, ZRP 1969, S. 6; Janknecht, Verfassungs- und strafrechtliche Fragen zu Sitzstreiks, GA 1969, S. 33; Mangotdt I Klein, Bd. I, S. 304; Potrykus, Grundfragen des Versammlungsrechts, Die Polizei 1964, S. 144; Sandweg, Ist Sitzdemonstration eine Versammlung?, DRiZ 1969, S. 74; Samper, Demonstrations- und Versammlungsrecht, Freudenstadt 1968, S. 18 f.; Trubel! Hainka, Das Versammlungsgesetz, Kommentar, Hamburg 1953, S. 11, 26, 67, 82. VgI. BVerwG, DRiZ 1969, S. 158; BVerwG, DÖV 1967, S. 350; BayObLG, NJW 1970, S. 479; OLG Hamburg, MDR 1965, S. 319; LG Karlsruhe, NJW

1967, S. 1490; AG Eßlingen, NJW 1968, S. 799. Z5 Maunz I Herzog I Dürig, Anm. 43 zu Art. 8; v. Münch, Bonner Kommentar, Rdnr. 22 u. 24 zu Art. 8; ders., Grundgesetzkommentar, Rdnr. 10 u. 12 zu Art. 8; MüHer, S. 49; Model I MüHer, Grundgesetz für die BRD, 8. AufI., München 1976, S. 133; Vogel, Demonstrationsfreiheit und ihre Grenzen, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte" 1968, BI. 26, S. 3 (8). 28 Bäumen, Sinn und Grenzen der Vereins- und Versammlungsfreiheit, Diss. Freiburg 1955, S. 7; Brinkmann, Grundrechtskommentar zum GG für die BRD, Bonn 1967, I 1 c, d; Hammann I Lenz, GG-Kommentar, NeuwiedBerlin 1970, B 5 zu Art. 8 GG; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der BRD, S. 166; Hoffmann, Inhalt und Grenzen der Versammlungsfreiheit nach dem GG, JuS 1967, S. 396; Mangoldt, Grundgesetz, Anm. 2 zu Art. 8; Maunz, Deutsches Staatsrecht, 22. Aufl., München 1978, S. 130; Ott (IV), s. 13; QuiUsch, S. 127 u. 170; Schmidt-Bteibtreul Klein, Kommentar zum GG, 2. AufI., Berlin 1970, Anm. 3 zu Art. 8; Stümper, Das polizeiliche Einschreiten gegen Men-

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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meinsame Erörterung oder Kundgebung von Angelegenheiten, egal ob es sich um öffentliche oder private handelt, und stellt heute die h. L. dar. Die erste Meinung sieht einen wichtigen Aspekt der Versammlungsfreiheit, nicht aber die ganze Breite des Problems. Sicherlich ist die geschichtliche Entwicklung der Versammlungsfreiheit mit dem Kampf um Freiheitsforderungen verbunden und wie damals so auch heute wird das Versammlungsrecht hauptsächlich als entscheidendes politisches Kampfmittel eingesetzt. Das bedeutet aber nicht mehr als eine Anerkennung seiner primären praktischen Funktionalität. Der Anspruch jedoch auf den alleinigen Schutz seiner politischen Erscheinungsformen scheint ungerechtfertigt zu sein. Überzeugender ist dabei auch nicht die h. L., trotz ihrer breiteren Auffassung. Aus diesen Gründen scheint m. E. die weite Interpretation des Versammlungsbegriffs, mit der Differenzierung des Ausschlusses der rein geselligen Veranstaltungen (Theater-, Konzert-, oder Sportveranstaltungen) richtiger zu sein. Die geselligen Veranstaltungen werden hier deshalb ausgeschlossen, denn sie stellen hauptsächlich nicht auf das "Sich-Versammeln" mit anderen ab, sondern auf die Unterhaltung der Beteiligten. Das Interesse an dem Theater- oder Konzertbesuch zieht primär das geistige Begehren des Individuums, unabhängig davon, ob andere mitmachen oder nicht. Die rein geselligen Veranstaltungen werden also nach Art. 2 und 5 GG, nicht aber nach Art. 8 GG geschützt. Damit ist allerdings das Problem des Versamm1ungsbegriffs noch nicht gelöst. Streitigkeiten bestehen auch hinsichtlich der Zahl der Versammlungsteilnehmer. Die Unklarheit in diesem Thema bestätigt eine seit 1890 verkündete Entscheidung des Reichsgerichts. Es müsse danach eine nicht zu klein an Zahl bemessene Vielheit von Menschen geben27 • Diese Bestimmung überzeugt nicht, denn sie ist sehr abstrakt. Wann gibt es eigentlich eine nicht zu klein an Zahl bemessene Vielheit? Das Problem bleibt also auch nach dieser Entscheidung wie vor bestehen und stellt sich wiederum die Frage nach der Zahl der eine Versammlung ausmachenden Personen. Auf diese Frage gibt es so viele Antworten, wie auch Autoren. Der eine führt aus, es müßten 3 - 7 sein28 , der andere erwidert, in Ausnahschenansammlungen, DÖV 1960, S. 117; Wimmer, Versammlungsfreiheit contra Wegerecht, MDR 1964, S. 281. Schwäble, S. 98, vertritt die Meinung, vom Art. 8 GG würden solche Zusammenkünfte geschützt, die "typischerweise oder im Einzelfall der Meinungsbildung dienen"; ähnlich auch Frowein, Versammlungsfreiheit und Versammlungsrecht, NJW 1969, S. 1082. 27 RGSt 21, 72 f. 28 So 'V. Münch, GG Kommentar, Rdnr. 9 zu Art. 8. Er unternimmt den Versuch einen Vergleich zum Verein zu machen. Versammlungen, behauptet

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

mefällen genügten!9 3 - 5, andere3il beharren auf 3 Personen. Viele dieser Meinungen sind unbegründet und deswegen willkürlich, andere suchen nach Argumenten und sind nicht überzeugend. Konsequenter und überzeugender argumentiert die Meinung, die sich mit der Zusammenkunft mindestens zweier Menschen begnügtlll. Nachdem erklärter Zweck der Versammlungsfreiheit auch die Persönlichkeitsverwirklichung in Gemeinschaft mit anderen ist, beginnt diese Gemeinschaftlichkeit schon beim Treffen zweier Menschen. Auch für die Anhänger des öffentlich-politisch bezogenen Versammlungsbegriffs und der h. L. müßte diese Reduzierung auf zwei Personen ihren Theorien nicht widersprechen. Gemeinsame Erörterung von öffentlichen Angelegenheiten oder solchen anderer Art gibt es schon, wenn zwei Menschen zusammenkommen. Massendeliktisch mag diese Annahme vielleicht etwas "leer" klingen, aber verfassungstheoretisch ist sie logisch und konsequent. Nach alledem ist Versammlung im Sinne des Art. 8 GG jede Zusammenkunft von mindestens zwei Menschen, die vom gemeinsamen Willen beseelt sind, beisammen zu sein. Art. 8 GG unterscheidet nun grundsätzlich zwischen Versammlungen in geschlossenen Räumen32 und solchen unter freiem Himmel33 dadurch,

daß er im Absatz 1 allgemein und vorbehaltlos das Recht auf friedliche und waffenlose Versammlung gewährleistet, während er im Absatz 2 von Versammlungen unter freiem Himmel spricht, die durch v. Münch, würden nicht immer, aber häufig von Vereinen abgehalten. Ein Verein werde in das Vereinsregister eingetragen, wenn er mindestens sieben Mitglieder habe. Die Rechtsfähigkeit werde dem Verein entzogen, wenn seine Mitgliederzahl unter drei absinke. Mithin genügten sicherlich sieben, wahrscheinlich aber schon drei Personen zur Erfüllung des Versammlungsbegriffs. Diese Gedankenführung reicht vielleicht aus für den Beweis der Rechtsfähigkeit eines Vereins, ist aber untauglich, den Begriff der Versammlung zu bestimmen, auch wenn letztere von einem Verein veranstaltet wird. Analogie hier übersieht die unterschiedliche rechtliche Gestaltung und die sozialpolitische Funktion beider Institutionen. Frowein, S. 1081. Brinkmann, Grundgesetzkommentar, lid, e; Füßlein, GR 11, S. 444; Potrykus (I), S. 144. 31 Dietel / Gintzel, Rdnr. 6 zu § 1 VersG; Maunz / Herzog / Dürig, Anm. 40 zu Art. 8; Ott (IV), S. 11. 29

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32 Geschlossener Raum sei gleichzusetzen mit überdachtem Raum, der auch nach den Seiten hin geschlossen sei, wobei keine völlig feste Abschließung nach außen notwendig sei, Füßlein, GR 11, S. 445 mit Fußn. 99. 33 Die Begriffe "Versammlung im geschlossenen Raum" und "Versammlung im Freien" decken sich nicht mit der entsprechenden Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Versammlungen. Es kann eine Versammlung im geschlossenen Raum öffentlich und eine Versammlung unter freiem Himmel privat sein.

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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Gesetz84 oder auf Grund eines Gesetzes35 beschränkt werden können. Diese unterschiedliche Betrachtungsweise des Versammlungs grundrechts bezüglich des Ortes, an dem es ausgeübt wird, erklärt sich aus ordnungspolizeilichen Gründen. Der Rahmen des geschlossenen Raums ist zu eng, als daß er eine Kollision mit unbestimmten Rechtsgütern anderer oder eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit einschließen könnte. Auch wenn es zu Rechtsverletzungen in einer Versammlung in geschlossenem Raum kommen würde, würde die zuständige Behörde ohne besondere Schwierigkeiten das Gesetz durchsetzen und die erschütterte Ordnung wiederherstellen. Ganz anders ist aber die Situation bei Versammlungen unter freiem Himmel. Im unbegrenzten Feld der öffentlichen Straßen und Plätze wird der politische Kampf ausgetragen, dessen scala unerschöpft vielschichtig ist. Sie fängt von der friedlichen Demonstration einiger z. B. Atomenergiegegner an und endet an der stürmischen Revolution kompromißloser Systemverweigerer. Auseinandersetzungen mit andersdenkenden, meistens politisch oppositionellen Gruppen, Konfrontation mit der Polizei, Inkaufnahme oder Beeinträchtigung von Rechtsgütern und Freiheiten anderer, das alles gehört zum Spektrum der Entgleisungsmöglichkeiten von Versammlungen unter freiem Himmel. Dieser Vielfalt von Erscheinungsformen und Einwirkungen des Versammlungsrechts ist sich der Grundgesetzgeber bewußt und weil er eine optimale Regelung des Problems der Versammlungsfreiheit wünscht, ermächtigt er das Gesetz bzw. den Rechtsanwender, diejenigen Maßnahmen im konkreten Fall zu treffen, welche das Recht auf freie Versammlung einerseits und die Interessen der Allgemeinheit und der Einzelnen andererseits in Übereinstimmung zu bringen. Ein bisher abwechselnd mit dem Begriff der Versammlung verwendeter Begriff kommt schließlich in Betracht: Die Demonstration. Sie steht im Mittelpunkt der Versammlungen unter freiem Himmel38 • Sowohl als stehende, wie auch als sich von Ort zu Ort fortbewegende Versammlung (Aufzug), drückt die Demonstration die öffentliche Seite des Versammlungsrechts aug81. Demonstrationen leben von der Öffentlichkeit. z. B. Bannmeilengesetz des Bundes und der Länder. Gemeint ist hier das VersG, das als Einführungsgesetz zu Art. 8 Abs. 2 GG am 24. 7.1953 erlassen wurde. 18 Merten, Gedanken zur Demonstrationsfreiheit, MDR 1968, S. 621 (622), meint, begrifflich seien Demonstrationen, ähnlich wie auch Versammlungen, in geschlossenen Räumen möglich. 37 Denninger, DRiZ 1969, S. 70; ders., ZRP 1968, S. 42; Gintzel (I), S. 213; v. Hase, S. 25; Ott (IV), S. 9. 84

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

Unter Demonstration wird demnach eine öffentliche Versammlung, meistens unter freiem Himmel, verstanden, die mit dem Zweck durchgeführt wird, der Öffentlichkeit eine bestimmte Meinung kundzugeben.

IV. Die Schrankenproblematik der Versammlungsfreiheit Daß die Versammlungsfreiheit, wie alle Grundfreiheiten, nicht unbegrenzt ausgeübt werden darf, erscheint mehr als selbstverständlich. Wo aber die Grenzen zwischen verfassungsgemäßer und unerlaubter Ausübung zu ziehen sind, ist keine leichte grundrechtstheoretische Aufgabe, zumal Art. 8 Abs. 2 GG keinen der Regelungsvorbehalte der übrigen Grundrechte enthält. Sollen vielleicht die Schranken anderer Grundrechte auf Art. 8 GG übertragen werden, etwa des Art. 2 Abs. 1 GG oder des Art. 5 Abs. 2 GG oder weiter des Art. 9 Abs. 2 GG? Und ist eine solche Schrankenkumulierung zulässig? Um die Beantwortung dieser Frage streiten längst Rechtsprechung und Literatur. Als herrschend kann man die Lehre betrachten, die sich für die analoge Anwendung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG einsetzt38 • Vereinzelt wird auch die Grenze der allgemeinen Gesetze aus Art. 5 Abs. 2 GG39 oder die Grenze des Art. 9 Abs. 2 GG~ für zutreffend angesehen. Nachstehend soll versucht werden, das Problem mit der Hoffnung auf einleuchtende Erläuterungen anzugehen. Zunächst ist davon auszugehen, daß der historische Grundgesetzgeber, als er sich mit der Verfassung des Art. 8 GG befaßte, aller grundrechtseinschränkenden Möglichkeiten bewußt war. Sowohl der verfassungsmäßigen Ordnung, wie auch der Rechte Dritter oder der allgemeinen Gesetze. Nicht weniger kannte er auch die Regelung des Art. 123 Abs. 2 der Weimarer Reichsverfassung, die sogar, wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, ein unmittelbares Verbot der Versammlungen im Freien vorsah. Das alles wußte der Verfassungsgeber und trotzdem bediente er sich im Art. 8 GG nicht dieser Schranken41 • Nicht etwa weil er die 88 Brinkmann, Grundgesetzkommentar, III c, b zu Art. 8; Dietel / Gintzel, Rdnr. 65 zu § 1 VersG; Maunz / Herzog / Dürig, Anm. 77 zu Art. 8; Maunz, S. 131; v. Münch, GG Kommentar, Rdnr. 28 zu Art. 8; ders., Banner Kommentar, Rdnr. 31 zu Art. 8; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Rdnr. 4 zu Art. 8 GG. 3D Guradze, S. 6; Hoffmann, S. 394; Janknecht, S. 34; Merten (I), S. 623; Ossenbühl, Versammlungsfreiheit und Spontandemonstration, Der Staat, 1971, S. 53 (61); Quilisch, s. 171. 40 Füßlein, Rechtliche Probleme der Versammlungsfreiheit, DVBI 1954, S. 554; Herzog, Die Einschränkung der Versammlungsfreiheit durch Gesetzgebung und Verwaltung, DVBl1968, S. 77. 41 Da das Grundgesetz jedem Grundrecht einen spezifischen Wirkungsbereich mit einer spezifischen Schrankenordnung zuweise, bezeichnet zu Recht MüHer, S. 122, die Schrankenmischung als contra constitutionem (Hervorhebung vom Verfasser).

1. Kap.:

Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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Ausübung der Versammlungsfreiheit beispielsweise gegen die Strafgesetze oder die Rechtsgüter anderer segnen wollte, sondern weil er, unter Beachtung ihrer speziellen Funktion, ein anderes Schrankensystem bevorzugte, das sich mehr auf den konkreten Fall bezog. Demnach soll die Kombination der Friedlichkeits- und der Waffenlosigkeitsschranke des Absatzes 1 zusammen mit der Vorbehaltsschranke des Absatzes 2 des Artikels 8 GG über den "Schlüsselparagraphen" § 15 des VersG zur verfassungsmäßigen Bewertung des konkreten Falles führen. Als Schranke der Versammlungsfreiheit wird dazu auch die sog. immanente Schranke42 behauptet. Diese Schranke ist aber eine selbstverständliche Schranke aller Rechte. Ihre Aufspürung soll jedoch unter Berücksichtigung des spezifischen Gehalts des Grundrechts erfolgen. Von diesem Aspekt aus soll auch die Schranke der Rechte Dritter betrachtet werden. Daß die Ausübung des Grundrechts in der Regel nur soweit gehen darf, daß sie keine Rechtsgüter Dritter verletzt, bedarf keiner besonderen verfassungstheoretischen Begründung. So berechtigt beispielsweise das Praktizieren der Versammlungsfreiheit nicht dazu, Kaufhäuser in Brand zu setzen oder Autos zu plündern oder zu beschädigen und andere Menschen körperlich zu verletzen. Die Schranke der Rechte Dritter kennt aber gerade im Bereich des Versammlungsrechts viele Abweichungen, gilt also nicht ausnahmslos. Es liegt in der Natur der Versammlungsfreiheit als Grundrecht der kollektiven Betätigung, daß sie häufig mit vielen Rechtsgütern anderer kollidiert, insbesondere mit denjenigen, die Schutzobjekt der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sind. Diese Kollision zwingt Rechtsprechung und Verwaltung zu einer Abwägung der gegenüberstehenden Güter. Welches von den abzuwägenden Gütern die Priorität hat, wird in concreto entschieden unter Anwendung der Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der Erforderlichkeit. Es fragt sich nun, ob die verfassungsmäßige Ordnung, sei es aus Art. 2 Abs. 1 GG oder aus Art. 9 Abs. 2 GG als Schranke auf das Versammlungsrecht übertragen werden darf. De lege lata gibt es keinen Stützpunkt für die Existenz der verfassungsmäßigen Ordnungsei es in ihrem engen Sinn als Ordnung der Verfassung oder in ihrem vom BVerfG43 vertretenen weiten Sinn als allgemeine Rechtsordnung42 Vgl. v. Münch, GG Kommentar, Rdnr. 28 zu Art. 8; Ott (IV), S. 43; Voget, S. 11; andere ziehen auch die Schranke des Mißbrauchsverbots, so Dietet, Demonstrationsfreiheit im Konflikt zwischen Radikalität und Legitimität, in: Demonstrationen, Aufruhr oder Element der Demokratie?, Bonn - Bad Godesberg 1969, S. 35; Neuberger, Das Recht und die Grenzen studentischer Demonstrationen, GA 1968, S. 3. '3

BVerfGE 6, 32, 37 f.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

als Schranke der Versammlungsfreiheit. Das VersG hat den Auftrag vom Art. 8 Abs. 2 GG das Verbot und die Auflösung einer Versammlung ausdrücklich zu regeln. Die Polizei wird auf Grund dieses Gesetzes ermächtigt eine Versammlung zu verbieten oder aufzulösen nur soweit die Voraussetzungen der §§ 1, 13, 15 VersG vorliegen. Darüber hinaus besteht keine rechtliche Möglichkeit für das Verbot oder die Auflösung einer Versammlung. Eine Verbots- oder Auflösungsverfügung der Polizei wegen Verstoßes der Versammlung gegen die verfassungsmäßige Ordnung läßt sich demnach keineswegs - de lege lata begründen". De lege ferenda wäre die Anerkennung der verfassungsmäßigen Ordnung als Schranke des Versammlungsrechts nicht unproblematisch. Ihre übertragung auf den empfindlichen Bereich der Demonstrationen würde die tatsächliche Gefahr mit sich bringen, daß die Polizei durch die Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung jede unerwünschte Versammlung unterdrücken würde. Besonders für politische Versammlungen würde solch eine Annahme zur folgenden Widersinnigkeit führen: Die Versammlung einer vom Bundesverfassungsgericht nicht verbotenen politischen Partei könnte von der Polizei mit der Begründung verboten werden, sie verstoße gegen die verfassungsmäßige Ordnung. Auf diese Weise würde die Polizei praktisch die Partei verbieten, d. h. mittelbar über ihre Verfassungsmäßigkeit entscheiden. Ob das bei den Ermessensentscheidungen der Verwaltung eingeräumte Differenzierungs- und übermaßverbot die sich in solchen Fällen ergebenden Gefahren aufheben kann, ist sehr fraglich45 • Aus diesen Gründen darf m. E. die verfassungsmäßige Ordnung nicht als selbständige Schranke der Versammlungsfreiheit akzeptiert werden. Zu Recht wurde bemerkt, das Versammlungsrecht sei auch den Gegnern der freiheitlichdemokratischen Grundordnung gewährt, solange es nicht gemäß Art. 18 GG verwirkt sei46 • Zum Schluß soll hier eine Schrankenmöglichkeit der allgemeinen Gesetze aus Art. 5 Abs. 2 GG geprüft werden. Allgemeine Gesetze sind von Natur aus für unbestimmt viele Adressaten erlassen und gelten generell, ohne Rücksicht auf den spezifischen Inhalt des zutreffenden Grundrechts zu nehmen. Genau das will aber Art. 8 GG vermeiden, deswegen hat er eine eigenförmige Schrankenordnung geschaffen, welche die normative und funktionelle Besonderheit der Versammlungsfreiheit respektieren soll. 44 a. M. Herzog, S. 79; Vogel, S. 12, sowie alle Autoren, die Analogie der Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG akzeptieren, oben Fußn. 38. 45 a. M. Dietel, DVBI 1969, S. 569 f.; Dietel! Gintzel, VersG, § 1 Rdnr. 69. 48 Schwäble, S. 147.

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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Demzufolge werden als beschränkende Gesetze des Versammlungsgrundrechts nur solche Gesetze betrachtet, die zielgerichtet seine Eigentümlichkeit wahrnehmen. Allerdings stehen diese Gesetze einmal unter der Kontrolle der Filterparagraphen des VersG (besonders § 15) und noch dazu unter dem Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG und unter dem Verbot, den Wesensgehalt des Grundrechts (Art. 19 Abs. 2 GG) anzutasten. Aus dem oben Gesagten geht also hervor, daß die allgemeinen Gesetze als selbständige Schranke kaum einen Platz im Schrankensystem der Versammlungsfreiheit finden können47 • Subsidiäre Funktion immer unter Beachtung des Art. 19 Abs. 2 GG und § 15 VersG - können sie schon haben, wie auch überschreitungen bei der Ausübung des Versammlungsrechts regeln. Einschränkende Funktion im Normbereich des Art. 8 GG wird ihnen aber abgesprochen. Schwäble48 sieht über die Gefahr der Allgemeinheit hinaus die nicht geringere Gefahr der Verfassungswidrigkeit eines allgemeinen Gesetzes, so daß das Verfassungs- und insbesondere das Grundrechtswidrige zur Grundrechtsschranke werden. Verfassungswidrigkeit eines einfachen Gesetzes, egal ob im allgemeinen oder speziellen, kann sich zunächst mit Bezug auf jedes Grundrecht ergeben und ist kein eigenartiges Problem des Versammlungsgrundrechts. Jedenfalls unabhängig davon reicht diese Argumentation - sicherlich tauglich für die Lösung anderer grundrechts- oder verfassungstheoretischer Probleme - nicht aus, den Ausschluß der allgemeinen Gesetze schlechthin aus dem Schrankensystem der Versammlungsfreiheit zu begründen. Bestenfalls befürwortet sie die Beseitigung des bestimmten verfassungswidrigen allgemeinen Gesetzes. Was ist aber mit den anderen, den verfassungsmäßigen allgemeinen Gesetzen zu tun? Sollte man vielleicht den Schluß einem argumentum ex 47 Mül~er, S. 101, lehnt zwar die Übertragung der Grenzen der allgemeinen Gesetze auf die Versammlungsfreiheit ab, er unternimmt jedoch den Versuch, zwischen Mittel und Inhalt zu unterschJeiden und meint, der Inhalt der in einer Versammlung geäußerten Meinung nicht durch Art. 8 GG, sondern durch Art. 5 GG geschützt werde und deshalb auch nicht den Schranken des Art. 8 GG, sondern des Art. 5 GG unterliege. Durch diese sich aber widersprechende Unterscheidung Müllers wird in der Praxis durchgesetzt, was theoretisch abgelehnt wird. Denn in allen Versammlungen haben wir parallele Ausübung der Meinungsfreiheit, sei es im Wort, in Schrift oder im Bild. Inhalt und Mittel praktizierter Versammlungsfreiheit verschmelzen sie, so, daß sie als Ganzes erscheint und unterliegen nur unter dem Schutzdach des Art. 8 GG. Das Versammlungsgrundrecht schützt die kollektive Meinungsäußerung. 48 Schwäble. S. 179.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

contra rio überlassen? Die Antwort darauf gibt allein die Besonderheit des Art. 8 GG und ist, wie gesagt, negativ. Nun, nach diesen Grundgedanken wollen wir die Schranken der Versammlungsfreiheit im einzelnen untersuchen. A. Die Gewährleistungsschranken der Friedlichkeit und der Waffenlosigkeit des Art. 8 Abs. 1 GG

Wie aus seinem Text hervorgeht, werden vom Art. 8 Abs. 1 GG nur solche Versammlungen geschützt, die friedlich und ohne Waffen stattfinden. Zunächst bietet der Begriff der Friedlichkeit noch einmal Rechtsprechung und Literatur ein neues Streitfeld an. Es ist aber bemerkenswert - sei es ein Zeichen der Schwierigkeit einer positiven Formulierung oder aber nachdrückliche Erinnerung an die letzte Grenze, an der die "Mienenzone" des Verbotenen beginnt -, daß alle Interpretationsversuche vom Negativen des Begriffs ausgehen. Also nicht was friedlich ist, zieht die Argumentation auf sich. So kommt man umgekehrt zum Gebot des Grundgesetzes. Alles, was außerhalb des Kreises des Unfriedlichen steht, bleibt friedlich und damit innerhalb der Gewährleistungssch.ranke des Versammlungsgrundrechts. Manche Autoren49 setzen die Nicht-Friedlichkeit mit der Störung des Rechtsfriedens gleich. Diese Meinung verheimlicht aber einen Argwohn, wenn nicht Voreingenommenheit gegen die Versammlungsfreiheit, wenn sie jede Störung des Rechtsfriedens als Verbots- oder Auflösungsgrund betrachtet. Praktisch kann unter Annahme dieser Meinung keine Versammlung stattfinden, denn im Rahmen einer massiven Mobilisierung durch Demonstration wird gewissermaßen in irgendeinen Bereich des Rechtsfriedens immer weiter einmarschiert, ohne damit die Rechtmäßigkeit der Veranstaltung in Frage zu stellen, z. B. Inkaufnahme mancher verkehrsrechtlicher Verstöße, leichte Ordnungsbeeinträchtigungen oder - was schlimmer ist - Ehrverletzungen seitens der Menge gegenüber Männern der Öffentlichkeit in sloganartigen Rufen, wie "Höcherl und Schiller, Bauernkiller" , "Kissinger Völkerrnörder" u. ä. Aus diesen Gründen ist die Ausdehnung des Unfriedlichkeitsbegriffs abzulehnen. Sie verflicht die Probleme, anstatt sie zu lösen. Ebenfalls abzulehnen sind auch die anderen sich in der gleichen Richtung bewegenden Meinungen, welche die Nicht-Friedlichkeit in der Verletzung 49 Giese / Schunk, GG für die BRD, Kommentar, Art. 8, II 2; Hammann / Lenz, Art. 8 GG B 3; Schmidt-Bleibtreu / Klein, Anm. 4 zu Art. 8 GG. Noch weiter geht Brinkmann, I 1 ca, indem er auch eine Versammlung, in der er-

regter Meinungsstreit herrscht, als nicht friedlich bezeichnet.

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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von Rechtsgiltern anderer50 oder im Verstoß gegen das Strafrecht51 sehen. Befriedigende Lösung zum Problem gibt die, kann man sagen, h. L., welche eine Versammlung bzw. Demonstration nur dann als unfriedHch betrachtet, wenn sie einen "gewalttätigen"52 oder "aufrührerischen" Verlauf anstrebt oder nimmt53 . Dieser Theorie folgt auch das VersG in seinen Verbots- und Auflösungs §§ 5 Nr. 3 und 13 Abs. 1 Nr.2. Unfriedlich wird nun erst eine Versammlung, wenn sie als Ganzes oder durch das Vorgehen der Mehrzahl ihrer Teilnehmer nach außen, gegenüber Dritten, oder nach innen, zwischen den Teilnehmern, gewalttätig erscheint. Ausschlaggebendes Kriterium zur Bezeichnung der Versammlung kann das Verhalten des Versammlungsleiters sein. Die Friedlichkeit wird nur dann zweifelhaft, wenn er seine Ordnungsgewalt nicht durchsetzen kann oder sich mit den Aufrührern solidarisch erklärt. Jedenfalls genügt strafwürdiges Verhalten vereinzelter Teilnehmer nicht, um die ganze Versammlung als unfriedlich abzustempeln. Zur Begründung der Auflösung der Versammlung reicht also die Tatsache aus, daß sie aufrührerisch wirkt oder in ihr Gewalttätigkeiten begangen werden. Nicht ohne Schwierigkeiten ist aber im Gegenteil dazu die Verbotsentscheidung der Verwaltung, denn sie ist nur am schwer vorauszusehenden Verhalten der Versammelten zu messen. Das müßte nämlich gewalttätig oder aufrührerisch erfolgen. Bloßer Verdacht oder Vermutung genügen nicht zur Begründung eines Demonstrationsverbotes. Es müssen also konkrete Anhaltspunkte gegeben sein oder, wie es § 5 Nr. 3 VersG ausdrückt, Tatsachen festgestellt werden, aus denen sich ergibt, daß der Veranstalter einen gewalttätigen oder aufrührerischen Verlauf anstrebt. Eine Versammlung soll nach dem GG nicht nur friedlich, sondern auch ohne Waffen stattfinden. Damit gelangen wir zu der zweiten Gewährleistungsschranke des Art. 8 GG, nämlich der Waffenlosigkeit der Versammlungsteilnehmer. Zuerst scheint m. E. die Formulierung dieses Absatzes ungeschickt und der Zusatz der Formel "ohne Waffen" neben dem Begriff der 50

Guradze, S. 6.

So ist nur zum Teil richtig die Meinung von Frowein, S. 1083 und Eh. Schmidt, Zur Reform der sog. Demonstrationsdelikte, ZStW Bd. 82 (1970), 51

S. 11, wenn sie meinen, eine gegen die Strafgesetze verstoßende Versammlung nicht friedlich sei. 52 über den Begriff "gewalttätig" siehe 2. Teil, 1. Kapitel III. 53 Dietet / Gintzet, Rdnr. 46 zu § 1 VersG, Friedlichkeit sei nicht Konfliktlosigkeit oder Einhaltung der Rechtsordnung; vgl. Füßlein (III), S. 446; Maunz / Herzog / Dürig, Anm. 56 zu Art. 8; Müller, S. 99; Schwäble, S. 119. 3 Kostaras

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

Friedlichkeit überflüssig zu sein. Diese Formel erweckt den falschen Eindruck, als ob es auch eine friedliche Versammlung mit Waffen geben konnte. Wenn die Versammelten mit Waffen erscheinen, bekunden sie eindeutig ihr Vorhaben eine Straßenschlacht durchzuführen, d. h. sich aufrührerisch zu betätigen oder Gewalttätigkeiten zu begehen und deshalb rechtfertigt ihr Verhalten einen Verbots- oder Auflösungsspruch der Verwaltung. Der Unfriedlichkeitsbegriff würde also allen Fällen des Waffentragens mit befriedigendem Erfolg begegnen, um sie vom Schutz des Grundgesetzes auszuschließen. Unter diesen Umständen stellt der zusätzliche Begriff der Waffenlosigkeit einen Pleonasmus im Verfassungstext dar. Über den Begriff der Waffe54 nun besteht sowohl in der Rechtsprechung, wie auch in der Literatur Einigkeit. Als Waffen sind nämlich solche Gegenstände zu qualifizieren, die entweder bei ihrer Anfertigung von vornherein (Waffen im technischen Sinne, z. B. Schuß-, Stichwaffen u. ä.) oder nach dem Willen des Trägers (Waffen im subjektiven Sinne, z. B. Regenschirme, Spazierstöcke, Steine u. ä.) dazu bestimmt sind, Verletzungen zuzufügen55 • Bei den Waffen im technischen Sinne ist der friedensstörende Zweck der Versammelten offensichtlich. Hier sollte aber die Versammlung von Waffensammlern56 oder eines Jagdvereins ausgenommen werden, bei der die versammelten Mitglieder ihre Waffen zur Schau mitbringen. Bei den anderen, den Waffen im subjektiven Sinne, kommt es auf den einzelnen Fall an. Das bloße Mitbringen von Regenschirmen ist beispielsweise kein Beweis eines unfriedlichen Bestrebens. Es muß noch dazu der Wille der Täter äußerlich erkennbar sein. Anders ist die Situation, wenn die Demonstrationsteilnehmer mit den Taschen voll Steinen erscheinen. In solch einem Fall ist die unfriedliche Intention selbstbewiesen. Fraglich ist, inwieweit das Tragen von Masken oder Helmen oder Schutzschildern ebenfalls eine unfriedliche Intention verraten können. Solche Gegenstände sind zwar keine Waffen i. t. Sinne, jedoch können sie im bestimmten Fall, besonders Helme und Schutzschilder, wenn sie vom Demonstrationszweck nicht gerechtfertigt werden, als Unfriedlichkeitszeichen interpretiert werden57 • Als Waffen gelten keineswegs weiche Gegenstände, z. B. faule Früchte (Tomaten u. ä.), Eier, Papier oder Plastikbeutel u. ä. Inwieweit allerdings das Stürmen des Gegners mit solchen Gegenständen im Rahmen der Friedlichkeit bleibt, ist fraglich. Es wurde behauptet, daß "wer 64

55 56 67

Vgl. § 223 a StGB. Im Art. 8 GG ist aber der Waffenbegriff breiter. RGSt 44, 140 (141) zu §§ 11, 19 RVG. Maunz I Herzog I Dürig, Anm. 53 zu Art. 8 GG. Vgl. Süddeutsche Zeitung v. 27. Nov. 1978, Kommentar, S. 4.

1. Kap.:

Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

35

mit solchen ,Waffen' angegriffen wird, gerade nicht körperlich verletzt, sondern der Lächerlichkeit preisgegeben und allenfalls in seiner Ehre berührt werden soll"58. Zwar gibt es Grenzsituationen, bei denen solche Entladung einer, bemessen an der konkreten politischen Realität, nicht zu Unrecht wütenten Menschenmenge das nur geringste übel darstellt - man denke an das Beispiel Griechenlands, wo sich kurz nach dem Sturz der Militärdiktatur Juntavertreter an den Parlamentswahlen beteiligten und darauf bei ihrem öffentlichen Auftreten vom Volk mit Drohgebärden, Mißfallensäußerungen und Tomaten empfangen wurden, oder man denke auch an die Nationalsozialisten und die Protestdemonstrationswellen gegen sie Anfang der sechziger Jahre - aber im allgemeinen dürften derartige Reaktionen nicht zum Ideal demokratischer Argumentationsweise passen. Zu Recht bemerkt daher v. Münch, "daß nicht für die Demokratien, wohl aber für totalitäre Regime charakteristisch ist, politische Gegner in ihrer Menschenwürde zu verletzen und sie äußerlich zu zeichnen"59. Jedenfalls bleibt die Strafbarkeit solchen Verhaltens, z. B. wegen Augen- oder sonstiger Körperverletzungen unabhängig von diesen Gedanken jeweils zu prüfen. B. Die Vorbehaltssdlranke des Art. 8 Abs. 2 GG

Wie gesagt kennen Versammlungen unter freiem Himmel eine zusätzliche Sonderregelung, die sich allerdings im Gesetzesvorbehalt6° des Art. 8 Abs. 2 GG erschöpft. Inhalt dieses Gesetzesvorbehalts ist die Ermächtigung an den Gesetzgeber, Versammlungen unter freiem Himmel durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes einzuschränken. Als einschränkende Gesetze des Versammlungsgrundrechts kommen nun zum einen die BannmeiLengesetze des Bundes und der Länder (Beschränkung durch Gesetz) in Betracht und ZUm anderen das Versammlungsgesetz (Beschränkung auf Grund eines Gesetzes). Andere Gesetze 68 Tiedemann, Bemerkungen zur Rechtsprechung in den sog. Demonstrationsprozessen, JZ 1969, S. 722. 69 v. Münch, GG Kommentar, Rdnr. 21 zu Art. 8 GG. 60 In der Lehre wird zwischen Regelungsvorbehalt und (speziellem) Gesetzesvorbehalt unterschieden. Während der Regelungsvorbehalt den Gesetzgeber nicht zur Einschränkung eines feststehenden Grundrechts ermächtigt, sondern ihm das Grundrecht von innen her auszuformen und inhaltlich zu konkretisieren gestattet (vgl. z. B. Art. 5 Abs. 2, Art. 12 Abs. 1 S. 2, Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG), enthält der (spezielle) Gesetzesvorbehalt die verfassungsgesetzliche Ermächtigung, in den feststehenden Wirkungsbereich eines Grundrechts von außen her zielgerichtet hineinzuschneiden (beispielsweise Art. 10 Abs. 2 S. 1, Art. 11 Abs. 2, Art. 13 Abs. 3 GG); mehr dazu Müller, S. 119. Praktische Bedeutung der hiesigen Unterscheidung ist, daß nur die auf Grund eines Gesetzesvorbehalts erlassenen Gesetze die Erfordernisse des Art. 19 Abs. 1 GG erfüllen müssen.

1. Teil:

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Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

können dazu einschränkende Funktion für die Versammlungsfreiheit haben, aber nur, wenn sie erstens zielgerichtet in das Grundrecht hineinschneiden, also auch Bedeutung und Gewicht der Versammlungsfreiheit für das Individuum und für den demokratischen Staat in Rechnung stellen und zweitens, wenn sie die Bestimmung des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG (Zitiergebot) beachten61 • Im übrigen ist auf die zutreffenden Ausführungen bezüglich der allgemeinen Gesetze als fragliche Schranke hinzuweisen.

v. Der besondere Charakter der Spontandemonstration Neben den üblichen, d. h. "von langer Hand" vorbereiteten Demonstrationen, kennt die politische Realität nicht selten die Form einer Demonstration, die entweder als Protestaktion gegen ein nationales oder internationales Ereignis oder als Feierlichkeit spontan der Aktualität entspringt. Beispielsweise Solidaritätsaktionen im Aufstand vom 17. Juni 1953 oder Protestdemonstrationen anläßlich der Errichtung der Berliner Mauer im Jahre 1961. Freilich ist es selbstverständlich, daß besonders die Spontanprotestdemonstrationen nicht unerhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit mit sich bringen. Hier ist nämlich die versammelte Menge kräftig erregt vom Ereignis, das den Anlaß zum Protest gab und zeigt sich dazu zur jeglichen übertreibung fähig. Alles läuft so schnell in der Spontandemonstration, daß, ehe abzusehen ist, welchen Verlauf sie nimmt, man sich bereits in einem brodelnden und reißenden Strom befindet, aus dem man nicht oder nur sehr schwer heraus kann. Ein hohes Maß an inneren Kräften ist zu mobilisieren, um nicht selbst den Versuchungen der Spontanveranstaltung zu erliegen und sich von überströmenden Gefühlen des Augenblicks mitreißen zu lassen. Vor allem in solchen Spontandemonstrationen finden provokative Elemente, welche oft die ganze Veranstaltung zu Gewalttätigkeiten verleiten, die geeignete Gelegenheit zum Aktionismus. Sogar die Tatsache, daß eine solche Demonstration ihrer Natur nach die betreffenden Vorschriften über die Anmeldung der Veranstaltung bei den Behörden umgeht, hat zur Folge, daß einerseits die Spontandemonstration von höchster Gefährlichkeit ist - besonders in den ersten Momenten der Hochstimmung und Aufregung, bei denen eben wegen des Nichtbekanntseins der Demonstration die notwendigen Sicherheitsrnaßnahmen fehlen - andererseits aber die plötzliche Hinzuziehung der Polizei an den "Tatort" und der Mangel an psychologischer Vertrautheit mit dem Zweck der Demonstration seitens der Polizei, vielleicht noch dazu eine falsche Auffassung über die öffentliche Sicherheit und 61

MüHer, S. 129.

1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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Ordnung, häufig zu einem ungerechtfertigten Eingreifen gegen die Spontandemonstranten führt und auf diese Weise den Zündstoff zu blutigen Auseinandersetzungen gibt. Die Grundfrage bei den Spontandemonstrationen lautet nun, ob das Fehlen der notwendigen Anmeldung bei den zuständigen Behörden genügt, den verfassungsrechtlichen Schutz dieser Demonstrationen aufzuheben. Die ganz überwiegende Mehrheit der Autoren und der Judikatur nimmt zu Recht an, daß Art. 8 GG auch die Spontandemonstrationen deckt und deswegen die zutreffenden Paragraphen des VersG so ausgelegt werden müssen, daß sich ihr Schutz auch auf diese erstreckt62. Es muß sich aber um echte Spontanveranstaltungen handeln, d. h. um augenblicklich und ohne vorherige Planung entstehende und nicht um solche, die Umgehung der entsprechenden Vorschriften des Gesetzes (besonders §§ 14, 15, 26, 29 VersG) abzielen63 • Diese Spontanveranstaltungen sind also notwendigerweise nur von der Anmeldepflicht befreit. Im übrigen müssen sie alle Merkmale der Versammlung bzw. Demonstration aufweisen. VI. Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung als Begleitbegriffe der Versammlungsfreiheit Kaum ist eine polizeiliche Verbots- oder Auflösungsverfügung einer Versammlung denkbar, die nicht mit der Bezugnahme auf die Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung begründet wird. Öffentliche Sicherheit und öffentliche Ordnung treten auf diese Weise mit einer bestimmenden Kompetenz in die Versammlungsfreiheit ein. Die Kenntnis, was öffentliche Sicherheit und Ordnung ist, was überhaupt diese Begriffe schützen, gibt den Maßstab, um in jedem Fall festzustellen, wo ihre Herbeizitierung gerechtfertigt ist und wo sie einen verdeckten freiheitsfeindlichen Argwohn verheimlicht. Häufig wird das steife und feste Verharren der Polizei bei ihren Aspekten, die sie mit dem Deckmantel der öffentlichen Ordnung präsentiert, zur eigentlichen Provokation, die Tür und Tor für blutige Auseinandersetzungen öffnet. 62 Dietell Gintzel, Anm. 19 - 30 zu § 14 VersG; Frowein, S. 1085; v. Hase, S. 41; Hesse, S. 167; Hoch, Rechtsfragen bei Spontanversammlungen, JZ 1969, S. 18 (20); Hoffmann, S. 398; Maunz / Herzog I Dürig, Anm. 47 zu Art. 8; Model/ MüHer, S. 135; Merten (I), S. 624; v. Münch, GG Kommentar, Rdnr. 10 zu Art. 8; Ossenbühl, S. 59 f.; Ott (IV), S. 56; Quilisch, S. 135; Schwäble, S. 199; Vogel, S. 20; vgl. BVerwG, DÖV 1967, S. 350; BayObLG, NJW 1970, S. 479 (480); a. M. Füßlein, Anm.3 zu § 14 VersG u. Rdnr. 10 zu Art. 8 GG. es Dietell Gintzel, Anm. 18 zu § 14 VersG; Ott (IV), S. 57.

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1. Teil:

Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie A. Die öffentlhhe Sicherheit

Der Begriff der "öffentlichen Sicherheit" als polizeiliches Schutzobjekt im Rahmen der Versammlungsfreiheit ernährt sich grundlegend vom Boden der gesamten positiv gesetzten Rechtsordnung und umfaßt in ihrem Schutzbereich die Existenzgüter der Bürger und des Staates, sowie gewisse überindividuelle Rechtsgüter (gemeinsame Ruhe, öffentlicher Verkehr u. a.)64. Die Polizei als censor der öffentlichen Sicherheit in der freiheitlichen Demokratie hat bestimmte Güter vor Augen, die zu schützen ihre Aufgabe ist. Sie hat zum einen den Bestand und die harmonische demokratische Funktion des Staates und zum anderen das Leben, die Gesundheit, die Freiheit, die Ehre und das Vermögen des einzelnen zu schützen. Bei der Durchführung ihres Auftrages hanck!lt die Polizei zuerst sichernd, nie aber materiell rechtsurteilend. Der Schutz und die Gewährleistung der Rechte schlechthin gehört zu der ausschließlichen Kompetenz der Justiz. Diese wird urteilen, ob die Ausübung des Grundrechts oder des Rechts überhaupt legal ist und welche Maßnahmen getroffen werden sollen gegen rechtsverletzendes Verhalten durch die einzelnen Individuen oder die staatliche Gewalt. Neben dieser Funktion der Justiz ist die Rolle der Polizei subsidiär. Sie wehrt im Namen der öffentlichen Sicherheit Gefahren ab, welche die zu schützenden Güter und Rechte bedrohen. Den Wert aber dieser Güter - mit Ausnahme von Leben, Gesundheit und funktionsfähigkeit des Staates - muß die Polizei nicht absolut setzen. Sie muß immer einen Rahmen freihalten für konkrete Abwägungen bei der Entscheidung für oder gegen die Durchführung einer Versammlung. Zwar ist ihre Entscheidung gerichtlich nachprüfbar, sie kann jedoch im bestimmten "heißen" Moment - insbesondere die Auflösungsverfügung - eine gute oder eine schlechte Lösung sein, was allerdings nicht ohne Einfluß auf die Kette der Ereignisse bleibt66. Um ihre Ermessensentscheidungen erfolgreich vornehmen zu können, muß sich die Polizei mit der Funktion der Versammlungsfreiheit vertraut machen und in jedem Fall ohne politische Voreingenommenheit entscheiden, was zu tun ist. Vor allem muß sie auf ihr überkommenes obrigkeitliches Ordnungs- und Sicherheitsverständnis verzichten und am demokratischen Vorbild orientiert werden. Öffentliche Sicherheit bedeutet im demokratischen Verständnis keine politische 84 Erbet, Der Streit um die "öffentliche Ordnung" als polizeiliches Schutzgut, DVBI 1972, S. 476; Gintzet (II), S. 25; Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, 3. Aufl., Göttingen 1975, S. 34; Ktein, Zur Auslegung des Rechtsbegriffs der "öffentlichen Sicherheit und Ordnung", DVBlI971, S. 233 f. 65 Vgl. Neuberger, S. 10.

1. Kap.:

Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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Waffe in der Hand der Polizei zur beliebigen Anwendung, sondern bedeutet rechtsverbindliche Schutzgewalt für die Rechte des Bürgers und die Institutionen der Demokratie. Eine stark besuchte Kundgebung muß nicht von vornherein als Störfaktor betrachtet werden. Der Aktivismus, den sie hervorbringt, darf nicht zum Ziel für willkürliche Verbote werden, sondern muß Anlaß sein für eine umfassende Konzeption besonders der psychologischen Dimensionen und der Absichten der Menge. Es ist ganz natürlich, daß in einer massiven Mobilisierung von Menschen nicht alles nach dem absoluten Ordnungsideal abläuft. Sache der Polizei ist es, dem Verlauf der Dinge zu folgen und mit größtmöglicher Nachgiebigkeit für gewisse kleine überschreitungen klarzumachen, wie weit diese gehen dürfen. Zwingende Voraussetzung dafür ist aber, daß die Polizei sich zuvor darüber im klaren ist, wo die letzte Grenze der Legalität verläuft und wo die Illegalität anfängt, wo die Reform endet und wo die Revolution beginnt. Nur dann ist aus Sicherheitsgründen gegen eine Versammlung einzuschreiten, wenn Rechtsgüter tatsächlich gefährdet werden. Es müssen aber dazu konkrete Ansatzpunkte ge~ben sein, aus denen heraus die Gefährdung der öffentlichen Sicherheit zu erwarten ist. Abstrakte Bezugnahme auf die Vermutung, "die Versammlung werde die öffentliche Sicherheit gefährden", genügt nicht". Jedenfalls darf die Herbeizitierung der öffentlichen Sicherheit nicht die oben interpretierten Grenzen der Versammlungsfreiheit ignorieren. B. Die öffentliche Ordnnng

Beim Vernehmen des Wortes "Ordnung" kollidiert die wissenschaftliche Stimmung mit gewissen monströsen Momenten der menschlichen Geschichte, die nicht mehr als die Vergewaltigung des Begriffs und nicht weniger als die Gemeinheit des Vergewaltigers beweisen. Auch wenn man davon überzeugt ist, daß das Unglück in solchen Fällen nicht im Begriff, sondern am Mißbrauch liegt, darf man nicht - besonders wenn man sich Klarheit über den Begriff verschaffen und dessen Tiefe ausloten will - von diesen Momenten absehen.

"Ruhe" und "Ordnung" im finsteren Absolutismus loben die Untätigkeit67 , die Entfremdung des Untertanen von den öffentlichen Angelegenheiten als tugendhaft und arbeiten die ungestörte Unterdrükkungsherrschaft des Systems aus. Dann die "Ordnung" des Nationalsozialismus oder die "ordine nuovo" des Faschismus. Ordnungsfieber, wo Unordnung und Ungerechtigkeit herrscht. Ordnungsempfindlichkeit 86

67

Heinitz (III), S. 19. Siehe oben 1. mit Fußn. 4 u. 7.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

das Lieblingskind aller Diktaturen überall auf der Welt. Zuletzt auch die "Ordnung" des Terrorismus, der durch entsetzliche Verbrechen die Menschheit von den bestehenden Ordnungsbindungen zu befreien behauptet. Mit wievielem Blut, Schmerzen und Tränen diese "Ordnung" bezahlt wurde, weiß jedermann. Diese "Ordnung" wollen wir aber hier vergessen und uns mit einem zeitgemäßen Begriff der "öffentlichen Ordnung" befassen. Diese versteht sich nämlich, im Gegensatz zu dem Begriff der "öffentlichen Sicherheit", als flexibel und etwas abstrakt. Als öffentliche Ordnung wird definiert "der Inbegriff der Normen, deren Befolgung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unentbehrliche Voraussetzung für ein gedeihliches Miteinanderleben der innerhalb eines Polizeibezirks wohnenden Menschen angesehen wird"68. Hier gibt es keine bestimmten Rechtsnormen, die entsprechende Rechtsgüter schützen. Gesetzgeber für die öffentliche Ordnung ist die Anschauung der Gesellschaft bezüglich der Sozialethik und weil diese Anschauung von Zeit zu Zeit und von Ort zu Ort wandelbar ist, ändert sich entsprechend auch der Begriff der öffentlichen Ordnung. Wie veränderlich dieser Begriff ist, sieht man deutlich in der Entwicklung der Mode und der Sexualmoral. Welch unmoralische Kleidung ist noch vor kurzer Zeit die Hose für eine Frau gewesen und welch schwerer Ordnungsverstoß wäre in der Gesellschaft der dreißiger Jahre die Vorführung eines Sex-Films gewesen? Aus alledem geht also hervor, daß die Polizei im Bereich der öffentlichen Ordnung auf der Hut sein muß und nie oder nur in besonderen Ausnahmefällen69 diese konventionelle Konstruktion zur Verbotsgrundlage einer Versammlung machen darf. Manche Autoren lehnen die einschränkende Funktion der öffentlichen Ordnung bei der Interpretation von verfassungsmäßigen Rechten im demokratischen Staat ab 70 • Andere sehen wiederum diese Funktion von der entsprechenden der öffentlichen Sicherheit absorbiert, nachdem die heutige Intervention des Gesetzgebers auch den Raum deckt, in dem früher die öffentliche Ordnung alleinig herrschte 71 • Es ist hier nicht der richtige Ort, auf die Legitimitätsfrage oder auf die Rechtsnatur der öffentlichen Ordnung einzugehen; jedoch muß ganz allgemein bemerkt werden, daß die Funktion des Begriffs der öffentlichen Ordnung nicht unbedingt unvereinbar mit dem freiheitlich-de-

Erbet, S. 476 mit Fußn. 7, Hervorhebung vom Verfasser. Vgl. Gintzet (11), S. 26 mit dem Beispiel einer zulässigen Priorität der öffentlichen Ordnung vor der Versammlungsfreiheit, wenn die Demonstranten den Gruppenselbstmord als politisches Druckmittel propagieren. 70 Denninger, Informationstagung, S. 10 f.; ders., JZ 1970, S. 145 (147). 71 Götz, S. 45 f. 88

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1. Kap.: Die Versammlungsfreiheit in Geschichte und Gegenwart

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mokratischen Staat ist. Verfassungsmäßig ist dieser Begriff schon, nachdem das GG selbst in Art. 13 Abs. 3 und 35 Abs. 2 S. 1 GG ihn ausdrücklich erwähnt. Die Hilfsfunktion der öffentlichen Ordnung in der gesamten Rechtsordnung schlechthin ist nicht ohne weiteres über Bord zu werfen. Anderswo sind Bedenken bezüglich der öffentlichen Ordnung zu finden, nämlich in der Frage, wer und nach welchen Kriterien bestimmt, was die öffentliche Ordnung in einer Gesellschaft ausmacht? Die Bezugnahme auf das "gesunde Volksempfinden" oder auf die "überwiegende Mehrheit der gesund und moralisch denkenden Menschen" ist eine Abstraktion, die zu gegebenem Zeitpunkt zutreffen mag, sie bewahrt aber meistens nicht vor der Gefahr, daß subjektive, insbesonders konservative Ansichten, verallgemeinert werden. Daß die Polizei dem Konservatismus nahe steht, ist ebensogut bekannt, wie der progressive Refonnismus der unruhigen Jugend heute. Jener hat die Anziehungskraft der Behauptung, daß er gut sei, dieser trägt die Beweislast, daß er besser sein wird. Es ist Sache unserer pluralistischen freiheitlichen Demokratie, die beste Lösung zwischen beiden zu suchen. Im Spannungsfeld zwischen Konservatismus und Reformismus muß die Polizei unparteiisch sein und im Bereich der Versammlungsfreiheit unvoreingenommen bleiben.

Zweites Kapitel

Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie I. Die Massenpsychologie und die Lehre Le Bons

Der Mensch als Individuum unterliegt gewissen psychologischen Gesetzen. Er denkt, fühlt, handelt, reagiert unter Einwirkung bestimmter Faktoren, deren Studium zur Feststellung allgemeiner Normen führt, welche unter gleichen Voraussetzungen auch für jeden anderen gelten. Diese Normen bilden die individuelle Psychologie. Es wird aber die Frage gestellt, ob diese Normen auch für den Fall weiter gelten, daß mehrere Individuen eine Gruppe ausmachen. Behalten also die Mitglieder der Gruppe ihre psychologische Individualität und unterliegt jedes von ihnen immer noch den gleichen Gesetzen der individuellen Psychologie oder formt sich inmitten der Ansammlung eine neue Psychologie, die das Verhalten der einzelnen und die Beziehung zueinander oder gegenüber Dritten auf eine neue Basis stellt? Mit dieser Frage befaßten sich jahrelang die Psychologen und kamen zum Schluß, daß der Mensch bei Gruppenbildung, besonders in der Masse, von den psychologischen Gesetzen, die ihn als Individuum regieren, abweicht und anderen, neuen Gesetzen, nämlich den Massengesetzen unterliegt1. In der Masse gebe es danach nicht bloß eine numerische Summe von Individuen und die Psychologie der Masse sei nicht gleich der Summe oder dem Durchschnitt der Psychologie der beteiligten Personen2 • Damit läge in der Masse die Bildung eines eigenen Wesens mit eigener Seele und eigenen neuen Eigentümlichkeiten vor, die anders seien als diejenigen, die bei den sie bildenden einzelnen festgestellt werden könntenlI. 1 Le Bon, Psychologie der Massen, Stuttgart 1964, S. 10; Reiwald, Vom Geist der Massen, Zürich 1946, S. 16; Aich, Massenmensch und Massenwahn, Zur Psychologie des Kollektivismus, München 1947, S. 12; Baschwitz, Du und die Masse, Studien zu einer exakten Massenpsychologie, Leiden 1951, S. 1 u. 18 f.; Hagemann, Vom Mythos der Masse, Beiträge zur Publizistik, Bd. 4, 1951, S. 105; OTtega y Gasset, Der Aufstand der Massen, Hamburg 1956, S. 144; GaTdikas, Kriminologie, Bd. I, Athen 1968, S. 449. 2 Vgl. Baschwitz, S. 11 mit Hinw. auf Sighele. 3 Le Bon, S. 10, 18; a. M. GaTdikas, S. 449. Er meint zu Recht, daß in der Masse keine neuen psychischen Eigenschaften gebildet werden, sondern die in latentem Zustand existierenden Eigenschaften des Menschen in der Vereinzelung durch die Massenbildung hervorbrechen und sichtbar werden.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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Die Seele der Masse und ihre eigenen Merkmale studierte besonders der französische Arzt und Psychologe Gustave Le Bon Ende des vorigen Jahrhunderts. Das sind, seiner Feststellungen nach, ihre Hauptmerkmale: Schwinden der klar bewußten Sphäre der Persönlichkeit, Vorherrschaft des unbewußten Wesens, Leitung der Gedanken und Gefühle durch Beeinflussung und übertragung in die gleiche Richtung, Verstärkung des Gefühls der Macht, Verschwinden des Verantwortungsgefühls, Beherrschung der Einfühlung und Aussetzung jeder Art Suggestion'. Die psychische Veränderung des Individuums in der Masse offenbart sich also nach Le Bon auf vielfältige Weise. Die wichtigste Rolle spiele in der Masse nicht die Logik, sondern das in aufgepeitschtem Zustand befindliche Gefühl 5• Jedes Gefühl und jede Tat sei auf die Masse übertragbar und zwar dermaßen, daß das Individuum sehr leicht sein persönliches Interesse aufopfere in jenes der Gruppe. Die Masse sei labil. Sie werde leicht zum Henker aber noch leichter zum Märtyre:r8. In der Masse werde nicht die Intelligenz, sondern die Dummheit der Beteiligten versamme1t7. Die Beschlüsse von allgemeinem Interesse, die von einer Versammlung ausgezeichneter Menschen gefaßt würden, seien nicht wichtiger als die Beschlüsse, die eine Ansammlung von Idioten gefaßt hätte. Hier kennt das antike Motto seine Verherrlichung, nach dem zwar senatores boni viri waren, jedoch senatus romana mala bestia. Allein die Tatsache, daß jemand Teil der Masse ist, lasse ihn viele Sprossen auf der Zivilisationsleiter absteigen. Allein konnte der einzelne ein kultivierter Mensch sein. Innerhalb der Masse werde er aber ein triebhaftes Wesen und demzufolge Barbar. Er habe die Spontaneität, die Gewalttätigkeit und die Rohheit wie auch den Enthusiasmus der primitiven Wesen8 • Das Verantwortungsgefühl, das den einzelnen grundlegend in seinem Verhalten anleitet, verschwindet schließlich in der Anonymität der Le Bon, S. 10, 18. Le Bon, S. 21 u. 29. B Le Bon, S. 28. 7 Le Bon, S. 21; vgl. Gardikas, S. 451; Ortega y Gasset, S. 144. Nach C. G. Jung "eine große Gesellschaft, aus lauter trefflichen Menschen zusammengesetzt, gleicht an Moralität und Intelligenz einem großen, dummen, gewalttätigen Tier", zitiert bei Hofstätter, Gruppendynamik, Kritik der Massenpsychologie, Hamburg 1957, S. 9. Goethes Meinung, zitiert von Baschwitz, S. 8, macht gerade dem Massenmenschen keine Komplimente: "Das Massenpack fürchtet sich vor nichts mehr als vor dem Verstand; vor der Dummheit sollten sie sich fürchten, wenn sie begriffen, was fürchterlich ist... 8 Le Bon, S. 24; vgl. Baschwitz, S. 157; Canetti, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 20. 4

S

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

Masse und an dessen Stelle tritt das Gefühl der Macht und der Superiorität. Die Verantwortungslosigkeit wird in der Masse verstärkt durch die hohe Wahrscheinlichkeit unbestraft zu bleiben, die um so größer ist, je größer die Masse ist 9• Das sind in ganz allgemeinen Richtlinien die grundlegenden Schlüsse der Massenpsychologie, wie sie von Le Bon studiert wurden. In der folgenden Kritik der Le Bonschen Lehre wird geprüft, inwieweit diese Schlüsse heute noch in den Demonstrationen praktische Anwendung finden. Bevor wir uns aber mit dieser Kritik auseinandersetzen, wäre es vielleicht zweckmäßig zu prüfen, was Masse überhaupt ist, ob und worin sie sich von der Menge unterscheidet, was Suggestion ist, wie sie wirkt und worin die Gefährlichkeit der Masse besteht. A. Der Massebegriff

Das Wort "Masse" ist vieldeutig und geht auf den "Brotteig" (!-1ar;;Cl) des Griechischen und auf das Verb "kneten" (!-1cX:Jam) zurücklO. Im allgemeinen Sprachgebrauch bedeutet Masse zuerst eine Vielzahl von Menschen, eine Mehrheit. Sehr oft hat sie aber auch das Gewicht eines negativen moralischen Werturteils. Masse bedeutet dann in der Vorstellung der Vielen eine ungeordnete und moralisch reduzierte Vielheitl l • Diese letzte Deutung des Massebegriffs bringt uns der Masse im besonderen Sinn näher, der sog. psychologischen Masse, die eine konkrete Größe darstellt und deren Seele Gegenstand der Massenpsychologie ist. Masse im psychologischen Sinn ist also eine Anzahl von Menschen, die sich am gleichen Ort getroffen hat, sich in einer bestimmten Gemüts- und Geistesverfassung befindet und die durch gemeinsame sich wechselseitig verstärkende Gefühlserregungen der beteiligten Personen gekennzeichnet ist12 • Aus dem Gesagten gehen nun die zwei kennzeichnenden Merkmale der Masse hervor, nämlich das sog. objektive 13 und das subjektive Merkmal. Dieses zweite Merkmal beseelt die Masse. Gardikas, S. 453. Das englische "crowd" ist dem mittelhochdeutschen "Kroten" stammverwandt und das franz. "fou~e" leitet sich ebenso wie das italienische "foHa" von dem Lateinischen "fuHo" her, Hofstätter, S. 13. 11 Vgl. Hagemann, S. 101. 12 Vgl. Mauritz, Die Teilnahmeformen bei den Massendelikten des StGB, Diss. München 1956, S. 4; Aich, S. 12. 13 Baschwitz, S. 12, behauptet, daß die Menschen nicht einmal an einem Ort 9

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versammelt zu sein bräuchten, um sich doch als Bestandteil einer "Masse" zu empfinden; sie bräuchten sich gegenseitig nicht zu sehen, ja nicht einmal zu

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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Für manche Massenpsychologen ist das subjektive Merkmal, d. h. die psychische Gemeinschaftlichkeit der Teilnehmer, kein ausschlaggebendes Kriterium für die Zusammensetzung der Masse. Es müsse die Ordnung in der Veranstaltung fehlen, führen sie aus, damit man behaupten kann, es sei eine Masse vorhanden. Masse sei dann auf Grund dieser Auffassung eine aktivierte Menge, in der sich noch kein ordnendes und integrierendes Rollensystem entwickelt habe14 • Diese Meinung - über die Sympathie hinaus, die sie bei ihrem Verauch gewinnt, die Unterschiedlichkeit der Form der heutigen Versammlungen einerseits zu unterstreichen und andererseits den Zweifel zu beleuchten, daß der Mensch nicht zur Masse geworden ist, bloß bei der Existenz einer gegenseitigen psychischen Verbundenheit mit anderen in einer Gruppe - scheint nicht ganz überzeugend in ihrer Argumentation zu sein. Fraglich ist zunächst hier, ob allein das Fehlen des Ordnungsmerkmals in einer Menschenansammlung ausreicht, ihr das Stigma der Masse zu verleihen. Auf der anderen Seite ist zwar richtig, daß das Merkmal der Ordnung in einer vorher organisierten Versammlung im Grunde das Erwachen und die selbstbewußte Beteiligung der Teilnehmer fördert, man darf aber nicht übersehen, daß gerade dieses Merkmal in gewissen Situationen die Vermassung der Menschen und ihre suggestive Lenkung beschleunigen kann. Man hat hier an nichts anderes zu denken, als an den Massenwahn des Nationalsozialismus mit seinem eigenen "ordnenden Rollensystem" . Fehlen oder Vorhandensein der Ordnung in einer Versammlung haben daher nur indiziellen Charakter für diese oder jene Bezeichnung, sind aber keine Definitionsmerkmale für die Zusammensetzung der Masse. Die Masse vollzieht sich im Bewußtsein der Ansammlungsteilnehmer und äußert sich in ihrer urteilslosen psychischen Gemeinschaftlichkeit. Wann letztere gegeben ist, läßt sich apriori nicht sagen, sondern wird erst von den Verhältnissen des Falles abhängig gemacht. Bezüglich der Zahl der Personen schließlich, die eine Masse ausmachen, gibt es keine allgemein gültige zahlenmäßige Bestimmung. Es kennen, um doch den entsprechenden Einflüssen auf ihr Denken und Fühlen zu unterliegen. Die "Masse" könne also als solche unsichtbar sein. Diese Meinung von Baschwitz ist zwar zum Teil richtig, sie trifft jedoch auf die Masse in ihrer abstrakten Form zu, nicht aber die konkrete Masse, die sog. psychologische Masse. Die Menschen der Baschwitzschen Masse können Mitglieder der psychologischen Masse werden, sobald sie sich an einem bestimmten Ort versammeln; vgl. Hagemann, S. 107; Le Bon, S. 17. 14

Hofstätter, S. 24.

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1. Teil:

Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

kommt auch hier auf den Einzelfall an. Die Beantwortung der Frage, ob schon zwei Personen für die Massenbildung ausreichen, ist mit den gleichen Schwierigkeiten verbunden, wie die Beantwortung der Frage, ob zwei Körner bereits einen Haufen bilden. B. Masse und Menge

Während die Masse eine enge und wechselseitige psychische Abhängigkeit der am gleichen Ort Zusammengekommenen voraussetzt, reicht für die Konstituierung des Begriffs der Menge nur die gleichzeitige Anwesenheit vieler Menschen im gleichen Raum15 • Es handle sich bei letzterer nur um ein reines Nebeneinander, nicht um ein Miteinander oder Zueinander1'.

Die Menge hat nur das objektive Merkmal der Masse. Sie ist eine Masse ohne Psyche 17• Menge ist ein quantitativer Begriff. Man kann sagen, daß die Menge eine Vorstufe der Masse ist. Eine Menge erfüllt alle Voraussetzungen für die Entwicklung zur Masse, sobald ein Ereignis die gleiche Gemütserregung oder die gleiche Reaktion zwischen den Versammelten hervorruft. Nach und nach bildet sich auf diese Weise zwischen den Mitgliedern der Menge der innere Zusammenhalt heraus und allmählich führt das bei der Menge zur Erlangung der psychischen Gemeinschaftlichkeit der Masse. Wenn aber innerhalb der Menge die Teilnehmer das Geschehen vom verschiedenen Blickwinkel aus beobachten, kann es sein, daß sie momentan einige der psychischen Eigenschaften der Masse erlangen, wie z. B. das Bewußtsein der Verantwortungslosigkeit in der Anonymität der Vielen, sie werden aber nie ihre bewußte Persönlichkeit verlieren, um sich dann von der Gemeinschaftlichkeit der Masse absorbieren zu lassen. Das alles bedeutet jedoch nicht, daß die Menge ungefährlich ist. Gefährlichkeit weist auch die Menge auf. Aber die Gefahren, welche aus ihr hervorgehen, sind keineswegs Ausfluß ihrer Einseeligkeit und ihrer suggestiven Anführung, wie bei der Masse, sondern Ausdruck der Gegensätze, die zwischen den die Menge ausmachenden Individuen existieren und sehr häufig zu Schlägereien führen. Betreffend schließlich die Zahl der Menschen, die eine Menge bilden, gelten auch an diesem Ort die gleichen Schwierigkeiten, die für die zahlenmäßige Bestimmung der Masse bestehen. Es kommt jedenfalls auf den Einzelfall an. 15 18

17

Hofstätter, S. 22; Orte ga y Gasset, S. 142. Hofstätter, S. 22. MauTitz, S. 6.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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11. Wirkung und Kraft der Suggestion innerhalb der Masse Eines der Elemente, die zur Einebnung des Menschen innerhalb der Masse beitragen, ist die. Suggestion. Das psychische Phänomen der Suggestion wurde systematisch von der Wissenschaft studiert, die die Suggestion grundsätzlich in zwei Kategorien unterteilt: in die einfache Suggestion einerseits und in die hypnotische Suggestion andererseits, welche die Betroffenen in einen schlafähnlichen Zustand versetzt. Weiter wird bei der einfachen Suggestion die Einzelsuggestion, welche die Wirkung der Suggestion auf den einzelnen untersucht, unterschieden von der Massensuggestion, welche die Suggestionsfunktion inmitten einer Personenmehrheit studiert, besonders wenn letztere eine eigenartige psychische Verbindung zwischen ihren Mitgliedern entstehen hat lassen18 • Es ist evident, daß uns hier weder die Einzel- noch die hypnotische Suggestion beschäftigen wird, sondern nur die Massensuggestion. Bevor wir uns aber mit dieser befassen, wollen wir prüfen, was Suggestion eigentlich ist.

Mezger bestimmt die Suggestion als eine "Eingebung auf das psychische Leben eines anderen, das Hervorrufen gewisser Erscheinungen bei einer Person durch Einwirkung auf ihr Vorstellungsleben"18. In die gleiche Richtung, aber etwas weiter, geht die Definition von Gardikas, nach dem "Suggestion die übertragung einer Idee mit sentimentaler Unterlage ist, ohne die Vermittlung der Überlegung und des Verstandes der beeinflußten Person"2(I. Die Suggestion durchbreche die bewußte Geistestätigkeit und stoße in die unbewußte vor, die für unser Leben keine geringere Bedeutung habe21 • Die besondere psychische Situation, in der sich die Menschen innerhalb der Masse befinden, beschleunigt die Suggestion sehr. Diese sei letzten Endes keine Folge der Fähigkeit des die Suggestion Betreibenden (Suggestivität), sondern eine Folge der Empfänglichkeit und der Veranlagung der Personen zur Suggestion (Suggestibitität)22. 18 MezgeT, Die Suggestion in kriminalpsychologisch-juristischer Beziehung, zStW, Bd. 33, S. 847 ff.; vgl. MauTitz, S. 9. 18 MezgeT (I), S. 847. 20 21 22

GaTdikas, S. 450. MauTitz, S. 9. Baschwitz, S. 61;

vgl. Hagemann, S. 107 mit Kritik gegen Le Bon. Wenn

Le Bon von der Suggestibilität der Masse spreche, so übersehe er, daß auch

das vereinzelte Individuum von dem Führungseinfiuß eines anderen Menschen oder eines Ereignisses suggestiv beeinfiußt werden könne, und sich dann in seiner Haltung, seinen Ideen und Entschlüssen stark verwandle. Auch die Neigung, Einbildung und Bilder für Wirklichkeit zu halten sei keine

48

1. Teil: Verfassungs theorie, Massen- und Sozialpsychologie

In der Masse unterliegt der einzelne der Suggestion viel leichter und intensiver als in der Vereinzelung, denn wenn sich das die Suggestion erleidende Individuum zwischen vielen anderen befindet, sieht es, daß auch eine größere Zahl von den anderen Menschen die gleiche Idee wahrnimmt. Die Idee aber, die auch viele andere teilen, wird als richtiger angesehen und birgt größere Kraft. Sie ist unbezweifelte Wahrheit23. Mit der ersten Sinnestäuschung, die ein Individuum in der Masse führt, hat man schon den Kern der Suggestion24 • Diese wird dann durch den Mechanismus der übertragung und der Nachahmung leicht und schnell auf die anderen Mitglieder übertragen. Es gibt hier eine ganze Menge von Beispielen aus der Literatur, in denen man sieht, wie leicht die Illusion eines Teilnehmers auch zur Illusion der Gruppe wird25 • Die Suggestion wirkt bezwingend und berauschend26• Die suggerierte Idee hat innerlich soviel Kraft, daß es einem nur mit Mühe, wenn überhaupt, gelingt, ihre Verwandlung in die Tat zu verhindern. Parolen, Ideen, Bilder, welche die Masse erschüttern, können sie auch suggestiv beeinflussen. Die unter Suggestion stehende Masse begeistert sich sehr leicht, nachdem sie von der "Wahrheit" überzeugt ist, die den Gegenstand ihrer Suggestion ausmacht. Die so fanatisierte Masse wird noch leichter in die Richtung geleitet, welche die unbewußt aufgezwungene Idee vorgezeichnet hat. "Das Individuum in der Masse", sagt Le Bon, "befindet sich in einem Zustand, den wir mit jenem der Hypnose vergleichen könnten. GeBesonderheit der Massensituation. Jeder Psychologe kenne die halluzinatorische Veranlagung stark gefühls- und phantasiebegabter Individuen. Diese Kritik von Hagemann ist hier übertrieben. Die Tatsache, daß die Suggestion kein eigentümliches Kennzeichen der Masse ist, darf nicht zum extremen Gedanken irreführen, so daß man ihre besondere Funktion innerhalb einer Personenmehrheit übersieht. 23 Gardikas, S. 450; Mauritz, S. 10; Aich, S. 70. 24 Le Bon, S. 23. 25 Hofstätter, S. 62. Der Autor hat mit Menschengruppen experimentiert und festgestellt, daß "die Versuchspersonen sich gegenseitig durch die ausgerufenen Schätzungen beeinflussen. Auf diese Weise geben sie einander gegenseitig Anhaltspunkte in einer an sich sehr unbestimmten Situation. Im Endeffekt einigen sie sich ohne direkte Verabredung bezüglich eines Sachverhalts, der als objektive Gegebenheit gar nicht besteht... Die Gruppe trägt, wie man auch sagen könnte, eine neue Ordnungstatsache, in das Bild ihrer Welt", S. 55. Man könnte hier einwenden, daß das Laboratorium mit seiner abgeschlossenen und inszenierten Welt kein geeignetes Forum zum Studium der im Flusse befindlichen und brisanten Wirklichkeit der Massensituation ist. Jedoch sind manche seiner Feststellungen, wie die zitierte über die gegenseitige Beeinflussung der Menschen in der Gruppe, sehr nützlich zum Verständnis des Verhaltens des Einzelnen dann, wenn sich dieser mit anderen zusammenfindet. 28 Nagler, Das Verbrechen der Menge, GS Bd. 95, S. 157 (189).

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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fühle und Gedanken werden an der Richtung orientiert, welche der Hypnotiseur gibt. Die Suggestion hat in der Masse größere Kraft, als diejenige, die die Hypnose dem einzelnen gibt. Denn in der Massensituation, die für alle Beteiligten gleich ist, haben wir eine Riprozität, welche die Masse zu einem Punkt treibt, an dem die Leidenschaften und Gefühle hervorbrechen27 ." Wir werden an gegebenem Ort sehen, inwieweit die Suggestion Einfluß auf die Zurechnungsfähigkeit der ihr Ausgesetzten nimmt. Hier begnügen wir uns mit der massenpsychologischen Feststellung, daß das Individuum oder eine Personenmehrheit oder sogar ein ganzes Volk durch den Mechanismus der Suggestion zum blind-tätigen Organ, zur unsichtbaren Hand eines anderen wird, welcher wenn er die psychologischen Gegebenheiten des jeweiligen Augenblicks und die unterbewußten Kräfte des Menschen ausnützt, jene zu seinem Ziel führen kann. In dem sehr erregbaren Raum der Politik ist dann die Wahrscheinlichkeit der suggestiven Lenkung der Massen sehr groß, besonders in Zeiten wirtschaftlicher Krisen, politischer Unterdrückung oder grober Verachtung demokratischer Grundprinzipien, wobei die Demagogen und die zahlreichen "Führer" der Masse entspringen.

111. Die Gefährlichkeit der Masse Eine Ansammlung von Menschen, die die erwähnten Eigenschaften der Masse erlangt hat, stellt eine äußerste Gefahr für die Rechtsordnung dar, denn in der Masse verliert der einzelne den Überblick: über die Rechtmäßigkeit seiner Zielsetzungen28 und begeht Taten, die er in der Vereinzelung nie zu begehen wagte.

Der Verlust des Gefühls für Verantwortung in Zusammenhang mit dem Bewußtsein der überlegenen Stärke verjagt die Angst vor der Strafe. Ein Massenteilnehmer, der beispielsweise einen Stein oder einen Brandsatz aus der Masse heraus wirft, benützt das Gefühl, daß er einer von vielen ist, den man schwierig auffinden und verhaften kann, als Deckung. Die Masse bietet ihm also den Deckmantel der Anonymität und die psychische Unterstützung, hinter sich viele andere zu haben.

Die Wahrscheinlichkeit des rechtswidrigen Verhaltens der Masse ist um so größer, je größer die Zahl der Teilnehmer ist und je heterogener ihre Zusammensetzung is~. 27 28 IU

Le Bon, S. 23. Mauritz, S. 16. Baschwitz, S. 19; Gardikas, S. 459.

4 Kostaras

50

1. Teil:

Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

Die Gefährlichkeit der Masse besteht also im Grunde in der Schwierigkeit die inneren Kräfte, die bei der Wandlung des einzelnen in der Masse frei werden, unter Kontrolle zu bringen. Die Massendelikte fast ausschließlich im Bereich der Gewaltkriminalität liegend - sind Ausdruck der blinden Aufregung und der Explosion der Leidenschaften in der Masse30 • Denen gegenüber hat die menschliche Logik die gleiche überzeugungskraft, wie der verzweifelte Ruf des Reiters an seine scheu gewordenen Pferde, sich zu beruhigen.

IV. Kritik der Le Bonscb.en Lehre mit Bezug auf die heutigen Demonstrationen Die klassische Lehre Le Bons über die Massenpsychologie geht, wie gesehen, von der Annahme aus, daß der Mensch sich in der Masse psychisch umwandelt und seine bewußte Persönlichkeit verliert. Er werde zum unüberlegten und urteilslosen Wesen, ohne Bewußtsein seiner Taten und seiner Verantwortung dafür. Diese Auffassung des französischen Psychologen wurde zunächst auch von anderen angenommen, wie z. B. Tarde, Sighele und Ortega, welche deren wissenschaftliche Richtigkeit zu beweisen und zu stärken versuchten. Jedoch der absolute Ton der Feststellungen der Le Bonschen Lehre gab nach und nach den Ansatzpunkt zu einer bezweifelten Kritik, die um so lauter und schärfer wurde, je mehr sich die kulturellen Verhältnisse verbesserten und das Bild eines Menschen skizzierten, der an den Entwicklungen der heutigen Gesellschaft funktionell und bewußt verankert ist. Es ist also von diesem Standpunkt aus verständlich, warum unsere Zeit mehr denn je die Schlüsse der klassischen Theorie über die Psychologie der Massen und deren Anwendungsbereich bezweifelt. "Es gilt bloß, der Masse alle nur irgend erdenklichen üblen Eigenschaften und Neigungen zuzuschreiben", führt Hofstätter aus. "Da werden Fabelwesen erfunden, die - so heißt es - mit oder aus dem Rückenmark heraus in Bildern, und nicht in Begriffen, denken, die sich in einem Dauerzustand der Wut befinden, die blind, dumm und begierig sind, deren qualitätenlose Gemeinheit ganz außer Zweifel steht. Von Führern, Reklamechefs, Propagandisten und Scharlatanen vergewaltigt zu werden - so scheint es - ist das Hauptanliegen der "Masse"; und wo sie nicht vergewaltigt wird, möchte sie doch mit dem Angebot wertlosen Tands und banaler Oberflächlichkeiten in einem apathischen Schlummer gewiegt werden31 ." 30

a!

Canetti, S. 16. Hofstätter, S. 7.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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Nicht jede Menschenansammlung mit Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Teilnehmern ist für deren Verstand von verderblicher Bedeutung und sie wird nicht bloß deshalb zur Herde, wie Le Bon behauptet. Es ist freilich wahr, daß der Mensch sich in Gemeinschaft mit anderen nicht immer wie in der Vereinzelung verhält. Das ist eine grundlegende Feststellung Le Bons, die man hier beibehalten könnte, als eine nützliche Richtlinie, die zu befolgen ist, um die spezifischen Merkmale und die Gründe der Veränderung des menschlichen Verhaltens in der Gruppe ausfindig zu machen. Zwischen diesem Standpunkt aber und dem anderen, der die Behauptung verteidigt, daß Inhalt dieser Veränderung die Nivellierung des Einzelnen ist, besteht ein sehr beachtlicher Unterschied.

Veränderung des Verhaltens des einzelnen inmitten einer Personenmehrheit bedeutet nicht zwangsläufig Einebnung und psychische Veräußerung des Individuum.s32. Außerdem muß diese Veränderung nicht bei allen Individuen in der Gruppe auftreten. Eine primäre Rolle spielt daher die Qualität der Menschen, die zu jeweiligen Bewertungen zur Verfügung stehen. Und weil die Gruppen aus Individuen, aus Menschen, bestehen, kann es nicht anders sein, als daß die Qualität letzterer mehr oder weniger der ganzen Gruppe ihren Stempel aufdrückt. Zu Recht wurde hier bemerkt, daß die Vielheiten weder besser noch schlechter, weder dümmer noch klüger seien als der Durchschnitt der sie bildenden; nur Vorurteil lasse sie so erscheinen und verfälsche das Bild der Tatsachen33 • Auch das einzelne Individuum kann manchmal, wenn bestimmte Bedingungen herrschen, in kritischen Situationen geraten und so viele Unüberlegtheiten begehen oder sich äußerst töricht benehmen. Wie kann man erwarten, daß eine Vielheit von Individuen gegen solche Anfechtungen immun sein soll? Eine brauchbare Feststellung der Le Bonschen Theorie, die die heutige Lehre über die Massenpsychologie annehmen und weiter untersuchen könnte, ist diejenige über den Verlust des Verantwortungsgefühls in einer Personenmehrheit. Der einzelne kann in einer dichten Zusammenkunft mit anderen das Gefühl der Verantwortung für seine Taten verlieren. Zwischen den Vielen ist er der "Namenlose", der "Niemand", nicht der "wer" der Strafgesetze. Die Anonymität ist eine große Versuchung für das Bewußtsein und die Verantwortlichkeit. Für viele ist das ordnungs- und rechtmäßige Handeln kein Ausdruck bewußter überzeugung davon, was sozial-ethisch oder legal ist, sondern eine äußere Anpassung an jenes Handeln, bloß weil man, im Falle der Nichtanpassung, das "Auge" des Gesetzes und die Konsequenzen fürch32

33

Vgl. Hagemann, S. 110. Hagemann, S. 112.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

tet. Wo dieses "Auge" nicht sehen kann, enthüllt man, wieviel kultivierten Menschen und wieviel "Raubtier" man in sich hat. Psychologische Untersuchungen haben festgestellt, daß auch in ruhigen, keineswegs leidenschaftlich erregten Versammlungen das Verantwortungsgefühl und das Urteilsvermögen der Teilnehmer eine Beeinträchtigung erleidet. Dies solle sich bereits in einem verhältnismäßig kleinen Kreis deutlich machen; je größer der Kreis werde und je mehr die Zahl der Anwesenden ins "massenhafte" anschwelle, um so stärker werde der Druck auf die Denkfähigkeit jedes einzelnen in dieser "Masse" empfunden34 • Was nun die Demonstrationen und insbesondere die politischen Demonstrationen angeht, ist die Le Bonsche Lehre im Grunde ungeeignet, sie massenpsychologisch zu interpretieren. Wenn die heutigen Demonstrationen wie Ansammlungen von fanatisierten und gewalttätigen Fußballfans aussähen, könnte man zusammen mit Le Bon über den "Verfall der Hüllen der Kultur" und über die "Auferstehung des Wild.menschen aus der Steinzeit" trauern. Aber die Verhältnisse und die Tatsachen berechtigen einen heute - zum Glück - nicht dazu. Denn die heutigen Demonstrationen werden von Menschen durchgeführt, die sich ihrer Stellung und ihrer Rolle in der Gesellschaft im starken Maße bewußt sind. Sie wissen wozu sie berechtigt sind, was sie wollen und wie sie es in Anspruch nehmen. Und sie wissen, bis wieweit Forderungen gehen dürfen. Die Errungenschaften der Zivilisation werden erweitert und gesichert, weil der heutige Mensch sie mit wachsamen und kämpferischen Augen beobachtet - trotz der Gefahr, die er läuft, von Le Bon verbannt zu werden, wenn er sich entschließt, sich zur Verteidigung dieser Errungenschaften mit anderen zusammenzufinden. Natürlich ist es theoretisch - aber auch faktisch - möglich, daß eine Demonstration manclunal zur Masse wird. Wenn aber so etwas geschieht, dann nicht weil Le Bon es will, sondern weil es die jeweiligen Demonstranten so gewollt haben. Die unterschiedliche massenpsychologische Betrachtung von Demonstrationen bringt heute auch der Strafgesetzgeber in der Regelung der sog. Demonstrationsdelikte zum Ausdruck. Während er zuvor die bloße Teilnahme an einer Versammlung, aus der heraus Gewalttätigkeiten begangen wurden, unter Strafe stellte, bestraft er heute nur diejenigen Demonstranten, die an den Gewalttätigkeiten teilnehmen35 • Der Gesetzgeber ist sich also heute dessen bewußt, daß eine Demonstration nicht blind und urteilslos, wie die Masse ist. 34 85

Baschwitz, S. 12. Vgl. § 125 StGB.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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Wir dürfen nun zum Schluß dieses Absatzes die altera vox der Massenpsychologie den Gegenbeweis der überkommenen Lehre vorbringen lassen: "Die massenpsychologischen Gesetze besagen vor allem: Die weitaus überwiegende Mehrheit der Menschen erweist sich trotz aller menschlichen Fehler und Gebrechen als hinlänglich vernünftig und hinlänglich gütig, wenn diese Menschen nicht gewaltsam daran verhindert werden, den Forderungen ihres Verstandes und ihres Mitgefühls zu folgen. Sie sind dem Irrtum und der Täuschung unterworfen, aber der Belehrung zugänglich; äußerstenfalls der Belehrung durch harte Erfahrungen. Menschen mit gewalttätigen, durch keine Rechtsbedenken und keine humanitären Regungen gehemmten Neigungen stellen Ausnahmeerscheinungen dar; Abweichungen vom Normaltypus; sie treten stets nur in verhältnismäßig kleiner Minderzahl auf. Den Menschen vom normalrechtlichen, normalurteilsfähigen Mehrheitstypus droht keineswegs die Gefahr, daß sie durch ihr Beisammensein und durch ihr Zusammengehörigkeitsgefühl vernunftbetäubenden Massenleidenschaften anheimfallen. Wohl aber droht ihnen die Gefahr, daß sie in ihrem Handeln und Dulden, Sagen und Meinen dem Terror einer Minderheit unterworfen werden, mit der sie sich durch eine Schicksalsgemeinschaft irgendwelcher Art verkettet fühlen, die sich jedoch bei der Anwendung ihrer Zwangs- und Schreckmittel an keine für die Mehrheit selbstverständlichen Vernunfts-, Rechts- und Menschlichkeitsbegriffe gebunden erachtet36." V. Auf der Suche nach den Gründen der heutigen UnruhenSoziologische und sozialpsychologische Betrachtung von Demonstrationen A. Der politisch bewußte Bürger nnd die Inanspruchnahme seiner Rechte in der heutigen Gesellschaft

Man wird die heutigen Demonstrationen aus soziologischer und sozialpsychologischer Sicht richtig einschätzen können, wenn man sie im Rahmen einer breiten Politisierung betrachtet, die den heutigen Menschen und insbesondere die neue Generation kennzeichnet. Zwar mag der Bürger auch zu früheren Zeiten die Gelegenheit gehabt haben, seine Souveränität im politischen Leben seines Landes zu bekunden, die heutige Zeit aber gab ihm die Möglichkeit, durch harte, aber wertvolle Erfahrungen, ein politisches Bewußtsein zu festigen, das ihm erlaubt, seine Rechte im Leben in Anspruch zu nehmen und an der Kontrolle und der Bildung des staatlichen Willens aktiv teilzunehmen. Die 88 Baschwitz, S. 189; vgl. Schütze, Unbelehrt in Brokdorf, Süddeutsche Zeitung v .15. Nov. 1978, Kommentar, S. 4.

1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

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Gründe für die Erklärung dieses politischen Erwachens überall auf der Welt, das mit dem Ende der Periode des kalten Krieges (Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre) zusammenfällt und das seit jener Zeit in langsam zunehmendem Maße zu beobachten ist, muß man jedenfalls in einem breiteren Spektrum suchen. Eine Erklärung, welche das Phänomen zu interpretieren versucht, ist diese, die das Aufkommen der friedlichen Koexistenz von Ost und West sieht und an sich auch die Umsetzung der Konflikte von außen nach innen mit sich bringt, mit der ganz natürlichen Konsequenz des Anschwellens der Innenkonflikte37• Gleichzeitig haben wir auch eine Umgestaltung der Konflikte von technischen Konflikten in Wertkonflikte. Diese Veränderung des politischen Klimas half so, daß die Legitimität der Handlungen bislang akzeptierter Institutionen des politischen Systems in Frage gestellt zu werden beginnt38 • Man darf hier die Rolle der heute existierenden breiten Kommunikationsmöglichkeiten nicht übersehen, die auch mit Bezug auf die Weltaktualität die inländische öffentliche Meinung und die politischen Kräfte positiv oder negativ beeinflussen können. Für die Bundesrepublik muß dieses politische Erwachen weiterhin in Zusammenhang mit der politischen Entwicklung im Lande von 1946 an gesehen werden39• Die bitteren Erfahrungen, die der letzte Weltkrieg aufgehäuft hatte, führte anfänglich zu einer Entpolitisierung, die zuerst von dem intensiven Bemühen um den wirtschaftlichen Aufbau Deutsch:lands begünstigt wurde. Als aber die Überreste der Kräfte, die soviel Unglück über die Menschheit und über Deutschland selbst häuften, wiederzuerscheinen begannen (Eintritt der NPD in die Parlamente von Hessen, Bayern, Schleswig-Hoistein, Rheinland-Pfalz, Niedersachsen und Bremen)40, empörte sich plötzlich das politische Bewußtsein derjenigen, die nichts mehr von der furchtbaren jüngsten Vergangenheit wissen möchten, aber auch das derjenigen, die es innig wünschten, den mit soviel Blut und Tränen erkauften Frieden nie mehr entbehren zu müssen. Die Proteste, die damals im ganzen Bundesgebiet ausbrachen und sich gegen die NPD richteten, wurden zuerst von den Nachrichten genährt, die vom ungerechten Vietnam-Krieg hierher drangen und dann von den Notstandsgesetzen und der Bildung der 37

AHerbeck, Soziologie radikaler Studentenbewegungen, München 1973,

S.207.

38 AUerbeck, Eine sozialstrukturelle Erklärung von Studentenbewegungen in hochentwickelten Industrieländern, in: Aufstand der Jugend, Neue Aspekte der Jugendsoziologie, München 1971, S. 195. 39 Kaase, Die politische Mobilisierung der Studenten in der BRD, in: Aufstand der Jugend, hrsg. von Allerbeck I Rosenmayr, München 1971, S. 156. 40

Kaase, S. 156.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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Großen Koalition verstärkt, die die Vernichtung der parlamentarischen oppositionellen Kräfte zur Folge hatte41 • Auf diese Weise wurde im öffentlichen Leben spontan eine "außerparlamentarische Opposition", die mit dem Ziel der Kontrolle der Entscheidungen der staatlichen Gewalt immer mehr Bürger und insbesonders Studenten von den Universitäten einberief. Mit der Normalisierung des politischen Lebens aber verschwand diese oppositionelle Tätigkeit der Bürger nicht, sondern wurde in die verschiedenen Kanäle (Studentenbewegung, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen) abgeleitet, von denen jeder getrennt oder alle zusammen manchmal in die politische Aktualität einfließen und die Forderungen des Bürgers von heute vorbringen. B. Die Studentenbewegung und die Verneinung der etablierten Autoritält

Neben den allgemeinen sozioökonomischen und politischen Faktoren der Nachkriegswelt, die das Erwachen des politischen Bewußtseins des heutigen Menschen beeinflußt haben, muß man auch die spezifischen Merkmale aufsuchen, welche zum Aufstand der Jugend, und darunter besonders den Studenten beigetragen haben. Manche Autoren versuchen diesen Aufstand als einen Ausdruck des Generationskonflikts zu sehen, der sich zwischen den älteren und den jüngeren Generationen ergibt. Von den verschiedenen Theorien, welche diesbezüglich vertreten werden, unterscheidet man hier drei Gruppen: Die erste Gruppe (Eisenstadt) sieht den Generationskonflikt als Folge einer potentiellen Diskrepanz zwischen der Struktur der Familie und der Gesamtgesellschaft. Vor allem trete diese Diskrepanz in Situationen rapiden Wandels hervor, in denen die Familien traditionell seien und die Gesellschaften sich dynamisch veränderten.

Die zweite Gruppe (Davis) erklärt keine institutionellen Diskrepanzen, sondern psychosoziale Unterschiede zwischen Jugendlichen und Erwachsenen als Ursache des Konflikts der Generationen. Nach dieser Theorie ändere sich je nach unserem Alter auch unsere Weltanschauung. Unsere Einstellung werde graduell an die Ideologie des status quo angepaßt, was treffend erkläre, warum alte Menschen eher konservativ und Jugendliche eher radikal seien. 41 Krämer / Badoni, Die zweite Jugendbewegung, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte", 1967, BI. 44, S. 3 ff.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

Die dritte Gruppe schließlich arbeitet mit einer psychoanalytischen Methode und versucht die Unruhe der Studenten als eine "ödipale Rebellion" zu bezeichnen42 • Von allen diesen Generationskonfliktstheorien vennag aber keine das Problem des studentischen Aufstandes zu lösen43 • Konflikte und Gegensätze zwischen älteren und jüngeren Generationen gab es immer und es wird sie immer geben. Es sieht jedoch so aus, als wären diese Konflikte nicht die Beweggründe für die Unruhe der heutigen Jugend. Manche versuchen die Erklärung des Problems zu finden, indem sie die Studienbedingungen als hauptverantwortlich für diese Beunruhigung zwischen den Studenten betrachten". Andere wiederum vertreten die Meinung, daß die Unsicherheit über die Zukunft, die die Studenten fühlen, bei ihnen eine Art Existenzangst verursacht und sie dann in die Rebellion oder zum Protestverhalten treibt". Ein weiterer Versuch wird auch in der Richtung vorgenommen, den Einfluß des elterlichen Hauses auf die Jugendlichen als Interpretationsgrundlage des Problems zu betonen. Kinder aus liberalen Häusern seien protestfreundlicher, als die aus konservativen Stammenden". Es fehlt dabei nicht die marxistische Erklärung, welche die Studentenunruhen als einen Ausdruck des Klassenkampfs betrachtet, der die kapitalistischen Gesellschaften kennzeichnet4 7• Viele von diesen Theorien sehen einen Teilaspekt des Problems oder manchmal nur den Anlaß, nicht aber das Motiv. Denn in vielen Fällen mögen die Studenten gegen die Studienbedingungen protestieren und Refonnen verlangen, ihre Proteste jedoch sind nur ein "Spiegelbild grundsätzlicher Widersprüche, die hinter der Universität liegen"48. Die Gründe dieser Proteste der Studenten sind viele und viel tiefgehender, und um diesen Gründen näher zu kommen, muß man vor allen Dingen von dem Standpunkt ausgehen, daß die Studenten, die Jugendlichen im allgemeinen, von Natur aus einen Psychodynarnismus inne 42 AUerbeck, Soziologie radikaler Bewegungen, S. 101 mit weiteren Hinweisen auf diese Theorien. 43 Vgl. Allen, Soziale Klasse und Generationsbildung, in: Aufstand der Jugend, hrsg. von Allerbeck / Rosenmayr, München 1971, S. 47; Euchner, Marxistische Positionen und linke Studentenopposition in der BRD, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte", 1968, BI. 36, S. 51. " Scheuch, Soziologische Aspekte der Unruhe unter den Studenten, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte" 1968, BI. 36, S. 3 f. (7). 45 Scheuch, S. 20; AUerbeck (I), S. 166. 48 Cavalli / MartineUi, Ein theoretischer Rahmen zur vergleichenden Analyse der Studentenrevolten, in: Aufstand der Jugend, München 1971, S. 72; Scheuch, S. 10. 47 Wotkov, Studentenunruhe als Phänomen kapitalistischer Systeme, in: Der Aufstand der Jugend, S. 59. 48 Cavalli / MartineUi, S. 67.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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haben (überfließende Energie, kritische und untersuchende Neigung, besondere Reize gegenüber dem Neuen, geschärfte Empfindlichkeit und nicht selten die Tendenz nach einem Maximalismus). Dieser Psychodynamismus ist im Grunde Ausdruck der psychobiologischen Wandlungen, die dem Übergang vom Status Jugendlicher zum Status Erwachsener begleiten. In den industriell entwickelten Ländern sind freilich diese Wandlungen um so krisenhafter, je höher der Lebensstandard ist'9. Die Unruhe irrt also noch vor ihrer Äußerung in der Seele des Jugendlichen herum. Diese Seele will die Gesellschaft gewinnen und sie bombardiert sie in allen Erziehungsphasen mit Idealen. Unsere jungen Menschen sollen wahrheitsliebend, gerecht und menschlich werden. Eine ideale Welt wird dann in die Psyche des Jugendlichen geboren. Und wenn er zum ersten Mal mit dieser seiner Welt in die konventionelle gesellschaftliche Wirklichkeit hineingeht, sieht er eine ganz andere Welt. Diese Erfahrung besorgt ihm das erste Material, die erste Darstellung für eine dialektische Auseinandersetzung. Entweder ist die Welt, die ihm übertragen wurde, verlogen oder die andere, die er sieht illusionär. Der Jugendliche akzeptiert nicht, daß die Welt, die seine Seele angenommen hat, verlogen ist. Überzeugt von der Wahrheit seiner Welt bekämpft er mit größerem Ungestüm die andere, die lügenhafte und widerspruchsvolle Welt des Establishments. In ihrer Kritik verwenden die Jugendlichen keine neuen moralpolitischen Kriterien, sondern die Werte, die sie von der Gesellschaft als richtig gelernt haben50 • In dieser Richtung etwa wird die Ursache der Studentenunruhen auch in einer Fragestunde des Bundestags gesehen, nämlich daß die Studenten und Schüler die Wirklichkeit an dem Modell maßen, das wir ihnen im politischen Unterricht beizubringen versucht hätten. Dieses Modell, so wie auch wir uns eben wirklich gute Demokratie vorstellen, komme eben in Konflikt mit der Realität, die diese jungen Menschen vorfänden61 • Das gleiche Gefühl des Widerspruchs zwischen demokratischem Anspruch und Wirklichkeit werde auch mit Bezug auf die Politik im internationalen Bereich, durch die Unterstützung von korrupten, das Volk unterdrückenden diktatorischen Regimes, besonders in den Ländern der Dritten Welt, hervorgerufen, die mit der Sonntagsformel der freien Welt nur das gemeinsam hätten, daß sie nicht kommunistisch 49 Scheueh, S. 18; Allerbeckl Rosenmayr, Neue Theorien und Materialien zur Soziologie der Jugend, in: Aufstand der Jugend, München 1971, S. 14.

so Vgl. AUerbeck (1), S. 211.

51

"Das Parlament", 1968, BI. 7 u. 8.

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

seien. Alle diese Faktoren führten zu Unbehagen, zur Kritik, zum kritischen politischen Engagement im Verhältnis zum Staat und zu den offiziellen politischen Institutionen52 • Nicht zu unterschätzen ist eine in die gleiche Richtung zielende Erklärung, daß die Studentenbewegung auch antitechnologisch ist. Sie verneint den zeitgenössischen Technizismus, der für den heutigen Menschen die Gefahr birgt, ihn zum Zubehör von Maschinen zu degradieren und die natürliche Umwelt zu zerstören. Verantwortlich dafür macht der Student die Konsumgesellschaft, deren Lebensweise er ablehnt. Die Proteste der Studenten sind also antiautoritär, antitechnologisch und verneinen das Establishment63. Als Studenten in den Vereinigten Staaten gefragt wurden, gegen wen sie protestieren, lautete ihre Antwort zu 70 G/o: "Against society in generals,." Dieses politische Engagement der Studenten - wenn es die Legalitätsgrenzen nicht überschreitet - muß man aber nun nicht als einen Ausdruck krankhafter Symptome in der Gesellschaft bewerten, sondern als einen Beitrag zur lebendigen Aufrechterhaltung der Demokratie und zur Innovation ihrer Institutionen55 • "Der Jugend", führt der Schleswig-Holsteinische Ministerpräsident Stoltenberg aus, "ist das Jahr 2000 näher als 1933. Sie muß, wie jede Generation, ihren Standort in der kritischen Auseinandersetzung mit dem überkommenen und der eigenen Zeit gewinnen. Auseinandersetzung heißt nicht bloß Verwerfung oder gleichgültige Abkehr... Im legitimen Widerstreit der Meinungen und Kräfte sollte es jedoch für die Älteren und Jungen bestimmte feste Konstanten geben: das Bekenntnis zum freiheitlichen demokratischen Rechtsstaat und seinen legalen Formen politischer Entscheidung zu Toleranz, Selbstbestimmung und Frieden58• "

52 Löwenthal, Zum politischen Engagement der Studenten, in: "Aus Politik. und Zeitgeschichte", 1967, BI. 44, S. 12 f. (13); vgI. Neuberger, S. 1. &3 Statera, Utopie und Massenmobilisierung, Die italienische Studentenbewegung, in: Aufstand der Jugend, München 1971, S. 141. 54 AUerbeck (I), S. 233. 66 Vgl. Euchner, S. 55; Löwenthal, S. 12; Scheueh, S. 4. Nach einer Statistik. von AUerbeck (I), S. 49, 4/5 aller Studenten verneinen Gewaltanwendung. Nur etwa 4 Ofo der Studenten bejahen Gewalt. Die große Mehrheit von demonstrierenden Studenten bejaht die parlamentarische Republik, übt aber Kritik. an ihren Erscheinungsformen in der BRD. 58 StoUenberg, Student und Politik, in: "Aus Politik. und Zeitgeschichte", 1968, BI. 18, S. 8.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

59

c.

Anardüsmus und die provokative Rolle radikaler Gruppen innerhalb der politisdlen Demonstration

Der Anarchismus ist eine ideologische Schöpfung der Aufklärung und wurde anfänglich von den Philosophen Godwin und Proudhon als eine passive Verneinung jeder und insbesonders der staatlichen Autoritäto 7, die nicht durch Gewalt, sondern durch die Vervollkommnung des Menschen beseitigt werden kann, konzipiertoS. Dies alles sei Utopie, erklärte der Russe Bakunin und befürwortete einen Anarchismus, der durch die Revolution und den bewaffneten Kampf geheiligt wird. Nur die Gewalt, meint er, könne überzeugen. Alle Menschen seien gleich und gesellschaftliche Unterschiede lediglich milieubedingt. Gesellschaft und Staat sollten daher beseitigt werden und zwar in allen ihren Erscheinungsformen: Wirtschaft, Ehe, Kirche, Bürokratie, Militär; Kinder sollten gemeinschaftlich erzogen und die Produktionsmittel ebenfalls gemeinschaftlich genützt werden. Der Anarchist solle den Umsturz mit allen Mitteln anstreben. Die Revolution heilige alles: Gift, Messer, Strick. Der Revolutionär habe nur ein Ziel: das bestehende zu zerstören59 • Diese Botschaft des Patriarchen des revolutionären Anarchismus j wegen seiner Schreckenherrschaft auch "Terrorismus" genannt, hat mehr als in irgend einer Z~it während der siebziger Jahre viele Anhänger insbesondere innerhalb der Studentenschaft gefunden60 • Indi57 Zu den politisch-philosophischen Wurzeln des Anarchismus siehe Nollau, Der Anarchismus, in: "Aus Politik und Zeitgeschichte", 1967, BI. 47, S. 3 ff. 68 Nollau, S. 4. se Nollau, S. 5. so Das Problem des Terrorismus beschäftigt heute sämtliche wissenschaftlichen Gebiete, es wird aber nicht gelöst werden können, ehe die Ursachen, die heute sehr tief wurzeln, bekämpft werden; letztere sind nämlich viele und breit ausgestreckt. Sozial psychologisch müssen die Gründe der Terrormotivation oft in den Faktoren gesucht werden, die eben zum politischen Engagement der Jugend und den Protestdemonstrationswellen der jüngsten Zeit geführt haben. Erziehungswesen mit den Widersprüchen des demokratischen Ideals zu der Wirklichkeit, Konfrontation mit unglaubwürdigen moralpolitischen Prinzipien, etablierte Autorität, umweltfeindliche technologische Entwicklung, Wohlstand und Konsumgesellschaft müssen ihren Einfluß auf die Terrormotivation genommen haben. Während eines Internationalen Kongresses im Nov. 1978 in Berlin über den Terrorismus wurden die Terroristen in dieser Richtung als Kinder einer allgemeinen Kulturkrise bezeichnet, die, bestimmt vom Zweifel an Werten, als wichtigster Hintergrund des Terrorismus anzusehen sei. Es sei der Kriegsgeneration kaum gelungen, ihren Kindern den Eindruck einer geordneten, sinnvollen Welt zu vermitteln. Das habe zu einem erheblichen Teil innerhalb der Jungen Generation zu radikaler Ablehnung von Staat und Gesellschaft geführt und eine Minderheit zu offener Gewalt verleitet, siehe Südd. Zeitung v. 19. Nov. 1978. Den ausschlaggebenden Punkt für den übersprung vom bloßen Radikalis-

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1. Teil: Verfassungstheorie, Massen- und Sozialpsychologie

viduen oder Vereinigungen von Individuen, sog. "Fraktionen", "Armee" oder "Brigaden" sind auch heute noch aktiv~l1. Ihre Grundfarbe ist rot, auch wenn sie sich selbst "schwarz" (September oder wie anders) nennen. Rot nicht wie Blut, sondern aus Blut, aus menschlichem Blut. Das ist der Preis, den die meistens unschuldigen Opfer auf dem Altar der Zweckmäßigkeit des Terrorismus erbringen müssen. So steht der Mensch auch im Zentrum der Terrorismusideologie. Nicht aber als Zweck, sondern als Mittel. Durch kaltblütige Morde an irgendwelchen Menschen soll ein Ziel erreicht werden: die absolute Freiheit und Gerechtigkeit. Die Ideologie aber, die den Menschen als Wertsubjekt streicht und ihn als Handlungsmittel, als Objekt betrachten, wird nie die wahre Freiheit bringen können, denn sie verachtet den allerwichtigsten Grundsatz, nämlich daß der Mensch das einzige und zugleich das heilige Subjekt aller Institutionen und Werte ist. Ebensowenig kann die Gerechtigkeit durch den Weg des Terrorismus auf der Welt herrschen. Gerecht ist nicht, wer sich verbal zur Gerechtigkeit bekennt, sondern wer diesen Wertbegriff in seinem Leben praktiziert. Wer aber ahnungslose, von Gesellschaftskonflikten unberührte Schüler vom Unterricht oder vom Spielplatz kidnappt, um sie als Erpressungsopfer zu behandeln, wer die Herzen unschuldiger, von Todesängsten geplagten Flugzeugpassagieren quälen läßt und wer durch Sprengstoff das Leben völlig unbeteiligter und ahnungsloser Passanten gefährdet, der mag vielleicht auf diese Weise gewisse subjektive Gerechtigkeitsvorstellungen befriedigen, seine Handlungen werden mus zum Terrorismus sieht der Sozialpsychologe Grossarth-Maticek, Anfänge anarchistischer Gewaltherrschaft in der BRD, Bonn - Bad Godesberg 1975, S. 13, in einer schweren psychopathologischen Störung. Er untersuchte viele Terroristen und kam durch seine psychoanalytische Methode zum Schluß, daß der extremanarchistische Mensch an einer hochgradigen Desintegration seines unstrukturierten, jedoch tyrannischen Über-Ichs und seines unausgerichteten, an viele Reize sich befindenden Es, leide. Der junge Mensch akzeptiere nicht gewisse Formen der überlieferten Konvention. Er betrachte alles als Auswirkung der kapitalistischen repressiven Erziehung und verstehe von daher die Notwendigkeit der Zerschlagung der Herrschaft des Kapitals. Davon bekomme man aber Angst. Diese Angst könne man nur dadurch loswerden, indem man denjenigen Angst mache, die einem selbst Angst machten (S. 24). Nur die Möglichkeit den Feind anzugreifen könne die eigenen Ängste reduzieren (S. 40). Der Fanatismus und der blinde, alles zerstörende Aktionismus der Terroristen, weist zunächst auf die behauptete psychopathologische störung des extremanarchistischen Menschen hin, inwieweit aber nun diese Störung nur aus Angst- und Verfolgungsgefühlen zu erklären ist, ist sehr fraglich. 81 Das Jahrzehnt der aOer Jahre wurde durch eine neue Art von Terrorismus eingeweiht: den Staatsterrorismus. Die Besetzung der amerikanischen Botschaft in Teheran von persischen Studenten, die die Auslieferung des Schahs von den Vereinigten Staaten erzwingen wollten, macht einen neuen Anfang in der Geschichte des Staats terrorismus.

2. Kap.: Demonstrationen im Licht der Massen- und Sozialpsychologie

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aber vom gesunden Menschenverstand als keineswegs gerechtfertigte Verbrechen bezeichnet. Soweit zum Grundgedanken des Terrorismusproblems. Wenn man nun die Ziele der Terroristen berücksichtigt, ist es leicht zu verstehen, daß die Mitwirkung von terroristischen Elementen an einer Demonstration ein provokativer Störungsfaktor für diese Demonstration ist, denn das Friedlichkeitsgebot überzeugt den Terroristen genau so gut, wie die Bergpredigt den Teufel. Der Demonstrationsort bietet den Extremradikalen eine gute räumliche Möglichkeit und die Durchführung der Demonstration ist der Vorwand für die Praktizierung seiner Ziele. Zwar mag die Zahl der Extremisten sowohl in ihrer Gesamtzahl schlechthin, als auch in ihrem Auftreten während einer politischen Versammlung gering sein, sie stellen aber eine Bedrohung für den friedlichen Verlauf der Veranstaltung dar. Zu irgend einem Zeitpunkt werden sie ihre friedlichen Mitdemonstranten so provozieren, daß diese einer Konfrontation nicht mehr ausweichen können. Auf diese Weise endet eine Demonstration manchmal gewalttätig zu Lasten ihres Zweckes und der öffentlichen Sicherheit. Es fällt einem Demonstranten allerdings schwer, einen Terroristen inmitten von so vielen Mitdemonstranten äußerlich zu erkennen, es ist aber wohl eine Sache der Vernunft, den wahren von dem falschen Propheten, von den Taten her, zu unterscheiden.

Zweiter Teil

Demonstrationstäter und Strafrecht Erstes Kapitel

Die Gewalt als zentrales Problem bei den Demonstrationsdelikten - Gewalt und Gewalttätigkeiten I. Allgemeines

Die Gewalt bzw. Gewalttätigkeitsdelikte haben im Bereich der Demonstrationsdelikte eine ganz dominierende Position. Die Probleme, die sich bei der Auslegung und Anwendung der zutreffenden Tatbestände ergeben, sind so gelagert, daß ihre Lösung manchmal nur von der Auslegung eines bestimmten Begriffs im Gesetz abhängt. Ein solcher Begriff ist die " Gewalt", der überhaupt problematischste Begriff nicht nur für die Demonstrationsdelikte speziell, sondern vielmehr für das ganze Strafrecht schlechthin. Auf die Definition der Gewalt kommt es letzten Endes an, welche von den Handlungen des alltäglichen Lebens, die in die Freiheitssphäre des anderen eingreifen, pönalisiert werden, ob beispielsweise bestimmte Verhaltensweisen, die neu entwickelten Formen physischen und psychischen Drucks entsprechen, strafrechtlich erfaßt werden müssen. Ein repräsentatives Beispiel hierfür ist die "Sitzdemonstration", welche einen weiteren ganz interessanten Anstoß zur Gewaltdiskussion gegeben hat und neue Aspekte des Gewaltbegriffs beinhaltet. In diesem Kapitel wird versucht mit dem Zweck auf die Gewaltproblematik einzugehen, durch die verschiedenen Entwicklungsphasen in der Rechtsprechung und der Literatur und unter Berücksichtigung der heuti~n strafrechtsdogmatischen und strafrechtspolitischen Anforderungen, einen Gewaltbegriff zu gewinnen, der einen sicheren Schutz der persönlichen Freiheit in unserer hochtenisierten und nicht weniger brutalisierten Welt gewährleisten muß. Nicht weniger Beachtung verdient schließlich der Begriff der "Gewalttätigkeiten", über dessen Sinn und Bedeutung einigermaßen Verwirrung herrscht und der Tatbestandsmerkmal vieler in Anwendung

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

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kommenden Demonstrationstatbestände ist. Ebenfalls geklärt werden muß hierbei die Abgrenzung des Begriffs der "Gewalttätigkeit" von dem der "Gewalt". ll. Der GewaltbegrHf Das Wort "Gewalt" hat im allgemeinen Sprachgebrauch nicht immer die gleiche Bedeutung. Ganz allgemein bedeutet zunächst "Gewalt" "eine Machtbefugnis, die der Inhaber der Gewalt, der Gewalthaber, über die dem Machtverhältnis Unterworfenen besitzt" 1. Nicht einheitlich ist ebenfalls die Gewaltbedeutung im Rechtssystem schlechthin und insbesondere im Strafrecht. Schon aber von diesem ersten Gewaltverständnis des allgemeinen Sprachgebrauchs lassen sich zwei verschiedene strafrechtlich relevante Bedeutungen der Gewalt gewinnen: einmal die Bedeutung der Gewalt als institutionalisierte "Machtbefugnis" und zum anderen die Bedeutung der Gewalt als "Machtbefugnis" , die ein widerrechtliches Zwangsmittel kennzeichnet.

Gewalt als "institutionalisierte Machtbefugnis" wird immer bei solchen Tatbeständen angewendet, in denen das Gesetz von "Staatsgewalt" (§§ 92 Abs. 1, Nr. 1, 113 StGB) oder von der "Gewalt der bewaffneten Macht" (§ 120 Abs. 1 StGB) spricht oder in denen die "verfassungsmäßige Gewalt", die "vollziehende Gewalt" (§ 92 Abs. 1 Nr. 1, 2 StGB), die "elterliche Gewalt" u. ä. gemeint ist. Gewalt als widerrechtliches Zwangsmittel kommt in den §§ 81 Abs. 1, 105 Abs. 1, 106 Abs. 1, 107 Abs. 1, 108 Abs. 1, 113 Abs. 1, 234, 234 a Abs. 1, 235 Abs. 1, 237, 240, 251, 252, 253 Abs. 1 und 2, 255 StGB zum Ausdruck. Der Grundbegriff der Gewalt hat offensichtlich den Charakter einer "zwingenden Macht" und mit der Klärung dieses Begriffs werden wir uns hier beschäftigen. Die Herausarbeitung der kennzeichnenden Kriterien und die Definition des Gewaltbegriffs ist eine der schwersten Aufgaben der Rechtsprechung und der Literatur. Zunächst lassen sich, bis zur heutigen Entwicklung, drei Phasen unterscheiden.

Die erste Phase, vertreten durch die anfängliche Rechtsprechung des Reichsgerichts, war gekennzeichnet von dem Kriterium der Entfaltung von körperlicher Kraft zur überwindung eines geleisteten oder erwar1 Winkler, Der Begriff der Gewalt im Strafrecht, Strafr. Abh., Heft 85, Breslau 1908, S. 1 f. (2).

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2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

teten Widerstandes#. Die Körperlichkeit des Zwanges wurde in dieser Phase nach dem Angriffsverhalten des Täters bestimmt. Schon hier waren auch sporadisch die Ansatzpunkte zu sehen, die den übergang zur zweiten Entwicklungsphase vorbereitetenlI.

Die zweite Entwicklungsphase beharrte nämlich nicht auf der Kraftentfaltung seitens des Täters als entscheidendes Gewaltkriterium, sondern allein auf der körperlichen Einwirkung des Zwanges auf das Opfer. Gewalt, führte der Bundesgerichtshof aus, der diese Phase eröffnete, werde auch verübt, wenn der Täter das Opfer durch ein ohne Gewaltanwendung beigebrachtes Betäubungsmittel seiner Widerstandskraft beraube. Zum Gewaltbegriff gehöre nicht notwendig, daß der Täter erhebliche körperliche Kraft gegen das Opfer anwende. MaßgebUch sei vielmehr die körperliche Zwangswirkung beim Opfer". In der dritten Phase wurde auch das Erfordernis der Körperlichkeit der Zwangswirkung preisgegeben und nur noch allein auf das Merkmal der Zwangswirkung abgestellt. Vorgezeichnet wurde diese Entwicklungsphase durch die Beurteilung eines Massen- und Generalstreiks als Gewaltanwendung5 ; die entscheidendste Wende und KlarsteIlung der neuesten Entwicklung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs brachte jedoch das sog. "Laepple-Urteil"fl, das sich mit der Qualifizierung der Behinderung des Straßenbahnverkehrs durch Sitzstreik von demonstrierenden Studenten befaßte. Zwar liege, erklärte der Bundesgerichtshof, kein physischer, sondern nur psychischer Zwang vor, doch genüge für den Begriff der Gewalt auch psychischer Zwang, wenn er von einigem Gewicht sei. Diese Betrachtung der Gewalt von der Zwangswirkung her und ihre Verbindung mit rein psychischen Elementen ist auf heftige Kritik gestoßen7• Nach dieser zusammengefaßten Darstellung der Entwicklung im Gewaltbegriff lassen sich nun hier die Probleme konkretisieren, vor die 2 RGSt 56, 87 u. 64, 113; vgl. Krey, Probleme der Nötigung mit Gewalt dargelegt am Beispiel des Fluglotsenstreiks, JuS 1974, S. 418; Blei, Die Auflösung des strafrechtlichen Gewaltbegriffs, JA 1970, S. 1 (19) f. a RGSt 73, 344 u. 27, 406 (Abgabe von Schreckschüssen als körperlich einwirkendes Zwangmittel auf die Sinne (Sehen, Gehör, Geruch) des Betroffenen); RGSt 60, 158; 64, 116; 66, 355 (Freiheitsberaubung durch Einschließen mit Abstellen auf die mittelbare Auswirkung des Zwanges auf den Körper des Opfers). 4 BGHSt I, 145. 5 BGHSt 8, 102. e BGHSt 23, 54, NJW 1969, S. 1770. 7 Klug, Informationstagung, Bad Homburg 1968, S. 31 f.; Tiedemann (I), S. 720; Krey (I), S. 421.

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

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die heutige Rechtsprechung und Rechtswissenschaft gestellt werden: Muß zunächst der Gewaltbegriff heute mit dem Merkmal der "Körperlichkeit" verbunden sein? Wie kann er dann in diesem Fall der Forderung der Zeit Rechnung tragen, nämlich der Forderung nach einem größeren strafrechtlichen Schutz der persönlichen Freiheit vor der immer mehr fühlbar werdenden Zunahme von Gewalt und ihren neu erdachten und der technischen Entwicklung angepaßten Formen? Auf der anderen Seite birgt die Ausweitung des Gewaltbegriffs gewisse nicht unbeachtliche Gefahren, beispielsweise Tatbestandsunbestimmtheit bei den Gewaltdelikten mit der Folge der Pönalisierung von immer mehr Handlungen des alltäglichen Lebens, die gewissermaßen eine Art von Druckausübung auf andere darstellen. Ist es aber auch gerade hier nicht problematisch, inwieweit eine generalklauselartige Erweiterung des Begriffs der Gewalt dem Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG entspricht? Und außerdem: wenn die Gewalt immer mehr zum Bereich der vis compulsiva hintendiert, so daß auch rein psychische Zwangswirkungen als Gewalt bezeichnet werden, wie kann man dann die Gewalt von der Drohung abgrenzen? Ein anderes Problem betrifft den Geltungsanspruch des zu gewinnenden Gewaltbegriffs; muß letzterer nämlich allein von dem Nötigungstatbestand oder von dem ganzen Strafrechtssystem abgeleitet werden? Zu diesen Problemen gibt es zwei Hauptströmungen in der Literatur: die Anhänger des sog. engen und die Anhänger des weiten Gewaltbegriffs. Für die Vertreter der engen Gewaltkonzeption 8 müsse die Gewalt als ein nur physisch vermittelter Zwang verstanden werden. Rein psychische Zwangswirkungen fallen unter den Begriff der Drohung. Die Strafbarkeitslücken, die sich bei der Beurteilung eines zwar nicht auf Körperlichkeit beruhenden, wohl aber gewaltverdächtigen Verhaltens ergeben, will die weite, die extensive Interpretation' der Gewalt 8 Btei, Strafrecht, B.T., 11. Auf!., 1978, S. 66; ders., Strafrecht, A.T., 17. Aufl., 1977, S. 230; ders., Zum strafrechtlichen Gewaltbegriff, NJW 1954, S. 583 f.; Busse, Nötigung im Straßenverkehr, S. 100; Dreher / Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 40. Aufl., 1981, Anm. 3 a zu § 240; Geerds, Einzelner und Staatsgewalt im geltenden Strafrecht, S. 31; Geilen, Neue Entwicklungen beim strafrechtlichen Gewaltbegriff, Festschr. für Hellmuth Mayer, S. 445ff. (456, 459); ders., Lebensgefährdende Drohung als Gewalt in § 251 StGB?, JZ 1970, S. 525; Baumann / Frosch, 113, 120; Klug, Informationstagung, S. 27; Kohlrausch / Lange, Strafgesetzbuch., 43. Aufl., 1961, § 52 Anm. H, § 240 Anm. !II; Krey, Strafrecht, B.T., 4. Aufl., 1979, S. 104 u. insb. 106; ders., JuS 1974, S. 421; Lackner, Strafgesetzbuch, 13. Aufl., 1980, Anm. 3 zu § 240; Mezger / Btei, Strafrecht, B.T., 9. Aufl., 1966, S. 55; ders., A.T., 15. Aufl., 1973, S. 230; Tiedemann (I), S. 720; Welzel, Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S. 325; Winkler, S. 12. 8 Knodel, Der Begriff der Gewalt im Strafrecht, S. 59; Maurach / Schroeder, Strafrecht, 1. Teilband, 6. Aufl., 1977, S. 124 ff., insb. 125, 126; Preisendanz,

5 Kostaras

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2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

schließen. Gewalt ist nach dieser Interpretation "jedes Vorgehen, das bestimmt und geeignet ist, einen tatsächlich geleisteten oder als bevorstehend erwarteten Widerstand des zu Nötigenden dadurch zu überwinden, daß ihm ohne sein Einverständnis die Willensbildung oder die Willensbetätigung unmöglich gemacht oder durch gegenwärtige Zufügung empfindlicher Übel die Freiheit der Willensentschließung genommen wird"lO. Was nun die Gewalt von der Drohung auf Grund dieser Auffassung unterscheidet, ist nur der Zeitpunkt, nämlich die Gegenwärtigkeit des empfindlichen übels für die Gewalt und das zukünftige In-Aussichtstellen des gleichen Übels für die Drohung. Abgesehen aber davon, daß das Strafgesetzbuch in §§ 249 Abs. 1 und 252, 255 StGB die Drohung noch mit einer gegenwärtigen Gefahr für Leib oder Leben verbindet, gibt es auch Tatbestände im Strafgesetzbuch, welche überhaupt keinen Sinn hätten, wenn der Unterschied zwischen Gewalt und Drohung nur zeitlieh zu lokalisieren wäre. Welche Bedeutung käme dann den Ausdrücken "Drohung mit Gewalt" (§§ 81 Abs. 1, 82 Abs. 1, 107, 113 Abs. 1 StGB) zu? Zu Recht wurde bemerktl l , daß, solle die Gewalt gegenüber der allgemeinen Drohung nur noch durch Aktualität charakterisiert sein, diese im Gesetz deutlich erkennbare Sonderstellung der "Drohung mit Gewalt" verloren geht. Denn wenn die Gewalt nichts anderes mehr sein solle, als die in Nötigungsabsicht erfolgte Zufügung eines gegenwärtigen empfindlichen 'Übels, so sei per definitionem die Ankündigung eines solchen Übels nicht nur Drohung im Sinne des § 240 StGB, sondern gleichzeitig "Drohung mit Gewalt". Und weiterhin, wenn schon die Zufügung von Übeln Gewalt sein solle, warum dann nicht auch die Vorspiegelung zugefügter übel? Wenn es also Nötigung sei, wenn in dem von Schröder und Knodel!! gebildeten Beispielsfall der Hundehalter durch die Vergiftung seines Lieblings zur Pflege gezwungen und dadurch von einer beabsichtigten Reise abgehalten werde, warum sei es dann nicht auch Nötigung, wenn ihm die Vergiftung nur vorgespiegelt und er auf diese Weise zur Rückkehr von seiner Reise veranlaßt werde? Ob das übel wirklich oder nur vermeintlich zugefügt sei, sei für die Motivation des Betroffenen, den Eintritt der erstrebten "Zwangswirkung", gleichgültig. Warum solle es schließlich überhaupt Strafgesetzbuch, 30. Aufl., 1978, Anm. 3 a zu § 240; Eser, in: Schönke / Schröder, Strafgesetzbuch, 20. Aufl., 1980, Vorb. 6 zu §§ 234 f.; Schmidt-Bleibtreu / Ktein, Rdnr. 4 zu Art. 8 GG (S. 219); bedenklich Wessets, Strafrecht, B.T.,

4. Aufl., 1979, S. 44. 10 Knodet, S. 59. 11 GeHen (I), S. 459; vgl. Krey (I), S. 421. 12 Knodet, S. 55.

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

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noch auf die Übelszufügung ankommen? Warum sei nicht jede fälschliche Unglücksbotschaft, wenn sie den Adressaten zu bestimmten Reaktionen zwingen solle, Gewalt? Es gebe Fälle einer "Zwangswirkung", die mit der Kategorie einer motivierenden "übelszufügung" nicht mehr zu fassen seien, aber den gleichen Nötigungseffekt haben. Warum sei es beispielsweise keine Nötigung, wenn sich jemand den "Scherz" leiste, die Feuerwehr bzw. den Notarzt zu einem angeblich Schwerkranken zu bestellen, also die Betroffenen ebenfalls in eine Art Zwangslage zu bringen13 ? Aber auch von strafrechtsdogmatischer Betrachtung her ist diese Ausdehnung des Gewaltbegriffs sehr bedenklich. Zwar muß man zugeben, daß die "persönliche Freiheit" als Schutzgut der Gewaltdelikte abstrakt ist, was allerdings die Definition des Gewaltbegriffs entsprechend erschwert, man muß jedoch bei der Herausarbeitung der kennzeichnenden Merkmale der Gewalt nur so weit gehen, bis er keine Verfassungsgebote verletzt. Was nun die Wende zur breiten Gewaltauffassung diktierte, verrät die Argumentation des Bundesgerichtshofs zum entscheidendsten anfangs erwähnten "Laepple-Urteil": "Eine Auslegung, die für den Begriff der Gewalt eine körperliche Kraftentfaltung forderte, würde die praktische Bedeutung der gesetzlichen Vorschriften weitgehend entwerten". Das ist nur bedingt richtig. Eine Bevorzugung von rechtspolitischen Lösungen hat nur dann Sinn und Wert im Rechtssystem, wenn sie nicht zu Lasten der Legalität geht. Legalität heißt aber gerade im Bereich des Strafrechts Treue zum Dogma. Von diesem Aspekt aus dürfte Knodel nicht primär um das strafrechtliche Dogma besorgt sein, wenn er behauptet, daß nur ein Gewaltbegriff von generalklauselartiger Weite den an ihn zu stellenden Anforderungen entsprechen könne14• Zu Recht wurde daher hier bemerkt, daß eine GeneralklauseI zwar in zukünftigen Entwicklunngen offen wäre, aber Generalklauseln bergen im Strafrecht ein "Auslegungsrisiko " , das zugleich ein "Bestrafungsrisiko" bedeutete15• Je weiter und allgemeiner der Gewaltbegriff gefaßt sei, desto mehr gerate er in Abhängikeit von außerstrafrechtlichen Entwicklungstendenzen, seien sie sprachlicher, politischer oder sozialer Natur16• Geilen (I), S. 463. Knodel, S. 68. 15 Naucke, Über Generalklauseln und Rechtsanwendung im Strafrecht, in: Recht und Staat in Geschichte und Gegenwart, Tübingen 1973, S. 16 f. 18 Müller-Dietz, Ein Beispiel für den Wandel von Rechtsauslegung und 13

14

Rechtsanwendung, GA 1974, S. 33 f. (51).

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2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

Um die Übertreibungen der weiten Gewaltauffassung zu vermeiden, erscheinen in der Literatur abweichende Meinungen. So versteht beispielsweise Haffke die Notwendigkeit, daß die Kriterien "Entfaltung von körperlicher Kraft" und "körperliche Einwirkung" aufgegeben werden müssen17, er begreüt aber die Gewalt (im Sinne der vis absoluta) als Angriff auf die Freiheit fremder Willensbetätigung durch Schaffen eines unüberwindlichen Widerstandes und (im Sinne der vis compulsiva) als Drohung durch: gegenwärtige Zufügung eines qualifizierten empfindlichen übels. Durch den Begriff der Gewalt im Sinne der vis compulsiva würden nicht diejenigen Verhaltensweisen erfaßt, bei denen zwar empfindliche Übel gegenwärtig zugefügt würden, diese übel aber keinen Angrilf auf Leben, Gesundheit, Freiheit oder Eigentum darstellen. Mit dem "Angriff" soll zum Ausdruck gebracht werden, daß der Täter aktiv in die fremde Interessensphäre eingreüe. Die Verfolgung sozialüblicher, substanziell eigener Interessen könne noch kein strafrechtlich relevanter Angriff sein18• Diese Gewaltdefinition lehnt im Grunde an der Definition von Knodel an und es ist ihr nicht gelungen die Fehler zu vermeiden, die sie bei der weiten Gewaltkonzeption feststellt. Nicht nur die Grenzen der Gewalt und der Drohung werden gleicherweise verwischt, sondern es wird noch dazu ein zusätzlich problematischer Begriff in die Gewaltdiskussion herangezogen, nämlich der "Angriff". Wann gibt es eigentlich einen strafrechtlich relevanten und für die Gewalt ausschlaggebenden "Angrilf"? Ist ein rein psychischer Zwang auch ein "Angrüf"? Und wann gibt es ein aktives Eingreifen in die fremde Interessensphäre? Diese Fragen läßt Haffke unbeantwortet. Überzeugender ist dabei auch nicht die Gewaltdefinition von Calliess. Nach ihm sei der Gewaltbegriff nicht "substanziell", sondern funktional zu verstehen und weder allein vom Merkmal der körperlichen Kraftentfaltung auf Seiten des Täters noch vom Merkmal der körperlichen Einwirkung beim Opfer her zu bestimmen19 • Gewalt im strafrechtlichen Sinn sei eine gegenwärtige soziale Situation, die "durch die Herstellung einer primär auf physischer Vermittlung beruhenden aggressiv interpersonellen Beziehung gekennzeichnet ist. Die Situation ist bestimmt durch aktuelle (Gewalttätigkeit) oder potentielle (Bedrohung mit Gewalttätigkeit) Verletzung der körperlichen Integrität des Opfers, die ihrerseits wiederum das operative Medium für die Darstellung oder 17 Raffke, Gewaltbegriff und Verwerflichkeitsklausel, zStw Bd. 84 (1972), S. 37 f. (58). 18 Raffke, S. 70.

10 CaHiess, Der Begriff der Gewalt im Systemzusammenhang der Straftatbestände, in: "Recht und Staat", Heft 430/431, 1974, S. 16.

1. Kap.:

Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

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Durchsetzung von einseitig definierten Erwartungen seitens des Täters in sozialen Systemen ist"20. Gegen diese Gewaltdefinition von Calliess ist zunächst einzuwenden, daß der Autor den an sich selbst relativ abstrakten Begriff "aggressiv interpersonelle Beziehung" fraglich macht, durch die Ausführungen, daß die auf Grund dieser Beziehung geschaffene soziale Situation durch eine aktuelle (Gewalttätigkeit) oder potentielle (Bedrohung mit Gewalttätigkeit) Verletzung der körperlichen Integrität des Opfers sei. Selbst wenn man von der falschen Annahme des Autors ausgehen würde, daß Gewalt und Gewalttätigkeit gleichbedeutend sind, dürfte man die "Bedrohung mit Gewalttätigkeit" nicht als Definitionsmerkmal des Gewaltbegriffs verwenden, denn man würde damit den Grundstein legen zur Verwechselung der Grenzen zwischen Gewalt und Drohung. Aber auch von einem anderen Gesichtspunkt dürften die Ausführungen von Calliess nicht überzeugend sein. Die Verletzung der körperlichen Integrität des Opfers ist ebensowenig geeignetes Kriterium für die Begriffsbestimmung der Gewalt, wie auch der Gewalttätigkeit. Zwar mag dieses Kriterium bestimmte Fälle der vis absoluta oder der vis compulsiva umfassen, es läßt aber zahlreiche Gewaltfälle unberührt, bei denen nur selten, wenn überhaupt, Verletzung der körperlichen Integrität des Opfers eintritt. Was ist mit diesen Fällen zu tun? Und warum sollte nur die Verletzung der körperlichen Integrität des Opfers Gewalt sein? Auf Grund dieser Gewaltdefinition von Calliess sollte keine Gewalt vorliegen, wenn beispielsweise jemand nachts an einem einsamen und unbewohnten Ort die Autoschlüssel eines Fahrers wegnimmt, um dessen Beteiligung an einer Sitzung zu verhindern oder (ein anderes Beispiel), wenn jemand durch Lärm oder Blendlicht zum Nicht-Hören oder Nicht-Sehen einer Szene gezwungen wird. Daß der Täter ferner durch die Gewalthandlung seine einseitig definierten Erwartungen durchsetzt, versteht es sich von selbst, ohne daß es der Erwähnung als besonderen Definitionsmerkmals bedurfte. Calliess definiert also nicht, was Gewalt ist, welche Merkmale sie erfüllen muß, sondern er beschreibt, wie eine Gewalthandlung funktioniert, als ob er den Gewaltbegriff als gegeben voraussetzte. Bemerkenswert ist schließlich der Versuch von Calliess einen Gewaltbegriff zu gewinnen aus dem "Systemzusammenhang der Straftatbestände". Es ist aber sehr zweifelhaft, ob es einen solchen einheitlichen Gewaltbegriff geben kann. Verständlicherweise geht man daher von der "greifbaren" Grundbedeutung der Gewalt als Zwangsmittel aus. 20

CalHess, S. 32.

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

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Aus den bisherigen Ausführungen geht nun deutlich hervor, daß das Problem der Gewalt in seiner heu.tigen Gestalt letzten Endes ein Abgrenzungsproblem von der Drohung ist. Sofern die Feststellung zutrifft, daß der überkommene enge Gewaltbegriff nicht imstande ist, alle als strafwürdig erscheinenden heutigen technisch entwickelten Beeinflussungsmethoden strafrechtlich zu ahnden, muß man diesen Begriff notwendigerweise immer mehr nach dem Bereich der vis compulsiva ziehen. Im gleichen Bereich, d. h. in der vis compulsiva, befindet sich aber auch die Drohug. Wie kann man nun die Gewalt als vis compulsiva von der Drohung abgrenzen? Ein erster Abgrenzungsgedanke wäre, daß man als Gewalt nur diejenigen Handlu.ngen betrachtet, die zwar das Merkmal des psychischen Zwanges aufweisen, wohl aber auf physisch-somatische Basis zurückgeführt werden können. Ein treffliches Beispiel hierzu ist das sog. "Mürbemachen", wobei der Täter sein Opfer solange körperlich mißhandelt, bis er seinen Wünschen nachgibt. Der psychische Zwang wird durch den Körper des Opfers vermittelt, wird also von ihm physisch empfunden. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang ist das Aushängen von Fenstern und Türen, um den Mieter zum Auszug zu zwingen. Die Gewalt wirkt hier kompulsiv, sie wird aber eben körperlich empfunden (Kälte). Man muß sich aber gerade hier vor der Gefahr wahren, alle Handlungen mit psychischen Zwangswirkungen auf ihre somatische Basis zurückzuführen. Nicht zutreffend ist, von diesem Aspekt aus, die Interpretationsweise, die man bei manchen Autoren2 1, aber auch in der Rechtsprechung zum bekannten Fall der Drohung mit einer vorgehaltenen Schußwaffe sieht, die der Bundesgerichtshof in ihren psychosomatischen Wirkungen auf die Sinne des Opfers auflöst (Nervenreizung): "Richtet der Täter eine durchgeladene und entsicherte Schußwaffe mit dem Finger am Abzug aus nächster Entfernung auf einen anderen, so droht er nicht nur mit der Anwendung von Gewalt, sondern er übt unmittelbar körperlichen Zwang aus, wendet also Gewalt an. Er wirkt mit der aus nächster Nähe vorgehaltenen durchgeladenen und entsicherten Waffe unmittelbar auf die Sinne des Vergewaltigten ein und versetzt ihn hierdurch in einen Zustand starker seelischer Erregung und beeinfiußt so sein ganzes körperliches Befinden und damit auch die körperlichen Voraussetzungen der Freiheit seiner Willensentschließung oder seiner Willensbetätigung in hohem Maße2 2 ." 21

Krey (I), S. 421.

BGHSt 23, 126, 127 f.; vgl. BGHSt 19, 263, 265; RGSt 60, 157, 158; RGSt 66, 353, 355. 22

1. Kap.:

Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

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Solche Abgrenzungsversuche führen sicherlich zu übertriebenen Lösungen. Es besteht bei ihnen, wie erwähnt die Gefahr, daß man bei allen Handlungen mit psychischen Zwangswirkungen, also auch bei allen Drohungsfällen, den beeinftußten Willen des Opfers nötigenfalls auf seine körperlich-organische Funktion (Gehirn) zurückführen wird, um auf diese Weise eine physische, körperliche Basis zu bekommen. Doch so etwas ginge zu weit.

Die Schreck- oder Warnschüsse sind also nicht Gewalt, sondern Drohung; es entsteht dem zu Nötigenden der Eindruck, er könne getroffen werden. Es liegt eine reine Einwirkung auf seinen Willen vor, ohne irgendwelchen körperlichen Bezug. Nicht einmal nach der Theorie von Knodel können Schreck- oder Warnschüsse als Gewalt bezeichnet werden. Gewalt in der Form der vis compulsiva ist danach, auch die gegenwärtige Zufügung eines empfindlichen 'Übels. Die Schreck- oder Warnschüsse fangen nicht schon mit der Zufügung dieses Übels an, sondern stellen es in der Zukunft in Aussicht. Daß man auch das In-Aussicht-Stellen künftiger Übel als Gewalt bezeichnet, wäre dann eine völlige Gleichsetzung von Gewalt mit der Drohung2s. Man kann also psychische Zwangswirkungen für den Gewaltbegriff nur dann behalten, sofern sie physisch-körperlich empfunden werden können. Gewalt sollte demnach jedes Verhalten sein, welches bestimmt und geeignet ist, einen tatsächlich geleisteten oder bevorstehenden Widerstand des zu Nötigenden dadurch zu überwinden, daß, entweder durch unüberwindliche Hindernisse schaffende physisch-mechanische Einwirkung auf den Körper oder die Umweltverhältnisse des Opfers oder durch psycho-physische Einwirkung auf ihn, seine Willensbetätigungsfreiheit unmöglich gemacht oder seine Willensentschließungsfreiheit genommen wird. A. Vis absoluta - vis compulsiva

Der von einer Handlung ausgehende Zwang kann entweder absolut (vis absoluta) oder kompulsiv (vis compulsiva) sein24 • Schutzrechtsgut der Gewaltdelikte ist, wie gesehen, die Selbstbestimmungsfreiheit, die 23 Hottmeister, Der Begriff der Gewalt im Straftatbestand der Nötigung, Diss., Hamburg 1972, S. 154. 24 Androulakis, Der Begriff der Gewalt im Strafrecht, Zeitschrift für die Strafrechtswissenschaft (griech.), in: Poinika Chronika, Bd. 13 (1963), S. 593 ff. (598), ordnet die Unterscheidung vis absoluta - vis compulsiva dogmatisch der Handlungslehre zu und nimmt nur eine Unterscheidung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Gewalt an.

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

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aus der Freiheit der Willensentschließung und der Freiheit der Willensbetätigung besteht. Während die vis absoluta die Willensbetätigungsfreiheit beeinträchtigt, beeinträchtigt die vis compulsiva die Freiheit der Willensentschließung. Der Unterscheidung vis absoluta - vis compulsiva entspricht die in der Literatur und der Rechtsprechung auch verwendete Unterscheidung zwischen physischem und psychischem Zwang. Wenn man vom physischen oder psychischen Zwang spricht, bezeichnet man, wie der Zwang wirkt. Es wird aber irrtümlicherweise diese Unterscheidung von manchen Autoren verwendet, um nicht die Zwangswirkung zu bezeichnen, sondern die Mittel, durch welche sie bewirkt wird. So wird beispielsweise behauptet, wenn die Handlung, die den Zwang bewirke, in der Einwirkung auf den Körper bestehe, d. h. der Zwang mit dem Leib fühlbar werde, so sei ein körperlicher, physischer Zwang verübt; wenn dagegen nicht durch das Medium des Körpers eingewirkt werde, sondern nur auf den Willensentschluß, liege psychischer Zwang vor25 • Wenn jemand z. B. einen anderen verprügelt, um diesen damit zu einer Handlung zu zwingen, liegt auf Grund dieser Auffassung physischer Zwang vor. Das darf aber nicht richtig sein. Physisch ist hier nur das Zwangsmittel, nämlich die körperliche Mißhandlung. Durch dieses Zwangsmittel wird aber nicht physische, sondern psychische Zwangswirkung bewirkt, also liegt nicht vis absoluta, sondern vis compulsiva vor. Es ist aber auch der umgekehrte Fall vorstellbar. Durch psychische Zwangsmittel kann physischer, absoluter Zwang zustande kommen. Das ist der Fall, wenn eine Drohung solch eine "Eindringlichkeit und Wucht besitzt, daß der Bedrohte vor Schreck und Aufregung fast bewußtlos wird"26. Die Wirkung in solchen Fällen ist die gleiche, wie wenn durch einen Schlag auf den Kopf eine Lahmlegung des Willens erfolgte. Wenn nun ein physisch vermittelter und physisch wirkender Zwang die Freiheit der Willensbetätigung dadurch blockiert, daß er unüberwindliche Hindernisse schafft, ist stets vis absoluta anzunehmen. Das kann zunächst geschehen, durch unmittelbare Einwirkung auf den Körper des Betroffenen, etwa in der Form der Entfaltung von Muskelkraft, z. B. Betäubung, Fesselung, Festhalten, Faustschläge u. ä. oder durch gewisse unkörperliche jedoch "mechanische" Mittel, z. B. Lärm, Blendlicht, Strahlen u. ä. Physischer bzw. absoluter Zwang kann aber auch durch mittelbare Einwirkung auf den zu Nötigenden - wenn beispielsweise Barrikaden errichtet oder mehrere Personen mit den 25

28

Knodet, S. 15 mit Kritik und weiteren Hinweisen. Winkter, S. 12.

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

73

Annen umgekettet werden - oder durch Einwirkung auf seine UmweItverhältnisse 27, bewirkt werden. Anders ist die Sache bei der vis compuZsiva. Das Opfer hat zwar die Freiheit zur Willensbetätigung, sein Willensentschluß wird aber inhaltlich vom Täter vorbestimmt, so daß man sagen kann, daß die vis compulsiva unmittelbar die Willensentschließungsfreiheit und nur mittelbar die Willensbetätigungsfreiheit betrifft. Klassisches Beispiel ist hier die erwähnte körperliche MißhandJung des Opfers bis er den Wünschen des Täters nachgibt. Maurach / Schroeder führen als Beispiel der vis compulsiva die Wegnahme der Kleider eines Badenden an. Während das Festhalten eines Badenden zur Verhinderung des Verlassens des Wassers vis absoluta sei, sei die Wegnahme der Kleider des Opfers vis compulsiva28• Die Rechtsprechung29 rechnet zur vis compulsiva auch die Sitzdemonstrationen, denn durch die physischen Hindernisse (Körperaufstellung) werde, so der Bundesgerichtshof, die Freiheit der Willensentschließung beeinträchtigt. Dieser pauschalen Betrachtung von Sitzdemonstrationen ist hier entgegenzutreten. Es kommt auf die bestimmten Verhältnisse des Einzelfalles an. Manchmal wird durch die Sitzdemonstration gerade nicht die Willensentschiließungs-, sondern die Willensbetätigungsfreiheit beeinträchtigt. Wenn beispielsweise mehrere Demonstranten sich auf den Straßenbahnschienen niederlassen, um gegen die Preiserhöhung der Fahrkarten zu protestieren «Kölner Fall) oder wenn Demonstranten eine Autobahn blockieren, um auf diese Weise gegen die Einführung von Autobahngebühren zu protestieren, so muß die Körperaufstellung dieser Demonstranten einem natürlichen Hindernis (z. B. Felsen) gleichgestellt l!7 Knodet, S. 76, 77; ob nun durch solche Umwelteinwirkungen die Willensbetätigung unmöglich gemacht oder dem Opfer nur die Freiheit der Willensentschließung genommen wird, macht Koffka, Der Begriff der Gewalt im Strafrecht (Buchbesprechung), JR 1964, S. 39 von der Betrachtungsweise abhängig und läßt das im Beispiel des Violinisten A verdeutlichen, der zwei gleichwertige Violinen habe. Er pflege sie bei seinen Konzerten genau abwechselnd zu benutzen und sei abergläubisch davon überzeugt, daß gerade dieser Turnus seinen Erfolg garantiere. X nehme ihm unmittelbar vor einem Konzert heimlich die Violine die "dran" sei, fort, um ihn von seinem Aberglauben zu heilen. Handle es sich um absolute Gewalt, weil er ihn hinderte, mit dieser Violine zu spielen, oder nehme er ihm nur die Freiheit der Willensentschließung, weil er ihn zwinge, zwischen dem Spielen mit der anderen Violine und dem Absagen des Konzerts zu wählen? 28 Maurach I Schroeder, Strafrecht, B.T., 1. Teilband, 6. Aufl., 1977, S. 125. 2D BGHSt 23,54, NJW 1969, S. 1770.

74

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

werden, das die weitere Fahrt unüberwindlich verhindert. Selbst wenn der Fahrer so amoralisch wäre, daß er - zur Erreichung seines Zieles soviele Menschen überfahren möchte, würde er an ihre Körper, wie an ein natürliches Hindernis stoßen. Ähnlich ist auch der Fall zu behandeln, wenn Streik-Sitzdemonstranten den einzigen Zugang zur Arbeit blockieren, um die arbeitswilligen Arbeitnehmer bei einem Streik zu verhindern, den Arbeitsplatz zu erreichen. B. Gewalt an dritte Personen - Gewalt gegen Sachen

Wenn die Gewalt an dem zu Nötigenden selbst ausgeübt wird, richten sich gegen die gleiche Person sowohl die Gewalthandlung, als auch die Zwangswirkung. Es kann aber sein, daß sich diese zwei Merkmale gegen zwei verschiedene Personen richten. Das ist der Fall, wenn zwischen diesen Personen eine solche Verbindung besteht, daß die Gewalt, die an dem Dritten ausgeübt wird, dem Nötigungsopfer fühlbar wird, als ob sie gegen ihn selbst ausgeübt würde.

Die Gewalt gegen dritte Personen kann zunächst vis absoluta sein30• Absoluter Zwang wird bewirkt, wenn die Drittperson als "Verlängerung" des Körpers des zu Nötigenden bezeichnet werden kann, beispielsweise wenn man den Blindenführer oder den Gehilfen eines körperlich schwer Behinderten fesselt. Der Blinde oder der Behinderte kann sich ohne diese Personen überhaupt nicht betätigen. Jeder absolute Zwang gegen die Hilfspersonen wird also als vis absoluta von den Betroffenen empfunden. Vom Gesichtspunkt des hier vertretenen Gewaltbegriffs ist problematisch, ob es die Form der vis compulsiva geben kann im Falle der Mißhandlung der Drittperson, z. B. im Falle der Mißhandlung des Gehilfen eines Behinderten oder im Falle der Mißhandlung einer Person bei einem engen verwandtschaftlichen (Mutter-Kind- u. ä.) oder gefühlsmäßigen (zwischen Ehegatten, Freunden u. ä.) Verhältnis. Für die Vertreter des weiten Gewaltbegriffs sind alle diese Fälle bedenkenlos als vis compulsiva zu bezeichnen, denn es wird das angedrohte übel (die körperliche Mißhandlung) zugefügt, im Gegensatz zu dem in Aussichtstellen des gleichen übels, was nur als Drohung qualifiziert wird. Vis compulsiva wäre nach dem hiesigen Gewaltverständnis zu bejahen, nur soweit die Mißhandlung des Dritten vom Nötigungsopfer körperlich empfunden würde. Das ist aber hier nicht der Fall. 30 Wink~er, S. 36; a. M. Schmidt, Die Nötigung als selbständiger Tatbestand und als Tatbestandsmerkmal im Strafgesetzbuch, S. 54, sie nimmt nur vis compulsiva an.

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

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Bezüglich nun der Gewalt gegen Sachen wird zunächst von manchen Autoren bezweifelt, ob ihre Einreihung unter den Gewaltbegriff richtig ist. Gewalt gegen Sachen sei Sachbeschädigung, führen sie aus31 • Zunächst darf dieser Einwand nicht berechtigt sein. Es kann eine Einwirkung auf eine Sache geben, die aber keine Beschädigung, sondern einfach eine Entnahme der Sache darstellt, beispielsweise die Entnahme der Stromsicherung oder des Autosch.lüssels u. ä. Calliess betont nachdrücklich, daß die Gewalt eine interpersonelle Beziehung sei32 • Dies ist sicherlich so; man darf aber nicht verkennen, daß eine Einwirkung auf manche Sachen manchmal solch eine Zwangswirkung auf eine Person bewirkt, daß je nachdem entweder ihre Willensentschließung beeinflußt oder ihre Willensbetätigungsfreiheit gehemmt wird. Die Annahme der "Gewalt gegen Sachen" hebt das personelle Merkmal der Beziehung der Zwangswirkung nicht ab. Die Gewalt ist interpersonelle Beziehung in dem Sinne, daß auf der einen Seite die Person des Opfers und auf der anderen Seite die Person des Täters, eventuell auch einer Drittperson, steht. Daß diese Beziehung manchmal durch die Einwirkung auf gewisse Sachen beeinflußt wird, spielt keine Rolle für ihre Bezeichnung als "interpersonelle". Der Ausdruck "Gewalt gegen Sachen" ist also richtig und brauchbar. Die "Gewalt gegen Sachen" kann entwedervis absoluta oder vis compulsiva bewirken, je nachdem ob die Willensbetätigungs- oder die Willensentschließungsfreiheit beeinträchtigt wird.

Vis absoluta ist anzunehmen bei jeder Einwirkung auf Gegenstände, welche physisch-somatisch, mechanisch oder funktional in Beziehung zu dem Körper des Opfers stehen und unüberwindliche Hindernisse stellen, z. B. Einwirkung auf den Rollstuhl eines Gelähmten oder auf die Brille eines Sehbehinderten oder auf die Reifen eines Autos u. ä. Hier wird die Willensbetätigungsfreiheit beeinträchtigt. Dagegen fallen Einwirkungen auf Gegenstände, welche die Willensentschließungsfreiheit beeinträchtigen, beispielsweise das Aushängen von Fenstern im Winter u. ä. unter die vis compulsiva33• Nach manchen Autoren sei Gewalt nicht die Entziehung jedes sachlichen Mittels, sondern die Entziehung von Mitteln, die als "Ersatzteile" des Körpers betrachtet werden können34 • Winkler, S. 35; Calliess, S. 36. Calliess, S. 36. 83 Mangakis, Das Delikt der rechtswidrigen Nötigung nach Art. 330 Griech StGB, in: Zeitschrift für die Strafrechtswissenschaft (griech.) Poinika Chronika, Bd. 12 (1962), S. 521 ff. (527). 84 Hottmeister, S. 148. 31

82

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

76

Dieses Abgrenzungskriterium dürfte nicht richtig sein. Zu Recht bemerkt daher hier Knodel, daß es keinen Unterschied mache, ob jemandem die Brille weggenommen werde, um ihn an der Abfassung eines Testaments zu hindern, oder ob zu demselben Zweck die elektrischen Sicherungen entfernt oder sämtliche Schreibgeräte weggeschafft würden35•

Irr.

Der Begriff von "Gewalttätigkeiten"

Der Begriff der "Gewalttätigkeiten" wird in den §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 121 Abs. 3, 124, 125 Abs. 1 Nr. 1 und 125 a Abs. 1 Nr. 3 StGB verwendet. Wie über den Gewaltbegriff, besteht auch über die "Gewalttätigkeiten" keine gesetzliche Definition. Rechtsprechung und Literatur vertreten keine einheitliche Meinung darüber, was das Wesen der "Gewalttätigkeit" ausmacht. Die anfängliche Rechtsprechung des Reichsgerichts zeigte die Tendenz, die Gewalttätigkeit im Sinne der allgemeinen Gewalt zu verstehen36• Diese Betrachtungsweise erklärt sich aus der früher vertretenen engeren Auffassung des Gewaltbegriffs, der wie gesehen, den Einsatz von körperlicher Kraft voraussetzte3 7• Heute stellt die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs auf einen Gewalttätigkeitsbegriff ab, der wesentlich unterschiedlich von demjenigen der Gewalt ist38. Zu dieser Entwicklung hat die Literatur entscheidend beigetragen, denn zum größten Teil ging sie von der Unterscheidung der "Gewalttätigkeit" von der "Gewalt" aus und bearbeitete die zutreffenden Unterscheidungskriterien39 • Trotzdem gibt es aber auch heute Autoren, welche die völlige Gleichsetzung der "Gewalttätigkeit" mit der "Gewalt" behaupten40• Knodel, S. 48. RGSt 45,156; RGSt 52, 34; RGSt 55, 37. 37 Vgl. Lenckner, in: Schönke I Schröder, 20. Aufl., 1980, Anm. 6 zu § 125. 38 BGHSt 23, 46, 52; NJW 1969, S. 1770 (1772); BGHSt 20, 305; BVerfG, NJW 1974, S. 1859; RGSt 54,88,90; RGSt 55,37. 3V Blei, JA 1969, S. 85 (227); Dreher (I), S. 1161; Dreher I Tröndle, Anm. 7 b zu § 124; Frank, Strafgesetzbuch, 18. Aufl., 1931, § 124 I 2; Martin, S. 221; Knodel, S. 177; Lackner, Anm. 2 b zu § 124; Maurach, "Demonstrationsnovelle", § 69 II B, S. 20; v. Bubnoff, in: Leipziger Kommentar, 10. Aufl., 1978, Anm. II 22 zu § 125; Tiedemann (I), S. 720; Preisendanz, Anm. 2 a zu § 125; Lenckner, in: Schönke I Schröder, Anm. 6 zu § 125; RudoZphi, in: System. Kommentar, Anm. 5 zu § 125; Winkler, S. 59; Wanjeck, über den Begriff der Gewalt im Reichsstrafgesetzbuch, GA, Bd. 27 (1879), S. 194 ff. (197). 40 Calliess, S. 19 sucht sogar nach einem "strafrechtsadäquaten" Gewaltbegriff, der in der Lage sein müsse, die im StGB verwendeten Variationen des Sprachgebrauchs, wie "Gewalt", "Gewalttätigkeit", "Gewaltmaßnahmen", "gewaltsam" abzudecken und in einen systematischen Zusammenhang zu bringen. Dort, wo der Aspekt der "Gewalttätigkeit" gesondert aufgeführt sei, 35

3&

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

77

Daß der Begriff der "Gewalttätigkeit" sich von dem der "Gewalt" unterscheidet, geht zunächst aus dem Wortlaut des Gesetzes hervor. Dort wo das Gesetz neben der "Gewalt" auch die "Gewalttätigkeit" verwendet, z. B. § 113 Abs. 1 und 2 Nr. 2 StGB, ist es ein erster Hinweis darauf, daß sich der Gesetzgeber der 'Unterschiedlichen Bede'Ut'Ung von "Gewalt" und "Gewalttätigkeit" bewußt ist, sonst hätte die unterschiedliche Terminologie überhaupt keinen Sinn; vielmehr würde sie zu einer Verwirrung führen. Nicht zutreffend ist daher die Meinung, welche von der Identität der gefragten Begriffe ausgehend die Verwendung des Begriffs "Gewalttätigkeiten" im § 125 StGB damit begründet, daß dieser Tatbestand eine Mehrzahl von Gewalthandlungen umfasse, die vom Gesetzgeber schwerlich mit dem Plural des abstrakten Gewaltbegriffs "Gewalten" habe umschreiben können41 • Die Verwendung des Ausdrucks "Gewalttätigkeiten" hat nichts zu tun mit angeblichen Formulierungsschwierigkeiten. Der Gesetzgeber hätte im § 125 Abs. 1 Nr. 1 StGB anstelle von "Gewalttätigkeiten" etwa "Gewalthandlungen" formulieren können4.\!. Daß die behaupteten Formulierungsschwierigkeiten die Gleichsetzung der "Gewalt" mit den "Gewalttätigkeiten" nicht berechtigen, beweist § 125 Abs. 1 Nr. 2 aber auch § 113 Abs. 2 Nr. 2 StGB, wo von "Gewalttätigkeit", also Singular, gesprochen wird. Wenn also der Ausdruck "Gewalttätigkeiten" den sonst schwierigen Plural des Begriffs "Gewalt" ausdrückt, wie steht es dann mit der "Gewalttätigkeit"? Zutreffend ist weiterhin der Gedanke zum Unterschied zwischen "Gewalt" - "Gewalttätigkeit", daß das Gesetz neben der "Gewalt" immer die Drohung nennt, während das neben dem Begriff der "Gewalttätigkeit" nie der Fall ist43. sei gemeint nur die aktuelle Verletzung der körperlichen Integrität (S. 34); Hervorhebung vom Verfasser. Zu Recht wird hier bemerkt, daß die Gewalttätigkeit Auswirkungen am Körper oder an Sachen nicht voraussetzt; auch der fehlgehende Steinwurf ist Gewalttätigkeit. Nach Klug, Informationstagung, S. 33, gehe aus § 125 StGB hervor, daß der Gesetzgeber unter "Gewalttätigkeit" zwar einen aktiven Einsatz von mechanisch-physischen Kräften in intensiver und aggressiver Form verstehen wolle, wohl könne aber schwerlich zwischen "Gewalt" und "Gewalttätigkeiten" einen wesentlichen Unterschied machen. Dem ist hier anzumerken, daß die praktische Bedeutung der Unterscheidung zwischen "Gewalt" und "Gewalttätigkeit" darin besteht, daß es von dem Begriff der "Gewalt" oder der "Gewalttätigkeit" abhängt, ob beispielsweise die Blockierung einer Straßenpassage von Sitzdemonstranten als Gewalt oder Gewalttätigkeit bezeichnet wird, so daß entsprechend § 125 oder § 240 StGB angewendet wird. U Hinweise bei Martin, S. 223. 42 Martin, S. 223 mit Fußn. 50. n Knodet, S. 174.

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

78

Der Ausdruck "Gewalttätigkeiten" wird meistens in solchen Tatbeständen verwendet, "in welchen ein feindseliges Vorgehen einer Mehrheit von Menschen in Frage steht, und zwar sollen als Gewalttätigkeiten offenbar Ausschreitungen bezeichnet werden, die anIäßlich einer Zusammenrottung stattfinden"". Neben den "Gewalttätigkeiten" kommen dann gewöhnlich Ausdrücke, wie "mit vereinten Kräften", "aus einer Menschenmenge" u. ä. vor. Das Fehlen der Drohung bei den Gewalttätigkeiten bedeutet also, daß es bei den Gewalttätigkeiten nicht darauf ankommt, ob überhaupt ein Zwang ausgeübt wird. Daß die "Gewalttätigkeit" kein Nötigungsmittel ist, wurde zuerst von Wanjeck betont, dessen Meinung sich später viele angeschlossen haben: "Während die Gewalt nur das Mittel dazu ist, die Willenstätigkeit einer Person zwangsweise zu bestimmen, sind die Gewalttätigkeiten (der §§ 124, 125 StGB) , ob an Personen oder Sachen begangen, Selbstzweck. Die "Gewalt" hat zum Objekt die persönliche Freiheit einer Person, die "Gewalttätigkeit" gegen eine Person oder Sache allein die körperliche und sachliche Integrität derselben46." Wenn beispielsweise anläßlich einer Protestdemonstration aus Haß oder Verbitterung für gewisse getroffene Maßnahmen manche Sachen zerstört werden und Vertreter der zuständigen Behörde oder Polizsten von übermütigen Demonstranten verprügelt werden, so wird niemand zu etwas gezwungen. Die Gewalttätigkeiten gegen diese Personen sind bloß eine "Entladung" der enttäuschten Menge; sie sind Selbstzweck. Es ist wohl möglich, daß eine Gewalttätigkeit manchmal auch den Charakter des Nötigungsmittels haben kann. Das ist der Fall, wenn beispielsweise Demonstranten Brandsätze in bewohnte Häuser werfen, um die Bewohner zur Flucht auf die Straße zu zwingen oder wenn Demonstranten die Reifen von Einsatzfahrzeugen der Polizei zerschneiden, um deren Eingreifen zu verhindern46 • Der so abgegrenzte Gewalttätigkeitsbegriff muß nun seinem Wesen nach konkretisiert werden. Es wird von manchen Autoren die Meinung vertreten, daß das Wesen der "Gewalttätigkeit" die Entfaltung von physischer Kraft sei47 • Knodet, S. 176. Wanjeck, S. 197 (Hervorhebung vom Verfasser). 48 Vgl. Lenckner, in Schönke I Schröder, Arun. 8 zu § 125; v. Bubnoff, in Leipziger Kommentar, Anm. 24 zu § 125. 47 Dreher I Tröndle, Anm. 7 b zu § 124 und 2 zu § 125; Frank, Strafrecht, § 124, I 2; Heilborn, Der Landfriedensbruch nach dem Reichsstrafgesetzbuch, ZStW Bd. 18 (1898), S. 188; Maurach, "Demonstrationsnovelle", S. 20; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 6 zu § 125; v. Bubnoff, in Leipziger Kommentar, Anm. II 22 zu § 125; Tiedemann (I), S. 720; Rudolphi, in System. Kommentar, Anm. 5 zu § 125; vgl. RGSt 5, 378; RGSt 45, 157; RGSt 52, 35; 44

46

54,90.

1. Kap.: Gewalt und Gewalttätigkeiten als zentrales Problem

79

Das Kriterium der Kraftentfaltung, bemerkt Knodel zu Recht, sei jedoch zur Kennzeichnung des Wesens der "Gewalttätigkeiten" ebensowenig geeignet, wie zur Bildung des Begriffs der Gewalt. Auch bei den Gewalttätigkeiten brauche nicht mehr Kraft angewandt zu werden, als für jede beliebige menschliche Handlung erforderlich sei. Sollten es keine Gewalttätigkeiten sein, wenn beispielsweise anläßlich einer Zusammenrottung Häuser angezündet werden, wozu es genüge, daß ein Zündholz fallen gelassen werde48 • Obwohl aber nun das Merkmal der Kraftentfaltung kein geeignetes Kennzeichen für den Gewalttätigkeitsbegriff ist, gibt es uns einen ersten Ansatzpunkt, um dem Wesenskriterium näher zu kommen, nämlich daß die Gewalttätigkeit zuerst eine primitive Bedeutung hat, eine physischmechanische HandLung mit aggressivem und rohem Charakter darstellt. Intensität, Aggressivität, Rohheit und Gefährlichkeit kennzeichnen also die Gewalttätigkeit49 • Ein strafbarer Erfolg, d. h. die Verletzung oder Schädigung der angegriffenen Person oder Sache braucht jedenfalls nicht eingetreten zu sein50 ; auch ein fehlgegangener Steinwurf ist ebenso Gewalttätigkeit, wie auch die Kopfverletzung eines Menschen oder die Zerbrechung einer Fensterscheibe. Nach alledem wäre dann die Gewalttätigkeit, als eine gegen die körperliche Existenz von Personen oder Sachen gerichtete physische, mechanische Handlung mit aggressivem, rohem Charakter zu definieren51 •

Knodel, S. 175. LG Köln, JZ 1969, S. 81. so Dreher / Tröndle, Anm. 7 b zu § 124; Frank, § 124, I 2; Maurach, "Demonstrationsnovelle", S. 20; Lenckner, in Schönke / Schröder, Anm. 6 zu § 125; v. Bubno!!, in Leipziger Kommentar, Anm. 23 zu § 125; Lackner, § 125, 2 b; Rudolphi, in System. Kommentar, Anm. 5 zu § 125; Winkler, S. 59; vgl. RGSt 5,377; RGSt 30,391; 45, 157; RGSt 47,180; RGSt 52, 34; RGSt 54, 90. 51 Knodel, S. 177 definiert die Gewalttätigkeiten als "vom Massenbewußt48 49

sein einer Zusammenrottung getragene Angriffe, welche sich gegen Personen oder Sachen in ihrer körperlichen Existenz richten". Diese Definition ist m. E. nicht ganz befriedigend. Zwar sind "Gewalttätigkeiten" gewöhnlich Tatbestandsmerkmale der sog. Massen bzw. Demonstrationsdelikte, das ist aber nicht immer der Fall. So läßt beispielsweise diese Definition von Knodel die Gewalttätigkeit des § 113 Abs. 2 Nr. 2 unbeachtet, denn sie ist nicht an das "Massenbewußtsein einer Zusammenrottung" gebunden.

Zweites Kapitel

Die Demonstrationstatbestände im einzelnen I. Allgemeines Im Abschnitt über die verfassungstheoretischen Aspekte der Versammlungsfreiheit wurde das Problem der allgemeinen Strafgesetze im Verhältnis zu den verfassungsrechtlichen Schranken der Versammlungsfreiheit geprüft. Die allgemeinen Strafgesetze - und als solches wird auch das Strafgesetzbuch bezeichnet - können den besonderen Inhalt des Versammlungsrechts nicht berücksichtigen und daher nicht die unmittelbaren Schranken der Versammlungsfreiheit sein 1• Nur wenn jemand sich außerhalb der festgelegten Schutzschranken des Art. 8 GG befindet, dürfen die Strafgesetze eingreifen. Die plausible Frage, inwieweit derjenige, der ein Strafgesetz verletzt, immer noch im Schutzraum des Art. 8 GG sein kann, wurde in Zusammenhang mit der Unfriedlichkeitsschranke betrachtet und dabei festgestellt, daß diese Schranke nicht immer sofort durch die Beeinträchtigung eines strafrechtlich geschützten Rechtsgutes zur Wirkung kommt. Die Strafgesetze, die Schranken der Versammlungsfreiheit sein wollen, müssen also den garantierten Raum des Art. 8 GG respektieren und auch das Gebot des Art. 19 GG (kein Antasten der Grundrechte in ihrem Wesensgehalt) beachten. Nur außerhalb dieses abgegrenzten Bereichs darf der Strafgesetzgeber mit Demonstrationstätern rechnen\!. 1 Wenn demnach der BGH, NJW 1969, S. 1770 (1773) sagt, daß der Versammlungsteilnehmer die allgemeinen Gesetze beachten müsse, so übersieht er, daß das Grundrecht der Versammlungsfreiheit nicht unter dem Vorbehalt der allgemeinen Gesetze steht. Der gleiche Einwand macht sich auch gegen Eb. Schmidt, S. 7 geltend. Er behauptet nämlich, daß der Demonstrant im Vergleich zum einzelnen keine Vorrechte besitze, sondern wie jeder andere die allgemeinen Gesetze zu achten habe. Die erste Frage, di:e der mit den Demonstra1li:onsdelikten Beschäftdgte zu beantworten hat, ist nicht, ob der Demonstrant Vorrechte im Vergleich zu den übrigen Staatsbürgern hat, sondern ob die allgemeinen Gesetze selbständige Schranke der Versammlungsfreiheit auf Grund des Grundgesetzes sind. Ob nun der Demonstrationstäter privilegierte Behandlung genießen soll, ist Inhalt einer anderen Frage, die im Rahmen der Rechtfertigungsgründe oder der Strafzumessung beantwortet werden kann. 2 Vgl. MüHer, S. 135, 138; nach Ott, Informationstagung, S. 44, setze die Strafbarkeit von Demonstrationstätern eine vorherige ordnungsgemäße, ausdrückliche und eindeutige Auflösung der Demonstration voraus, weil es sonst an einem Tatbestandsmerkmal (Menschenmenge) fehle.

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

81

In diesem Kapitel wird geprüft, inwieweit der Gesetzgeber dieser seiner Pflicht nachgekommen ist, welche die typischen Demonstrationstatbestände sind, in welchem Verhältnis sie zu den übrigen Demonstrationsdelikten im allgemeinen stehen, d. h. denjenigen Delikten, die anläßlich einer Demonstration begangen werden; dann auch die zutreffenden strafrechtlichen Probleme, inmitten derer allerdings der Nötigungstatbestand und das Problem der Güter- und Interessenabwägung im Strafrecht steht und schließlich Konkurrenzprobleme. 11. Typische Demonstrationstatbestände im StGB und im VersG A. Der Landfriedensbruch § 125 StGB

Existenz und Formulierung des § 1253 StGB werfen eine Reihe von rechtspolitischen und strafrechtsdogmatischen Problemen auf, auf welche hier eingegangen wird. Auf die Kommentierung des Landfriedensbruchsparagraphen wird hier verzichtet. § 125 StGB stellt den allerwichtigsten Demonstrationstatbestand dar und er durchläuft die ganze Problematik der Demonstrationsdelikte, er wird also in vielen Kapiteln der Arbeit zur Diskussion gebracht. Wie erwähnt, sollen die Strafgesetze, welche einen Demonstrationstäter erfassen wollen, so formuliert werden, daß sie zum einen die Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit mittelbar dort nicht verhindern, wo sie nicht angebracht sind; zum anderen sollen sich diese Gesetze aber nicht von dem im Strafrecht herrschenden Schuldprinzip distanzieren. Der § 125 a. F. StGB, aber auch viele von den schon aufgehobenen Strafbestimmungen des StGB, die sich speziell und zielgerichtet gegen Demonstrationen richteten (vgl. §§ 115, 116 a. F. StGB) waren der Ausdruck dieses Problems. Die Regelung des § 125 a. F. StGB mißbilligte das Recht auf die Ausübung der verfassungsrechtlich garan§ 125 StGB: ,,(1) Wer sich an

3

Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder 2. Bedrohungen von Menschen mit einer Gewalttätigkeit, die aus einer Menschenmenge in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise mit vereinten Kräften begangen werden, als Täter oder Teilnehmer beteiligt oder wer auf die Menschenmenge einwirkt, um ihre Bereitschaft zu solchen Handlungen zu fördern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft, wenn die Tat nicht in anderen Vorschriften mit schwerer Strafe bedroht ist. (2) Soweit die im Absatz 1 Nr. 1, 2 bezeichneten Handlungen in § 113 mit Strafe bedroht sind, gilt § 113 Abs. 3, 4 sinngemäß."

1.

6 Kostaras

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

82

tierten Demonstrationsfreiheit dadurch, daß sie jeden, der an einer solchen Demonstration teilnahm, nach den Grundsätzen einer objektiven Haftung bestrafte, egal ob der Demonstrant an den begangenen Gewalttätigkeiten teilnahm oder nicht. Auch heute scheint - trotz der liberaleren Konzeption des § 125 StGB - dieses Problem nicht endgültig überwunden zu sein. Sowohl wegen der in Demonstrationen liegenden Gefahren als auch wegen des Eindrucks von Terrorwellen in jüngster Zeit wird der Ruf nach einer Rückkehr zur alten Formulierung des § 125 StGB immer lauter!. Begründet wird diese Forderung mit der Notwendigkeit eines größeren Schutzes der öffentlichen Sicherheit, einer Notwendigkeit, die um so unentbehrlicher wird, je größer die Schwierigkeit der Entdeckung des oder der Gewalttäter in der unübersichtlichen Menge der Demonstranten ist. Die Proteststimme von Eberhard Schmidt gegen die Reform des Jahres 1970 klingt heute noch nach: "Sollten die Verfasser dieses neuen § 125 wirklich nicht bemerkt haben, daß damit die ganze Bestimmung zu einer geradezu lächerlichen Farce wird? Jeder Polizist kann darüber belehren, daß diejenigen, die aus der sie umgebenden und deckenden zusammengerotteten Menschenmenge die Steine und die Bierflaschen schleudern und damit Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen (als Täter bzw. Teilnehmer im technischen Sinne) begehen, niemals zu erkennen und zu fassen sind. Auch Ermittlungen mit Hilfe von Zeugenaussagen führen zu nichts; denn natürlich hat keine der die Menschenmenge ausmachenden Personen etwas gesehen. Das sind so alltägliche und banale Erfahrungen, daß es überhaupt nicht zu begreifen ist, inwiefern der nunmehr vorgeschlagene § 125 überhaupt noch als ernsthafte Strafdrohung soll aufgefaßt werden könnenS." Ungeachtet der Tatsache, daß sich durch das Zustandekommen des angegriffenen Gesetzes die Ängste des Eberhard Schmidt nicht erfüllt haben6 , d. h. weder die Rechtsstaatlichkeit unterging noch der Staat , Vgl. Entwurf der Fraktion CDU/CSU und des Bundesrates zu einem neuen § 125 StGB: ,,(2) " ••. Werden Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder Sachen oder Bedrohung von Menschen mit einer Gewalttätigkeit aus einer Menschenmenge mit vereinten Kräften begangen, die diese Handlungen in einer die öffentliche Sicherheit gefährdenden Weise unterstützt, so wird derjenige, der sich der Menschenmenge anschUeßt oder sich nicht aus ihr entfernt, mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft." 5

Eb. Schmidt, S. 22.

Im Gegensatz zur früheren Regelung hat die Reform des Jahres 1970 einen positiven Einfluß auf die Beschränkung von Demonstrationsdelikten genommen, wie dies aus der nachfolgenden statistischen Tabelle des Bundesjustizministeriums v. 30. 10. 1973 hervorgeht: e

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

83

vor "bolschewistischen revolutionären Kräften" kapitulierte, ungeachtet aller dieser nicht verwirklichten Ängste, bleibt noch die Frage bestehen, inwieweit der rechtsstaatliche Gesetzgeber berechtigt ist im Bereich des Strafrechts, wegen Beweisschwierigkeiten die Bestrafung nicht auf dem Schuldprinzip aufzubauen, sondern auf einer objektiven Grundlage. Wie verderblich eine positive Antwort auf diese Frage für das Strafrecht ist, weiß jeder, der die strafrechtlichen Prinzipien des Mittelalters heute für eine richtige Gewährung der Strafjustiz für nicht anwendbar hält. Außerdem gibt es heute keine besonderen Schwierigkeiten zum Aufsuchen und zur Ermittlung des gewalttätigen Demonstranten, auch wenn er sich im Kern der Demonstration befindet. Die Polizei ist heute technisch optimal ausgerüstet; sie verfügt über Aufnahme- und "SpionKameras", durch welche sie die ganze Demonstration betrachtet und die gewalttätig Handelnden irgendwann verhaften kann. Dies ist ein pragmatisches Argument. Aber darüber hinaus wird auch die öffentliche Sicherheit und die Rechtsstaatlichkeit in einer kritischen politischen Periode mit den begleitenden Spannungen und Auseinandersetzungen7 nicht durch eine generelle Bestrafung von Unschuldigen gerettet, sondern erst durch Wachsamkeit, größtmögliche Toleranz und Rechtmäßigkeit der Verwaltung, durch die Enthaltsamkeit und die bei notwendiger Normierung feste Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung und des Richters an die Gesetze gewährt. Demonstrationen a) Insgesamt

1968 a) b) Baden-Württemberg Bayern Berlin Bremen Hamburg Hessen Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Rheinland-Pfalz Saarland Schleswig-Holstein

Gesamt

248 193 47 18 73 160 274 836 101 8 101

81 106 23 4 31 45 39 179 6

-

19

2059 533

1969 a) b) 291 253 45 39 79 177 283 886 105 43 52

108 189 16 10 22 61 78 257 25 21 26

2253 813

b) davon unfriedUch

1970 b)

a)

184 177 83 22 70 132 121 489 56 16 33

8 18 13 3 13 20 45 2

1383 122

1971 a) b) 123 241 77 18 56 130 118 624 38 19 44

87 23 19 3 30 4 36 4 2

1548 208

1972 b)

a)

151 265 84 19 60 122 138 617 40 9 42

6 20 11 3 17 12 7 1

1547 77

Nachweise bei v. Münch, GG Kommentar, Bd. I, S. 317. "Auch das Merkmal des gefährdenden Friedens", sagen Baumann I Frosch, S. 121, "gibt zu schweren Bedenken Anlaß. Gerade hier haben wir doch die Kollision mit dem Demonstrationsrecht aus Art. 8 GG. Der öffentliche Friede ist eben nicht mehr der Friede der Friedhofsruhe •.. , vielmehr muß gerade dieses Tatbestandsmerkmal neu verstanden werden, wenn Art. 8 GG verwirklicht werden soll." 7

6"

84

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

Soweit die Existenz eines besonderen Paragraphen über den Landfriedensbruch, wie der heutige, für notwendig gehalten wird, darf man sich heute, wie auch in der Zukunft, nicht vom Boden des Schuldprinzips entfernen8 , es sei denn man dehnt die Schuld soweit aus, daß auf den Anwendung findet, der bloß seine verfassungsmäßigen Rechte wahrnimmt9 • Gerade die Notwendigkeit besonderer Paragraphen über die Massen bzw. Demonstrationsdelikte und nicht nur des Landfriedensbruchs wird heute von vielen Autoren bestritten10• Es ist der andere Pol der Juristen, die nicht eine strengere Formulierung des Landfriedensbruchs verlangen, sondern ganz im Gegenteil seine ersatzlose Streichung: § 125 StGB habe keinen Sinn, nachdem die nach ihm zu bestrafenden Straftaten ebenfalls von den allgemeinen Tatbeständen bestraft werden könnten. Eine Widerstandsleistung gegen die Staatsgewalt, nötigende Gewalt und Gewalttätigkeiten mit Kopfverletzungs- und Sachbeschädigungswirkung, das sei die gewöhnliche Kombination der anläßlich von Demonstrationsausschreitungen in Erscheinung tretenden strafbaren Handlungen und diese Handlungen würden ausreichend von dem Geflecht der §§ 26 ff., 113, 240, 223 ff. und 303 ff. StGB strafrechtlich gedeckt. Der Gedanke der Streichung de lege ferenda des § 125 StGB scheint logisch zu sein, er übersieht indessen einen ganz wichtigen Gesichtspunkt des Problems, nämlich die symbolische Funktion der Gesetzgebung. Jeder der Demonstranten muß wissen - und dies unabhängig davon, ob strafwürdiges Demonstrationsverhalten in den Einzelheiten von anderen Strafvorsch:riften geahndet wird - , daß bei der Ausübung des Versammlungs- bzw. Demonstrationsrechts das Friedlichkeitsgebot des Art. 8 GG keineswegs mißachtet werden darf und daß es zumindest eine Strafvorschrift im Strafgesetzbuch gibt, die an dieses Verfassungsgebot erinnert und den öffentlichen Frieden vor eventuellen Ausschreitungen bewahrt. Diese plakative Bedeutung hat § 125 im sehr empfindlichen Demonstrationsbereich; seine Existenz hat einen symbolischen Charakter und seine generalpräventive Funktion erweist sich sozial sehr wichtig. Von diesem Aspekt aus scheint die Forderung nach Streichung des Landfriedensbruchsparagraphen § 125 StGB zumindest übertrieben. e Vgl. Baumann I Frosch, S. 121. g Vgl. MüHer-Emmert, Die Reform der Vorschriften über den Gemeinschaftsfrieden, ZRP 1970, S. 1 ff. (2); Sturm, Zum Vierzehnten Strafrechts-

änderungsgesetz, JZ 1976, S. 347 (352). 10 Baumann, ZRP 1969, S. 87, 89; Baumann I Frosch, S. 116, 120; KZug, Informationstagung, Bad Homburg 1968, S. 36; PZitt, Welche Forderungen müssen aus den Grundrechten der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit in einer Demokratie an den Gesetzgeber gestellt werden, Informationstagung, S. 43, 46.

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

85

B. Der schwere Hausfriedensbruch § 124 StGB

Anders als beim § 125 StGB wirft § 124 StGB keine besonderen Probleme aufl l • Freilich gibt es auch in bezug auf diesen Paragraphen berechtigte strafrechtspolitische Bedenken. § 124 StGB schützt zwei Rechtsgiiter. Zum einen das Hausrecht und zum anderen den Gemeinschaftsfrieden. Das erste wird eben durch § 123 StGB geschützt und das zweite durch den Landfriedensbruchsparagraphen § 125 StGB. Was will nun darüber hinaus § 124 StGB? Man begründet die besondere Existenz des § 124 StGB mit dem Argument, daß zwar § 124 StGB eine Art Vorstufe des § 125 StGB sei und in diesen übergehe, wenn die Gewalttätigkeiten tatsächlich begangen würden, § 125 StGB enthalte jedoch nicht das Moment des Eindringens in fremde RäumIichkeiten12• Man müßte aber hier unterscheiden: entweder sind die Gewalttätigkeiten tatsächlich begangen worden und der Demonstrationstäter macht sich nach §§ 125, 123 StGB strafbar oder sie sind nicht begangen worden und der Täter muß nur nach § 123 StGB bestraft werden, wobei die Schwere der RechtsgutverIetzung des Hausfriedens im Rahmen der Strafzumessung berücksichtigt werden muß. Es ist hier der Meinung zuzustimmen, daß die Vorschrift nach der Streichung des § 115 a. F. StGB und die Änderung des § 125 StGB "Fremdkörper" im StGB sei und hätte am besten durch das 3. StrRG gestrichen werden sollen13 • Zunächst muß bei § 124 StGB eine Menschenmenge vorliegen. Letztere stellt eine gleichzeitig am gleichen Ort vereinigte und zahlenmäßig nicht bestimmte Personenmehrheit dar, so daß es auf das Hinweggehen oder das Hinzutreten eines einzelnen nicht ankommt14• 11 § 124 StGB lautet: "Wenn sich eine Menschenmenge öffentlich zusammenrottet und in der Absicht, Gewalttätigkeiten gegen Personen oder Sachen mit vereinten Kräften zu begehen, in die Wohnung, in die Geschäftsräume oder in das befriedete Besitztum eines anderen oder in abgeschlossenen Räumen, welche zum öffentlichen Dienst bestimmt sind, widerrechtlich eindringt, so wird jeder, welcher an diesen Handlungen teilnimmt, mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." 12 Dreher I Tröndle, Anm. 10 zu § 124; Kohlrausch I Lange, § 124 IV; Lackner, Anm. 6 zu § 124; Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 25 zu § 124; Leckner, in Schönke I Schröder, Anm. 26 zu § 124; Rudolphi, in System. Kommentar, Anm. 18 zu § 124; vgl. BGH 3. StR 382/53, S. 17, v. 3.12.53; RGSt 37, 28. 13 Schönke I Schröder, 18. Aufl., 1976, Anm. 1 zu § 124 (a. M. Lenckner, in Schönke I Schröder, 20. Aufl., 1980, Anm. 2 zu § 124); vgl. Baumann I Frosch, 8.120. 14 Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 3 zu § 124; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 10 zu § 125; RGSt 40, 76; OLG Schleswig, SchIHA 1976, S. 167; zum Begriff der Menschenmenge siehe auch oben, 1. Teil, 2. Kapitel 1. B.

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

86

Der hiesige Begriff der Menschenmenge gleicht mehr dem Massebegriff, nachdem subjektive, nämlich psychische Elemente die Versammelten vereinigen müssen1-'. Wenn um diese Menschenmenge "in äußerlich erkennbarer Weise von dem gemeinsamen Willen zu bedrohlichem oder gewalttätigem Handeln beherrscht wird", handelt es sich um eine

Zusammenrottung 16 •

Es kommt nur auf die Existenz dieses gemeinsamen Willens - einzige Gewalttätigkeiten reichen nicht aus - zum gewalttätigen Verhalten an; wann er die Menge beherrscht, bleibt ohne Bedeutung. Zur Zusammenrottung kann auch eine anfangs friedliche Demonstration werden. Erforderlich ist ferner, daß die Menschenmenge öffentlich zu-

sammenrottet17•

Die öffentlich zusammengerottete Menschenmenge muß weiter mit Gewalttätigkeitsabsicht gegen Personen oder Sachen widerrechtlich in die geschützten Räumlichkeiten eindringen. :Ober den Begriff der "Ge-

walttätigkeiten" wurde an anderer Stelle gesprochen18• Hier sei nur stichwortartig bemerkt, daß er ein aggressives und rohes Verhalten voraussetzt.

Mit Absicht handelt nun, wer etwas zielgerichtet anstrebt19 • Es kommt auch hier nur auf die Absicht an, ohne daß es notwendig ist, daß ein Erfolg eintritt. Diese Absicht muß aber im Zeitpunkt des "Eindringens" bestehen. Entschluß zu Gewalttätigkeiten nach dem Eindringen fällt nicht unter § 124 StGBl!O. Was das Eindringen betrifft, ist es fraglich, ob die gesamte Menschenmenge eindringen muß oder es ausreicht, wenn nur manche von den Teilnehmern der Zusammenrottung eindringen. Letzteres genügt schon, sofern das Eindringen von dem gemeinsamen Willen der zusammengerotteten Menschenmenge getragen wird21 • Eindringen ist auch 15 In diesem Sinne ist Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 3 zu § 124 zuzustimmen, wenn er behauptet, daß es nicht einen einheitlichen Menschenmengebegriff gebe. 10 Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 4 zu § 124; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 6 zu § 124; BGH, NJW 1953, S. 1031; BayObLG, NJW 1969, S. 64; OLG Frankfurt, DRiZ 1970, S. 63; OLG Schleswig, SchlHA 1976,

S.167. 17 Schäfe7, in Leipziger Kommentar, Anm. 5 zu § 124; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 7 zu § 124. 18

Siehe oben 2. Teill. Kapitel II!.

Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 14 zu § 124. 20 OLG Stuttgart, NJW 1969, S. 1776; Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 15 zu § 124; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 17 zu § 124. 21 Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 9 zu § 124 und 8 zu § 125, sowie Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 8 zu § 124 behaupten, es müsse sich 19

um eine so große Zahl eingedrungender Personen handeln, "daß in ihrer Mitte sich massenpsychologische Erscheinungen unkontrollierter und unkontrollierbarer Reaktionen entwickeln können".

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

87

dann möglich, wenn es sich um einen der Öffentlichkeit allgemein zugänglichen Raum handelt, beispielsweise öffentliche Dienststellen, Warenhäuser u. ä. Der öffentlich-rechtliche Anspruch des Bürgers oder die stillschweigende allgemeine Zutrittserlaubnis auf Benutzung dieser Stellen gelten nur für den rechts- und ordnungsgemäßen Zutritt und decken keineswegs das in Gewalttätigkeitsabsicht erfolgte Eindringen. Das Eindringen muß widerrechtlich sein. Allerdings ist ein unter diesen Umständen, d. h. mit Absicht zur Begehung von Gewalttätigkeiten, gelungene Eindringen in der Regel rechtswidrig. Die besondere Erwähnung im Gesetzestext hat insoweit Bedeutung, daß, wenn das in solcher Absicht unternommene Eindringen mit Erlaubnis des Hausbesitzers erfolgt - beispielsweise erteilt der Hausbesitzer seinen Gesinnungsgenossen die Erlaubnis die Hausbesetzer zu vertreiben -, es am Tatbestandsmerkmal fehlt und eine Bestrafung nach § 124 StGB nicht in Frage kommt; das Verhalten ist nur nach § 125 StGB strafrechtlich relevant. Nicht widerrechtlich ist das Eindringen auch dann, wenn selbstverständlich - ein Rechtfertigungsgrund vorliegt, beispielsweise eine flüchtende Menge dringt in ein Gebäude ein, um sich dort vor ihren Verfolgern unter Anwendung von Gewalt gegen Sachen zu verbarrikadieren22• Das Eindringen muß schließlich "mit vereinten Kräften" erfolgen. Damit ist nicht gemeint, daß sich alle Mitglieder der Zusammenrottung am Eindringen beteiligen müssen. Der Ausdruck "mit vereinten Kräften" betont mehr den inneren Zusammenhalt der zusammengerotteten Menge mit Bezug auf die zu begehenden Gewalttätigkeiten. Es reicht daher aus, wenn nur einzelne Teilnehmer eindringen, soweit die Zusammenrottung bewußt mit Willen und Seele hinter ihnen steht23 • Fraglich ist hier der Personenkreis, der gegen diese Gewalttätigkeitsabsicht der Zusammenrottung geschützt wird. Das Problem wird dadurch erschwert, daß in § 124 StGB zwei Rechtsgüter geschützt werden. Der Gedanke, die Gewalttätigkeitsabsicht der Menge nur in bezug auf Personen und Sachen zu sehen, welche am besonderen Schutz des Hausfriedens teilhaben, bezieht sich auf den Schutz des Hausrechts, während das Moment der Störung des gemeinsamen Friedens dadurch verletzt wird, "daß man sich nicht einmal in seinen eigenen vier Wänden vor Gewalttätigkeiten sicher fühlen kann"24. Nach dieser Auffassung liegt daher kein schwerer Hausfriedensbruch vor, wenn die Menschenmenge in ein Haus eindringe, um von dort aus Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 12 zu § 124. Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 11 zu § 124; Lenckner, ke I Schröder, Anm. 14 zu § 125. 24 Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 15 zu § 124. 22

23

in Schön-

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

88

Angriffe Dritter, die von außen kommen, gewaltsam abzuwehren. Nur wenn neben der Absicht des Verbarrikadierens des Hauses auch der Wille zur Beschädigung oder Zerstörung von Einrichtungsgegenständen bestehe, dürfe wegen § 124 StGB bestraft werden25 • Zu Recht wird aber dieser Auffassung entgegengehalten, daß sie übersieht, daß auch im Falle einer Hausbesetzung in der Absicht der gewaltsamen Abwehr von Dritten, sowohl die sich im Schutzbereich des verletzten Hausfriedens befindlichen Personen und Sachen, wie auch der gemeinsame Frieden vielmehr gefährdet wird, denn die Dritten werden selbstverständlich versuchen, den Gewalttätigkeiten mit gleichwertigen Gegenmaßnahmen entgegenzutreten26 •

Die Bestrafung wegen schweren Hausfriedensbruchs setzt einmal Teilnahme an der öffentlich zusammengrotteten Menschenmenge und einmal Teilnahme am Eindringen voraus. Für die Teilnahme an der

Zusammenrottung ist es erforderlich, sich dieser anzuschließen, so daß man als deren Bestandteil erscheint. Für die Teilnahme am Eindringen braucht zwar der Betreffende selbst nicht einzudringen, er muß sich aber am Eindringen der übrigen Teilnehmer als Mittäter beteiligen27 •

Bezüglich des inneren Tatbestandes ist für beide Teilhandlungen Vorsatz - auch bedingter - erforderlich. Der Täter muß sich an der

Zusammenrottung und am Eindringen in Kenntnis der Absicht der Versammelten anschließen oder verweilen, und er muß weiter wissen und wollen, daß durch seinen Anschluß oder Verweilen in der Zusammenrottung oder durch seine Beteiligung am Eindringen, er die fr.iedensstörenden Ziele der Gruppe fördert28 • Ein so konzipierter dolus läßt nun kaum Rahmen für die Anwendung der Teilnahmeformen i. e. S., d. h. der Anstiftung und Beihilfe. Soweit der Vorsatz der "Teilnahme" an der Zusammenrottung und am Eindringen vorliegt, wird jedes Mitglied der Zusammenrottung als Täter bzw. Mittäter bestraft29 , genau wie beim § 125 StGB. Nur wer sich räumlich von der Zusammenrottung und dem Eindringen distanziert, kann als Anstifter oder Gehilfe bestraft werden. In einem solchen Fall ist er aber gar nicht "Teilnehmer" der eindringenden Zusammenrottung, sondern Außenstehender. Nur für letztere besteht nämlich die Möglichkeit der Teilnahme i. e. S.

Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 15 zu § 124. Vgl. Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 15 zu § 124; RGSt 53, 64. 27 Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 21 zu § 124. 28 Schäfer, in Leipziger Kommentar, Anm. 17, 18 zu § 124; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 22 zu § 124. 2Q über die Beteiligung an den Delikten der §§ 124, 125 StGB siehe unten 25

26

5. Kapitel, II.

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

c.

89

Verhinderung oder störung von Versammlungen oder Aufzügen § 21 VersG

Durch § 21 VersG wird die Ausübung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit im Art. 8 GG dadurch gewährleistet, daß derjenige - sei es Versammlungsteilnehmer oder Außenstehender - bestraft werden muß, der die Durchführung einer rechtmäßig stattfindenden Versammlung stört. "Wer in der Absicht", heißt es im § 21 VersG, "nichtverbotene Versammlungen oder Aufzüge zu verhindern oder zu sprengen oder sonst ihre Durchführung zu vereiteln, Gewalttätigkeiten vornimmt oder androht oder grobe Störungen verursacht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft." § 21 VersG stellt offenbar kein Erfolgsdelikt dar. Wesentlich ist hier, daß der Täter durch die im Tatbestand beschriebenen Handlungen die Verhinderung, die Sprengung oder die Vereitelung der Versammlung bzw. Aufzugs beabsichtigt. Auf einen tatsächlichen Erfolg seiner Handlungen kommt es nicht an30• Ob nun die Absicht des Täters aus diesem oder jenem Grund motiviert ist, bleibt ebenfalls ohne Bedeutung.

Die Begriffe "verhindern", sprengen", "vereiteln" gehen nebeneinander und ergänzen sich. Breiter betrachtet stellen diese Handlungen

eine Störung der Versammlung in dem Sinne dar, daß sie die Verwirklichung des Versammlungszwecks unmöglich machen. Verhindert wird eine Versammlung bzw. ein Aufzug dann, wenn sie nicht planmäßig stattfinden kann. Gesprengt ist sie, wenn "die Teilnehmer zum Verlassen des Versammlungsortes gezwungen werden". Vereitelung der Versammlung liegt vor, "wenn eine sachgemäße, den Vorstellungen des Veranstalters entsprechende Fortführung der Versammlung (beispielsweise durch ständiges Applaudieren oder Singen) unmöglich gemacht wird"31. Bestraft wird schließlich im § 21 VersG, wer die Verhinderung der Versammlung durch die Vornahme oder die Androhung von Gewalttätigkeiten beabsichtigt32. Soweit keine Gewalttätigkeiten vom Täter selbst vorgenommen, sondern beispielsweise die Öffenlichkeit aufgefordert wird, die Versammlung durch Gewalttätigkeiten zu stören, greift nicht § 21 VersG, sondern nur § 111 StGB ein.

30 31

32

RGSt 55, 190. Dietet / Gintzet, Versammlungsgesetz, Rdnr. 4, 5 zu § 21 VersG. Zum Begriff von Gewalttätigkeiten siehe oben 2. Teil, 1. Kapitel IH.

90

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

D. Widerstand gegen den Leiter oder Ordner einer Versammlung § 22 VersG

In einer Formulierung, die der in § 113 StGB ähnlich ist, gewährleistet auch § 22 VersG die Verwirklichung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit dadurch, daß die Person des Versammlungsleiters oder des Ordners während der Wahrnehmung ihrer Ordnungsbefugnisse geschützt wird und zwar gegen Widerstandshandlungen oder gegen tätlichen Angriff von Versammlungsteilnehmern oder von Dritten33 •

Unter Widerstand versteht man, genau wie im § 113 Abs. 1 StGB, eine aktive Tätigkeit - rein passives Verhalten genügt nicht34 • Diese Tätigkeit soll sich aber hier gegen den Versammlungsleiter oder einen Ordner richten und muß geeignet sein, diese Personen in der rechtmäßigen Ausübung ihrer Ordnungsbefugnisse zu behindern. Als Ordnungsbefugnisse sind hier diejenigen der §§ 8 (Bestimmung des Versammlungsablaufs, Unterbrechung und Schließung der Versammlung, Sicherung der Ordnung), 9 Abs. 1 (Bestellung von Ordnern), 11 Abs. 1 (Ausschlußrecht des Leiters), 18 Abs. 1 (entsprechende Anwendung von Paragraphen des VersG auf Versammlungen unter freiem Himmel), 19 Abs. 1 VersG (Sorge für den ordnungsmäßigen Ablauf des Aufzuges und Bestellung von Ordnern) gemeint. Der Widerstand muß mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt geleistet werden. In diesem Sinne ist eine Widerstandshandlung gegen den Leiter oder einen Ordner zugleich auch Nötigung (§ 240 StGB). § 22 VersG verdrängt aber als Spezialgesetz § 240 StGB und geht ihm vor3 5 • Als tätlicher Angriff ist jede absichtlich, unmittelbar auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung zu bezeichnen, ohne daß es auf den beabsichtigten Erfolg ankommt3tl • Es ist selbstverständlich, daß Widerstandshandlungen nur während der Zeit strafrechtlich relevant im Sinne von § 22 VersG sind, während der der Leiter und die Ordner ihre Funktionen wahrnehmen, d. h. nur solange die Veranstaltung dauert und nicht von der Polizei unter33 § 22 VersG lautet: "wer bei einer öffentlichen Versammlung oder einem Aufzug dem Leiter oder einem Ordner in der rechtmäßigen Ausübung seiner Ordnungsbefugnisse mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt Widerstand leistet oder ihn während der rechtmäßigen Ausübung seiner Ordnungsbefugnisse tätlich angreift, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft". 34 Dietet I Gintzel, Rdnr. 6 zu § 22 VersG; vgl. Eser, in Schönke I Schröder, Anm. 40 zu § 113 StGB. 35 Dietet I Gintzet, Rdnr. 11 zu § 22 VersG. 38 Dietet I Gintzel, Rdnr. 8 zu § 22 VersG; Eser, in Schönke I Schröder, Anm. 46 zu § 113 StGB; RGSt 59,265.

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

91

brochen wird. Außerhalb dieses Rahmens besteht kein strafrechtlicher Schutz von § 22 VersG für die erwähnten Personen und nur soweit die Voraussetzungen der §§ 123, 240 StGB vorliegen, werden die Betroffenen gegen solche Handlungen strafrechtlich weiter geschützt.

Die Rechtmäßigkeit der Wahrnehmung der Ordnungsbefugnisse ist keine objektive Bedingung der Strafbarkeit, sondern Tatbestandsmerkmal:n . Was nun den Irrtum. des Täters über die Rechtmäßigkeit der Ordnungsbefugnisse des Leiters oder des Ordners angeht, ist m. E. § 113 Abs. 4 StGB analog anzuwenden und zwar ohne die Zumutbarkeitsklausel. Die Zumutbarkeitsklausel stellt selbst für § 113 StGB eine Abweichung von den Grundsätzen des Verbotsirrtums dar. Diese Abweichung wird mit dem Bedürfnis eines größeren Schutzes der Staatsgewalt begründet. Die Ordnungsbefugnisse des Versammlungsleiters und der Ordner können aber keineswegs den Befugnissen eines Staatsorgans gleichgestellt werden. Es besteht also keine Notwendigkeit bei der analogen Anwendung des § 113 Abs. 4 die Zumutbarkeitsklausel auch für die Widerstandshandlung eines Versammlungsteilnehmers gegen den Versammlungsleiter oder einen Ordner anzunehmen. Darüber hinaus darf man hier nicht übersehen, daß die Zumutbarkeitsklausel selbst für § 113 StGB sch!wer mit dem Schuldprinzip vereinbar ist38 • Es ist also nicht einzusehen, warum denn die dortigen Probleme auch auf § 22 VersG übertragen werden sollen. Nach alledem soll nun ein Widerstandstäter gegen den Versammlungsleiter oder den Ordner beim vermeidbaren Irrtum milder nach Ermessen des Richters bestraft oder bei geringer Schuld von Bestrafung abgesehen werden, während bei Unvermeidbarkeit des Irrtums Straffreiheit eintreten muß. E. Verwendung von bewaffneten Ordnern § 24 VersG

Im § 24 VersG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer als Leiter einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges bewaffnete Ordner einsetzt. Der Täter muß hier vorsätzlich handeln; bedingter Vorsatz genügt. Ob für den Leiter die Rech.tspflicht besteht, die Erscheinung von bewaffneten Ordnern zu verhindern, ist sehr fraglich. Der Leiter hat keine rechtlichen Möglichkeiten in diese Richtung; um. mit einem Argu37 Dietel / Gintzel, Rdnr. 6 zu § 22 VersG; Ott, Kommentar zum VersG, München 1969, Rdnr. 1 zu § 22 VersG. 38 Siehe unten, 4. Kapitel lImit Fußn. 9.

92

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

ment von Dietel! Gintzel zu sprechen, müßte er, um einer solchen Pflicht zu genügen, die Befugnis haben, Ordner vor ihrem Einsatz körperlich zu durchsuchen. Da er diese Befugnis nicht habe, könne ihm kein Vorwurf gemacht werden, wenn ein Ordner eine Waffe bei sich verborgen halte39 • Auf Grund des § 24 VersG wird nur der Leiter bestraft. Eine Bestrafung anderer Personen, beispielsweise des Veranstalters, kommt erst in Frage, soweit die Voraussetzungen der Anstiftung (§ 26 StGB) oder der Beihilfe (§ 27 StGB) vorliegen40 • F. Abweichungen bei der Durchführung einer Versammlung unter freiem Bimmel oder eines Aufzuges § 25 VersG

Wenn eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder ein Aufzug wesentlich anders durchgeführt wird, als bei der Anmeldung angegeben wurde oder wenn den behördlichen Auflagen nach § 15 Abs. 1 VersG nicht nachgekommen wird, wird der Leiter gemäß § 25 VersG mit Freiheitsstrafe bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu einhundertachtzig Tagessätzen bestraft. Die Probleme dieses Paragraphen drehen sich um die sog. "Auflagen". Zum Rechtscharakter der in § 15 Abs. 1 VersG als "Auflagen" bezeichneten Beschränkung wird ausgeführt, daß diese tatsächlich keine Nebenbestimmungen zu Verwaltungsakten, sondern selbst unabhängige Verwaltungsakte sind41 • Die Bezeichnung von selbständigen Beschränkungen als "Auflagen" ist also nicht korrekt. Nur wenn Versammlungen unter freiem Himmel oder Aufzüge einer besonderen Erlaubnis bedürften, könnte man die Erlaubnis als Hauptverwaltungsakt und die damit verbundenen Nebenanordnungen dann als "Auflagen" betrachten. Dies ist aber nicht der Fall. Unabhängig jedoch davon ist die Rechtmäßigkeit dieser versammlungsrechtlichen "Auflagen" objektive Bedingung der Strafbarkeit ihrer Verletzung42. "Eine rechtswidrige Auflage", führt das OLG Celle aus, "gegen die der Betroffene wegen der im Bereich des Verwaltungsrechts typischer39 Dietet / Gintzet, Rdnr. 3 zu § 24 VersG; a. M. Trubet / Hainka, Anm. 4 zu § 24 VersG. 40 ott, Kommentar zum VersG, Rdnr. 3 zu § 24 VersG. U Dietet / Gintzet, Rdnr. 15 zu § 15 VersG. 42 Dietet / Gintzet, Rdnr. 2 zu § 25 VersG; Erbs / Kohthaas, Strafrechtliche Nebengesetze, Anm. 4 zu § 25 VersG; Füßtein, VersG, Rdnr. 5 zu § 25 VersG; Ott, Kommentar zum VersG, Rdnr. 5 zu § 25 VersG; OLG CeHe, Beschl. v.

9. 12. 1976, NJW 1977, S. 444.

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

93

weise kurzen Zeit zwischen Auflageerteilung und Veranstaltungstermin kaum rechtzeitigen verwaltungsgerichtlichen Schutz einholen kann, rechtfertigt nicht, strafrechtlich geschützt zu werden4.3." G. Durchführung von verbotenen oder Fortsetzung von aufgelösten Versammlungen oder Aufzügen Strafbarkeit der Nicbtanmeldung § 26 VersG "Wer als Veranstalter oder Leiter 1. eine öffentliche Versammlung oder einen Aufzug trotz vollziehbaren Ver-

bots durchführt oder trotz Auflösung oder Unterbrechung durch die Polizei fortsetzt oder

2. eine öffentliche Versammlung unter freiem Himmel oder einen Aufzug ohne Anmeldung (§ 14) durchführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem

Jahr oder mit Geldstrafe bestraft."

§ 26 Nr. 1 VersG bereitet keine besonderen Interpretationsschwierigkeiten. Äußerst problematisch wird erst § 26 Nr. 2 VersG.

Zweck der Anmeldung der Versammlung nach § 14 VersG ist zum einen der Schutz der Veranstaltung selbst und zum anderen die Wahrung der Interessen der Allgemeinheit oder der einzelnen, die von der Durchführung der Versammlung beeinträchtigt werden können. Auflösung einer nicht angemeldeten Versammlung oder eines Aufzuges und Bestrafung ihres Leiters und Veranstalters sind nur dann gerechtfertigt, wenn sie von dem N ormzweck der Anmeldepflicht gedeckt sind44 • Wo die Unterlassung der Anmeldung keine Gefährdung für die Interessen der Allgemeinheit und die Rechtsgüter der einzelnen zur Folge hat, gibt es keinen Auflösungs- oder Strafgrund. Verlangen nach unbedingter Geltung der Pflicht zur Anmeldung würde die Anmeldung zum Selbstzweck machen und somit das Grundrecht der Versammlungsfreiheit in seinem Wesensgehalt anstasten (Art. 19 Abs. 2 GG). Vom § 26 Nr. 2 VersG ~rden die Spontanversammlungen besonders betroffen, welche ihrem Wesen nach der Anmeldepflicht nicht entsprechen, und deren Gewährleistung vom Art. 8 GG von der ganz überwiegenden Meinung der Autoren bejaht wird4ö • Es ist sehr fraglich, inwieweit die Strafnonn des § 26 VersG das Gebot des Art. 103 Abs. 2 GG respektiert'6. Man hätte also § 26 VersG so formulieren sollen, daß er inhaltlich und seinem Zweck nach mehr konkret gewesen wäre. OLG CeHe, NJW 1977, S. 444. Vgl. BVerwG, DVBl1967, S. 422. 45 Siehe oben 1. Teil 1. Kapitel V. 48 Denninger, DRiZ 1969, S. 71; DieteZl Gintzet, Rdnr. 16 zu § 26 VersG; QuiHsch, S. 135. 43 44

94

2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht B. Bewaffnete Versammlungsteilnebmer § 27 VersG

Nach § 27 VersG wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft, wer bei öffentlichen Versammlungen oder Aufzügen Waffen bei sich führt, ohne zum erscheinen mit Waffen behördlich ermächtigt zu sein. Fraglich ist hier zunächst, ob die "Waffen" nur im technischen oder auch im subjektiven Sinn gemeint sind. Die Strafnorm des § 27 VersG ahndet die Mißachtung des verfassungsrechtlichen Gebots des Art. 8 Abs. 2 GG, daß die Versammlungsteilnehmer "ohne Waffen" zu erscheinen haben. Es ist zunächst die Gefährlichkeit der Waffen im technischen Sinne, welche zur Normierung des § 27 VersG führte. Eine Gefährlichkeit weisen zwar auch gewisse Gegenstände, wie beispielsweise Steine auf, diese Gefährlichkeit ist aber mit dem subjektiven Merkmal der Absicht des Täters verbunden, so daß die betreffenden Gegenstände nur dann als "Waffen" strafrechtlich relevant sind, wenn zumindest eine Verwendungsabsicht erkennbar ist. § 27 VersG verlangt aber keine Verwendungsabsicht. Nur wenn es im § 27 VersG eine entsprechend dem § 125 a Nr. 2 StGB Vorschrift gäbe - Bestrafung jedes', wer "eine andere Waffe bei sich führt, um diese bei der Tat zu verwenden" - könnten Waffen auch im nicht technischen Sinne unter § 27 VersG subsumiert werden. Demzufolge wird der Versammlungsteilnehmer, der Steine, Schlagstöcke u. ä. bei sich führt, nur unter den Voraussetzungen der §§ 113 Abs. 2 Nr. 2, 125 a Nr. 2, 223 a Abs. 1, 224 Abs. 1 Nr. 2 StGB bestraft. Mit Bezug auf das Merkmal des" Waffen bei sich führen" ist hier zu bemerken, daß dies nicht nur mit Körperlichkeit gebunden ist. Es reicht schon aus, daß die Waffe so nahe versteckt ist, daß der Versammlungsteilnehmer die Möglichcheit hat, jederzeit auf sie zurückzugreifen47 •

nI.

Ordnungswidrigkeiten

A. Unerlaubte Ansammlung § 113 OWiG

Nach § 113 OWiG (früher Art. 2 des 3. StrRG v. 20. 5. 70, welcher den Auflauf des § 116 a. F. StGB ersetzt hatte) handelt ordnungswidrig, "wer sich einer öffentlichen Ansammlung anschließt oder sich nicht aus ihr entfernt, obwohl ein Träger von Hoheitsbefugnissen die Menge dreimal rechtmäßig aufgefordert hat auseinanderzugehen. 47 Dietel / Gintzel, Rdnr. 2 zu § 27 VersG; Eser, in Schönke / Schröder, Anm. 6 zu § 244 StGB; Trubel / Hainka, Anm. 5 zu § 27 VersG; vgl. § 4 Abs. 4 WaffG.

2. Kap.: Die Demonstrationstatbestände im einzelnen

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Ordnungswidrig handelt auch der Täter, der fahrlässig nicht erkennt, daß die Aufforderung rechtmäßig ist. Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 mit einer Geldbuße bis zu tausend Deutsche Mark, in den Fällen des Absatzes 2 mit einer Geldbuße bis zu fünfhundert Deutsche Mark geahndet werden". Es kommt nur auf die, selbstverständlich, schuldhafte Nichtbeachtung der Anordnung an, welche aber ihrerseits rechtmäßig sein muß. Die Rechtmäßigkeit der Anordnung ist hier nicht objektive Bedingung der Strafbarkeit, wie bei § 116 a. F. StGB, sondern Tatbestandsmerkmal48 • § 113 OWiG spricht von Ansammlungen im allgemeinen. Die Rechtmäßigkeitsfrage hat aber besondere Bedeutung bei den Versammlungen i. S. des Art. 8 GG. Rechtmäßig - bei den vom Art. 8 GG geschützten Versammlungen - ist zunächst die Anordnung des Trägers von Hoheitsbefugnissen49 nur, soweit die Voraussetzungen des § 13 VersG (Auflösung unfriedlicher öffentlicher Versammlungen in geschlossenen Räumen) oder des § 15 Abs. 2 VersG (Auflösung von öffentlichen Versammlungen unter freiem Himmel) vorliegen. Nachdem aber letztere auch bei friedlichem Verlauf aufgelöst werden können, soweit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung anzunehmen ist, wird die Rechtmäßigkeitsfrage sehr problematisch. Konkret stellt sich das Problem so dar, ob die Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrigkeit der Mißachtung auch dann besteht, wenn später im gerichtlichen Verfahren festgestellt werden sollte, daß die Auflösungsvoraussetzungen nicht vorlagen oder ob es genügt, daß der Polizeibeamte "auf Grund sorgfältiger Prüfung in der Annahme gehandelt hat, zu der Amtshandlung berechtigt und verpflichtet zu sein"5o. Auf Grund dieser letzten Auffassung sei für die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung ohne Bedeutung, ob das Ergebnis dieser sorgfältigen Prüfung der Nachprüfung im Gerichtsverfahren standhält; nur ein schuldhafter Irrtum des Beamten über die Rechtmäßigkeit der Amtsausübung, selbstverständlich auch Willkür oder Amtsrnißbrauch, führt zu Rechtswidrigkeit seiner Handlungen51 • 4B Göhler, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 6. Aufl., 1980, Anm. 3 D zu § 113 OWiG; Schönke I Schröder (18. Aufl. 1976), Anm. 7 zu § 113 OWiG. 49 Als solcher ist jeder Amtsträger im Sinne von § 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB

zu verstehen. Rechtmäßig ist jedoch die Aufforderung des sachlich zuständigen Beamten, Schönke I Schröder (18. Aufl.), Anm. 4 zu § 113 OWiG; Göhler, Anm. 3 A zu § 113 OWiG. 50 BGHSt 21,334,363; vgl. LG Bremen, NJW 1968, S. 1889; Janknecht, S. 41; Eser, in Schönke I Schröder, Anm. 28 zu § 113 StGB. 51

BGHSt 21, 334, 363.

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2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

Solch eine Annahme würde zu weit gehen. Zwar ist dem Vollstrekkungsbeamten bona fides bei der Amtsausübung anzuerkennen, sie wird aber nicht subjektiv, d. h. von dem Beamten selbst bestimmt, sondern von der ex post Beurteilung des Richters bestätigt. Es ist daher nicht einzusehen, warum denn bei der Rechtmäßigkeit und demzufolge bei der Strafbarkeit bzw. Ordnungswidrigkeit geblieben werden muß, wenn gerichtlich nachgeprüft und festgestellt wird, daß die Voraussetzungen der Auflösung weder objektiv vorhanden waren noch einem objektiven Beobachter für vorhanden erscheinen würden?

Sowohl bei Fehlbeurteilungen (fehlerhafte Subsumtion einer richtig erkannten Tatsache unter den Begriff der unmittelbaren Gefährdung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung i. S. von § 15 Abs. 1 VersG), wie auch bei Ermessensentscheidungen der Polizei (fehlerhafte Ermessensentscheidung nach richtiger Subsumtion durch Erlaß einer objektiv nicht erforderlichen Verbots- oder Auflösungsverfügung) muß deren Rechtmäßigkeit von der gerichtlichen Nachprüfung des Falles abhängig gemacht werden62 • Bei den verfassungsrechtlich nicht geschützten Versammlungen richtet sich die Rechtmäßigkeitsfrage nach dem allgemeinen Polizeirecht. Das Sich-nicht-entfernen ist ordnungswidrig, wenn die Aufgeforderten auch die Möglichkeit haben, sich zu entfernen53 • Beim Fehlen einer solchen Möglichkeit gibt es keine Unterlassung von den Verfügungsadressaten und ihr Verweilen in der Versammlung muß geschützt werden. Hier werden besondere Rahmen für Notwehr geschaffen mit Bezug auf die Versammlungsteilnehmer der ersteren Reihen54• Es muß schließlich für die hiesige Ordnungswidrigkeit Vorsatz vorliegen mit Bezug auf alle Tatbestandsmerkmale. Soweit die Rechtmäßigkeit Fahrlässigkeit trifft (für die übrigen Tatbestandsmerkmale ist immerhin Vorsatz erforderlich), wird die Tat mit einer kleineren Geldbuße geahndet. über die sich hieraus ergebenden Irrtumsprobleme wird im Abschnitt über den Irrtum gesprochens.';.

52 Vgl. Crombach, Die öffentliche Versammlung unter freiern Himmel, Schriften zum internationalen Recht, Bd. 2, S. 149. 53 OLG CeHe, NJW 1970, S. 206; Göhler, Anm. 3 F zu § 113 OWiG; Schönke I Schröder (18. Aufl.), Anm. 12 zu § 113 OWiG. 0, Mehr dazu unten 3. Kapitel II. 55 Siehe unten 4. Kapitel III.

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B. Öffentliche Aufforderung zu Ordnungswidrigkeiten § 116 OWiG

"Ordnungswidrig handelt", gemäß § 116 OWiG, "wer öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Schriften, Ton- oder Bildträgern, Abbildungen oder Darstellungen zu einer mit Geldbuße bedrohten Handlung auffordert. Die Ordnungswidrigkeit kann mit einer Geldbuße geahndet werden. Das Höchstmaß der Geldbuße bestimmt sich nach dem Höchstmaß der Geldbuße für die Handlung zu der aufgefordert wird". Durch § 116 OWiG werden übertretungen erfaßt, welche von § 111 StGB nicht erfaßt werden können. In diesem Sinne ist § 116 OWiG eine Ergänzungsvorschrift zu § 111 StGB und beide Paragraphen bewegen sich - zumindest von ihrer Formulierung her - in einer parallelen Linie. Es gilt daher auch hier mutatis mutandis was für § 111 StGB ausgeführt wird, insbesonders was die Person des Aufgeforderten und die Handlung, zu der aufgefordert wird, betrifft. Es muß nämlich auch hier die Person des Aufgeforderten unbestimmt sein und die Handlung zu der aufgefordert wird, nur nach der Art bestimmt werden. Die allgemeine Aufforderung, die Bußgeldvorschriften zu mißachten, reicht nicht aus56. Daß es schließlich beim § 116 OWiG keine. Unterscheidung zwischen erfolgreicher und erfolgloser Aufforderung gibt, erklärt sich daraus, daß es im Ordnungswidrigkeitsrecht keine Mindestgeldbuße gibt. Die erfolglose Aufforderung wird bloß bei der Festsetzung der Geldbuße berücksichtigt57 •

c.

§ 29 VersG

,,(1) Ordnungswidrig handelt, wer 1. an einer öffentlichen Versammlung oder einem Aufzug teilnimmt, deren

Durchführung durch vollziehbares Verbot untersagt ist,

2. sich trotz Auflösung einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges durch die zuständige Behörde nicht unverzüglich entfernt, 3. als Teilnehmer einer öffentlichen Versammlung unter freiem Himmel oder eines Aufzuges einer vollziehbaren Auflage nach § 15 Abs. 1 nicht nachkommt, 4. trotz wiederholter Zurechtweisung durch den Leiter oder einen Ordner fortfährt, den Ablauf einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges zu stören, 5. sich nicht unverzüglich nach seiner Ausschließung aus einer öffentlichen Versammlung oder einem Aufzug entfernt, SB

57

Göhler, Anm. 3 A zu § 116 OWiG. Göhler, Anm. 4 zu § 116 OWiG.

7 Kostaras

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2. Teil: Demonstrationstäter und Strafrecht

6. der Aufforderung der Polizei, die Zahl der von ihm bestellten Ordner mitzuteilen, nicht nachkommt oder eine unrichtige Zahl mitteilt (§ 9 Abs.2), 7. als Leiter oder Veranstalter einer öffentlichen Versammlung oder eines Aufzuges eine größere Zahl von Ordnern verwendet, als die Polizei zugelassen oder genehmigt hat (§ 9 Abs. 2, § 18 Abs. 2), oder Ordner verwendet, die anders gekennzeichnet sind, als es nach § 9 Abs. 1 zulässig ist, oder 8. als Leiter den in eine öffentliche Versammlung entsandten Polizeibeamten die Anwesenheit verweigert oder ihnen keinen angemessenen Platz einräumt. (2) Die Ordnungswidrigkeit kann in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 1 bis 5 mit einer Geldbuße bis tausend Deutsche Mark und in den Fällen des Absatzes 1 Nr. 6 bis 8 mit einer Geldbuße bis zu fünftausend Deutsche Mark geahndet werden."

IV. Allgemeine Tatbestände mit demonstrationsbezogenem Charakter Eine gewalttätig verlaufende Demonstration kann verschiedene Tatbestände des Strafgesetzbuches, eventuell auch anderer Strafgesetze verletzen und das kann natürlich parallel zu der Verwirklichung des Tatbestandes eines oder mehrerer typischer Demonstrationsdelikte geschehen. Es ist Sache des konkreten Falles zu klären, um welche dieser Delikte es sich im einzelnen handelt und wie sie vom Richter beurteilt werden. Zu nennen sind hier zunäch5t die Delikte, die sich als eine Auswirkung der Ausübung des Versammlungsgrundrechts darstellen. Darunter fallen vor allem gewisse Verletzungen des Wegerechts und des Straßenverkehrs, die besonders wenn sie leichter Natur sind, angesichts der Funktion der Versammlungsfreiheit manchmal hingenommen werden sollen. Besondere Probleme bereitet hier eine Reihe von anderen Delikten, welche von § 88 a StGB (verfassungs:feindliche Befürwortung von Straftaten) über §§ 90, 90 a, 90 b StGB (Verunglimpfung des Bundespräsidenten, des Staates und seiner Symbole sowie von Verfassungsorganen), § 111 StGB (öffentliche Aufforderung zu rechtswidrigen Taten), § 130 StGB (Volksverhetzung), § 130 a StGB (Anleitung zu Straftaten), § 140 StGB (Belohnung und Billigung von Straftaten) hinaus bis zu §§ 185 StGB (Beleidigung), § 186 StGB (üble Nachrede) und § 187 a StGB (üble Nachrede und Verleumdung gegen Personen des politischen Lebens) reichen.

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Durch das Geflecht dieser Paragraphen von denen manche durch das 14. StÄG58 v. 22. 4. 1976 neu eingeführt (z. B. §§ 88 a und 130 a StGB) oder neugefaßt wurden, wie z. B. §§ 86, 111, 126 StGB, sollen Verhaltensweisen pönalisiert werden, welche in keinerlei Beziehung zu der verfassungsgemäßen Ausübung von Grundrechten und insbesonders der Meinungsfreiheit im Art. 5 GG und der Versammlungsfreiheit im Art. 8 GGstehen. Die Ausdehnung des Strafbarkeitsraums durch diese letzte Gesetzesänderung wurde damit begründet, daß trotz der Engmaschigkeit des bisherigen Strafschutzes sich einige Lücken empfindlich bemerkbar gemacht hättens9 • Insbesondere bezüglich der Anstiftung (§§ 26, 30 StGB) und der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten (§ 111 StGB) wären davon die Befürwortung noch nicht begangener Straftaten und die Anleitung zu Straftaten strafrechtlich nicht erfaßt, welche bei Jugendlichen oder ideologisch irregeleiteten Personen solch ein Klima schaffen könnten, das der tatsächlichen Begehung von Straftaten förderlich seioo. Die Gewalt- und Terrorwelle der jüngsten Zeit hat den Gesetzgeber provoziert. Die Angst vor der Eskalation der Gewaltdelikte und der Verbreitung des Terrorismus einerseits, und die berechtigte Sorge um das friedliche Zusammenleben, das bedroht zu werden erschien, andererseits, trugen dazu bei, daß der Gesetzgeber zu Lösungen verleitet wurde, die er beim Nachdenken nie hätte befürworten wollen. Ein Kennzeichen des Strafgesetzgebers in einer rechtsstaatlichen Demokratie muß aber die Uberlegung und die Behutsamkeit sein und nicht etwa die Eile und die Tendenz zur Normierung in Bereichen, wo sich keine sozialschädlichen Bedingungen herauskristallisiert haben. Ein Gesetzgeber, der Gesetze unter momentanen Eindrücken erläßt, schützt nicht etwa Rechtsgüter, sondern Zweckmäßigkeiten des Augenblicks. Der Gesetzgeber muß den Entwicklungen im gesellschaftlichen Bereich folgen und nicht ihnen vorangehen, um sie zu gestalten. Nur wenn das Strafgesetz auf den Erfahrungen und den Schlüssen einer langjährigen Betrachtung beruht und ein Ausdruck tatsächlicher Notwendigkeit ist, ist der Schutz der Rechtsgüter effektvoll. Man darf hier nicht verkenl1ien, daß das Ziel des Strafgesetzes zwar der Schutz von Rechtsgütern ist, das bedeutet aber nicht, daß jede Strafandrohung unbedingt legitimiert ist. Legitimität der Strafandro58 59 80

BGBt I, 1056.

Sturm, Zum Vierzehnten Strafrechtsänderungsgesetz, JZ 1976, S. 347. Sturm, S. 348; vgl. Stree, Strafrechtsschutz im Vorfeld von Gewalttaten,

Das 14. Strafrechtsänderungsgesetz, NJW 1976, S. 1177 f. (1178); vgl. BT-Dr 7/3030, S. 8.

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hung liegt zunächst vor, wenn die Erfordernisse des Art. 103 Abs. 2 GG und dazu auch die Gebote der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit beachtet werden. Die Strafe als stärkster Eingriff in die Persönlichkeitssphäre des Individuums hat aber Sinn und Zweck, wenn sie für den Fall angedroht wird, daß das zu schützende Rechtsgut verletzt oder zumindest tatsächlich gefährdet wird. Von diesem Aspekt aus erscheinen diejenigen Strafvorschriften strafrechtsdogmatisch fraglich, welche die Strafbarkeit auf Verhaltensweisen ausdehnen, die im Vorfeld von Straftaten liegen und keine unmittelbare Gefährdung von Rechtsgütern bewirken~l.

§ 88 a StGB wird von diesen Bedenken besonders betroffen. Der Begriff der "Befürwortung" wird zum ersten Mal im Strafgesetzbuch verwendet. Als Tatbestandsmerkmal ist er aber sehr umstritten. Es steht nicht fest, was unter "Befürwortung" zu verstehen ist und wann sie vorliegt. Wenn man nun zum einen die allgemeine und nicht präzise Bestimmung des durch § 88 a StGB zu schützenden Rechtsgutes ("Verhinderung eines Klimas der Gewalt", "Schutz der Öffentlichkeit vor Beunruhigung") und zum anderen die Rechtsgüter, auf denen das zu bestrafende Verhalten beruht (Meinungs-, Kunst-, Versammlungsund Demonstrationsfreiheit) berücksichtigt, ist es besonders fraglich~ inwieweit die Gebote der Erforderlichkeit, der Verhältnismäßigkeit und der Geeignetheit bei der Normierung des § 88 a StGB beachtet wurden oder inwieweit in der Praxis übermäßige Eingriffe auf die erwähnten Grundrechte vermieden werden könnenil2•

Meinungsfreiheit in einem freiheitlichen Rechtsstaat, steht in den Protokollen des Sonderausschusses für Strafrechtsreform des Deutschen Bundestages, bedeute, daß auch etwas falsches ja etwas gefährliches oder etwas allgemein schädliches gesagt oder geschrieben werden könne, solange es nicht unmittelbar auf konkrete Straftat ausgerichtet sei63 • Die Beschränkung der "Befürwortung" auf verfassungsfeindliche Straftaten im § 126 StGB ändert nichts an der Problematik der Vorschrift; die Hinzufügung der Sozialadäquanzklausel im § 86 Abs. 3 StGB macht sie darüber hinaus noch fraglicher, nachdem oftmals zwei61

Rudotphi, Die Gesetzgebung zur Bekämpfung des Terrorismus, JA 1979,

62

Ebert, Tendenzwende in der Straf- und Strafprozeßordnung, JR 1978,

S.2.

S. 136 ff. (137).

63 Protokolle des Sonderausschusses für Strafrechtsreform des Deutschen Bundestages, 7. Wahlperiode, (Prot.) S. 2295.

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felhaft ist, ob ein Werk ein Kunst- oder Wissenschaftsprodukt darstellt oder eine strafbare "Befürwortung" von Gewalt. "Was der Verhinderung eines Klimas der Gewalt dienen soll, führt dann im Ergebnis zu einem Klima geistiger Unfreiheit und Selbstzensur. Wird die Vorschrift restriktiv gehandhabt, insbesonders der Regelungsvorbehalt der Sozialadäquanzklausel voll ausgeschöpft, so bleibt das ganze weitgehend Papier. Die Vorschrift ist somit entweder unverhältnismäßig oder auch ungeeignet oder beides. Gegen ihre Geeignetheit spricht auch, daß es kaum jemals möglich sein wird, dem Täter den Vorsatz der Gewaltbefürwortung nachzuweisen64 ." Aber auch rechtspolitisch ist die Vorschrift nicht weniger problematisch, nachdem ihre Begründung auf Merkmalen beruht, für die noch keine Erkenntnisse vorhanden sind, wie beispielsweise die generalpräventive Wirkung des Tatbestandes des § 88 a StGB65. Was nun das Klima der Gewalt betrifft, so wird dies nicht von zweifelhaften verbalen Ausdrücken geschaffen, sondern von der Gewaltanwendung selbst, von der unsere Zeit geplagt wird und gegen welche ein sehr umfangreiches Geflecht ausreichenden Rechtsschutzes existiert. Wenn nun also das konkrete Verhalten kaum einen Platz in einer von diesen vielen Vorschriften der §§ 26, 30, 111, 130 a, 140 StGB finden kann, erscheint die Bestrafung wegen "Befürwortung" zumindest bedenklich. Die strafrechtliche Notwendigkeit des § 130 a StGB (Anleitung zu Straftaten) wird mancherorts bezweifel~. Es ist hier in Übereinstimmung mit der überwiegenden Mehrheit der Autoren67 zu sagen, daß, sollte die Tat eine mittelbare Beeinflussung eines anderen darstellen, sie weder als Anstiftung noch als Aufforderung zu würdigen ist. § 130 a ergänzt also hier eine sonst vorhandene Strafbarkeitslücke. Eine weitere Gruppe von demonstrationsbezogenen allgemeinen Delikten ist diejenige, die die Tatbestände der §§ 113 (Widerstand gegen die Staatsgewalt) und 240 StGB (Nötigung) umfaßt. Diese Delikte sind keine typischen Demonstrationsdelikte, doch kommen sie sehr häufig Ebert, S. 137. Ebert, S. 138. 68 Rudolphi (I), S. 2. 67 Lackner, Anm. 5 zu § 130 a; Preisendanz, Anm. 5 zu § 130 a; Lenckner, in Schönke I Schröder, Anm. 1 zu § 130 a; RogaH, Die verschiedenen Formen des Veranlassens fremder Straftaten, GA 1979, S. 11 f. (19, 21); a. M. Rudolphi (I), S. 1 ff. und Rudolphi, in System. Kommentar, Anm. 15 zu § 130 a; MüHerDietz, Vom Wort der Gewalt und der Gewalt des Wortes, Marginalien zu 84

65

Theorie und Praxis heutiger Strafgesetzgebung, Festschrüt für Thomas Würtenberger, Berlin 1977, S. 167 f. (177).

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im Rahmen einer zum Teil oder im ganzen unfriedlich verlaufenden Demonstration vor. Ihre Besonderheit besteht in ihrer "Offenheit" von innen her, d. h. sie sind ihren tatbestandlichen Voraussetzungen zufolge auch für demonstrationsbezogene Bewertungen geeignet. § 240 StGB ist freilich auch in einem anderen Sinn "offen", insofern nämlich, als er die Strafbarkeit nicht von objektiv gesetzten Merkmalen und Voraussetzungen, sondern von der ad hoc richterlichen Beurteilung des Täterverhaltens abhängig macht. Somit erweitert § 240 StGB durch die sog. "Verwerflichkeitklausel" den Beurteilungsspielraum für gewisse Demonstrationshandlungen. A. Der Nötigungstatbestand § 240 StGB insbesondere

Von den allgemeinen Tatbeständen, die mit Bezug auf Demonstrationen in Frage kommen, zeigt sich der Nötigungstatbestand des § 240 StGB als äußerst problematisch, dessen zu schützendes Rechtsgut die Freiheit der Willensbetätigung ist. Nach diesem Paragraphen wird wegen Nötigung bestraft, "wer einen anderen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen 'Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt". Damit ist aber die Rechtswidrigkeit nicht gegeben. Sie ergibt sich erst aus der Beziehung des Nötigungsmittels zum Nötigungszweck. Das besagt Abs. 2 des § 240 StGB, in dem er eine Tat als rechtswidrig bezeichnet, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des übels zu dem angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist. Die Rechtswidrigkeit also wird von der Verwerflichkeit der Tat bestimmt und diese ihrerseits vom Verhältnis des angewandten Mittels zum angestrebten Zweck. Zur Begründung des Verwerflichkeitsurteils darf der Richter nicht nach seinen persönlichen individualistischen Anschauungen entscheiden, über das was er selber als verwerflich betrachtet, sondern er muß seine Bewertungskriterien dem Feld der sozialethisch.en Normen entnehmen. Die Herausarbeitung von der Rechtsprechung und der Literatuz