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German Pages 240 Year 2006
IRIS OBER
Zur Frage der Zulässigkeit einer Beschränkung von Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1028
Zur Frage der Zulässigkeit einer Beschränkung von Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Zugleich ein Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel
Von
Iris Ober
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Universität Bielefeld hat diese Arbeit im Jahre 2004 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-12020-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ Internet: h t t p : / / w w w . d u n c k e r - h u m b l o t . d e
Meinen Eltern
Vorwort Die Untersuchung lag der juristischen Fakultät der Universität Bielefeld im Wintersemester 2003/2004 als Dissertation vor. Mein Dank gebührt all denen, die diese Arbeit ermöglicht und gefördert haben. Frau Prof. Dr. Gertrude Lübbe-Wolff verdanke ich meine damalige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Sachverständigenrat fur Umweltfragen, in deren Rahmen die Idee zu dieser Arbeit entstand. Während meiner Tätigkeit an ihrem Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld bekam ich die Möglichkeit, die Arbeit in einer angenehmen Arbeitsatmosphäre zu schreiben. Für die Erstellung des Zweitvotums danke ich Herrn Prof. Dr. Andreas Fisahn. Besonders hervorheben möchte ich Christoph S. Schewe, der die Arbeit stets mit großem Interesse mit mir diskutierte und mir mit engagierten und manchmal auch kritschen Ratschlägen zur Seite stand. Er war es, der mir in schwierigen Situationen sowohl in fachlicher als auch in persönlicher Hinsicht die notwendige Sicherheit gegeben hat. Bei der Korrektur der Arbeit durfte ich dankenswerter Weise auf die sorgfaltig ausgeführte Mitarbeit von Frau Petra Frank und Frau Cornelia Mielitz zurückgreifen. Mein besonderer Dank gilt meinen Eltern Uta und Günter Ober, deren Erziehung und Wertevermittlung u.a. die Grundlagen der vorliegenden Arbeit bilden. Sie waren eine manchmal treibende und immer liebevolle Kraft, die mir den Rücken stärkte. Ebenso danke ich meiner Schwester Silja Ober für ihre Unterstützung. Bielefeld, Oktober 2005
Iris
Ober
Inhaltsverzeichnis Einleitung
19
Erster
Teil
Grundlagen
Erstes Kapitel Biologische Grundlagen, Nutzen und Risiken der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung A. Biologische Grundlagen der Gentechnik I. Grundstruktur der Erbinformation II. Der Vorgang einer gentechnischen Veränderung des Erbmaterials
27 27 28 29
1. Isolation
30
2. Neukombination
30
3. Transformation und Selektion
31
B. Gentechnische Veränderungen und deren Nutzen und Risiken I. Einsatzgebiete der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelsektor
32 32
1. Anwendung der Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung
32
a) Anwendung der Gentechnik zur Gewinnung von Enzymen und Zusatzstoffen
33
b) Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen als Starterund Schutzkulturen
36
2. Anwendung der Gentechnik bei Pflanzen a) Herbizidresistente Pflanzen
37 38
b) Insektenresistente Pflanzen
40
c) Virusresistente Pflanzen
43
d) Weitere neue Eigenschaften transgener Pflanzen
44
3. Anwendung der Gentechnik bei Tieren
45
10
nsverzeichnis II. Risiken der Anwendung der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelsektor 1. Ökologische Risiken
46 46
a) Risikovergleich zur Normalisierung der Risiken der Gentechnik
47
b) Horizontaler Gentransfer
48
c) Auskreuzung (vertikaler Gentransfer) und Verwilderung transgener Pflanzen
50
d) Evolutionäre Risiken
52
2. Gesundheitliche Risiken der Anwendung der Gentechnik i m Agrarund Lebensmittelsektor
53
a) Die Grundlagen einer Eigenschaftsveränderung einer gentechnisch veränderten Pflanze oder eines gentechnisch veränderten Lebensmittels
53
b) Entstehung von toxischen und allergenen Inhaltsstoffen
55
c) Gesundheitsrisiken durch Antibiotikaresistenzgene
57
3. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Risiken III. Schlussfolgerungen
58 59
Zweites Kapitel Rechtsgrundlagen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel A. Entwicklung der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel I. Freisetzungsrichtlinie II. Novel Food-Verordnung III. Ergänzende Verordnungen zur Novel Food-Verordnung
60
61 61 62 65
1. Pflicht zur Kennzeichnung aus gentechnisch veränderter Soja oder gentechnisch verändertem Mais hergestellter Lebensmittel und Lebensmittelzutaten
66
2. Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Zusatzstoffe und Aromen
68
IV. Negativ-Kennzeichnung
69
B. Die neuen Verordnungen zur Regelung gentechnisch veränderter Lebensmittel
74
I. Die Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel ..
75
II. Die Verordnung über RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung C. Das deutsche Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts
80 81
nsverzeichnis Zweiter
Teil
Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel? Drittes Kapitel
Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel im Hinblick auf grundrechtliche Schutzpflichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers 83 A. Grundrechtliche Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht I. Notwendigkeit gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten II. Die Existenz gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten 1. Grundrechte im Gemeinschaftsrecht
84 84 86 87
a) Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte
87
b) Die Europäische Charta der Grundrechte
88
2. Schutzpflichten als Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte a) Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten aa) Herleitung im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 E U V
89 89 89
(1) Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten
90
(2) Europäische Menschenrechtskonvention
91
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs
93
cc) Die Europäische Charta der Grundrechte
96
dd) Zusammenfassung b) Inhalt und Reichweite der Schutzpflichten
97 98
aa) Inhalt gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten
98
bb) Reichweite gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten
99
( 1 ) Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten
99
(2) Gestaltungsspielraum der Gemeinschaftsorgane
101
(3) Zusammenfassung
102
B. Erfordernis einer „umfassenden 14 Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel im Hinblick auf grundrechtliche Schutzpflichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers? 103 I. Kompetenzakzessorietät gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten 103
12
nsverzeichnis Π. Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers Grundrechts auf Informationsfreiheit
zum
Schutz
eines 105
1. Bestehen eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Informationsfreiheit 105 2. Schutzpflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel? 107 III. Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers Grundrechts auf Selbstbestimmung
zum
Schutz
IV. Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit
eines 111 eines 112
V. Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit 114 VI. Ergebnis
115 Viertes Kapitel
Das Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtliche Vorsorgeprinzip 116 A. Das gemeinschaftsrechtliche Vorsorgeprinzip I. Bedeutung des Vorsorgeprinzips II. Die Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzips
116 117 119
B. Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel 120 D r i t t e r Tei 1 Die Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aus Gründen des Verbraucherschutzes Fünftes Kapitel Das tatsächliche Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel 122 A. Für ein Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel sprechende Umfrageergebnisse .... 123 B. Ablehnung der Anwendung der Gentechnik in Lebensmittelherstellung und Landwirtschaft als der Forderung nach „umfassender" Kennzeichnung zugrunde liegende Haltung 126
nsverzeichnis Sechstes Kapitel
Die rechtspolitische Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel als Konsequenz einer Wahlfreiheit der Verbraucher 129 A. Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher
130
I. Bedeutung der Wahlfreiheit als Ziel des Verbraucherschutzes
130
1. Wahlfreiheit als Ziel des Verbraucherschutzes
131
2. Verbraucherschutz
131
II. Die Wahlfreiheit der Verbraucher und ihre Bedeutung in verschiedener Hinsicht 133 1. Wahlfreiheit der Verbraucher als Wirtschaftsteilnehmer
133
2. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigenvorsorge
135
3. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Selbstbestimmung
136
a) Bedeutung der Selbstbestimmung für den Menschen
136
b) Recht auf Selbstbestimmung
138
c) Erforderlichkeit der Selbstbestimmung beim Lebensmittelkauf .. 138 B. Lebensmittelkennzeichnung als Instrument Wahlfreiheit der Verbraucher
zur Gewährleistung
einer 139
I. Lebensmittelkennzeichnung im Gemeinschaftsrecht
139
II. Lebensmittelkennzeichnung als Instrument der Verbraucherinformation
141
1. Lebensmittelkennzeichnung auf einem industrialisierten Lebensmittelmarkt 141 2. Lebensmittelkennzeichnung als unmittelbar verfügbare tion III. Reichweite einer Lebensmittelkennzeichnung
Informa142 142
C. Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel 144 I. Notwendigkeit einer Wahlfreiheit der Verbraucher hinsichtlich gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel .... 144 1. Wahlfreiheit der Verbraucher als Wirtschaftsteilnehmer
145
2. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigen Vorsorge
146
3. Wahlfreiheit zur Selbstbestimmung der Verbraucher
148
4. Zusammenfassung
150
nsverzeichnis
14
II. Gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel als Produkte eines industrialisierten Lebensmittelmarktes 151 D. Das einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel zugrunde zu legende Kennzeichnungskonzept 152
Vierter
Teil
Eigener Vorschlag Siebtes Kapitel
Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel
154
A. Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel 154 I. Grundsätze einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel 155 II. Realisierbarkeit und Vollziehbarkeit einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht 157 1. Praktikabilität und Kontrollierbarkeit
einer Kennzeichnung von
Spuren gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln
158
a) Praktikabilität
158
b) Kontrollierbarkeit
159
2. Praktikabilität und Kontrollierbarkeit einer Kennzeichnung „ m i t " gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel .. 161 a) Praktikabilität
161
b) Kontrollierbarkeit
163
B. Ergebnis
164 Achtes Kapitel
Mögliche rechtliche Hindernisse einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel
164
A. Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit Grundrechten 164 I. Hingriff in die Berufsfreiheit
164
nsverzeichnis Π. Rechtfertigung des Eingriffs
166
1. Vorliegen eines dem Gemeinwohl dienenden Zweckes und Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit 167 a) Zweck des Gemeinwohls
167
b) Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
168
aa) Geeignetheit
169
bb) Erforderlichkeit
169
cc) Angemessenheit 2. Grundrechte Dritter
170 173
B. Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit internationalem Recht 174 I. Spezielle völkerrechtliche Kennzeichnungsvorschriften für gentechnisch veränderte Lebensmittel
174
1. Das Cartagena Protokoll
175
2. Der Codex Alimentarius
176
II. Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit Welthandelsrecht 178 1. Spezielle völkerrechtliche Handelsübereinkommen a) Anwendbarkeit
178 178
b) Übereinkommen über technische Handelshemmnisse
180
aa) Anwendbarkeit
180
bb) Nichtdiskriminierungsgebot
183
2. GATT
185
a) Anwendbarkeit
185
b) Nichtdiskriminierungsgebot
186
Neuntes Kapitel
Notwendige Regelungen zur Ergänzung des Vorschlags einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel
193
A. Im Zusammenhang mit der gentechnischen Verunreinigung von Produkten entstehende Kosten und finanzielle Verluste 194 B. Regelung zur Gewährleistung einer Koexistenz verschiedener Landwirtschaftsformen 198 I. Regelung auf der Ebene des gemeinschaftlichen oder nationalen Rechts 198 II. Grundzüge einer gemeinschaftlichen Regelung der Koexistenz
200
nsverzeichnis
16
C. Vorschlag für eine Haftungsregelung in Anbetracht der Wertverluste gentechnisch verunreinigter Produkte 202 I. Bestehende Haftungsregelungen 1. Ebene des nationalen Rechts
202 202
a) Haftungsregelungen auf nationaler Ebene
202
aa) Ansprüche nach deutschem Recht
203
(1) Rechtslage vor der Novellierung des Gentechnikrechts 204 (2) Rechtslage nach der Novellierung des Gentechnikrechts 206 (3) Bewertung der Regelung des § 36 a GenTG bb) Ansprüche nach französischem Recht cc) Ansprüche nach englischem Recht b) Staatshaftung
208 209 210 210
2. Ebene des Gemeinschaftsrechts
211
3. Zwischenergebnis
211
II. Vorschlag für eine Haftungsregelung in ihren Grundzügen
212
1. Regelung auf der Ebene des gemeinschaftlichen oder nationalen Rechts 212 a) Kompetenz der Gemeinschaft
213
b) Wahrung der Subsidiarität
214
c) Erforderlichkeit gemäß Art. 5 Abs. 3 EGV
216
d) Zwischenergebnis
216
2. Gemeinschaftliche Regelung der Grundzüge einer Haftung a) Verschuldensunabhängige Haftung b) Haftungsschuldner aa) Haftung des unmittelbaren Schädigers
216 217 218 218
bb) Zusammenschluss der Haftungsschuldner in einem Haftungsfonds 220 cc) Unternehmenshaftung III. Zusammenfassung: Haftungsregelung in ihren Grundzügen
222 223
D. Vorschlag für eine Regelung des Kostenträgers der erforderlichen Überprüfung von Produkten auf gentechnische Verunreinigungen hin 223
Schlussbetrachtung
225
Literaturverzeichnis
228
Sachwortregister
238
Abkürzungsverzeichnis ABl. Abs. a.F. Art. Bd. Bearb. BGB BGBl. BgVV BR-Drs. bspw. B.t. BT-Drs. CAK d.h. DNA DSU EG EGMR EGV EMRK endg. etc. EU EuGH EUV EWG f. ff. GATT GenTG GG ggf. GM GVO Hrsg.
Amtsblatt Absatz alte Fassung Artikel Band Bearbeiter Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärwesen Bundesrat Drucksachen beispielsweise Bacillus thuringensis Bundestag Drucksachen Codex Alimentarius Kommission das heißt Desoxyribonucleinsäure Dispute Settlement Understanding Europäische Gemeinschaft Europäischer Gerichtshof fur Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Euroäische Menschenrechtskonvention endgültig et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union Europäische Wirtschaftsgemeinschaft folgende fortfolgende General Agreement on Trade and Tariffs Gentechnikgesetz Grundgesetz gegebenenfalls genetic modified gentechnisch veränderter Organismus Herausgeber
18
ISAAA i. S. v. JRC LMBG m.w.N. η.F. NFV NLV Nr. ΡΑΒΕ PCR Rdnr. RNA Rs. S. Slg. sog. TA UBA vgl. VO WHO WTO WVK z. B.
Abkürzungsverzeichnis
International Services for the Acquisition of Agri-biotech Applications im Sinne von Joint Research Centre Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz mit weiteren Nachweisen neue Fassung Novel Food-Verordnung Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung Nummer Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe Polymerasen-Kettenreaktion Randnummer Ribonucleinsäure Rechtssache Seite Sammlung so genannte Technikfolgenabschätzung Umweltbundesamt vergleiche Verordnung Weltgesundheitsorganisation Welthandelsorganisation Wiener Übereinkommen (Konvention) über das Recht der Verträge zum Beispiel
Einleitung Zu Beginn meiner Beschäftigung mit dem Thema der Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel las ich den Satz: „ Wer erstmals mit dem Gentechnikrecht in Berührung kommt, mag je nach Temperament darüber staunen oder verzweifeln, wie viele grundlegende Rechtsfragen hier noch offen sind" 1. Eine dieser ungeklärten grundlegenden Rechtsfragen
ist die Frage, inwieweit eine Beschränkung der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel überhaupt zulässig sein kann, das heißt, ob es - insbesondere aus Gründen des Verbraucherschutzes - einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel bedarf. Die dieser Arbeit zugrunde liegende Einschätzung einer besonderen Bedeutung der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel beruht auf den folgenden Überlegungen. Die Anwendung der Gentechnik allgemein und speziell die Anwendung der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelsektor birgt, wie die der meisten Technologien, neben den davon erwarteten Vorteilen auch Nachteile und Risiken. Als Risiken der Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft und in der Lebensmittelwirtschaft werden unter anderem irreversible Eingriffe in die Natur, zum Beispiel Auskreuzungen gentechnisch veränderter Organismen und eine Steigerung des Verwilderungspotentials gentechnisch veränderter Pflanzen, sonstige Eingriffe in das evolutionäre Geschehen und Risiken für die Gesundheit der Verbraucher beim Verzehr gentechnisch veränderter Lebensmittel befurchtet. 2 Darüber hinaus sind mit der Anwendung der Gentechnik zur landwirtschaftlichen und industriellen Lebensmittelherstellung auch gesellschafts- und wirtschaftspolitische Risiken verbunden. Es wird beispielsweise befurchtet, dass die Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft neue Abhängigkeiten der Landwirte - insbesondere der Landwirte in Entwicklungsländern - schafft. Diskutiert werden unter anderem Abhängigkeiten der Landwirte von monopolisierten Saatgutfirmen bzw. von patentiertem Saatgut. Außerdem besteht das gesellschafts- und wirtschaftspolitisch zu diskutierende Risiko einer Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft, dass konven1 Friedrich, Die Markteinführung gentechnisch veränderter Lebensmittel durch Pollenflug, NVwZ 2001, S. 1129 f. 2 Näher dazu unten A. Biologische Grundlagen, Nutzen und Risiken der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung.
20
Einleitung
tionell und ökologisch wirtschaftenden Landwirten infolge eines weiträumigen Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen eine „gentechnikfreie" Produktion unmöglich gemacht wird. Ökologisch wirtschaftenden Landwirten könnte damit sogar die Existenzgrundlage entzogen werden. Im Hinblick auf all diese Risiken lehnt ein Großteil der Verbraucher Europas die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittel- und Landwirtschaft ab.3 Die Verbraucher befurchten insbesondere, dass mit der Anwendung der Gentechnik ein nicht rückholbarer Eingriff in die Natur vorgenommen wird, dessen Folgen in ihrer Reichweite und Schwere zudem nicht vorhersehbar sind. Außerdem lehnen sie gentechnisch hergestellte Lebensmittel vielfach wegen ethischer Bedenken ab. Trotz dieser Risiken, die mit der Anwendung der Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung verbunden werden, und trotz der von der Mehrheit der Verbraucher geteilten Ablehnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel kann daraus nicht die Notwendigkeit eines Verbots der Anwendung der Gentechnik in Lebensmittel- und Landwirtschaft hergeleitet werden. Ein solches Verbot widerspräche dem Grundziel einer jeden modernen Gesellschaft, sich durch Fortschritt weiterzuentwickeln und die eigenen Lebensbedingungen zu verbessern. Die Einführung und das Ausprobieren einer neuen Technologie sollten aber von besonderen Sicherheitsvorkehrungen begleitet sein. Außerdem sollte der Einzelne als Konsequenz der Zulassung einerrisikobehafteten Technologie so weit wie möglich die Gelegenheit erhalten, sich selbst vor z. B. gesundheitlichen Risiken der Technologie zu schützen und - im Hinblick auf anderweitige, z. B. gesellschaftspolitische Risiken - den eigenen Umgang und Kontakt mit der Technologie möglichst frei für sich selbst zu bestimmen. Im Falle gentechnisch veränderter Lebensmittel oder gentechnisch veränderter Pflanzen liegen mögliche Sicherheitsvorkehrungen darin, dass das gentechnisch veränderte Lebensmittel oder die gentechnisch veränderte Pflanze einer sehr strengen Risikoprüfung unterzogen werden. Dabei wird überprüft, ob von dem transgenen Lebensmittel oder der transgenen Pflanze Risiken für die Umwelt, die Gesundheit der Menschen etc. ausgehen. Zu den Sicherheitsvorkehrungen gehört im weitesten Sinne auch, dass der Verbraucher die Möglichkeit erhält, in Bezug auf gentechnisch veränderte Lebensmittel Eigenvorsorge zu betreiben und sich selbst zu bestimmen. Der Verbraucher sollte die Möglichkeit besitzen, sich selbst vor den Risiken zu schützen und
3 Näher dazu unten im dritten Teil der Arbeit, 5. Kap.: Das tatsächliche Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel und die Notwendigkeit einer solchen Kennzeichnungspflicht aus Gründen des Verbraucherschutzes.
Einleitung
den eigenen Umgang und Kontakt mit gentechnisch veränderten und gentechnisch hergestellten Lebensmitteln frei und selbst zu bestimmen. Eine wesentliche Voraussetzung fur eine solche Möglichkeit der Verbraucher zum Selbstschutz und zur Selbstbestimmung ist die Wahlfreiheit der Verbraucher, deren Herleitung und Bedeutungsinterpretation einen Schwerpunkt der Arbeit bilden. Eine Wahlfreiheit der Verbraucher wiederum lässt sich am besten über eine Produktkennzeichnung als Mittel der Verbraucherinformation gewährleisten. Im Ergebnis ist also die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel, die dem Verbraucher Wahlfreiheit gewährleistet und ihn somit zu einem selbstbestimmten Umgang mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln als Produkt einerrisikobehafteten Technologie befähigt, von besonderer Bedeutung. Die Kennzeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Lebensmittel ist mit der Verordnung
über genetisch 4 veränderte
Lebens- und Futtermittel,
5
die
am 7. November 2003 in Kraft getreten ist, neu geregelt worden. Die in der Verordnung enthaltene Kennzeichnungsregelung für gentechnisch veränderte Lebensmittel ist nicht umfassend ausgestaltet, sondern beinhaltet zwei wesentliche Ausnahmen der Kennzeichnungspflicht, sog. „Kennzeichnungslücken". Bevor die Kennzeichnungslücken hier kurz im einzelnen dargestellt werden, soll die in dieser Arbeit vorgenommene begriffliche Unterscheidung zwischen gentechnisch veränderten und gentechnisch hergestellten Lebensmitteln erklärt werden. Der Unterscheidung liegt zugrunde, dass die Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung auf verschiedene Art und Weise
eingesetzt werden kann.6 Die Anwendung gentechnischer Verfahren in der Lebensmittelproduktion kann dazu fuhren, dass auch das Endprodukt noch Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält (z. B. Primärprodukte wie Mais oder Tomaten einer gentechnisch veränderten Pflanze) oder daraus besteht (z. B. aus gentechnisch veränderten Tomaten hergestellter Tomatenketchup). Daneben gibt es Einsatzmöglichkeiten der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung, bei denen das Lebensmittel „aus" gentechnisch verän4
Die Bezeichnungen „genetisch verändert" und „gentechnisch verändert" unterscheiden sich grundsätzlich nicht. Mit der ersten Begrifflichkeit wird nur stärker auf den Zustand des Organismus und mit der zweiten Begrifflichkeit auf die Methode, mit der die Veränderung des Organismus durchgeführt wurde, abgestellt. 5 Verordnung Nr. 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268 vom 18.10.2003, S. 1. 6 Zu den verschiedenen möglichen Anwendungsformen der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung siehe 1. Kapitel: Biologische Grundlagen, Nutzen und Risiken der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung.
22
Einleitung
derten Organismen hergestellt wurde und als Endprodukt keine nachweisbaren Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthält (z. B. raffinierter Zucker, der aus gentechnisch veränderten Zuckerrüben hergestellt wurde) oder „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt wurde und damit nie Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten hat (z. B. Lebensmittel, die unter Einsatz von Enzymen, die von gentechnisch veränderten Mikroorganismen produziert wurden, hergestellt wurden). Im gemeinschaftlichen Gentechnikrecht wird dementsprechend danach unterschieden, ob Lebensmittel gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen oder ob sie „aus" oder „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt sind.7 Der geläufige Begriff des „gentechnisch veränderten Lebensmittels" erfasst entsprechend der gentechnikrechtlichen Definition in Art. 2 Nr. 5, 9 der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel lediglich Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen, und „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel; „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel, die unter Einsatz gentechnisch veränderter Organismen hergestellt wurden, ohne aber selbst solche zu enthalten, werden nicht erfasst. In dieser Arbeit sollen aber alle Formen der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung im Hinblick auf eine Notwendigkeit der Kennzeichnung diskutiert werden. Im Folgenden wird deshalb, soweit es auf diese Unterscheidung ankommt, zwischen gentechnisch veränderten und gentechnisch hergestellten Lebensmitteln unterschieden. Eine der Kennzeichnungslücken der Verordnung über genetisch veränderte betrifft Lebensmittel, die „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt sind. „Mit" einem gentechnisch veränderten Organismus hergestellte Lebensmittel zeichnen sich dadurch aus, dass gentechnisch veränderte Organismen nur zur Herstellung von Hilfsstoffen eingesetzt, dem Lebensmittel selbst aber nicht zugesetzt werden. In einem mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Endprodukt sind somit keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen und kein aus einem gentechnisch veränderten Organismus gewonnener Stoff enthalten. Hierzu gehören z. B. Lebensmittel, die mit Hilfe mit gentechnischen Veifahren gewonnener Enzyme hergestellt wurden, oder Produkte, die aus Tieren gewonnen worden sind, welche mit gentechnisch veränderten Futtermitteln gefuttert wurden. Lebensmittel, die „mit" einem gentechnisch veränderten Organismus gewonnen werden, unterliegen schon nicht dem Anwendungsbereich der Verordnung und sind damit auch nicht kennzeichnungspflichtig. Lebens- und Futtermittel
7 Näher dazu unten im ersten Teil der Arbeit, 2. Kapitel: Rechtsgrundlagen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel.
Einleitung
Die zweite Kennzeichnungslücke der Verordnung betrifft die Regelung von Schwellenwerten. Danach müssen Produkte, die oder deren Zutaten Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, die unterhalb eines in der Verordnung auf 0,9% festgelegten Schwellenwertes liegen und die zufallig oder technisch unvermeidbar sind, nicht als gentechnisch verändert gekennzeichnet werden. Schwellenwertregelungen sind die juristische Antwort auf das Problem, dass bei einer breiten Anwendung der Gentechnik in Bereichen, die die Herstellung und Bearbeitung von Lebensmitteln betreffen, Verunreinigungen von Lebensmitteln mit Spuren gentechnisch veränderter Organismen auftreten können. Solche nicht vermeidbaren und zufälligen gentechnischen Verunreinigungen von Produkten sollen nicht kennzeichnungspflichtig sein. In der vorliegenden Arbeit werden diese Kennzeichnungslücken der Verüber genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel insbesondere im Hinblick auf die damit beeinträchtigte Wahlfreiheit der Verbraucher rechtlich und rechtspolitisch bewertet. Denn infolge der Kennzeichnungslücken konsumieren die Verbraucher entgegen ihrem ausdrücklichen Wunsch unbewusst gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel. Dies scheint mit einer Wahlfreiheit der Verbraucher nicht vereinbar zu sein. ordnung
Als Alternative zur Kennzeichnungsregelung der Verordnung über geneLebens- und Futtermittel wird in der vorliegenden Arbeit ein Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel vorgestellt.8 Dabei ist allerdings zu beachten, dass es eine umfassende Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel im Sinne der eigentlichen Bedeutung des Wortes „umfassend" nicht geben kann. Denn Anteile gentechnisch veränderter Organismen sind in Lebensmitteln nur begrenzt nachweisbar.9 Gentechnische Verunreinigungen von Lebensmitteln, die unterhalb der Nachweisbarkeitsgrenze liegen, können nicht gekennzeichnet werden. Dass eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel wegen dieser Nachweisbarkeitsgrenze nie umfassend sein kann, wird im Folgenden dadurch deutlich gemacht, dass das Wort „umfassend" in Anführungsstriche gesetzt wird. tisch veränderte
In dieser Arbeit werden außerdem Folgeregelungen vorgeschlagen, die zusammen mit der Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel zu erlassen sind.10 Diese Regelungen
8
Siehe dazu im vierten Teil der Arbeit, 7. Kapitel: Vorschlag für eine „umfassende" Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel. 9 Näher zu den Nachweisbarkeitsgrenzen, die sich zwischen 0,001% und 0,1% bewegen, Joint Research Centre, Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 78 f., 86 ff.
24
Einleitung
sind insbesondere erforderlich, um Nachteile aufzufangen, die denjenigen entstehen, deren Produkte zufallig oder technisch unvermeidbar gentechnisch verunreinigt sind und deshalb gekennzeichnet werden müssen. Eine besonders wichtige Regelung ist in diesem Zusammenhang die Regelung einer Koexistenz von konventioneller und ökologischer Landwirtschaft auf der einen und einer gentechnisch veränderte Pflanzen anbauenden Landwirtschaft auf der anderen Seite.11 Das Ziel einer Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen ist, Produkte der konventionellen und ökologischen Landwirtschaft vor gentechnischen Verunreinigungen zu schützen, die zum Beispiel beim Anbau, Transport oder der Verarbeitung erfolgen können. Die Bedeutung einer Regelung der Koexistenz folgt unter anderem daraus, dass die in dieser Arbeit kritisch betrachteten Schwellenwertregelungen das Folgeproblem einer nicht gewährleisteten Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen sind. Eine weitere Regelung, der es als Ergänzung einer Kennzeichnungsregelung unbedingt bedarf, ist die Regelung von Schadensersatzansprüchen deijenigen, die keine gentechnischen Verfahren anwenden, deren Produkte aber trotzdem über sogenannte Kontaminationspfade gentechnisch verunreinigt und damit kennzeichnungspflichtig sind. Im Hinblick auf die besondere Bedeutung der Regelung einer Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen und der Regelung von Schadensersatzansprüchen geschädigter Landwirte ist es sehr bedauerlich, dass die Europäische Kommission zur Regelung einer Koexistenz lediglich eine unverbindliche Empfehlung erlassen hat und die Regelung einer Haftung gänzlich den Mitgliedstaaten überlassen will. Denn damit ist die Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel verabschiedet und die Möglichkeit zum Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen grundsätzlich wieder eröffnet worden, ohne dass erforderliche Maßnahmen zur Gewährleistung einer Koexistenz und ohne dass ein Haftungssystem verbindlich geregelt sind. In der Arbeit wird nicht näher auf die Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderten Saatguts eingegangen, obwohl auch diese auf gemeinschaftlicher Ebene seit langem diskutiert wird 12 und außerdem die Regelung des Umgangs mit gentechnisch verändertem Saatgut im Hinblick auf das Risiko10 Siehe dazu i m vierten Teil der Arbeit, 9. Kapitel: Notwendige Regelungen zur Ergänzung des Vorschlags einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel. 11 Näher dazu BUND (Hrsg.), Bleibt in Deutschland bei zunehmendem Einsatz der Gentechnik in der Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion die Wahlfreiheit auf GVO-unbelastete Nahrung erhalten?, 2002; UBA (Hrsg.), Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, 2002; Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, 2002. 12 Entwurf einer Richtlinie der Kommission zur Änderung der Saatgutrichtlinien, im Internet unter: www.keine-gentechnik.de.
Einleitung
potential gentechnisch veränderten Saatguts ein sehr wichtiger Bereich ist. Es sollen hier aber wenigstens einige wenige Bemerkungen zum Erfordernis einer Kennzeichnung gentechnisch veränderten Saatguts gemacht werden. Im Rahmen der derzeit vorbereiteten Neuregelung des gemeinschaftlichen Saatgutrechts ist geplant, zur Berücksichtigung einer möglichen gentechnischen Verunreinigung von Saatgut Schwellenwertregelungen fìir gentechnisch verunreinigtes Saatgut in das bestehende Saatgutrecht aufzunehmen, so dass unterhalb des Schwellenwerts liegende gentechnische Verunreinigungen von Saatgut nicht kennzeichnungspflichtig sind. Bei der Festlegung der Höhe des Schwellenwertes will der Gesetzgeber berücksichtigen, dass Saatgut die Ursprungsquelle vieler Lebensmittel ist und gentechnische Verunreinigungen, die im Saatgut vorhanden sind, sich somit bis ins Lebensmittel fortsetzen und sich dabei sogar potenzieren können. Dementsprechend orientiert sich die Festlegung von Schwellenwerten für die Kennzeichnung gentechnisch verunreinigten Saatguts an der Vorgabe, dass in Lebensmitteln, die aus verunreinigtem Saatgut hergestellt werden, der Anteil gentechnisch veränderter Organismen den Grenzwert von 0,9% nicht überschreiten soll.13 Die Schwellenwerte, bei denen gentechnisch verunreinigtes Saatgut nicht zu kennzeichnen ist, unterscheiden sich außerdem in Abhängigkeit von den betroffenen Pflanzenarten bzw. ihrer Vermehrungsfähigkeit und bewegen sich zwischen 0,3% und 0,7%. Durch eine somit auch für gentechnisch verunreinigtes Saatgut zu erwartende Kennzeichnungslücke werden die Landwirte, die keine gentechnisch veränderten Pflanzen anbauen wollen, in ihrer Wahlfreiheit beschränkt werden. Und auch in anderer Hinsicht besitzen Schwellenwertregelungen bei Saatgut eine besondere Brisanz. Denn wenn es nicht gelingt, Saatgut von gentechnischen Verunreinigungen frei zu halten, haben Bemühungen zur Verhinderung gentechnischer Verunreinigungen von Lebensmitteln auf den weiteren Ebenen (von der Erntetechnik über Chargentrennung in der Verarbeitung) wenig Sinn.14 Zum Aufbau der Arbeit sind noch folgende kurze Hinweise zu geben: Im ersten Teil der Arbeit werden die biologischen Grundlagen einer Anwendung der Gentechnik im Lebensmittelbereich und die Rechtsgrundlagen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel dargestellt. Darauf folgt im zweiten Teil die Erörterung der Frage, ob eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Kennzeich13 6. Erwägungsgrund des Entwurfs einer Richtlinie der Kommission zur Änderung der Saatgutrichtlinien, SANCO/1542/2000 Rev. 4. 14 BUND, Bleibt in Deutschland bei zunehmendem Einsatz der Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmittelproduktion die Wahlfreiheit auf GVO-unbelastete Nahrung erhalten?, S. 66 f.
26
Einleitung
nungspflicht für gentechnisch veränderte Lebensmittel rechtlich unter Rückgriff auf grundrechtliche Schutzpflichten des Gemeinschaftsgesetzgebers oder unter Heranziehung des gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzips begründet werden kann. In dem dann folgenden dritten Teil wird eine aus rechtspolitischen Erwägungen folgende Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel diskutiert. Dabei wird insbesondere auf die Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher als ein wesentliches Erfordernis des Verbraucherschutzes Bezug genommen. Im vierten Teil der Arbeit wird ein Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel vorgestellt, der daraufhin überprüft wird, ob ihm rechtliche Hindernisse entgegen stehen. Außerdem werden Vorschläge für erforderliche ergänzende Regelungen einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel unterbreitet: ein Vorschlag für die Regelung einer Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen und ein Vorschlag für die Regelung einer Haftung in Fällen der gentechnischen Verunreinigung von Produkten.
Erster Teil
Grundlagen Im Folgenden werden zunächst die biologischen und rechtlichen Grundlagen einer gentechnischen Veränderung von Lebensmitteln dargestellt. Diese Grundlagen sind Voraussetzung dafür, um die Diskussion über Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel führen zu können.
Erstes
Kapitel
Biologische Grundlagen, Nutzen und Risiken der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung Die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung betrifft zum einen den Bereich der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Tieren, die zu Lebensmitteln verarbeitet werden, und zum anderen den Bereich des Einsatzes gentechnisch veränderter Mikroorganismen in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung. In diesem Abschnitt werden in einem ersten Teil die biologischen Grundlagen allgemein der Anwendung der Gentechnik und speziell ihrer Anwendung zur Lebensmittelherstellung dargestellt und in einem zweiten Teil Nutzen und Risiken der Anwendung der Gentechnik erörtert.
A. Biologische Grundlagen der Gentechnik Gegenstand der Gentechnik15 als Teilgebiet der Biotechnologie16 ist die gezielte Veränderung, d.h. Neukombination der genetischen Information eines
15 Meilensteine für die molekulare Genetik waren die Aufklärung der Struktur der Desoxyribonukleinsäure (DNA) durch Watson und Crick 1953, die Ermittlung des genetischen Codes 1966 und die Entdeckung der Restriktionsenzyme 1972. Sie schufen die Grundlagen für technische Anwendungen der Gentechnik, d.h. einer Neukombination der Erbinformation von Lebewesen. So Jany/Greiner , Gentechnik bei Lebensmitteln, Teil 1: Züchtung und Gentechnik, Beilage zur Ernährungsumschau 1999, S. B. 2.
28
1. Teil: Grundlagen
Lebewesens, die durch die Übertragung und den Einbau von fremdem Genmaterial in ein Lebewesen erfolgt. 17 Durch Methoden der Gentechnik können die Eigenschaften von Organismen schnell und gezielt verändert werden, und es werden insbesondere durch die Überschreitung der Artgrenzen Veränderungen möglich, die mit konventionellen Züchtungsmethoden nicht erreichbar sind.18
/. Grundstruktur
der Erbinformation
Das Arbeitsmaterial der Gentechnik ist die Grundstruktur der gespeicherten Erbinformation, die bei allen Lebewesen gleich ist. Die Erbinformation bzw. genetische Information aller Lebewesen wird von dem Fadenmolekül Desoxyribonucleinsäure (DNA) getragen.19 Die DNA ist in fast jeder Zelle der Lebewesen, dem kleinsten Baustein aller Organismen, enthalten und deren wichtigste Substanz.20 Die Form ihres Vorliegens ist von der Zellorganisation des jeweiligen Lebewesens abhängig.21 Von der Struktur her ist die DNA ein Fadenmolekül, dessen Bausteine Zuckermoleküle, Phosphorsäureester und die vier Basen Adenin (A), Guanin (G), Cytosin (C) und Thymin (T) sind.22 Die Basen sind über die Zucker-Phosphatkette zu zwei langen Molekülsträngen verknüpft, die parallel und einander gegenläufig angeordnet und über Wasserstoffbrückenbindungen verbunden sind. Dabei erhält jede Base des einen Stranges eine Base des anderen Stranges als Partner, und zwar so, dass jeweils
16
Biotechnologie ist die integrierte Anwendung des Wissens aus Biologie, Chemie, Verfahrenstechnik und neuerdings Informatik mit dem Ziel, Mikroorganismen, Pflanzen- oder Tierzellen sowie deren Bestandteile bei technischen Verfahren und industriellen Produktionsprozessen einzusetzen; Barnum, Biotechnology, S. 1; Rehm/Präve, Biotechnologie - Geschichte, Verfahren und Produkte, in: Präve/Faust/Sittig/Sukatsch, Handbuch der Biotechnologie, S. 1. 17
Bertram/Gassen/Marquardt, Gentechnik, in: Präve/Faust/Sittig/Sukatsch, Handbuch der Biotechnologie, S. 61. 18 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 268. 19 Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 11. 20 Watson/Tooze/Kurtz, Rekombinierte DNA, S. 1. 21 Man unterscheidet bei Lebewesen zwei Grundformen der Zellorganisation: Prokaryoten (Bakterien) und Eukaryoten (alle anderen Lebewesen, z. B. Hefen, Pantoffeltierchen, Pflanzen, Tiere und Menschen). Die Zellen eukaryotischer Organismen unterscheiden sich von prokaryotischen Zellen vor allem durch die Gegenwart eines Zellkerns, der das Erbmaterial der Zellen enthält. In Prokaryoten, die keinen Zellkern besitzen, befindet sich das Erbmaterial ohne besondere Organisation im Zellinneren; Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 8. 22
Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 11; Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 1.
29
1. Kap.: Biologische Grundlagen
Adenin mit Thymin und Guanin mit Cytosin ein Paar bilden. Die beiden DNA-Stränge umwinden sich in Form einer Doppelhelix, wodurch das Molekül eine größere Stabilität erlangt. Ein aus mehreren Informationseinheiten bestehender DNA-Abschnitt wird Gen genannt.23 Die Gesamtheit aller Gene eines Lebewesens bezeichnet man als Genom.2* Wesentliche Funktion der DNA ist, dass sie unmittelbar den Aufbau aller Proteine als universelle Bau- und Betriebsstoffe eines Organismus und somit die Eigenart des Lebewesens bestimmt.25 Für diese Funktion der DNA sind die Basen von wesentlicher Bedeutung, denn die Reihenfolge ihrer Anordnung (Sequenz) bestimmt den Aufbau einer Aminosäure, des Grundbausteins der Proteine.26 Die Veränderung der DNA eines Organismus mit Hilfe der Gentechnik kann folglich dazu fuhren, dass der Organismus Proteine produziert 27, deren Produktion nach der ursprünglichen Erbinformation nicht vorgesehen war. So kann eine genetische Veränderung beispielsweise zur Produktion von anderen Inhaltsstoffen im gentechnisch veränderten Organismus fuhren.
IL Der Vorgang einer gentechnischen
Veränderung
des Erbmaterials
Die Gentechnik liefert ein schnelles, wirkungsvolles und leistungsfähiges Handwerkszeug für den gezielten und gesteuerten Transfer spezifischer Gene in lebende Zellen.28 Die Übertragung der DNA von einem Organismus in einen anderen hat die Durchführung von vier Grundoperationen zur Voraussetzung: Isolation der zu übertragenden DNA, Neukombination mit dem für die Übertragung benötigten Vektor sowie Transformation in den Zielorganismus und Selektion der erfolgreich gentechnisch veränderten Zellen.29
23
Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 16. 24 Bertram/Gassen/Marquardt, Gentechnik, in: Präve/Faust/Sittig/Sukatsch (Hrsg.), Handbuch der Biotechnologie, S. 66; Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 13. 25 Watson/Tooze/Kurtz, Rekombinierte DNA, S. 1; Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 8. 26 Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 21. 27 Übersicht über die mit der Anwendung der Gentechnik möglich zu erzielenden Eigenschaften von Pflanzen bei Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 14 f. 28 Glick/Pasternak, Molekulare Biotechnologie, S. 15; Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 7. 29 Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 7; Glick/Pasternak, Molekulare Biotechnologie, S. 19.
30
1. Teil: Grundlagen
1. Isolation In einem ersten Schritt wird ein DNA-Molekül mit der genetischen Information, die man zu übertragen gedenkt, isoliert.30 Da die isolierten DNAFragmente im nächsten Schritt einer gezielten Neukombination zugeführt werden sollen, muss schon die Isolation des DNA-Moleküls gezielt erfolgen. Letzteres ermöglicht eine besondere Art von Enzymen, die so genannten Restriktionsenzyme (Restriktionsendonucleasen), die spezifische Sequenzabschnitte von meist vier bis acht Basenpaaren in der DNA erkennen und die DNA in der Regel auch an diesen Stellen spalten und in Fragmente zerlegen.31
2. Neukombination In den meisten gentechnischen Experimenten wird Fremd-DNA nicht direkt, sondern an einen Vektor gekoppelt übertragen.32 Der Vektor gewährleistet u.a., dass das eingebaute DNA-Molekül als Teil der Vektor-DNA (sog. Passagier-DNA oder Passenger-DNA) in der Zelle vervielfältigt werden kann (Klonierung).33 Als Vektoren werden - aus DNA-Molekülen bestehende - natürlich vorkommende Plasmide34 oder bestimmte Viren 35 eingesetzt.36 Es gibt
30
Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 7. 31 Präve/Faust/Sittig/Sukatsch, Handbuch der Biotechnologie, S. 70. Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 25, 49: Mittlerweile kennt man hunderte solcher Restriktionsenzyme. Dabei entstehen in Abhängigkeit von dem verwendeten Enzym charakteristische DNA-Fragmente unterschiedlicher Länge. Ausfuhrlich zu den Restriktionsenzymen Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 8 ff. 32 Schlee (Hrsg.)/Kleber (Bearb.), Biotechnologie, Teil 2, S. 1046. 33 Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 53; EnqueteKommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 7 f. 34 Plasmide sind in eu- und prokaryotischen Zellen vorkommende ringförmige DNA-Moleküle. Einige Plasmide tragen Gene, die der Zelle einen Vorteil wie z. B. die Unabhängigkeit von einem Nährstoff oder die Fähigkeit zum Abbau toxischer Substanzen verleihen können. Bakterielle Plasmide tragen häufig ein oder mehrere Resistenzgene, die Bakterien die Resistenzen gegen Antibiotika verleihen. So Schlee (Hrsg.)ZKleber (Bearb.), Biotechnologie, Teil 2, S. 800. 35 Viren sind infektiöse Partikel bzw. Krankheitserreger für Pflanzen, Tiere und Menschen. Sie bestehen aus einem DNA- oder RNA-Molekül, umgeben von einer Proteinhülle. Die Vermehrung der Viren erfolgt in den Wirtszellen unter Ausnutzung des wirtsspezifischen Zellstoffwechsels, wobei es bei bestimmten Viren zum Absterben ihrer Wirtszelle kommen kann oder zur Umbildung der Wirtszelle in eine Tumorzelle mit unkontrolliertem Wachstum. Eine spezielle Gruppe der Viren sind die Phagen, die Bakterienzellen befallen; vgl. zum Ganzen Schlee (Hrsg.)/Kleber (Bearb.), Biotechnologie, Teil 2, S. 1054. 36 Gassen/Martin/Sachse, Der Sto ff aus dem die Gene sind, S. 53.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
31
auch Vektoren, die aus Plasmiden und Viren zusammengesetzt werden - sog. Cosmide.37 Damit der Vektor die Aufgaben der Einschleusung und Vermehrung der eigenen und fremden DNA erfüllen kann, muss er insbesondere die Fähigkeit besitzen, sich in der Wirtszelle autonom zu replizieren, und er muss sich mit den gleichen Restriktionsenzymen behandeln lassen, mit denen auch der zu übertragende DNA-Abschnitt behandelt wurde, damit am Vektor und der Fremd-DNA identische Schnittstellen entstehen.38 Schließlich trägt der Vektor zum effektiven Nachweis der rekombinanten DNA meist mehrere selektierbare Marker (z. B. Antibiotika-Resistenzgene39).
3. Transformation und Selektion Zur Übertragung des durch den Einbau der Fremd-DNA neu kombinierten Vektormoleküls in eine Wirtszelle sind Methoden zur Transformation erforderlich.40 Für den Transfer des Vektors in das Pflanzengenom existieren verschiedene Verfahren 41. Die am häufigsten angewandte Methode arbeitet mit dem Bodenbakterium Agrobacterium tumefaciens, das die Fähigkeit besitzt, eigene DNA in das Pflanzengenom einzuschleusen.42 In der pflanzlichen Gentechnik nutzt man dieses Potential, indem man die zu transferierende DNA durch das Bodenbakterium übertragen lässt. Dabei ist die Transferfrequenz aber sehr gering. Zur Trennung der nicht veränderten von den veränderten (rekombinierten) Pflanzenzellen, mit denen allein eine (neue) Pflanzenpopulation herangezogen werden soll, müssen die mit Fremd-DNA transformierten Pflanzenzellen mittels eines Selektionsverfahrens 43 isoliert werden. Hierzu werden überwiegend Antibiotikaresistenzgene als sog. Markergene eingesetzt. Als positiver Beweis 37
Gassen/Martin/Sachse, Der Stoff aus dem die Gene sind, S. 53. Schlee (Hrsg.),/Kleber (Bearb.), Biotechnologie, Teil 2, S. 1046. 39 Kritisch dazu unten Β. Π. 2. c). 40 Barnum, Biotechnology, S. 51; Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie", BT-Drs. 10/6775, S. 8. 41 Näher dazu Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 92 ff.; Barnum, Biotechnology, S. 51. 42 Pühler, Anwendungsbereiche und Entwicklungen der Gentechnik, in: Lege (Hrsg.) Gentechnik im nicht-menschlichen Bereich - was kann und was sollte das Recht regeln?, S. 6; näher dazu auch Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 75 ff. 43 Näher zu den bei Pflanzen angewendeten Selektionsverfahren Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 94 if. 38
32
1. Teil: Grundlagen
für die Übertragung der Fremd-DNA in die Pflanzenzelle gilt dann das Wachsen der Pflanzenzelle auf antibiotikahaltigem Nährboden. Dass die Antibiotikaresistenzgene meist in den anschließend regenerierten transgenen Pflanzen noch enthalten sind44, wird unter Risikoaspekten sehr kontrovers diskutiert.45
B. Gentechnische Veränderungen und deren Nutzen und Risiken Ein Überblick über gentechnische Veränderungen und deren Risiken und Nutzen soll die Möglichkeit geben, die Diskussion der Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte vor diesem Hintergrund zu betrachten. Im Hinblick auf das Thema dieser Arbeit, die Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel, sollen der Einsatz der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelsektor und die damit verbundenen Nutzen und Risiken betrachtet werden.
I. Einsatzgebiete
der Gentechnik
im Agrar-
und
Lebensmittelsektor
Die Anwendung der Gentechnik im Lebensmittelbereich betrifft einerseits die Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung unter Zuhilfenahme gentechnisch veränderter Mikroorganismen und andererseits den Bereich der landwirtschaftlichen Produktion von Lebensmitteln aus transgenen Tieren und Pflanzen.
1. Anwendung der Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung
Der Bereich der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung gehört zu den Bereichen, in denen die Gentechnik schon heute eingesetzt wird. Es ist zwischen zwei grundsätzlichen Anwendungsformen der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung zu unterscheiden, denen beiden der Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen 46 zugrunde liegt. 44
Ptihler, Anwendungsbereiche und Entwicklungen der Gentechnik, in: Lege (Hrsg.) Gentechnik im nicht-menschlichen Bereich - was kann und was sollte das Recht regeln?, S. 6. 45 Siehe dazu unten in diesem Teil der Arbeit Β. Π. 2. c). 46 Als Mikroorganismen werden alle (generell) mikroskopisch kleinen Organismen bezeichnet, z. B. Bakterien, Hefen und Schimmelpilze; vgl. Schlee (Hrsg.J/Kleber (Bearb.), Biotechnologie, Teil 2, S. 672. In der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung erfüllen Mikroorganismen (Bakterien, Hefen und Schimmelpilze) und deren Stoff-
1. Kap.: Biologische Grundlagen
33
Zum einen werden mit Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen hergestellte Enzyme und Zusatzstoffe in der Lebensmittelherstellung und Lebensmittelverarbeitung eingesetzt und zum anderen werden gentechnisch veränderte Mikroorganismen als Starter- und Schutzkulturen eingesetzt.
a) Anwendung
der Gentechnik
zur Gewinnung
von Enzymen und Zusatzstoffen
Gentechnisch veränderte Mikroorganismen werden dazu eingesetzt, Enzyme und Zusatzstoffe, die auch klassischerweise in der Lebensmittelindustrie aus Mikroorganismen gewonnen werden, in erheblich größeren Mengen zu gewinnen. Die Produktion von Enzymen, die in der Lebensmittelindustrie zu den wichtigsten Hilfsstoffen gehören und zur Herstellung von Rohstoffen oder Zutaten sowie zur Verbesserung von Produktionsabläufen eingesetzt werden, ist dabei das am weitesten entwickelte Gebiet der Nutzung gentechnisch veränderter Mikroorganismen in der Lebensmittelindustrie.47 Mit dem Einsatz der Gentechnik in diesem Bereich soll vor allem dem Problem begegnet werden, dass die Produktion von Enzymen auf die herkömmliche Art und Weise die steigende Nachfrage nach Enzymen in der Lebensmittelindustrie nicht mehr befriedigen konnte. Ein Hauptgrund für die Schwierigkeiten bei der Enzymproduktion war, dass die die Enzyme produzierenden Mikroorganismen solche meist nur in kleinen Mengen produzierten. Mikroorganismen wurden deshalb dahingehend gentechnisch verändert, Enzyme in größeren Mengen zu produzieren. 48 Die gentechnisch hergestellten Enzyme selbst unterscheiden sich dabei nicht von den konventionell hergestellten Enzymen.49 Geplant ist außerdem, Mikroorganismen dahingehend zu verändern, dass sie gentechnisch optimierte - so in der Natur nicht vorkommende - En-
wechselprodukte (z. B. Enzyme, Aminosäuren, Vitamine, Alkohol, organische Säuren, AromastofTe) vielfältige Aufgaben, wie zum Beispiel Aufgaben im Herstellungsprozess oder bei der Verbesserung von Haltbarkeit, Geschmack, Aroma, Textur, Farbe und Nährwert. Man geht davon aus, dass ca. 39% der vom Menschen durchschnittlich aufgenommenen Nahrungsstoffe mit Hilfe von Mikroorganismen oder Enzymen hergestellt und bearbeitet werden. So Touissant, Gentechnik bei Lebensmitteln aus Sicht der Lebensmittelwirtschaft, in: Erbersdobler/Hammes/Jany, Gentechnik und Ernährung, S. 91 ff. (91); Sachse, in: Gassen/Kemme, Gentechnik, S. 157. 47 Vgl. Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 16 ff. 48 Näher dazu Klock, Wege zur Erhöhung der DNA- und Proteinausbeute, in: Gassen/Minol (Hrsg.), Gentechnik, S. 224 (224); Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 16 f. 49 Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid), Gentechnik in der Lebensmittelherstellung, 2000, S. 9.
34
1. Teil: Grundlagen
zyme produzieren, die zum Beispiel eine höhere Temperatur- oder phStabilität aufweisen. 50 Der große Vorteil des Einsatzes gentechnisch hergestellter, meist sehr leistungsfähiger mikrobieller Produktionsstämme in der Lebensmittelwirtschaft wird in dem dadurch ermöglichten schonenden Umgang mit endlichen Ressourcen gesehen. Die gleiche Produktmenge könne mit verringertem Energieund Rohstoffeinsatz produziert werden und bei der Produktion falle weniger Abfall an. Kosteneinsparungen von bis zu 90% sollen sich dabei ergeben können.51 Heute sind bereits mehr als 30 unterschiedliche von gentechnisch veränderten Mikroorganismen produzierte Enzyme kommerziell erhältlich, die in den verschiedenen Zweigen der Lebensmittelwirtschaft wie der Milch-, Fleisch-, Fisch-, Obst- und Gemüseverarbeitung sowie in Bäckereien und Brennereien eingesetzt werden.52 Von der Vereinigung der europäischen Enzymhersteller wird erwartet, dass bald mehr als 80% der Enzyme aus GVO gewonnen werden.53 Die breiteste Anwendung hat bislang das Enzym Chymosin gefunden, das in der Käseherstellung eingesetzt wird. 54 Im Einzelnen ist 50 Damit ein Mikroorganismus solche optimierten Enzyme produziert, bedarf es einer gezielten Veränderung im Gen, das das Enzym produziert, einer sog. „protein engineering"; Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 16. Noch steckt dieses „Enzym Design" im Experimentierstadium, so dass solche Enzyme im Lebensmittelbereich noch nicht eingesetzt werden; Transgen, Gentechnik in der Enzymherstellung, im Internet unter: www.transgen.de. 51 Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 16. 52 Aufzählung der verschiedenen gentechnisch hergestellten Enzyme und deren möglicher Einsatzbereiche: Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 17; Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid), Gentechnik in der Lebensmittelherstellung, 2000, S. 9. 53 So Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 16. 54 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 15 ff. Das Enzym Chymosin ist Hauptbestandteil des Labferments, das das Dickwerden, also die Gerinnung der Milch durch eine Spaltung des Milchproteins Kasein bewirkt. Das Labferment wird klassisch aus dem Labmagen von Kälbern oder aus traditionellen Mikroorganismen als Labersatzstoff isoliert, wobei Labersatzstoffe nicht die Qualität des Kälberlabferments besitzen, so dass mit deren Verwendung eine Reduzierung der Käseausbeute verbunden ist. Die Nachteile von Labersatzstoffen und der zunehmende Mangel an Kälberlab veranlasste die Industrie zur Produktion des Enzyms Chymosin durch gentechnisch veränderte Mikroorganismen, indem Mikroorganismen das Chymosin-Gen eingepflanzt wurde. Das gentechnisch gewonnene Chymosin ist ein naturidentisches Produkt und unterscheidet sich weder in der Proteinstruktur noch in der Aktivität von dem Labenzym aus dem Kälbermagen. Das gentechnisch hergestellte Chymosin ist im Unterschied zu dem Chymosin aus dem Kälbermagenextrakt in unbegrenzter Menge und mit einem höheren Reinheitsgrad verfügbar. Das herkömmliche Labferment enthält nämlich nur 5 % aktives Enzym, die restlichen 95 % sind unwirksame Begleitstoffe aus dem Kälbermagen. Gentechnisch hergestelltes Chymosin ist heute in vielen Ländern der Welt für die Käseherstellung zugelassen, z. B. seit 1990 in
1. Kap.: Biologische Grundlagen
35
aber unklar, in welchem Umfang und bei welchen Produkten mit Hilfe der Gentechnik gewonnene Enzyme eingesetzt werden. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass europaweit grundsätzlich weder die Verwendung klassischer Enzyme noch die Verwendung gentechnisch hergestellter Enzyme in der Lebensmittelverarbeitung gekennzeichnet werden muss.55 Zusatzstoffe werden in der Lebensmittelverarbeitung als Geschmacksverstärker, Süßstoffe, Aminosäuren, Vitamine, Aromen, Farbstoffe, Konservierungsstoffe, Verdickungsmittel und Emulgatoren eingesetzt. Da Zusatzstoffe wie Enzyme in Mikroorganismen produziert werden, versucht man auch hier, die Produktionsprozesse durch gentechnische Veränderungen zu optimieren und ökonomischer zu machen. Dies ist allerdings nicht so einfach wie bei der Enzymproduktion. Im Unterschied zu den Enzymen, deren Produktion jeweils von einem spezifischen Gen gesteuert wird, sind die Zusatzstoffe meist Produkte komplizierter Stoffwechselwege, bei deren Steuerung verschiedene Gene beteiligt sein können. Es müssen daher meist auch mehrere Gene gleichzeitig übertragen bzw. verändert werden, um die Produktionsorganismen zu optimieren. Die Gewinnung von Zusatzstoffen mit gentechnisch veränderten Mikroorganismen hat deswegen gegenwärtig nur bei wenigen Produkten bereits eine wirtschaftliche Bedeutung.56 Die unter Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen hergestellten Enzyme und Zusatzstoffe werden, bevor sie Lebensmitteln zugesetzt werden, gereinigt und von den Mikroorganismen abgetrennt. Die Enzyme und Zusatzstoffe enthalten dann als in das Lebensmittel einzubringende Präparate weder
den USA, außerdem in Irland und Großbritannien. In diesen Ländern wird bereits mehr als die Hälfte des Käses mit gentechnisch hergestelltem Chymosin produziert. Auch in Deutschland ist der Einsatz gentechnisch hergestellten Chymosins zur Käseherstellung zugelassen. Die zugelassenen Chymosin-Präparate sowie der damit hergestellte Käse sind somit in Deutschland frei verkehrsfahig. Zahlen über das Ausmaß des Einsatzes gentechnisch hergestellten Chymosins in Deutschland liegen nicht vor. Vgl. Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 17 f f ; Transgen, Chymosin; im Internet unter: www.transgen.de. 55 Transgen, Kennzeichnung auch fur Aromen und Zusatzstoffe, S. 2, im Internet unter: www.transgen.de/Recht/Kennzeichnung/kennz_zusatz.html. Enzyme gelten im europäischen Lebensmittelrecht als „Verarbeitungshilfsstoffe", die nicht selbst als Lebensmittelzutat verzehrt werden, sondern lediglich bei der Verarbeitung von Rohstoffen, Lebensmitteln oder deren Zutaten aus technologischen Gründen während der Beoder Verarbeitung verwendet werden; vgl. Art. 1 Richtlinie 89/107/EWG zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Zusatzstoffe, die in Lebensmitteln verwendet werden, ABl. L 40 vom 11.2.1989, S. 27. Ausnahmen gelten nur für die Enzyme Nisin (E234) und Lysozym (El 105), die lebensmittelrechtlich als Zusatzstoffe eingestuft und deshalb kennzeichnungspflichtig sind. 56
Jany/Greiner, Gentechnik bei Lebensmitteln, Teil 2: Anwendungsbereiche der Gentechnik im Lebensmittelbereich, B. 14.
36
1. Teil: Grundlagen
lebende Zellen noch rekombinante DNA des Produzentenorganismus.57 Sie sind deshalb nicht als gentechnisch verändert zu kennzeichnen.58 Allerdings können den Enzymen und Zusatzstoffen noch so genannte Verunreinigungen, d.h. andere vom gentechnisch veränderten Mikroorganismus produzierte Proteine oder Inhaltsstoffe anhaften. 59
b) Einsatz gentechnisch veränderter als Starter- und Schutzkulturen
Mikroorganismen
Neben der Verwendung der aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen gewonnenen Hilfs- oder Zusatzstoffe können gentechnisch veränderte Mikroorganismen auch direkt als Starter- 60 und Schutzkulturen61 eingesetzt werden. Als Starter- oder Schutzkulturen eingesetzte Mikroorganismen fuhren dazu, dass bei der fermentativen 62 Lebensmittelherstellung verderbliche, ungenießbare oder im Nährwert reduzierte Rohwaren pflanzlichen oder tierischen Ursprungs in veredelte, meist haltbare und gesundheitlich unbedenkliche Pro-
57
Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid), Gentechnik in der Lebensmittelherstellung, 2000, S. 9 f.; Heller, Möglichkeiten der Anwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen in der Lebensmittelherstellung, in: Schreiber (Hrsg.), M i t Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellte Lebensmittel, BgVV-Hefte 1997, S. 23 ff. (28); Braunschweiger/Conzelmann, Gentechnisch veränderte Rohstoffe für die Lebensmittelwirtschaft, in: Schreiber (Hrsg.), M i t Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellte Lebensmittel, BgVV-Hefle 1997, S. 9 ff.
(10).
58
Näher dazu unten in diesem Teil der Arbeit, 2. Kapitel: Rechtsgrundlagen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel. 59 Zu den damit ggf. verbundenen gesundheitlichen Risiken siehe unten Π. 2. b). 60 Der Einsatz von Starterkulturen erfolgt zur gezielten Veränderung der chemischen Zusammensetzung und der sensorischen Eigenschaften von fermentierten Lebensmitteln; Hammes, Gentechnisch veränderte Mikroorganismen, in: Erbersdobler/Hammes/Jany (Hrsg.), Gentechnik und Ernährung, S. 40; Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 20. 61 Schutzkulturen werden angewendet, damit das Wachstum von Lebensmittelvergiflern und anderen unerwünschten Keimen (z. B. die Verderbsflora) unterdrückt wird; Hammes, Gentechnisch veränderte Mikroorganismen, in: Erbersdobler/Hammes/Jany (Hrsg.), Gentechnik und Ernährung, S. 40; Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 20. 62 Fermentation ist die Umsetzung biologischer Materialien, die durch Enzyme katalysiert und durch Sauerstoffentzug, Belüftung, Wärme, Licht oder Dunkelheit beeinflusst oder gelenkt wird. Fermentation findet z. B. statt bei Gärungen und bei der Käsebereitung; Brockhaus dtv-Lexikon, Band 5, S. 266.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
37
dukte umgewandelt werden.63 Zu den möglichen Anwendungsbereichen gehören insbesondere die Milchindustrie, die Rohwurstherstellung, die Produktion von alkoholischen Getränken wie Wein, Bier und Spirituosen und die Backwarenindustrie. 64 Der Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen als gentechnisch veränderte Starter- und Schutzkulturen findet in Europa nur sehr zurückhaltend statt.65 Das ist wohl darauf zurückzuführen, dass bei einem Einsatz gentechnisch veränderter Mikroorganismen als Starter- oder Schutzkulturen diese grundsätzlich noch im Produkt enthalten sind und damit kennzeichnungspflichtig wären.66
2. Anwendung der Gentechnik bei Pflanzen Zur Anwendung der Gentechnik im Lebensmittelbereich gehört auch die gentechnische Veränderung von Pflanzen, die als Lebensmittel verwendet oder zu Lebensmitteln verarbeitet werden. Bei der Herstellung transgener Pflanzen wird, ebenso wie bei der konventionellen Züchtung, vor allem die Verbesserung agronomischer Parameter angestrebt. Dazu werden z. B. Resistenzgene gegen Herbizide, Pilz- und Viruserkrankungen oder Insektenbefall auf Pflanzen übertragen. Dadurch sollen insbesondere Ernteverluste vermieden und der Einsatz von Chemikalien reduziert werden. Darüber hinaus wird die Verbesserung von Qualitätsmerkmalen, wie Nährwert, Geschmacks- und Verarbeitungseigenschaften, angestrebt.67
63
Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 15 ff. 64 Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 21 f. 65 In den Jahren 1990 und 1991 erhielten zwei Mikroorganismen die Zulassung der britischen Behörden zur direkten Verwendung als Lebensmittel: Eine Hefe, die den Teig schneller aufgehen lässt, sowie eine zweite Hefe mit verbesserten Eigenschaften beim Bierbrauen. Keine dieser beiden Hefen wird allerdings kommerziell eingesetzt; Braunschweiger/Conzelmann, Gentechnisch veränderte Rohstoffe fur die Lebensmittelwirtschaft, in: Schreiber (Hrsg.), M i t Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellte Lebensmittel, BgVV-Hefte 1997, 9 ff. (15). Dazu auch Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 20 ff. 66
Heller, Möglichkeiten der Anwendung gentechnisch veränderter Mikroorganismen in der Lebensmittelherstellung: Ein Überblick, in: Schreiber (Hrsg.), M i t Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellte Lebensmittel, BgVV-Hefte 1997, 23 ff. (28). 67 Schauzu, Chancen und Risiken bei der Lebensmittelherstellung, ZLR 1996, S. 655 ff. (656). Ausführliche Aufzählung der bei der Herstellung transgener Pflanzen verfolgten Ziele auch bei Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 15.
38
1. Teil: Grundlagen
a) Herbizidresistente
Pflanzen
Herbizidresistente Pflanzen sind gegen Unkrautbekämpfungsmittel (Herbizide) resistente Pflanzen. Zur Herstellung herbizidresistenter transgener Pflanzen werden den Pflanzen mit Hilfe gentechnischer Verfahren 68 aus Mikroorganismen oder spontan-resistenten Pflanzen isolierte Herbizidresistenzgene übertragen. Das Herbizid, gegen das die transgene Pflanze resistent ist, wird in dieser Funktion als Komplementär-Herbizid bezeichnet. Mit einer Aufbringung des Komplementär-Herbizids auf die Felder können alle Pflanzen außer der transgenen herbizidresistenten Pflanze vernichtet werden.69 Bei den 2003 kommerziell genutzten gentechnisch veränderten Pflanzen war die Herbizidresistenz weiter das bei weitem dominierende gentechnisch übertragene Merkmal. Auf ca. 73% der weltweit mit transgenen Pflanzen bebauten Flächen wachsen herbizidresistente Sojabohnen, Mais und Baumwolle; auf weiteren 8% Pflanzen, die eine Herbizid- und eine Insektenresistenz besitzen.70 Diese Dominanz herbizidresistenter transgener Pflanzen hängt damit zusammen, dass man angesichts des weit verbreiteten71 und stark umweltschädigenden Einsatzes von Unkrautbekämpfungsmitteln dringend Alternativen zur Unkrautbekämpfung sucht. Als Vorteile des Einsatzes herbizidresistenter Pflanzen erhofft man sich eine Verringerung der erforderlichen Spritzgänge und eine Reduktion der einzusetzenden Herbizide. Die Herbizide, die wegen ihrer schädigenden Wirkung auch Kulturpflanzen gegenüber sonst nur vor oder kurz nach der Saat ausgebracht werden konnten, können nun gezielt erst im so genannten Nachauflauf, wenn der Ertrag absehbar gefährdet ist, eingesetzt werden. Die herbizidresistente Kulturpflanze wird dabei nicht geschädigt.72 Gegen die Erwartung solch positiver Effekte wird allerdings vorgebracht, dass es schon jetzt alternative Nachauflauf-Herbizide fur alle Kulturarten gibt, die aber in der landwirtschaftlichen Praxis wegen der geringen Flexibilität kaum eingesetzt werden. Zum Beispiel erlaubt der Zeitraum, der nach dem Auflaufen der Wildkräuter zur wirksamen Bekämpfung zur Verfugung steht, keine Rücksicht mehr auf Wetterbedingungen; bei Kälte und Nässe wirken die Mittel aber teilweise 68
Vgl. obenA. Π. Näher dazu Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 121. 70 International Services for the Acquisition of Agri-biotech Applications (ISAAA), Global Status of G M Crops, im Internet unter: www.isaaa.org/. 71 In Deutschland werden beispielsweise über 80% der Ackerkulturen mit Unkrautbekämpfungsmitteln behandelt; Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und NachzulassungsMonitoring transgener Pflanzen", BT-Drs. 14/5492, S. 18. 72 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 11 f. 69
1. Kap.: Biologische Grundlagen
39
schlechter, und der Ackerboden ist gegebenenfalls nicht befahrbar. 73 Wegen dieser Nachteile habe sich ein Herbizideinsatz im Nachauflauf in der landwirtschaftlichen Praxis bisher nicht durchgesetzt und wird auch im Fall des Einsatzes transgener herbizidresistenter Pflanzen nicht erwartet. Eine Senkung des notwendigen Herbizideinsatzes infolge des Einsatzes transgener herbizidresistenter Pflanzen kann auch hinsichtlich der praktischen Erfahrungen bisher weder als eindeutig bestätigt noch als eindeutig widerlegt gelten. In den USA wurden zwar beispielsweise nach Angaben des US-Landwirtschaftsministeriums 1996 und 1997 durch den Anbau herbizidresistenter transgener Pflanzen 26% bzw. 22% weniger Herbizide verbraucht. 74 Untersuchungen aus Deutschland zeigen dagegen, dass mehr Herbizid-Anwendungen nötig sind als ursprünglich angenommen.75 An Nachteilen infolge des Anbaus herbizidresistenter Pflanzen und des Einsatzes von Komplementär-Herbiziden wird für die Ackerbeikrautgesellschafiten eine Reduzierung der Vielfalt durch die breit wirkenden Komplementärherbizide befurchtet, und bei mangelnder Herbizidrotation, sei es durch schlechtes Management, sei es durch Verminderung des Angebots alternativer Herbizidstrategien als Folge wirtschaftlicher Prozesse, sind Resistenzprobleme in der Ackerbegleitflora nicht auszuschließen.76 Sollte es beim Einsatz von Komplementärherbiziden zur Herausbildung resistenter Unkräuter kommen, wäre damit zu rechnen, dass die Landwirte die Dosierungen erhöhen, um die Herbizidwirkung aufrechtzuerhalten. Mengeneinsparungen durch Komplementär-Herbizide gegenüber dem Status quo könnten dadurch zunichte gemacht werden.77 Im Ergebnis wird für die Frage, ob die Vor- oder Nachteile des Anbaus herbizidresistenter transgener Pflanzen überwiegen, die Nutzungsintensität von 73
Schütte, Herbizidresistenz: Mögliche direkte und indirekte Auswirkungen auf den Naturhaushalt und Rahmenbedingungen einer umweltfreundlicheren Landwirtschaft, S. 6. 74 Gianessi: Current and Potential Impact For Improving Pest Management in U.S. Agriculture: A n Analysis of 40 Case Studies, 2002, im Internet unter: www.ncfap.org . 75 Näher dazu Schütte/Schmitz, Herbizidresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 114; Transgen, Weniger Herbizide?, im Internet unter: www. transgen. de/Nachhaltigkeit/HR-Menge. html. 76 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drs. 14/5492, S. 18. 77 Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert, Das Mengenproblem als Ausgangspunkt. Werden mit der HR-Technik mehr oder weniger Herbizide eingesetzt werden?, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 125.
40
1. Teil: Grundlagen
HR-Pflanzen maßgebend sein.78 Deshalb werden Regulierungsmaßnahmen in Form so genannter Managementrichtlinien diskutiert, die eine Nutzung der Vorteile von transgenen herbizidresistenten Pflanzen unter gleichzeitiger Begrenzung von Risiken79 ermöglichen sollen.80
b) Insektenresistente
Pflanzen
Von der jährlichen Welternte werden circa dreizehn Prozent durch Insektenbefall vernichtet.81 Insekten werden deshalb im Pflanzenbau mit Insektiziden bekämpft, deren Verwendung aus ökologischer Sicht bedenklich ist, da einerseits Rückstände verbleiben, die sich unter Umständen in der Nahrungskette anreichern, und andererseits Pestizide unspezifisch für viele Tiere toxisch wirken.82 Einen besseren und umweltschonenderen Schutz vor Schadinsekten erhofft man sich von gentechnisch hergestellten insektenresistenten Pflanzen, die Resistenzen gegen Fraßinsekten besitzen.83 Am weitesten entwickelt und am weitesten verbreitet ist die Nutzbarmachung eines natürlichen Toxins (Eiweiß), das vom Bakterium Bacillus thuringensis (B.t.) gebildet wird und auf bestimmte Fraßinsekten, z. B. Schmetterlingsraupen, giftig wirkt. 84 Die gentechnisch mit dem Bakteriengen ausgerüsteten transgenen Pflanzen (insbesondere Mais, Baumwolle und Kartoffel) bilden das Toxin selbst aus und sind dadurch vor dem Befall durch Schmetterlingsraupen geschützt.85 78 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drs. 14/5492, S. 18. 79 Tabellarische Darstellung der ökologischen Vor- und Nachteile der HR-Technik gegenüber konventioneller Unkrautbekämpfung in Abhängigkeit von der Nutzungsintensität des Komplementärherbizids bei Schütte/Schmitz, Herbizidresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 114. 80 Bericht des Ausschusses fur Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 18 f. 81 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 19. 82 Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 124. 83 Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 124. 84 Schütte/Schmitz, Herbizidresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 124; Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 124 ff. 85 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 9.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
41
Als Vorteil insektenresistenter Pflanzen wird neben dem primär verfolgten Schutz der Pflanzen vor Schädigungen durch Insektenbefall die beim Anbau insektenresistenter Pflanzen mögliche Reduzierung des Ausbringens von Insektiziden betont. Beim Anbau von insektenresistentem B.t.-Mais soll es beispielsweise 1996 und 1997 gelungen sein, die in den USA eingesetzte Insektizidmenge im Maisanbau um 10% zu senken.86 Die mögliche Einsparung von Insektiziden hat in den USA außerdem dazu geführt, dass Bodendrucklasten durch Befahren (und Erosionen als Folge) verringert werden konnten.87 Als Vorteil der B.t.-Pflanzen selbst konnte festgestellt werden, dass diese weniger toxikologische und ökotoxikologische Nebenwirkungen besitzen als die herkömmlichen Insektizide.88 Vom Anbau transgener insektenresistenter B.t.-Pflanzen werden aber auch negative Effekte erwartet: eine Entwicklung von Resistenzen gegen die B.t.Pflanzen bei den Schaderregern, unerwünschte Nebeneffekte auf NichtZielorganismen und Auswirkungen auf Wildpflanzen durch eine Auskreuzung der Gene.89 Die unumstrittene Befürchtung, es könnte bei den Schadinsekten zu einer beschleunigten Resistenz gegen B.t.-Toxine kommen, stellt sich vor dem Hintergrund eines zu erwartenden großflächigen Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen, die wahrscheinlich je Pflanzensorte nur eine Form der Insektenresistenz, d.h. ein besonders wirksames Toxin, besitzen werden, das dann in allen Wachstumsstadien in allen Pflanzenteilen gebildet wird. 90 Der dadurch entstehende vergleichsweise höhere Selektionsdruck lässt bei den Schädlingen eine schnellere Resistenzentwicklung erwarten. 91 Die Entwicklung von Insekten, die gegen B.t.-Toxine resistent sind, ist dabei auch deshalb so problematisch, weil das B.t.-Toxin für die konventionelle und insbesondere ökologische 86
Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 125 f. Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 128. 88 Schmitz/Schütte, Insektenresistenz, in: Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 128. 89 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 20. 90 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 20; Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 137. 91 Ersten Berichten zufolge traten bereits b.t.-resistente Stämme der Kohlschabe (Plutella xyllostelh) und von Raupen der Baumwolleule (Heliothis virescens) sowie des roten Kapselwurms (Pecti-nophora gossypiella) auf; siehe die Nachweise in Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 22 f. 87
42
1. Teil: Grundlagen
Landwirtschaft eine besondere Bedeutung besitzt. Wegen ihrer guten Umweltverträglichkeit sind die insektengruppenspezifisch wirkenden Präparate des B.t.-Bakteriums auch für den ökologischen Landbau zugelassen und gehören dabei zu den ganz wenigen im ökologischen Landbau zugelassenen Pflanzenschutzmitteln.92 Während für die konventionelle Landwirtschaft ein aus der Resistenzentwicklung der Schadinsekten resultierendes Versagen der B.t.vermittelten Schädlingsresistenz durch die Verwendung anderer Insektizide aufgefangen werden kann, könnte der ökologische Landbau empfindlich und nachhaltig durch kreuzresistente Erreger beeinträchtigt werden.93 Insoweit ist man sich einig, dass zur Vorbeugung einer erhöhten Resistenzentwicklung bei Schadinsekten gegenüber B.t.-Toxinen parallel zum Anbau transgener insektenresistenter Pflanzen ein Resistenzmanagement erforderlich ist.94 Gestritten wird lediglich darüber, mit welcher der für ein Resistenzmanagement diskutierten Strategien einer Resistenzentwicklung der Schädlinge am ehesten entgegengewirkt werden kann.95 Als weiteres mögliches Risiko des Anbaus von B.t.-Pflanzen wird ihre Wirkung auf Nicht-Zielorganismen diskutiert. Infolge der dauerhaften B.t.-ToxinExpression der transgenen Pflanze könnte ein erweiterter Kreis an NichtZielorganismen geschädigt werden als bei der Anwendung herkömmlicher B.t.-Präparate.96 Die Anwendung herkömmlicher B.t.-Präparate, die nur im Zeitpunkt der Anwendung schädigende Wirkung entfalten, wirkt sich auf die Nichtzielorganismen nur dann schädigend aus, wenn die Anwendung in einen Zeitraum fallt, in dem der Organismus sich in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung befindet und nur deshalb auf das Toxin reagiert. Bei transgenen Pflanzen mit dauerhafter B.t.-Toxin-Expression ist die Wahrscheinlichkeit für 92
Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? - Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 147 ff.; Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 9; Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und NachzulassungsMonitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 19. 93 Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? - Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 149. 94 Bericht des Ausschusses fiir Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 20. 95 Zu den verschiedenen Strategien, z. B. dem Anbau nicht transgener Wirtspflanzen neben transgenen Wirtspflanzen oder der Anwendung verschiedener Bt-Toxine, siehe Schmitz/Schütte, Insektenresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 138 ff., die auch besonders detailliert auf Vor- und Nachteile der Hoch-DosisRefugien Resistenzmanagementstrategie, die derzeit internationaler Standard ist, eingehen. 96 Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? - Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 147.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
43
eine Schädigung der Nicht-Zielorganismen erhöht.97 Außerdem wird eine negative Wirkung der insektenresistenten Pflanzen auf Bodentiere (Wirbellose und Mikroorganismen) befurchtet, die durch die Expression von B.t.-Toxin in Wurzeln und durch den Abbau von totem Pflanzenmaterial stärker exponiert sind.98 Als Risiko insektenresistenter Pflanzen wird außerdem die Möglichkeit einer Auskreuzung99 der Insektenresistenz-Gene auf andere verwandte Wildpflanzen diskutiert. Denn dadurch könnten auch an diesen Wildpflanzen vorkommende Insekten geschädigt werden.100 Ein infolgedessen verringerter Fraßdruck könnte eventuelle Unkrauteigenschaften dieser Pflanzen verstärken.101
c) Virusresistente
Pflanzen
Unter den herkömmlichen chemischen Pflanzenschutzmitteln fehlen solche, die direkt gegen Viren wirken. Es können bislang nur die virusübertragenden Insekten mit Insektiziden bekämpft werden. Eine den Pflanzen gentechnisch vermittelte Virusresistenz stellt deshalb ein besonders intensiv verfolgtes Ziel bei der Entwicklung transgener Pflanzen dar. 102 Die bislang vorrangig verfolgten Methoden103 zur gentechnisch vermittelten Virusresistenz bestehen 97 Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? - Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 147. 98 Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? - Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 147. 99 Näher dazu unten 2. a)cc). 100 Schmitz/Schütte, Insektenresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und NachgenehmigungsMonitoring, S. 127. 101 Schmitz/Schütte, Insektenresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und NachgenehmigungsMonitoring, S. 127. 102 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 22; Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 275; Schütte/Oldendorf, Virusresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 175; näher dazu Gentechnik Nachrichten Speziai 9/10 Oktober 2002, S. 3, im Internet unter: http://www.oeko-institut.org/bereiche/gentech/ newslet/. 103 Zu den verschiedenen Methoden der Erzeugung einer gentechnisch vermittelten Virusresistenz siehe Schütte/Oldendorf, Virusresistenz, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 176; Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 128; Umweltbundesamt, Fachinformation zum Thema Biologische Sicherheit/Gentechnik,
44
1. Teil: Grundlagen
darin, Abschnitte von pathogenen Viren in das Pflanzengenom einzubauen, um darüber eine Art Immunität gegen das entsprechende Virus - sowie möglicherweise gegen nahe verwandte Viren - zu erzielen.104 Bei der Entwicklung von gentechnisch erzeugten Virusresistenzen wird inzwischen eine Reihe von Risikofaktoren diskutiert.105 Im Falle transgener Pflanzen werden insbesondere Wechselwirkungen der übertragenen Virusgene mit anderen die Pflanze befallenden Viren befürchtet. 106
d) Weitere neue Eigenschaften
transgener
Pflanzen
Zu den weiteren geplanten neuen Eigenschaften transgener Pflanzen gehören auch Pilz- und Bakterienresistenzen107, eine männliche Sterilität der Pflanze zur Herstellung besonders starkwüchsigen und ertragreichen Hybridsaatguts108 sowie Resistenzen gegen umweltbedingte Stressfaktoren (z. B. extreme Temperaturen, Trockenheit, hoher Salzgehalt, erhöhte UV-Strahlung und Nährstoffarmut) 109. Außerdem wird an einer Ausstattung der Pflanzen mit veränderten Inhaltsstoffen geforscht. Es sollen beispielsweise Pflanzen mit einem erhöhten oder erniedrigten 110 Gehalt an pflanzeneigenen Stoffen (Stärke bzw. Gentechnische Veränderungen: Schädlings- und Krankheitsresistenzen bei Pflanzen, im Internet unter: www.umweltbundesamt.de/uba-info-daten/daten/bsg/bsg6.htm. 104 Dass Pflanzen durch den Befall mit (schwach pathogenen) Viren gegen andere Infektionen geschützt werden können, wurde bereits in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts beschrieben, ein Vorgang, den man als „Prämunisierung" bezeichnet; Steinbiß/Friedt, Virusresistenz bei Pflanzen durch gentechnische Verfahren, in: Bioscope 1/94, S. 22 ff. (22 f.); Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 163. 105 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 283, m.w.N. 106 Näher dazu Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 22. 107 Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 129 if.; Husemann/Oldendorf/Schatte, Krankheitsresistenz gegen Pilze und Bakterien, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 154 ff.; Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 9 f. 108 Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 160 ff.; Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 14. 109 Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 133 f.; Schmitz, Toleranz gegen abiotische Umweltfaktoren, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 186 ff. 110 Die Flavr-Savr-Tomate (amerikanisch: flavour saver, was so viel wie „Geschmacksretter" bedeutet) der Firma Calgene war 1994 die erste transgene Pflanze und Frucht, die in den USA zugelassen wurde. Das bei der Gen-Tomate gentechnisch ein-
1. Kap.: Biologische Grundlagen
45
Zucker oder Öl bzw. Fettsäurenzusammensetzung) geschaffen werden. Weiterhin ist die Nutzung transgener Pflanzen zur Produktion nicht-pflanzlicher, also z. B. bakterieller, tierischer oder gar menschlicher Proteine geplant, die nach der Gewinnung aus den Pflanzen - für technische Zwecke oder als Arzneimittel bzw. Impfstoffe genutzt werden könnten. Diese Pflanzen finden sich bislang eher in einer Konzeptions- und Diskussions- denn in einer Erprobungsphase.111 Außerdem sind so genannte „transgene Pflanzen der 2. Generation" geplant, d.h. gentechnisch veränderte Nahrungsmittelpflanzen, aus denen Lebensmittel mit einer verbesserten gesundheitlichen Wirkung hergestellt werden sollen, sog. funktionelle Lebensmittel.112 Als besonders attraktiver Gedanke gilt auch die Verwendung transgener Pflanzen zur Rohstoffjproduktion und Bodensanierung.113 Die Produktion nachwachsender Rohstoffe wie Kohlenhydrate, Fette oder sogar Kunststoffe mit Hilfe transgener Pflanzen wird als einer der momentan revolutionärsten Gedanken gefeiert. Zur Sanierung vergifteter Böden wird an transgenen Pflanzen gearbeitet, die in der Lage sind, derartige Giftstoffe zu beseitigen.114
3. Anwendung der Gentechnik bei Tieren Zur Anwendung der Gentechnik im Lebensmittelbereich gehört auch die gentechnische Veränderung von Tieren, die zu Lebensmitteln verarbeitet werden. geführte Erbgut blockiert das für die Reifung verantwortliche Gen, das für die Bildung des zellwand-verdauenden Enzyms Polygalakturonidase und damit für das „Matschigwerden" verantwortlich ist. Aus Flavr-Savr-Tomaten gewonnenes Tomatenpüree ist in England seit 1995 auf dem Markt; bedurfte für das Inverkehrbringen aber keine Zulassung, da es keine lebenden gentechnisch veränderten Organismen mehr enthält. 111 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 23. 112 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 23. Die Notwendigkeit der Verbesserung der Nahrungsmittelqualität mit Hilfe gentechnischer Verfahren wird insbesondere mit dem dafür bestehenden Bedarf in Entwicklungsländern begründet. Bekanntes Beispiel ist die Entwicklung von Reispflanzen, die ß-Carotin, eine Vorstufe von Vitamin A, in den Körnern bilden und mit deren Hilfe dem Vitamin-A-Mangel, der vor allem bei Kindern asiatischer Länder herrscht und zur Blindheit führen kann, entgegengewirkt werden soll; Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 13. 1,3 114
Kempken/Kempken, Kempken/Kempken,
Gentechnik bei Pflanzen, S. 145. Gentechnik bei Pflanzen, S. 148 f.
46
1. Teil: Grundlagen
Bei der Nutztierhaltung muss zwischen einer direkten und einer indirekten Anwendung der Gentechnik unterschieden werden. Der direkte Einsatz der Gentechnik betrifft die Herstellung transgener Tiere. Für die Lebensmittelproduktion besitzen transgene Tiere grundsätzlich noch keine Bedeutung, und eine solche ist in naher Zukunft auch nicht zu erwarten.115 Eine Ausnahme bildet die Entwicklung transgener Fischarten, die weit fortgeschritten ist. Vor allem in Kanada, USA, Norwegen, Großbritannien, Frankreich, Spanien und Japan wurden bislang ca. 20 transgene Fischarten entwickelt. In den meisten Fällen handelt es sich um eine gentechnische Veränderung eines Wachstumshormons, das damit ein schnelleres und größeres Wachstum bewirkt. 116 Es ist aber weltweit noch keine Zulassung für transgenen Fisch erteilt worden.117 Indirekt kommen Nutztiere mit der Gentechnik über Futtermittel aus transgenen Pflanzen oder über aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Impfstoffen oder Futtermittelzusatzstoffen (Enzyme, Aminosäuren, Vitamine) in Berührung. 118
IL Risiken der Anwendung
der Gentechnik
im Agrar-
und
Lebensmittelsektor
Für die Diskussion der Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel ist es von Bedeutung, welche Risiken von einer Anwendung gentechnischer Verfahren im Agrar- und Lebensmittelsektor ausgehen. Daraus lassen sich gegebenenfalls Rückschlüsse ziehen, inwieweit und aus welchen Gründen es einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel bedarf.
1. Ökologische Risiken Als Folge der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und deren Freisetzung in die Natur werden ökologische Risiken befürchtet.
115
Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 32. Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (aid), Gentechnik in der Lebensmittelherstellung, 2000, S. 8. 117 Transgen, Gentechnik bei Fischen, im Internet unter: www.gruenegentechnik. de/Anwendung/fische/fische .html. 118 Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 32. 116
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1. Kap.: Biologische Grundlagen a) Risikovergleich
zur Normalisierung
der Risiken der
Gentechnik
Bei der Diskussion der mit der Anwendung der Gentechnik verbundenen Risiken wird teilweise ein Risikovergleich zwischen Risiken transgener Pflanzen und den Risiken konventionell gezüchteter Pflanzen verlangt. Dies geschieht mit dem Ziel, die Normalität der Risiken der Gentechnik festzustellen. Ein solcher Risikovergleich war zentraler Gegenstand eines in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1991 bis 1993 durchgeführten Verfahrens zur Technikfolgenabschätzung (TA) von Kulturpflanzen mit gentechnisch erzeugter Herbizidresistenz. Eine der wesentlichen Fragen war, ob sich die Risiken transgener Pflanzen von den Risiken solcher Pflanzen, die durch klassische Züchtung verändert worden sind, unterscheiden und ob die Annahme eines besonderen Risikos bei gentechnisch veränderten Pflanzen begründet werden kann119. Die Verfahrensbeteiligten waren so gewählt, dass Vertreter verschiedener Interessengruppen und Positionen des gentechnikpolitischen Konfliktfeldes, einschließlich der erklärten Befürworter und Kritiker der untersuchten Technik, am Verfahren beteiligt waren.120 Das wesentliche, als Kernaussage formulierte Ergebnis des TA-Verfahrens war, dass sich sämtliche Risikohinweise, die zahlreichen Untersuchungen zu gentechnisch veränderten Pflanzen zu entnehmen sind, durch einen Vergleich mit aus der konventionellen Züchtung bekannten Problemen normalisieren lassen.121 Risiken transgener Pflanzen könnten somit als „normale Risiken" eingestuft werden, die ebenso bei konventionell gezüchteten Pflanzen auftreten können. Gentechnikspezifische Risiken, die allein aufgrund der gentechnischen Veränderung einer Pflanze auftreten, gebe es nicht.122 Betont wird dabei allerdings auch, dass „normale Risiken" nicht „keine Risiken" bedeutet: Transgene Pflanzen könnten - ebenso wie konventionell gezüchtete - durchaus ökologisch riskant sein, nur eben nicht allein aufgrund ihrer gentechnischen Veränderung.
119 Van den Daele/Pühler/Sukopp, Technikfolgenabschätzung als politisches Experiment, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 19. 120 Van den Daele/Pühler/Sukopp, Technikfolgenabschätzung als politisches Experiment, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 3. 121 So ausdrücklich z. B. van den Daele, Zur Reichweite des Vorsorgeprinzips, in: Lege (Hrsg.), Gentechnik im nicht-menschlichen Bereich - was kann und was sollte das Recht regeln?, S. 106 f. 122 Van den Daele/Pühler/Sukopp, Zusammenfassung der Ergebnisse des TAVerfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 49.
48
1. Teil: Grundlagen
Die Kritiker des Risikovergleichs sehen darin keine Möglichkeit, eine Normalität der Risiken gentechnischer Anwendungen festzustellen, sondern lediglich die Möglichkeit einer Relativierung der Risiken. Gegen den Versuch, eine Normalisierung der Risiken gentechnischer Veränderungen über einen Vergleich mit den Risiken der konventionellen Züchtung festzustellen, spreche zunächst, dass es allein bei der Anwendung der Gentechnik möglich ist, Gene über Artgrenzen hinweg zu übertragen. Einer Betrachtung der Risiken gentechnischer Veränderungen als normale Risiken stehe außerdem entgegen, dass sich mittels der Gentechnik Züchtungsziele schneller und effizienter erreichen lassen und damit ein Eingriff in das evolutionäre Geschehen verbunden sein könnte, den es in diesem Ausmaß natürlicherweise nicht gibt.123 Dieses Bedenken findet ihren Ausdruck in der Frage, „ob es wirklich unbedenklich sein kann, die molekulare Uhr als eine über viele Jahrtausende konstant bleibende Mutationsrate zu verstellen".124 In der folgenden Betrachtung der Risiken gentechnisch veränderter Pflanzen wird auf die im TA-Verfahren entwickelten grundsätzlichen, von transgenen herbizidresistenen Pflanzen unabhängigen Überlegungen zu einem Risikovergleich zwischen gentechnisch veränderten und konventionell gezüchteten Pflanzen zurückzukommen sein. Dabei wird auch auf die zum Risikovergleich bestehende Kritik eingegangen.
b) Horizontaler
Gentransfer
Unter einem „horizontalen Gentransfer" versteht man die nicht-sexuelle Übertragung von genetischem Material zwischen Organismen unterschiedli-
123 In diesem Sinne weist auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 812, daraufhin, „dass die gezielte Konstruktion eines gentechnisch veränderten Organismus im Labor, insbesondere über Artschranken hinweg, einen Vorgang darstellt, der im natürlichen Geschehen niemals oder nur sehr viel langsamer abgelaufen wäre. Die Auswirkungen dieses Eingriffs in das evolutionäre Geschehen können - vor allem auf lange Sicht - naturwissenschaftlich nicht eindeutig beurteilt werden. " 124 Ammann, Ökologische Risikobewertung transgener Pflanzen, in: Haniel/Schleissing/Anselm (Hrsg.), Novel Food, Dokumentation eines Bürgerforums zu Gentechnik und Lebensmitteln, S. 51.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
49
eher Arten, die nicht miteinander kreuzbar sind.125 Zum Beispiel zwischen Mikroorganismen kommt ein horizontaler Gentransfer relativ häufig vor. 126 Die Möglichkeit eines horizontalen Gentransfers begründet - neben dem möglichen vertikalen Gentransfer - die Befürchtung, dass im Rahmen von Freisetzungen einmal in die Umwelt entlassene Gensequenzen nicht wieder „zurückgeholt" werden können. Das eigentlich heikle und umstrittene Thema, das im Zusammenhang mit dem horizontalen Gentransfer diskutiert wird, ist die Verwendung von Antibiotika-Resistenzgenen. Diese dienen bei der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und Mikroorganismen als Erkennungsmerkmal für die erfolgreiche gentechnische Veränderung und werden aus dem gentechnisch veränderten Organismus grundsätzlich nicht wieder entfernt. 127 Diskutiert wird, ob der horizontale Gentransfer dieser Antibiotikaresistenzgene einen relevanten Beitrag zum schon jetzt sehr ernsten Problem der antibiotika-resistenten Keime in der Human- und Tiermedizin leisten könnte.128 Diese Diskussion ist vor allem bezüglich transgener Mikroorganismen, die zum Beispiel auch in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung eingesetzt werden, relevant. Denn zwischen Mikroorganismen ist ein horizontaler Gentransfer sehr wahrscheinlich.129 Über horizontalen Gentransfer können solche Antibiotikaresistenzgene dann innerhalb des Bakterienreiches verteilt werden. Sie können dabei in infektiösen Keimen landen, die sich dann im Falle der Infektion eines Menschen oder eines Tieres einer entsprechenden Antibiotikabehandlung entziehen.130
125
Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Broer/Döbert/Neubert/Siewert, Wahrscheinlichkeit und Folgen eines horizontalen Gentransfers: Schlussfolgerungen des TAVerfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 97; Meyer/Revermann/Sauter, Biologische Vielfalt in Gefahr? - Gentechnik in der Pflanzenzüchtung, S. 161. 126 Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 187 f.; Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 283. 127 Dazu schon oben in diesem Teil der Arbeit Α. Π. 3. 128 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 17; näher dazu unten in diesem Teil der Arbeit b) cc). 129 Schütte/Oldendorf Horizontaler Gentransfer, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 78. 130 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 283.
50
1. Teil: Grundlagen
c) Auskreuzung transgener
(vertikaler
Gentransfer)
und Verwilderung
Pflanzen
Die Bedenken im Hinblick auf eine Nichtrückholbarkeit in die Umwelt ausgebrachter gentechnisch veränderter Organismen stützen sich - außer auf den Vorgang des horizontalen Gentransfers 131 - vor allem auf eine befürchtete unkontrollierte Auskreuzung (vertikaler Gentransfer) und Verwilderung der Organismen oder ihrer transgenen Eigenschaften. 132 Unter einer Auskreuzung wird die pollenvermittelte Übertragung von Erbgut auf verwandte oder kreuzbare Arten verstanden.133 Bei der Freisetzung von Pflanzen mit neuen, gentechnisch vermittelten Eigenschaften besteht somit die Möglichkeit, dass das neue Gen mit dem Blütenstaub auf eine verwandte Art übertragen und somit eine Eigenschaft verbreitet wird, die nur bei der Kulturpflanze, nicht aber bei den Wildpflanzen erwünscht ist.134 Das Risiko bei der Auskreuzung der Gene transgener Pflanzen ist, dass durch die Übertragung transgener umweltrelevanter Eigenschaften besonders konkurrenzstarke (z. B. herbizidresistente) Wildpflanzen entstehen, die sich über das Anbaugebiet hinaus ausbreiten.135 Man spricht in solchen Fällen von einer Verwilderung der Pflanze. Die verwilderten Pflanzen treten entweder als Unkräuter in anderen landwirtschaftlichen Kulturen auf, oder sie dringen in naturnahe Ökosysteme außerhalb der Landwirtschaft ein.136 Die Wahrscheinlichkeit einer Auskreuzung und unkontrollierten Verwilderung eines Fremdgens hängt davon ab, ob Kreuzungspartner (Wildpflanzen) in der Nähe vorkommen, fruchtbare Kreuzungsnachkommen entstehen und diese aufgrund des Fremdgens auch außerhalb des Ackers - etwa durch bessere Schädlingsbzw. Krankheitsresistenz, Kälte-, Trockenheits- oder Salztoleranz - einen Konkurrenzvorteil aufweisen. 137 Um das Risiko der Auskreuzung und Verwil131 132
Siehe soeben b). Der Rat von Sachverständigen
für
Umweltfragen,
Umweltgutachten 1998,
S. 281. 133 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 15. 134 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 18 f. 135 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 15. 136 Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert/Sukopp, Verwilderung transgener HR-Pflanzen: Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens, S. 109, in: van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit. 137 Deutsche Forschungsgemeinschaft, Gentechnik und Lebensmittel 2001, Mitteilung 3, S. 18 f.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
51
derung transgener Pflanzen möglichst gering zu halten, werden verschiedene Maßnahmen zur Reduzierung des Risikos einer unkontrollierten Auskreuzung und Verwilderung diskutiert. 138 Insgesamt lassen die Ergebnisse zahlreicher Untersuchungen sowohl für Wind- als auch Insektenbestäubung folgenden Schluss zu: Die Pollenkonzentrationen nehmen mit Abstand zur Quelle schnell ab, geringe Konzentrationen können jedoch über weite Entfernungen gefunden werden. In vielen Fällen wurden Pollen bis zur maximal im Experiment gemessenen Distanz, d.h. noch nach mehreren Kilometern Abstand, nachgewiesen.139 Zum Beispiel wurde in Mexiko die Entdeckung gemacht, dass verändertes Erbgut einer transgenen Maispflanze tausend Meilen entfernt vom Anbauort in traditionellen Maissorten nachweisbar war. 140 Eine minimale, absolut „sichere" Distanz ist daher - zumal bei Insektenbestäubung - nicht eindeutig bestimmbar und für die mögliche Auskreuzung mit Wildpflanzen sowieso kaum praktikabel.141 Neben dem Einhalten von Sicherheitsabständen werden für die Saatgutvermehrung und im Rahmen von Freisetzungsversuchen häufig sog. Mantelsaaten um die eigentliche Anbaufläche herum angelegt, an denen Bestäubungsinsekten den gesammelten Pollen abladen sollen und der dann vernichtet werden kann. Für einen quantitativen Schutzeffekt müsste die Mantelsaat in manchen Fällen einen enormen Umfang haben, so dass diese Maßnahme für den kommerziellen Anbau einiger Pflanzen ungeeignet erscheint.142 Schließlich könnten ggf. auch männlich sterile Pflanzen verwendet werden, die keinen Pollen bilden können. Diese Möglichkeit schei-
138 Überblick über Abstandsregelungen etc. bei Schmitz/Schütte, Genübertragung zwischen verschiedenen Pflanzensorten und -arten, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und NachgenehmigungsMonitoring, S. 66 f f ; Sukopp/Sukopp, Ökologische Langzeiteffekte der Verwilderung von Kulturpflanzen (Kurzfassung des Gutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 107; Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 193 f. 139 Baier/Vogel/Tappeser, Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, Forschungsbericht im Auftrag des Umweltbundesamtes, 2001, S. 22 f. In vier Studien, die das Department for Environment, Food and Rural Affairs (DEFRA) zum Auskreuzungspotential von Raps, Mais und Zuckerrüben für drei Jahre durchgeführt hat, zeigte sich, dass die Auskreuzungsdistanzen bisher unterschätzt wurden; näher dazu auf den Internetseiten www.defra. gov.uk/news/latest/2003/fseresults .htm. 140 Quist/Chapela, Transgenic DNA introgressed into traditional maize landraces in Oaxaca, Mexiko, NATURE 2001, S. 541 ff. 141 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 16. 142 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 17 m.w.N.
52
1. Teil: Grundlagen
det aber in all den Fällen aus, in denen die Früchte der betroffenen Pflanzen geerntet werden sollen.143 Im TA-Verfahren wird eine größere Wahrscheinlichkeit der Auskreuzung und Verwilderung einer transgenen (herbizidresistenten) Pflanze im Vergleich zu einer Pflanze, die durch konventionelle Züchtung oder auf natürlichem Wege (z. B. durch Mutation) dieses Merkmal erhalten hat, verneint. Das ökologische Verhalten und damit auch das Verwilderungsrisiko einer Pflanze sei anhand der Eigenschaften einer Pflanze, d.h. anhand des Phänotyps, und nicht anhand der tatsächlichen genetischen Zusammensetzung, d.h. anhand des Genotyps, zu bestimmen.144 Für die Verwilderung beispielsweise einer Pflanze mit Herbizidresistenz 145 spiele es keine Rolle, ob die Herbizidresistenz durch konventionelle Züchtung oder gentechnisch hergestellt oder auf natürlichem Wege entstanden ist.146
d) Evolutionäre
Risiken
Als evolutionäre Risiken werden nachteilige Wirkungen transgener Pflanzen auf die Vielfalt natürlicher Arten und Lebensgemeinschaften diskutiert. Evolutionäre Risiken sind in einer langfristigen Perspektive zu betrachten und mit deren Auftreten ist erst nach Jahrhunderten oder Jahrtausenden zu rechnen. Ein evolutionäres Risiko transgener Pflanzen wird in der durch die Gentechnik ermöglichten Durchmischung der Erbinformation über Artgrenzen hinweg gesehen. Dadurch würden evolutionär gewachsene Differenzierungen der Organismen (Dedifferenzierung) aufgelöst, die die Natur im Laufe der Evolution durch Schaffung von Kreuzungsbarrieren verhindert hat.147 Außer143
Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 193 f. Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert/Sukopp, Verwilderung transgener HR-Pflanzen: Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 110. 145 Im TA-Verfahren gelangte man zu dem Ergebnis, dass infolge des Anbaus herbizidresistenter Pflanzen mit einer Auskreuzung und einer folgenden Verwilderung transgener (herbizidresistenter) Pflanzen mit neuen transgenen Unkrautformen gerechnet werden muss, die sich auf landwirtschaftlich genutzte Flächen ausbreiten können; Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert/Sukopp, Verwilderung transgener HR-Pflanzen: Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 109, 112. 144
146
Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert/Sukopp, Verwilderung transgener HR-Pflanzen: Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 110. 147 Weber, Evolutionsbiologische Argumente in der Risikodiskussion am Beispiel der transgenen herbizidresistenten Pflanzen, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.),
1. Kap.: Biologische Grundlagen
53
dem wird befürchtet, dass transgene Pflanzen das evolutionäre Geschehen dadurch beeinflussen, dass sie im Falle einer gentechnisch vermittelten höheren Fitness andere Pflanzen verdrängen. 148 In den Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens heißt es allgemein zur Befürchtung evolutionärer Risiken infolge des Einsatzes gentechnisch veränderter Pflanzen, dass die denkbaren möglichen Auswirkungen der Einfuhrung gentechnisch veränderter Kulturpflanzen auf zukünftige evolutionäre Prozesse ebenso wenig vorhersehbar und bestimmbar sind wie die denkbaren Auswirkungen konventionell gezüchteter Pflanzen auf die Evolution.149 Die befürchtete Dedifferenzierung wird sogar als ein Vorteil der Anwendung gentechnischer Verfahren gesehen, denn dadurch werde der Genpool der Pflanzenpopulation gerade erweitert und die genetische Vielfalt innerhalb einer Art neh-
2. Gesundheitliche Risiken der Anwendung der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelsektor a) Die Grundlagen einer Eigenschaftsveränderung einer gentechnisch veränderten Pflanze oder eines gentechnisch veränderten Lebensmittels
Insbesondere die in einem gentechnisch veränderten Organismus möglichen Kontextstörungen und Positionseffekte können zu neuen Eigenschaften einer Pflanze oder eines Lebensmittels fuhren, die dann gegebenenfalls gesundheitliche Auswirkungen haben. Bei einer Kontextstörung handelt es sich um eine Beeinflussung des genomischen Kontexts des Empfangerorganismus am oder in der Umgebung des Einbauortes der Fremd-DNA. 151 Unter Positionseffekten versteht man, dass ein und dasselbe Gen in Abhängigkeit vom Ort seines Einbaus - u.a. wegen des
Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 63; Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 283. 148 Weber, Evolutionsbiologische Argumente in der Risikodiskussion am Beispiel der transgenen herbizidresistenten Pflanzen, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 63. 149 Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert/Sukopp, „Evolutionäre Risiken" durch transgene HR-Pflanzen? Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 114 f. 150
Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Döbert/Neubert/Siewert/Sukopp,
„Evolutio-
näre Risiken" durch transgene HR-Pflanzen? Schlussfolgerungen des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 116. 151 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 283 f.
54
1. Teil: Grundlagen
unterschiedlichen Einflusses der umgebenden Gene - verschiedene eigene Aktivität haben kann.152 Ein typischer Positionseffekt ist, dass der Integrationsort des neu eingebauten Gens große Auswirkungen auf die Höhe der Genexpression hat.153 Da einzelne Gene auch für die Ausbildung mehrerer verschiedener Merkmale oder Eigenschaften des Organismus verantwortlich sein können, kann infolge der Übertragung eines Gens in einen Organismus trotz der intendierten Veränderung nur eines Merkmals eine - oftmals unvorhergesehene - Veränderung mehrerer Merkmale auftreten (sog. pleiotrope Effekte). 154 Positionseffekte können folglich zu unterschiedlichen Eigenschaftsveränderungen beim gentechnisch veränderten Organismus führen. Die Vermutung, dass die - auch natürlicherweise auftretenden - Kontextstörungen und Positionseffekte bei einer gentechnischen Veränderung mit besonderen Risiken verbunden sind, beruht auf der Überlegung, dass es für die für den Organismus fremden Transgene im Empfangergenom keinen „passenden" Integrationsort gibt.155 Im TA-Verfahren war im Hinblick auf gentechnisch veränderte Pflanzen unbestritten, dass infolge der nicht zielgerichtet erfolgenden Integration gentechnisch eingebrachter Gene in Abhängigkeit vom jeweiligen Integrationsort Positionseffekte und Kontextstörungen auftreten können.156 Der Ableitung gentechnikspezifischer Risiken daraus wird aber entgegengehalten, dass Kontextstörungen und Positionseffekte kein Spezifikum gentechnisch veränderter Pflanzen seien, sondern einen Vorgang beschrieben, der sowohl bei der natürlichen sexuellen Vermehrung und im Evolutionsgeschehen vorkomme und mit dem auch infolge züchterischer Eingriffe zu rechnen sei.157 Als mögliche Auslöser für natürlich bewirkte Kontextstörungen werden pflanzliche Trans152
Weber, Evolutionsbiologische Argumente in der Risikodiskussion am Beispiel der transgenen herbizidresistenten Pflanzen (Kurzfassung des Gutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 60 f. 153 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 284 m.w.N. 154 Öko-Institut e.V., Gentechnik-Nachrichten Speziai 6, Februar 2001, Pleiotrope und Postitionseffekte - ungewollte Effekte der Gentechnik, S. 1 f.; Tappeser, Die Risiken der Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 77. 155 Weber, Evolutionsbiologische Argumente in der Risikodiskussion am Beispiel der transgenen herbizidresistenten Pflanzen (Kurzfassung des Gutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 60 f. 156 Heyer/Saedler/Willmitzer, Zu den evolutionsbiologischen Aspekten transgener herbizidresistenter Pflanzen (Kurzfassung des Kommentargutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 70. 157 Heyer/Saedler/Willmitzer, Zu den evolutionsbiologischen Aspekten transgener herbizidresistenter Pflanzen (Kurzfassung des Kommentargutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 70.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
55
posonen (springende Gene) genannt, die ihren Ort beliebig in einem Pflanzengenom ändern und dabei Anlass zu Kontextstörungen geben.158 Die klassische Pflanzenzüchtung macht sich die natürliche Variabilität von Genomen auch gezielt zunutze, indem durch Röntgenstrahlung oder chemische Agenzien die Auflösung von genomischen Kontexten bewirkt wird, um neue Eigenschaften der Pflanze hervorzubringen. 159 Man könnte demnach meinen, dass Kontextstörungen und Positionseffekte bei gentechnisch veränderten Organismen kein Spezifikum der Gentechnik sind.160 Dabei bliebe aber unberücksichtigt, dass allein bei der gentechnischen Veränderung genetische Information aus nicht-kreuzbaren anderen Organismen übertragen wird und dass die Folgen der dadurch gegebenenfalls eingeleiteten Positionseffekte und Kontextstörungen eine Besonderheit der Gentechnik bedeuten.161
b) Entstehung von toxischen und allergenen
Inhaltsstoffen
Als gesundheitliches Risiko der Anwendung der Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung wird die Entstehung von toxischen und allergenen Inhaltsstoffen betrachtet. Toxische und allergene Inhaltsstoffe können sowohl bei der gentechnischen Veränderung von Pflanzen als auch bei der gentechnischen Veränderung von Mikroorganismen, die u.a. in der Lebensmittelherstellung eingesetzt werden, entstehen. Als Ursprungsquelle toxischer oder allergener Wirkung transgener Organismen kommen grundsätzlich die eingeführte DNA bzw. deren Genprodukte und unerwartete Sekundäreffekte in Betracht. Eine toxische oder allergene Wirkung der transgenen DNA wird allerdings als vernachlässigbar gering angesehen, weil Nukleinsäuren chemisch sehr einheitlich sind und von jeher zur 158 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 283 f. 159 Heyer/Saedler/Willmitzer, Zu den evolutionsbiologischen Aspekten transgener herbizidresistenter Pflanzen (Kurzfassung des Kommentargutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 69 f f 160 So auch Heyer/Saedler/Willmitzer, Zu den evolutionsbiologischen Aspekten transgener herbizidresistenter Pflanzen (Kurzfassung des Kommentargutachtens), in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 69 ff. 161 Anders Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Broer/Döbert/Neubert/Siewert, Die „besondere Qualität" des gentechnischen Eingriffs, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 121, die die Besonderheit, dass nur bei einer genetischen Übertragung von Erbmaterial in die Empfängerpflanze genetische Information aus nicht-kreuzbaren anderen Organismen übertragen werden kann, nicht in den Risikovergleich einbeziehen, da „der Inhalt der Information nur für das Genprodukt und dessen Folgen relevant [ist], nicht für die Änderung der Genomorganisation".
56
1. Teil: Grundlagen
täglichen Nahrung des Menschen gehören.162 Anderes gilt für die durch die eingeführte DNA gebildeten Genprodukte, die toxische und - insbesondere wenn es sich dabei um Proteine handelt - allergene Wirkung zeigen können. Bei gentechnisch veränderten Organismen können die Genprodukte außerdem infolge von Positionseffekten und Kontextstörungen163 Sekundäreffekte hervorrufen, die zu unbeabsichtigten physiologischen Veränderungen im transgenen Organismus und infolgedessen zur Bildung toxischer und allergener Inhaltsstoffe führen. 164 Eine akute oder chronische Toxizität gentechnisch veränderter Pflanzen oder Lebensmittel ist bislang nicht aufgetreten. 165 Bekannt geworden ist allerdings ein Fall, bei dem 27 Menschen nach der Einnahme eines von gentechnisch veränderten Bakterienstämmen produzierten Eiweißbausteins verstarben. Trotz 99,6%iger Reinheit des Endprodukts hatte die verbleibende Verunreinigung die Erkrankung von 1500 Verbrauchern sowie die genannten Todesfälle zur Folge. Allerdings ist bis heute ungeklärt, auf welche Ursache die gravierenden Krankheitserscheinungen zurückzuführen sind. Als Ursache kommen die durch die gentechnische Veränderung provozierten Nebeneffekte oder Veränderungen im anschließenden Reinigungsprozess in Betracht.166 Der Fall, dass durch die gentechnische Übertragung eines Gens ein bekanntes Allergen in eine andere Nahrungsmittelpflanze überführt wurde, ist bisher erst einmal aufgetreten. 167 Ein in Sojabohnen transferiertes Gen aus der 162
Stirn, Gesundheitliche Risiken, in: Schütte/Stirn/Beusmann, Transgene Nutzpflanzen: Sicherheitsforschung, Risikoabschätzung und Nachgenehmigungs-Monitoring, S. 20; näher dazu Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 188. 163 Vgl. soeben a). 164 Van den Daele/Pühler/Sukopp/Bora/Broer/Döbert/Neubert/Siewert, Nahrungsmittelrisiken bei gentechnisch erzeugten und bei konventionell gezüchteten Pflanzen: Schlußfolgerungen des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 81. 165 Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring ,,Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 24. Die mögliche Toxizität einer gen^echnisch veränderten Nahrungsmittelpflanze oder des Lebensmittels wird nach dem Konzept der substanziellen Äquivalenz abgeschätzt. Das Konzept beruht auf dem Vergleich eines neuartigen transgenen Lebensmittels mit einem konventionellen (nicht-transgenen) Lebensmittel. Näher zu diesem Konzept und der verschiedentlich daran geäußerten Kritik: Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung, Monitoring „Risikoabschätzung und Nachzulassungs-Monitoring transgener Pflanzen", BT-Drcks. 14/5492, S. 23 f. 166 Näher dazu Tappeser, Die Risiken der Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 78. 167 Nordlee u.a., Identification of a Brazil-nut allergen in transgenic soybeans, in: The New England Journal of Medicine 1996, S. 688 - 692. OECD Documents 1996, S. 151-155.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
57
Paranuss übertrug eines der Hauptallergene der Paranuss. Die Entwicklung dieser Sojabohnensorte wurde daraufhin nicht weitergeführt.
c) Gesundheitsrisiken
durch
Antibiotikaresistenzgene
Ein weiteres Gesundheitsrisiko wird in dem bei einer gentechnischen Veränderung grundsätzlich vorgenommenen Einsatz von Antibiotikaresistenzgenen gesehen. Es wird befurchtet, dass die der transgenen Pflanze 168 und dem gentechnisch veränderten Mikroorganismus als Marker eingeführten Antibiotikaresistenzgene über einen horizontalen Gentransfer aus der Nahrung auf pathogene Mikroorganismen übertragen werden und so antibiotikaresistente Mikroorganismen entstehen.169 Dies würde sich vor allem dann nachteilig bemerkbar machen, wenn hierdurch Antibiotika, die in der Human- oder in der Tiermedizin verwendet werden, durch Resistenzentwicklung der pathogenen Keime ihre Wirkung verlieren. 170 Unabhängig davon, wie groß dieses Risiko wirklich ist,171 wird gefordert, dass gentechnisch veränderte Organismen in Zukunft keine Markergene mit Antibiotikaresistenzen mehr enthalten dürfen, um unnötige Risiken zu vermeiden und um einer mangelnden Akzeptanz gentechnisch veränderter Produkte vorzubeugen. Der Forderung ist in der novellierten europäischen Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG Rechnung getragen worden. Die Richtlinie sieht eine schrittweise Einstellung der Verwendung von Antibiotikaresistenzmarkern bei gentechnisch veränderten Organismen bis Ende 2004 (für ein Inverkehrbringen) bzw. 2008 (für Freisetzungen) vor.
168
Im Hinblick auf transgene Pflanzen konnte bis heute kein Nachweis geführt werden, dass ein Transfer eines Antibiotikaresistenzgens von einer Pflanze auf Bakterien unter natürlichen Bedingungen, zum Beispiel im Magen-Darm-Trakt von Tieren oder Menschen oder beim Streuabbau, erfolgt. Daraus lässt sich ableiten, dass ein solcher Transfer - wenn überhaupt - nur mit äußerst geringer Wahrscheinlichkeit oder unter sehr speziellen Randbedingungen stattfinden kann. Möglicherweise existiert jedoch zur Zeit auch kein geeignetes Verfahren, einen solchen Transfer nachzuweisen (z. B. geeignete Magen-Darm-Modelle); Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, Tz. 793 m.w.N. 169 Siehe dazu soeben 1. b). 170 Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen, Umweltgutachten 1998, S. 280. 171 Das Risiko eines Gentransfers von gentechnisch veränderten Organismen auf menschliche Körperzellen wird überwiegend als gering angesehen, weil die DNA den Magen-Darm-Trakt kaum in reproduktionsfähiger Form erreiche; Kempken/Kempken, Gentechnik bei Pflanzen, S. 195 f.
58
1. Teil: Grundlagen
3. Wirtschafts- und gesellschaftspolitische Risiken Die Anwendung der Gentechnik birgt zudem wirtschafts- und gesellschaftspolitische Risiken. Ein solches Risiko offenbart sich beispielsweise bei einer Betrachtung der wirtschaftlichen Nutzung der Gentechnik durch agrochemische Großkonzerne, die in den letzten Jahren in großem Maße durch den Zusammenschluss von Unternehmen der chemischen Industrie und Saatgutfirmen entstanden sind. Die Konzerne lassen sich gentechnisch verändertes Saatgut, z. B. Saatgut einer herbizidresistenten Pflanze, patentieren und verkaufen es den Landwirten in einem Produktpaket zusammen mit der einzusetzenden Chemikalie, z. B. dem Komplementärherbizid. Der Landwirt muss dabei zusätzlich pro Kilogramm Saatgut eine Patentgebühr, die als „Technologiegebühr" bezeichnet wird, bezahlen. Außerdem wird der Nachbau, d.h. die Nutzung eines Teils der geernteten Saaten für die nächste Aussaat, grundsätzlich entweder vertraglich oder tatsächlich über die Entwicklung von Pflanzen, deren Samenkörner nicht auskeimen („Terminator-Technologie"), verhindert. Von der Anwendung der „Terminator-Technologie" und die damit einhergehende Verhinderung eines Nachbaus sind insbesondere Landwirte der Schwellen- und Entwicklungsländer betroffen. Denn in diesen Ländern ist der Nachbau noch üblich. Der Zwang der Landwirte dieser Länder, auf den Nachbau zu verzichten und gegen Zahlung einer Lizenzgebühr lizensiertes Saatgut anzubauen, kann für diese angesichts der von ihnen im Verhältnis zu einem Landwirt eines Industrielandes erwirtschafteten geringeren Erträge wirtschaftliche Nachteile bedeuten.172 Ein Risiko mit wirtschafts- und gesellschaftspolitischem Ausmaß ist auch darin zu sehen, dass Eigenschaften von Pflanzen, deren genetischer Ursprung entschlüsselt und damit reproduzierbar wird, mit einem Patent belegt werden können.173 Ein Problem ist dabei darin zu sehen, dass Industrieunternehmen sich die Rechte für Pflanzengene sichern, deren Eigenschaften gegebenenfalls schon lange bekannt sind und - z. B. von Naturvölkern - genutzt werden. Ein weiteres wirtschafts- bzw. gesellschaftspolitisches Risiko der Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft besteht darin, dass mit der Entscheidung für einen weiträumigen Einsatz gentechnisch veränderter Pflanzen eine Vorentscheidung in der Frage, welche Art von Landwirtschaft zukünftig 172
In den nördlichen Industriestaaten spielt der Saatgutnachbau keine bedeutende Rolle mehr, weil viele Hochertragssorten nur noch als Hybridsaatgut, das im Nachbau schlechtere Erträge bringt, im Angebot sind; Engelbert/Ulmer/Laskien, Gentechnik in Lebensmitteln - Ein kritischer Ratgeber für Verbraucher, S. 197 ff.; siehe auch Busch/Haniel/Knoepffler/Wenzel, Grüne Gentechnik - Ein Bewertungsmodell, S. 74 f. 173 Ruby , Kampf ums Korn, Die Zeit vom 9.8.2002.
1. Kap.: Biologische Grundlagen
59
dominierend sein wird, getroffen sein könnte. Denn durch den Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen könnte in der Umgebung des Anbaugebietes ein gentechnikfreier konventioneller und ökologischer Anbau unmöglich werden. Der ökologischen Landwirtschaft würde dadurch sogar die Existenzgrundlage entzogen.174 Aus gesellschaftspolitischer Sicher wäre dabei zu kritisieren, dass der von einem Großteil der Verbraucher getragene Wunsch nach gentechnikfreien Lebensmitteln damit nicht mehr zu gewährleisten wäre.
III.
Schlussfolgerungen
In der Arbeit wird im Folgenden davon ausgegangen, dass die Risiken der gentechnischen Veränderung von Pflanzen und der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung nicht durch einen Risikovergleich „normalisiert" werden können. Gegen die Möglichkeit einer solchen „Normalisierung" spricht insbesondere, dass allein mit der Gentechnik Artgrenzen überschritten werden können. Die von der Anwendung der Gentechnik ausgehenden Risiken, wie zum Beispiel Risiken für das evolutionäre Geschehen, sind aufgrund dieser Eigenart der Gentechnik für sich betrachtet zu beurteilen. Die Anwendung der Gentechnik muss deshalb von einer eigenen Sicherheitsphilosophie getragen sein.175 Der Realisierung der Risiken muss weitestgehend vorgebeugt werden. So müssen zum Beispiel ausreichende Sicherheitsvorkehrungen gegen Auskreuzungen getroffen werden, um einerseits die von Auskreuzungen zu erwartenden negativen Folgen für die Umwelt zu verhindern und andererseits die Möglichkeit, eine gentechnikfreie konventionelle oder ökologische Landwirtschaft zu betreiben, zu gewährleisten. Eine weitere Notwendigkeit dieser Sicherheitsvorkehrungen ist, dass die Unternehmer dazu verpflichtet werden, die Verbraucher grundsätzlich über die Verfahrens- und Produkteigenschaften der gentechnisch veränderten Pro-
174
Siehe zum Beispiel die aus Kanada bekannt gewordenen Fälle, wonach Biobauern auf den Anbau von Raps, einer wichtigen Pflanze der Fruchtfolge, die zudem sehr gewinnbringend ist, verzichten mussten, weil Auskreuzungen von benachbarten GenRaps-Feldern aufgetreten waren. 175 Auch im TA-Verfahren, in dem ein gentechnikspezifisches Risiko - wie gesehen - abgelehnt wurde, werden trotzdem „Sicherheitszuschläge für die Neuheit transgener Pflanzen" für erforderlich gehalten: Van den Daele/Pühler/Sukopp, Zusammenfassung der Ergebnisse des TA-Verfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 51.
60
1. Teil: Grundlagen
dukte zu informieren. 176 Zur Information der Verbraucher eignet sich dabei am besten die Lebensmittelkennzeichnung.
Zweites
Kapitel
Rechtsgrundlagen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel Eine gemeinschaftsrechtliche Regelung gentechnisch veränderter Lebensmittel begann Anfang der 90er Jahre, nachdem durch die raschen Fortschritte in der Gentechnik und das wachsende Bedürfnis der Lebensmittelwirtschaft nach dem Einsatz gentechnischer Verfahren eine grundsätzliche Regelung der Anwendung der Gentechnik notwendig wurde. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber erließ zunächst die Freisetzungsrichtlinie, dann die Novel FoodVerordnung mitsamt den sie ergänzenden Verordnungen und schließlich die Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel und die Verordnung über die RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung genetisch veränderter Organismen Die Kennzeichnungsregelungen gentechnisch veränderter
Lebensmittel haben dabei eine stetige Entwicklung erfahren. Bevor im Folgenden diese Entwicklung der Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel nachgezeichnet wird, sei noch einmal an die verschiedenen Möglichkeiten der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung erinnert: Einerseits die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung unter Zuhilfenahme gentechnisch veränderter Mikroorganismen und andererseits im Bereich der landwirtschaftlichen Produktion von Lebensmitteln aus transgenen Tieren und Pflanzen. Diese verschiedenen Möglichkeiten des Einsatzes der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und -Verarbeitung spiegeln sich im Gentechnikrecht und dort u.a. bei den Kennzeichnungspflichten in der Unterscheidung zwischen Lebensmitteln, die aus gentechnisch veränderten Organismen bestehen oder gentechnisch veränderte Organismen enthalten, Lebensmitteln, die „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt sind, und schließlich Lebensmitteln, die „mit" bzw. „mit Hilfe" gentechnisch veränderter Organismen hergestellt sind, wider.
176
Vgl. Van den Daele/Pühler/Sukopp, Zusammenfassung der Ergebnisse des TAVerfahrens, in: Van den Daele/Pühler/Sukopp (Hrsg.), Grüne Gentechnik im Widerstreit, S. 49.
. Kap.:
chrundlagen
61
Α. Entwicklung der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel I.
Freisetzungsrichtlinie
Als grundsätzliche Regelung der Anwendung der Gentechnik wurde auf europäischer Ebene zunächst die Freisetzungsrichtlinie 177 erlassen, die nach Art. 1 der Richtlinie die absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen in die Umwelt und das Inverkehrbringen genetisch veränderter Organismen als Produkt oder in Produkten in der Gemeinschaft regelt. Gentechnisch veränderte Lebensmittel waren nicht primärer Regelungsgegenstand der Richtlinie, wurden aber auch erfasst. Eine absichtliche Freisetzung gentechnisch veränderter Organismen ist nach Art. 2 Nr. 3 FreisetzungsRL jede Form von absichtlichem Ausbringen genetisch veränderter Organismen in die Umwelt, bei der keine spezifischen Einschließungsmaßnahmen angewandt werden, um ihren Kontakt mit der Bevölkerung und der Umwelt zu begrenzen. Freisetzungen erfolgen in der Praxis insbesondere in Form des landwirtschaftlichen Anbaus zu Forschungszwecken. Ein Inverkehrbringen liegt gemäß Art. 2 Nr. 4 FreisetzungsRL bei einer entgeltlichen oder unentgeltlichen Bereitstellung genetisch veränderter Organismen für Dritte vor. Das Inverkehrbringen umfasst sowohl den landwirtschaftlichen Anbau genetisch veränderter Pflanzen als auch die kommerzielle Vermarktung ζ. B. der genetisch veränderten Ernteprodukte oder genetisch veränderten Saatguts. In der Freisetzungsrichtlinie fand die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte erstmals gesetzliche Erwähnung. Nach Art. 11 Abs. 1 FreisetzungsRL 90/220/EWG musste dem Antrag auf Inverkehrbringen u.a. ein Vorschlag für die Etikettierung des Produkts beigefügt werden. Der Vorschlag musste bestimmte, im Anhang III der Richtlinie näher aufgeführte Informationen (ζ. B. Bezeichnung des Produkts und des darin enthaltenen GVO, Bezeichnung des Herstellers oder Vertreibers etc.) enthalten. Zusätzlich hatten die Mitgliedstaaten nach Art. 14 der Richtlinie sicherzustellen, dass Produkte, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, nur in den Verkehr gebracht werden, wenn u.a. die Etikettierung des Produkts den Anforderungen der Genehmigung zum Inverkehrbringen entspricht. Von diesen beiden - eine Kennzeichnungspflicht nicht ausdrücklich beinhaltenden - Regelungen wurde auf eine in der Freisetzungsrichtlinie verankerte Kenn177 Richtlinie 90/220/EWG des Rates vom 23. April 1990 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt, ABl. Nr. L 117 vom 8.5.1990, S. 15, kodifiziert durch die Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates, ABl. Nr. L 106 vom 17.4.2001, S. 1.
62
1. Teil: Grundlagen
Zeichnungspflicht für gentechnisch veränderte Produkte geschlossen.178 In der Neufassung der Freisetzungsrichtlinie durch die Richtlinie 2001/18/EG179 ist nach Art. 19 Abs. 3 e) vorgeschrieben, dass die Zustimmung zum Inverkehrbringen eines GVO als Produkt oder in Produkten Kennzeichnungspflichten festsetzen muss. Der Inverkehrbringer ist u.a. dazu zu verpflichten, die Worte „ Dieses Produkt enthält genetisch veränderte Organismen " auf einem Etikett oder einem Begleitdokument zum Produkt anzugeben.180
II. Novel
Food-Verordnung
Die ersten speziell gentechnisch veränderte Lebensmittel erfassenden gesetzlichen Vorschriften ergingen in Form der Verordnung 258/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten (Novel Food-Verordnung) 181. Die Anwendbarkeit der Novel Food-Verordnung auf gentechnisch veränderte Lebensmittel ist allerdings mit der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel, die eine Spezialregelung für gentechnisch veränderte Lebensmittel schafft, aufgehoben worden. Die Novel FoodVerordnung ist deshalb nur noch anwendbar auf sonstige neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die in der Gemeinschaft bisher noch nicht in nennenswertem Umfang für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und die unter eine in der Novel Food-Verordnung genannte Gruppe von Erzeugnissen fallen. Die Kennzeichnungsregelung der Novel Food-Verordnung erwies sich schon im Gesetzgebungsverfahren als die umstrittenste Frage der Verordnung.182 Umstritten war dabei bereits der grundlegende Ansatz, der der Kennzeichnungsregelung zugrunde liegen sollte. Insbesondere das Europäische
178 Vgl. Schenek, Das Gentechnikrecht der Europäischen Gemeinschaft, S. 160; so im Ergebnis auch Kameke, Gemeinschaftliches Gentechnikrecht: Die Freisetzungsrichtlinie 90/220/EWG, S. 86 f. 179 Richtlinie 2001/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. März 2001 über die absichtliche Freisetzung genetisch veränderter Organismen in die Umwelt und zur Aufhebung der Richtlinie 90/220/EWG des Rates, ABl. Nr. L 106 vom 17.4.2001, S. 1. 180 Art. 13 Abs. 2 f), 19 Abs. 3 e) i.V.m. Anhang IV A.8. FRL 2001/18/EG. 181 Verordnung 258/97/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997 über neuartige Lebensmittel und neuartige Lebensmittelzutaten ABl. Nr. L 43 vom 14.2.1997, S. 1 (Novel Food-Verordnung, NFV). 182 So Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 146; Streinz, Allgemeine Voraussetzungen und Fragen zur Kennzeichnung von Novel Food, ZLR 1998, 53 ff. (53).
. Kap.:
chrundlagen
63
Parlament forderte, der Kennzeichnungsregelung der Novel Food-Verordnung einen verfahrensbezogenen Ansatz (process approach) zugrunde zu legen, wonach eine Kennzeichnungspflicht durch die Anwendung eines bestimmten Verfahrens und unabhängig von der Produktzusammensetzung ausgelöst wird. Bezogen auf gentechnisch veränderte Lebensmittel wäre die Kennzeichnung eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat danach allein schon aufgrund der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung und damit unabhängig von etwaigen stofflichen Veränderungen im Endprodukt erforderlich gewesen.183 Die Kommission lehnte eine solche verfahrensbezogene und technologiespezifische Etikettierung insbesondere im Hinblick auf gentechnisch hergestellte Lebensmittel ab, weil die Biotechnologie ihrer Ansicht nach durch solche Bestimmungen stigmatisiert würde und der Verbraucher auch nur wenig nützliche Informationen erhalte.184 Im Vorschlag der Europäischen Kommission war dementsprechend vorgesehen, dass eine - über die Anforderungen der Etikettierungsrichtlinie hinausgehende - Kennzeichnung eines Lebensmittels oder einer Lebensmittelzutat nur dann erforderlich sei, wenn das neuartige Lebensmittel oder die neuartige Lebensmittelzutat in ihren Merkmalen signifikant von herkömmlichen Lebensmitteln abweichen.185 Die Europäische Kommission verfolgte damit einen merkmalsbezogenen Ansatz (product approach), wonach die Kennzeichnungspflicht daran anknüpft, dass sich ein neuartiges Lebensmittel in seinen Merkmalen substanziell von herkömmlichen Lebensmitteln unterscheidet. Gentechnisch hergestellte Lebensmittel sind nach einem solchen merkmalsbezogenen Ansatz der Kennzeichnung nur kennzeichnungspflichtig, wenn sie sich substanziell von herkömmlichen Lebensmitteln unterscheiden. Der Kennzeichnungsregelung der Novel Food-Verordnung nach Art. 8 NFV wurde schließlich ein merkmals- bzw. nachweisbezogener Ansatz zugrunde gelegt. Dabei wurde allerdings nicht die von der Europäischen Kommission vorgeschlagene nachweisbezogene Kennzeichnungspflicht übernommen. Eine Kennzeichnungspflicht nach der Novel Food-Verordnung besteht nämlich bereits bei einer fehlenden Gleichwertigkeit des neuartigen Lebensmittels und nicht erst - entsprechend dem Vorschlag der Kommission - bei einer signifikanten Abweichung des Lebensmittels von herkömmlichen Lebensmitteln. Für die Frage der Kennzeichnung speziell gentechnisch hergestellter Lebensmittel führte die Kennzeichnungsregelung der Novel Food183
Stellungnahme des Parlaments vom 27.10.1993, in: ABl. Nr. C 315 vom 22.11.1993, S. 139. Die Forderung, der Kennzeichnungsregelung der Novel FoodVerordnung einen verfahrensbezogenen Ansatz zugrunde zu legen, wurde auch von einigen Mitgliedstaaten der EU (siehe zum Beispiel Deutschland (BR-Drs. 550/1/92 S. 2 ff.)) gefordert. 184 Europäische Kommission, K O M (93) 631 endg. - COD 426, S. 3. 185 Europäischen Kommission, K O M (93) 631 endg. - COD 426, S. 3, 10.
64
1. Teil: Grundlagen
Verordnung zu folgenden Ergebnissen: Stets waren gemäß Art. 8 Abs. 1 d) im Lebensmittel vorhandene gentechnisch veränderte Organismen zu kennzeichnen; so zum Beispiel die Flavr-Savr-Tomate, die selbst ein gentechnisch veränderter Organismus ist, oder ein aus gentechnisch verändertem Mais hergestelltes Maisprodukt. Nicht zu kennzeichnen waren hingegen Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, die trotz der Herstellung aus gentechnisch veränderten Organismen im Endprodukt keine nachweisbare transgene DNA mehr enthielten. Im Ergebnis bedeutete diese merkmalsbezogene Kennzeichnungsregelung der Novel Food-Verordnung, dass viele gentechnisch hergestellte Lebensmittel danach keiner Kennzeichnungspflicht unterlagen. Dazu gehörten zum einen die Lebensmittel, die mit Hilfe gentechnisch veränderter Organismen hergestellt werden, solche aber nicht enthalten. Dies sind insbesondere die mit gentechnisch produzierten Enzymen hergestellten Lebensmittel.186 So waren zum Beispiel aus dem gentechnisch hergestellten Enzym Chymosin hergestellter Käse oder aus dem gentechnisch erzeugten Enzym Amylase hergestelltes Brot nach der Novel Food-Verordnung nicht kennzeichnungspflichtig. Die Entscheidung, diese Lebensmittelgruppe nicht der Kennzeichnungspflicht der Novel Food-Verordnung zu unterstellen, ist insofern sehr bedeutsam, als Enzyme bereits gentechnisch hergestellt und in der Lebensmittelherstellung eingesetzt werden.187 Zum anderen waren auch Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen zwar noch enthalten, bei denen die transgene DNA aber nicht nachgewiesen werden kann, nach der Novel Food-Verordnung nicht kennzeichnungspflichtig. Die Nachweisbarkeit transgener DNA im Endprodukt kann insbesondere daran scheitern, dass die DNA infolge der Verarbeitung des Produktes zerstört oder verändert ist. Grundsätzlich nicht kennzeichnungspflichtig waren deshalb unter hohen Temperaturen oder hohem Druck hergestellte Produkte. Dazu gehören beispielsweise raffinierte Öle aus gentechnisch veränderter Soja oder aus gentechnisch verändertem Mais sowie Stärke und Stärkeprodukte aus gentechnisch verändertem Mais oder aus einer gentechnisch veränderten Zuckerrübe gewonnener Zucker, in dem sich infolge der Raffinade grundsätzlich keine transgene DNA mehr nachweisen lässt. Ein zusätzliches Problem wurde darin gesehen, dass es in der Gemeinschaft an einheitlich angewendeten Analyse- und Nachweismethoden fehlt 188 und dass auch die verfugbaren Nachweismethoden Mängel besitzen. So können beispielsweise bei dem überwiegend angewandten Nachweisverfahren (PCR-
186
Hierzu vergleiche die Ausführungen im ersten Teil dieser Arbeit, 1. Kapitel, B.
I. a). 187
Hierzu vergleiche die Ausführungen im ersten Teil dieser Arbeit, 1. Kapitel, B.
I. L a ) . 188
Loosen, Zur Kennzeichnung neuartiger Lebensmittel, ZLR 2000, 434 if. (439).
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
65
Analyse) nur bekannte Gensequenzen und nicht im Lebensmittel zufallig vorhandene gentechnisch veränderte Organismen, deren Gensequenz nicht bekannt ist, nachgewiesen werden. Und außerdem fehlt es an erforderlichen empfindlichen Nachweisverfahren, um geringe Spuren transgener DNA im Produkt nachzuweisen. Soweit ein unter Anwendung gentechnischer Verfahren hergestelltes Lebensmittel nicht nach der gentechnikspezifischen Kennzeichnungsregelung des Art. 8 Abs. 1 d) NFV kennzeichnungspflichtig war, kam nur noch eine nicht gentechnikspezifische Kennzeichnung nach den im übrigen nach der Novel Food-Verordnung für neuartige Lebensmittel geltenden Kennzeichnungsvorschriften in Betracht. Für die Art und Weise der Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel enthielt die Novel Food-Verordnung keine besonderen Vorgaben, so dass darüber im Rahmen der Zulassung und jeweils im Einzelfall entschieden werden musste.189 Als mögliche Kennzeichnungen gentechnisch veränderter Lebensmittel wurden zum Beispiel die Angaben „ Gentechnisch verändert„Mit
moderner
Biotechnologie
ernährungsphysiologisch
oder der in den Niederlanden gebräuchliche Hinweis „ Hergestellt 190 ren der modernen Biotechnologie " diskutiert.
III
Ergänzende
Verordnungen
zur Novel
optimiert" mit Verfah-
Food-Verordnung
Schon bald nach Erlass der Novel Food-Verordnung offenbarten sich in Bezug auf gentechnisch veränderte Lebensmittel ungewollte Anwendbarkeitslükken der Verordnung. Deshalb wurde die Novel Food-Verordnung schon bald durch die Verordnung 1139/98/EG191 und die Verordnung 50/2000/EG192 ergänzt. Die Verordnung 1139/98/EG enthielt spezielle Kennzeichnungsvorschriften für bestimmte Sorten genetisch veränderter Sojabohnen und gene-
189
Vgl. Grube, Verbraucherschutz durch Lebensmittelkennzeichnung?, S. 227. Streinz, Allgemeine Voraussetzungen und Fragen zur Kennzeichnung von Novel Food, ZLR 1998, 53 ff. (58). 191 Verordnung 1139/98/EG des Rates vom 26. Mai 1998 über Angaben, die zusätzlich zu den in der Richtlinie 79/112/EWG aufgeführten Angaben bei der Etikettierung bestimmter aus genetisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel vorgeschrieben sind, ABl. Nr. L 159 vom 3.6.1998, S. 4, geändert durch Verordnung 49/2000/EG der Kommission vom 10. Januar 2000 zur Änderung der Verordnung 1139/98/EG, ABL Nr. L 6 vom 11.1.2000, S. 13. 192 Verordnung 50/2000/EG der Kommission vom 10. Januar 2000 über die Etikettierung von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten, die genetisch veränderte oder aus genetisch veränderten Organismen hergestellte Zusatzstoffe und Aromen enthalten, ABl. Nr. L 6 vom 11.1.2000, S. 15. 190
66
1. Teil: Grundlagen
tisch veränderten Mais, und die Verordnung 50/2000/EG regelte Kennzeichnungsvorschriften fur Lebensmittel, die genetisch veränderte Zusatzstoffe und Aromen enthalten und von der Novel Food-Verordnung nicht erfasst waren.
1. Pflicht zur Kennzeichnung aus gentechnisch veränderter Soja oder gentechnisch verändertem Mais hergestellter Lebensmittel und Lebensmittelzutaten Zum Zeitpunkt des Erlasses der Novel Food-Verordnung waren eine gentechnisch veränderte Sojabohnen-193 und eine gentechnisch veränderte Maissorte194 bereits zum Inverkehrbringen zugelassen. Die Europäische Kommission betrachtete daraus hergestellte Lebensmittel und Lebensmittelzutaten nicht als neuartig im Sinne der Novel Food-Verordnung, so dass diese nicht dem Anwendungsbereich und damit auch nicht den Kennzeichnungspflichten der Novel Food-Verordnung unterlagen. Da die Ausnahme gerade dieser in der Praxis besonders relevanten Produkte von der Kennzeichnungspflicht politisch kaum zu vermitteln gewesen wäre, erließ die Europäische Kommission - überraschender Weise zur Etikettierungsrichtlinie und nicht zur Novel Food-Verordnung - die Ergänzungsverordnung 1813/97/EG195, die später durch die VO 1139/98196 ersetzt wurde. Die Verordnung wird allerdings gemäß Art. 37 der Verordnung über genedie auch aus diesen Mais- und Sojasorten hergestellte Lebensmittel erfasst, aufgehoben. tisch veränderte Lebens- und Futtermittel,
Die Verordnung 1139/98 enthielt eine der Kennzeichnungsregelung der Novel Food-Verordnung entsprechende Sonderregelung für die Kennzeichnung von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten, die ganz oder teilweise aus 193 Entscheidung der Kommission vom 3.4.1996 über das Inverkehrbringen genetisch veränderter Sojabohnen (Glycin max. L.) mit erhöhter Verträglichkeit des Herbizids Glyphosat nach der Richtlinie Nr. 90/220/EWG des Rates, ABl. EG 1996 Nr. L 107, S. 10. 194 Entscheidung Nr. 97/98/EG der Kommission vom 23.1.1997 über das Inverkehrbringen von genetisch verändertem Mais (Zea Mais L.) mit der kombinierten Veränderung der Insektizidwirkung des BT-Endotoxin-Gens und erhöhter Toleranz gegenüber dem Herbizid Glufosinatammonium, ABl. EG 1997 Nr. L 31, S. 69. 195 Verordnung 1813/97/EG der Kommission vom 19. September 1997 über Angaben, die zusätzlich zu den in der Richtlinie 79/112/EWG des Rates aufgeführten Angaben auf dem Etikett bestimmter aus genetisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel vorgeschrieben sind, ABl. Nr. L 257 vom 20.9.1997, S. 7. 196 Verordnung 1139/98/EG des Rates vom 26. Mai 1998 über Angaben, die zusätzlich zu den in der Richtlinie 79/112/EWG aufgeführten Angaben bei der Etikettierung bestimmter aus genetisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel vorgeschrieben sind, ABl. Nr. L 159 vom 3.6.1998, S. 4.
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
67
der bereits zugelassenen gentechnisch veränderten Sojabohnen- bzw. gentechnisch veränderten Maissorte hergestellt wurden. Kriterium für das Bestehen einer Kennzeichnungspflicht war ebenfalls, dass im Produkt gentechnisch veränderte DNA oder von solcher DNA exprimierte gentechnisch veränderte Proteine vorhanden waren. Lebensmittel und Lebensmittelzutaten, in denen gentechnisch veränderte DNA oder gentechnisch veränderte Proteine nicht mehr wissenschaftlich nachzuweisen waren, sollten allerdings gem. Art. 2 Abs. 2 Verordnung (EG) Nr. 1139/98 in einer besonderen „Negativliste" zusammengestellt werden.197 Darüber hinaus enthielt die Verordnung konkretisierende Angaben, wo und wie eine Etikettierung der Produkte aus gentechnisch verändertem Soja oder Mais erfolgen musste. Danach war die Kennzeichnung „ A u s genetisch veränderten Sojabohnen hergestellt" bzw. „Aus genetisch verändertem Mais hergestellt " entweder direkt hinter der Angabe der betreffenden Zutat oder in einer deutlich erkennbar angebrachten Fußnote zum Verzeichnis der Zutaten zu platzieren; Art. 2 Abs. 3 a) VO 1139/98/EG. Soweit ein Zutatenverzeichnis nicht vorhanden war, musste die Angabe an anderer Stelle deutlich ersichtlich sein, Art. 2 Abs. 3 b) VO 1139/98/EG. Mit dem Erlass der VO 49/2000/EG198 wurde die Verordnung 1139/98/EG durch eine Schwellenwertregelung ergänzt. Danach bedurften auch solche Produkte keiner Kennzeichnung, bei denen das Vorhandensein des genetisch veränderten Materials zufällig war, und es sich um geringe Mengen, nämlich solche unter 1% handelte. Die Verunreinigung musste bei aus mehreren Zutaten bestehenden Lebensmitteln in der jeweils betrachteten Zutat vorliegen und bei einem aus einer einzigen Zutat bestehenden Lebensmittel in eben dieser.199 Für aus mehreren Lebensmittelzutaten zusammengesetzte Lebensmittel bestand eine Kennzeichnungspflicht damit erst dann, wenn in mindestens einer Lebensmittelzutat eine genetische Verunreinigung von 1% erreicht ist; eine Verunreinigung mehrerer Zutaten, die insgesamt eine Verunreinigung von 1% bedeutet, hätte damit keine Kennzeichnungspflicht ausgelöst. Um die Zufälligkeit der Kontamination zu beweisen, musste der Inverkehrbringer gegenüber den zuständigen Behörden nachweisen, dass er geeignete Maßnahmen ergriffen hatte, um die Verunreinigung zu vermeiden.
197 Näher zu Sinn und Zweck einer solchen Negativliste Dederer, Kennzeichnung gentechnischer Lebensmittel, EWS 1999, 247 ff. (251). 198 Verordnung 49/2000/EG der Kommission vom 10. Januar 2000 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 1139/98 des Rates über Angaben, die zusätzlich zu den in der Richtlinie 79/112/EWG aufgeführten Angaben bei der Etikettierung bestimmter aus genetisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel vorgeschrieben sind, ABl. Nr. L 6 vom 11.1.2000, S. 13. 199 Vgl. Loosen, Zur Kennzeichnung neuartiger Lebensmittel, ZLR 2000, S. 434 ff. (448 f.).
68
1. Teil: Grundlagen
2. Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Zusatzstoffe und Aromen Die Verordnung 50/2000/EG200 wurde erlassen, um auch die von der Novel Food-Verordnung nicht erfassten genetisch veränderten oder aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Zusatzstoffe und Aromen einer Kennzeichnungspflicht zu unterstellen. Aus genetisch veränderten oder aus genetisch veränderten Organismen hergestellte Zusatzstoffe und Aromen fallen nunmehr in den Anwendungsbereich der Verordnung
über genetisch
veränderte
Lebens- und Futtermittel,
so dass
die VO 50/2000/EG gemäß Art. 37 VO genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel aufgehoben wird. Die Verordnung 50/2000/EG übernahm nahezu wortgleich die Kennzeichnungsbestimmungen des Art. 8 Novel Food-Verordnung und die im Rahmen der Verordnung 1139/98/EG erfolgten Konkretisierungen. Wesentliches Kriterium einer Kennzeichnungspflicht war damit auch nach der VO 50/2000/EG die Nachweisbarkeit gentechnisch veränderter Organismen im Zusatzstoff oder Aroma. 201 Eine Schwellenwertregelung für geringe Gehalte genetisch veränderter Bestandteile infolge zufalliger Verunreinigung enthielt die Verordnung 50/2000/EG nicht. Es wurde lediglich in der 17. Begründungserwägung der Verordnung darauf hingewiesen, dass eine zufällige Kontamination von Zusatzstoffen und Aromen durch transgene DNA oder Proteine, die aus einer gentechnischen Veränderung resultieren, nicht ausgeschlossen werden kann und deshalb geprüft werden sollte, ob durch die Festlegung eines Schwellenwertes vermieden werden kann, dass eine solche Kontamination eine besondere Etikettierung erforderlich macht.
200 Verordnung der Kommission vom 10. Januar 2000 über die Etikettierung von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten, die genetisch veränderte oder aus genetisch veränderten Organismen hergestellte Zusatzstoffe und Aromen enthalten (50/2000/EG), ABl. Nr. L 6 vom 11.1.2000, S. 15. 201 Der Nachweis, dass Zusatzstoffe und Aromen gentechnisch hergestellt sind, ist derzeit allenfalls bei wenigen, aus Mais- oder Sojarohstoffen hergestellten Zusatzstoffen oder Aromen möglich, so dass die meisten unter Anwendung der Gentechnik erzeugten Zusatzstoffe und Aromen nicht nach der Novel Food-Verordnung kennzeichnungspflichtig waren; Transgen, Kennzeichnung auch für Aromen und Zusatzstoffe, im Internet unter: www.transgen.de/Recht/Kennzeichnung/kennz_zusatz.html.
2. Kap.: Rechtsgrundlagen IV.
69
Negativ-Kennzeichnung
Die Möglichkeit einer Negativ-Kennzeichnung von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten, d.h. die Möglichkeit, die Abwesenheit gentechnisch veränderter Organismen und die Nichtanwendung gentechnischer Herstellungsverfahren beim Lebensmittel bzw. der Lebensmittelzutat auszulohen, fand erstmals ihre Erwähnung im 10. Erwägungsgrund der Novel Food-Verordnung und später auch im 20. Erwägungsgrund der Verordnung 1139/98/EG. Die gemeinschaftliche Gesetzgebung erschöpfte sich allerdings in diesen Erwähnungen, das heißt, der gemeinschaftliche Gesetzgeber regelte keine weiteren Voraussetzungen einer Negativ-Kennzeichnung. Daraus wurde darauf geschlossen, dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber von seinem Gesetzgebungsrecht keinen Gebrauch machen und die nähere Ausgestaltung der NegativKennzeichnung den Mitgliedstaaten überlassen wollte.202 Der deutsche Gesetzgeber ist der Möglichkeit zur Regelung der NegativKennzeichnung dadurch nachgekommen, dass er nachträglich durch eine Verordnung zur Änderung
der Neuartige
Lebensmittel-
und
Lebensmittelzutaten-
Verordnung 203 einen neuen Abschnitt über die „Kennzeichnung ohne Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellter Lebensmittel44 in die - zur Umsetzung der Novel Food-Verordnung erlassene204 - Neuartige Lebensmittelund Lebensmittelzutaten-Verordnung (NLV) 205 eingefügt hat. Seitdem ist nach
202
Vgl. Becker-Schwarze/ God t/S ch lacke, Umweltrecht und Gentechnik, ZUR 1999,
S. 2. 203 Erste Verordnung zur Änderung der Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung vom 13. Oktober 1998, BGBl. I S. 3167. 204 Gemeinschaftsrechtliche Verordnungen bedürfen grundsätzlich nicht der legislativen Umsetzung in nationales Recht, denn sie gelten grundsätzlich in jedem Mitgliedstaat unmittelbar. Abweichend von diesem Grundsatz bedarf eine gemeinschaftsrechtliche Verordnung aber ausnahmsweise einer Umsetzung in nationales Recht, wenn die Verordnung selbst ergänzende legislative Maßnahmen auf nationaler Ebene ausdrücklich vorsieht oder fur die eigene Durchführung voraussetzt. Nach der Novel FoodVerordnung sollen beispielsweise nationale Lebensmittelprüfstellen durch die Mitgliedstaaten bestimmt werden, und auch mit der Erwähnung der Möglichkeit einer Negativ-Kennzeichnung in der Novel Food-Verordnung wird den Mitgliedstaaten die Möglichkeit eröffnet, die rechtliche Ausgestaltung der Negativ-Kennzeichnung zu übernehmen. 205
Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten (Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung NLV) vom 19. Mai 1998, BGBl. I S. 1125, neu gefasst in der Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten und über die Kennzeichnung von Erzeugnissen aus gentechnisch veränderten Sojabohnen und gentechnisch verändertem Mais sowie über die Kennzeichnung ohne Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellter Lebensmittel vom 14. Februar 2000, BGBl. I S. 123, geändert durch die Dritte Verord-
70
1. Teil: Grundlagen
§ 5 NLV die Negativ-Kennzeichnung eines Lebensmittels mit der Angabe „ohne Gentechnik" erlaubt; andere Bezeichnungen wie z. B. „nicht aus GVO gewonnen" oder „gentechnikfrei" 206 sind unzulässig.207 Darüber hinaus stellt die Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung verschiedene Voraussetzungen an die Zulässigkeit einer Negativ-Kennzeichnung. Zwingende Voraussetzung für die Auslobung eines Lebensmittels mit der Angabe „ohne Gentechnik" ist nach § 5 S. 1 Nr. 1 NLV, dass das Lebensmittel nicht aus einem gentechnisch veränderten Organismus besteht oder aus einem solchen hergestellt worden ist. Und nach § 5 S. 1 Nr. 2 NLV dürfen bei der Herstellung des Produkts auch keine Stoffe verwendet worden sein, die aus genetisch veränderten Organismen bestehen oder hergestellt wurden oder bei deren Herstellung aus genetisch veränderten Organismen gewonnene technische Hilfsstoffe einschließlich Extraktionslösungsmittel und Enzyme eingesetzt wurden. Bei Lebensmitteln tierischen Ursprungs dürfen nach § 5 S. 1 Nr. 3 i.V.m. § 5 S. 3 NLV die Tiere, aus denen das Lebensmittel gewonnen wurde, keine Futtermittel, Futtermittelzusatzstoffe oder Arzneimittel, die mit Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellt worden sind, erhalten haben, es sei denn, für ein Arzneimittel steht kein vergleichbares konventionelles Präparat zur Verfugung. Dass diese Voraussetzungen im Einzelfall eingehalten sind, muss der Inverkehrbringer über Nachweise, die die Herstellung des Lebensmittels dokumentieren, beweisen; § 6 S. 1, 2 NLV. Als geeignete Nachweise werden nach § 6 S. 3 NLV insbesondere verbindliche Erklärungen von Produzenten und Lieferanten angesehen, die bestätigen, dass die Voraussetzungen an die Kennzeichnung erfüllt sind. Der Kennzeichnung eines Lebensmittels mit der Angabe „ohne Gentechnik" nach § 5 S. 2 NLV steht es nach § 5 S. 2 NLV ausdrücklich nicht entgegen, wenn „Bestandteile
aus der gentechnischen
Veränderung
unbeabsichtigt
nung zur Änderung der Neuartigen Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-Verordnung vom 19. November 2001, BGBl. I S. 3472. 206 Hinsichtlich der insbesondere noch diskutierten Kennzeichnungsformel „gentechnikfrei" wurde befürchtet, dass eine solche Formulierung bei den Verbrauchern den unzutreffenden Eindruck hätte hervorrufen können, das Lebensmittel weise noch nicht einmal zufallige „Verunreinigungen" mit gentechnisch veränderter DNA oder gentechnisch veränderten Proteinen auf. Unbeabsichtigte und unvermeidbare „Kontaminationen" sollen die Negativ-Kennzeichnung nach § 5 S. 2 N L V gerade nicht ausschließen. 207 Zu dem Zeitpunkt als in Deutschland bundesrechtlich die gesetzliche Ausgestaltung der Negativ-Kennzeichnung geregelt wurde, war bereits ein bayerisches Gesetz über die Kennzeichnung von gentechnikfreien Erzeugnissen im Ernährungs- und Futtermittelbereich (GVB1. 1998, S. 216) in Kraft. Danach war eine Negativ-Kennzeichnung ausschließlich mit der Angabe „gentechnikfrei" zulässig. Da die Regelung im offenen Widerspruch zur später erlassenen bundesrechtlichen Regelung stand, ist das Landesgesetz infolge der von Art. 72 Abs. 1 GG ausgehenden Sperrwirkung unwirksam.
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
71
und in unvermeidbaren Spuren im Laufe der Herstellung, des Inverkehrbringens oder des Behandeins in ein Lebensmittel gelangt " sind. Ein Schwellen-
wert für solche Verunreinigungen, die einer Negativ-Kennzeichnung nicht entgegenstehen, ist nicht festgelegt. Die zwangsläufige Folge dieser Regelung, dass Lebensmittel mit der Angabe „ohne Gentechnik'4 gekennzeichnet werden können, obwohl sie Spuren gentechnischer Veränderungen enthalten, wird als ein Verstoß gegen nationales und gemeinschaftliches Lebensmittel- und Wettbewerbsrecht insbesondere die dort geregelten Irreführungsverbote diskutiert. Im Hinblick auf das europäische Recht käme ein Verstoß der deutschen Regelung gegen das in Art. 2 Abs. 1 a) Etikettierungsrichtlinie 208 geregelte Irreführungsverbot in Betracht. Folge eines solchen Verstoßes wäre im Sinne des Grundsatzes vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts die Nichtanwendbarkeit der deutschen Regelung der Negativ-Kennzeichnung. Als ein Verstoß gegen nationales Recht kommt die Unvereinbarkeit der Regelung der Negativ-Kennzeichnung mit der ihr zugrunde liegenden Ermächtigungsnorm § 19 Abs. 1 Nr. 4 LMBG, die zum Schutz des Verbrauchers vor Täuschung und Irreführung zum Erlass von Rechtsverordnungen ermächtigt, in Betracht. Ein Verstoß der deutschen Regelung der Negativ-Kennzeichnung gegen das Irreführungsverbot, das in § 17 Abs. 1 Nr. 5 LMBG geregelt ist, würde bedeuten, dass die Verordnung einen der Ermächtigungsnorm § 19 LMBG widersprechenden Inhalt hat und damit nichtig wäre.209 Die für beide Fälle sich stellende Frage, ob die im deutschen Recht als Negativ-Kennzeichnung vorgesehene Angabe „ohne Gentechnik" eine Irreführung der Verbraucher bedeutet, kann, da im Zuge einer insbesondere durch die Etikettierungsrichtlinie erfolgten Vollharmonisierung der Lebensmittelkennzeichnung der Tatbestand der Irreführung europarechtlich abschließend festgelegt ist,210 für beide Fälle gemeinsam behandelt werden.
208 Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. März 2000 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Etikettierung und Aufmachung von Lebensmitteln sowie die Werbung hierfür, ABl. Nr. L 109 vom 6.5.2000, S. 29; geändert durch RL 2001/101/EG. 209 Rechtsverordnungen dürfen den vorgegebenen gesetzlichen Ermächtigungsrahmen nicht überschreiten; vgl. Nierhaus, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 80, Rdnr. 423; Bremer, in v. Mangoldt/Klein/Starck, Bonner GG-Kommentar, Art. 80 Rdnr. 72. Dazu dürfte auch gehören, dass Rechtsverordnungen der Ermächtigungsnorm nicht widersprechen dürfen. Inhaltlich (materiell-rechtliche) Rechtsfehler einer Verordnung haben zwingend die Nichtigkeit der Rechtsverordnung zur Folge; vgl. Nierhaus, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 80, Rdnr. 432. 210 EuGH C-221/00, Slg. 2003 1-1007 Rdnr. 34 f f ; Streinz, Deutsches und Europäisches Lebensmittelrecht, WiVerw 1993, S. 1 ff. (55); ders., Europäisches Lebensmittelrecht, ZfRV 1994, 59 ff. (69); Hohmann, Die Verkehrsauffassung im deutschen und europäischen Lebensmittelrecht, S. 334.
72
1. Teil: Grundlagen
Von einer Irreführung ist gemäß § 17 Abs. 1 Nr. 5 b) LMBG und Art. 2 Abs. 1 a) Etikettierungsrichtlinie 2000/13/EG insbesondere bei einer zur Täuschung des Verbrauchers geeigneten Etikettierung (Bezeichnungen, Angaben, Aufmachungen, Darstellungen oder sonstige Aussagen) über Eigenschaften des Lebensmittels, namentlich über Art, Identität, Beschaffenheit, Zusammensetzung, Menge, Haltbarkeit, Ursprung oder Herkunft und Herstellungs- oder Gewinnungsart oder über sonstige Umstände, die für die Bewertung des Lebensmittels von Bedeutung sind, auszugehen.211 Dabei ist hinsichtlich einer Einschätzung der Verbrauchererwartungen vom Leitbild eines „verständigen Verbrauchers" auszugehen. Das heißt, es ist darauf abzustellen, wie ein durchschnittlich informierter, aufmerksamer und verständiger Durchschnittsverbraucher die Angabe wahrscheinlich auffassen wird. 212 Vor dem Hintergrund eines solchen Verbraucherleitbildes wurde beispielsweise in der juristischen Literatur die Negativ-Kennzeichnung eines Lebensmittels als „gentechnikfrei" überwiegend - insbesondere im Hinblick auf das oft unvermeidbare und nicht nachweisbare Vorhandensein von Spuren gentechnischer Veränderung im Lebensmittel - als irreführend bewertet.213 Anders wird teilweise das Irreführungspotential der nach dem deutschen Recht möglichen Negativ-Kennzeichnung eines Lebensmittels mit der Angabe „ohne Gentechnik" bewertet. Man geht davon aus, dass diese Formulierung für den Verbraucher hinreichend deutlich werden lässt, dass sich die von der NegativKennzeichnung ausgehende Garantie nur auf das Herstellungsverfahren bezieht und nicht auf eine gentechnikfreie Beschaffenheit des Endprodukts.214 Der Verbraucher könne bei einem so bezeichneten Erzeugnis nur die gezielte Beimengung von gentechnisch veränderten Organismen oder den bewußten Einsatz gentechnischer Verfahren ausschließen, nicht aber das unbeabsichtigte und unvermeidbare Vorhandensein von Spuren gentechnischer Veränderungen, so dass er nicht der Gefahr der Irreführung ausgesetzt sei.215
211 Vgl. § 17 Abs. 1 Nr. 5 b) L M B G und Art. 2 Abs. 1 a) Etikettierungsrichtlinie 2000/13/EG, ABl. L Nr. 109 vom 6.5.2000, S. 29. 212 Aus der neueren Rechtsprechung siehe EuGH, Rs. 239/02 (noch nicht veröffentlicht); Rs. 465/98, Slg. 2000 1-2297, Rdnr. 20; Rs. C-303/97, Slg. 99 1-513, Rdnr. 36; EuGH, Rs. C-210/96, Slg. 98 1-4657, Rdnr. 31; EuGH, C-470/93, Slg. 95 1-1923, Rdnr. 24. 213 Dederer, Kennzeichnung gentechnischer Lebensmittel nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, EWS 1999, S. 247 ff. (254); Krohn, Die besondere werbemäßige Hervorhebung der „Gentechnikfreiheit 4 ' und ihre wettbewerbsrechtlichen Auswirkungen, ZLR 1998, S. 57 ff. (262). 214 Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 287. 215 Loosen vertritt - allerdings ohne weitere Begründung - die Auffassung, dass die Kennzeichnung „ohne Gentechnik" der Verbrauchererwartung und dem VerbraucherVerständnis gerecht wird, vgl. Loosen, Zur Kennzeichnung neuartiger Lebensmittel,
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
73
Ob diese Differenzierung vom „verständigen Verbraucher" wirklich nachvollzogen werden kann, ist aber höchst fraglich. Es scheint eher unwahrscheinlich, dass von der Mehrheit der Verbraucher nachvollzogen werden kann, dass die Kennzeichnung eines Lebensmittels mit der Angabe „ohne Gentechnik" bedeutet, dass zwar Gentechnik nicht gezielt angewendet wurde, aber nicht ausgeschlossen werden kann, dass Bestandteile einer gentechnischen Veränderung unbeabsichtigt und in Spuren im Lebensmittel vorhanden sind.216 Schon die dieser Bewertung zugrunde liegende Prämisse, ein Bewusstsein der Verbraucher, dass die Herstellung eines Lebensmittels ohne die Anwendung gentechnischer Verfahren nicht zwangsläufig dazu führt, dass das Produkt auch keine Verunreinigung mit gentechnisch veränderten Organismen enthält, trifft wohl nicht zu. Für ein solches Verständnis fehlt es den Verbrauchern meist schon am Problembewusstsein für die Thematik der möglichen Verunreinigung von Lebensmitteln mit Spuren gentechnisch veränderter Organismen. Beispielsweise sind solche Verunreinigungen für den Verbraucher nicht sichtbar und nicht spürbar. Es besteht somit für die Verbraucher kaum ein Anlass für eine Auseinandersetzung mit der Problematik der Verunreinigung von Lebensmitteln mit Spuren gentechnisch veränderter Organismen, die aber Voraussetzung dafür wäre, dass die der Kennzeichnung „ohne Gentechnik" zugrunde liegende Differenzierung von den Verbrauchern verstanden wird. Vielleicht wird sich das Wissen über die mögliche Verunreinigung von Produkten mit Bestandteilen gentechnischer Veränderungen in einigen Jahren - ggf. im Zusammenhang mit einem vermehrten Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Produkte - in der Bevölkerung durchgesetzt haben, so dass die Verbraucher dann eine Kennzeichnung „ohne Gentechnik" auch dahingehend verstehen, dass bei der Lebensmittelherstellung nur keine gentechni-
ZLR 2000, S. 434 ff. (455). Und auch Dederer sieht - ebenfalls ohne Begründung - in der Negativ-Kennzeichnung „ohne Gentechnik" keinen Verstoß gegen das Irreführungsverbot; Dederer, Kennzeichnung gentechnischer Lebensmittel nach Europäischem Gemeinschaftsrecht, EWS 1999, S. 247 ff. (254). Nach Lell ist die Bezeichnung „ohne Gentechnik" jedenfalls nicht so weit von der tatsächlichen Verbrauchererwartung entfernt, dass die Normierung als gesetzlich legitimierte Irreführung bezeichnet werden könnte; Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 287. 216
Vgl. Krohn, Die besondere werbemäßige Hervorhebung der „Gentechnikfreiheit" und ihre wettbewerbsrechtlichen Auswirkungen, ZLR 1998, S. 257 ff. (266). Knörr bejaht zwar einen Vertrauensverlust beim Verbraucher, der nicht darauf vertrauen kann, dass ein Produkt trotz entsprechender Etikettierung garantiert keine gentechnisch veränderten Rückstände enthält; den konsequenten Schluss eines Verstoßes gegen das Irreführungsverbot zieht er aber nicht; Knörr, Die Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter Lebensmittel, S. 233 f.
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1. Teil: Grundlagen
sehen Verfahren angewendet wurden, das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen aber nicht ausgeschlossen ist. Bis dahin ist aber davon auszugehen, dass der Großteil der Verbraucher die Kennzeichnung „ohne Gentechnik" dahingehend versteht, dass damit eine absolute Aussage zur Herstellungsart und zur Zusammensetzung des Erzeugnisses getroffen ist und zwar dahingehend, dass das Lebensmittel keinerlei Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält.217 Eine Negativ-Kennzeichnung auch von solchen Lebensmitteln, die Spuren gentechnisch veränderter Organismen enthalten, ist deshalb eine zur Täuschung des Verbrauchers geeignete Etikettierung, die eine Irreführung der Verbraucher bewirken kann. Dies gilt auch für AlternativKennzeichnungsvorschläge wie bspw. die Formulierung „gentechnikfreies Herstellungsverfahren" 218, solange sich das Verbraucherverständnis nicht weiterentwickelt.
B. Die neuen Verordnungen zur Regelung gentechnisch veränderter Lebensmittel Die Europäische Kommission hatte im Juli 2001 zwei Verordnungsvorschläge zur Schaffung eines europaweit einheitlichen Rahmens für die Zulassung und Überwachung sowie für die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebens- und Futtermittel ins Gesetzgebungsverfahren eingebracht. Es handelte sich dabei um Vorschläge zum einen für eine „ Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel (i21 9 und zum anderen für eine ,, Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung genetisch veränderter Organismen und über die RückVerfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebens- und Futtermitteln sowie i,22 zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG. ° Die Verordnungen sind nach ei-
nem langwierigen Gesetzgebungsverfahren am 2. Juli 2003 vom Rat der Euro-
217 Vgl. auch Krohn, Die besondere werbemäßige Hervorhebung der „Gentechnikfreiheit" und ihre wettbewerbsrechtlichen Auswirkungen, ZLR 1998, S. 257 ff. (266) 218 Vorschlag für eine Negativ-Kennzeichnung von Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 287. 219 Vorschlag für eine „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", KOM(2001) 425 endg. bzw. in geänderter Fassung KOM(2002) 559 endg. 220 Vorschlag für eine „Verordnung über die RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung genetisch veränderter Organismen und über die RückVerfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln und Futtermitteln" KOM(2001) 182 endg. bzw. in geänderter Fassung KOM(2002) 515 endg.
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
75
päischen Union verabschiedet worden und am 7. November 2003 in Kraft getreten.221 Die Verordnungen greifen in zahlreiche bestehende Rechtsnormen ein. So werden beispielsweise die Verordnung 1139/98/EG, die Verordnung 49/2000/EG und die Verordnung 50/2000/EG sowie diejenigen Bestimmungen der Novel Food-Verordnung, die genetisch veränderte Organismen bzw. aus genetisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel betreffen, aufgehoben.
/. Die Verordnung
über genetisch veränderte
Lebens- und Futtermittel
Die gentechnisch veränderte Lebensmittel betreffenden Bestimmungen der über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel finden nach Art. 3 der Verordnung Anwendung auf: Verordnung
- zur Verwendung als Lebensmittel/in Lebensmitteln bestimmte GVO, - Lebensmittel, die GVO enthalten oder aus solchen bestehen, - Lebensmittel, die aus GVO hergestellt werden oder Zutaten enthalten, die aus GVO hergestellt werden. Nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen - wie auch schon nach der Novel Food-Verordnung - „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel, also insbesondere mit Hilfe gentechnisch produzierter Enzyme hergestellte Lebensmittel und Produkte von Tieren, die gentechnisch veränderte Futtermittel erhielten. Diese Einschränkung des Anwendungsbereichs der Verordnung wurde vom Europäischen Parlament222 und
221 Verordnung 1829/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über genetisch veränderte Lebensmittel und Futtermittel, ABl. L 268 vom 18.10.2003, S. 1. [Im Folgenden: „Verordnung über genetisch veränderte Lebensund Futtermitter bzw. „ V O genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel"]; Verordnung 1830/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. September 2003 über die RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung genetisch veränderter Organismen und über die RückVerfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebens- und Futtermitteln sowie zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG", ABl. Nr. L 268, vom 18.10.2003 S. 24. [Im Folgenden: „Verordnung über Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung" bzw. „ V O RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung"]. 222 Europäisches Parlament, Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", A5-0225/2002 vom 7.6.2002, S. 8 f. In seiner Empfehlung zur zweiten Lesung der Verordnung rügt das Europäische Parlament nicht mehr, dass „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel nicht in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen.
76
1. Teil: Grundlagen
vom Wirtschafts- und Sozialausschuss der Europäischen Gemeinschaft 223 kritisiert. Das Europäische Parlament vertrat die Ansicht, dass auch „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel im Vergleich zu natürlich hergestellten Lebensmitteln nicht gleichwertig sind und somit in den Anwendungsbereich der Verordnung fallen müssten.224 Der Wirtschafts- und Sozialausschuss weist darauf hin, dass durch die Ausklammerung der „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmittel aus dem Anwendungsbereich der Verordnung der Verbraucher in seiner Wahlfreiheit beeinträchtigt wird. 225 Ebenso werden technische Hilfsstoffe, also zum Beispiel die Enzyme selbst, die nur während der Herstellung des Lebensmittels verwendet werden, nicht vom Anwendungsbereich der Verordnung erfasst. 226 Eine Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel gilt nach Art. 12 der Verordnung grundsätzlich für alle Lebensmittel, die - gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen oder - aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellt werden oder Zutaten enthalten, die aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellt werden. Ein Lebensmittel, das gentechnisch veränderte Organismen enthält oder daraus besteht, ist nach Art. 13 der Verordnung als „genetisch verändert " zu kennzeichnen. Bei einem Lebensmittel, das aus mehr als einer Zutat besteht, ist die Angabe in Klammern unmittelbar nach der betreffenden Zutat aufzuführen. Ein „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestelltes Lebensmittel ist als „aus genetisch verändertem [Bezeichnung des Organismus] hergestellt" bzw. bei der gentechnischen Veränderung einer Zutat des Lebensmittels mit dem Zusatz „ a u s genetisch verändertem [Bezeichnung der Zutat] hergestellt " zu kennzeichnen. Bedauerlich ist, dass es bezüglich der „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmittel nicht bei der ursprünglich geplanten Kennzeichnung „ D a s Lebensmittel ist aus 223 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", ABl. Nr. C 221/114 vom 17.9.2002, S. 115. 224 Europäisches Parlament, Bericht über den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", A5-0225/2002 vom 7.6.2002, S. 9. 225 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", ABl. Nr. C 221/114 vom 17.9.2002, S. 115 ff. 226 1 7. Erwägungsgrund VO genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel. Nicht kennzeichnungspflichtig sind nach der Verordnung beispielsweise das bei der Käseherstellung eingesetzte gentechnisch hergestellte Enzym Chymosin oder das bei der Backwarenherstellung eingesetzte gentechnisch hergestellte Enzym Amylase; vgl. die tabellarische Auflistung von Beispielen in: Europäische Kommission, Fragen und Anworten zur GVO-Regelung in der EU vom 1. Juli 2003, S. 26.
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
77
gentechnisch verändertem [Bezeichnung des Organismus/der Zutat] hergestellt, enthält selbst aber keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen "
geblieben ist.227 Denn der Zusatz wäre fur die Verbraucher, von denen nur die wenigsten wissen werden, dass ein „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestelltes Lebensmittel keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthält, sehr aufschlussreich gewesen.
Die Kennzeichnungspflicht auch „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel, die keine gentechnisch veränderten Organismen enthalten, bedeutet einen Wechsel vom bislang - insbesondere nach der Novel Food-Verordnung - geltenden merkmalsbezogenen Kennzeichnungskonzept zu einem verfahrensbezogenen Kennzeichnungskonzept:228 Waren bislang Produkte nur dann kennzeichnungspflichtig, wenn in ihnen Spuren genetisch veränderter Organismen nachweisbar waren, sind nunmehr auch solche Lebensmittel kennzeichnungspflichtig, bei denen zwar im Endprodukt kein entsprechender Nachweis erfolgen kann, die aber „aus" genetisch veränderten Organismen hergestellt sind.229 Eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel ist somit nicht mehr zwingend von der Nachweisbarkeit gentechnisch veränderter Organismen im Produkt abhängig. Kennzeichnungspflichtig werden damit beispielsweise auch hochraffinierte Öle aus gentechnisch verändertem Mais oder Soja oder aus gentechnisch veränderten Zuckerrüben hergestellter Zucker, in dem infolge der Raffinade keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthalten sind, und aus gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittelzutaten und Aromastoffe, wie aus einer gentechnisch veränderten Sojabohne gewonnenes Lecithin, das in der Schokoladenherstellung eingesetzt wird. 230 Die Kennzeichnung „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel soll über eine warenstrombegleitende Dokumentation gentechnisch veränderter Produkte, die mit der Verordnung über RückVerfolgbarkeit und Kennzeich231 nung verpflichtend wird, gewährleistet werden. Das verfahrensbezogene Kennzeichnungskonzept der Verordnung über geLebens- und Futtermittel besitzt allerdings zwei Bruchstel-
netisch veränderte
227 Art. 14 Vorschlag für eine „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", KOM(2001) 425 endg. 228 Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 262; Fuchs/Herrmann, Regulierung genetisch veränderter Lebensmittel, ZLR 2001, 789 ff. (801). Zur Unterscheidung einer merkmalsbezogenen und einer verfahrensbezogenen Kennzeichnung siehe oben I. 2. 229 Vgl. Fuchs/Hermann, Regulierung genetisch veränderter Lebensmittel, ZLR 2001, 789 ff. (801). 230 Die Beispiele sind entnommen aus: Europäische Kommission, Fragen und Anworten zur GVO-Regelung in der EU vom 1. Juli 2003, S. 26. 231 Siehe unten 2. Die Verordnung über RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung.
78
1. Teil: Grundlagen
len bzw. Kennzeichnungslücken: Eine dieser Kennzeichnungslücken ist dadurch begründet, dass „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel, die - wie gesehen - schon nicht dem Geltungsbereich der Verordnung unterfallen, nach der Verordnung nicht kennzeichnungspflichtig sind. Die fehlende Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel wurde im Rahmen der Erarbeitung der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel soweit ersichtlich nicht mehr diskutiert. Die Diskussion der Zulässigkeit einer solchen Ausnahme ist aber im Rahmen der Erarbeitung der Novel Food-Verordnung ausführlich geführt worden.232 Die zweite Kennzeichnungslücke der Verordnung wird durch eine Schwellenwertregelung in Art. 12 Abs. 2 begründet. Die Schwellenwertregelung soll dem Umstand gerecht werden, dass auch, wenn Unternehmer die Verwendung von genetisch veränderten Lebens- und Futtermitteln vermeiden, gentechnisches Material gleichwohl infolge von Verunreinigungen in kleinen Spuren in ihren Produkten vorhanden sein kann.233 Nach Art. 12 Abs. 2 sind solche Lebensmittel nicht kennzeichnungspflichtig, bei denen das Material, das GVO enthält, aus solchen besteht oder aus solchen hergestellt ist, mit einen Anteil von nicht mehr als 0,9% in der einzelnen Lebensmittelzutat oder in dem aus einer einzigen Zutat bestehenden Lebensmittel vorhanden ist. Der Anteil gentechnisch veränderten Materials von 0,9% muss in der jeweils betrachteten Zutat vorliegen und bei einem aus einer einzigen Zutat bestehenden Lebensmittel in eben dieser. Für aus mehreren Lebensmittelzutaten zusammengesetzte Lebensmittel besteht eine Kennzeichnungspflicht damit erst dann, wenn in mindestens einer Lebensmittelzutat eine genetische Verunreinigung von 0,9% erreicht ist. Eine Verunreinigung mehrerer Zutaten, die insgesamt zu einer 0,9%igen Verunreinigung des Lebensmittels führt oder noch darüber liegt, hätte damit grundsätzlich keine Kennzeichnungspflicht zur Folge. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber hat diese unbefriedigende Konsequenz einer auf die einzelne Zutat abstellenden Schwellenwert-
232
Zur Forderung einer Kennzeichnung aller gentechnisch hergestellten Lebensmittel, also auch der „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmittel im Rahmen der Diskussion um die Novel Food-Verordnung, siehe Leible, Kennzeichnung gentechnisch hergestellter Lebensmittel, EuZW 1992, 599 ff.; ders., Noch einmal: Kennzeichnung gentechnisch hergestellter Lebensmittel, ZLR 1993, 555 ff.; Rossen, Was darf man wissen? „Novel Food"-Kennzeichnung und die Meinungsbildungsfreiheit des mündigen Marktbürgers, in: Albers/Heine/Seyfarth (Hrsg.): Beobachten - Entscheiden - Gestalten, Symposium zum Ausscheiden von Dieter Grimm aus dem Bundesverfassungsgericht, S. 37 ff. (60); gegen eine solche verfahrensbezogene Kennzeichnungspflicht gentechnisch hergestellter Lebensmittel Pfleger, „Novel Food-Verordnung", ZLR 1993, S. 367 ff. 233 Siehe 25. Erwägungsgrund der Verordnung über genetisch veränderte Lebensund Futtermittel.
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
79
regelung gesehen, dieses Problem aber in der Verordnung nicht geklärt. 234 Voraussetzung für den Wegfall der Kennzeichnungspflicht ist, dass das Vorhandensein dieses Materials im Lebensmittel zufällig oder technisch nicht zu vermeiden war. Damit festgestellt werden kann, dass das Vorhandensein des Materials zufällig oder technisch nicht zu vermeiden war, müssen die Unternehmer den zuständigen Behörden nachweisen können, dass sie geeignete Schritte unternommen haben, um das Vorhandensein derartiger Materialien zu vermeiden.235 Für den Fall, dass die gentechnische Verunreinigung eines Lebensmittels unterhalb von 0,5% liegt, bedürfen die Lebensmittel gemäß Art. 47 in den ersten drei Jahren nach dem Geltungsbeginn der Verordnung zusätzlich auch keiner Zulassung, wenn für das gentechnisch veränderte Material durch den (die) wissenschaftliche(n) Ausschuss (Ausschüsse) der Gemeinschaft oder die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit vor dem Geltungsbeginn der Verordnung eine befürwortende Stellungnahme abgegeben wurde,236 wenn ein Zulassungsantrag für die betreffenden gentechnisch veränderten Organismen nicht bereits nach den einschlägigen Gemeinschaftsvorschriften abgelehnt wurde und wenn Nachweisverfahren für den gentechnisch veränderten Organismus öffentlich verfügbar sind. Sind die Voraussetzungen erfüllt, kann ein gentechnisch verunreinigtes Lebensmittel mithin ohne Zulassung und ohne Kennzeichnung in den Verkehr gebracht werden. Diese beiden Kennzeichnungslücken der Verordnung über genetisch veränbzw. die Frage, ob es entgegen dieser lückenhaften Kennzeichnungsregelung nicht einer „umfassenden" Pflicht zur Kenn-
derte Lebens- und Futtermittel
234 Der Gesetzgeber äußert sich zu diesem Problem lediglich im 25. Erwägungsgrund der Verordnung:
„Für den Fall, dass die Gesamtmenge der zufälligen und technisch nicht zu vermeidenden Anteile des genetisch veränderten Materials in einem Lebensmittel ... den festgelegten Schwellenwert übersteigt, sollte vorgesehen werden, dass dies gemäß der vorliegenden Verordnung angegeben wird und dass ausführliche Bestimmungen für die Durchführung dieser Verordnung erlassen werden." 235
Siehe zum Beispiel die vom bayerischen Amt für Lebensmittelüberwachung geübte Praxis, sich den Nachweis im Rahmen von Betriebsbegehungen u.a. dadurch erbringen zu lassen, dass der Lebensmittelhersteller nachweisen muss, Rohstoffe gekauft zu haben, die als „GVO-frei" zertifiziert sind; vgl. www.transgen.de/Aktuell/ lmue_bayern2001 .html. 236 Dass der befürwortenden Stellungnahme des/der zuständigen Wissenschaftlichein) Ausschuss/Ausschüsse oder der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit wohl eine Risikobewertung zugrunde liegen muss, womit ein Ausgleich für das nicht erforderliche Zulassungsverfahren mitsamt der dabei durchzuführenden Risikobewertung verbunden sein könnte, lässt sich dem Regelungsinhalt des Art. 47 nicht entnehmen, sondern nur dessen Überschrift („Obergangsmaßnahmen bei zufälligem oder technisch nicht zu vermeidendem Vorhandensein von genetisch verändertem Material, zu dem die Risikobewertung befürwortend ausgefallen ist.").
80
1. Teil: Grundlagen
Zeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel bedarf, werden an späterer Stelle diskutiert.
II. Die Verordnung über RückVerfolgbarkeit Die „ Verordnung über RückVerfolgbarkeit
und Kennzeichnung
und Kennzeichnung"
237
soll nach
Art. 1 einen Rahmen für die Rückverfolgbarkeit von genetisch veränderten Organismen und aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebensund Futtermitteln schaffen, um die genaue Kennzeichnung und den Rückruf von Produkten zu erleichtern. Zu diesem Zweck wird mit der Verordnung ein sog. „warenstrombegleitendes Dokumentationssystem" eingeführt, das es ermöglicht, gentechnisch veränderte Organismen in jeder Phase des Inverkehrbringens über die gesamte Produktions- und Vertriebskette zurückzuverfolgen. Im Hinblick auf die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel bedeutet die Verordnung eine Grundlage für die Ausdehnung der Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel auf „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel, die bislang wegen der fehlenden Nachweisbarkeit gentechnisch veränderter Organismen nicht kennzeichnungspflichtig waren. Das warenstrombegleitende Dokumentationssystem funktioniert derart, dass diejenigen, die ein gentechnisch verändertes Produkt in den Verkehr bringen, dazu verpflichtet sind, dem Abnehmer Angaben zum genetisch veränderten Organismus zu übermitteln; Art. 4, 5 VO Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung. Nach Art. 4 Abs. 1 müssen die Beteiligten, die ein Lebensmittel in Verkehr bringen, das gentechnisch veränderte Organismen enthält oder daraus besteht, dem Bezieher des Produktes dies schriftlich mitteilen. Außerdem sind sie zur Angabe des spezifischen Erkennungsmarkers des betreffenden gentechnisch veränderten Organismus verpflichtet, der zur Identifizierung des GVO dient. Beim Inverkehrbringen eines Lebensmittels, das „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt ist, ist es ausreichend, dem Bezieher des Produktes die einzelne aus GVO hergestellte Lebensmittelzutat anzugeben, bzw. bei Produkten ohne ein Verzeichnis der Zutaten - ist der Produktbezieher darüber aufzuklären, dass das Produkt aus gentechnisch veränderten Organismen 237 „Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung genetisch veränderter Organismen und über die Rückverfolgbarkeit von aus genetisch veränderten Organismen hergestellten Lebens- und Futtermitteln sowie zur Änderung der Richtlinie 2001/18/EG", ABl. Nr. L 268 vom 18.10.2003 S. 24. [Im Folgenden: „Verordnung über Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung" bzw. „VO Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung"].
2. Kap.: Rechtsgrundlagen
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hergestellt wurde. Zur Speicherung der Informationen müssen die am Produktions- oder Vertriebsprozess Beteiligten gemäß Art. 4 Abs. 4 der Verordnung über Systeme und Verfahren verfügen, mit denen während eines Zeitraums von fünf Jahren nach jeder Transaktion ermittelt werden kann, wer das Produkt für wen bereitgestellt hat. Eine solche warenstrombegleitende Dokumentation ist allerdings nach Art. 4 Abs. 7, Art. 5 Abs. 4 nicht erforderlich bei Lebensmitteln, deren Verunreinigung mit Anteilen gentechnisch veränderter Organismen im Rahmen der nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel festgelegten Schwellenwerte liegt und zufällig oder technisch nicht zu vermeiden war.
C. Das deutsche Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts Nach einem langwierigen Gesetzgebungsverfahren ist das Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts am 03.02.2005 in Kraft getreten.238 Es dient der Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie 2001/18/EG in ihrer durch die Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel und die Verordnung über RückVerfolgbarkeit und Kennzeichnung geänderten Fassung. Im Folgen-
den werden die hier interessierenden Neuerungen der Gesetzesnovelle dargestellt. Als neuer Gesetzeszweck wurde in § 1 Nr. 2 GenTG das Ziel aufgenommen, die Möglichkeit zu gewährleisten, dass Produkte, insbesondere Lebensund Futtermittel, konventionell, ökologisch oder unter Einsatz gentechnisch veränderter Organismen erzeugt und in den Verkehr gebracht werden können. Damit strebt der Gesetzgeber eine Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen an, die er durch eine ins Gesetz aufgenommene Vorsorgepflicht und Pflicht zur Beachtung der guten fachlichen Praxis, einen Abwehr- und Ausgleichsanspruch geschädigter Landwirte und die Einrichtung von Standortregistern gewährleisten will. 239 Die Kennzeichnungsregelungen der Lebens- und Futtermittel
Verordnung
über genetisch
veränderte
sind in dem neu in das Gentechnikgesetz aufgenom-
menen § 17 b geregelt. Diese Kennzeichnungspflicht gilt gemäß § 14 Abs. 2 GenTG allerdings nicht für das Inverkehrbringen von Lebens- und Futtermitteln, die bereits nach der gemeinschaftsrechtlichen Verordnung über genetisch veränderte
238 239
S. 19.
Lebens- und Futtermittel
kennzeichnungspflichtig sind. Damit
BGBl. I vom 3.2.2005, S. 168. Begründung zum Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts, Drs. 15/3088
1. Teil: Grundlagen
82
wird dem Vorrang der unmittelbar im nationalen Recht geltenden Verordnung Rechnung getragen. In § 17 b Abs. 1 und 2 GenTG sind die Pflichten zur Kennzeichnung von in Verkehr gebrachten Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, und von in Verkehr gebrachten gentechnisch veränderten Organismen geregelt. Diese sind auf einem Etikett oder in einem Begleitdokument mit dem Hinweis „Dieses Produkt enthält genetisch veränderte Organismen" zu kennzeichnen. „Mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Produkte sind nicht kennzeichnungspflichtig, da § 17 b Abs. 1 GenTG ausdrücklich nur für Produkte gilt, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen. Die Kennzeichnungs-Schwellenwertregelung der Verordnung über genetisch veränderte
Lebens- und Futtermittel
ist i n § 17 b Abs. 3 des deutschen Gen-
technikgesetzes aufgenommen worden. § 17 b Abs. 3 lautet: „(3) Die Vorschriften für die Kennzeichnung und Verpackung von Produkten, die für das Inverkehrbringen genehmigte gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder aus solchen bestehen, gelten nicht für Produkte, die für eine unmittelbare Verarbeitung vorgesehen sind und deren Anteil an genehmigten gentechnisch veränderten Organismen nicht höher als 0,9 Prozent liegt, sofern dieser Anteil zufallig oder technisch nicht zu vermeiden ist. ..."
Schließlich hat der deutsche Gesetzgeber in § 14 Abs. 2 a) GenTG entsprechend Art. 47 der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel das Zulassungsbedürfnis für ein Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Erzeugnisse ausgeschlossen, sofern die gentechnisch veränderten Organismen einen Anteil in Höhe von 0,5 Prozent in dem Erzeugnis nicht überschreiten und die übrigen auch nach der Verordnung erforderlichen Voraussetzungen wie bspw. die freie Verfügbarkeit von Nachweisverfahren und das Vorliegen einer befürwortenden Stellungnahme des wissenschaftlichen Ausschusses vorliegen.240 Auf die außerdem in das deutsche Gentechnikgesetz in § 36 a aufgenommene Regelung von Ansprüchen bei Nutzungsbeeinträchtigungen infolge der Übertragung von gentechnisch veränderten Organismen auf nach herkömmlicher Art hergestellte Produkte wird unten näher eingegangen.241
240 241
Vgl. oben Β. I. Siehe unten im vierten Teil der Arbeit, 9. Kap. C. I. 1. a) aa).
Zweiter Teil
Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel? Der lückenhaften Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch Lebens- und Futtermittel ist eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel gegenüber zu stellen; d.h. eine Kennzeichnungspflicht, die mit Spuren gentechnisch veränderter Organismen verunreinigte Lebensmittel und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel einschließt.
veränderte
Im Folgenden wird untersucht, inwieweit der gemeinschaftliche Gesetzgeber zur Regelung einer „umfassenden * Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aus grundrechtlichen Schutzpflichten oder aus dem gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzip verpflichtet ist.
Drittes
Kapitel
Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel im Hinblick auf grundrechtliche Schutzpflichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers Eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz gemeinschaftlicher Grundrechte könnte die Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel erforderlich machen; beispielsweise zum Schutz eines Grundrechts der Verbraucher auf Information oder zum Schutz eines Grundrechts auf Religions· und Weltanschauungsfreiheit. Dabei stellt sich allerdings zunächst die Frage, ob sich aus gemeinschaftlichen Grundrechten überhaupt Schutzpflichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers herleiten lassen. Unter grundrechtlichen Schutzpflichten sind aus Grundrechten hergeleitete Pflichten des Staates zur Gewährung positiven
8 4 2 .
Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
Schutzes gegen Beeinträchtigungen grundrechtlich geschützter Rechtsgüter durch Dritte zu verstehen.242 Grundsätzlich ist damit die Bindung jeglicher staatlicher Gewalt gemeint, d.h. klassischerweise der Legislative, Exekutive und Judikative. Tatsächlich treffen die Schutzpflichten jedoch primär den Gesetzgeber,243 der individualschützende Vorschriften erlässt, die wiederum von Exekutive und Jurisdiktion schutzpflichtkonform auszulegen und anzuwenden sind. Im Folgenden wird zunächst die Frage erörtert, ob den gemeinschaftlichen Grundrechten Schutzpflichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers entnommen werden können (Α.). Nur wenn diese Frage bejaht wird, kann geprüft werden, ob der gemeinschaftliche Gesetzgeber zur Erfüllung seiner Schutzpflichten eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel regeln muss (Β.).
Α. Grundrechtliche Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht I. Notwendigkeit
gemeinschaftsgrundrechtlicher
Schutzpßichten
Während für die nationalstaatlichen Grundrechte vieler Mitgliedstaaten der Europäischen Union die Notwendigkeit und das Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten anerkannt sind,244 steht für gemeinschaftliche Grundrechte bereits die Notwendigkeit von Schutzpflichten in Frage. Zur Begründung einer Notwendigkeit gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten lassen sich insbesondere die Gründe heranziehen, aus denen auch das Erfordernis allgemein eines Grundrechtsschutzes auf Gemeinschaftsebene hergeleitet wird. Wesentlicher Grund für ein Erfordernis allgemein eines Grundrechtsschutzes auf gemeinschaftlicher Ebene ist, dass die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft bestimmte Kompetenzen übertragen und ihren eigenen Regelungsanspruch entsprechend zurücknehmen. Diese Übertragung von Kompetenzen, die über rein wirtschaftliche Sachverhalte hinaus immer mehr klassische Do242 Ein solches Verständnis von grundrechtlichen Schutzpflichten, das so aus dem deutschen Verfassungsrecht bekannt ist, liegt auch der Diskussion gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten zugrunde; siehe zum Beispiel Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 17 f. 243 Für Staaten, die den Grundsatz vom Gesetzesvorbehalt kennen, resultiert dies aus der Überlegung, dass eine schützende Tätigkeit des Staates häufig mit einem Eingriff in Freiheitsrechte des privaten Störers verbunden ist und somit aufgrund des Gesetzesvorbehalts einer gesetzlichen Grundlage bedarf, d.h. ein Tätigwerden des Gesetzgebers erfordert. 244 Vgl. unten in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, LI. 2. a) aa) (1 ).
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
85
mänen staatlichen Handelns betrifft, bedeutet eine partielle Übertragung des staatlichen Gewaltmonopols auf die Gemeinschaft und fuhrt dazu, dass die Gemeinschaftsorgane Hoheitsgewalt gegenüber den Unionsbürgern ausüben. Im gleichen Maße, wie die Gemeinschaft an Zuständigkeiten hinzugewinnt, verlieren die Mitgliedstaaten an Zuständigkeiten. Den Mitgliedstaaten ist in den entsprechenden Zuständigkeitsbereichen - jedenfalls bei abschließender Normierung des Sachbereichs - aufgrund der Sperrwirkung vorrangigen Gemeinschaftsrechts ein grundrechtskonformer Schutz ihrer Bürger unmöglich.245 Da diese Kompetenzübertragung nicht zu einer wesentlichen Lücke im Grundrechtsschutz der Unionsbürger führen sollte,246 ist die Gemeinschaft gehalten, den Grundrechtsschutz als eine mit dem Kompetenzzuwachs korrespondierende Aufgabe wahrzunehmen. Der gemeinschaftliche Grundrechtsschutz darf sich dabei nicht auf einen Schutz der Grundrechte als Abwehrrechte beschränken, sondern es muss gleichzeitig auch ein Schutz des Einzelnen vor Eingriffen Dritter in seine Grundrechte gewährleistet sein. Denn es sind ohne weiteres Fälle denkbar, in denen der Einzelne im Rahmen des Gemeinschaftsrechts Grundrechtseingriffen Dritter ausgesetzt ist. Zum Beispiel können durch das Gebrauchmachen von Grundfreiheiten durch die Unionsbürger neue Grundrechts-Gefahrdungssituationen für den Einzelnen entstehen.247 Für die Notwendigkeit gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten spricht darüber hinaus, dass der Gemeinschaft vermehrt Zuständigkeiten übertragen werden, die die unmittelbare Lebenssphäre des Menschen betreffen, und dass die Gemeinschaft damit gleichzeitig Rechte zu schützen hat, die originäre Schutzpflichten begründende Rechte sind.248
245
Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 332. Bei Lücken im gemeinschaftlichen Grundrechtsschutz bestünde wohl die Gefahr, dass die mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichte gemeinschaftliche Maßnahmen an nationalen Grundrechten überprüfen und gegebenenfalls für nicht anwendbar erklären. Zum Beispiel hat das deutsche Bundesverfassungsgericht erklärt nur so lange keine Überprüfung des sekundären Gemeinschaftsrechts vorzunehmen, wie durch den EuGH ein wirksamer, den Anforderungen der Grundrechte im wesentlichen gleichzuachtender, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgender Grundrechtsschutz generell sichergestellt ist; BVerfGE 73, 339 (387). Im Maastricht-Urteil hat das BVerfG diese Rechtsprechung vom Grundsatz her bestätigt; BVerfGE 89, 155 (174 f.). 246
247 So führt beispielsweise der mit grenzüberschreitenden Geschäften notwendigerweise verbundene grenzüberschreitende Dateniluss zu Gefahren für das - auch gemeinschaftlich anerkannte - Recht auf Privatsphäre; vgl. Szczekalla, Schutzpflichten, S. 559 f. m.w.N. 248 Siehe z. B. die Gewährleistung des Lebensschutzes in der - bis jetzt allerdings noch unverbindlichen - Grundrechte-Charta; vgl. auch Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106 ff. (108).
86
2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschafsrecht II. Die Existenz gemeinschaftsgrundrechtlicher
Schutzpflichten
Bei der Frage nach der Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht ist zu beachten, dass auch die Grundfreiheiten teilweise als Grundrechte bzw. als grundrechtsähnlich verstanden werden.249 Gleichzeitig werden aus den Grundfreiheiten Schutzpflichten der Gemeinschaftsorgane hergeleitet.250 Die vorliegende Betrachtung soll sich aber auf die Untersuchung von aus gemeinschaftlichen Grundrechten hergeleiteten Schutzpflichten beschränken, und die Herleitung von Schutzpflichten aus den Grundfreiheiten soll nicht erörtert werden. Dieses Vorgehen rechtfertigt sich außer aus der überwiegenden Unterschiedlichkeit von Grundfreiheiten und Grundrechten 251 insbesondere daraus, dass für die vorliegend zu behandelnde Frage, inwieweit eine hoheitliche Pflicht zum Schutz der Verbraucher vor gentechnisch veränderten Produkten besteht, aus den Grundfreiheiten hergeleitete Schutzpflichten nichts beitragen können: Bereits auf den ersten Blick lässt sich eine solche hoheitliche Pflicht zum Schutz des Verbrauchers vor gentechnisch veränderten Produkten nicht aus der Warenverkehrsfreiheit (Art. 28 ff. EGV), der Kapitalund Zahlungsverkehrsfreiheit (Art. 56 ff. EGV), der Dienstleistungsfreiheit (Art. 49 ff. EGV) und der Niederlassungsfreiheit (Art. 43 ff. EGV) herleiten.
249
Szczekalla, Schutzpflichten, S. 462 ff. m.w.N. Zur Herleitung von Schutzpflichten aus den gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten siehe beispielsweise Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 222 f f ; Schilling, Bestand und allgemeine Lehren der bürgerschützenden allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts, EuGRZ 2000, 3 ff. (32 f.); Szczekalla, Schutzpflichten, S. 634 ff. Auch der EuGH hat - in seinem viel diskutierten Urteil zu den französischen Agrarblockaden - eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Ausübung von Grundfreiheiten vor Beeinträchtigungen durch Privatpersonen zu schützen, anerkannt; EuGH, Kommission v. Frankreich (Agrarblockaden), Rs. C-265/95, Slg. 1997 I- 6959. 251 Trotz der terminologischen Nivellierung von Grundfreiheiten und Grundrechten durch den EuGH (EuGH, Unectef/Heylens, Rs. 222/86, Slg. 1987, S. 4097) und der wohl wenig reflektierten - Einbeziehung der Grundfreiheiten in den Normbestand der Grundrechte-Charta überwiegen die Unterschiede zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten. Wesentlich ist der Unterschied in der primären Zielrichtung von Grundfreiheiten und Grundrechten: Während die Grundfreiheiten darauf ausgerichtet sind, Binnenmarktgrenzen jeglicher Art zu beseitigen (vgl. Art. 3 Abs. 1 c) EGV) und dabei ggf. neues Gemeinschaflsrecht zu schaffen, dienen die gemeinschaftlichen Grundrechte dem Schutz der Unionsbürger vor einer Beeinträchtigung ihrer Rechte und damit ggf auch einer Begrenzung des Gemeinschaftsrechts. Vor diesem Hintergrund wird beispielsweise diskutiert, ob Grundfreiheiten überhaupt als Abwehrrechte begriffen werden sollten. Zum Ganzen ausführlich siehe Kingreen, Grundfreiheiten, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 652 ff. Aus den genannten Gründen spricht sich auch Jaeckel für eine getrennte Herleitung von Schutzpflichten aus Grundfreiheiten und Grundrechten aus; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 222. 250
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
87
Bevor die Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht erörtert wird, soll kurz auf die vorgelagerte Frage eingegangen werden, inwieweit Grundrechte - als für das Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten notwendige Voraussetzung - im Gemeinschaftsrecht überhaupt kodifiziert bzw. anerkannt sind.
1. Grundrechte im Gemeinschaftsrecht Das primäre Gemeinschaftsrecht, zu dem insbesondere die Gründungsverträge der Europäischen Gemeinschaften und der Gründungsvertrag der Europäischen Union zählen, enthält keinen geschriebenen verbindlichen Grundrechtskatalog. Gleichwohl ist das Bestehen gemeinschaftlicher Grundrechte anerkannt.
a) Entwicklung
der
Gemeinschaftsgrundrechte
Die Entwicklung gemeinschaftlicher Grundrechte erfolgte insbesondere durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs: 252 Nachdem der EuGH zunächst den Eindruck erweckt hatte, dass gegenüber Akten der Gemeinschaft kein Grundrechtsschutz besteht,253 hat er in seiner späteren, 1969 mit der Entscheidung „Stauder"254 beginnenden Rechtsprechung die Grundrechte als allgemeine Rechtsgrundsätze der Gemeinschaftsrechtsordnung anerkannt. Dies beruhte auf der Einsicht, dass die bedrohliche Lücke der fehlenden Grundrechtssicherung im Gemeinschaftsrecht dessen Legitimität, Vorrang und einheitliche Anwendung in Frage stellte.255 In der Folgezeit entwickelte der EuGH insbesondere die Rechtserkenntnisquellen der Grundrechte. Als Rechtserkenntnisquellen werden dabei die Grundlagen, die zur Gewinnung von Rechtsgrundsätzen der Gemeinschaft zur Verfügung stehen, bezeichnet.256 Mit der Entscheidung „Internationale Handelsgesellschaft" aus dem Jahre 1970 begann eine Rechtsprechung des EuGH, 252 Ausführlich zur Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte durch Leitentscheidungen des EuGH Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rdnr. 20 IT.; Kokott, Der Grundrechtsschutz im europäischen Gemeinschaftsrecht, AöR 121 (1996), S. 599 ff. 253 EuGH, Rs. 1/58, Slg. 1958/59, S. 43 (63): EuGH, verb. Rs. 36/59, 37/58 und 40/59, Slg. 1960, S. 885 (920). 254 EuGH, Stauder, Rs. 29/69, Slg. 1969, S. 419, Rdnr. 7. 255 Kühling, Grundrechte, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 587. 256 Rengeling, Grundrechtsschutz in der Europäischen Gemeinschaft, S. 184.
88
2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
wonach gemeinschaftliche Grundrechte aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten hergeleitet werden.257 In der Entscheidung „Nold" aus dem Jahre 1974 hat der EuGH die von den Mitgliedstaaten abgeschlossenen internationalen Verträge über den Schutz der Menschenrechte als Quelle für Hinweise auf gemeinsame Gemeinschaftsgrundrechte anerkannt,258 wobei der Gerichtshof wenig später direkt auf die Europäische Menschenrechtskonvention als Hauptanwendungsfall eines solchen Vertrages Bezug nahm.259 Mit der Einführung des Art. 6 Abs. 2 EUV (Art. F Abs. 2 EUV a.F. Maastricht) wurden die Gemeinschaftsgrundrechte als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts normativ verankert, und als deren Rechtserkenntnisquellen wurden - in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH - die „Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten" und die gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten primärrechtlich konstituiert: „Die Union achtet die Grundrechte, wie sie in der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben."
b) Die Europäische
Charta der Grundrechte
Um den Schutz der Grundrechte zu stärken und ihre besondere Bedeutung sichtbarer zu machen, hat der Europäische Rat 1999 beschlossen, eine Charta der Grundrechte zu erstellen.260 Bereits am 7. Dezember 2000 wurde die Charta vom Europäischen Parlament, dem Rat und der Kommission gemeinsam feierlich verkündet,261 wodurch die Charta aber noch keine Rechtsverbindlichkeit erlangt hatte. Der EuGH zog die Grundrechte-Charta gleichwohl als zusätzliche Interpretationshilfe bei der Auslegung und Anwendung des gemeinschaftlichen Grundrechtsstandards heran.262 Rechtsverbindlichkeit wird 257 EuGH, Internationale Handelsgesellschaft, Rs. 11/70, Slg. 1970, S. 1125, Rdnr. 4. 258 EuGH, Nold, Rs. 4/73, Slg. 1974, S. 491, Rdnr. 13. 259 EuGH, Hauer, Rs. 44/79, Slg. 1979, S. 3727, Rdnr. 15; siehe auch EuGH, Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, S. 2859 Rdnr. 13, 18; EuGH, Rs. 374/87, Slg. 1989, S. 3283 Rdnr. 30. 260 Beschluss des Europäischen Rates vom 4.6.1999 in Köln, Bulletin EU 6-1999, Anhang 4. 261 ABl. C 364 v. 18.12.2000, S. 1. 262 Calliess, Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, Rdnr. 28; ders., Die Charta der Grundrechte der Eu-
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
89
die Charta, die in die neue EU-Verfassung 263 aufgenommen worden ist, mit dem Inkrafttreten der Verfassung nach einer Ratifizierung durch die EUMitgliedsstaaten erlangen.
2. Schutzpflichten als Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte Die Frage, ob sich gemeinschaftlichen Grundrechten auch grundrechtliche Schutzpflichten entnehmen lassen, ist noch nicht abschließend geklärt. Deshalb werden im Folgenden verschiedene Möglichkeiten der Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten diskutiert. Anhaltspunkte für das Bestehen gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten könnten sich insbesondere aus den Rechtserkenntnisquellen gemeinschaftlicher Grundrechte im Sinne von Art. 6 Abs. 2 EUV, der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs oder der Europäischen Grundrechte-Charta entnehmen lassen.264
a) Herleitung
gemeinschaftsgrundrechtlicher
Schutzpßichten
aa) Herleitung im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 EUV Voraussetzung für eine Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 EUV ist, dass in den Rechtserkenntnisquellen gemeinschaftlicher Grundrechte, den „gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union" oder der „Europäischen Menschenrechtskonvention", grundrechtliche Schutzpflichten anerkannt sind.
ropäischen Union - Fragen der Konzeption, Kompetenz und Verbindlichkeit, EuZW 2001, 261 (267). Siehe auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rdnr. 35a mit Verweis auf verschiedene Schlussanträge von Generalanwälten des EuGH, die die Grundrechtscharta bereits regelmäßig in grundrechtlichen Zusammenhängen erwähnen. 263 Am 29. Oktober haben die Staats- und Regierungschefs der 25 EUMitgliedsstaaten und die Vertreter der vier Länder Bulgarien, Kroatien, Rumänien und der Türkei, die der EU in den nächsten Jahren beitreten wollen, den Vertrag über eine Verfassung für Europa in Rom unterzeichnet. Die Ratifizierung der Verfassung durch die einzelnen Mitgliedsstaaten steht noch aus. 264 Zu weiteren Versuchen der Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten z. B. aus dem Primärrecht der Gemeinschaft oder aus Deklarationen verschiedener Gemeinschaftsorgane (sog. „soft law") zu gemeinschaftlichen Grundrechten siehe Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 194 ff; siehe auch Szczekalla, Schutzpflichten, S. 627 ff.
90
2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
(1) Gemeinsame Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten Die Überlegung, dass Grundrechte nicht nur als Abwehrrechte des Einzelnen gegenüber dem Staat wirken, sondern dass ihnen auch eine Schutzfunktion zukommt, gewinnt in den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen zunehmend an Bedeutung.265 Die irische Verfassung beispielsweise enthält in § 40 Abs. 3 Nr. 1 sogar eine ausdrückliche Verpflichtung des Staates, die Rechte der Bürger nicht nur zu achten, sondern, soweit dies durchführbar ist, auch zu verteidigen und zu schützen. § 40 Abs. 3 Nr. 2 und 3 der irischen Verfassung bekräftigen diese Schutzverpflichtung nochmals für die Rechtsgüter des Lebens - auch des ungeborenen - , der Person, des guten Namens und der Vermögensrechte. Ferner haben die Verfassungsgerichte Deutschlands, Österreichs, der Niederlande und Spaniens unter Zustimmung des Schrifttums aus den nationalen Grundrechten abgeleitete Schutzpflichten anerkannt. Und schließlich öffnet sich auch die Rechtsprechung Frankreichs und des Vereinigten Königreichs zunehmend dem grundrechtlichen Schutzgedanken.266 Grundsätzlich erscheint eine Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten somit möglich.267 Dass sich eine Schutzfünktion der Grundrechte nicht für die Rechtsordnungen aller Mitgliedstaaten nachweisen lässt, hindert eine Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten aus den Verfassungen der Mitgliedstaaten dabei nicht. Denn im Rahmen einer wertenden Rechtsvergleichung, wie sie in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehen ist, kommt es nicht so sehr darauf an, einen in den Verfassungen aller Mitgliedstaaten geltenden Mindeststandard festzustellen; entscheidend ist vielmehr die Ermittlung gemeinsamer Verfassungstraditionen, aus denen die für das Gemeinschaftsrecht beste Lösung zu entwickeln ist.268 Dementsprechend ist die Herausarbeitung gemeineuropäischer Grundrechtsstandards durch den EuGH davon geprägt, dass die Orientierung an den nationalen Rechtsordnungen und der EMRK nur das Fundament der Grundrechtskonkretisierung bildet. Der Konkretisierungsprozess ist gleichfalls zu einem erheblichen Teil durch den zweiten Schritt des Einpassens des Grundrechts in die Strukturen und Ziele der Gemeinschaft geprägt.
265 Siehe dazu Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 217 f.; siehe auch Szczekalla, Schutzpilichten, S. 909 ff. 266 Ausführlich dazu Szczekalla, Schutzpilichten, S. 919 ff., 927 ff. 267 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 218; vgl. auch Kühling, Grundrechte, in: Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 591 mit Verweis auf Rechtsprechung des EuGH. 268 Siehe, dass der EuGH davon ausgeht, dass er sich beim Schutz der Grundrechte von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten lediglich leiten lässt, aber nicht im Einzelnen daran gebunden ist; vgl. EuGH, Rs. C-36/02, Slg. 2004, 1-9609, Rdnr. 33 m.w.N.
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
91
Der EuGH, dessen Rechtsprechung als Orientierungsmaßstab für das Bestehen gemeinschaftlicher Grundrechte herangezogen wird, 269 hat allerdings noch in keinem Fall das Bestehen gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten bestätigt.270 (2) Europäische Menschenrechtskonvention Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK)271 schützt entsprechend den Erwägungsgründen ihrer Präambel Menschenrechte und Grundfreiheiten. Diese auch als Konventionsrechte bezeichneten Rechte schützen der Struktur gemeinschaftlicher Grundrechte vergleichbar - im Einzelnen umschriebene Lebensbereiche und können teilweise unter bestimmten Voraussetzungen aufgrund spezieller oder allgemeiner Schrankenregelungen begrenzt werden. Mit der Inbezugnahme der EMRK in Art. 6 Abs. 2 EUV erhält die EMRK Einfluss auf die Entwicklung der Gemeinschaftsgrundrechte. 272 Für die hier zu beantwortende Frage nach dem Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht ist zu klären, ob für die Konventionsrechte der EMRK hoheitliche Schutzpflichten anerkannt sind. Sollte dies der Fall sein, stellt sich noch die Frage, inwieweit dieser Umstand zur Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten herangezogen werden kann. Die EMRK enthält zwar keine ausdrückliche Normierung von Schutzpflichten der Vertragsstaaten zum Schutz der in der EMRK enthaltenen Individualrechte vor nichtstaatlichen Bedrohungen.273 Allerdings finden sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) inzwischen eine Reihe von Entscheidungen, in denen der EGMR das Bestehen positiver Schutzpflichten der Vertragsstaaten bejaht.274 Der Durchbruch dieser Rechtsprechung erfolgte in der Sache X und Y gegen die Niederlande, in der der Gerichtshof feststellte, dass das Recht auf Achtung des Privat- oder Familienlebens nach Art. 8 EMRK nicht nur vor staatlichen Eingriffen schützt, sondern dass eine wirksame Beachtung dieses Rechts darüber
269
Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, 2. Auflage, Art. 6 EUV Rdnr. 19. Vgl. dazu gleich bb). 271 Die EMRK vom 4.11.1950 kombiniert einen Katalog von Menschenrechten und Grundfreiheiten mit einem völkerrechtlichen Durchsetzungsverfahren; Ipsen, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, § 49, Rdnr. 3. 272 Vgl. dazu ausführlich Hilf, in: Grabitz/Hilf, EGV, Altband I, Art. F EUV Rdnr. 32; Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 Rdnr. 35, 42 f. 273 Vgl. die Wortlaut-Analyse des Textes der EMRK bei Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 111 ff.; siehe auch Bleckmann, Die Entwicklung staatlicher Schutzpflichten aus den Freiheiten der EMRK, in: FS für Bernhardt, S. 309 ff. (311). 274 EGMR v. 13.6.1979, Pubi. Ser. A, Nr. 31; EGMR v. 26.5.1994, Pubi. Ser. A , Nr. 290; EGMR v. 20.4.1993, Pubi. Ser. Α., Nr. 258 - 1. 270
9 2 2 .
Teil: Umfassende Kennzeichungspilicht nach Gemeinschaftsrecht
hinaus auch positive Pflichten der Staaten begründen kann. Darunter könne auch die Verpflichtung fallen, das Privatleben im Verhältnis der Privatpersonen untereinander zu schützen.275 Es kann somit davon ausgegangen werden, dass für die Konventionsrechte der EMRK hoheitliche Schutzpflichten anerkannt sind. Fraglich ist aber, wie groß der in Art. 6 Abs. 2 EUV vorgesehene Einfluss der EMRK auf die Entwicklung gemeinschaftlicher Grundrechte wirklich ist, d.h. ob die Anerkennung von Schutzpflichten im Rahmen der EMRK bedeutet, dass auch im Gemeinschaftsrecht grundrechtliche Schutzpflichten anzuerkennen sind.276 Dies würde voraussetzen, dass eine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK besteht, die die Gemeinschaft zur Anwendung der zur EMRK entwickelten Schutzpflichten auf die Gemeinschaftsgrundrechte verpflichtet. Eine solche unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK wird mit Hinweis auf Art. 6 Abs. 2 EUV teilweise vertreten. 277 Gegen eine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft und ihrer Organe an die EMRK spricht aber die in Art. 281 EGV normierte „Rechtspersönlichkeit" der Europäischen Gemeinschaft. Aufgrund dieser eigenen „Rechtspersönlichkeit" kann aus der Tatsache, dass seit 1974 alle Mitgliedstaaten der Europäischen Union auch Mitglied der EMRK sind, nicht automatisch auf eine Vertragsbindung der Europäischen Gemeinschaft geschlossen werden. Erforderlich wäre vielmehr ein Beitritt der Europäischen Gemeinschaft zur EMRK. Einen solchen Beitritt der Gemeinschaft zur EMRK hat der EuGH in einem Gutachten aus dem Jahre 1996 aber ausdrücklich abgelehnt und dabei klargestellt, dass die in Art. 6 Abs. 2 EUV (Art. F Abs. 1 EUV a.F.) normierte Anlehnung an die EMRK nicht im Sinne einer unmittelbaren Bindung der Gemeinschaft an die EMRK verstanden werden darf. 278 Und auch in seiner Rechtsprechung hat der EuGH sich dagegen ausgesprochen, die Inbezugnahme der EMRK in Art. 6 Abs. 2 EUV dahingehend zu verstehen, dass die Entwicklung gemeinschaftlicher Grundrechte unmittelbar an die EMRK gebunden wäre. Der EuGH 275 EGMR, X und Y v. Niederlande, A / 91 (1985), $$ 23 ff. = EuGRZ 1985, 297 ff. (298f. ). 276 Bleckmann, Die Entwicklung staatlicher Schutzpflichten aus den Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: FS für Bernhardt 1995, S. 309 ff. (321). 277 Bleckmann, Die Entwicklung staatlicher Schutzpflichten aus den Freiheiten der Europäischen Menschenrechtskonvention, in: FS für Bernhardt 1995, S. 309 tf. (321); Hilf, Europäische Union und Europäische Menschenrechtskonvention, in: FS für Bernhardt 1995, S. 1193 ff. 1197 ff., 1206. Bei Iglesias wird diese Frage als in der bisherigen Rechtsprechung ungeklärt dargestellt: Iglesias, Zur Stellung der Europäischen Menschenrechtskonvention im europäischen Gemeinschaftsrecht, in: FS für Bernhardt 1995, S. 1269 ff. (1280). 278 EuGH, Gutachten 2/94 v. 28. Mäiz 1996 - Beitritt der Gemeinschaft zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, EuGRZ 1996, 197 ff. (206 f.) Ziff. 32 ff.
3. Kap.: Schutzpichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
93
spricht nämlich nicht von einer unmittelbaren Bindung des Gemeinschaftsrechts an die EMRK, sondern allenfalls von einer „Berücksichtigung".279 Die EMRK könne Hinweise geben, die im Rahmen des Gemeinschaftsrechts zu berücksichtigen sind.280 Im Ergebnis besteht damit keine unmittelbare Bindung der Gemeinschaft an die EMRK, so dass der in Art. 6 Abs. 2 EUV normierte Einfluss der EMRK auf die Entwicklung gemeinschaftlicher Grundrechte nicht derart weit reicht, dass die im Rahmen der EMRK entwickelten hoheitlichen Schutzpflichten auf die Gemeinschaftsgrundrechte ohne weiteres übertragbar und von den Gemeinschaftsorganen zu beachten wären.
bb) Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs In der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs fehlt es bislang an einer ausdrücklichen Anerkennung grundrechtlicher Schutzpilichten.281 Lediglich für die Grundfreiheiten hat der Europäische Gerichtshof das Bestehen positiver Schutzpflichten bereits anerkannt.282 Trotzdem werden im Schrifttum vereinzelte Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs daraufhin diskutiert, ob ihnen eine Anerkennung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpilichten entnommen werden kann.283 Dass es sich bei diesen Entscheidungen zum großen Teil um solche handelt, die die Beurteilung mitgliedstaatlicher Maßnahmen zum Inhalt haben,284 kann nicht 279
EuGH, Johnston/Chief Constable of the Royal Ulster Constabulary, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651, Rdnr. 18. 280 EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609, Rdnr. 17; EuGH, Rs. C-260/89, Slg. 1991, I2925 Rdnr. 41. 281 So der einhellige Meinungsstand in der Literatur; vgl. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 212; vgl. auch Gersdorf, Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte, AöR 119 (1994), 400 403); Hilf/Staebe in: Klein, Duty to protect, Ziff. 29 ff., Schmitz, Die EU-Grundrechtscharta aus grundrechtsdogmatischer und grundrechtstheoretischer Sicht, JZ 2001, S. 833 ff. (839). 282 Der EuGH hat 1997 in seinem viel diskutierten Urteil zu französischen Agrarblockaden erstmals ausdrücklich eine Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die Ausübung von Grundfreiheiten vor Beeinträchtigungen durch Privatpersonen zu schützen, anerkannt, EuGH, Kommission v. Frankreich (Agrarblockaden), Rs. C-265/95, Slg. 1997,1-6959. 283 Ausführliche Untersuchung der EuGH-Rechtsprechung bei Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 212 ff. 284 Dies lässt sich damit erklären, dass für schutzpilichtrelevante (Grundrechts-) Bereiche (z. B. Schutz von Leben und Gesundheit) noch eine ausschließliche Kompetenz der Mitgliedstaaten besteht; vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rdnr. 47 f.; Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106 ff. (108); Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 332.
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2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
schon zur Ablehnung einer Heranziehung dieser Rechtsprechung genügen. Denn die Dogmatik zu Gemeinschaftsgrundrechten trifft die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten bei der Durchfuhrung von Gemeinschaftsrecht als Grundrechtsverpflichtete gleichermaßen.285 Zum Beispiel werden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs diskutiert, in denen der EuGH in Bezug auf Teilhabe-286 und Verfahrensrechte 287 der Bürger positive Pflichten der Mitgliedstaaten zum Schutz dieser Rechte anerkannt und dabei teilweise ausdrücklich auf den Grundrechtscharakter dieser Rechte verwiesen hat.288 In einem anderen Fall, in dem der EuGH über die Schadensersatzforderung eines britischen Touristen, der in der Pariser Metro von Privatpersonen überfallen worden war, gegen den französischen Staat zu entscheiden hatte, geht der EuGH von einer Pflicht des Staates aus, Private vor von anderen Privatpersonen ausgehenden Bedrohungen zu schützen.289 Die Verpflichtung leitet der EuGH allerdings nicht aus einem gemeinschaftsrechtlichen Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, sondern aus dem nicht als Grundrecht anerkannten - gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierungsverbot ab.290 In weiteren Entscheidungen hat der EuGH mitgliedstaatliche Maßnahmen, die eine Beschränkung der Grundfreiheiten zur Folge hatten, über eine Pflicht der Mitgliedstaaten zum Schutz grundrechtlicher Güter gerechtfertigt bzw. eine solche Rechtfertigung zumindest in Erwägung gezogen.291 Diese Rechtsprechung wird allerdings in der Literatur zutreffend mehrheitlich nicht als Hinweis auf das Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten gesehen. Denn der EuGH hat in den betreffenden Entscheidungen nicht geprüft, ob eine aus Gemeinschaftsgrundrechten hergeleitete Schutzpflicht des Mitgliedstaates be285
Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 55 ff. Vgl. EuGH, Rs. C - l 17/76 und 16/77, Slg. 1977, S. 1753 Rdnr. 11 ff. 287 Vgl. EuGH, Pecasting, Rs. 98/79, Slg. 1980, S. 691; EuGH, Johnston, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 Rdnr. 17 ff.; Heylens, Rs. 222/86, Slg. 1987, S. 4097 Rdnr. 14 ff; EuGH, verb. Rs. 46/87 und 227/88, Slg. 1989, S. 2859 Rdnr. 41; EuGH, Rs. 97/91, Slg. 1992,1-6330 Rdnr. 14. 288 Vgl. EuGH, Johnston, Rs. 222/84, Slg. 1986, 1651 Rdnr. 18; EuGH, Heylens, Rs. 222/86, Slg. 1987, S. 4097 Rdnr. 14 ff. 289 EuGH, Cowan, Rs. 186/87, Slg. 1989, S. 195 Rdnr. 17. 290 Gersdorf,\ Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte, AöR 119 (1994), S. 400 ff (403). 291 Vgl. insbesondere EuGH, Collectieve Antennevoorziening Gouda, Rs. C-288/89, Slg. 1991, 1-4007, Rdnr. 23; EuGH, Kommission v. Niederlande, Rs. C-353/89, Slg. 1991, 1-4069 Rdnr. 30; EuGH, Rs. C-368/95, Slg. 1997, 1-3689, Rdnr, 25 ff; EuGH, Bostock, Rs. C-2/92, Slg. 1994, 1-955, Rdnr. 16 ff; siehe auch Beschluss des Gerichts erster Instanz (EuG), National Fanners' Union u. a. v. Kommission, Slg. 1996, Π-815 Rdnr. 75; näher zu den einzelnen Urteilen Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 214. 286
3. Kap.: Schutzpichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
95
stand. Er prüfte lediglich, ob die die Grundfreiheiten einschränkenden Maßnahmen der Mitgliedstaaten dadurch gerechtfertigt waren, dass die Mitgliedstaaten, indem sie schützend tätig wurden, - ungeschriebene - Allgemeininteressen wahrgenommen haben, die eine Beeinträchtigung der Grundfreiheiten grundsätzlich rechtfertigen können.292 Die Rechtsprechung des EuGH, in der jeweils nur einzelne Aspekte der Schutzpflichten berührt wurden, kann angesichts dieser Urteile als stark einzelfallbezogen bezeichnet werden. Eine allgemeine Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten durch den EuGH kann daraus jedenfalls nicht hergeleitet werden. Teilweise wird das Fehlen einer Rechtsprechung des EuGH zu grundrechtlichen Schutzpflichten - anstatt daraus auf eine fehlende Anerkennung solcher Schutzpflichten durch den EuGH zu schließen - auch dahingehend gedeutet, dass der EuGH bisher einfach noch nicht die Gelegenheit hatte, sich in dieser Frage zu äußern. Es wird darauf verwiesen, dass die in der Rechtsprechung des EuGH bislang fehlende Anerkennung von gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutzpflichten Folge des Zusammenhangs zwischen Kompetenzverteilung und Reichweite der Gemeinschaftsgrundrechte sein könnte. Ein Recht bzw. eine aus gemeinschaftlichen Grundrechten hergeleitete Pflicht der Gemeinschaftsorgane zu hoheitlichem Handeln und ein damit korrespondierendes Recht des EuGH zur Überprüfung könne es nur dort geben, wo der Gemeinschaft im EG-Vertrag eine entsprechende Kompetenz zum Handeln eingeräumt ist. Für die »klassischen« Rechtsgüter einer Schutzpflicht (z. B. Leben, körperliche Unversehrtheit) besitzen aber zum großen Teil (noch) die Mitgliedstaaten die Rechtssetzungskompetenz.293 Der Gemeinschaft fehlt somit grundsätzlich die Kompetenz zum Schützen und dem EuGH die Befugnis zur Feststellung der Existenz und Verletzung einer Schutzpflicht. 294 Ein weiterer Grund für die Zurückhaltung des EuGH wird darin gesehen, dass mitgliedstaatliche Beschränkungen von Grundfreiheiten, die häufig aus Gründen des Gesundheitsschutzes erfolgen und an sich prädestiniert wären für eine Rechtfertigung über grundrechtliche Schutzpflichten, grundsätzlich schon über den bei allen Grundfreiheiten vorgesehenen Rechtfertigungsgrund des Schutzes der Gesundheit gerechtfertigt werden können. Ein Rückgriff auf gemein-
292 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 Rdnr. 48; Jaeckel, Schutzpilichten im deutschen und europäischen Recht, S. 214. 293 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 48; Cai liess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 332; Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106 (108). 294 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 48; Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 216; Nettesheim, Grundrechtliche Prüfdichte durch den EuGH, EuZW 1995, S. 106 ff. (108).
9 6 2 .
Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschafsrecht
schaftsgrundrechtliche Schutzpflichten ist somit auch in diesen Fällen nicht erforderlich. 295 Insgesamt lässt sich festhalten, dass sich in der Rechtsprechung des EuGH zwar Anhaltspunkte für eine grundsätzliche Aufgeschlossenheit des Europäischen Gerichtshofs gegenüber der Annahme positiver Schutzpflichten finden, eine ausdrückliche Anerkennung bislang jedoch nicht vorliegt. 296
cc) Die Europäische Charta der Grundrechte Die Europäische Charta der Grundrechte enthält keine ausdrücklich geregelte hoheitliche Pflicht zum Schutz der Grundrechte der Charta.297 Lediglich vereinzelten Grundrechten der Charta lässt sich eine Schutzdimension entnehmen.298 Beispielsweise werden die in Art. 24 (Rechte des Kindes), Art. 25 (Rechte älterer Menschen) und Art. 26 (Integration von Menschen mit Behinderung) Grundrechte-Charta gewährleisteten Rechte als Schutzaufgaben der Adressaten der Charta verstanden.299 Im Ergebnis wurde die Möglichkeit, im Rahmen der Grundrechte-Charta die Frage nach dem Bestehen gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten zu klären, mithin nicht genutzt.300 Die Charta-Bestimmungen enthalten keine besonderen Hinweise auf eine Schutzaufgabe, stehen der Annahme einer positiven Schutzfunktion der Freiheitsrechte aber andererseits auch nicht entge-
295 Vgl. Gersdorf, Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte, AöR 119 (1994), S. 400 ff. (404). 296 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 215. 297 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 206. 298 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 208. 299 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 207 f. 300 Siehe, dass im Verfassungskonvent erheblicher Widerstand gegen eine Festschreibung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten in der Grundrechte-Charta bestand. Die Engländer sollen beispielsweise im Konvent die Befürchtung geäußert haben, eine ausdrückliche Anerkennung grundrechtlicher Schutzpflichten könne eine schleichende Kompetenzerweiterung der Gemeinschaft etwa im Bereich des Umweltund Verbraucherschutzes bedeuten; vgl. Szczekalla, Grundrechte für Europa - Die Europäische Union nach Nizza - Zugleich Bericht über die Konferenz in Wien am 18. und 19. Dezember 2000 - , DVB1. 2001, S. 345 ff. (347). 301 Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 208.
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
97
dd) Zusammenfassung Im Ergebnis ist eine Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten somit grundsätzlich möglich. Maßgeblich für diese Schlussfolgerung ist, dass grundrechtliche Schutzpflichten in den Rechtserkenntnisquellen gemeinschaftlicher Grundrechte, d.h. sowohl in der EMRK als auch in den Rechtsordnungen vieler Mitgliedstaaten, existieren. Zwar hat der Europäische Gerichtshof das Bestehen gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten bislang nicht anerkannt. Dies ist aber wohl - wie gesehen302 - darauf zurückzuführen, dass für den EuGH bislang nicht die Notwendigkeit bestand, über das Bestehen gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten zu entscheiden. Allerdings spricht einiges dafür, dass sich bei einer stetigen Kompetenzerweiterung der Gemeinschaft auch auf Gemeinschaftsebene bald konkret die Frage nach der Existenz grundrechtlicher Schutzpflichten stellen wird. Die Gefahrdungslagen, um die es dabei gehen wird, werden den Gefährdungslagen, die das Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten auf Ebene der Mitgliedstaaten oder in der EMRK begründen, sehr ähnlich sein. Denn auch für die Gemeinschaftsebene gilt, dass sich private Verhaltensweisen angesichts der vielfältigen Verflechtungen menschlichen Handelns in der modernen Gesellschaft ebenso freiheitsgefährdend auswirken können wie hoheitliche Maßnahmen.303 Soweit solche Gefährdungslagen in einem Bereich bestehen, für den der gemeinschaftliche Gesetzgeber die Rechtssetzungskompetenz besitzt, sollte der Gesetzgeber grundrechtliche Schutzpflichten zu beachten haben. Im Folgenden soll deshalb vom Bestehen gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten ausgegangen werden. Bei der Herleitung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten im Einzelfall ist darauf zu achten, dass die gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutzpflichten kompetenzakzessorisch und nicht kompetenz-generierend wirken: Die rechtliche Möglichkeit der Gemeinschaft zur Schutzpflichterfüllung hängt also von der bestehenden Kompetenzordnung ab.304 Das heißt, dass die aus den EG-Grundrechten folgenden Schutzpflichten eine Pflicht der Gemeinschaft nur insoweit begründen können, als die Gemeinschaft für den jeweiligen Bereich eine (Handlungs-)Kompetenz besitzt.305 Denn im Sinne der gemeinschaftsrechtlichen Kompetenzordnung, die auf dem Prinzip der begrenzten
302
Dazu soeben bb). Jaeckel, Schutzpilichten im deutschen und europäischen Recht, S. 219. 304 Szczekalla, Grundfreiheitliche Schutzpilichten - eine „neue" Funktion der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, DVB1. 1998, S. 219 ff. (222); Jaeckel, Schutzpilichten im deutschen und europäischen Recht, S. 220. 305 Näher dazu Gersdorf, Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte, AöR 119 (1994), S. 400 ff. (418). 303
98
2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
Einzelermächtigung der Gemeinschaft beruht und durch das Subsidiaritätsprinzip flankiert wird, 306 ist die Gemeinschaft grundsätzlich nur in den Bereichen zu Handlungen befugt, für die sie im EG-Vertrag eine Kompetenz zugewiesen bekommen hat.307
b) Inhalt und Reichweite
der Schutzpflichten
Ausgehend davon, dass die Gemeinschaftsgrundrechte Schutzpflichten der Gemeinschaftsorgane und der Mitgliedstaaten308 als Grundrechtsadressaten begründen, soll hier noch kurz darauf eingegangen werden, welcher Inhalt und welche Reichweite gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten zu erwarten bzw. erforderlich sind.
aa) Inhalt gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten Inhalt gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten sollte in erster Linie die Abwehr von Gefahren von den durch die Gemeinschaftsgrundrechte geschützten Rechtsgütern sein. Darüber hinaus ist zu fordern, dass Schutzpflichten auch - wie im deutschen Verfassungsrecht 309 - zur Vorsorge gegen Risiken, denen das Rechtsgut ausgesetzt ist, bestehen können. Letzteres sollte die Konsequenz aus der ausdrücklichen Anerkennung des Vorsorgeprinzips auf europäischer Ebene sein, wonach auch beim Vorliegen lediglich einer Besorgnis, dass potentielle Gefahren für die Umwelt sowie die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen bestehen, Maßnahmen der Risikovorsorge ergriffen werden können.310 306 307
(222).
Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 269. Vgl. Szczekalla, Grundfreiheitliche Schutzpflichten, DVB1. 1998, S. 219 ff
308
Die Mitgliedstaaten sind nach der überwiegenden Auffassung in Rechtsprechung und Schrifttum jedenfalls im Rahmen der Umsetzung oder Vollziehung von Gemeinschaftsrechtsakten an gemeinschaftliche Grundrechte gebunden: vgl. aus der Rechtsprechung des EuGH: EuGH, Wachauf, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 Rdnr. 19; EuGH, Bostock, Rs. C-2/92, Slg. 1994, 1-955 Rdnr. 16; EuGH, Duff u.a., Rs. C-63/93, Slg. 1996,1-569 Rdnr. 29; EuGH, Earl de Kerlast, Rs. C-15/95, Slg. 1997,1-1961 Rdnr. 36. Aus der Literatur siehe beispielsweise Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rdnr. 56 ff; Gersdorf Funktionen der Gemeinschaftsgrundrechte, AöR 119 (1994), S. 400 ff (407) m.w.N.; Pieper, in: Bleckmann, Europarecht, Rdnr. 125; Nicolaysen, Europarecht I, 2. Auflage, § 4 I, S. 119. 309 Vgl. BVerfGE 49, 89 (140 ff.) - Kalkar; BVerfGE 53, 30 (57) - MühlheimKärlich; BVerfGE 56, 54 (78) - Fluglärm. 310 Vgl. Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, KOM(2000) 1 endg., S. 12.
3. Kap.: Schutzpichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
99
Zum Inhalt grundrechtlicher Schutzpflichten gehört zudem, dass die im Rahmen der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten grundsätzlich erforderliche Interessenabwägung unter Beachtung insbesondere des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit erfolgt. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist in Art. 5 Abs. 3 EGV verankert und erfüllt die Funktion einer Abwägungsrichtlinie, die Vorgaben für den Ausgleich kollidierender Rechtsgüter enthält; am Ende der Abwägung muss eine Entscheidung stehen, die die widerstreitenden Interessen zu einem angemessenen Ausgleich bringt. 311
bb) Reichweite gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten Neben der Frage nach dem Inhalt gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten stellt sich die Frage nach deren Reichweite, das heißt die Frage, inwieweit die Adressaten der Schutzpflichten hinsichtlich des „Wie" der Schutzpflichterfüllung gebunden sind oder ihnen insoweit ein Gestaltungsspielraum zusteht. Letzterenfalls wären die in Erfüllung der Schutzpflichten getroffenen Maßnahmen nur eingeschränkt durch den Europäischen Gerichtshof gerichtlich überprüfbar. Diese Frage ist für die Adressaten der Gemeinschaftsgrundrechte, d.h. für die Mitgliedstaaten einerseits und für die Gemeinschaftsorgane andererseits, getrennt zu behandeln. (1) Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten Für einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten sprechen verschiedene Gründe. Die Notwendigkeit eines weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums der Mitgliedstaaten besteht beispielsweise für den Fall, dass die Mitgliedstaaten gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflichten im Rahmen eines ihnen nach dem Gemeinschaftsrecht zukommenden Kompetenzbereichs ausüben. Denn würde der Europäische Gerichtshof den Mitgliedstaaten für diese Bereiche bestimmte Schutzmaßnahmen vorschreiben und ihnen somit eben keinen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum belassen, würde er in Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten eingreifen und die vertikale Kompetenzverteilung unterlaufen. 312 Weiterhin spricht die Natur der Entscheidungen, die zur Erfüllung von Schutzpflichten getroffen werden, dafür, den Mitgliedstaaten bei der Wahr311 Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, 2. Aufl., Art. 6 EUV Rdnr. 73 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH. 312 Vgl. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 269.
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2. Teil: Umfassende Kennzeichungspilicht nach Gemeinschaftsrecht
nehmung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum einzuräumen. Bei den Entscheidungen zur Erfüllung von Schutzpflichten handelt es sich nämlich grundsätzlich um politische Entscheidungen, die einer komplexen Interessenabwägung gegensätzlicher Belange bedürfen. Gerade für Fälle der Wahrnehmung politischer Gestaltungsaufgaben ist anerkannt, dass die Mitgliedstaaten dabei im Sinne eines politischen Ermessens einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum besitzen.313 Zwar hat es angesichts der noch fehlenden Anerkennung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten auch noch keine Entscheidung des EuGH gegeben, in der ein Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten entsprechend dieser Begründung hergeleitet worden ist. Der Europäische Gerichtshof hat allerdings in einem Urteil mit einer ähnlichen Begründung einen Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten bei der Wahrnehmung ihrer Aufgabe zum Schutz der Grundfreiheiten des EG-Vertrages begründet. Bei dem Urteil handelt es sich um das viel diskutierte Urteil des EuGH zu den von französischen Bauern aufgebauten Straßenblockaden.314 In der maßgeblichen Textpassage des Urteils führt der Europäische Gerichtshof aus, „dass die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, alle erforderlichen und geeigneten Maßnahmen zu ergreifen, um in ihrem Gebiet die Beachtung der Grundfreiheiten sicherzustellen. Dabei steht es im Ermessen der Mitgliedstaaten, [...], zu entscheiden, welche Maßnahmen in einer bestimmten Situation am geeignetsten sind, um Beeinträchtigungen [...] [der Grundfreiheiten] zu beseitigen. Es ist daher nicht Sache der Gemeinschaftsorgane, sich an die Stelle der Mitgliedstaaten zu setzen und ihnen vorzuschreiben, welche Maßnahmen sie erlassen und tatsächlich anwenden müssen [...]."
Aufgabe des Gerichtshofs sei es lediglich, „unter Berücksichtigung des genannten Ermessens zu prüfen, ob der betreffende Mitgliedstaat [...] geeignete Maßnahmen ergriffen hat. c ' 31
Im Sinne eines solchen eingeschränkten Prüfungsrechts erörterte der Europäische Gerichtshof im konkreten Fall nur, ob die von der französischen Regierung unterlassene Verhinderung der französischen Agrarblockaden einen „offenkundigen " Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht bedeutet, weil sie damit
313
Vgl. Geiger, EUV, EGV, Art. 220 Rdnr. 1. EuGH, Kommission v. Frankreich, (Agrarblockaden), Rs. C-265/95, Slg. 1997,16959 Rdnr. 32 ff. 315 EuGH, Kommission v. Frankreich, (Agrarblockaden). Rs. C-265/95, Slg. 1997,16959 Rdnr. 32 ff. 314
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
die „zur Erfüllung ihrer gemeinschaftsrechtlichen Verpflichtungen 310 baren*' Maßnahmen nicht erlassen hat.
101 unabding-
Auffallend ist, dass der Europäische Gerichtshof mit dieser zu den Grundfreiheiten ergangenen Rechtsprechung an die unter anderem aus der Rechtsprechung des EGMR31 und aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts318 bekannte Dogmatik zu grundrechtlichen Schutzpflichten anknüpft. Dies kann als ein Anhaltspunkt gesehen werden, dass der Gerichtshof erst recht im Hinblick auf aus Grundrechten hergeleitete Schutzpflichten diese Rechtsprechung übernehmen und einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum der Mitgliedstaaten annehmen würde. (2) Gestaltungsspielraum der Gemeinschaftsorgane Den gesetzgebenden Gemeinschaftsorganen könnte ebenso bei der Wahrnehmung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum einzuräumen sein. Gegen einen solchen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des gemeinschaftlichen Gesetzgebers kann grundsätzlich geltend gemacht werden, dass es diesem an einer hinreichenden demokratischen Legitimation fehlt, 319 die für die Zuerkennung von Gestaltungsspielräumen des Gesetzgebers im nationalen Verfassungsrecht konstituierend ist. Allerdings ist auch für das Gemeinschaftsrecht anerkannt, dass es bei der Wahrnehmung politischer Gestaltungsaufgaben, die auch im Gemeinschaftsrecht den Rechtssetzungsorganen zugewiesen sind, eines Gestaltungsspielraums des Entscheidungsträgers bedarf, der nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist.320 Dementsprechend hat sich auch der Europäische Gerichtshof bereits mehrfach für einen weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum des gemeinschaftlichen Gesetzgebers beim Treffen von Entscheidungen, die einen Ausgleich divergierender Interessen verlangen, ausgesprochen und
316
EuGH, Kommission v. Frankreich. (Agrarblockaden), Rs. C-265/95, Slg. 1997,16959 Rdnr. 43, 52. 317 EGMR, X und Y v. Niederlande, A/91 (1985), § 24 = EuGRZ 1985, 297, 298; EGMR, Plattform ,Arzte für das Leben" v. Österreich, A/139 (1988), § 32 = EuGRZ 1989, 522, 524. Ausführlich dazu m.w.N. Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 168 ff. 318 Im deutschen Recht wird dem Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten ausdrücklich ein weiter Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum eingeräumt; vgl. beispielhaft BVerfGE 77, 381 (405); 79, 174 (202); 85, 191 (212 f.) 319 Allgemein zur unzureichenden demokratischen Legitimation der Gemeinschaftsorgane siehe statt vieler Liibbe-Wolff\ Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), 246 ff. (255 f., 258 ff.); Gusy, Demokratiedefizit postnationaler Gemeinschaften unter Berücksichtigung der EU, ZIP 1998, 267 ff. 320 Geiger, EUV, EGV, Art. 220 Rdnr. 1.
102
2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
seinen eigenen Prüfungsanspruch entsprechend zurückgenommen.321 Der Gerichtshof überprüft die gemeinschaftlichen Gesetzgebungsakte nur noch daraufhin, ob die gesetzgeberische Maßnahme zur Verwirklichung des verfolgten Zieles „offensichtlich ungeeignet" war. 322 Da auch zur Umsetzung grundrechtlicher Schutzpflichten ergehende richterliche Entscheidungen klassischerweise eine Abwägung und einen Ausgleich divergierender Interessen erfordern, ist zu erwarten, dass auch im Hinblick auf gemeinschaftsgrundrechtliche Schutzpflichten den Gemeinschaftsorganen ein weiter Gestaltungsspielraum bei der Wahrnehmung von Schutzpflichten zuerkannt wird. (3) Zusammenfassung Es kann somit davon ausgegangen werden, dass sowohl den Mitgliedstaaten als auch den Gemeinschaftsorganen bei der Erfüllung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum einzuräumen ist, so dass die in Erfüllung der Schutzpflichten getroffe321 EuGH, Bananenmarktordnung, Rs. C-280/93, Slg. 1994, 1-4973, 5068 f. Rdnr. 90 f.: „Diese Einschränkung der Kontrolle des Gerichtshofs ist insbesondere dann geboten, wenn sich der Rat veranlasst sieht, [...] einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und auf diese Weise im Rahmen der in seine eigene Verantwortung fallenden politischen Entscheidungen eine Auswahl zu treffen. [...] Zwar ist nicht auszuschließen, dass andere Mittel in Betracht kommen konnten, um das angestrebte Ergebnis zu erreichen; der Gerichtshof kann jedoch nicht die Beurteilung des Rates in der Frage, ob die vom Gemeinschaftsgesetzgeber gewählten Maßnahmen mehr oder weniger angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren."
Eine weitere Entscheidung des EuGH (EuGH Rs. C-l 50/94, Slg. 1998, 1-7235, 7302 f. Rdnr. 87 a.E., 91) lautet: „Die Beschränkung der Kontrolle durch den Gerichtshof ist insbesondere dann geboten, wenn sich der Rat veranlasst sieht, einen Ausgleich zwischen divergierenden Interessen herbeizuführen und so im Rahmen der in seinem Verantwortungsbereich zu treffenden politischen Entscheidungen eine Auswahl vorzunehmen. [...] Der Gerichtshof kann nicht die vom Rat vorgenommene Beurteilung der Frage, ob die von ihm gewählten Maßnahmen angemessen sind, durch seine eigene Beurteilung ersetzen, wenn der Beweis nicht erbracht ist, dass diese Maßnahmen zur Verwirklichung des verfolgten Zieles offensichtlich ungeeignet waren." Auch für den Fall, dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber im EG-Vertrag festgeschriebene Schutzaufgaben [im konkreten Fall Aufgaben zum Schutz der Umwelt gemäß Art. 174 EGV] wahrnimmt, hat der EuGH einen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers anerkannt und seine gerichtliche Nachprüfung entsprechend eingeschränkt; siehe EuGH, Safety Hi-Tech, Rs. C-284/95, Slg. 1998,1-4301, 4344 Rdnr. 37. 322 EuGH, Bananenmarktordnung, Rs. C-280/93, Slg. 1994, 1-4973, 5068 f. Rdnr. 90 f.; EuGH Rs. C-l 50/94, Slg. 1998,1-7235, 7302 f. Rdnr. 87, 91.
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
103
nen Maßnahmen nur eingeschränkt durch den Europäischen Gerichtshof gerichtlich überprüfbar sind. Die Wahrnehmung gemeinschaftsgrundrechtlicher Schutzpflichten durch die Gemeinschaftsorgane und die Mitgliedstaaten ist vom Europäischen Gerichtshof nur daraufhin zu überprüfen, ob diese ihre Schutzaufgaben überhaupt wahrnehmen und die unabdingbar notwendigen Schutzmaßnahmen erlassen. Die noch offene Frage, wann das unabdingbare Maß an Schutz unterschritten ist, lässt sich ebenso wie im Rahmen des deutschen Rechts oder der Europäischen Menschenrechtskonvention auch im Gemeinschaftsrecht nicht anhand einer allgemeingültigen Formel, sondern nur unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalls beantworten. Im Hinblick auf das Urteil des EuGH zu den französischen Agrarblockaden 323 erscheint es denkbar, dass der EuGH als Umstände des Einzelfalls die Bedeutung des betroffenen Rechtsguts, die Häufigkeit und Schwere der Beeinträchtigungen des Rechtsguts sowie die denkbaren Schutzmöglichkeiten heranzieht.
B. Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel im Hinblick auf grundrechtliche Schutzpilichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers? Das Bestehen grundrechtlicher Schutzpflichten im Gemeinschaftsrecht vorausgesetzt, stellt sich vorliegend die Frage, ob die nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel geltenden Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel den grundrechtlichen Schutzpflichten des Gesetzgebers genügen oder ob der gemeinschaftliche Gesetzgeber eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel regeln muss. Eine hier einschlägige Schutzpflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers könnte sich aus einem gemeinschaftlichen Grundrecht auf Lebens- und Gesundheitsschutz, aus einem gemeinschaftlichen Grundrecht auf Information oder aus einem gemeinschaftlichen Grundrecht auf Glaubens- und Gewissensfreiheit ergeben.
I. Kompetenzakzessorietät
gemeinschaftsgrundrechtlicher
Schutzpflichten
Bevor in eine Überprüfung der Kennzeichnungsregelung der Verordnung veränderte Lebens- und Futtermittel im Hinblick auf grund-
über genetisch 323
EuGH, Kommission v. Frankreich (Agrarblockaden), Rs. C-265/95, Slg. 1997,16959 Rdnr. 52 I I
1 0 4 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
rechtliche Schutzpflichten des gemeinschaftlichen Gesetzgebers eingestiegen wird, ist zu berücksichtigen, dass die gemeinschaftsgrundrechtlichen Schutzpflichten kompetenzakzessorisch sind. Das heißt, dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber Schutzpflichten nur wahrnehmen kann, wenn ihm für den jeweiligen Handlungsbereich im EG-Vertrag eine Kompetenz zugewiesen ist." Der gemeinschaftliche Gesetzgeber müsste mithin nach dem EG-Vertrag eine Kompetenz zur Regelung gentechnisch veränderter Lebensmittel besitzen. Bei der Suche nach einer solchen Kompetenz der Gemeinschaft hilft ein Blick darauf, auf welche vertraglichen Kompetenzen der gemeinschaftliche Gesetzgeber selbst die Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel stützt. Die Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel ist auf die Kompetenz der Gemeinschaft zur Angleichung der den gemeinsamen Markt betreffenden Vorschriften (Art. 95 EGV), die Kompetenz zur Schaffung einer gemeinsamen Agrarpolitik (Art. 37 EGV) und die Kompetenz, zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung Maßnahmen in den Bereichen Veterinärwesen und Pflanzenschutz zu erlassen (Art. 152 Abs. 4 b) EGV) gestützt. Diesen Kompetenzvorschriften lässt sich im Hinblick auf Ziel und Inhalt des Rechtsakts325 und in den durch das „Prinzip der begrenzten Einzelzuständigkeit" gesetzten Grenzen eine Kompetenz der Gemeinschaft zur Regelung des Inverkehrbringens gentechnisch veränderter Lebens- und Futtermittel und deren Kennzeichnung entnehmen. Eine Kompetenz des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung gentechnisch veränderter Lebensmittel liegt somit vor, so dass für diesen Bereich auch eine Wahrnehmung von Schutzpflichten durch den gemeinschaftlichen Gesetzgeber grundsätzlich zulässig ist. Die Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch veränderte Lebensund Futtermittel kann mithin an diesen Schutzpflichten des Gesetzgebers überprüft werden.
324 Zur Kompetenzakzessorietät von Schutzpflichten vgl. Szczekalla, Schutzpflichten, S. 602; ders., Grundfreiheitliche Schutzpflichten - eine „neue" Funktion der Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts, DVB1. 1998, S. 219 ff. (222); Jaeckel, Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, S. 220. 325 Nach der Rechtsprechung des EuGH ist die richtige Rechtsgrundlage für einen gemeinschaftlichen Rechtsakt nach objektiven, justitiablen Kriterien mit Blick auf Ziel und Inhalt des Rechtsakts auszuwählen; so der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung; vgl. bspw. EuGH, Rs. C-l 55/91, Slg. 1993,1-939 m.w.N.
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten II Pßicht des gemeinschaftlichen eines Grundrechts
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Gesetzgebers zum Schutz
auf Informationsfreiheit
Die Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel könnte sich über eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz eines Grundrechts auf Informationsfreiheit begründen lassen.
1. Bestehen eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Informationsfreiheit Ein gemeinschaftliches Grundrecht auf Informationsfreiheit ist in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs als Teil eines allgemeinen Kommunikationsrechts anerkannt.326 Der Rechtsprechung lässt sich ein Verständnis der Informationsfreiheit als ein Recht auf freien Empfang und freie Verbreitung von Informationen ohne staatliche Beschränkungen entnehmen.327 Ein Grundrecht auf Informationsfreiheit ist auch in Art. 11 Abs. 1 GR-Charta aufgenommen worden, wonach das Recht auf freie Meinungsäußerung neben der Meinungsfreiheit das Recht einschließt, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Und auch in der Europäischen Menschenrechtskonvention328 ist die Freiheit zum Empfang von Nachrichten oder Ideen als Bestandteil des Rechts auf Meinungsäußerung mithin ein Recht auf Information garantiert. Im Hinblick darauf, dass bei der Überprüfung, ob der Gesetzgeber im Einzelfall - hier bei der Regelung von Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel - seinen grundrechtlichen Schutzpflichten genügt, die Bedeutung des betroffenen Rechtsguts eine wesentliche Rolle spielt, soll im Folgenden etwas näher auf die Bedeutung eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Informationsfreiheit eingegangen werden. Die Bedeutung des Grundrechts auf Informationsfreiheit soll insbesondere anhand der dem Grundrecht zukommenden Schutzzwecke bestimmt werden. Die Schutzzwecke eines Grundrechts auf Informationsfreiheit sieht der EuGH - in Übernahme der Rechtsprechung des EGMR329 - zum einen in der
326
EuGH, Protection of Unborn Children, Rs. 159/90, Slg. 1991,1-4685 Rdnr. 30. EuGH, Rs. 159/90, Slg. 1991,1-4685 Rdnr. 30 ff. 328 Art. 10 Abs. 1 EMRK. 329 In seiner dazu ergangenen Leitentscheidung Handyside urteilte der EGMR: „Das Recht der freien Meinungsäußerung stellt einen der Grundpfeiler einer demokratischen Gesellschaft dar, eine der Grundvoraussetzungen für ihren Fortschritt und für die Entfaltung eines jeden einzelnen. EGMR v. 7.12.1976, Pubi. Ser. A Nr. 24 = EuGRZ 1977, 38 ff. (42) Rdnr. 49; und seitdem in ständiger Rechtsprechung EGMR v. 327
106
2. Teil: Umfassende Kennzeichungspilicht nach Gemeinschafsrecht
Bedeutung des Grundrechts als grundlegende Funktionsvoraussetzung eines freiheitlich-demokratischen Staates und zum anderen in der Bedeutung des Grundrechts als wesentliche Bedingung der individuellen Persönlichkeitsentfaltung. 330 Die Bedeutung der Informationsfreiheit als grundlegende Funktionsvoraussetzung eines freiheitlich-demokratischen Staates lässt sich folgendermaßen begründen. Eine Grundbedingung der Demokratie, in der die Staatsgewalt grundsätzlich vom gesamten Volke ausgeht, ist die Konsensbildung des grundsätzlich antagonistisch geprägten Volkes. Diese Konsensbildung wird insbesondere dadurch garantiert, dass es allen Bürgern des Volkes gewährleistet ist, ihre politischen Interessen frei artikulieren zu können.331 Damit ist das klassisch demokratische Recht der Bürger auf Teilhabe an der politischen Willensbildung angesprochen, das neben dem Recht auf Stimmabgabe bei Wahlen ein Recht der Einflussnahme auf den ständigen Prozess der politischen Meinungsbildung, die Bildung öffentlicher Meinung, umfasst. 332 Voraussetzung dieses grundlegend demokratischen Rechtes der Bürger ist neben einem Recht der Bürger zur Meinungsbildung und -äußerung deren Recht auf Information. Das Recht auf Information genießt dabei in zweierlei Hinsicht eine besondere Bedeutung. Zum einen sind Informationen erst die Voraussetzung einer der Meinungsäußerung vorausgehenden Meinungsbildung und damit auch der Meinungsäußerung. Zum anderen gewährleistet das Recht auf Information erst die für einen demokratischen Willensbildungsprozess konstitutionell bedeutsame „politische Freiheit" der Bürger. Als politische Freiheit wird dabei eine Freiheit des Einzelnen von Fremdbestimmung im Denken und Handeln verstanden und gefordert, 333 das heißt letztlich die Möglichkeit des Einzelnen, selbstbestimmt und verantwortlich zu handeln. Diese Bedeutung
23.5.1991, Pubi. Ser. A Nr. 204 = EuGRZ 1991, 216 ff. (221) Rdnr 57; EGMR v. 24.11.1993, Pubi. Ser. A Nr. 276 = EuGRZ 1994, S. 549 (550) Rdnr. 38. 330 EuGH vom 12.6.2003, Rs. C-l 12/00 Rdnr. 79; EuGH, Rs. C-274/99P, Slg. 2001, 1-1611 Rdnr. 39. Zur Diskussion dieser Schutzzwecke eines Grundrechts auf Informationsfreiheit im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH siehe Kühling, Die Kommunikationsfreiheit als europäisches Gemeinschaftsgrundrecht, S. 89 ff., 91 ff. 331 Vgl. Heller, Demokratie und soziale Homogenität in Gesammelte Schriften, Bd. Π. S. 421 (430); Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 387 ff. 332 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rdnr. 149 ff.; Schmitt Glaeser, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band Π, § 31 Rdnr. 26. 333 Böckenförde, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, § 22 Rdnr. 35. Siehe auch Kelsen, der in seiner Lehre von der Demokratie Freiheit im Sinne einer politischen Freiheit als konstituierendes Prinzip der Demokratie versteht. Dabei deliniert Kelsen : „ Politisch frei ist, wer zwar Untertan, aber nur seinem eigenen, keinem fremden Willen Untertan ist. "; Kelsen, Allgemeine Staatslehre, S. 321 f.
3. Kap.: Schutzpichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
107
der Informationsfreiheit als Funktionsvoraussetzung eines freiheitlichdemokratischen Staates ist beispielsweise auch durch das BVerfG anerkannt: „Erst über das Recht auf Information wird der Bürger in den Stand gesetzt, sich selbst die notwendigen Voraussetzungen zur Ausübung seiner persönlichen und politischen Aufgaben zu verschaffen, um im demokratischen Sinne verantwortlich handeln zu können. " 3M
Die Erkenntnis, dass das Recht auf Informationsfreiheit darüber hinaus als Mittel zur Persönlichkeitsentfaltung dient, entspricht einem liberalen Grundrechtsverständnis, wonach Grundrechte insbesondere auf die rechtliche Sicherung realer Möglichkeiten subjektiver Entfaltung des eigenverantwortlichen Individuums abzielen.335 Bereits Fichte formulierte, dass die Freiheit, alle Informationen, die sich darbieten, aufzunehmen, Bestandteil der menschlichen Persönlichkeit ist. Es gehöre zur menschlichen Bestimmung, all dasjenige aufzunehmen, was der geistigen und sittlichen Bildung dienlich ist.336 In diesem Sinne äußerte sich auch das Bundesverfassungsgericht, indem es entschied, dass die grundrechtliche Informationsfreiheit auch eine aus Art. 1, Art. 2 Abs. 1 GG hergeleitete individualrechtliche Komponente besitzt, nach der es „zu den elementaren Bedürfnissen des Menschen gehört, sich aus möglichst vielen Quellen zu unterrichten, das eigene Wissen zu erweitern und sich so als Persönlichkeit zu entfalten. " 337
Im Ergebnis kann somit vom Bestehen eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Informationsfreiheit, dem zudem hinsichtlich der Schutzzwecke des Grundrechts erhebliche Bedeutung zukommt, ausgegangen werden. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber unterliegt grundsätzlich einer Pflicht zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit.
2. Schutzpflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden44 Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel? Voraussetzung einer Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers, zum Schutz der Informationsfreiheit eine umfassende Kennzeichnung gentechnisch 334
BVerfGE 27, 71 (81 f.). Allgemein zum liberalen Grundrechtsverständnis Hoffmann-Riem, in: Benda/Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, § 7 Rdnr. 2; speziell zu dem der deutschen Grundrechtsdogmatik zugrunde liegenden liberalen Grundrechtsverständnis und den daraus folgenden Konsequenzen für Schutzzwecke des Art. 5 Abs. 1 GG Herzog, in: Maunz-Dürig (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Art. 5 Abs. I, Π Rdnr. 3. 336 Fichte, Zurückforderung der Denkfreiheit, S. 16. 337 BVerfGE 27,71 (81). 335
1 0 8 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
veränderter Produkte über entsprechende Verpflichtungen der Lebensmittelhersteller sicherzustellen, ist, dass sich eine solche weitreichende Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit begründen lässt. Eine solche weitreichende Schutzpflicht lässt sich nicht aus dem Abwehrgehalt des gemeinschaftlichen Grundrechts auf Informationsfreiheit herleiten, der - wie gesehen - nur ein Abwehrrecht gegenüber der Behinderung der Informationsgewinnung durch einen Hoheitsträger begründet. Eine aus dem Grundrecht auf Informationsfreiheit hergeleitete Schutzpflicht wäre nur darauf gerichtet, dass der Einzelne Informationen ohne eine Behinderung durch Dritte empfangen kann. Nicht begründen lässt sich aus dem Abwehrgehalt des Grundrechts eine Pflicht des Staates, Dritte zur Bereitstellung von Informationen zu verpflichten. Der Umfang grundrechtlicher Schutzpflichten ist allerdings nach der hier vertretenen Ansicht nicht auf den Abwehrgehalt der Grundrechte zu beschränken. Die europäischen Grundrechte sind vielmehr als objektive Werteordnung zu betrachten, wobei der Gesetzgeber als Hoheitsträger verpflichtet ist, sich schützend vor diese Werte zu stellen.338 Die Anerkennung einer durch die gemeinschaftsrechtlichen Grundrechte begründeten Werteordnung bedeutet, dass den Grundrechtsträgern die von den Grundrechten geschützten Rechtsgüter über den Abwehrgehalt hinaus zuerkannt werden, soweit sie schutzbedürftig sind. Eine Ableitung der Schutzpflichten allein aus dem Abwehrgehalt der Grundrechte würde die anerkanntermaßen aus den Grundrechten abzuleitende Werteordnung zu eng fassen. Ein solches Verständnis der objektiven Werteordnung ist erforderlich, wenn man einen effektiven Schutz der Grundrechte gewährleisten will, der nicht bei der Bedeutung der Grundrechte als Abwehrrechte endet. Zu berücksichtigen ist auch, dass die Beeinträchtigung der Grundrechte durch private Dritte häufig eine andere Zielrichtung haben wird als hoheitliche Grundrechtseingriffe. Das heißt, es können beim Schutz der Grundrechte Grundrechtsinhalte zu schützen sein, die von einem Hoheitsträger eher nicht gefährdet werden. Auch deshalb ist es erforderlich, den im Sinne einer Werteordnung verstandenen Grundrechtsschutz über den Abwehrgehalt der Grundrechte hinausreichen zu lassen. Im Ergebnis lässt sich somit eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers, zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit eine Pflicht der Lebensmittelhersteller zu normieren, gentechnisch veränderte Produkte umfas338 So auch Stumpf, in Schwarze (Hrsg.), EU-Kommentar, 2000, Art. 6 EUV, Rdnr. 20; Schröder, Wirkungen der Grundrechtscharta in der europäischen Rechtsordnung, JZ 2002, 849 ff. (852).
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
109
send zu kennzeichnen, aus grundrechtlichen Schutzpflichten grundsätzlich herleiten. Diese gesetzgeberische Pflicht wird aber eingeschränkt durch den dem Gesetzgeber zustehenden weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraum. Im Folgenden ist zu prüfen, ob der gemeinschaftliche Gesetzgeber mit der Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch veränderter Lebens- und Futtermittel seine Pflicht zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit vor Eingriffen privater Dritter überhaupt wahrnimmt und die unabdingbar
notwendigen
Schutzmaßnahmen
erlässt.
Dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber mit der lückenhaften Kennzeichnungspflicht nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel seine Pflicht zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit überhaupt wahrnimmt, kann nicht bezweifelt werden. Denn der gemeinschaftliche Gesetzgeber hat gentechnisch veränderte Lebensmittel grundsätzlich einer Kennzeichnungspflicht unterstellt und damit seine Pflicht zum Schutz eines Grundrechts auf Informationsfreiheit grundsätzlich wahrgenommen. Zur Beurteilung, ob der Gesetzgeber mit der eingeschränkten Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel auch die unabdingbar notwendigen Maßnahmen zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit getroffen hat, soll darauf geblickt werden, inwieweit mit der Regelung die Schutzzwecke des Grundrechts auf Informationsfreiheit noch gewahrt werden. Der Schutzzweck des Grundrechts auf Informationsfreiheit als grundlegende Funktionsvoraussetzung eines freiheitlich-demokratischen Staates, d.h. als Garant einer öffentlichen Willensbildung, besitzt im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln besondere Bedeutung. Das Thema der gentechnischen Veränderung von Lebensmitteln ist nämlich gesellschaftlich sehr umstritten und zur Klärung des gesellschaftlichen Umgangs mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln bedarf es mithin im Sinne eines demokratischen Prozesses einer öffentlichen Willensbildung. Die öffentliche Willensbildung muss dabei nicht einfach nur möglich sein, sondern im Sinne des demokratischen Grundprinzips „politischer Freiheit" auch frei erfolgen, das heißt unter größtmöglicher Freiheit des Einzelnen vor Fremdbestimmung im Denken und Handeln. Wesentliche Voraussetzung einer so verstandenen Freiheit ist, dass der Einzelne sich frei informieren kann.339 Ein gefiltertes, nach heteronomen Relevanzen bereits gewichtetes Informationsangebot kann der Informationsfreiheit nicht genügen.340 Infolge der Schwellenwertregelungen und
339 Vgl. Rossen, Was darf man wissen? „Novel Food"-Kennzeichnung und die Meinungsbildungsfreiheit des mündigen Marktbürgers, in: Albers/Heine/Seyfarth (Hrsg.): Beobachten - Entscheiden - Gestalten, Symposium zum Ausscheiden von Dieter Grimm aus dem Bundesverfassungsgericht, S. 37 ff. (60).
1 1 0 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
der fehlenden Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel wird dem Verbraucher die Information vorenthalten, dass ein Lebensmittel Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält bzw. dass ein Lebensmittel „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt ist. Damit ist dem Verbraucher die Möglichkeit genommen, sich frei für oder gegen den Kauf von Lebensmitteln, die gentechnisch verunreinigt sind oder die unter Zuhilfenahme gentechnischer Methoden hergestellt wurden, zu entscheiden. Der Verbraucher trifft seine Produktwahl somit nicht in vollkommener Freiheit vor Fremdbestimmung im Denken und Handeln. Der Bedeutung des Grundrechts auf Informationsfreiheit als Garant öffentlicher Willensbildung könnte somit mit diesen Ausnahmen von einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel nicht ausreichend Rechnung getragen sein. Andererseits spricht aber gegen eine so begründete Unvereinbarkeit der Kennzeichnungslücken nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel mit dem Schutzzweck des Grundrechts auf Informationsfreiheit als Garant öffentlicher Willensbildung, dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber lediglich einen unabdingbar notwendigen Grundrechtsschutz gewährleisten muss. Für einen unabdingbar notwendigen Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit ist es im Hinblick auf den Schutzzweck des Grundrechts als Garant öffentlicher Willensbildung ausreichend, dass gentechnisch veränderte Lebensmittel grundsätzlich gekennzeichnet werden müssen. Denn die grundsätzliche Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel schafft ausreichend Informationen, so dass sich eine für die Demokratie wesensbestimmende öffentliche Meinung zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln bilden kann. Zum Beispiel ist es gewährleistet, dass die Verbraucher durch den Kauf oder Nichtkauf solcher Produkte oder durch eine öffentliche Meinungsäußerung zum Thema „gentechnisch verunreinigte Lebensmittel" ihre Akzeptanz oder Ablehnung gentechnisch veränderter Lebensmittel öffentlich zum Ausdruck bringen können. Im Hinblick auf die Überprüfung der Kennzeichnungsregelung der Verordveränderte Lebens- und Futtermittel am zweiten Schutzzweck des Grundrechts auf Informationsfreiheit, dem Einzelnen eine freie Persönlichkeitsentfaltung zu gewährleisten, ist zu berücksichtigen, dass die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung von vielen Verbrauchern aus ethischen oder moralischen Bedenken abgelehnt wird. 341 Für diese
nung über genetisch
340 Rossen, Was darf man wissen? „Novel Food^-Kennzeichnung und die Meinungsbildungsfreiheit des mündigen Marktbürgers, in: Albers/Heine/Seyfarth (Hrsg.): Beobachten - Entscheiden - Gestalten, Symposium zum Ausscheiden von Dieter Grimm aus dem Bundesverfassungsgericht, S. 37 ff. (60). 341 Vgl. unten im dritten Teil der Arbeit, 5. Kapitel: Das tatsächliche Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter
3. Kap.: Schutzpichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
111
Verbraucher bedeutet es einen erheblichen Eingriff in die - als Schutzzweck der Informationsfreiheit anerkannte - freie und individuelle Persönlichkeitsentfaltung, wenn sie es infolge mangelnder Information nicht ausschließen können, Produkte, die Spuren gentechnisch veränderter Organismen enthalten, zu konsumieren. Allerdings gilt auch hier, dass der Verbraucher grundsätzlich die Möglichkeit hat, sich über die Verunreinigung von Lebensmitteln mit gentechnisch veränderten Organismen zu unterrichten, und dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber damit auch im Hinblick auf die durch das Grundrecht auf Informationsfreiheit geschützte Persönlichkeitsentfaltung einen unabdingbar notwendigen Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit gewährleistet. Die Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel ist somit trotz der Kennzeichnungslücken unter Berücksichtigung des weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers mit einer Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz des Grundrechts auf Informationsfreiheit vereinbar.
III. Pßicht des gemeinschaftlichen eines Grundrechts
auf
Gesetzgebers zum Schutz Selbstbestimmung
Eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel könnte sich zudem aus einem Grundrecht auf Selbstbestimmung herleiten lassen. Ein solches Grundrecht wird zwar nicht als eigenständiges Grundrecht anerkannt, es lässt sich aber als ein Recht auf eigenverantwortliche Lebensgestaltung aus dem Grundrecht auf Achtung der Menschenwürde ableiten.342 Darüber hinaus ließe sich ein Recht auf Selbstbestimmung auch als Gewährleistung eines Grundrechts auf allgemeine Handlungsfreiheit bestimmen. In der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts ist dementsprechend anerkannt, dass im Sinne der allgemeinen Handlungsfreiheit nach
und gentechnisch hergestellter Lebensmittel und die Notwendigkeit einer solchen Kennzeichnungspflicht aus Gründen des Verbraucherschutzes. 342 Vgl. Schlussantrag der Frau Generalanwalt Stix-IIackl vom 18. März 2004 in der Rechtssache C-36/02, Rdnr. 78 f . Der EuGH hat in dem Urteil Rs. C-13/94, Slg. 1996, 1-2143, Rdnr. 22 die Diskriminierung einer Person, die eine Geschlechtsumwandlung vorgenommen hat, als Verstoß gegen das Grundrecht auf Achtung der Würde und der Freiheit eines Menschen betrachtet. Dem wird entnommen, dass die Selbstbestimmung des Einzelnen über seine Persönlichkeit und seine Lebensumstände zum Schutzbereich eines Grundrechts auf Menschenwürde zähle; so Pernice/May er, in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Bd. I, Art. 6 EUV Rdnr. 56.
1 1 2 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
Art. 2 Abs. 1 GG den Grundrechtsträgern ein letzter unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist, vorbehalten sein muss,343 ein sog. unantastbarer Bereich individueller Selbstbestimmung. Konkret wird in diesem Sinne aus Art. 2 Abs. 1 GG ein Recht des Einzelnen auf „Selbstbestimmung im Rechtsleben", die so genannte Privatautonomie, hergeleitet.344 Entsprechende Erwägungen liegen einem ebenfalls aus Art. 2 Abs. 1 GG hergeleiteten Recht des Verbrauchers auf wirtschaftliche Selbstbestimmung zugrunde.345 Ein Recht des Verbrauchers auf wirtschaftliche Selbstbestimmung meint ein Recht des Verbrauchers, selbst darüber zu bestimmen, welche auf dem Markt angebotenen Waren und Leistungen er in welchem Umfang und aus welchen Beweggründen bezieht.346 Allerdings ist ein Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit weder von der GR-Charta noch von der EMRK anerkannt. Es ist daher davon auszugehen, dass die zuvor genannten, aus einem Grundrecht auf allgemeine Handlungsfreiheit hergeleiteten, Rechte im Gemeinschaftsrecht, wenn überhaupt, über eine weite Auslegung des Schutzbereichs anderer Grundrechte anerkannt werden. Unabhängig von der Anerkennung eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Selbstbestimmung genügt der gemeinschaftliche Gesetzgeber mit der Kennzeichnungsregelung aber - unter Berücksichtigung des ihm eingeräumten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums - den aus dem Grundrecht ableitbaren Schutzpflichten.
IV. Pflicht
des gemeinschaftlichen auf Religions-
Gesetzgebers zum Schutz eines Grundrechts und
Weltanschaiiungsfreiheit
Zum Teil berufen sich die Verbraucher im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln auch auf ihre Glaubensfreiheit. Sie halten die Gentechnik für einen unerträglichen Eingriff in die Schöpfung und lehnen gentechnisch veränderte Lebensmittel deshalb ab.347
343
BVerfGE 6, 32 (41). BVerfGE 72, 155 (170 f.); 89, 214 (231). 345 Näher zu einem Recht des Verbrauchers auf wirtschaftliche Selbstbestimmung: Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 253 f.; Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 80. 346 Drexl, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, S. 253 f. 347 Näher dazu im dritten Teil der Arbeit, 5. Kapitel: Das tatsächliche Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnungspllicht gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel und die Notwendigkeit einer solchen Kennzeichnungspllicht aus Gründen des Verbraucherschutzes. 344
3. Kap.: Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
113
Voraussetzung einer Überprüfung der Vereinbarkeit der lückenhaften Kennzeichnungsregelung mit einer Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz eines Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist, dass ein gemeinschaftliches Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit existiert. Die Grundrechte auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit spielen in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs bislang kaum eine Rolle. Lediglich die Religionsfreiheit wird in einem Urteil des EuGH thematisiert, ohne sie allerdings als allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zu bezeichnen.348 Vom Bestehen eines gemeinschaftlichen Grundrechts auf Religionsund Weltanschauungsfreiheit kann aber trotz der noch fehlenden Rechtsprechung des EuGH ausgegangen werden, und zwar insbesondere im Hinblick darauf, dass auch in Art. 10 der Grundrechte-Charta ein Grundrecht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit gewährleistet ist. Die Kennzeichnungslücken der gemeinschaftlichen Kennzeichnungsregelung für gentechnisch veränderte Lebensmittel bewirken, dass ein Verbraucher es nicht ausschließen kann, mit gentechnisch veränderten Organismen verunreinigte Lebensmittel oder „mit" Hilfe gentechnisch veränderter Organismen hergestellte Lebensmittel zu konsumieren. Der Verbraucher, der die gentechnische Veränderung von Lebensmitteln als Eingriff in die Schöpfung aus weltanschaulichen oder religiösen Gründen ablehnt, könnte dadurch in seinem Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit betroffen sein. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber könnte insoweit mit der Kennzeichnungsregelung der Verordnung
über genetisch
veränderte
Lebens- und Futtermittel
sei-
ner Pflicht zum Schutz des Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit nicht genügen. Dabei ist die Schutzpflicht anhand des Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit als Bestandteil einer objektiven Werteordnung zu bestimmen und nicht auf den Abwehrgehalt des Grundrechts zu beschränken.349 Eine aus dem Grundrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit hergeleitete Pflicht des Gesetzgebers, eine umfassende Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte über entsprechende Verpflichtungen der Lebensmittelhersteller sicherzustellen, ist somit grundsätzlich denkbar. Einer Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz des Grundrechts auf Religionsund Weltanschauungsfreiheit bezogen auf gentechnisch veränderte Lebensmittel kann dabei nicht entgegen gehalten werden, dass die glaubensgestützte Ablehnung gentechnisch veränderter Lebensmittel nicht der Überzeugung der
348 349
Kingreen, in Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 114. Vgl. oben ü.2.b).
1 1 4 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
Mehrheit entspricht.350 Denn der Schutz der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gilt als Individualgrundrecht grundsätzlich auch dem individuellen Gewissen, das gegebenenfalls nicht mit dem Gewissen der Allgemeinheit übereinstimmt. Die Pflicht des Gesetzgebers zum Schutz des Grundrechts auf Religionsund Weltanschauungsfreiheit ist allerdings wiederum durch den weiten Einschätzungs· und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers beschränkt. Im Ergebnis lässt sich deshalb nicht begründen, dass der Gesetzgeber mit der lückenhaften Kennzeichnungsregelung gentechnisch veränderter Lebensmittel seine Pflicht zum unabdingbar notwendigen Schutz des Grundrechts auf Religions· und Weltanschauungsfreiheit nicht erfüllt. Für einen unabdingbar notwendigen Schutz des Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit wird es ausreichend sein, dass die Verbraucher über die Anwendung der Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung grundsätzlich informiert werden. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber genügt somit trotz der Kennzeichnungslücken mit der Kennzeichnungsregelung gentechnisch veränderter Lebensmittel seiner Pflicht zum Schutz eines Grundrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit.
V. Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit
Erste Voraussetzung dafür, aus den Grundrechten auf Leben und körperliche Unversehrtheit eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel herzuleiten, ist, dass die Verbraucher durch die lückenhafte Kennzeichnung in ihren Grundrechten auf Leben und Gesundheit betroffen sind. Auf den ersten Blick scheinen die Verbraucher durch die lückenhafte Kennzeichnungsregelung gentechnisch veränderter Lebensmittel keinem Eingriff in ihre Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit ausgesetzt. Denn die sich im Verkehr befindenden gentechnisch veränderten Lebensmittel wurden grundsätzlich im Rahmen des Zulassungsverfahrens auf gesundheitliche Gefahren hin überprüft, so dass davon ausgegangen werden kann, dass von ihnen keine (nachweisbaren) Gefahren für Leben und Gesundheit ausgehen. Die lückenhafte Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel betrifft insoweit nur die Informationsrechte des Verbrauchers. Bei einer so
350
So aber Knörr, Die Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter Lebensmittel, S. 147.
3. Kap. : Schutzpflichten aus Gemeinschaftsgrundrechten
115
verstandenen, auf die Information der Verbraucher beschränkten, Schutzwirkung der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel kann der Gesetzgeber mit der lückenhaften Kennzeichnungsregelung gentechnisch veränderter Lebensmittel nicht seine Pflicht zum Schutz der Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzen. Allerdings ist die Gentechnologie allgemein und auch die Anwendung dieser Technologie in der Lebensmittelherstellung im Hinblick auf die Neuheit der Technologie noch mit vielen Ungewissheiten verbunden. Auswirkungen solcher Lebensmittel auf die menschliche Gesundheit können nicht mit absoluter Sicherheit ausgeschlossen werden. Vor diesem Hintergrund könnte die Regelung von Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel doch dazu geeignet sein, dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber damit einen Schutz der Grundrechte auf Leben und Gesundheit gewährleistet bzw. mit einer Nichtregelung gegen seine Pflicht zum Schutz dieser Grundrechte verstößt. Denn die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel kann insofern dazu dienen, dass der Verbraucher sich über die Kennzeichnung vor - eventuell langfristig auftretenden - Lebens- und Gesundheitsgefahren gentechnisch veränderter Lebensmittel, die im Rahmen des Zulassungsverfahrens als risikolos bewertet wurden, deren Risikoträchtigkeit aber nicht völlig auszuschließen ist, schützen kann. Es stellt sich jedoch die Frage, ob diese von zugelassenen und risikobewerteten gentechnisch veränderten Lebensmitteln ausgehenden - ungewissen - Risiken für Leben und Gesundheit der Verbraucher ausreichend sind, um eine Schutzpflicht des Gesetzgebers zu aktivieren. Der Gesetzgeber kann nämlich nicht dazu verpflichtet werden, den Grundrechtsträger vor jeglichen - von Dritten ausgehenden - Risiken für grundrechtsgeschützte Rechtsgüter zu schützen. Erforderlich, d.h. „schutzpflichtauslösend" ist ein bestimmtes schutzpflichtenaktivierendes Gefahrenniveau. 351 Die von zugelassenen und risikoüberprüften gentechnisch veränderten Lebensmitteln ausgehenden Risiken sind - auch im Hinblick auf noch bestehende Ungewissheiten - zu gering, um eine Pflicht des Gesetzgebers zur Regelung weitergehender Kennzeichnungspflichten auszulösen.
VI. Ergebnis
Im Ergebnis ist die Kennzeichnungsregelung der Verordnung über geneLebens und Futtermittel somit mit einer Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zum Schutz der Gemeinschaftsgrundrechte vereinbar. tisch veränderte
351
Näher dazu für das deutsche Recht Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, S. 105 ff.
1 1 6 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
Man möchte kritisierend hinzufügen, dass die grundrechtlichen Schutzpflichten sich - insbesondere hinsichtlich des weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers - in ihrer richterlichen Überprüfung als „zahnloser Tiger" erweisen. Jedoch sollte diese Tatsache eher positiv als negativ betrachtet werden. Denn diese Eigenschaft grundrechtlicher Schutzpflichten ist Ausdruck der dem Demokratieprinzip geschuldeten Gewaltenteilung, wonach die Entscheidung über die Reichweite des gewährleisteten Grundrechtsschutzes primär dem Gesetzgeber und nicht der Rechtsprechung obliegt.
Viertes
Kapitel
Das Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel im Hinblick auf das gemeinschaftsrechtliche Vorsorgeprinzip Ein Ergebnis des vorherigen Kapitels war, dass die von in Verkehr gebrachten gentechnisch veränderten Lebensmitteln ausgehenden Risiken für Leben und Gesundheit der Verbraucher nicht ausreichend sind, um eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht aus grundrechtlichen Schutzpflichten herzuleiten. Vor diesem Hintergrund erscheint es denkbar, eine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aus dem Vorsorgeprinzip herzuleiten. Grundidee des Vorsorgeprinzips ist es, nicht erst bei akut bestehenden Gefahrenlagen abwehrende Maßnahmen zu ergreifen, sondern schon vorher insbesondere, wenn ein Risiko sich noch nicht zu einer Gefahr konkretisiert hat - der Entstehung von Gefahren vorzubeugen.
A. Das gemeinschaftsrechtliche Vorsorgeprinzip
Das in der deutschen Umweltpolitik entwickelte Vorsorgeprinzip wurde bereits 1987 mit der Einheitlichen Europäischen Akte352 in den E WG-Vertrag, also das Primärrecht der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) aufgenommen, und zwar in Form des Art. 130 r Abs. 2 EWGV.353
352
ABl. 1987, Nr. L 169, S. 29.
4. Kap.: Gemeinschaftsrechtliches Vorsorgeprinzip
117
Heute ist der Vorsorgegrundsatz als ein Grundsatz der gemeinschaftlichen Umweltpolitik primärrechtlich in Art. 174 Abs. 2 S. 2 EGV verankert. Allerdings ist der Vorsorgegrundsatz - entgegen der Verankerung des Grundsatzes nur im umweltpolitischen Titel des EG-Vertrages - als allgemeines Rechtsprinzip des Gemeinschaftsrechts anerkannt. So heißt es in der Mitteilung der Europäischen Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, dass der Anwendungsbereich des Vorsorgeprinzips über den im EGVertrag auf die Umweltpolitik festgeschriebenen Anwendungsbereich hinausreicht und insbesondere in solchen Fällen anwendbar ist, Jn denen [...] berechtigter Grund für die Besorgnis besteht, dass die möglichen Gefahren für die Umwelt und die Gesundheit von Menschen, Tieren oder Pflanzen nicht hinnehmbar oder mit dem hohen Schutzniveau der Gemeinschaft unvereinbar sein könnten ", 354
I. Bedeutung
des Vorsorgeprinzips
Zur Erläuterung der Bedeutung des gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzips bedarf es eines Blickes auf die Bedeutung des Vorsorgeprinzips als Grundsatz der deutschen Umweltpolitik und des deutschen Umweltrechts, denn von dort aus ist der Grundsatz in das europäische Primärrecht gelangt.355 Im deutschen Recht schuf das Vorsorgeprinzip die Möglichkeit, abweichend vom traditionellen Gefahrenabwehrrecht, wonach an eine eingriffsrechtfertigende Gefahrenlage hohe Anforderungen insbesondere hinsichtlich der Schadenseintrittswahrscheinlichkeit gestellt werden, staatliche Maßnahmen auch zur Abwehr von Risiken, d.h. zur vorbeugenden Risikovorsorge 353
ABl. 1987, Nr. L 169, S. 29. In dieser ersten Fassung des Art. 130 r Abs. 2 EWGV war zwar zunächst nur vom Grundsatz der „Vorbeugung" die Rede und erst später mit dem Maastrichter Unionsvertrag wurde ausdrücklich auch auf den Grundsatz der „Vorsorge" Bezug genommen. Trotz dieser Entwicklung (?) kann aber die gemeinschaftliche Verankerung des Vorsorgeprinzips bereits in der Einheitlichen Europäischen Akte gesehen werden, denn es spricht - allerdings nicht unumstritten - vieles fur die Annahme, dass die unterschiedliche Begrifflichkeit keinen prinzipiellen Bedeutungsunterschied bedeutet. In der späteren ausdrücklichen Aufnahme auch des Vorsorgegrundsatzes in den Vertrag der Europäischen Gemeinschaft kann dementsprechend lediglich eine zusätzliche Hervorhebung und Gewichts Verstärkung gesehen werden. So mit ausführlicher Begründung und weiteren Nachweisen Lübbe-Wolff\ Präventiver Umweltschutz, in: Bizer/Koch (Hrsg.), Sicherheit, S. 47 ff. (48 ff.); Lübbe-Wolff,\ rVU-Richtlinie und Europäisches Vorsorgeprinzip, N V w Z 1998, S. I I I (778) m.w.N.; a.A. bspw. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 197 ff. 354 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, K O M (2000) 1 endg., S. 3,
12.
355
Zur deutschen Herkunft des europäischen Vorsorgeprinzips siehe Di Fabio, Umweltrechtliches Vorsorgeprinzip, in: Festschrift für Ritter, S. 807 (810).
118
2. Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
vorzunehmen.356 Vom Vorliegen eines Risikos wird dabei ausgegangen, wenn ein zwar theoretisch möglicher Schadenseintritt so unwahrscheinlich ist, dass die Gefahrenschwelle nicht erreicht wird, 357 oder wenn die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts hinsichtlich fehlenden Erfahrungswissens ungewiss oder unbekannt ist.358 Entscheidende Folge der Anerkennung der Risikovorsorge im deutschen Recht ist die damit verbundene Vorverlagerung des zulässigen Eingriffszeitpunkts für Vorsorgemaßnahmen gegenüber Maßnahmen der Gefahrenabwehr. 359 Nun existiert zwar im Gemeinschaftsrecht keine dem traditionellen Gefahrenabwehrrecht des deutschen Rechts entsprechende Beschränkung hoheitlicher Maßnahmen auf das Vorliegen von Gefahren. Jedoch kann der von seinem konkreten Gegenbild im deutschen Recht abgelöste allgemeinere Sinn des Vorsorgeprinzips ins Gemeinschaftsrecht übernommen werden.360 Somit gilt auch im Gemeinschaftsrecht der Auftrag, vorsorgende Risikomaßnahmen nicht von kontraproduktiv hohen Anforderungen abhängig zu machen, sondern auch vorbeugende Maßnahmen zu treffen, um auch einer Realisierung von Risiken vorzubeugen oder Risiken auf ein annehmbares Minimum zu reduzieren.361 Eine solche Übernahme der Bedeutung des Vorsorgeprinzips in das gemeinschaftliche Recht wird bereits durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs und des Gerichts Erster Instanz vollzogen. Nach deren Rechtsprechung können die Gemeinschaftsorgane nach dem Vorsorgegrundsatz Schutzmaßnahmen treffen, wenn wissenschaftliche Ungewissheiten bezüglich der Existenz oder des Umfangs von Risiken für die menschliche Gesundheit und Umwelt bestehen. Sie müssen nicht abwarten, bis das tatsächliche Vorliegen und die Schwere dieser Risiken in vollem Umfang nachgewiesen sind.362
356 Zur damit angesprochenen Abgrenzung von Risikovorsorge und Gefahrenabwehr im deutschen Recht siehe insbesondere Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 109 ff.; Lisken, in: Lisken/Denninger, Handbuch des Polizeirechts, E 3; Wahl/Appel, in: Wahl, Prävention und Vorsorge, S. 88; Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, S. 133 ff. 357 Kloepfer, Umweltrecht, § 3 Rdnr. 17 m.w.N. 358 Wahl/Appel, in: Wahl, Prävention und Vorsorge, S. 88. 359 Wahl/Appel, in: Wahl, Prävention und Vorsorge, S. 76. 360 Lübbe-Wolff\ IVU-Richtlinie und Europäisches Vorsorgeprinzip, N V w Z 1998, S. 777 (778). 361 Vgl. Lübbe-Wolff, IVU-Richtlinie und Europäisches Vorsorgeprinzip, N V w Z 1998, S. 777 (778). 362 EuG, Pfizer Animal Health SA, v. 11.09.2002, Rdnr. 139 Slg. 2002, Π-3305; so auch schon EuGH, Vereinigtes Königreich/Kommission (BSE), Rs. C - l 80/96, Slg. 1998,1-2265 Rdnr. 99; EuGH, National Farmers' Union u.a., Rs. C-157/96, Slg. 1998, 1-2211 Rdnr. 63; EuG, Bergaderm und Goupil/Kommission, Rs. T-199/96, Slg. 1998,
4. Kap.: Gemeinschaftsrechtliches Vorsorgeprinzip IL Die Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen
119
Vorsorgeprinzips
Zur Anwendung des gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzips hat die Europäische Kommission eine Mitteilung erlassen, mit der sie das Ziel verfolgt, „eine Verständigung darüber zu erzielen, unter welchen Umständen auf das Vorsorgeprinzip zurückgegriffen werden kann und welchen Stellenwert es für die Entscheidungsfindung hat. " 363
Ein Rückgriff auf das Vorsorgeprinzip setzt nach der Mitteilung der Kommission voraus, dass Risiken für die Umwelt oder für Menschen, Tiere oder Pflanzen bestehen, eine hinreichend genaue Bestimmung des Risikos aber wegen unzureichender, nicht eindeutiger oder ungenauer wissenschaftlicher Erkenntnisse nicht möglich ist.304 Die in einer solchen Situation zu treffende Entscheidung, ob Vorsorgemaßnahmen überhaupt erlassen werden sollen oder welche Art von Vorsorgemaßnahmen ergriffen werden soll, charakterisiert die Kommission als „zutiefst politische Entscheidung, die abhängig ist von dem Risikoniveau, das die Ge365 sellschaft als ,akzeptabel 1 ansieht'\ Den politischen Entscheidungsträgern,
die das Vorsorgeprinzip anwenden, steht dabei eine breite Palette von Maßnahmen zur Verfügung. In der Mitteilung werden als Beispiele für Vorsorgemaßnahmen der Erlass eines Rechtsakts, die Finanzierung eines Forschungsprogramms oder die Information der Öffentlichkeit über mögliche negative Folgen eines Produkts oder eines Verfahrens genannt.366 Beim Erlass von Vorsorgemaßnahmen müssen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts eingehalten werden, wie zum Beispiel der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz. Die Verhältnismäßigkeit einer Vorsorgemaßnahme setzt voraus, dass diese nicht außer Verhältnis zu dem angestrebten Schutzniveau steht und nicht auf ein Nullrisiko abzielt, das sich nur selten verwirklichen lässt.367
Π-2805 Rdnr. 66. bestätigt im Rechtsmittelverfahren durch Urteil des EuGH, Rs. C352/98, Slg. 2000,1-5291. 363 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, KOM (2000) 1 endg., S. 10. 364 Näher dazu Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, K O M (2000) 1 endg., S. 15 ff. 365 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, K O M (2000) 1 endg., S. 18. 366 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, KOM (2000) 1 endg., S. 18. 367 Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, KOM (2000) 1 endg., S. 21.
1 2 0 2 . Teil: Umfassende Kennzeichungsplicht nach Gemeinschaftsrecht
Vorsorgemaßnahmen können dabei grundsätzlich vom Europäischen Gerichtshof auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht hin überprüft werden. Allerdings ist eine gerichtliche Überprüfung nur eingeschränkt möglich, wenn das handelnde Gemeinschaftsorgan über ein weites Ermessen verfugt, das sich insbesondere auf die Art und den Umfang der zu ergreifenden Maßnahme erstreckt. Dabei ist insbesondere an das Ermessen des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zu denken. In solchen Fällen muss sich die Kontrolle des Gemeinschaftsrichters - ähnlich wie bei grundrechtlichen Schutzpflichten - auf die Prüfung beschränken, ob ein offensichtlicher Ermessensfehler, ein Ermessensmissbrauch oder eine offensichtliche Überschreitung der Ermessensgrenzen vorliegt. 368
B. Erfordernis einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Aus dem gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzip könnte sich das Erfordernis der Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel herleiten lassen. Dann müssten gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel für die Gesundheit des Menschen ein Risiko bedeuten und zur Abwehr dieses Risikos müsste eine umfassende Kennzeichnungspflicht erforderlich sein. Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen oder deren Genprodukte enthalten, können - wie gesehen369 - Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit haben. Zwar sind bislang erst wenig Fälle bekannt geworden, in denen gentechnisch veränderte Lebensmittel eine gesundheitsschädigende Wirkung besaßen. Gesundheitliche Wirkungen gentechnisch veränderter Lebensmittel können aber gegebenenfalls auch erst langfristig auftreten. Bezüglich der „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln ist das Risiko des Auftretens einer gesundheitsschädigenden Wirkung hingegen sehr gering bzw. nahezu ausgeschlossen. Denn bei der Herstellung dieser Lebensmittel werden gentechnisch veränderte Organismen lediglich als Hilfsstoff eingesetzt und gelangen nicht ins Lebensmittel. Derart hergestellte Lebensmittel bedeuten nahezu keine gesundheitliche Gefährdung für den Lebensmittelkonsumenten. In Bezug auf „mit" gentechnisch veränderten Orga368
Kommission der Europäischen Gemeinschaft, Mitteilung der Kommission über die Anwendbarkeit des Vorsorgeprinzips, vom 2.2.2000, K O M (2000) 1 endg., S. 19; siehe auch Lübbe-Wolff IVU-Richtlinie und Europäisches Vorsorgeprinzip, N V w Z 1998, 777 ff. (780). 369 Vgl. oben im ersten Teil der Arbeit, 1. Kapitel: Biologische Grundlagen, Nutzen und Risiken der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung.
4. Kap.: Gemeinschaftsrechtliches Vorsorgeprinzip
121
nismen hergestellte Lebensmittel ist das Vorsorgeprinzip mithin schon nicht anwendbar. Der gemeinschaftliche Gesetzgeber könnte dazu verpflichtet sein, bezogen auf gentechnisch veränderte Lebensmittel Vorsorgemaßnahmen zum Schutz der Gesundheit der Verbraucher zu treffen. Die Regelung von Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel kann dabei als ein besonders mildes Mittel der Vorsorge betrachtet werden, wodurch die Verbraucher in die Lage versetzt werden, durch den Nichtkauf gentechnisch veränderter Lebensmittel Eigenvorsorge zu betreiben. Fraglich ist allerdings, ob der gemeinschaftliche Gesetzgeber Kennzeichnungspflichten auch für solche Lebensmittel aufnehmen muss, die lediglich Spuren gentechnisch veränderter Organismen enthalten. Dafür könnte sprechen, dass auch Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen mit einem Anteil bis zu 0,9% enthalten, ein Risiko für die menschliche Gesundheit bedeuten können. Denn für die toxische oder allergene Wirkung eines Lebensmittels können gegebenenfalls schon geringe Bestandteile eines gentechnisch veränderten Organismus oder eines durch diesen hergestellten Proteins ausreichen. Andererseits könnte das von diesen Lebensmitteln ausgehende Risiko so gering sein, dass die Regelung einer Kennzeichnungspflicht für diese Lebensmittel nicht mehr verhältnismäßig wäre. Angesichts des bei der Entscheidung über die Art und Weise der zu treffenden Vorsorgemaßnahme bestehenden weiten Einschätzungs- und Gestaltungsspielraums lässt sich eine Verpflichtung des Gesetzgebers zur Regelung einer Kennzeichnungspflicht auch gentechnisch verunreinigter Lebensmittel nicht begründen. Denn der Gesetzgeber hat auf die im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten Lebensmitteln bestehenden Gesundheitsrisiken grundsätzlich reagiert. Er hat gentechnisch veränderte Lebensmittel einer Zulassungsund Kennzeichnungspflicht unterstellt, wovon auch schwerwiegend gentechnisch verunreinigte Lebensmittel erfasst werden. Die lückenhafte Kennzeichnungsregelung gentechnisch veränderter Lebens- und Futtermittel bedeutet somit keinen offensichtlichen Ermessensfehler, keinen Ermessensmissbrauch und auch keine offensichtliche Überschreitung der Ermessensgrenzen durch den Gesetzgeber. Auch dem gemeinschaftsrechtlichen Vorsorgeprinzip lässt sich somit keine Pflicht des gemeinschaftlichen Gesetzgebers zur Regelung einer umfassenden Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel entnehmen.
Dritter Teil
Die Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aus Gründen des Verbraucherschutzes Die Entscheidung des gemeinschaftlichen Gesetzgebers, in die Verordnung Lebens- und Futtermittel lediglich eine lückenhafte Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aufzunehmen, ist im Hinblick auf die damit verbundene Verkürzung der Verbraucherinformation zu bedauern. über genetisch veränderte
Im Folgenden soll dargelegt werden, dass ein überwiegendes Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel besteht und dass eine solche „umfassende" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aus Gründen des Verbraucherschutzes auch notwendig ist, so dass der Gesetzgeber aus rechtspolitischen Gründen zur Regelung einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht gehalten ist.
Fünftes
Kapitel
Das tatsächliche Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Entgegen der Entscheidung des gemeinschaftlichen Gesetzgebers, für das Vorhandensein von Spuren gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln Schwellenwertregelungen vorzusehen und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Produkte nicht dem Anwendungsbereich der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel und somit auch keiner Kennzeichnungspflicht zu unterstellen, besteht ein Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel. Eine „umfassende" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel würde dabei bedeuten, dass alle Lebensmittel, die mit der Anwendung der Gentechnik in Berührung gekommen sind, gekennzeichnet werden müssten; also auch die nach den europäischen Verordnungen nicht kennzeich-
5. Kap.: Verbraucherinteressen
123
nungspflichtigen Lebensmittel, die Spuren gentechnisch veränderter Organismen enthalten, und die „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmittel. Zur Ermittlung eines Interesses der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel bietet es sich an, die regelmäßig durchgeführten Verbraucherumfragen zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln heranzuziehen.
A. Für ein Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel sprechende Umfrageergebnisse Ein Interesse der Verbraucher speziell an einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten oder unter Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellt wurden, ist in Verbraucherumfragen nur selten ausdrücklich dokumentiert. In den meisten Fällen werden die Verbraucher nur allgemein nach der Akzeptanz gentechnisch veränderter Lebensmittel befragt. In diesem Sinne dokumentiert auch die von der Europäischen Kommission europaweit durchgeführte Eurobarometer-Umfrage 55.2 allgemein zum Thema „Wissenschaft und Technik im Bewusstsein der Europäer" 370, deren Ergebnisse im Dezember 2001 vorgestellt wurden, lediglich allgemein gehaltene Aussagen der Verbraucher zu gentechnisch veränderten Lebensmitteln. 94,6% der Befragten bestätigten die Aussage „Ich möchte das Recht haben, auswählen zu können" und 70,9% der Befragten stimmten der Aussage „Ich möchte diese Art von Lebensmitteln nicht" zu.371 Auch diesen allgemeinen Aussagen lässt sich aber ein Verlangen der Verbraucher nach einer Wahlfreiheit und Kennzeichnung auch betreffend gentechnisch verunreinigte Lebensmittel und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel entnehmen. Denn einer Ablehnung gentechnisch veränderter Lebensmittel liegt entweder eine Ablehnung der Anwendung gentechnischer Verfahren bei der Lebensmittelherstellung oder eine Ablehnung des Vorhandenseins gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln zugrunde. Allerdings lässt sich vermuten, dass „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel von den Verbrauchern nicht so vehement abgelehnt werden wie Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen 370 Europäische Kommission, Eurobarometer 55.2 „Wissenschaft und Technik im Bewusstsein der Europäer", Dezember 2001. 371 Europäische Kommission, Eurobarometer 55.2 „Wissenschaft und Technik im Bewusstsein der Europäer", Dezember 2001, S. 35.
124
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungsptlicht
noch enthalten. Denn das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln ist der Hauptgrund der Ablehnung gentechnisch veränderter Lebensmittel durch den Verbraucher. 372 Neuere Erkenntnisse zu einem umfassenden Informationsbedürfnis der europäischen Verbraucher betreffend gentechnisch veränderte Lebensmittel vermittelt eine europaweit durchgeführte Studie über die in der Öffentlichkeit herrschende Einstellung, Wahrnehmung und Bewertung der Anwendung der Biotechnologie in Landwirtschaft und Nahrungsmittelindustrie. Die Studie trägt den Titel „Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe" und soll im Folgenden kurz als PABE-Studie bezeichnet werden.373 Die PABEStudie wurde im Auftrag der Europäischen Kommission von einem Forscherteam, dessen Mitglieder aus fünf europäischen Ländern kamen, durchgeführt, im Dezember 2001 abgeschlossen und im Mai 2002 veröffentlicht. Das Informationsinteresse der Verbraucher betreffend, vermerkten die Forscher als auffällig, dass die Befragten im Laufe der Untersuchung bei den verschiedensten Fragen zur Anwendung der Gentechnik immer wieder das Gefühl äußerten, nicht informiert zu sein. Die Befragten forderten in diesem Zusammenhang wiederkehrend eine umfassende Kennzeichnung von Produkten, die gentechnisch veränderte Organismen oder von gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Zutaten enthalten.374 Sie beklagten, dass eine solche umfassende Kennzeichnung nicht durch europäische oder nationale Gesetzgebung abgesichert sei; in der Kennzeichnung der Lebensmittel als „gentechnikfrei" sahen sie keine adäquate Lösung des Problems.375 Bei der Befragung der Teilnehmer nach den Gründen, eine „umfassende" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel zu fordern, stellte sich heraus, dass sie eine solche nicht nur verlangen, um sich vor möglichen Gesundheitsgefahren zu schützen. Die Kennzeichnung wurde vielmehr auch als Minimalbedingung angesehen, die den Verbraucher dazu befähigt, zu wissen und - im Sinne einer Wahlfreiheit - für sich selbst zu entscheiden, was er isst.376 Der Gedanke einer
372 Dementsprechend werden Lebensmittel, die selbst gentechnisch verändert sind oder gentechnisch veränderte Organismen enthalten, eher als riskant beurteilt, wohingegen Lebensmittel, die nur mit Hilfe gentechnisch veränderter Organismen hergestellt wurden, solche aber nicht mehr enthalten, nicht als so risikoreich bewertet werden; siehe mit empirischen Nachweisen Schütz/Wiedemann/Gray, Die intuitive Beurteilung gentechnischer Produkte - kognitive und interaktive Aspekte, in: Hampel/Renn (Hrsg.), Gentechnik in der Öffentlichkeit, S. 150. 373 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001. 374 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65. 375 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65.
5. Kap.: Verbraucherinteressen
125
nicht umfassenden Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln löst bei den Befragten ein Gefühl des Verlustes an persönlicher Selbstbestimmung und des Verlustes der Kontrolle über das eigene Leben aus.377 Einige Teilnehmer sahen eine umfassende Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln auch als Voraussetzung, solche Produkte zu boykottieren, um den Herstellern so „ eine Botschaft zu vermitteln
", 378
Speziell ein Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln kann der im März 2000 veröffentlichten europaweit durchgeführten EurobarometerRepräsentativbefragung 52.1 der Öffentlichkeit zur Wahrnehmung der Gentechnik in Europa „The Europeans and Biotechnology" entnommen werden.379 Zwar wurde auch in dieser Eurobarometer-Umfrage nicht direkt die Frage nach einem Interesse der Verbraucher an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln gestellt. Es wurde aber die Frage nach der Akzeptanz von Kochöl, das Spuren gentechnisch veränderter Soja enthält, gestellt. 62% der Befragten verneinten die Frage.380 Daraus kann nicht nur auf eine Ablehnung gentechnisch verunreinigter Lebensmittel durch die Verbraucher geschlossen werden, sondern auch auf ein Interesse der Verbraucher an einer Kennzeichnung gentechnisch verunreinigter Lebensmittel. Denn es kann davon ausgegangen werden, dass die 62% der Befragten als Voraussetzung, nicht unbewusst von ihnen abgelehnte gentechnisch verunreinigte Lebensmittel zu konsumieren, auch ein Interesse an der Kennzeichnung gentechnischer Verunreinigungen von Lebensmitteln haben. Speziell zur Frage einer Forderung der Verbraucher nach einer Kennzeichnung „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel kann zum einen auf ein Ergebnis des Eurobarometer 52.1 „The Europeans and Biotechnology" zurückgegriffen werden. Danach lehnten 42% der Befragten auch Lebensmittel ab, die unter Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellt wurden,
370
ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65. 377 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65. m ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65. 379 INRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology", März 2000, S. 62. 380 Weitere 22% akzeptierten derlei Verunreinigung und 16% hatten dazu keine Meinung; INRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology", März 2000, S. 62.
126
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
nach der Fertigstellung aber keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthalten.381 Eine Forderung der Verbraucher nach der Kennzeichnung solcher Lebensmittel lässt sich auch einer Studie, die 1997 im Auftrag des Biotechnologieunternehmens Monsanto durchgeführt wurde, entnehmen. 79% der Befragten wünschten eine Kennzeichnung auch der Lebensmittel, die „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt wurden, nach der Fertigstellung aber keinerlei genveränderte Bestandteile mehr enthalten.382 Die unterschiedlichen Ergebnisse von 42% in der Eurobarometer-Umfrage und 79% in der „Monsanto-Studie" werden unter anderem darauf zurückzuführen sein, dass in der Eurobarometer-Umfrage nach der Akzeptanz und in der „Monsanto-Studie" nach einem Kennzeichnungsverlangen betreffend gentechnisch hergestellte Lebensmittel gefragt war. Ein Verlangen der Verbraucher nach einer Kennzeichnung ist zunächst einmal die Voraussetzung dafür, dass der Verbraucher sich für oder gegen ein solches Lebensmittel entscheiden kann, und deshalb für ihn von besonderer Bedeutung. Außerdem mag es psychologisch betrachtet eine Rolle spielen, dass der Befragte sich mit einem Kennzeichnungsverlangen noch nicht derart festlegt, als wenn er gentechnisch veränderte Lebensmittel ausdrücklich ablehnt. Als Ergebnis der Öffentlichkeitsbefragungen lässt sich festhalten, dass ein überwiegender Teil der Verbraucher ein großes Interesse an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel hat; also auch betreffend gentechnisch verunreinigte und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel.
B. Ablehnung der Anwendung der Gentechnik in Lebensmittelherstellung und Landwirtschaft als der Forderung nach „umfassender" Kennzeichnung zugrunde liegende Haltung Da der Forderung der Verbraucher nach einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel in den meisten Fällen eine grundsätzliche Ablehnung der Anwendung der Gentechnik in Lebensmitteln und Landwirtschaft zugrunde liegt, soll zum besseren Verständnis dieser Forde-
381 1NRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology1', März 2000, S. 62. 382 Gath, Der Einfluss der Kennzeichnung auf die Verbraucherakzeptanz gentechnisch veränderter Lebensmittel, S. 5 mit Verweis auf INRA (Deutschland), Information Sojabohne, 1997.
5. Kap.: Verbraucherinteressen
127
rung kurz auf die der Ablehnung zugrunde liegenden Bedenken eingegangen werden.383 Die Eurobarometer-Umfrage 52.1 „The Europeans and biotechnology", in der die Teilnehmer unter anderem zur Anwendung der Gentechnik in Lebensmittelherstellung und Landwirtschaft befragt wurden, schaffte das grundlegende Ergebnis, dass die Anwendung der Gentechnik bei der Lebensmittelherstellung immer und diejenige in der Landwirtschaft häufig von den Befragten am negativsten bewertet werden, z. B. bei der Frage nach erwarteten Risiken oder der Frage nach der moralischen Akzeptanz der Anwendung der Gentechnik in diesen Bereichen.384 Damit bestätigt sich ein schon in der Eurobarometer-Umfrage 46.1 von 1996 gefundenes Ergebnis.385 In der neuen Eurobarometer-Umfrage 52.1 fällt die Beurteilung der Anwendung der Gentechnik in den hier interessierenden Bereichen sogar noch erheblich gentechnikkritischer aus.386 Für die Ablehnung der Gentechnik in Lebensmitteln wurden folgende hier nach abnehmender Häufigkeit der Nennung aufgelistete - Gründe genannt:387 - gentechnische Lebensmittel verstoßen, auch wenn sie Selektionsvorteile haben, gegen die Natur, - gentechnische Lebensmittel bedrohen die natürliche Ordnung, - es ist ein globales Desaster, wenn etwas mit gentechnischen Lebensmitteln schief läuft, - gentechnische Lebensmittel sind einfach nicht notwendig.
383 Siehe, dass die von den Verbrauchern gegenüber gentechnisch veränderten Lebensmitteln gehegten Befürchtungen nicht zwangsläufig mit den wissenschaftlich diskutierten Risiken übereinstimmen; zu den Risiken der Anwendung gentechnischer Verfahren im Lebensmittelbereich siehe oben im ersten Teil der Arbeit, 1. Kap. Β. Π. Gerade die Gentechnik ist eine Technologie, deren Beurteilung - insbesondere wegen der noch unsicheren Folgen ihrer Anwendung - stark von subjektiven Einschätzungen geprägt ist. 384 INRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology", März 2000, S. 30 ff. 385 Europäische Kommission, Eurobarometer 46. 1 „The Europeans and modern biotechnology", S. 32 ff. 386 Siehe die in der Eurobarometer-Umfrage 52.1 tabellarisch dargestellten Vergleiche der Ergebnisse der beiden Eurobarometer-Umfragen; INRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology", März 2000, S. 36 ff. 387 INRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology", März 2000, S. 50 ff. mit einer zusätzlichen Aufschlüsselung der Befragungsergebnisse nach den europäischen Mitgliedstaaten, wobei sich erhebliche Unterschiede offenbarten.
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3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
Im Rahmen der PABE-Studie wurden von den Befragten im Wesentlichen die gleichen Bedenken gegen die Anwendung der Gentechnik in Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung wie in der Eurobarometer-Umfrage 52,1 genannt. Die Studie stellt die Antworten allerdings weitaus differenzierter dar, als dies bei der Eurobarometer-Umfrage der Fall ist.388 Die Befragten verbinden mit einer Anwendung der Gentechnik in der Landwirtschaft die Gefahr, dass die Wechselabhängigkeit ökologischer Systeme durch das Einbringen gentechnisch veränderter Organismen oder gentechnisch veränderter Eigenschaften von Lebewesen empfindlich gestört werden könnte. Sie sehen ein Risiko in der fehlenden Rückholbarkeit einmal in die Natur entlassener gentechnisch veränderter Organismen. Außerdem äußern sie Bedenken hinsichtlich einer Resistenzentwicklung von Schädlingen und hinsichtlich einer Störung des ökologischen Gleichgewichts durch die mit der Anwendung der Gentechnik verbundene Beschleunigung der Evolution.389 Die Befragten bezeichnen gentechnisch veränderte Organismen außerdem als unnatürlich, da damit neue Lebensformen entstünden, die so vorher noch nie existiert haben. Sie äußern in diesem Zusammenhang das Gefühl, dass der mit der Anwendung der Gentechnik verbundene direkte Eingriff in das Genom sich qualitativ von dem unterscheidet, was bisher an Eingriffen technisch möglich war und vollzogen wurde.390 In diesem Zusammenhang warnen die Befragten davor,,, Gott zu spielen bzw. sie benennen die an der Entwicklung gentechnisch veränderter Organismen beteiligten Wissenschaftler als „ Zauberlehrlinge
"
391
Bedenken der Befragten gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel richten sich - außer gegen die landwirtschaftliche Produktion gentechnisch veränderter Lebensmittel - auch gegen die mit deren Einführung verbundene verstärkte Entwicklung hin zu einem Lebensmittelmarkt, der u.a. von Unnatürlichkeit und extremer Technik-Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Die Anwendung der Gentechnik wird von ihnen als die ultimative Verkörperung einer Lebensmittelwirtschaft empfunden, mit der die Verbraucher einen Rückgang an Lebensqualität assoziieren.392 Die Befragten äußern das Gefühl, auf diese
388 Es war beispielsweise auch ein Ziel der PABE-Studie zu zeigen, dass Gründe für die Ablehnung der Gentechnologie häufig weitaus differenzierter und Ausdruck allgemeinerer Lebensansichten sind, als dies in manchen Öftentlichkeitsbefragungen dargestellt ist. 389 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 51 f. 390 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65 f. 391 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 66.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
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Entwicklung keinen Einfluss zu haben. Bezüglich der Art und Weise, wie Entscheidungen über die Entwicklung und Förderung der Technologie gefallt werden, fühlen sich die Befragten fremdbestimmt, empfinden einen Verlust der Teilnahmemöglichkeit und einen Verlust der Kontrolle über das eigene Leben. Häufig wurde von den Befragten auch der Nutzen der Gentechnik in Frage gestellt. Sie hegen insbesondere Zweifel an dem von Unternehmern geäußerten Nutzen. Zum Beispiel bezweifeln sie das von der Biotechnologiebranche vorgebrachte Ziel, mit der Gentechnik Ernährungshilfen für Entwicklungsländer zu schaffen. Die Befragten weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die ersten gentechnisch hergestellten Produkte in reichen Industrieländern auf den Markt gekommen seien und nicht in den Entwicklungsländern.393 Unter anderem vor diesem Hintergrund wollen die Befragten selbst beurteilen können, ob oder ob nicht die mit der Anwendung der Gentechnik verfolgten Ziele wichtig genug sind, die damit verbundenen Unsicherheiten für Mensch und Umwelt zu rechtfertigen, bzw. sie wünschen sich, dass eine solche Beurteilung durch Experten öffentlich diskutiert wird. 394
Sechstes Kapitel
Die rechtspolitische Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel als Konsequenz einer Wahlfreiheit der Verbraucher Das soeben festgestellte Interesse einer überwiegenden Anzahl der Verbraucher an einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel deckt sich mit der rechtspolitisch zu begründenden Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel, die sich unter Berücksichtigung des Grundsatzes der Wahlfreiheit der Verbraucher ergibt. Als Wahlfreiheit der Verbraucher wird dabei grundsätzlich die Möglichkeit der Verbraucher verstanden, sich in einer - optimalerweise umfassenden Informiertheit über ein Produkt für oder gegen den Kauf des Produktes ent392
P.4BE, Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 69. 393 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 48. 394 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 59 f.
130
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
scheiden zu können. Notwendige Voraussetzung einer Wahlfreiheit der Verbraucher ist die Verbraucherinformation. Das Erfordernis, dass die Verbraucher Wahlfreiheit besitzen, wird allgemein und von den unterschiedlichsten Interessengruppen gefordert. Bezogen auf gentechnisch veränderte Lebensmittel wird eine Wahlfreiheit der Verbraucher beispielsweise von der Europäischen Kommission,395 dem Wirtschaftsund Sozialausschuss der EG,396 Verbraucherschutzorganisationen 397 und von Biotechnologieunternehmen398 gefordert. Im Folgenden soll die häufig unreflektiert erhobene Forderung nach einer Wahlfreiheit der Verbraucher näher bestimmt werden. Es soll insbesondere geklärt werden, welche Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher zuzumessen ist. Außerdem soll - im Hinblick auf eine hier zur Gewährleistung der Wahlfreiheit geforderte Lebensmittelkennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel - allgemein auf die Eignung einer Lebensmittelkennzeichnung als Instrument zur Information der Verbraucher eingegangen werden. Anhand der zu diesen Fragen gefundenen Ergebnisse wird schließlich begründet, warum es einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel aus rechtspolitischen Gründen bedarf.
A. Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher I. Bedeutung der Wahlfreiheit
als Ziel des Verbraucherschutzes
Bei der Erörterung einer Bedeutung der Wahlfreiheit der Verbraucher ist zu berücksichtigen, dass die Wahlfreiheit als ein Ziel des Verbraucherschutzes bereits an der allgemein dem Verbraucherschutz zugemessenen Bedeutung partizipiert.
395
Siehe zum Beispiel Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 2.7.2003 „Europäisches Gesetzgebungspaket zu GVOs verabschiedet", LP/03/1056. 396 Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses zu dem „Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel", ABl. Nr. C 221 vom 17.9.2002, S. 114. 397 Genfood, GVO-Einsatz gefährdet die Wahlfreiheit bei Lebensmitteln, im Internet unter: www.genlbod.at/; Stellungnahme des DNR und des BUND zum Diskurs Gentechnik des Bundesministeriums für Verbraucher, Ernährung und Landwirtschaft: Gentechnikfreiheit sichern/Wahlfreiheit gewährleisten, im Internet unter: www.bund.net 398 Siehe zum Beispiel das Eintreten des Pflanzenzuchtunternehmens Syngenta, das auch gentechnisch verändertes Saatgut herstellt, für eine Wahlfreiheit der Verbraucher: Syngenta, Biotechnologie und gentechnisch veränderte Pflanzen, im Internet unter: www.syngenta.com/de/social_responsibility/biotech.aspx
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
131
1. Wahlfreiheit als Ziel des Verbraucherschutzes Die Wahlfreiheit der Verbraucher kann als ein Ziel des in Art. 153 EGV verankerten gemeinschaftlichen Verbraucherschutzes betrachtet werden. Dies ist die Konsequenz aus folgenden Erwägungen: Ein primärrechtlich verankertes Ziel des Verbraucherschutzes ist die Verbraucherinformation. In Art. 153 Abs. 1 EGV, der zentralen Verbraucherschutzbestimmung des EG-Vertrages, ist ein Recht der Verbraucher auf Information festgeschrieben. Die Bedeutung der Verbraucherinformation wiederum leitet sich nach dem Ersten und Zweiten Verbraucherschutzprogramm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 399 u.a. daraus her, dass der Verbraucher diese benötigt, um die wesentlichen Merkmale der angebotenen Güter und Dienstleistungen (z. B. Art, Qualität, Menge, Energieverbrauch und Preis) zu kennen und eine sachgerechte Wahl 400 zwischen konkurrierenden Waren oder Dienstleistungen treffen zu können.401 Somit ist die Wahlfreiheit der Verbraucher als ein Ziel der Verbraucherinformation auch ein Ziel des Verbraucherschutzes allgemein.
2. Verbraucherschutz Anhaltspunkte für die Bedeutung, die dem Verbraucherschutz auf gemeinschaftlicher Ebene zugemessen wird, lassen sich der Entwicklung des gemeinschaftlichen Verbraucherschutzes und der Art und Weise der gesetzlichen Verankerung des Verbraucherschutzes im Gemeinschaftsrecht entnehmen. Die Europäische Gemeinschaft entdeckte die Verbraucherpolitik als wichtiges Politikfeld. Eine wachsende Produktvielfalt und eine Öffnung der Märkte im Zusammenhang mit dem vermehrten Auftreten defekter und gefährlicher Produkte, unlauterer Werbung, unlauteren Geschäftsbedingungen und überhöhten Preisen ließen Maßnahmen zum Schutz der Verbraucher erforderlich
399 Rat der Europäischen Union, Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 92 vom 14. April 1975; Rat der Europäischen Union, Zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 133 vom 19. Mai 1981. 400 Hervorhebung durch die Verfasserin. 401 Rat der Europäischen Union, Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 92 vom 14. April 1975, S. 9; Rat der Europäischen Union, Zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 133 vom 19. Mai 1981, S. 10.
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3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
werden.402 Auf der Ebene der Europäischen Gemeinschaften wurden in starker Annäherung an die revolutionäre Verbraucherbotschaft Kennedys aus dem Jahr 1962 in dem 1975 vom Rat der Europäischen Union erlassenen Ersten Verbraucherschutzprogramm 403 fünf „Grundrechte" der Verbraucher postuliert. Es handelte sich dabei um ein Recht der Verbraucher auf Schutz der Gesundheit und Gewährleistung von Sicherheit, ein Recht auf Schutz wirtschaftlicher (Konsumenten-)Interessen, ein Recht auf Einräumung von Schadensersatzansprüchen bei fehlerhaften Produkten oder Dienstleistungen, ein Recht auf Unterrichtung und Aufklärung von Verbrauchern sowie ein Recht auf Einschaltung von Verbrauchelverbänden bei Rechtssetzungsvorhaben.404 Diese Verbraucherschutzrechte sind mit Ausnahme des Schadensersatzanspruchs in die durch den Maastrichter Vertrag geschaffene eigenständige gemeinschaftliche Rechtsgrundlage für Maßnahmen des Verbraucherschutzes (Art. 129a EGV a.F.) aufgenommen worden. Diese lautet in der durch den Amsterdamer Vertrag geänderten Fassung (Art. 153 Abs. 1 EGV): „Zur Förderung der Interessen der Verbraucher und zur Gewährleistung eines hohen Verbraucherschutzniveaus leistet die Gemeinschaft einen Beitrag zum Schutz der Gesundheit, der Sicherheit und der wirtschaftlichen Interessen der Verbraucher sowie zur Förderung ihres Rechtes auf Information, Erziehung und Bildung von Vereinigungen zur Wahrung ihrer Interessen."
Außerdem ist durch den Amsterdamer Vertrag in Art. 153 Abs. 2 EGV ausdrücklich festgeschrieben worden, dass den Erfordernissen des Verbraucherschutzes bei der Festlegung und Durchführung der anderen Gemeinschaftspolitiken und -maßnahmen Rechnung zu tragen ist. Auch in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union hat der Verbraucherschutz seine Verankerung gefunden. Nach Art. 38 GR-Charta sollen die Politiken der Union ein hohes Verbraucherschutzniveau sicherstellen. Dem Verbraucherschutz wird somit auf gemeinschaftlicher Ebene wesentliche Bedeutung zugemessen. Dies muss sich auch auf die Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher auswirken.
402
Vgl. Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 121; vgl. auch v. Hippel, Verbraucherschutz, in: Kimminich/Lersner/Storm (Hrsg.), Handwörterbuch des Umweltrechts, Band 2, Spalte 2569. 403 Rat der Europäischen Union, Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 92 vom 14. April 1975, S. 1 ff. 404 Rat der Europäischen Union, Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 92 vom 14. April 1975, S. 1 ff.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher II Die Wahlfreiheit der Verbraucher und ihre in verschiedener Hinsicht
133 Bedeutung
Die Wahlfreiheit der Verbraucher bedeutet die Möglichkeit der Verbraucher, sich in einer - optimalerweise umfassenden - Informiertheit über ein Produkt für oder gegen den Kauf des Produktes zu entscheiden. Eine so verstandene Wahlfreiheit hat in verschiedener Hinsicht wesentliche Bedeutung für den Verbraucher. Einerseits bedarf der Verbraucher einer Wahlfreiheit in seiner Funktion als Wirtschaftsteilnehmer. 405 Eine solche Bedeutung der Wahlfreiheit wird insbesondere auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts betont. Andererseits bedarf es einer Wahlfreiheit des Verbrauchers vor dem Hintergrund des im Gemeinschaftsrecht herrschenden Verbraucherleitbildes eines mündigen Verbrauchers, d.h. eines frei und eigenverantwortlich handelnden Verbrauchers. 406 Denn ein Verbraucher kann seine Konsumentscheidung nur dann frei und eigenverantwortlich treffen, wenn er die Freiheit der Wahl zwischen verschiedenen Produkten besitzt. In diesem Zusammenhang ist eine über die Wahlfreiheit eröffnete Möglichkeit des Verbrauchers, Eigenvorsorge zu betreiben und sich selbst zu bestimmen, von besonderer Bedeutung.407
1. Wahlfreiheit der Verbraucher als Wirtschaftsteilnehmer Einer über Verbraucherinformationen gewährleisteten Wahlfreiheit bedarf der Verbraucher in seiner Funktion als Wirtschaftsteilnehmer. Die Einordnung des Verbrauchers als Wirtschaftsteilnehmer entspricht einer wirtschaftstheoretischen Betrachtung, d.h. einer Betrachtung des Verbrauchers als Wirtschaftssubjekt im Marktprozess. Der Verbraucher soll eine autonome Marktstellung besitzen, und zwischen ihm und den Produktherstellern soll ein strukturelles Gleichgewicht herrschen. 408 Der Verbraucher soll im Sinne des ökonomischen Leitbildes der Konsumentensouveränität als Abnehmer
405
Näher dazu gleich unter 1. Wahlfreiheit der Verbraucher als Wirtschaftsteilneh-
mer. 406 Zum Verbraucherleitbild eines mündigen Verbrauchers vgl. z. B. Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 119; Grube, Verbraucherschutz durch Lebensmittelkennzeichnung?, S. 98 ff. 407 Näher dazu unter 2. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigen Vorsorge und 3. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Selbstbestimmung. 408 So die Grundidee der wirtschaflstheoretischen Allgemeinen Gleichgewichtstheorie, der allerdings nach einhelliger Auffassung eine „ideale Welt" und nicht die reale Welt zugrunde liegt; vgl. Lohmann, Verbraucherschutz und Marktprozesse, S. 37.
1 3 4 3 .
Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
am Markt Einfluss auf das wirtschaftliche Marktgeschehen haben, d.h., die Produktion durch seine Konsumentscheidung lenken.409 Voraussetzung dafür, dass der Verbraucher in diesem Sinne das Marktgeschehen beeinflussen kann, ist, dass der Großteil der Verbraucher am Markt die gleichen Ziele verfolgt. Dies ist bei Lebensmittelskandalen häufig der Fall. So löste beispielsweise beim BSE-Skandal das Verbraucherverhalten und der damit einhergehende Rückgang des Rindfleischkonsums erhebliche Turbulenzen auf dem Rindfleischmarkt aus, wie insbesondere einen beträchtlichen Preisverfall. 410 Folge des BSE-Skandals und der Verbraucherreaktionen war, dass die Massentierhaltung problematisiert wurde und in der Tierhaltung neue Wege eingeschlagen wurden. Auf europäischer Ebene war ein Verständnis des Verbrauchers als gleichberechtigter Wirtschaftsteilnehmer von Beginn an Bestandteil der europäischen Verbraucherpolitik. 411 Die wesentlichen Voraussetzungen der Gewährleistung einer solchen Gleichberechtigung werden in einer ausreichenden Unterrichtung der Verbraucher und einer damit einhergehenden Wahlfreiheit der Verbraucher gesehen. Denn erst bei ausreichender Information und dem Bestehen einer Wahlfreiheit könnten die Verbraucher die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel optimal einsetzen und frei zwischen Waren und Dienstleistungen auswählen, um auf Preise, Produktentwicklung und Markttendenzen einzuwirken und so die ihnen in der Markt- und Wettbewerbspolitik zugedachte Rolle eines - im Verhältnis zu den Unternehmen - gleichgewichtigen Wirtschaftsteilnehmers wahrnehmen.412
409 410
Vgl. Lohmann, Verbraucherschutz und Marktprozesse, S. 37 f. Vgl. Meyer-Hullmann, Lebensmittelskandale und Konsumentenreaktionen,
S. 102. 411 Zu einer solchen Einordnung des Verbrauchers als gleichgewichtiger Marktteilnehmer in das europäische Marktgeschehen siehe Rat der Europäischen Union, Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 92 vom 14. April 1975, S. 3; nicht ganz so eindeutig, aber immer noch fordernd, dass „der Verbraucher die Möglichkeit erhalten muss, in voller Sachkenntnis zu handeln und somit regulierend auf die Marktmechanismen einzuwirken ", Rat der Europäischen Union, Zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 133 vom 19. Mai 1981, S. 2. 412
Vgl. Rat der Europäischen Union, Erstes Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 92 vom 14. April 1975, S. 3; Rat der Europäischen Union, Zweites Programm der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft für eine Politik zum Schutz und zur Unterrichtung der Verbraucher, ABl. Nr. C 133 vom 19. Mai 1981, S. 2.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
135
2. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigenvorsorge Einer Wahlfreiheit des Verbrauchers bedarf es zudem in Fällen, in denen der Verbraucher Eigenvorsorge betreiben möchte. Dabei handelt es sich grundsätzlich um Fälle, in denen der Staat - z. B. zugunsten einer Förderung des Fortschritts bei neuen Technologien - die Anwendung von Technologien zulässt, obwohl Risiken der Technologie nicht abschließend geklärt, noch ungewiss und damit in den meisten Fällen umstritten sind. Man spricht dabei auch von Bereichen, für die eine divergierende Risikoabschätzung besteht, d.h. für die fachwissenschaftliche und politische Risikobewertungen zur Zulassung bestimmter Behandlungs- oder Herstellungsverfahren geführt haben, aber gleichwohl gewisse Vorbehalte bestehen.413 Solche Bereiche gibt es immer mehr. Ursächlich für diese Entwicklung ist die politische Entscheidung, von einer Regulierung der Risiken neuer Produkte, Herstellungs- oder Behandlungsmethoden durch Gesetze und Verordnungen abzusehen und stattdessen die Entscheidung über eine Akzeptanz oder Ablehnung solcher Produkte auf den Verbraucher zu verlagern. 414 In solchen Fällen sollte dem Verbraucher - im Sinne eines minimal betriebenen Verbraucherschutzes - eine abweichende Risikoabschätzung und die Möglichkeit, eine über die staatliche Risikovorsorge hinausgehende Eigenvorsorge zu betreiben, zugestanden werden. Er soll mögliche Produktrisiken entsprechend seiner subjektiven Wahrnehmung selbständig reduzieren können.415 Allerdings ist eine Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigenvorsorge in solchen Fällen nur dann erforderlich, wenn die gegen das risikobehaftete Produkt erhobenen Vorbehalte über irgendwelche Bedenken hinausgehen, die heute gegen fast alles geäußert werden und daher nicht als unerheblich abgetan werden können.416 Solche Bedenken können eine wissenschaftlich begründete Mindermeinung sein. Es können aber auch bloße, nicht notwendig rational begründete Ablehnungshaltungen gegen bestimmte Behandlungsmethoden sein, die von einem Großteil der Verbraucher abgelehnt werden.417
413 Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 141. 414 Vgl. Grube, Verbraucherschutz durch Lebensmittelkennzeichnung?, S. 1 f. 415 Vgl. Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 84. 416 Vgl. Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 141. 417 Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 141.
136
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
3. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Selbstbestimmung In neuerer Zeit wird - in einer den Verbraucher verstärkt als Individuum in den Vordergrund rückenden Betrachtungsweise - vermehrt darauf abgestellt, dass eine Wahlfreiheit der Verbraucher insbesondere dazu dient, dem Verbraucher eine autonome und eigenverantwortliche Kaufentscheidung zu ermöglichen, die seinen individuellen Wünschen und Bedürfnissen entspricht.418 Damit ist eine weitere wesentliche Bedeutung einer Wahlfreiheit für den Verbraucher angesprochen: Wahlfreiheit als Möglichkeit des Verbrauchers zur Selbstbestimmung.
a) Bedeutung der Selbstbestimmung
für den Menschen
Die Bedeutung einer Möglichkeit des Menschen, sich selbst zu bestimmen, offenbart sich insbesondere bei einer philosophischen Betrachtung der menschlichen Selbstbestimmung. In der Philosophie ist Selbstbestimmung als eine wesentliche und notwendige Eigenschaft des Menschen bereits seit langer Zeit anerkannt. Die der Selbstbestimmung zugemessene Bedeutung soll im Folgenden in ihrer Entwicklung dargestellt werden. Ursprünglich wurde Selbstbestimmung allein als die Möglichkeit des Menschen zur eigenen Wesensbestimmung verstanden, d.h. als Möglichkeit des Menschen zur Bestimmung seines „inneren" Wesens.419 Eine in diesem Sinne verstandene Selbstbestimmung hat bereits in der Philosophie der Antike z. B. bei Sokrates, Piaton und Aristoteles ihre Anerkennung erfahren. 420 Eine solche Interpretation kann auf das aus den Texten hervorgehende Idealbild vom antiken Menschen gestützt werden, dessen ganze Anstrengung darauf gerichtet ist, aus seinem Los das Beste - im wörtlichen Sinne: das Edelste, Tüchtigste und insofern Tugendhafte - zu machen. Zur Ausbildung dieser Tugenden muss der Mensch ein selbständig tätiger Mensch sein, der frei ist im Selbstdenken und Selbsthandeln.421 Die Bedeutung der Selbstbestimmung als innere Wesensbestimmung und als eine das Handeln des Menschen bestimmende Voraussetzung kann auch in 418 Horst, Entwicklung des gemeinschaftlichen Kennzeichnungsrechts, ZLR 1993, 133 ff. (133); Leible, Kennzeichnung gentechnisch hergestellter Lebensmittel, EuZW 1992, 599 ff. (601); Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 120, der von einem Selbstbestimmungsrecht der Verbraucher spricht, ohne allerdings darzulegen, woraus sich ein solches Recht herleiten soll. 419 Vgl. Gerhardt, „Selbstbestimmung", in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Spalte 336. 420 Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 110 ff. 421 Gerhardt, Selbstbestimmung, S. 113 ff.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
137
Texten Kants wiedergefunden werden.422 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Geltung des kategorischen Imperativs, wonach es für alle vernünftigen Wesen Gesetz sein sollte, ihre Handlungen jederzeit nach solchen Maximen zu beurteilen, von denen sie selbst wollen können, dass sie zu allgemeinen Gesetzen dienen.423 Als Voraussetzung einer Geltung des kategorischen Imperativs verlangt Kant, dass schon der Wille des Menschen auf ein solches Handeln gerichtet ist. An dieser Stelle nun erwähnt Kant die Bedeutung der Fähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung: Kant geht davon aus, dass der Wille des Menschen, eines vernünftigen und gleichzeitig autonomen Wesens, das Vermögen beinhaltet, der Vorstellung gewisser Gesetze gemäß sich selbst zum Handeln zu bestimmen.424 Im Sinne einer Ausweitung des ursprünglichen Verständnisses von Selbstbestimmung als im Wesentlichen auf den inneren Vorgang der Wesensbestimmung beschränkt, gewann mit der Zeit das selbstbestimmte Handeln als Voraussetzung einer Selbstbestimmung des Menschen immer größere Bedeutung. Die Bedeutung einer Handlung in Selbstbestimmung für die Selbstbestimmung des Menschen liegt darin, dass das Selbst erst in der Tätigkeit der Selbstbestimmung seinen realen Gehalt findet. 425 Das heißt, dass der Mensch sein inneres Wesen im Wesentlichen durch ein Handeln in Selbstbestimmung bestimmt. Dieser Zusammenhang lässt sich damit erklären, dass der Mensch sich erst beim Handeln, d.h. indem er Entscheidungen trifft und diese vollzieht, endgültig festlegt. Eine rein innere Wesensbestimmung, die sich noch nicht in einer Handlung verfestigt hat, ist hingegen noch unverbindlich und veränderbar. Die Bedeutung einer Handlung für die Selbstbestimmung des Menschen ist dabei umso größer, je grundlegender die Bedeutung der Handlung für das Selbstverständnis des Handelnden ist, d.h. je umfassender er dabei zu grundlegenden Fragen des Lebens Stellung beziehen muss. Voraussetzung dafür, dass die Handlung der Selbstbestimmung dient, ist, dass sie in Selbstbestimmung erfolgt. Ein solches Verständnis der Selbstbestimmung als innere Wesensbestimmung des Menschen und die Anerkennung, dass die Selbstbestimmung insbesondere durch ein Entscheiden und Handeln des Menschen erfolgt, drückt sich auch in der heute allgemein in der Philosophie gebrauchten Definition von Selbstbestimmung aus: Selbstbestimmung bedeutet danach die Möglichkeit ei422
So auch Gerhardt, „Selbstbestimmung", in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Spalte 335 f. 423 Vgl. Kant, Kant's gesammelte Schriften, Band IV, S. 426. 424 Kant, Kant's gesammelte Schriften, Band IV, S. 427. 425 Gerhardt, „Selbstbestimmung", in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Spalte 341 ff.
1 3 8 3 .
Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
ner Person, frei, in Unabhängigkeit von natürlichen, gesellschaftlichen und politischen Einschränkungen bzw. Determinationen, nach den jeweils für sich selbst als verbindlich anerkannten Wertmaßstäben Entscheidungen zu treffen und dementsprechend zu handeln.426 Wird ein so begründetes Erfordernis einer Möglichkeit des Menschen zur Selbstbestimmung auf den Verbraucher bezogen, ergibt sich daraus Folgendes: Der Verbraucher muss zugunsten einer Selbstbestimmung seiner selbst die Möglichkeit besitzen, frei, nach den jeweils für sich selbst als verbindlich anerkannten Wertmaßstäben Entscheidungen zu treffen und dementsprechend zu handeln. Beschrieben ist damit die - hier zu begründende - grundsätzliche Notwendigkeit einer Wahlfreiheit des Verbrauchers zugunsten einer Möglichkeit der Bestimmung seiner Selbst.
b) Recht auf
Selbstbestimmung
In verschiedener Hinsicht wird - wie gesehen - auch ein Recht auf Selbstbestimmung diskutiert bzw. ist ein solches bereits anerkannt.427 Hier ist insbesondere das Recht des Verbrauchers auf wirtschaftliche Selbstbestimmung, d.h. ein Recht des Verbrauchers, selbst darüber zu bestimmen, welche auf dem Markt angebotenen Waren und Leistungen er in welchem Umfang und aus welchen Beweggründen bezieht, einschlägig.
c) Erforderlichkeit
der Selbstbestimmung
beim
Lebensmittelkauf
Beim Lebensmittelkauf ist eine dem Verbraucher über die Lebensmittelkennzeichnung vermittelte Möglichkeit der freien Wahl und damit der Selbstbestimmung von besonderer Bedeutung. Denn Lebensmittel betreffen den Menschen in zweierlei wesentlicher Hinsicht. Zum einen ist der Mensch, wie es sich schon in dem Begriff „Lebens-Mittel" ausdrückt, in seiner physischen Existenz von Lebensmitteln und dabei insbesondere von der Qualität der Lebensmittel abhängig.428 Zum anderen ist gerade die Entscheidung für oder gegen ein Lebensmittel häufig Ausdruck der eigenen Persönlichkeitsentfaltung. Muslime lehnen beispielsweise aus religiösen Gründen den Verzehr von
426 Vgl. Regenbogen/Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, S. 569; vgl. Prechtl, „Selbstbestimmung", in: Prechtl/Burkard (Hrsg.), MetzlerPhilosophie-Lexikon, S. 532. 427 Vgl. oben im zweiten Teil der Arbeit, 3. Kap., Β. ΙΠ. 428 Vgl. Lange, Anforderungen an gentechnisch veränderte Lebensmittel nach der Novel Food-Verordnung und deren Durchsetzung, NuR 1999, 247 ff. (247).
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
139
Schweinefleisch ab, Vegetarier lehnen aus meist ethischen Erwägungen den Verzehr von tierischen Lebensmitteln ab. Diese Bedeutung einer Selbstbestimmung der Menschen bezogen auf Lebensmittel lässt sich treffend mit dem Wortspiel „Man ist, was man isst" umschreiben. Damit wird sowohl die über den Stoffwechsel vermittelte physische Abhängigkeit des Menschen von seiner Nahrung als auch die Prägung des Menschen durch seine Nahrung ausgedrückt.429
B. Lebensmittelkennzeichnung als Instrument zur Gewährleistung einer Wahlfreiheit der Verbraucher Eine Wahlfreiheit der Verbraucher wird insbesondere über eine Information der Verbraucher gewährleistet. Für den Lebensmittelbereich ist die Lebensmittelkennzeichnung das wesentliche Instrument zur Information der Verbraucher. 430 Inwieweit die Lebensmittelkennzeichnung ein wichtiges Instrument allgemein des Verbraucherschutzes und speziell der Verbraucherinformation ist, soll im Folgenden näher dargelegt werden. Anschließend wird vor diesem Hintergrund noch auf die umstrittene Frage nach der Reichweite einer Lebensmittelkennzeichnung eingegangen.
I. Lebensmittelkennzeichnung
im Gemeinschaftsrecht
Die Bedeutung, die der Lebensmittelkennzeichnung allgemein als Instrument des Verbraucherschutzes im Gemeinschaftsrecht zukommt, hängt zum einen eng mit der Art und Weise, wie die gemeinschaftsrechtliche Harmonisierung des Lebensmittelrechts erfolgte, zusammen. Die Harmonisierung des Lebensmittelrechts folgte der von der Europäischen Kommission seit Mitte der 80er Jahre vertretenen „neuen Strategie". Nach dieser Strategie sollte die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes als allgemeines Ziel der Gemeinschaft durch die Kombination einer Strategie der gemeinsamen Anerkennung nationaler Vorschriften durch die Mitgliedstaaten und einer Harmonisierung der 429 Rossen, Was darf man wissen? „Novel food"-Kennzeichnung und die Meinungsbildungsfreiheit des mündigen Marktbürgers, in: Albers/Heine/Seyfarth (Hrsg.), Beobachten - Entscheiden - Gestalten, S. 37. 430 Siehe, dass nach dem 6. Erwägungsgrund der allgemein die Lebensmittelkennzeichnung regelnden Richtlinie 2000/13/EG „jede Regelung der Etikettierung von Lebensmitteln vor allem der Unterrichtung und dem Schutz der Verbraucher dienen soll". Ausführlich zur Lebensmittelkennzeichnung als Instrument des Verbraucherschutzes Grube, Verbraucherschutz durch Lebensmittelkennzeichnung, 1997.
140
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
nationalen Rechtsvorschriften erfolgen. 431 Bei der gemeinschaftsrechtlichen Harmonisierung des Lebensmittelrechts entschied man sich dementsprechend für die Kombination einer horizontalen Harmonisierung des Lebensmittelrechts und einer gegenseitigen Anerkennung der einzelstaatlichen Lebensmittelvorschriften durch die Mitgliedstaaten. Die horizontal erfolgende Harmonisierung des Lebensmittelrechts bedeutete, dass es keine Regelung geben sollte, die die Zusammensetzung und Herstellungsbedingungen eines jeden Lebensmittels in allen Einzelheiten vorgibt (sog. Rezeptur-Gesetzgebung). Hingegen wurde allein eine Vereinheitlichung der Grundvoraussetzungen für die Verkehrsfähigkeit von Lebensmittelprodukten in der Gemeinschaft angestrebt.432 Die Lebensmittelkennzeichnung gewann bei dieser Form der Harmonisierung des Lebensmittelrechts insoweit wesentliche Bedeutung, als die horizontale Harmonisierung durch „ ein sehr ausgeprägtes und deutliches System von Etikettierung, Aufmachung und Werbung in der Form von zwingenden Rechtsvorschriften, um die Hersteller vor unlauterem Wettbewerb und die Verbraucher vor Täuschung zu schützen ergänzt werden sollte.433
Die Lebensmittelkennzeichnung besitzt außerdem noch aus einem anderen Grund wesentliche Bedeutung als ein Instrument des Verbraucherschutzes. Die Lebensmittelkennzeichnung wird nämlich grundsätzlich als ein sehr mildes Mittel des Verbraucherschutzes betrachtet, das den freien Warenverkehr weniger tangiert, als dem Verbraucherschutz geschuldete nationale Verkehrsverbote von Produkten. Der Europäische Gerichtshof beurteilte dementsprechend verschiedene von den Mitgliedstaaten mit dem Ziel des Täuschungsschutzes verhängte nationale Verkehrsverbote mehrfach als unverhältnismäßig. Das Ziel des Verbraucherschutzes könne nämlich ebenso gut mit Hilfe anderer Mittel erreicht werden, die die Einfuhr von in anderen Mitgliedstaaten rechtmäßig hergestellten und in den Verkehr gebrachten Erzeugnissen nicht behindern. Als ein solches anderes Mittel nennt der Europäische Gerichtshof insbesondere die Kennzeichnung von Erzeugnissen.434
431
Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat - Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310 endg., S. 18. 432 Vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament - Vollendung des Binnenmarkts: Das gemeinschaftliche Lebensmittelrecht, KOM(85) 603 endg., S. 8 f.; Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Weißbuch der Kommission an den Europäischen Rat Vollendung des Binnenmarktes, KOM(85) 310 endg., S. 20. 433 Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Mitteilung der Kommission an den Rat und das Europäische Parlament - Vollendung des Binnenmarkts: Das gemeinschaftliche Lebensmittelrecht, KOM(85) 603 endg., S. 9. 434 EuGH, Arnoldus van der Laan, Rs. C-383/97, Slg. 1999 1-731 Rdnr. 24; EuGH, Rewe/Bundesmonopolverwaltung für Branntwein, Rs. 120/78, Slg. 1979, S. 649 ff.
6. Kap. : Wahl freiheit der Verbraucher IL Lebensmittelkennzeichnung
als Instrument
141
der Verbraucherinformation
Die Bedeutung der Lebensmittelkennzeichnung als Instrument der Verbraucherinformation lässt sich auf verschiedene Gründe stützen.
1. Lebensmittelkennzeichnung auf einem industrialisierten Lebensmittelmarkt Ein Grund für die Bedeutung der Lebensmittelkennzeichnung als Instrument der Verbraucherinformation ist das stetig wachsende Informationsbedürfnis der Verbraucher, das wiederum durch eine wachsende Industrialisierung des Lebensmittelmarktes bedingt ist.435 Ein Informationsinteresse der Verbraucher und damit die Bedeutung der Lebensmittelkennzeichnung entwickelte sich parallel zur fortschreitenden Industrialisierung des Lebensmittelmarktes und einer damit verbundenen wachsenden Produktvielfalt. Der Verbraucher wurde und wird noch heute mit neuen, ihm unbekannten Lebensmitteln konfrontiert, denen er in den meisten Fällen nicht ansehen kann, was sie enthalten, und wobei er auch nicht auf das Wissen um herkömmliche Produktionsverfahren zurückgreifen kann. Hinzu kommt, dass mit einer solchen Entwicklung des Lebensmittelmarktes, in dem die Lebensmittelprodukte in großen Mengen industriell hergestellt werden und der Verkäufer nicht mehr auch der Hersteller des Lebensmittels ist, eine zunehmende Auflösung von althergebrachten bzw. eingespielten Produzenten-Kunden-Beziehungen verbunden ist. Dem Verbraucher ist der Hersteller als bekannte Vertrauensperson grundsätzlich verloren gegangen. Vor diesem Hintergrund gewann die Lebensmittelkennzeichnung als zumeist einzige oder zumindest primäre Informationsquelle des Verbrauchers ihre Bedeutung als wesentliches Instrument des Verbraucherschutzes. Entsprechend einer so begründeten Bedeutung der Lebensmittelkennzeichnung dienten beispielsweise die ersten Lebensmittel-Kennzeichnungsvorschriften der Information der Verbraucher über Lebensmittel, z. B. der Information über Inhaltsstoffe und Herstellungsart der Lebensmittel, und - angesichts mit der Anonymisierung des Marktes auftretender missbräuchlicher Kennzeichnungen von Lebensmitteln - dem Schutz der Verbraucher vor Irreführung und Täuschung.436
Rdnr. 13; EuGH, Kommission/Italien, Rs. 193/80, Slg. 1981, S. 3019 f f Rdnr. 27; EuGH, Keldermann, Rs. 130/80, Slg. 1981, S. 527 ff. Rdnr. 12. 435 Vgl. Grube, Verbraucherschutz durch Lebensmittelkennzeichnung?, S. 1. 436 Dass die Etikettierung und die Art und Weise, in der sie erfolgt, nicht geeignet sein darf, den Käufer irrezuführen oder zu täuschen, ist beispielsweise in Art. 2 Abs. 1 Lebensmittel-Kennzeichnungs-Richtlinie 2000/13/EG vorgesehen.
142
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungsplicht
2. Lebensmittelkennzeichnung als unmittelbar verfugbare Information Die Lebensmittelkennzeichnung besitzt als Instrument zur Verbraucherinformation zudem noch unter einem weiteren Gesichtspunkt eine besondere Attraktivität für den Verbraucher, und zwar insbesondere im Vergleich zu anderen Instrumenten der Verbraucherinformation wie beispielsweise der Verbraucheraufklärung und allgemeinen Verbraucherinformationen. Denn die Lebensmittelkennzeichnung ist eine Informationsquelle, die dem Verbraucher unmittelbar beim Lebensmittelkauf zur Verfügung steht.
III. Reichweite
einer
Lebensmittelkennzeichnung
In einer Lebensmittelkennzeichnung kann allerdings nicht jegliches Verbraucherinformationsinteresse aufgegriffen werden. Jede Kennzeichnungspflicht bedeutet nämlich grundsätzlich einen Eingriff in die Grundrechte der zur Kennzeichnung verpflichteten Unternehmer, 437 so dass eine Kennzeichnungspflicht jeweils einen angemessenen Ausgleich zwischen den Informationsinteressen der Verbraucher und den Grundrechten der Unternehmer bedeuten muss. Eine Lebensmittelkennzeichnungspflicht zum Beispiel, die eine Möglichkeit der Verbraucher zur Eigenvorsorge eröffnen soll, ist in dieser Reichweite deshalb nur unter der Voraussetzung zulässig, dass ihr Bedenken hinsichtlich der Risikoträchtigkeit des Lebensmittels zugrunde liegen, die von einer breiten Masse der Verbraucher vertreten werden und die sich auf wissenschaftlich begründete Risiken des Lebensmittels stützen lassen. Die Frage nach der zulässigen Reichweite einer Lebensmittelkennzeichnungspflicht stellt sich auch im Hinblick auf die Notwendigkeit, den grundsätzlichen Anknüpfungspunkt einer Kennzeichnungspflicht zu bestimmen. Denkbar ist zum einen, die Kennzeichnungspflicht produktbezogen auszugestalten. Bei einer produktbezogenen Kennzeichnungspflicht, die zum Teil auch als nachweisbezogene oder merkmalsbezogene Kennzeichnungspflicht bezeichnet wird, knüpft die Pflicht zur Kennzeichnung an solche Merkmale an, in denen sich ein Lebensmittel substantiell von herkömmlichen Lebensmitteln unterscheidet.438 Zu den produktbezogenen Eigenschaften eines Le437
Dazu vgl. Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 131 (140); Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 397; Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 61. 438 Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 229.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
143
bensmittels gehören zum Beispiel dessen Inhaltsstoffe oder eine toxische oder allergene Wirkung des Lebensmittels. Ein solches produktbezogenes Kennzeichnungskonzept entspricht der traditionellen Schutzrichtung des Lebensmittelrechts, einem Schutz der Verbraucher vor Gesundheitsgefahren und vor Irreführung und Täuschung. Darüber hinausgehend könnte eine Lebensmittelkennzeichnung aber auch an Eigenschaften anknüpfen, die dem Lebensmittel nicht mehr unmittelbar anhaften. Solche Eigenschaften sind zum Beispiel das bei der Herstellung eines Lebensmittels angewendete Verfahren oder umweltrelevante Eigenschaften des Lebensmittels. Im ersten Fall spricht man von einer verfahrensbezogenen Kennzeichnung. Danach knüpft die Kennzeichnungspflicht an die Anwendung einer bestimmten Herstellungs- oder Bearbeitungsmethode an und besteht unabhängig von etwaigen stofflichen Veränderungen im Endprodukt.439 Eine Kennzeichnung umweltrelevanter Eigenschaften lässt sich als „umweltbezogene Produktkennzeichnung"440 bezeichnen. Diese beiden Kennzeichnungskonzepte besitzen die Gemeinsamkeit, dass sie vom strengen produktbezogenen Kennzeichnungskonzept des traditionellen Lebensmittelrechts abweichen und darüber hinausgehend Verbraucherinteressen berücksichtigen. Solche Kennzeichnungskonzepte werden allerdings insbesondere wegen ihrer Orientierung an subjektiven Interessen der Verbraucher zum Teil als grenzenlos und zu weitreichend kritisiert. 441 Eine Berücksichtigung auch solcher Verbraucherinteressen, die nicht auf unmittelbar dem Lebensmittel anhaftende Eigenschaften bezogen sind, ist aber durch den Zweck der Verbraucherinformation, dem Verbraucher Wahlfreiheit zu gewährleisten, gefordert. Die Kenntnis auch solcher Eigenschaften von Produkten könnte für den Verbraucher insbesondere zur Ausübung der Selbstbestimmung erforderlich sein. Solche Informationsinteressen der Verbraucher dürfen deshalb nicht völlig unberücksichtigt bleiben, indem eine Lebensmittelkennzeichnung von vornherein auf unmittelbar produktbezogene Eigenschaften eines Lebensmittels beschränkt wird. Es besteht dabei auch nicht die Gefahr, dass eine an Informationsinteressen der Verbraucher orientierte Lebensmittelkennzeichnung uferlos wird. Denn im Einzelfall ist die Reichweite einer Lebensmittelkennzeichnung unter Berücksichtigung der Rechte der Verbraucher einerseits und der Hersteller anderer-
439 Vgl. Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 100; vgl. Le//, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 230. 440 Ausführlich zu umweltbezogenen Produktkennzeichnungen hell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht. 441 Pfleger, „Novel Food-Verordnung", ZLR 1993, 367 ff. (384).
144
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
seits, die im Sinne der Verhältnismäßigkeit zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen sind, festzulegen.
C. Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Vor dem Hintergrund der hier festgestellten Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher lässt sich begründen, dass es einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel bedarf.
/. Notwendigkeit
einer Wahlfreiheit
veränderter
der Verbraucher
und gentechnisch
hergestellter
hinsichtlich
gentechnisch
Lebensmittel
Gerade in Bezug auf gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel ist die durch eine Lebensmittelkennzeichnung gewährleistete Wahlfreiheit der Verbraucher als wesentliche Notwendigkeit des Verbraucherschutzes anerkannt. Die Europäische Kommission äußert sich zum Beispiel dahingehend, dass die Kennzeichnung aller gentechnisch veränderten Lebens- und Futtermittelerzeugnisse die Verbraucher und Landwirte in die Lage versetzen soll, selbst zu entscheiden, ob sie Lebensmittel oder Futtermittel kaufen wollen, die gentechnisch verändert worden sind.442 Auf deutscher Ebene heißt es in einer Pressemitteilung des deutschen Bundesministeriums für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, dass es ein wesentliches verbraucherpolitisches Anliegen ist, eine Wahlfreiheit der Verbraucher, mit gentechnischen Verfahren behandelte Lebensmittel zu konsumieren oder nicht, nachhaltig und praktikabel zu gewährleisten.443 In diesem Sinne äußerte sich auch die deutsche Bundesregierung, wonach die Verbraucher ein Recht auf möglichst „umfassende" Information haben und eine Wahlfreiheit der Verbraucher zwi-
442 Europäische Kommission, Fragen und Antworten zur GVO-Regelung in der EU, vom 29.10.2001; siehe auch Europäische Kommission, Mitteilung der Kommission Eine strategische Vision für Biowissenschaften und Biotechnologie - , KOM(2001) 454 endg., S. 23. 443 Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft, Vertrauen durch Veränderung, Sept. 2001, zu finden auf den Internetseiten des Ministeriums www.verbraucherministerium.de .
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
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sehen herkömmlich und gentechnisch erzeugten Lebensmitteln beim Einkauf gegeben sein müsse.444 Inwieweit das Erfordernis einer Wahlfreiheit der Verbraucher tatsächlich zur Rechtfertigung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel herangezogen werden kann, soll im Folgenden überprüft werden. Dies erfolgt unter Bezugnahme der - oben herausgearbeiteten - grundsätzlichen Bedeutung einer Wahlfreiheit für den Verbraucher als Wirtschaftsteilnehmer und in ihrer Bedeutung für den Verbraucher als Mittel zur Eigenvorsorge und zur Selbstbestimmung.
1. Wahlfreiheit der Verbraucher als Wirtschaftsteilnehmer Eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel könnte erforderlich sein, um den Verbrauchern die Möglichkeit zu geben, in ihrer Rolle als Wirtschaftsteilnehmer das Warenangebot des Marktes mitzubestimmen. Voraussetzung für ein so begründetes Erfordernis einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel ist allerdings zunächst einmal, dass im Hinblick auf gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel eine potentielle Marktmacht der Verbraucher besteht, d.h. ausreichend viele Verbraucher den Konsum gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel ablehnen. Abgesehen von einer sich aus Verbraucherumfragen ergebenden überwiegenden Ablehnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel durch die Verbraucher gibt es noch andere konkrete Anzeichen für eine solche Marktmacht der Verbraucher in Bezug auf gentechnisch veränderte Lebensmittel. Beispielsweise sahen sich jeweils infolge einer intensiven öffentlichen - häufig durch Greenpeace oder andere Verbraucherschutzorganisationen angestoßenen - Debatte über gentechnisch veränderte Lebensmittel Supermärkte in beinahe allen europäischen Ländern gezwungen, solche Produkte wieder aus dem Sortiment zu nehmen.445 Für eine zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestehende Marktmacht der Verbraucher spricht auch, dass 444
Bundesregierung, Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage Drs. 14/8416, BT-Drs. 14/8566 vom 18.03.2002, S. 8. 445 So ausdrücklich dokumentiert für Großbritannien und Deutschland in: ΡΑΒΕ , Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 41, 44. Siehe auch die Pressemitteilung von Greenpeace vom 17.3.1999, „Europa: Supermärkte schmeißen Gen-Produkte aus den Regalen", wonach Supermärkte in Großbritannien, Frankreich, Irland, Belgien, Italien, Österreich und der Schweiz sich gegen gentechnisch veränderte Produkte ausgesprochen und diese größtenteils aus ihren Regalen geräumt haben.
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3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
Verbraucher in Umfragen ausdrücklich auf ihre Macht als Wirtschaftsteilnehmer und die Absicht, diese auch bei gentechnisch veränderten und gentechnisch hergestellten Lebensmitteln in Form von Produkt-Boykotten auszuüben, hinweisen.446 Zwar ist nicht sicher, ob eine Ablehnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel durch die Verbraucher anhält, wenn die Produkte erst einmal auf dem Markt sind. Denn genauso gut könnten die Produkte mit der Zeit im Sinne eines Gewöhnungseffekts auf eine überwiegende Akzeptanz bei den Verbrauchern stoßen. Solche Spekulationen sind aber für eine Bewertung der Verbraucherakzeptanz, die auf den gegenwärtigen Zeitpunkt abzustellen hat, zu dem die Mehrheit der Verbraucher eine „umfassende44 Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln und gentechnisch hergestellter Lebensmittel fordert, 447 irrelevant. Es kann also für den gegenwärtigen Zeitpunkt davon ausgegangen werden, dass eine Marktmacht der Verbraucher im Hinblick auf gentechnisch veränderte Lebensmittel grundsätzlich besteht und die Verbraucher somit grundsätzlich die Möglichkeit besitzen, die Antwort auf die Frage, ob mit gentechnologischen Verfahren hergestellte oder mit gentechnisch veränderten Organismen verunreinigte Lebensmittel auf dem Lebensmittelmarkt eine Chance haben, mitzubestimmen. Zwingende Voraussetzung dafür, dass die Verbraucher diese ihnen Macht verleihende Marktstellung wahrnehmen können, ist, dass sie ausreichend informiert werden. Das heißt, dass gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel entsprechend der Forderung der Verbraucher „umfassend44 gekennzeichnet werden müssten.
2. Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigenvorsorge Eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel könnte auch erforderlich sein, um dem Verbraucher Wahlfreiheit und damit die Möglichkeit, Eigenvorsorge zu betreiben, zu gewährleisten. Eine Möglichkeit des Verbrauchers, Eigenvorsorge zu betreiben, muss wie gesehen - nicht grundsätzlich im Hinblick auf jedes nur irgendwie denkbarrisikobehaftete Lebensmittel gewährleistet sein. Eine Risikosituation, in der eine Möglichkeit der Verbraucher zur Eigenvorsorge bestehen muss, muss 446 ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65. 447 Vgl. oben in diesem Teil der Arbeit, 5. Kap., A.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
147
sich vielmehr dadurch auszeichnen, dass die Bedenken, die bezüglich der Risiken bestehen, gewichtig und substantiiert sind, über irgendwelche Bedenken hinausgehen, die heute gegen fast alles geäußert werden, und daher nicht als unerheblich abgetan werden können.448 Die Notwendigkeit einer Wahlfreiheit der Verbraucher zur Eigenvorsorge bezogen auf gentechnisch veränderte und hergestellte Lebensmittel lässt sich somit nur begründen, wenn die Verbraucher als Hauptbetroffene gegen die Anwendung der Gentechnik gewichtige und substantiierte Vorbehalte geltend machen. Die Bedenken der Verbraucher müssen dabei subjektiv aus der Sicht der Verbraucher von einigem Gewicht sein, und sie müssen objektiv in legitimen Schutzinteressen begründet sein.449 In Verbraucherumfragen hat sich herausgestellt, dass Verbraucher „umfassend" über das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln informiert sein wollen.450 Dem Informationsverlangen der Verbraucher liegt eine grundsätzliche Ablehnung der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung zugrunde.451 Die Verbraucher beklagen noch ungeklärte Risiken der Technologie der Gentechnik. Sie befürchten beispielsweise eine mit der Anwendung der Gentechnik verbundene Gefährdung der menschlichen Gesundheit, wenn etwas mit gentechnischen Lebensmitteln „schiefliefe". 452 Diesen subjektiven Interessen der Verbraucher kommt auch in einer objektiven Betrachtung wesentliche Bedeutung zu. Die Anwendung der Gentechnik ist aufgrund ihrer Neuartigkeit mit Bewertungsunsicherheiten verbunden, die es unmöglich machen, Langzeitfolgen und Restrisiken aufgrund unerkannter Zusammenhänge gänzlich auszuschließen. Sollten sich solche Risiken aber verwirklichen, könnte der dann eintretende Schaden für den Menschen erheblich sein. Insofern bedeutet die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung einen Bereich, für den erhebliche und zu berücksichtigende Bedenken der Verbraucher bestehen.453 Den Verbrauchern muss es deshalb unabhängig von der Entscheidung des Gesetzgebers, eine Anwendung der Gentechnik zuzulassen, über eine Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte grund448 Vgl. Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 141. 449 Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 234. 450 Vgl. oben in diesem Teil der Arbeit, 5. Kap., A. 451 Europäische Kommission, Eurobarometer 58.0, „Europeans and Biotechnology in 2002", S. 16. 452 Vgl. oben in diesem Teil der Arbeit, 5. Kap., A. 453 So auch Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 149.
148
3. Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
sätzlich möglich sein, sich selbst vor solchen zu schützen und somit Eigenvorsorge zu betreiben.454 Dies gilt zumindest auch betreffend gentechnisch verunreinigter Lebensmittel, die noch Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten und somit für die Gesundheit des Verbrauchers zumindest ein Restrisiko bedeuten können. Bezüglich „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel, die keine gentechnisch veränderten Organismen enthalten und somit hinsichtlich der Inhaltsstoffe einem nicht gentechnisch hergestellten Lebensmittel gleichen, lässt sich hingegen wohl nicht einmal mehr das Bestehen eines Restrisikos und somit auch keine zur Eigenvorsorge notwendige Kennzeichnung solcher Lebensmittel begründen.
3. Wahlfreiheit zur Selbstbestimmung der Verbraucher Eine Forderung der Verbraucher nach Wahlfreiheit und somit nach der Möglichkeit, sich selbst zu bestimmen, wird von ihnen gerade auch im Zusammenhang mit der Frage nach der Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel immer wieder gestellt.455 Bevor in die Begründung einer Notwendigkeit der Möglichkeit der Verbraucher, selbst zu bestimmen, gentechnisch veränderte oder gentechnisch hergestellte Lebensmittel zu konsumieren oder nicht, eingestiegen wird, sei zunächst noch einmal darauf hingewiesen, dass es einer Selbstbestimmung des Menschen insbesondere in solchen Fällen bedarf, in denen er in seinem Selbstverständnis, d.h. insbesondere auch in der Positionierung der eigenen Person zu grundlegenden Fragen des Lebens, betroffen ist.456 In seinem Selbstverständnis betroffen ist der Verbraucher zum Beispiel oft bei der Entscheidung für oder gegen ein Lebensmittel. Denn diese Entscheidung ist angesichts der Bedeutung der Lebensmittel für den Menschen häufig Ausdruck eines Selbstverständnisses der Person im Sinne einer Positionierung zu grundlegenden Fragen des Lebens.457 So wird von Verbrauchern beispielsweise Fleisch aus Massentierhaltungen abgelehnt, weil sie eine solche oft mit Quälereien für die Tiere verbundene Tierhaltung mit dem eigenen Gewissen nicht vereinbaren können. 454
Vgl. Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 234. 455 Die fehlende umfassende Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln empfinden die Verbraucher als eine Verletzung ihres Rechts auf persönliche Wahl und der Möglichkeit der Kontrolle über das eigene Leben; ΡΑΒΕ , Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 65. 456 Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, Α. Π. 3. 457 Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, Α. Π. 3. c).
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
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Hinsichtlich gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel spricht fur die Notwendigkeit einer Möglichkeit der Verbraucher zur Selbstbestimmung neben den allgemein bei einer Lebensmittelentscheidung einschlägigen Gründen, dass die Entscheidung für oder gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel für viele Verbraucher in besonderem Maße eine die eigenen Wertmaßstäbe betreffende Entscheidung ist. Allgemein mit der Anwendung der Gentechnik verbinden die Verbraucher mehrheitlich ganz grundlegende, religiös, weltanschaulich, ethisch oder moralisch geprägte Befürchtungen. 458 In der Anwendung der Gentechnik wird eine Anmaßung des Menschen gegenüber Gott und gegenüber der Natur bzw. der natürlichen Evolution gesehen.459 Die Verbraucher verurteilen den Eingriff des Menschen in die Schöpfung und warnen davor, dass der Mensch sich nicht als Gott aufspielen dürfe. 460 Der Mensch nehme mit der gentechnischen Veränderung von Erbgut Eingriffe in die Evolution vor, die ihm nicht zustehen und die nicht ohne gravierende Folgen bleiben könnten.461 Allgemein mit der Anwendung der Gentechnik werden auch negative soziale Folgen verbunden, wie beispielsweise eine weitere Monopolisierung der Wirtschaft und eine verstärkte Technik-Abhängigkeit des Menschen.462 Speziell in der Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung wird eine verstärkte Entwicklung hin zu einem Lebensmittelmarkt gesehen, der u.a. von Unnatürlichkeit und extremer Technik-Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Die Anwendung der Gentechnik wird als die ultimative Verkörperung einer solchen Lebensmittelwirtschaft empfunden, die die Verbraucher mit einem Rückgang an Lebensqualität assoziieren.463 Viele dieser allgemein gegen die Anwendung der Gentechnik und speziell gegen die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung geltend gemachten Gründe beziehen sich auf grundlegende, das Verhältnis von Mensch und Natur betreffende Fragen. Die Positionierung einer Person zu diesen Fragen und das Handeln danach können die Person in ihrem Selbstverständnis treffen. Es bedarf deshalb in Bezug auf gentechnisch veränderte Lebensmittel einer Möglichkeit der Verbraucher zur Selbstbestimmung. Dies setzt voraus, dass der Verbraucher über die gentechnische Veränderung der
458
Vgl. schon oben 5. Kap. B. Vgl. Zwick, Gentechnik im Verständnis der Öffentlichkeit, in: Hampel/Renn (Hrsg.), Gentechnik in der Öffentlichkeit, S. 104; vgl. auch schon oben im 5. Kap. B. 400 Vgl. oben 5. Kap. B. 461 P.ABE, Public Perceptions of Agricultural Biotechnologies in Europe, Final Report of the ΡΑΒΕ research project, Dezember 2001, S. 51. 462 Vgl. oben im 5. Kap. Β. 463 Zwick, Gentechnik im Verständnis der Öffentlichkeit, in: Hampel/Renn (Hrsg.), Gentechnik in der Öffentlichkeit, S. 103; vgl. oben 5. Kap. B. 459
1 5 0 3 .
Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
Lebensmittel informiert wird. Es bedarf mithin einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel, die eine Wahlfreiheit der Verbraucher und damit eine Möglichkeit zur Selbstbestimmung eröffnet. Ein so begründetes Erfordernis einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel lässt sich auch zur Begründung einer „ umfassenden " Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel heranziehen, gilt also auch für gentechnisch verunreinigte Lebensmittel und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel. Eine Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch verunreinigter Lebensmittel lässt sich damit begründen, dass auch diese - wenn auch nicht unmittelbare Produkte der Anwendung der Gentechnik sind und gentechnisch veränderte Organismen enthalten. Ein Verbraucher, der die gentechnische Veränderung von Organismen z. B. aus ethischen Gründen ablehnt, wird auch das Vorhandensein von Spuren gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln ablehnen und solche Produkte nicht konsumieren wollen. Eine Kennzeichnung „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel ist erforderlich, weil in diesem Fall gentechnische Verfahren Anwendung gefunden haben. Der Verbraucher, der die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung ablehnt, muss auch bezüglich solcher Lebensmittel zugunsten seiner Selbstbestimmung eine Wahlfreiheit besitzen. Für eine solche „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel spricht zudem, dass der Verbraucher ansonsten seine Kaufentscheidungen in permanenter Unsicherheit treffen müsste. Er wüsste nicht, ob das Lebensmittel Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält oder ob das Lebensmittel gentechnisch hergestellt ist. Eine Entscheidung des Verbrauchers in Unsicherheit widerspricht aber einer selbstbestimmten Entscheidung des Verbrauchers. Im Ergebnis ist demnach auch zur Gewährleistung einer Wahlfreiheit zur Selbstbestimmung eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel erforderlich.
4. Zusammenfassung Die konsequente Gewährleistung einer Wahlfreiheit der Verbraucher im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten und gentechnisch hergestellten Lebensmittel macht mithin eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel erforderlich.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher IL Gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel Produkte eines industrialisierten Lebensmittelmarktes
151 als
Die rechtspolitische Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel lässt sich auch aus dem mit der Lebensmittelkennzeichnung verfolgten Zweck herleiten. Ein Zweck der Lebensmittelkennzeichnung ist die Information der Verbraucher über ihnen unbekannte Produkte des industrialisierten Lebensmittelmarktes.404 Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind dabei geradezu der Prototyp solcher, dem industrialisierten Lebensmittelmarkt entwachsener Lebensmittel, die dem Verbraucher unbekannt sind, denen er zudem nicht ansieht, dass sie gentechnisch verändert bzw. gentechnisch hergestellt sind, und bezüglich derer er somit der Kennzeichnung als zumeist einzigen Informationsquelle bedarf. Dies lässt sich auch für Lebensmittel, die lediglich mit Spuren gentechnisch veränderter Organismen verunreinigt sind, und der „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmittel begründen: Eine Kennzeichnung mit Anteilen gentechnisch veränderter Organismen verunreinigter Lebensmittel ist erforderlich, weil auch lediglich eine Verunreinigung eines Lebensmittels mit gentechnisch veränderten Organismen eine - für die Verbraucher nicht offensichtliche - qualitative Veränderung des Lebensmittels bedeutet, die den Verbrauchern das Lebensmittel unbekannt macht und bezüglich der - wie gesehen465 - die Verbraucher zudem ein überwiegendes Informationsinteresse besitzen. „Mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel sind schließlich ein besonders gutes Beispiel für die Notwendigkeit einer Lebensmittelkennzeichnung auf einem industrialisierten Lebensmittelmarkt. In der Lebensmittelindustrie werden Lebensmittel nämlich bereits heute „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt. Mangels einer Kennzeichnungspflicht wird dies dem Verbraucher größtenteils nicht bekannt sein. Dabei lehnen circa die Hälfte der Verbraucher auch Lebensmittel ab, die gentechnisch hergestellt wurden, aber keine gentechnisch veränderten Organismen mehr enthalten.466 Dass die Verbraucher ohne eine „umfassende" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel solche - von 464
Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, Β. Π. 1. Vgl. oben im 5. Kapitel, A. 466 INRA (Europe), Eurobarometer 52.1 „The Europeans and biotechnology'4, März 2000, S. 62. 465
1 5 2 3 .
Teil: Notwendigkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht
ihnen abgelehnte und dem industrialisierten Lebensmittelmarkt entstammende - Lebensmittel unbewusst konsumieren, widerspricht einer Bedeutung der Lebensmittelkennzeichnung zur Gewährleistung des Informationsrechts der Verbraucher auf einem industrialisierten Lebensmittelmarkt.
D. Das einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel zugrunde zu legende Kennzeichnungskonzept Entsprechend der hier festgestellten Notwendigkeit, die Verbraucher sowohl über die Anwendung gentechnischer Verfahren bei der Lebensmittelherstellung als auch über das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel zu informieren, bietet es sich an, der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel eine Kombination aus dem produktbezogenen und dem verfahrensbezogenen Kennzeichnungskonzept zugrunde zu legen.467 Ein Lebensmittel ist danach als gentechnisch verändert zu kennzeichnen, wenn bei der Herstellung des Lebensmittels gentechnische Verfahren angewendet wurden oder wenn das Lebensmittel Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält. Ein solches kombiniertes Kennzeichnungskonzept liegt grundsätzlich auch den beiden neuen Verordnungen zur Regelung gentechnisch veränderter Lebens· und Futtermittel zugrunde.468 Die Schwellenwertregelungen und die Herausnahme „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel aus dem Anwendungsbereich der Verordnungen bedeuten allerdings einen Bruch im Konzept einer verfahrensbezogen und produktbezogen orientierten Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel. Die Schwellenwertregelungen widersprechen dem Produktbezug der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel, und eine Ausklammerung „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel aus dem Anwendungsbereich der Verordnungen und damit aus dem Kreis der kennzeichnungspflichtigen Lebensmittel widerspricht der verfahrensbezogenen Ausgestaltung der Kennzeichnungspflicht. Für die Verbraucher bedeutet dies entsprechend der im Vorausgegangenen erläuterten Bedeutung einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel zur Information der Verbraucher eine empfindliche Einschränkung ihres Rechts auf Verbraucherinformation.
467
Zu den beiden Kennzeichnungskonzepten siehe soeben 3. Allgemein zur möglichen Kombination der beiden Kennzeichnungskonzepte siehe Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 103 ff. 468 Vgl. oben im ersten Teil der Arbeit, 2. Kapitel: Rechtsgrundlagen.
6. Kap.: Wahlfreiheit der Verbraucher
153
Bei dem im Folgenden vorgestellten Vorschlag einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel wird dementsprechend auf solche Kennzeichnungslücken verzichtet.
Vierter Teil
Eigener Vorschlag Anschließend folgen ein eigener Regelungsvorschlag zur Umsetzung der festgestellten Notwendigkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel und eine Überprüfung der Kompatibilität des Vorschlags mit dem bestehenden gemeinschaftlichen und internationalen Rechtssystem. Schließlich werden notwendige Regelungen zur Ergänzung des Vorschlags einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel vorgeschlagen und diskutiert.
Siebtes Kapitel
Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Im Folgenden wird ein eigener Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel gemacht. Ziel der vorgeschlagenen Kennzeichnungspflicht soll es sein, die Informationsbedürfnisse der Verbraucher im Hinblick auf gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel zu befriedigen und somit eine wirkliche Wahlfreiheit der Verbraucher zu gewährleisten.469
A. Vorschlag für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Die Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel sollte sich entsprechend der Funktion einer Lebensmittelkennzeichnung als Mittel zur Ver469 Zu den Informationsbedürfnissen der Verbraucher betreffend gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel und zur hier vertretenen Bedeutung einer Wahlfreiheit der Verbraucher siehe den dritten Teil der Arbeit.
7. Kap.: Vorschlag für eine umfassende Kennzeichnungspflicht
155
braucherinformation daran orientieren, den Informationsinteressen der Verbraucher hinsichtlich gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel gerecht zu werden, so dass dem Verbraucher die Entscheidung für oder gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel grundsätzlich frei steht.
/. Grundsätze einer „ umfassenden " Pflicht veränderter
und gentechnisch
zur Kennzeichnung
hergestellter
gentechnisch
Lebensmittel
Der Grundsatz einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel müsste sein, dass Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen, und „aus" oder „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel ausnahmslos zu kennzeichnen sind. Eine „umfassende" Kennzeichnungspflicht sollte also - im Gegensatz zur Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch veränderte Lebensund Futtermittel - alle Lebensmittel erfassen, in denen Anteile (zugelassener 470) gentechnisch veränderter Organismen nachweisbar vorhanden sind. Grenze der Kennzeichnungspflicht zufällig oder technisch unvermeidbar gentechnisch veränderter Lebensmittel ist somit kein Schwellenwert, sondern die technische Grenze der Nachweisbarkeit.471 Außerdem sollten - entgegen der Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch veränderte Lebensund Futtermittel - auch „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel kennzeichnungspflichtig sein. Damit würde die Kennzeichnungspflicht sowohl merkmalsbezogen als auch verfahrensbezogen ausgestaltet und beide Ansätze würden weitestmöglich verwirklicht. Die hier vorgeschlagene Kennzeichnungsregelung soll weiterhin dazwischen unterscheiden, ob das Lebensmittel gezielt oder zufällig gentechnisch veränderte Organismen enthält bzw. aus gezielt oder zufällig gentechnisch veränderten Organismen hergestellt ist. Denn für die Verbraucher kann dies eine wesentliche Information sein. Die meisten der von den Verbrauchern gegen gentechnisch veränderte Lebensmittel vorgebrachten Risiken treffen näm470 Lebensmittel oder Lebensmittelzutaten, die nicht nach dem Gemeinschaflsrecht zugelassene gentechnisch veränderte Organismen enthalten oder daraus bestehen, sollten aus Vorsorgegesichtspunkten schon nicht in den Verkehr gebracht werden dürfen. 471 Siehe, dass wegen dieser technischen Nachweisbarkeitsgrenze eine Kennzeichnung von Anteilen gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln nie vollkommen umfassend sein kann. Um in diesem Sinne deutlich werden zu lassen, dass die hier vorgeschlagene „umfassende" Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter Lebensmittel nicht umfassend im eigentlichen Sinne bedeuten kann, wird das Wort umfassend in Anführungsstriche gesetzt.
156
4. Teil: Eigener Vorschlag
lieh allein auf gezielt gentechnisch veränderte Lebensmittel zu. Die Verbraucher befürchten beispielsweise ökologische und wirtschafts- und gesellschaftspolitische Risiken als Folge des gezielten Einsatzes gentechnisch veränderter Organismen im Agrar- und Lebensmittelsektor. Es ist somit zu erwarten, dass die Verbraucher gezielt gentechnisch veränderte Lebensmittel besonders ablehnen werden. Die Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel sollte deshalb zwischen gezielt und zufällig gentechnisch veränderten Lebensmitteln unterscheiden, so dass der Verbraucher frei dazwischen wählen kann. Die Abgrenzung gezielt gentechnisch veränderter Lebensmittel von zufällig gentechnisch veränderten Lebensmitteln könnte sich am Ausmaß der im Lebensmittel bzw. in der Lebensmittelzutat vorhandenen gentechnisch veränderten Organismen orientieren. Ein erheblicher Anteil gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel würde für eine gezielte gentechnische Veränderung des Lebensmittels/der Lebensmittelzutat sprechen, und ein geringer Anteil gentechnisch veränderter Organismen würde dementsprechend für eine zufällige Verunreinigung des Lebensmittels/der Lebensmittelzutat sprechen. Die Entscheidung, ab welchem Anteil gentechnisch veränderter Organismen von einer gezielten Veränderung des Lebensmittels und nicht mehr nur von einer Verunreinigung auszugehen ist, hat über die Festlegung eines Grenzwertes zu erfolgen. 472 Die Kennzeichnungstatbestände einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel könnten folgendermaßen lauten: Gezielt gentechnisch veränderte Lebensmittel könnten mit dem Zusatz „Das Lebensmittel ist gentechnisch verändert" bzw. „ D i e [Bezeichnung der Zutat] ist gentechnisch verändert" gekennzeichnet werden.
Für „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel sollte es eine gemeinsame Kennzeichnung geben. Eine Unterscheidung zwischen diesen zwei Arten gentechnisch hergestellter Lebensmittel wird dem nicht vorgebildeten Verbraucher nicht verständlich zu machen sein. Eine solche differenzierende Kennzeichnung würde beim Verbraucher wohl mehr Verwirrung als Information schaffen und ist deshalb als informierende Kennzeichnung nicht geeignet. Die wesentliche und für den Verbraucher interessante Gemeinsamkeit dieser Lebensmittel liegt darin, dass die Lebensmittel trotz der Anwendung gentechnischer Verfahren als Endprodukt keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten. Dieser Aspekt sollte bei der Kennzeichnung „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organis472 Siehe, dass das Bayerische Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit in der Praxis davon ausgeht, dass ein Anteil gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel < 0,1% als zufallig angesehen wird; Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit, Jahresbericht 2002, S. 112.
7. Kap.: Vorschlag für eine umfassende Kennzeichnungspflicht
157
men hergestellten Lebensmitteln zum Ausdruck kommen. Diese beiden Lebensmittelgruppen könnten mit dem Zusatz, „ D a s Lebensmittel ist unter Einsatz gentechnisch veränderter Organismen [Bezeichnung der Zutat oder des Hilfsstoffes] hergestellt, enthält selbst aber keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen
Soweit ein Lebensmittel bzw. eine Lebensmittelzutat nur zufällig gentechnisch veränderte Organismen enthält, sollte dies durch die Aufnahme des Wortes zufällig in die Kennzeichnung deutlich gemacht werden. Zufällig gentechnisch veränderte Lebensmittel sollten mit dem Hinweis gekennzeichnet werden „ D a s Lebensmittel enthält zufällig Spuren gentechnisch veränderter Organismen " bzw. „ Die [Bezeichnung
ren gentechnisch veränderter
der Zutat] enthält zufällig
Organismen".
Spu-
Lebensmittel, die aus zufallig
gentechnisch veränderten Zutaten hergestellt wurden, sollten mit dem Zusatz „ Das Lebensmittel ist unter Einsatz zufällig nismen [Bezeichnung der Zutat] hergestellt, gentechnisch veränderter Organismen
gentechnisch veränderter Orgaenthält selbst aber keine Anteile
Nur am Rande dieses Vorschlags für eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel sei hier noch erwähnt, dass in der Konsequenz der Forderung einer solchen „umfassenden" Kennzeichnungspflicht auch eine umfassende Kennzeichnung von Saatgut erforderlich wird. Denn nur so ist zu gewährleisten, dass ein Lebensmittelhersteller, der „gentechnikfrei" produzieren möchte, dazu auch in der Lage ist. Und zudem erleichtert eine umfassende Kennzeichnung des Saatguts in erheblichem Maße das Auffinden gentechnischer Verunreinigungen in Lebensmitteln und damit deren Kennzeichnung.
IL Realisierbarkeit und Vollziehbarkeit einer „ umfassenden " Kennzeichnungspßicht
Eine jede Kennzeichnungsregelung muss zugunsten ihrer Realisierbarkeit praktikabel und zugunsten ihrer Vollziehbarkeit kontrollierbar sein. Ob die hier vorgeschlagene „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel, wonach ergänzend zur Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel - auch zufällig im Lebensmittel vorhandene Spuren gentechnisch veränderter Organismen und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel zu kennzeichnen sind, praktikabel und kontrollierbar ist, soll im Folgenden getrennt für diese beiden Kennzeichnungstatbestände überprüft werden.
158
4. Teil: Eigener Vorschlag
1. Praktikabilität und Kontrollierbarkeit einer Kennzeichnung von Spuren gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln a) Praktikabilität
Die Praktikabilität einer Kennzeichnung von Spuren zufällig im Lebensmittel vorhandener gentechnisch veränderter Organismen könnte insbesondere daran scheitern, dass die Verunreinigungen, die gekennzeichnet werden sollen, erst einmal aufgefunden werden müssen, und somit eine durchgängige Untersuchung des Lebensmittels bzw. der Lebensmittelzutat entlang der Warenkette erforderlich ist. Erforderlich werden wohl u.a. eine stichprobenartige Untersuchung von Saatgut, eine stichprobenartige Untersuchung der Ernte und schließlich eine Untersuchung des Lebensmittels selbst. Allerdings ist mit diesen erforderlichen Untersuchungen kein Aufwand verbunden, der nicht auch schon nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel erforderlich ist. Denn auch für die Kennzeichnungsregelung nach der Verordnung müssen die Verunreinigungen aufgefunden werden um zu prüfen, ob die Verunreinigung oberhalb oder unterhalb des festgelegten Schwellenwertes liegt und das Lebensmittel dementsprechend entweder kennzeichnungspflichtig oder nicht kennzeichnungspflichtig ist. Gegen die Praktikabilität einer umfassenden Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln wird auch eingewendet, dass eine solche Kennzeichnung keine Unterscheidungskraft mehr besitzt, wenn - wie zu erwarten ist - bei einem parallelen Anbau von genetisch veränderten Nutzpflanzen eine 100%ige Reinheit von ökologischem und konventionellem Erntegut in Zukunft nicht gewährleistet werden kann und somit nahezu jedes Lebensmittel gekennzeichnet werden müsste.473 Eine solche Prognose kann aber nicht bereits zum jetzigen Zeitpunkt eine Einschränkung der Kennzeichnungspflicht und damit eine Verkürzung des Verbraucherschutzes rechtfertigen. Vielmehr ist zu erkennen, dass über eine weitgehende Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel dieser Trend möglicherweise auch zu stoppen ist. Denn eine umfassende Kennzeichnungspflicht auch gentechnischer Verunreinigungen in Lebensmitteln könnte - insbesondere angesichts der überwiegenden Ablehnung gentechnisch veränderter Produkte durch die Verbraucher 474 - dazu führen, dass das Nichtvorhandensein gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln den Verkaufswert ei-
473 Zur Prognose einer derart zu erwartenden Verunreinigung der Ernten siehe Europäische Kommission, Kommission verbessert Regeln für Kennzeichnung und Rückverfolgbarkeit von GVO in Europa, die dem Verbraucher die Wahl lassen und den Schutz der Umwelt sichern, Pressemitteilung vom 25.7.2001. 474 Hierzu vergleiche die Ausführungen im dritten Teil der Arbeit, 5. Kapitel.
7. Kap.: Vorschlag für eine umfassende Kennzeichnungspflicht
159
nes Produktes enorm steigert. Lebensmittelhersteller würden wohl verstärkt versuchen, über z. B. die Trennung von Warenflussströmen, die Einhaltung von ausreichenden Abständen beim Anbau, solche Verunreinigungen zu vermeiden, um Produkte nicht kennzeichnen zu müssen. Die Folgerung, dass bald nahezu 100% der Lebensmittel Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, ist daher gar nicht so zwingend. Dass gentechnische Verunreinigungen von Lebensmitteln weitergehender als bisher vermeidbar sind, lässt sich beispielsweise mit Blick auf biologische Produkte vermuten. Diese weisen nämlich weitaus seltener als konventionelle Produkte eine Verunreinigung mit Anteilen gentechnisch veränderter Organismen auf. 475
b) Kontrollierbarkeit
Die Kontrolle, ob ein Lebensmittel gentechnisch veränderte Organismen enthält oder aus solchen besteht, ist grundsätzlich über so genannte Nachweisverfahren möglich. Es gibt dabei verschiedene Nachweisverfahren, die sich danach unterscheiden, auf welcher Ebene die gentechnische Veränderung des Lebensmittels nachgewiesen wird. Auf der Ebene des Erbmaterials kann die neu eingeführte DNA nachgewiesen werden. Außerdem lassen sich in gentechnisch veränderten Lebensmitteln häufig Proteine oder andere Stoffwechselprodukte nachweisen.476 In der Praxis findet am häufigsten der Nachweis von DNA statt, und zwar mit dem Verfahren der Polymerasen-Kettenreaktion (PCR)477, genauer gesagt mit dem Verfahren der qualitativen PCR. Die qualitative PCR liefert den Nachweis, dass überhaupt Anteile gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel enthalten sind.478 Der Nachweis über das qualitative PCRVerfahren weist in der Anwendung aber auch eine Menge Probleme auf, die einer Nachweisbarkeit und damit einer Kontrollierbarkeit des Vorhandenseins von Spuren gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln entgegenstehen könnten. Dabei soll hier nicht näher auf Probleme des qualitativen
475 So zum Beispiel die Ergebnisse der Prognos-Studie, Warenflusstrennung von GVO in Lebensmitteln, 2001, S. 86. 476 Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nach weis verfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 8. 477 Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nach weis verfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 9. Bei der PCRMethode wird die Menge der nachzuweisenden DNA in Abhängigkeit von den durchgeführten Reaktionszyklen vervielfältigt und so eine sehr hohe Sensitivität des Nachweises erreicht. 478 Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nachweisverfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 12.
160
4. Teil: Eigener Vorschlag
PCR-Verfahrens eingegangen werden, die sich grundsätzlich beim Nachweis gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln stellen, wie beispielsweise die Schwierigkeit, dass die hohe Sensitivität des PCR-Nachweisverfahrens auch schnell zu einer Fehlerquelle werden kann,479 die Schwierigkeit der Isolation eines geeigneten DNA-Präparats aus dem Lebensmittel480 oder die Schwierigkeit, in verarbeiteten Lebensmittel, die gegebenenfalls kaum noch nachweisbare DNA enthalten, einen Nachweis zu führen. 481 Denn diese grundsätzlich bei der Überprüfung von gentechnisch veränderten Lebensmitteln auftretenden Probleme können dann nicht allein gegen die hier vorgeschlagene Kennzeichnungspflicht von Spuren gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln vorgebracht werden. Von Interesse sind hier allein die Probleme, die speziell eine Kontrollierbarkeit von zufällig im Lebensmittel vorhandenen Spuren gentechnisch veränderter Organismen unmöglich machen könnten. Ein solches Problem des Nachweises gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel über das PCR-Verfahren, das sich insbesondere bei Lebensmitteln stellt, die zufällig Spuren gentechnisch veränderter Organismen enthalten,482 könnte sein, dass die neu eingeführte DNA-Sequenz für den PCRNachweis bekannt sein muss.483 Bei zufällig gentechnisch verunreinigten Lebensmitteln ist die DNA-Sequenz der zufällig im Lebensmittel vorhandenen gentechnisch veränderten Organismen nicht bekannt. Eine „warenstrombegleitende Dokumentation"484, die eine solche Kenntnis der DNA-Sequenz grundsätzlich gewährleisten könnte, findet bei einer zufalligen gentechnischen Verunreinigung von Lebensmitteln, der kein gezielter Akt einer gentechnischen Veränderung zugrunde liegt, zwangsläufig nicht statt. Allerdings ist auch dieses Problem der erforderlichen Kenntnis der DNA-Sequenz für einen 479 Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nachweisverfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 12. 480 Näher dazu Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nachweisverfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 10 f. 481 Näher dazu Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nachweisverfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 11 f. 482 Bei gezielt gentechnisch veränderten Lebensmitteln sollte die Kenntnis der DNA-Sequenz zukünftig kein Problem sein, denn nach Art. 4 Verordnung über Rückverfolgbarkeit und Kennzeichnung soll jeder in den Verkehr gebrachte GVO einen „spezifischen Erkennungsmarker" in Form eines einfachen numerischen oder alphanumerischen Codes erhalten, der zur Identifizierung des GVO dient und den Zugriff auf spezifische Informationen des GVO, also auch auf die DNA-Sequenz, ermöglicht. 483 Jany/Kiener/Tomicic/Greiner, Novel Food Verordnung (EC) Nr. 258/97 - Kennzeichnung und Nachweisverfahren von neuartigen Lebensmitteln, S. 9. 484 Vgl. oben im ersten Teil der Arbeit, 2. Kap.: Rechtsgrundlagen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel.
7. Kap.: Vorschlag für eine umfassende Kennzeichnungspflicht
161
PCR-Nachweis kein spezifisches der hier vorgeschlagenen Kennzeichnungsregelung. Denn auch nach der Kennzeichnungsregelung der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel unterfallen zufallig im Lebensmittel vorhandene Anteile gentechnisch veränderter Organismen, die oberhalb des festgesetzten Schwellenwertes liegen, der Kennzeichnungspflicht und müssen somit auch für die Umsetzung der Verordnung aufgefunden werden. Zur Überprüfung und Kontrolle, ob im Einzelfall die Kennzeichnung eines Lebensmittels der hier vorgeschlagenen Unterscheidung zwischen gezielt gentechnisch veränderten und zufällig gentechnisch verunreinigten Lebensmitteln entspricht, müssen Lebensmittel auch auf das Ausmaß ihrer gentechnischen Verunreinigung hin überprüfbar sein. Die Durchführung einer qualitativen PCR hilft hier nicht weiter, da diese - wie gesagt - nur das Ergebnis liefert, dass das Lebensmittel überhaupt Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält. Erforderlich ist in solchen Fällen ein quantitativer PCRNachweis, mit dem die Menge der Anteile gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel nachgewiesen werden kann. Der quantitative PCRNachweis hat den Nachteil, dass er bislang noch sehr teuer ist. Die Kosten einer quantitativen PCR-Analyse liegen bei ca. 320 € pro Test.485 Allerdings kann auch dieser die Kosten betreffende Einwand nicht durchgreifend gegen die hier vorgeschlagene Kennzeichnungsregelung geltend gemacht werden. Denn auch nach der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel ist ein quantitativer PCR-Nachweis erforderlich, um die Einhaltung des Schwellenwertes zu überprüfen.
2. Praktikabilität und Kontrollierbarkeit einer Kennzeichnung „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel a) Praktikabilität
Hinsichtlich einer Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel stellt sich insbesondere die Frage, ob eine solche Kennzeichnungspflicht überhaupt noch Unterscheidungskraft besitzt. Daran könnte es ihr mangeln, wenn Lebensmittel bereits in großem Umfang „mit" Hilfe gentechnisch veränderter Mikroorganismen, also insbesondere unter Einsatz gentechnisch produzierter Enzyme hergestellt werden und somit der Großteil der unter Einsatz von Enzymen hergestellten Lebens-
485 Joint Research Centre, Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 87 f.
162
4. Teil: Eigener Vorschlag
mittel die Kennzeichnung tragen müsste, dass bei der Lebensmittelherstellung gentechnische Verfahren eingesetzt wurden.486 Die Information, inwieweit gentechnisch hergestellte Enzyme in der Lebensmittelherstellung eingesetzt werden, ist nur schwer zu erlangen. Denn der Einsatz von Enzymen in der Lebensmittelherstellung ist - wie gesehen487 nicht kennzeichnungspflichtig. Zwar wird von der Vereinigung der europäischen Enzymhersteller erwartet, dass bald 80% aller Enzyme gentechnisch hergestellt werden.488 Dem widerspricht aber die tatsächliche Situation des Einsatzes gentechnisch hergestellter Enzyme in der Lebensmittelherstellung. Es gibt Anhaltspunkte dafür, dass der Einsatz gentechnisch hergestellter Enzyme in der Lebensmittelherstellung noch längst nicht zum Regelfall geworden ist. Die Nachfrage bei einem in Deutschland ansässigen Enzymhersteller hat beispielsweise ergeben, dass Enzyme dort zwar mit Hilfe gentechnischer Verfahren hergestellt werden. Die gentechnisch hergestellten Enzyme des Unternehmens gehen aber größtenteils in die Textilindustrie. Das Unternehmen hat lediglich ein Enzym im Angebot, das gentechnisch hergestellt wird und in die Backwarenindustrie geliefert wird. Im übrigen habe das Unternehmen keine gentechnisch hergestellten Enzyme, die in der Lebensmittelherstellung eingesetzt werden, im Angebot. Denn für solche Enzyme sei die Nachfrage der Lebensmittelhersteller noch sehr gering. 489 Weitere Anhaltspunkte dafür, dass der Einsatz gentechnisch hergestellter Enzyme in der Lebensmittelherstellung noch nicht der Regelfall ist, liefert eine Nachfrage bei den Lebensmittelunternehmen selbst. Es lässt sich dazu eine von den Verbraucherzentralen von November 2000 bis Februar 2002 durchgeführte Befragung von Lebensmittelherstellern zum Einsatz von Gentechnik heranziehen.490 Bei dieser Befragung haben von 447 befragten deutschen Lebensmittelherstellern 98 ausdrücklich angegeben, keine gentechnisch hergestellten Enzyme und Zusatzstoffe einzusetzen. Bei den 98 Unternehmen, die keine gentechnisch hergestellten Enzyme und Zusatzstoffe einsetzen, handelt 486
Siehe allerdings, dass bei dem mittlerweile ausschließlich aus gentechnisch veränderten Mikroorganismen gewonnenen Insulin diese Art der Herstellung im Beipackzettel des Medikaments aufgeführt ist. 487 Siehe dazu im ersten Teil der Arbeit, 1. Kap., Β. I. l . a ) und 2. Kap., Α. Π. 488 Jany/Greiner, Gentechnik und Lebensmittel, S. 16. 489 Telefongespräch vom 5.11.2003 mit einem Mitarbeiter des Unternehmens Röhm Enzym GmbH. 490 Herstellerbefragung der Verbraucherzentralen zum Einsatz von Gentechnik, 2002, im Internet unter: www.vzhh.de/vz/gentechnik/GentechnikStartHessen.asp. In der Veröffentlichung der Befragung sind die Unternehmen im einzelnen mit den von ihnen zur Befragung gelieferten Antworten bzw. Verweigerungen aufgelistet.
7. Kap.: Vorschlag für eine umfassende Kennzeichnungspflicht
163
es sich dabei keineswegs nur um Unternehmen, die ökologische Produkte herstellen. 304 Lebensmittelunternehmen verweigerten bei der Befragung eine Aussage zum Einsatz gentechnisch hergestellter Enzyme und Zusatzstoffe im eigenen Unternehmen. Auch eine Nachfrage direkt bei einem Verband der Hersteller ökologischer Lebensmittel ergab, dass gentechnisch hergestellte Enzyme noch nicht flächendeckend eingesetzt werden, und, dass es auch genügend Bezugsquellen für nicht gentechnisch hergestellte Enzyme gibt.491 Im Ergebnis zeigt sich mithin, dass der Einsatz gentechnisch hergestellter Enzyme in der Lebensmittelherstellung längst nicht der Regelfall ist. Von einer Kennzeichnungspflicht der „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmittel wären somit nicht alle unter Einsatz von Enzymen hergestellten Lebensmittel erfasst. Die Kennzeichnungspflicht der „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln besitzt somit Unterscheidungskraft und ist praktikabel. Ein anderes Ergebnis, d.h. eine wegen eines weit verbreiteten Einsatzes gentechnisch hergestellter Enzyme fehlende Unterscheidungskraft einer Kennzeichnung „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel und eine infolge dessen fehlende Praktikabilität einer solchen Kennzeichnung wäre sehr unbefriedigend gewesen. Damit hätte man den Verbraucher vor vollendete Tatsachen gestellt, ohne ihm die Gelegenheit zu geben, selbst zu entscheiden, ob er solche Lebensmittel akzeptiert oder ablehnt. Ein solches Ergebnis wäre umso unbefriedigender gewesen, als sich der Verdacht aufdrängt, dass genau das von vielen Lebensmittelherstellern gewollt ist. Anders lässt sich nicht erklären, weshalb so viele Lebensmittelunternehmen auch auf Nachfrage keine Auskunft darüber geben, ob und inwieweit sie gentechnisch hergestellte Enzyme in der Lebensmittelproduktion einsetzen.
b) Kontrollierbarkeit
Ob ein Lebensmittel oder eine Lebensmittelzutat „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellt ist, lässt sich nur über eine warenstrombegleitende Dokumentation und nicht über Nachweisverfahren kontrollieren, denn in solchen Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten sind gentechnisch veränderte Organismen ja gerade nicht mehr enthalten.
491 Telefongespräch vom 10.11.2003 mit einem Mitarbeiter des LebensmittelVerbands demeter.
164
4. Teil: Eigener Vorschlag
B. Ergebnis Die hier vorgeschlagene Kennzeichnungsregelung ist somit insgesamt praktikabel und die Einhaltung der Kennzeichnungspflichten ist kontrollierbar.
Achtes
Kapitel
Mögliche rechtliche Hindernisse einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel dürften keine rechtlichen Hindernisse entgegenstehen.
A. Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit Grundrechten Eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und hergestellter Lebensmittel könnte gegen Grundrechte der zur Kennzeichnung verpflichteten Unternehmer verstoßen. Dabei kommt insbesondere ein Verstoß der „umfassenden" Kennzeichnungspflicht gegen das Grundrecht der Unternehmer auf Berufsfreiheit in Betracht.
/. Eingriff
in die Berufsfreiheit
Der Europäische Gerichtshof zählt die Berufsfreiheit schon seit langem zum Katalog der Gemeinschaftsgrundrechte und sieht davon die Berufswahl und die Berufsausübung geschützt.492 Ein Grundrecht der Berufsfreiheit und ein Recht auf unternehmerische Freiheit sind außerdem in Art. 15, 16 GRCharta gewährleistet. Lebensmittelhersteller können sich grundsätzlich auf das Grundrecht auf Berufsfreiheit berufen. Als Grundrechtseingriff wird - wie im deutschen - auch im Gemeinschaftsrecht eine durch hoheitliche Maßnahmen begründete Verkürzung des Schutz-
492 Zahlreiche Nachweise aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs siehe bei Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV, Rdnr. 131 f.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
165
bereichs des Grundrechts verstanden, die einen Rechtfertigungszwang auslöst.493 Bereits allgemein eine Pflicht zur Lebensmittelkennzeichnung stellt grundsätzlich erhebliche Anforderungen in organisatorischer, personeller und finanzieller Hinsicht an die anbietende Wirtschaft 494 und wird deshalb grundsätzlich als ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Unternehmer gewertet.495 Bei einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel werden die Unternehmer insbesondere finanziell durch eine erforderliche Überprüfung der Produkte auf das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen hin belastet. Die Kosten für eine qualitative PCR-Analyse, mit der getestet wird, ob überhaupt gentechnisch veränderte Organismen im Lebensmittel vorhanden sind, liegen bei ca. 170 € pro Test und die Kosten einer quantitativen PCR-Analyse, mit der der Grad der Verunreinigung festgestellt wird, bei ca. 320 € pro Test.496 Die Pflicht zur „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel bedeutet mithin hinsichtlich der bei der Überprüfung entstehenden Kosten und hinsichtlich des Aufwands, der mit der Kennzeichnung selbst verbunden ist, einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Unternehmer. 497 Ein Eingriff einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel in die Berufsfreiheit der Unternehmer wird zum Teil auch damit begründet, dass die Unternehmer bei einer Pflicht zur Kennzeichnung ihrer gentechnisch veränderten Produkte angesichts der ablehnenden Haltung der Verbraucher gegenüber gentechnisch veränderten Produkten einen Verkaufsrückgang zu erwarten haben. Dogmatisch wäre zu prüfen, ob hier vom Vorliegen eines mittelbar faktischen Grundrechtseingriffs ausgegangen werden kann. Die Möglichkeit eines mittelbaren Grundrechtseingriffs ist vom Europäischen Gerichtshof noch nicht ausdrücklich anerkannt; neuere Entscheidungen des EuGH werden allerdings dahingehend interpretiert. 498 Selbst wenn von
493
Vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 67 f. Horst, Entwicklung des gemeinschaftlichen Kennzeichnungsrechts, ZLR 1993, S. 133 tf. (137f.). 495 Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 131 (140); Groß, Die Produktzulassung von Novel Food, S. 397; Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 61. 496 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 87 f. 497 Vgl. Lell , Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 232. 498 Siehe z. B. Kingreen, in: Calliess/Ruifert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 68 mit Verweis auf EuGH, (Bosphorus) Rs. C-84/95, Slg. 1996, 1-3953 Rdnr. 22 f. 494
166
4. Teil: Eigener Vorschlag
einer Anerkennung mittelbarer Grundrechtseingriffe durch den EuGH auszugehen ist, begründet eine Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel im Hinblick auf die zu erwartenden Verkaufsrückgänge bei den Unternehmern keinen mittelbaren Eingriff. Denn die Verkaufsrückgänge können dem Gesetzgeber nicht als eingreifende Handlung zugerechnet werden. Die Verpflichtung der Unternehmer zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel bedeutet nämlich keine hoheitliche Warnung der Verbraucher, sondern der Gesetzgeber trägt mit der Regelung von Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel allein dem Informationsbedürfnis der Verbraucher Rechnung. Der Unternehmer wird mit einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel dementsprechend zu einer sachlichen Information verpflichtet, die grundsätzlich nicht zu einer ungerechtfertigten Stigmatisierung der Produkte führt. Die Entscheidung des Verbrauchers, gentechnisch veränderte Lebensmittel abzulehnen, wird vielmehr aus anderen Informationsquellen, z. B. der Presse, Kampagnen von Verbraucherschutzverbänden oder Umweltschutzverbänden, genährt. Der Unternehmer kann nicht verlangen, dass der Hoheitsträger dem Informationsverlangen der Verbraucher nicht nachkommt. Ein Recht der Unternehmer auf Nichtwissen der Verbraucher besteht nämlich nicht. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass der informative Gehalt einer Kennzeichnung nicht objektiv zu definieren, sondern davon abhängig ist, wie der Empfänger der Information diese aufnimmt und interpretiert. Information kann damit objektiv informativ und subjektiv diskriminierend zugleich sein. Es handelt sich hierbei um eine informationsimmanente Eigenschaft, die aber nicht gegen eine Kennzeichnungspflicht vorgebracht werden kann.499 Eine Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel bedeutet somit zwar hinsichtlich der bei der Überprüfung gentechnisch veränderter Lebensmittel entstehenden Kosten und hinsichtlich des Aufwands, der mit der Kennzeichnung selbst verbunden ist, einen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Unternehmer. Der durch die Kennzeichnungspflicht zu erwartende Verkaufsrückgang bei gentechnisch veränderten und hergestellten Lebensmitteln begründet hingegen keinen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Lebensmittelunternehmer.
IL Rechtfertigung
des Eingriffs
Die Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs ist grundsätzlich möglich bei Vorliegen eines dem Gemeinwohl dienenden Zweckes und der Wahrung des 499 Oberender/Herzberg/Kienle, Zulassungspflicht für neuartige Lebensmittel Ordnungspolitische Bemerkungen in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 43 ff. (66).
-
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
167
Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit (dazu unter a)). Darüber hinaus fragt es sich, ob auch die „Grundrechte Dritter 44 eine mögliche Schranke gemeinschaftlicher Grundrechte sind (dazu unter b)).
1. Vorliegen eines dem Gemeinwohl dienenden Zweckes und Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Entsprechend der vom Europäischen Gerichtshof grundsätzlich durchgeführten Prüfung ist ein Grundrechtseingriff gerechtfertigt, wenn die Beschränkung tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zwecken der Gemeinschaft entspricht und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen Eingriff darstellt.500
a) Zweck des Gemeinwohls
Eingriffe in gemeinschaftliche Grundrechte können nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs im Hinblick auf die „gesellschaftliche Funktion" der geschützten Rechtsgüter und Tätigkeiten aus Gemeinwohlzwekken gerechtfertigt werden.501 Die Gemeinwohlzwecke müssen sich dabei aus dem Primärrecht der Europäischen Gemeinschaft und der Europäischen Union ergeben.502 Der durch eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel begründete Eingriff in das Grundrecht der Unternehmer auf Berufsfreiheit könnte aus Gründen des Verbraucherschutzes gerechtfertigt sein. Der Verbraucherschutz ist als Ziel der Gemeinschaft in Art. 3 Abs. 1 lit. t EGV und Art. 153 EGV verankert. Gründe des Verbraucherschutzes können somit zur Rechtfertigung eines Grundrechtseingriffs grundsätzlich herangezogen werden.503 Eines der Ziele, mit dem die Gemeinschaft Verbraucherschutz betreibt, ist gemäß Art. 153 500
Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 69 mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH. 501 Siehe dazu Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 69 ff. mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH und unter gleichzeitigem Hinweis auf die in der Literatur erhobene Kritik, dass es dem EuGH bislang nicht gelungen ist, die Gemeinwohlziele zu legitimieren und inhaltlich zu präzisieren. 502 EuGH, Rs. 5/88, Slg. 1989, 2609 Rdnr. 18; EuGH, Rs. C-280/93, Slg. 1994, I4973 Rdnr. 78; EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994, 1-5555 Rdnr. 22; EuGH, Rs. C292/97, Slg. 2000,1-2737, Rdnr. 45; Nicolaysen, Europarecht I, § 4 I, S. 122. 503 Zur Anerkennung des Verbraucherschutzes als mögliche Grundrechtsschranke siehe EuGH, Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 Rdnr. 14; EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994,15555 Rdnr. 25.
4. Teil: Eigener Vorschlag
168
Abs. 1 EGV die Förderung eines Rechts der Verbraucher auf Information. Dieses Recht auf Information kann allerdings kein Recht der Verbraucher auf allumfassende Informiertheit bedeuten. Denn es bestehen die verschiedensten Informationsinteressen der Verbraucher, die nicht allesamt befriedigt werden können. Informationsbedürfnisse, die nach Art. 153 Abs. 1 EGV berücksichtigt werden sollen, müssen deshalb wesentlich sein. Sie müssen zum Beispiel beim Großteil der Verbraucher vorhanden oder für einen Teil der Verbraucher - z. B. aus gesundheitlichen Gründen - von wesentlichem Interesse sein. Das Interesse an einer „umfassenden" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel wird vom Großteil der Verbraucher geteilt.504 Es lässt sich - wie gesehen505 - auf eine aus mehreren Gründen erforderliche Wahlfreiheit der Verbraucher stützen. Eine in diesem Sinne erfolgende umfassende Information der Verbraucher über gentechnisch veränderte Lebensmitteln hat für die Verbraucher auch besondere Bedeutung. Eine „umfassende" Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel eröffnet den Verbrauchern nämlich die Möglichkeit, Eigenvorsorge zu betreiben und sich selbst zu bestimmen, und die Möglichkeit, ihre im Hinblick auf gentechnisch veränderte Lebensmittel bestehende Marktmacht im Wirtschaftsgeschehen auszuüben. Eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel, die folglich ein bedeutendes Informationsinteresse der Verbraucher befriedigt, dient somit dem Verbraucherschutz und verfolgt mithin einen gemeinschaftsrechtlich anerkannten Zweck des Gemeinwohls.
b)
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Eine Pflicht zur „umfassenden" Kennzeichnung in Lebensmitteln vorhandener gentechnisch veränderter Organismen und aus oder mit gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel müsste zudem verhältnismäßig sein. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist als Bestandteil des primären Gemeinschaftsrechts allgemein anerkannt und wird vom Europäischen Gerichtshof - abgesehen von einigen Nuancen - in einer mehrstufigen Abfolge geprüft. Der EuGH überprüft die Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der grundrechtseinschränkenden Maßnahme.506
504 505
Hierzu vergleiche die Ausführungen im dritten Teil der Arbeit, 5. Kap. Siehe dazu den dritten Teil der Arbeit.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
169
Bezogen auf das Grundrecht auf Berufsfreiheit sind in der Rechtsprechung des EuGH im Rahmen der Prüfung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit Ansätze einer Differenzierung zwischen Berufsausübungs- und Berufswahlregeln erkennbar. 507 Daraus wird zum Teil gefolgert, dass - analog zu der zu Art. 12 Abs. 1 GG entwickelten 3-Stufen-Theorie - auch nach gemeinschaftlicher Grundrechtsdogmatik Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl schwerer zu rechtfertigen sind als solche, die lediglich die Berufsausübung beschränken.508
aa) Geeignetheit Die Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel gewährleistet, dass Verbraucher in einem umfassenden Maße über das Vorhandensein von Anteilen gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln und über die Anwendung gentechnischer Verfahren bei der Lebensmittelherstellung informiert werden. Die Kennzeichnungspflicht ist mithin geeignet, ein Recht der Verbraucher auf Information und damit ein dem Gemeinwohl dienendes Ziel der Gemeinschaft zu fördern.
bb) Erforderlichkeit Eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel müsste außerdem erforderlich sein. Das heißt, es dürfte neben der „umfassenden" Kennzeichnungspflicht keine andere Maßnahme denkbar sein, die die Berufsfreiheit der Unternehmer weniger beschränken würde und dabei gleichzeitig das angestrebte Ziel einer umfassenden Information der Verbraucher über das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel und über den Einsatz gentechnisch veränderter Organismen bei der Lebensmittelherstellung ebenso gut erreichten könnte. Als milderes Mittel im Vergleich zu einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel kommt eine Kennzeichnungsregelung gentechnisch veränderter Lebensmittel in Betracht, die Schwellenwertregelungen enthält und somit eine 500 Siehe zum Beispiel EuGH, Rs. C-491, Slg. 2002,1-11453 Rdnr. 122; EuGH, Rs. C-210/00, Slg. 2002,1-6453 Rdnr. 59. 507
EuGH, Rs. C-306/93, Slg. 1994,1-5555 Rdnr. 24; EuGH, Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 Rdnr. 9. 508 Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), Art. 6 EUV Rdnr. 139.
170
4. Teil: Eigener Vorschlag
Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel in einer geringen Anzahl von Fällen erforderlich macht. Eine solche Kennzeichnungsregelung ist zwar fur die Unternehmer weniger belastend als eine „umfassende" Kennzeichnungspflicht. Denn die Kosten z. B. der Produktüberprüfungen sind umso höher, je niedriger der Schwellenwert liegt, und sind damit bei einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel besonders groß.509 Zur Erreichung des Interesses der Verbraucher, umfassend über das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel informiert zu sein, sind Schwellenwertregelungen aber nicht in gleichem Maße geeignet, da dadurch Lebensmittel, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, nicht gekennzeichnet werden müssen. Auch im Hinblick auf die Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel gibt es keine Regelungsalternative, die die Berufsausübungsfreiheit der Unternehmer weniger beschränken würde und dabei das Informationsbedürfnis der Verbraucher ebenso gut wie eine Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel befriedigen könnte.
cc) Angemessenheit Im Sinne der Angemessenheit bzw. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne müssen grundrechtseinschränkende Maßnahmen in angemessenem Verhältnis zu den angestrebten Zielen stehen. Das heißt, die jeweils betroffenen kollidierenden Rechtsgüter müssen durch Abwägung zu einem angemessenen Ausgleich gebracht werden.510 Bei der Prüfung der Angemessenheit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel sind die Informationsinteressen der Verbraucher gegen die Berufsfreiheit der durch die Kennzeichnungspflicht belasteten Unternehmer abzuwägen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Kennzeichnungsregelung lediglich ein Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Unternehmer ist, an dessen Rechtfertigung nicht derart hohe Anforderungen wie an einen Eingriff in die Berufswahl gestellt werden.511 Außerdem ist zu berücksichtigen, dass die Le-
509
Siehe dazu im diesem Teil der Arbeit, 9. Kap. A. Zu der dazu umfangreichen Rechtsprechung des EuGH vgl. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/EGV, Art. 6 EUV Rdnr. 73 m.w.N. aus der Rechtsprechung des EuGH. 511 Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit b). 510
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
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bensmittelkennzeichnung ein sehr mildes Mittel der Verbraucherinformation ist 5 1 2 Den Unternehmern können infolge einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel Kosten in erheblichem Ausmaß entstehen. Die Kosten resultieren insbesondere aus einer erforderlichen Überprüfung der Produkte auf gentechnische Verunreinigungen hin. Dem gegenüber stehen die Interessen der Verbraucher an einer umfassenden Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel. Diese Informationsinteressen der Verbraucher sind aus Gründen des Verbraucherschutzes zu schützen. Für eine hohe Bedeutsamkeit der Verbraucherinteressen an einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel spricht insbesondere, dass der Verbraucher in diesen Fällen der Selbstbestimmung bedarf. Der Konsum gentechnisch veränderter Lebensmittel bedeutet für viele Verbraucher eine höchstpersönliche Entscheidung, bezüglich derer sie der Wahlfreiheit zur Selbstbestimmung bedürfen. Für das Erfordernis einer umfassenden Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel spricht dabei, dass der Verbraucher, der gentechnisch behandelte Lebensmittel ablehnt, grundsätzlich sowohl über geringe als auch über größere Mengen gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel und auch über „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel informiert werden möchte. Für ein Überwiegen des im Sinne des Verbraucherschutzes zu schützenden Interesses der Verbraucher an einer umfassenden Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel gegenüber den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer spricht auch, dass gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel sich anscheinend nur ohne Kennzeichnung verkaufen lassen, für diese Lebensmittel also kein Markt besteht. Den wirtschaftlichen Interessen der Unternehmer an der Vermarktung gentechnisch veränderter Lebensmittel kann dementsprechend nur entsprechend wenig Gewicht zukommen. Zugunsten überwiegender Verbraucherinteressen an einer umfassenden Kennzeichnung von Lebensmitteln, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, kann zudem geltend gemacht werden, dass der Einsatz der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung ein Bereich ist, für den eine divergierende Risikoabschätzung herrscht. Das heißt, dass die fachwissenschaftliche und politische Risikobewertung zur Zulassung der Anwendung der Gentechnik geführt hat, obwohl Vorbehalte bleiben, die über irgendwelche Beden-
512
Vgl. oben im dritten Teil der Arbeit, 6. Kap. Β. I.
172
4. Teil: Eigener Vorschlag
ken hinausgehen und nicht als unerheblich abgetan werden können.513 Dem Verbraucher muss es in solchen Fällen offen stehen, sich in Kenntnis aller erforderlichen Informationen für oder gegen ein Produkt zu entscheiden, das Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält. Dem Verbraucher muss es deshalb über eine „umfassende" Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel möglich sein, sich selbst vor solchen zu schützen.514 Gegen die Angemessenheit einer Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel könnte sprechen, dass solche Lebensmittel von den Verbrauchern nicht so sehr abgelehnt werden wie Lebensmittel, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten.515 Außerdem gehen von „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln höchstwahrscheinlich keine Gesundheitsrisiken aus. Andererseits ist der mit dieser Kennzeichnungspflicht verbundene Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Unternehmer nicht derart schwerwiegend wie bei einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Produkte. Der Lebensmittelhersteller muss „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel nämlich grundsätzlich nicht auf das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen hin überprüfen. Die Kosten einer Überprüfung des Lebensmittels sind aber - wie gesehen - der Hauptkostenfaktor einer Kennzeichnung gentechnisch veränderter bzw. hergestellter Lebensmittel. Auch eine Kennzeichnungspflicht „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel ist somit angemessen. Unangemessene Nachteile könnte eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel allerdings für diejenigen bedeuten, deren Produkte nur zufällig mit geringen Anteilen gentechnisch veränderter Organismen verunreinigt sind und gekennzeichnet werden müssen. Zwar wird mit der hier vorgeschlagenen Kennzeichnungsregelung, die zwischen gezielt und zufällig gentechnisch veränderten Lebensmitteln unterscheidet, versucht, solche Nachteile möglichst gering zu halten. Darüber hinaus müssen die bei den durch gentechnische Verunreinigungen betroffenen Unternehmen entstehenden finanziellen Verluste und Kosten durch Regelungen, die ergänzend zur Regelung einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht zu erlassen sind, aufgefangen werden.516
513
Vgl. Streinz, Divergierende Risikoabschätzung und Kennzeichnung, in: Streinz (Hrsg.), „Novel Food", S. 141. 514 Vgl. Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 234. 515 Vgl. oben im dritten Teil der Arbeit, 5. Kap. A. 516 Näher dazu unten in diesem Teil der Arbeit, 9. Kap.: Notwendige Regelungen zur Ergänzung des Vorschlags einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
173
2. Grundrechte Dritter Ein Eingriff einer umfassenden Kennzeichnungspflicht in die Berufsfreiheit der Unternehmer kann grundsätzlich auch über ein unmittelbares Abstellen auf Rechte und Freiheiten der Verbraucher gerechtfertigt werden, d.h., ohne dass der Umweg über das Gemeinwohlziel Verbraucherschutz erforderlich wäre. Eine damit angesprochene Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen durch „Grundrechte Dritter" ist nach der EMRK 517 anerkannt. Und auch die Grundrechte-Charta sieht in ihrer allgemeinen Schrankenregelung in Art. 52 Abs. 1 S. 2 vor, dass Einschränkungen der Charta-Rechte außer zur Verfolgung von der Union anerkannter dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen auch durch Erfordernisse des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer gerechtfertigt werden können. Wenngleich die Grundrechte-Charta für das Gemeinschaftsrecht noch nicht verbindlich ist, könnte diese Schrankenregelung über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs Eingang in das Gemeinschaftsrecht finden. 518 Allerdings würde eine solche Erweiterung der bisherigen vom EuGH angewendeten Schrankenregelung im Ergebnis keine Änderung der Rechtsprechung des EuGH bedeuten. Denn der Europäische Gerichtshof geht bei der inhaltlichen Ausgestaltung der dem allgemeinen Wohl dienenden Ziele der Gemeinschaft von einem weiten Verständnis aus, so dass dabei zum Teil - wie beispielsweise beim Schutz der Verbraucherinformation 519 - schon subjektive Interessen berücksichtigt werden. Dafür, Grundrechte Dritter als Grundrechtsschranke trotzdem heranzuziehen, spricht, dass dies eine direktere Art der Grundrechtsanwendung bedeuten würde, die dann nicht erst über Ziele des Gemeinwohls erfolgen muss, deren Anerkennung mangels einer Normierung im Einzelfall zudem sehr umstritten sein kann. Ein Eingriff in die Berufsfreiheit der Unternehmer infolge einer „umfassenden" Kennzeichnungspflicht könnte somit grundsätzlich - eine Anerkennung der „Grundrechte Dritter" als Grundrechtsschranke durch den EuGH vorausgesetzt - auch durch Grundrechte und Freiheiten anderer gerechtfertigt werden. In Betracht kommt insbesondere die in Art. 11 GR-Charta gewährleistete Informationsfreiheit. Im Ergebnis ist eine Rechtfertigung des mit der „umfassenden" Kennzeichnungspflicht begründeten Grundrechtseingriffs in die Berufsfreiheit der Unternehmer über das Grundrecht auf Informationsfreiheit der
517
Siehe jeweils Absatz 2 der Art. 8 - 11 EMRK. Zur Erwartung, dass der EuGH sich zukünftig in seiner Grundrechtsjudikatur von der Grundrechtscharta wird leiten lassen, vgl. oben im zweiten Teil der Arbeit. 519 EuGH, Rs. 234/85, Slg. 1986, 2897 Rdnr. 14. 518
174
4. Teil: Eigener Vorschlag
Verbraucher wohl auch erfolgreich. Dies lässt sich vermuten, da auch im Rahmen der Rechtfertigung des Eingriffs über den Verbraucherschutz als Gemeinwohlzweck im Wesentlichen auf Informationsrechte der Verbraucher abgestellt wird.
B. Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit internationalem Recht Gemeinschaftsrechtliche Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel müssen auch bei den in die Europäische Union importierten Waren eingehalten werden. Die Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel sind in vielen NichtEU-Staaten, die Lebensmittel in die EU importieren, nicht so streng wie die der EG.520 Diese Nicht-EU-Staaten müssen deshalb, wenn sie Lebensmittel in die EU einführen wollen, besondere Maßnahmen - wie insbesondere eine Kennzeichnung der Lebensmittel - ergreifen, um die gemeinschaftsrechtlichen Kennzeichnungsanforderungen zu erfüllen. Die gemeinschaftsrechtlichen Kennzeichnungspflichten bedeuten insoweit ein Handelshemmnis für den internationalen Warenverkehr. Die USA, Argentinien und Kanada haben dementsprechend bei der WTO Konsultationen u.a. betreffend die gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel eingereicht.521
L Spezielle völkerrechtliche für gentechnisch
Kennzeichnungsvorschriften
veränderte
Lebensmittel
Eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel könnte mit bereits bestehenden völkerrechtlichen Kennzeichnungsvorschriften gentechnisch veränderter Lebensmittel übereinstimmen. Zwar hat die Übereinstimmung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit speziellen völkerrechtlichen Kennzeichnungsvorschriften nicht zwingend Auswirkungen auf die welthandelsrechtliche Beurteilung einer solchen Kennzeichnungsregelung. Das Verhältnis des Welthandelsrechts zu anderen völkerrechtlichen Abkommen ist nämlich noch nicht abschließend geklärt. Vielmehr wäre eine unmittelbare Anwendung von Völ520
Insbesondere gehören dazu die USA und Kanada. Die Konsultationen sind über die Internetseiten der WTO www.wto.org/. 521
einzusehen:
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
175
kerrecht, das mit Welthandelsrecht kollidiert, mit Art. 1, 7, 11 DSU kaum zu vereinbaren. 522 Die Vereinbarkeit der Kennzeichnungsregelungen mit speziellem Völkerrecht kann somit einen Verstoß der Kennzeichnungsregelungen gegen Welthandelsrecht nicht rechtfertigen. Gleichwohl sollen hier spezielle völkerrechtliche für gentechnisch veränderte Produkte geltende Kennzeichnungsvorschriften dargestellt werden, denn diese können im Sinne des in Art. 3 Abs. 2 DSU i.V.m. Art. 31 Abs. 3 lit. c) WVK anerkannten Prinzips der harmonisierenden Auslegung bei der Überprüfung der Kennzeichnungspflichten am Welthandelsrecht zur Auslegung desselben herangezogen werden.523 Eine Möglichkeit der Berücksichtigung der Internationalen Normen der Codex Alimentarius-Kommission im Rahmen des welthandelsrechtlichen TBT-Übereinkommens ergibt sich darüber hinaus aus Art. 2.4. i.V.m. Anhang 1 Abs. 4 TBT. 524
1. Das Cartagena Protokoll Das „Cartagena Protokoll über die biologische Sicherheit"525 wurde Ende Januar des Jahres 2000 von 133 Vertragsstaaten des „Übereinkommens über die biologische Vielfalt" beschlossen und ist im September 2003 in Kraft getreten. Ziel des Cartagena Protokolls ist die Errichtung eines internationalen Regelungsrahmens für die sichere Weitergabe, Handhabung und Verwendung der durch die Anwendung der Biotechnologie hervorgebrachten lebenden gentechnisch veränderten Organismen, wobei ein Schwerpunkt auf der Regelung der grenzüberschreitenden Verbringung gentechnisch veränderter Organismen liegt. Eine Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel ergibt sich aus dem Cartagena Protokoll insoweit, als bei der Verbringung gentechnisch veränderter Organismen, die für die unmittelbare Verwendung als Lebens- oder Futtermittel oder zur Verarbeitung vorgesehen sind, aus den Begleitdokumenten des Transports hervorgehen muss, dass die Lieferung gentechnisch veränderte Organismen enthalten kann („may contain living modified organisms"). 522 Vgl. Neumann, Die Koordination des WTO-Rechts mit anderen Verträgen, in: Nettesheim/Sander (Hrsg.), WTO-Recht und Globalisierung, 9 ff. (41). 523 Allgemein zu dieser Lösung einer Kollision von Normen des Welthandelsrechts und speziellen Völkervertragsrechts siehe Neumann, Die Koordination des WTORechts mit anderen Verträgen, in: Nettesheim/Sander (Hrsg.), WTO-Recht und Globalisierung, 9 ff. 524 So auch Gotische, WTO als Rechtsordnung, in: Hilf/Oeter (Hrsg.), WTO-Recht, 2005, § 7 Rdnr. 30 Fn. 70. 525 Cartagena Protocol on Biosafety to the Convention on Biological Diversity.
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4. Teil: Eigener Vorschlag
Die Europäische Gemeinschaft ist dem Cartagena Protokoll beigetreten, hat es ratifiziert, und hat es mit der „ Verordnung über grenzüberschreitende Verbringungen genetisch veränderter Organismen" 526 auch schon in Gemeinschaftsrecht umgesetzt. Die Gemeinschaft ist somit an das Cartagena Protokoll gebunden. In der Verordnung wird die - viel kritisierte - ungenaue Kennzeichnungspflicht des Cartagena Protokolls („may contain") modifiziert, so dass nach Art. 12 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 der Verordnung bei gentechnisch veränderten Organismen, die zur unmittelbaren Verwendung als Lebens- oder Futtermittel oder zur Verarbeitung bestimmt sind, in den Begleitpapieren die Angabe „das Produkt enthält GVO" bzw. „das Produkt besteht aus GVO" enthalten sein muss. Bei der Beurteilung der Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit der Kennzeichnungsvorschrift des Cartagena Protokolls ist zu berücksichtigen, dass das Cartagena Protokoll nur einen Mindeststandard an Schutz vorschreibt, über den die Vertragsstaaten gemäß Art. 2 Abs. 4 Cartagena Protokoll hinausgehen können. Weitergehende Schutzmaßnahmen müssen dann aber mit dem Welthandelsrecht vereinbar sein. Eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel genügt offensichtlich den Kennzeichnungsanforderungen des Cartagena Protokolls, denn sie geht weit über diese hinaus. Als weitergehende Schutzmaßnahme muss eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel dann allerdings gemäß Art. 2 Abs. 4 Cartagena Protokoll im Einklang mit anderen Verpflichtungen nach internationalem Recht stehen.527
2. Der Codex Alimentarius Die Codex Alimentarius Kommission (CAK) ist eine gemeinsame Unterorganisation der beiden UN-Sonderorganisationen FAO (Food and Agriculture Organization of the United Nations) und WHO (World Health Organization) und wurde zur Durchführung eines gemeinsamen FAO/WHO Lebensmittelstandardprogrammes gegründet.528 Ihr Hauptwerk ist der Codex Alimentarius, 526 Verordnung (EG) Nr. 1946/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15. Juli 2003 über grenzüberschreitende Verbringungen genetisch veränderter Organismen, ABl. L 287 vom 5.11.2003, S. 1. 527 Zur Vereinbarkeit einer umfassenden Kennzeichnungspflicht gentechnisch veränderter Lebensmittel mit Welthandelsrecht siehe in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, Π. 528 Merkle, Der Codex Alimentarius der FAO und WHO, S. 13.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
177
eine Sammlung von Lebensmittelstandards und sonstigen Empfehlungen der C AK. 529 Die Codex Alimentarius Kommission erarbeitet derzeit eine Richtlinie für die Kennzeichnung von Lebensmitteln und Lebensmittelzutaten, die durch die Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellt werden.530 Ziel der Richtlinie ist es, für solche Lebensmittel und Lebensmittelzutaten eine Kennzeichnung sicherzustellen, die tatsachengetreu, verständlich und nicht irreführend ist und die dem Verbraucher die Produktauswahl erleichtert. Der Richtlinienentwurf enthält unter der Überschrift „3.0 Labelling Provisions" eine Kennzeichnungsregelung, wonach den Staaten verschiedene Optionen der Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel offen stehen: von einer Kennzeichnung derjenigen Lebensmittel, die sich von konventionellen Lebensmitteln in Zusammensetzung, Nährwert oder Verwendbarkeit signifikant unterschieden, bis hin zu einer durchgehenden Prozesskennzeichnung. Nach dem Richtlininenentwurf soll auch die Festsetzung von Schwellenwerten für das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel bzw. in der Lebensmittelzutat möglich sein, so dass Lebensmittel und -zutaten, deren Anteil gentechnisch veränderter Organismen unterhalb des Schwellenwertes liegt, nicht kennzeichnungspflichtig sein sollen. Es soll dabei einen Schwellenwert sowohl für zufällig als auch für gezielt im Lebensmittel bzw. in der Lebensmittelzutat vorhandene gentechnisch veränderte Organismen geben.531 Für die Höhe der Schwellenwerte gibt es bislang keine Vorschläge. Eine Vereinbarkeit einer gemeinschaftsrechtlichen „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit der Codex-Richtlinie ist überhaupt nur erforderlich, wenn die Europäische Gemeinschaft die Richtlinie annehmen und umsetzen wird. Voraussetzung der Bindung eines Staates an Normen der Codex Alimentarius Kommission ist nämlich grundsätzlich die innerstaatliche Annahme und Umsetzung der Normen.532 Aber selbst wenn die Europäische Gemeinschaft die Codex-Richtlinie annähme und umsetzte, entspräche die - hier vorgeschlagene - „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch herge-
529
Merkle, Der Codex Alimentarius der FAO und WHO, S. 13. Draft Codex guidelines for the labelling of food and food ingredients obtained through certain techniques of genetic modification/genetic engineering. 531 Die Europäische Kommission kritisiert, dass nach dem Richtlinienentwurf des CAK ein Schwellenwert auch für gezielt gentechnisch veränderte Lebensmittel gelten soll, European Community Comments for the Codex Committee on food labelling, vom 23.1.2002. 532 Streinz , Die Novel Food-Verordnung - Handelshemmnis im internationalen Warenverkehr ? in: Streinz (Hrsg.), Neuartige Lebensmittel, S. 246. 530
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4. Teil: Eigener Vorschlag
stellter Lebensmittel wohl den Anforderungen der Codex-Richtlinie, die ebenso wie das Cartagena Protokoll nur Mindeststandards festsetzt. 533
II. Vereinbarkeit einer „ umfassenden " Pßicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit Welthandelsrecht
Eine „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel, die - wie gesehen - speziellen Kennzeichnungsvorschriften gentechnisch veränderter Lebensmittel des internationalen Rechts nicht zuwiderläuft, muss mit dem Welthandelsrecht vereinbar sein. Zunächst erfolgt eine Überprüfung der „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel an speziellen völkerrechtlichen Handelsübereinkommen, dem Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (Agreement on Technical Barriers to Trade - TBT-Übereinkommen)534 und dem Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (Agreement on Sanitary and Phytosanitary Measures - SPS-Übereinkommen)535, und anschließend am allgemeinen Welthandelsrecht des General Agreement on Trade and Tariffs (GATT).536
1. Spezielle völkerrechtliche Handelsübereinkommen a) Anwendbarkeit
Bei der Überprüfung allgemein von Kennzeichnungsregelungen auf ihre Vereinbarkeit mit speziellen völkerrechtlichen Handelsübereinkommen hin stellt sich grundsätzlich die Frage, anhand welcher Übereinkommen die Kennzeichnungsregelung zu überprüfen ist. Diese Frage muss hier für die „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel zunächst geklärt werden. 533
Merkle, Der Codex Alimentarius der FAO und WHO, S. 29. Agreement on Technical Barriers to Trade = Übereinkommen über technische Handelshemmnisse, ABl. EG Nr. L 336 vom 23.12.1994, S. 86. 535 Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures = Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen, ABl. EG Nr. L 336 vom 23.12.1994, S. 40. 536 Näher zur parallelen Anwendbarkeit des GATT neben dem speziellen Welthandelsrecht siehe unten in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, 2. a). 534
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
179
Kennzeichnungsvorschriften gehören zu den so genannten technischen Handelshemmnissen. Technische Handelshemmnisse werden allgemein verstanden als staatliche Maßnahmen, die im Hinblick auf die Einfuhr oder Vermarktung ausländischer Waren auf dem Inlandsmarkt technische Anforderungen an die Waren oder ihre Herstellungsweise stellen.537 Als technische Handelshemmnisse gehören Kennzeichnungsvorschriften zu den nichttarifären Handelshemmnissen,538 d.h. zu den nicht zollgebundenen Handelshemmnissen (non-tariff barriers to trade),539 die von den Mitgliedstaaten der Welthandelsorganisation seit dem schrittweisen Abbau von Zöllen durch das General Agreement on Trade and Tariffs (GATT) vermehrt erlassen wurden. Da die allgemeinen Regeln des GATT nur wenig Anhaltspunkte für die komplexe Problematik technischer Handelshemmnisse enthalten, wurden das Übereinkommen über technische Handelshemmnisse (Agreement on Technical Barriers to Trade - TBT-Übereinkommen)540 und das Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen (Agreement on Sanitary and Phytosanitary Measures - SPSÜbereinkommen)541 erlassen.542 Für eine Überprüfung der Vereinbarkeit einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel mit speziellem Welthandelsrecht ist zu klären, welches der beiden Übereinkommen Anwendung findet, denn die Übereinkommen sind grundsätzlich beide auf Kennzeichnungspflichten anwendbar,543 schließen sich aber in ihrer Anwendbarkeit gegenseitig aus. Das SPS-Übereinkommen ist gemäß Art. 1:5 TBT-Übereinkommen lex specialis für gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Maßnahmen. Kennzeichnungsvorschriften fallen dementsprechend gemäß Anhang A SPS-Übereinkommen in den Anwendungsbereich des SPS-Übereinkommens, 537
St oll/S chorkopf, WTO, Rdnr. 265. So im Ergebnis auch Burchardi, Labelling of Genetically Modified Organisms, ZLR 2001, 83 ff. (85); Fuchs/Herrmann, Regulierung genetisch veränderter Lebensmittel, ZLR 2001, 789 11 (805); Le//, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 161. 539 Vgl. Stoll/Schorkopf WTO, Rdnr. 220; Tietfe, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTOHandbuch, B.I.5. Rdnr. 3. 540 Agreement on Technical Barriers to Trade = Übereinkommen über technische Handelshemmnisse, ABl. EG Nr. L 336 vom 23.12.1994, S. 86. 541 Agreement on the Application of Sanitary and Phytosanitary Measures = Übereinkommen über die Anwendung gesundheitspolizeilicher und pflanzenschutzrechtlicher Maßnahmen, ABl. EG Nr. L 336 vom 23.12.1994, S. 40. 542 Stoll/Schorkopf, WTO, Rdnr. 271. 543 Vgl. Anhang A 1. a.E. SPS-Übereinkommen und Anhang 1 Nr. 1 TBT-Übereinkommen. 538
180
4. Teil: Eigener Vorschlag
wenn sie unmittelbar mit der Sicherheit von Nahrungsmitteln zusammenhängen und somit dem Schutz der Gesundheit des Verbrauchers dienen. Die Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel dienen in erster Linie dem Informationsrecht und der Wahlfreiheit des Verbrauchers und nicht dem Schutz seiner Gesundheit.544 Damit fallen die Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel nicht in den Anwendungsbereich des SPS-Übereinkommens, sondern grundsätzlich in den Anwendungsbereich des TBT-Übereinkommens.545
b) Übereinkommen
über technische
Handelshemmnisse
aa) Anwendbarkeit Für eine Anwendbarkeit des TBT-Übereinkommens auf Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel müsste es sich bei den Kennzeichnungsregelungen um „technische Vorschriften" oder „technische Normen" im Sinne des Übereinkommens handeln. Technische Vorschriften und technische Normen, die im Anhang 1 zum TBT-Übereinkommen definiert sind, unterscheiden sich im Wesentlichen in ihrer Rechtsverbindlichkeit: technische Vorschriften sind rechtlich zwingend vorgeschrieben, wohingegen technische Normen rechtlich unverbindlich sind. Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel könnten angesichts ihrer Rechtsverbindlichkeit technische Vorschriften im Sinne des TBT-Übereinkommens sein. Zusätzlich müssten die Kennzeichnungspflichten dann aber auch die übrigen Voraussetzungen erfüllen, die an das Vorliegen einer technischen Vorschrift gestellt werden. Dies scheint fraglich hinsichtlich der Kennzeichnungspflichten „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel, die keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthalten, und zwar in folgender Hinsicht: Im Anhang 1 TBT-Übereinkommen wird eine „technische Vorschrift" definiert als 544 Siehe die die Kennzeichnungsvorschriflen betreffenden Erwägungsgründe 17, 21, 22 der Verordnung über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel. A.A. Lell, Die neue Kennzeichnungspflicht für gentechnisch hergestellte Lebensmittel - ein Verstoß gegen das Welthandelsrecht?, EuZW 2004, 108 ff (109), wonach die Kennzeichnung von Lebensmitteln, die GVO enthalten oder daraus bestehen, schwerpunktmäßig dem Gesundheitsschutz dienen, so dass diese Kennzeichnungspflichten nach dem SPSÜbereinkommen zu beurteilen wären. 545 So auch Fuchs/Herrmann, Regulierung genetisch veränderter Lebensmittel, ZLR 2001, 789 t i (806); Burchardi, Labelling of Genetically Modified Organisms, ZLR 2001,83 11.(98).
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
181
„Document which lays down product characteristics or their related [Hervorhebung durch die Verfasserin] processes and production methods, including the applicable administrative provision, with which compliance is mandatory. It may also include or deal exclusively with terminology, symbols, packaging, marking or labelling requirements as they apply to a product, process or production method".
Aus diesem Originalwortlaut der Definition einer „technischen Vorschrift", d.h. konkret aus dem Satzteil „their relatedwird der Schluss gezogen, dass Regelungen von Herstellungsverfahren und -methoden (processes and production methods, PPMs) nur insoweit in den Anwendungsbereich des TBTÜbereinkommens fallen, als sich das Herstellungsverfahren in (noch) vorhandenen Eigenschaften des Produktes niederschlägt.546 Diese Interpretation wird durch die ausfuhrlich protokollierte Entstehungsgeschichte dieser Vorschrift des TBT-Übereinkommens gestützt, wonach eine Einbeziehung von PPMs in den Anwendungsbereich des TBT-Übereinkommens diskutiert, im Ergebnis aber nur eingeschränkt - im Sinne der jetzigen Fassung der Vorschrift - geregelt wurde.347 In der Literatur wird bezogen auf Kennzeichnungsvorschriften zum Teil vertreten, dass Kennzeichnungsvorschriften, die das Herstellungsverfahren eines Produkts betreffen, unabhängig von einer solchen Produktbezogenheit in den Anwendungsbereich des TBT-Übereinkommens fallen. Dies wird mit einem Hinweis darauf begründet, dass Kennzeichnungsvorschriften das Produkt als solches betreffen und sich damit von sonstigen herstellungsbezogenen Produktvorschriften wie zum Beispiel von den in den Thunfischfällen behandelten Fangvorschriften unterscheiden. Eine Produktkennzeichnung sei in diesem Sinne selbst ein Warenmerkmal und somit eine technische Vorschrift im Sin-
540
So u.a. Triebold, Rechtliche Grundlagen des Umweltschutzes in GATT und WTO, S. 335; Tietje, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, B.I.5. Rdnr. 30; Herrmann, in: Herrmann/Weiß, Welthandelsrecht, § 12 Rdnr. 549. Siehe, dass die notwendige Bezugnahme einer herstellungsbezogenen Produktkennzeichnung auf Eigenschaften des Produktes aus der deutschen Übersetzung der Vorschrift nicht derart deutlich hervorgeht: „Ein Dokument, das Merkmale eines Produkts oder die entsprechenden Verfahren und Produktionsmethoden einschließlich der anwendbaren Verwaltungsbestimmungen festlegt, deren Einhaltung zwingend vorgeschrieben ist. Es kann unter anderem oder ausschließlich Festlegungen über Terminologie, Bildzeichen sowie Verpakkungs-, Kennzeichnungs- oder Beschriftungserfordernisse für ein Produkt, ein Verfahren oder eine Produktionsmethode enthalten." 547 Zur Entstehungsgeschichte des TBT-Übereinkommens gerade auch im Hinblick auf die Frage der Einbeziehung von PPMs erstellte das Sekretariat der WTO einen Vermerk: Note by the Secretariat, Negotiating history of the coverage of the agreement on technical barriers to trade with regard to labelling requirements, voluntary standards, and processes and production methods unrelated to product characteristics, WT/CTE/W/10, G/TBT/W/11 vom 29. August 1995.
182
4. Teil: Eigener Vorschlag
ne des TBT-Übereinkommens.548 Eine solche Erweiterung des Anwendungsbereichs des TBT-Übereinkommens auch auf Kennzeichnungsvorschriften ist hinsichtlich des eindeutigen Wortlauts der Definition einer „technischen Vorschrift" und insbesondere unter Berücksichtigung der Beratungen549 zum TBTÜbereinkommen aber abzulehnen.550 Rechtspolitisch wäre eine Ausweitung des Anwendungsbereichs des TBTÜbereinkommens auf alle möglichen Produkt-Kennzeichnungsvorschriften allerdings wünschenswert.551 Dafür spricht insbesondere die dann mögliche einheitliche Überprüfung von Kennzeichnungsvorschriften am TBT-Übereinkommen. Im Ergebnis würde die Anwendbarkeit des TBT-Übereinkommens auf grundsätzlich alle Kennzeichnungsvorschriften hinsichtlich der im Einzelfall zu bestimmenden Vereinbarkeit mit dem Welthandelsrecht in den meisten Fällen zu keinen anderen Ergebnissen fuhren als bisher. Denn die herstellungsbezogenen Kennzeichnungsvorschriften sind bei Nichtanwendbarkeit des TBT-Übereinkommens am GATT zu überprüfen, das ähnliche Voraussetzungen aufstellt wie das TBT-Übereinkommen. Nach der bestehenden Rechtslage ist die hier aufgeworfene Frage, ob Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel technische Vorschriften im Sinne des TBT-Übereinkommens sind, folgendermaßen zu beantworten: Die Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, beziehen sich unmittelbar auf Eigenschaften des Produktes, sind somit eine „technische Vorschrift" im Sinne des TBT-Übereinkommens und fallen mithin in den Anwendungsbereich des Übereinkommens. Die Pflichten zur Kennzeichnung „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel, die keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthalten, sind hingegen als herstellungsbezogene Kennzeichnungsvorschriften ohne Produktbezug keine technische Vorschrift im Sinne des TBT-Übereinkommens und fallen nicht in den Anwen-
548 Triebold, Rechtliche Grundlagen des Umweltschutzes in GATT und WTO, S. 335 f. 549 Siehe dazu Note by the Secretariat, Negotiating history of the coverage of the agreement on technical barriers to trade with regard to labelling requirements, voluntary standards, and processes and production methods unrelated to product characteristics, WT/CTE/W/10, G/TBTAV/11 vom 29. August 1995. 550 So auch Tietje, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, B.I.5. Rdnr. 31. 551 Vgl. Triebold, Rechtliche Grundlagen des Umweltschutzes in GATT und WTO, S. 339 ff.; Schoenbaum, International trade and protection of the environment, AJIL 1997, 268 ff. (295).
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
183
dungsbereich des TBT-Übereinkommens. Die Kennzeichnungspflichten sind allerdings am GATT zu überprüfen. 552
bb) Nichtdiskriminierungsgebot Die unter den Anwendungsbereich des TBT-Übereinkommens fallenden Kennzeichnungsvorschriften gentechnisch veränderter Lebensmittel dürften nicht gegen das in Art. 2:1 TBT-Übereinkommen verankerte Nichtdiskriminierungsgebot verstoßen. Art. 2:1 lautet „ D i e Mitglieder stellen sicher, dass aus dem Gebiet eines anderen Mitglieds eingeführte Waren in bezug auf technische Vorschriften eine nicht weniger günstige Behandlung erhalten als gleichartige Waren inländischen Ursprungs oder gleichartige Waren mit Ursprung in einem anderen Land. " Das Nichtdiskriminierungsgebot des Art. 2:1
TBT-Übereinkommen enthält das Gebot der Inländergleichbehandlung (Art. 2:1 1. Alt.) und die Meistbegünstigungsverpflichtung (Art. 2:1 2. Alt.), die grundlegend in Art. 1:1 GATT (Meistbegünstigung) und Art. III GATT (Inländergleichbehandlung) geregelt sind. Eine Verletzung der Meistbegünstigungsklausel durch Kennzeichnungspflichten würde voraussetzen, dass die Kennzeichnungspflicht nur auf Importprodukte aus bestimmten Ländern anwendbar ist, während andere Länder hiervon ausgenommen sind.553 Die hier vorgeschlagenen gemeinschaftsrechtlichen Pflichten zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel gelten unterschiedslos für alle Nicht-EU-Staaten und bedeuten somit keinen Verstoß gegen die Meistbegünstigungsklausel. Ein Verstoß der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung im Sinne von Art. 2:1 1. Alt. TBT-Übereinkommen setzt voraus, dass durch die Kennzeichnungspflicht importierte Lebensmittel schärferen Beschränkungen unterworfen werden als gleichartige Lebensmittel inländischer Herkunft. Eine solche Ungleichbehandlung durch die Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel müsste bejaht werden, wenn gentechnisch veränderte Lebensmittel nach dem Welthandelsrecht im Verhältnis zu konventionellen Lebensmitteln, die nicht gekennzeichnet werden müssen, als gleichartig zu bewerten sind. Der Bestimmung der Gleichartigkeit der Produkte kommt in diesem Zusammenhang maßgebliche Bedeutung zu.
552
Dazu gleich 2. Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 162. 553
184
4. Teil: Eigener Vorschlag
Der Begriff der Gleichartigkeit, der mehrfach im GATT und in den verschiedenen, das GATT ergänzenden Übereinkommen vorkommt, ist nach der Rechtsprechung des Appellate Body im jeweiligen Regelungszusammenhang und im Lichte des Sinn und Zwecks der betroffenen Regelung des Welthandelsrechts zu bestimmen.554 Die Bedeutung des Begriffs der Gleichartigkeit als Bestandteil des TBT-Übereinkommens ist vom Appellate Body allerdings noch nicht bestimmt worden. Es lässt sich jedoch auf die Ausfuhrungen des Appellate Body zur Bestimmung der Gleichartigkeit im Sinne von Art. III:4 GATT, der allgemein das Gebot der Inländergleichbehandlung aufstellt und vom Wortlaut her der Vorschrift des Art. 2:1 TBT-Übereinkommen sehr ähnlich ist, zurückgreifen. 555 Der Appellate Body greift zur Bestimmung der Gleichartigkeit von Waren i.S.d. GATT im Einzelfall auf einen - nicht abschließenden - Kriterienkatalog zurück, den eine GATT-Arbeitsgruppe, die „ Working Party on Border Tax Adjustments 1970 zur näheren Bestimmung der Gleichartigkeit von Waren entwickelt hat.556 Bei der Beurteilung der Gleichartigkeit von Waren sind danach zu berücksichtigen (1.) die physischen Eigenschaften, die Natur und Qualität des Produktes, (2.) der Endzweck des Produktes, (3.) der Verbrauchergeschmack und die Verbrauchergewohnheiten und (4.) die Tarifklassifizierung des Produktes.557 Gentechnisch veränderte Lebensmittel, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, weichen bereits in ihren physischen Eigenschaften von konventionellen Lebensmitteln, die keine gentechnisch veränderten Organismen enthalten, ab und sind somit im Verhältnis zu letzteren ungleichartig. Außerdem beurteilen die Verbraucher gentechnisch veränderte Lebensmittel im Vergleich zu konventionellen Produkten als andersartige Produkte, die sie mehrheitlich ablehnen.558 Gentechnisch veränderte Lebensmittel sind somit als
554
Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 88. 555 So auch Tietje , in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, B.I.5. Rdnr. 57. 556 Vgl. zuletzt aus der Rechtsprechung Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 101. 557 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 101. Auf das Merkmal der „Gleichartigkeit" wird gleich unter b) noch einmal näher eingegangen bei der Überprüfung der Pflichten zur Kennzeichnung „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel mit den Vorschriften des GATT. Die Frage der Gleichartigkeit von einerseits „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellten Lebensmitteln und andererseits herkömmlich hergestellten Lebensmitteln ist nämlich ungleich schwerer zu beantworten. 558 Hierzu siehe die Ausführungen im dritten Teil der Arbeit.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
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ungleichartig im Vergleich zu konventionellen Lebensmitteln zu beurteilen.559 Eine durch die Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter Lebensmittel begründete Ungleichbehandlung dieser Produktgruppen begründet somit keinen Verstoß gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung im Sinne von Art. 2:1 TBT-Übereinkommen. Eine im Falle eines Verstoßes gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung grundsätzlich mögliche Rechtfertigung nach Art. 2:2 TBT-Übereinkommen ist somit nicht zu prüfen. 560
2. GATT Die „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel müsste mit den Vorschriften des GATT als allgemeinen Welthandelsrechts vereinbar sein.
a) Anwendbarkeit
Es sind dabei die gesamten Kennzeichnungstatbestände der hier vorgeschlagenen Kennzeichnungsregelung561 am GATT zu überprüfen. Hinsichtlich der bereits in den Anwendungsbereich des TBT-Übereinkommens fallenden Kennzeichnungsvorschriften gentechnisch veränderter Lebensmittel erklärt sich dies aus der parallelen Anwendbarkeit des GATT und des TBTÜbereinkommens.562 Dass das allgemeine Welthandelsrecht neben dem speziellen völkerrechtlichen TBT-Übereinkommen anwendbar bleibt, folgt aus dem Verhältnis, in dem die Regelwerke zueinander stehen. Dies ist durch Ausle-
559
Ebenso im Ergebnis Le//, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 303; Burchardi, Labelling of Genetically Modified Organisms, ZLR 2001, 83 ff. (100). 560 Eine mögliche Rechtfertigung der Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter Lebensmittel nach Art. 2.2. TBT-Übereinkommen überprüft Le//, der zwar auch von der Ungleichartigkeit gentechnisch veränderter Produkte und konventioneller Produkte ausgeht; er vermutet jedoch, dass der Appellate Body anders entscheiden könnte; Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 303 f. 561 Zu den Vorschlägen siehe oben in diesem Teil der Arbeit, 7. Kapitel. 562 Für eine parallele Anwendbarkeit des GATT und TBT-Übereinkommens streiten Herrmann, in: Weiß/Herrmann (Hrsg.), Welthandelsrecht, § 12 Rdnr. 587; Tietje, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, B.I.5. Rdnr. 43; Stoll/Schorkopf, WTO, Rdnr. 294 ff.; Schick, Das Abkommen über technische Handelshemmnisse im Recht der WTO, S. 233 ff.; a.A. Stökl, WTO und Gentechnik, in: Nettesheim/Sander (Hrsg.), WTO-Recht und Globalisierung, 73 ff. (76).
186
4. Teil: Eigener Vorschlag
gung zu bestimmen, wobei die erläuternde Anmerkung zu Anhang 1 A des Marrakesch-Abkommens heranzuziehen ist, die als Auslegungsregel das Rangverhältnis zwischen verschiedenen multilateralen Übereinkommen betreffend den Warenhandel und dem GATT 1994 bestimmt. Diese sieht vor, dass beim „ Vorliegen eines Widerspruchs zwischen Bestimmungen des GATT 1994 und Bestimmungen einer anderen Übereinkunft in Anhang 1 A des Abkommens zur Errichtung der WTO, die Bestimmungen der anderen Übereinkunft maßgeblich sind. " Zwischen dem TBT-Übereinkommen und dem GATT
wird kein solcher Widerspruch gesehen, so dass die Streitbeilegungsorgane der WTO in den bislang das TBT-Übereinkommen betreffenden Verfahren das TBT-Übereinkommen als neben dem GATT parallel anwendbar angesehen haben.563 Hinzu kommt, dass das TBT-Übereinkommen teilweise auch hinter dem GATT zurückbleibt, so dass in diesen Fällen trotz der Anwendbarkeit des TBT-Übereinkommens das GATT anwendbar bleiben muss.564 Dem entspricht auch der Wortlaut des TBT-Übereinkommens, wonach die Vereinbarkeit einer technischen Vorschrift mit dem TBT-Übereinkommen gemäß Art. 2.5 nur die „widerlegbare Vermutung" begründet, dass die technische Vorschrift „kein unnötiges Hemmnis für den internationalen Handel schafft". Die Kennzeichnungspflichten „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel, die nicht in den Anwendungsbereich des TBT-Übereinkommens fallen, sind als Vorschriften, die den freien Warenhandel beeinträchtigen können, am GATT zu überprüfen.
b)
Nichtdiskriminierungsgebot
Die Kennzeichnungspflichten gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel dürften nicht gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung im Sinne von Art. 111:4 GATT verstoßen. Gemäß Art. 111:4 GATT dürfen „ Waren, die aus dem Gebiet einer Vertragspartei in das Gebiet einer anderen Vertragspartei eingeführt werden, [dürfen] hinsichtlich aller Gesetze, Verordnungen und sonstigen Vorschriften über den Verkauf, das Angebot, den Einkauf, die Beförderung, Verteilung oder Verwendung im Inland keine weniger günstige Behandlung erfahren als gleichartige Waren inländischen Ursprungs. "
Als Voraussetzung eines Verstoßes der Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel gegen das 563
Vgl. Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 80. 564 Vgl. Schick , Das Abkommen über technische Handelshemmnisse im Recht der WTO, S. 235.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
187
Gebot der Inländergleichbehandlung müssten gentechnisch veränderte Lebensmittel, die der Kennzeichnungspflicht unterfallen sollen, und konventionelle, nicht kennzeichnungspflichtige Lebensmittel als gleichartig zu beurteilen sein. Die Gleichartigkeit gentechnisch veränderter Lebensmittel, die Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthalten, und konventionell hergestellter Lebensmittel wurde bereits bei der Überprüfung der Kennzeichnungspflichten am TBT-Übereinkommen abgelehnt.565 „Aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel könnten hingegen im Verhältnis zu konventionellen Lebensmitteln als gleichartig zu beurteilen sein. Denn gentechnisch veränderte Lebensmittel dieser Art enthalten keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr und entsprechen somit bezogen auf die Inhaltsstoffe entsprechenden konventionell hergestellten Lebensmitteln. Für eine so begründete Gleichartigkeit „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel und konventionell hergestellter Lebensmittel spricht die mehrheitlich in der Literatur vertretene Auffassung, dass die Beurteilung der Gleichartigkeit von Produkten im Sinne von Art. 111:4 GATT nicht durch die Anwendung bestimmter Verfahren bei der Produktherstellung (process and production methods (PPMs)) beeinflusst wird. 566 Diese Auffassung wird auf Panel-Berichte gestützt, wonach Regelungen, die sich auf Herstellungsverfahren von Produkten beziehen, nicht als Rechtsvorschriften im Sinne von Art. 111:4 GATT zu qualifizieren sind, weil solche Produktionsstandards nicht - wie von Art. III GATT gefordert - das eingeführte Produkt selbst betreffen. 567 In diesem Sinne sprechen sich beispielsweise Kanada, Australien und die Schweiz in ihren Stellungnahmen zu den Verordnungen der Europäischen Gemeinschaft betreffend gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel gegen eine über das Herstellungsverfahren begründete Ungleichartigkeit „aus" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel und somit für einen Verstoß der Kennzeichnungs-
565
Dazu soeben l . b ) bb). Berrisch , in: Prieß/Berrisch, WTO-Handbuch, B.I.l. Rdnr. 44; Hilf, Freiheit des Welthandels contra Umweltschutz?, N V w Z 2000, 481 ff. (485); Epiney, Welthandel und Umwelt, DVB1. 2000, 77 ff. (81); Fuchs/Herrmann, Regulierung genetisch veränderter Lebensmittel, ZLR 2001, 789 ff. (806). 567 Panel, United States - Restrictions on imports of Tuna (Tuna I), DS21/R 39S/155 vom 3.9.1991, Ziff. 5.8 ff. (nicht angenommen)·, Panel, United States - Restrictions on imports of Tuna (Tuna Π), DS29/R vom 16.6.1994, Ziff. 5.8 f. (nicht angenommen). Kritisch zu dieser Rechtsprechung Howse/Regan, The Product/Process Distinction, EJ1L 2000, 249 ff. (253 ff.). Der Appellate Body hat diese Rechtsprechung der Panel Berichte nie bestätigt. 566
188
4. Teil: Eigener Vorschlag
pflicht dieser Lebensmittel gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung aus.568 Eine solche Bestimmung der Gleichartigkeit von Produkten im Sinne von Art. III:4 GATT, die nicht berücksichtigt, auf welche Art und Weise das Produkt hergestellt wurde, ist aber keineswegs zwingend. Im Folgenden soll im Rahmen einer Auslegung des Begriffs der Gleichartigkeit im Sinne von Art. 111:4 GATT ermittelt werden, ob Art. 111:4 GATT tatsächlich so zu verstehen ist, dass die Anwendung von Herstellungsverfahren die Ungleichartigkeit von Produkten nicht begründen können soll und somit eine daran anknüpfende Vorschrift grundsätzlich gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung verstößt. Die Auslegung erfolgt nach den Auslegungsgrundsätzen der Art. 31-33 Wiener Vertragsrechtskonvention, die gemäß Art. 3:2 DSU auf Vorschriften des GATT anwendbar sind. Nach Art. 31 Wiener Vertragsrechtskonvention hat eine Auslegung des Wortlauts, eine systematische Auslegung und eine Auslegung nach Ziel und Zweck, d.h. eine teleologische Auslegung, zu erfolgen. Der Begriff der Gleichartigkeit lässt dem Wortlaut nach nicht vermuten, dass bei einer Bestimmung der Gleichartigkeit von Produkten allein die produktbezogenen Eigenschaften zu berücksichtigen sind.569 Auch der im Sinne einer systematischen Auslegung gezogene Rückschluss vom Regelungsinhalt des Art. III:4 GATT, wonach Waren nicht ungleich behandelt werden dürfen, auf eine ausschließlich waren- bzw. produktbezogene Definition der Gleichartigkeit im Sinne von Art. 111:4 GATT, so dass jede herstellungsbezogene Differenzierung von Waren von vornherein diskriminierend wäre, erscheint nicht zwingend.570 Denn eine solche Betrachtung würde vernachlässigen, dass Regelungsinhalt des Art. 111:4 GATT ein Verbot jeglicher Ungleichbehandlung von Waren enthält, also auch ein Verbot der Ungleichbehandlung, die bei herstellungsbezogenen Merkmalen einer Ware ansetzt. Im Sinne des vom Panel gezogenen Rückschlusses vom Regelungsinhalt des Art. III:4 GATT auf die Definition der Gleichartigkeit müssen somit in die Bestimmung der Gleichar-
568 Die Einwände der Staaten Kanada, Australien und der Schweiz gegen die gemeinschaftsrechtliche „Verordnung über gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel" sind aufgeführt in: Response from the European Commission to comments submitted by WTO Members under either or both G/TBT/N/EEC/6 and G/SPS/N/EEC/ 149, WTO-Dok-Nr. G/SPS/GEN/337 und G/TBT/W/179 vom 26.07.2002, S. 19. 569 So auch Howse/Regan , The Product/Process Distinction, EJIL 2000, 249 ft. (261 f.). 570 So aber Panel, United States - Restrictions on imports of Tuna (Tuna I) DS21/R - 39S/155 vom 3.9.1991, Ziff. 5.11 (nicht angenommen). Kritisch dazu auch Grämlich, GATT und Umweltschutz, ArchVölkR 33 (1995), 131 ff. (146) m.w.N.; Howse/Regan, The Product/Process Distinction, EJIL 2000, 249 ff. (254 ff.).
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
189
tigkeit einer Ware auch herstellungsbezogene Eigenschaften einer Ware einbezogen werden.571 Näher eingegangen werden soll im Folgenden auf eine Auslegung des Begriffs der Gleichartigkeit nach Sinn und Zweck des Gebots der Inländergleichbehandlung, protektionistische Maßnahmen der WTO-Mitgliedstaaten zu verhindern.572 Eine Auslegung des Begriffs der Gleichartigkeit nach Sinn und Zweck wurde zu Beginn der neunziger Jahre von den GATT-Panels verfolgt. Diese Rechtsprechung ist unter der Bezeichnung „ aim and effects-Test " bekannt geworden. Die GATT-Panels stellten bei der Prüfung der Gleichartigkeit stark auf den Sinn und Zweck des Grundsatzes der Inländergleichbehandlung, protektionistische Maßnahmen zu verhindern, ab.573 Dass Art. III GATT nur protektionistische Maßnahmen verbieten, sonstiges staatliches Verhalten jedoch nicht ausschließen wolle, sei in den Begriff der gleichartigen 574 Ware hinein zu lesen. Die Bestimmung der Gleichartigkeit unterschiedlich behandelter Produkte habe sich dementsprechend daran zu orientieren, ob die unterschiedliche Behandlung der Produkte der Protektion der inländischen Produktion dient.575 In der Literatur wird davon ausgegangen, dass die Streitschlichtungsorgane von diesem Ansatz wieder Abschied genommen haben und zu einer wieder mehr warenbezogenen Beurteilung der Gleichwertigkeit anhand des Kriterienkatalogs der Working Party on Border Tax Adjustments zurückgekehrt sind.576 Dem steht entgegen, dass der Appellate Body in seiner Rechtsprechung zur Gleichartigkeit im Sinne von Art. 111:4 GATT sehr wohl auf den Sinn und Zweck der Inländergleichbehandlung abstellt.577 In seiner Rechtsprechung findet sich die Aussage, dass Art. 111:4 GATT im Lichte des allgemeinen Prinzips der Inländergleichbehandlung gemäß Art. 111:1
571
Vgl. Howse/Regan, The Product/Process Distinction, EJIL 2000, 249 ff. (254). Zur teleologischen Auslegung des Begriffs der Gleichartigkeit i.S.v. Art. ΙΠ:4 GATT unter Bezugnahme der Rechtsprechung der Streitschlichtungsorgane siehe auch Howse/Regan, The Product/Process Distinction, EJIL 2000, 249 ff. (262 ff.). 573 Panel, United States - Alcoholic and Malt Beverages, DS23/R - 39S/206 vom 19.6.1992, Rdnr. 5.25; Panel, United States - Taxes on Automobiles, DS31/R vom 11.10.1994 (nicht angenommen), Rdnr. 5.7-5.10. 574 Panel, United States - Alcoholic and Malt Beverages, DS23/R - 39S/206 vom 19.6.1992, Rdnr. 5.25. 575 Panel, United States - Alcoholic and Malt Beverages, DS23/R - 39S/206 vom 19.6.1992, Rdnr. 5.25; Panel, United States - Taxes on Automobiles, DS31/R vom 11.10.1994 (nicht angenommen), Rdnr. 5.7, 5.9. 57 6 Lell, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 170; Berrisch, in: Prieß/Berrisch (Hrsg.), WTO-Handbuch, B.LI. Rdnr. 42. 577 So beispielsweise Report of the Appellate Body, European Communities Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 88 ff. 572
190
4. Teil: Eigener Vorschlag
GATT interpretiert werden muss und dementsprechend auch die Bestimmung der Gleichartigkeit im Einzelfall: „... although this „general principle" is not explicitly invoked in Art. ΙΠ:4, nevertheless, it "informs" that provision. Therefore, the term "like product" in Article ΠΙ:4 must be interpreted to give proper scope and meaning to this principle. In short, there must be consonance between the objective pursued by Art. ΙΠ, as enunciated in the "general principle" articulated in Art. EQ: 1, and the interpretation of the specific expression of this principle in the text of Art. ΠΙ:4. This interpretation must, therefore, reflect that, in endeavouring to ensure "equality of competitive conditions", the "general principle" in Art. EH seeks to prevent Members from applying internal taxes and regulations in a manner which affects the competitive relationship, in the marketplace, between the domestic and imported products involved, "so as to afford protection to domestic production." 578
Die Bestimmung der Gleichartigkeit von Produkten nach Art. 111:4 ist in diesem Sinne eine Bestimmung, in welcher Art und Weise und in welchem Umfang die zu vergleichenden Produktgruppen miteinander im Wettbewerb stehen.579 Produkte, die nicht miteinander im Wettbewerb stehen, könnten auch nicht im Sinne eines Verstoßes gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung ungleich behandelt werden.580 Zwar greift auch der Appellate Body bei der konkreten Beurteilung, ob eine Maßnahme gleichartige Produkte betrifft, auf den Kriterienkatalog der Working Party on Border Tax Adjustments zurück. Aber auch bei der Anwendung der Kriterien betont der Appellate Body, dass die Beurteilung der Gleichartigkeit nach Art. 111:4 GATT in erster Linie im Hinblick auf ein zwischen den Produkten bestehendes Wettbewerbsverhältnis erfolgen muss.581 Der Appellate Body zieht dementsprechend bei der Überprüfung der Kriterien jeweils einen Rückschluss auf das Wettbewerbsverhältnis der Produkte.582 So bewertet er beispielsweise im Fall European Communities - Measures
affecting
asbestos and asbestos-containing
products
die
Kriterien „Endzweck des Produktes" und „Verbrauchergewohnheiten" als wesentliche Kriterien zur Beurteilung der Gleichartigkeit nach Art. III .4 GATT, da diese Merkmale eines Produktes wesentlich die Wettbewerbsstellung des
578
Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 93, 98. 579 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 99, 103. 580 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 117. 581 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 103. 582 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 115.
8. Kap.: Rechtliche Hindernisse
191
Produktes mitbestimmen.583 Speziell zur Bedeutung der Verbrauchervorlieben und -gewohnheiten für die Beurteilung der Gleichartigkeit von Produkten führt der Appellate Body weiter aus, dass das Ausmaß, zu dem Verbraucher gewillt sind, ein Produkt gegen ein anderes auszutauschen, ein relevanter Faktor zur Bestimmung der Gleichartigkeit dieser Produkte im Sinne von Art. 111:4 GATT ist.584 Eine solche Bestimmung der Gleichartigkeit, unter Berücksichtigung aller das Wettbewerbsverhältnis von Produkten beeinflussenden Faktoren, fordert auch die Europäische Kommission in ihrer Erwiderung auf die Stellungnahmen Kanadas, Australiens und der Schweiz zu den Verordnungen über genetisch veränderte Lebens- und Futtermittel.585 Dabei sei zur Bestimmung der relevanten und zu berücksichtigenden Faktoren unter anderem auf empirische Studien über Präferenzen der Verbraucher abzustellen.586 Spezifische Kennzeichnungsvorschriften könnten dementsprechend gerechtfertigt sein, wenn empirisch nachweisbar ist, dass die Anwendung spezieller Prozesse oder Produktionsmethoden für die Produktwahl der Verbraucher maßgeblich ist.587 Im Ergebnis gilt also - in Übereinstimmung unter anderem mit der Rechtsprechung des Appellate Body und der Stellungnahme der Europäischen Kommission - , dass die Bestimmung der Gleichartigkeit von Produkten im Sinne von Art. III:4 GATT nicht allein unter Berücksichtigung produktbezogener Merkmale erfolgt. Im Gegenteil muss eine Bestimmung der Gleichartigkeit von Produkten jeweils im Hinblick auf den Sinn und Zweck des Gebots der Inländergleichbehandlung, protektionistische Maßnahmen bezüglich miteinander im Wettbewerb stehender Produkte zu verhindern, erfolgen. Auch prozessbezogene Merkmale der Produkte können sich demnach auf die Beurteilung der Gleichartigkeit auswirken, wenn sie das Wettbewerbsverhältnis der
583 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 117. 584 Report of the Appellate Body, European Communities - Measures affecting asbestos and asbestos-containing products, WT/DS 135/AB/R vom 12.3.2001, Rdnr. 117. 585 Europäische Kommission , Response from the European Commission to comments submitted by WTO Members under either or both G/TBT/N/EEC/6 and G/SPS/N/EEC/149, WTO-Dok-Nr. G/SPS/GEN/337 und G/TBT/W/179 vom 26.07.2002. 586 Europäische Kommission , Response from the European Commission to comments submitted by WTO Members under either or both G/TBT/N/EEC/6 and G/SPS/N/EEC/149, WTO-Dok-Nr. G/SPS/GEN/337 und G/TBT/W/179 vom 26.07.2002, S. 19. 587 Europäische Kommission , Response from the European Commission to comments submitted by WTO Members under either or both G/TBT/N/EEC/6 and G/SPS/N/EEC/149, WTO-Dok-Nr. G/SPS/GEN/337 und G/TBT/W/179 vom 26.07.2002, S. 19.
192
4. Teil: Eigener Vorschlag
Produkte beeinflussen. 588 Dies wäre zum Beispiel der Fall, wenn der Verbraucher Waren einer Produktkategorie nach ihren Herstellungsmethoden unterscheidet und wenn damit letztlich die Herstellungsmethoden die Nachfrage lenken.589 „Aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel, die sich nicht hinsichtlich der Produkteigenschaften, sondern nur hinsichtlich des angewendeten Herstellungsverfahrens von konventionellen Produkten unterscheiden, die aber von Verbrauchern zu großen Teilen abgelehnt werden und deshalb mit konventionellen Produkten nicht unmittelbar im Wettbewerb stehen, sind nicht gleichartig im Sinne von Art. III:4 GATT.590 Die Kennzeichnungspflicht „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel begründet somit keinen Verstoß gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung im Sinne von Art. 111:4 GATT. Sollte die Gleichartigkeit „aus" und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellter Lebensmittel im Verhältnis zu konventionell hergestellten Lebensmitteln hingegen im Hinblick auf die Ansicht, dass process and production methods (PPMs) keine Ungleichartigkeit von Produkten begründen können, bejaht werden, erscheint eine Rechtfertigung der Kennzeichnungspflicht als dann begründeter Verstoß gegen das Gebot der Inländergleichbehandlung nach der allgemeinen Ausnahmevorschrift Art. XX GATT möglich. Der Katalog der Ausnahmegründe des Art. XX GATT erlaubt nach lit. d Maßnahmen, die der Verhinderung irreführender Praktiken dienen. Dieser Rechtfertigungsgrund kann auch zur Rechtfertigung von positiven Informationspflichten wie Kennzeichnungsregelungen herangezogen werden.591 Eine Pflicht zur Kennzeichnung auch solcher Produkte, bei deren Herstellung gentechnisch veränderte Organismen eingesetzt wurden, die aber als Endprodukt keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen mehr enthalten, beugt der Irreführung der Verbraucher vor, denen ohne eine Kennzeichnung der Einsatz gentechnisch veränderter Organismen bei der Produktherstellung verborgen bliebe.
588 So im Ergebnis auch Howse/Regan , The Product/Process Distinction, EJIL 2000, 249 ff. (268); Grämlich , GATT und Umweltschutz, ArchVölkR 33 (1995), 131 IT. (146). 589 Vgl. Hilf, Freiheit des Welthandels contra Umweltschutz?, NVwZ 2000, 481 lf. (485). 590 So auch Europäische Kommission, Response from the European Commission to comments submitted by WTO Members under either or both G/TBT/N/EEC/6 and G/SPS/N/EEC/149, WTO-Dok-Nr. G/SPS/GEN/337 und G/TBT/W/179 vom 26.07.2002, S. 20; Stökl, WTO und Gentechnik, in: Nettesheim/Sander, WTO-Recht und Globalisierung, S. 73 ff. (98). 591 Le II, Umweltbezogene Produktkennzeichnungen im deutschen, europäischen und internationalen Recht, S. 182.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags Neuntes
193
Kapitel
N o t w e n d i g e Regelungen z u r E r g ä n z u n g des Vorschlags einer „umfassenden" Pflicht z u r Kennzeichnung gentechnisch v e r ä n d e r t e r u n d gentechnisch hergestellter Lebensmittel
Die hier vorgeschlagene „umfassende" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel fuhrt - wie gesehen - unter anderem dazu, dass auch kleinste Anteile gentechnisch veränderter Organismen in Produkten gekennzeichnet werden müssen. Danach wären auch Landwirte und Lebensmittelunternehmer, die keine gentechnisch veränderten Organismen einsetzen, dazu gezwungen, ihre Produkte auf zufallig oder technisch nicht vermeidbare Anteile gentechnisch veränderter Organismen hin zu untersuchen und beim Auffinden solcher Verunreinigungen ihre Produkte zu kennzeichnen. Um das Entstehen einer solchen Kennzeichnungspflicht zu verhindern, wird den Nichtanwendern gentechnisch veränderter Organismen daran gelegen sein, gentechnische Verunreinigungen ihrer Produkte durch Vorsorgemaßnahmen weitestgehend zu vermeiden. Von all diesen Unannehmlichkeiten (Produktuntersuchung, ggf. Kennzeichnung, Vorsorgemaßnahmen) als Folge einer Kennzeichnungspflicht auch geringster Anteile gentechnisch veränderter Organismen in Lebensmitteln werden insbesondere landwirtschaftliche Betriebe betroffen sein. Denn die Verunreinigungen finden häufig schon auf der Ebene der Primärproduktion statt - zum Beispiel infolge einer Verwendung gentechnisch verunreinigten Saatguts oder über Auskreuzungen beim Anbau oder durch verunreinigte Ernte- und Transportmaschinen - , so dass insbesondere der Landwirt Vorsorgemaßnahmen ergreifen, seine Produkte auf Verunreinigungen hin überprüfen und diese gegebenenfalls als gentechnisch verändert kennzeichnen muss.592 Sowohl eine Untersuchung der Produkte auf gentechnische Verunreinigungen hin als auch das Ergreifen von Vorsorgemaßnahmen ist mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden.593 Und als Folge einer Kennzeichnung gentechnisch verunreinigter Produkte werden im Hinblick darauf, dass eine solche Kennzeichnung als ein den Marktwert mindernder Nachteil eines Produktes betrachtet wird, finanzielle Verluste des Produktproduzenten erwartet.594
592 Lebensmittelhersteller können die Primärprodukte mithin schon zu geringeren Preisen erwerben, so dass sich der geringere Verkaufswert des gentechnisch verunreinigten Produktes bei ihnen nicht groß auswirken wird. 593 Näher dazu gleich unter A. 594 Näher dazu gleich unter A.
194
4. Teil: Eigener Vorschlag
Diese finanziellen Konsequenzen einer Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter bzw. verunreinigter Produkte sollten grundsätzlich nicht denjenigen aufgebürdet werden, die auf den Einsatz gentechnisch veränderter Organismen gezielt verzichten. Vielmehr bedarf es einer Regelung dieser Folgeprobleme einer Kennzeichnungspflicht, die auch gentechnische Verunreinigungen kennzeichnungspflichtig macht. Im Einzelnen müsste die hier vorgeschlagene Kennzeichnungsregelung deshalb ergänzt werden durch: (1.) eine Regelung der Koexistenz zur Vermeidung von gentechnischen Verunreinigungen, (2.) Haftungsregelungen und gegebenenfalls (3.) eine Regelung des Kostenträgers der notwendigen Überprüfung von Produkten auf das Vorhandensein gentechnisch veränderter Organismen hin. Ob solche Regelungen bereits bestehen oder noch geschaffen werden müssen, soll nach einer Darstellung der infolge einer gentechnischen Verunreinigung bzw. zur Vermeidung einer gentechnischen Verunreinigung von Produkten zu erwartenden finanziellen Verluste und Kosten geprüft werden.
A. I m Zusammenhang mit der gentechnischen Verunreinigung von Produkten entstehende Kosten und finanzielle Verluste
Eine vom Joint Research Centre (JRC) für die Europäische Kommission erstellte Studie595, die im Mai 2002 veröffentlicht wurde, ergab, dass landwirtschaftliche Betriebe infolge einer Kennzeichnungspflicht auch gentechnischer Verunreinigungen finanzielle Verluste zu erwarten haben und mit höheren Kosten belastet werden. Die Studie fasst sechs Einzelstudien zusammen, die allesamt das Problem der gentechnischen Verunreinigung von Produkten bzw. mögliche Strategien zur Vermeidung gentechnischer Verunreinigungen behandeln. Im Bericht des JRC werden für die landwirtschaftlichen Produkte Raps, Mais und Kartoffeln die zu erwartenden finanziellen Verluste im Falle einer gentechnischen Verunreinigung der Produkte und die Kosten, die infolge erforderlicher Maßnahmen und Überprüfungen der Produkte auf Verunreinigungen hin entstehen werden, beispielhaft errechnet. Dabei wird zum einen von einer Anbausituation ausgegangen, in der - wie in einigen außereuropäischen Staaten - bereits 50% der angebauten Pflanzen gentechnisch verändert sind, und andererseits von einer Anbausituation, in der - in Anlehnung an die europäische Anbausituation - 10% der angebauten Pflanzen gentechnisch verändert sind. Der Bericht des JRC unterscheidet bei der Berechnung der finanziellen Auswirkungen durchgängig zwischen Kosten, die konventionellen 595
Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
195
landwirtschaftlichen Betrieben entstehen, und Kosten, die ökologische landwirtschaftliche Betriebe zu erwarten haben. Das JRC geht bei seiner Berechnung - entsprechend den zur Zeit der Berichterstellung auf europäischer Ebene diskutierten Schwellenwerten - von einer Kennzeichnungspflicht ab 1% Anteile gentechnisch veränderter Organismen in Pflanzen und Lebensmitteln aus und von einem Kennzeichnungsschwellenwert von 0,3% fur Saatgut.596 Der Berechnung der Wertverluste gentechnisch verunreinigter Pflanzen durch das JRC liegt in Anlehnung an in den USA gemachte Erfahrungen die Annahme zugrunde, dass für gentechnisch verunreinigte und kennzeichnungspflichtige Produkte ein um 10% geringerer Preis als für nicht kennzeichnungspflichtige Produkte zu erlangen ist.597 In dem Bericht des JRC wird so zum Beispiel für den konventionellen
Rapsanbau
zur Ölproduktion
ein
Verlust von durchschnittlich 60 €/ha, d.h. ein Gewinnverlust von 8% errechnet und für den konventionellen Rapsanbau zur Saatgutproduktion ein Verlust von 671,6 €/ha, d.h. ein Gewinnverlust von 54,5%.598 Beim konventionellen Maisanbau ist mit einem Verlust von durchschnittlich 104 €/ha, d.h. einem Gewinnverlust von ca. 10% zu rechnen und beim Kartoffelanbau mit einem Verlust von durchschnittlich 960 €/ha, d.h. einem Gewinnverlust von ca. 40%.599 Im Vergleich dazu haben ökologisch wirtschaftende Landwirtschaftsbetriebe beim ökologischen Rapsanbau zur Ölproduktion mit einem Verlust von 217 €/ha, d.h. einem Gewinnverlust von 25,8% zu rechnen und beim ökologischen Rapsanbau zur Saatgutproduktion mit einem Verlust von 1290,5 €/ha, d.h. einem Gewinnverlust von 131,5%, womit die Landwirte sogar ein Verlustgeschäft machen würden.600 Beim ökologischen Maisanbau ist mit einem Verlust von 1221,6 €/ha, d.h. einem Gewinnverlust von 70,7% zu rechnen. Und beim ökologischen Kartoffelanbau wird mit einem Verlust von durchschnittlich 8964 €/ha, d.h. einem Gewinnverlust von ca. 140% gerechnet, so dass die ökologisch wirtschaftenden Landwirte auch beim Kartoffelanbau ein Verlustgeschäft machen würden.601 Im Ergebnis haben landwirtschaft596 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically ventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 2. 597 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically ventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 101. 598 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically ventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 102. 599 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically ventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 102. 000 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically ventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 104. 601 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically ventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 104.
modified, conmodified, conmodified, conmodified, conmodified, conmodified, con-
196
4. Teil: Eigener Vorschlag
liehe Betriebe damit im Falle gentechnischer Verunreinigungen ihrer Produkte erhebliche finanzielle Verluste zu erwarten, wobei die Verluste der ökologisch wirtschaftenden Landwirtschaftsbetriebe, die in Einzelfällen sogar Verlustgeschäfte machen würden, erheblich höher wären als diejenigen der konventionellen Landwirtschaft. 602 Bei dieser Darstellung der den landwirtschaftlichen Betrieben durch gentechnisch verunreinigte Produkte entstehenden finanziellen Verluste ist allerdings noch nicht berücksichtigt, dass die landwirtschaftlichen Betriebe die ihnen drohenden Verluste möglicherweise reduzieren können; und zwar durch den Abschluss von Versicherungen für den Fall der gentechnischen Verunreinigung ihrer Produkte. Der finanzielle Aufwand bestünde dann nur noch in Höhe der Versicherungssumme. In diesem Sinne rechnet auch der Bericht des JRC die voraussichtlich zu erwartenden Kosten landwirtschaftlicher Betriebe infolge gentechnisch verunreinigter Produkte in erheblichem Maße niedrig und kommt so sogar zu dem Ergebnis, dass sich die Verluste im Vergleich zu den Preisschwankungen, die bereits bei nicht gentechnisch verunreinigten Produkten herrschen, auf einem sehr niedrigen Level bewegen.603 Damit wird aber nicht ausreichend berücksichtigt, dass es für die Landwirte sehr schwer werden könnte, sich ausreichend zu versichern. Denn - so auch der Bericht des JRC - das Risiko einer gentechnischen Verunreinigung von Produkten und damit auch die zu erwartenden finanziellen Verluste sind sehr schwer einzuschätzen.604 Die Versicherungsindustrie wird deshalb wohl erst einmal sehr zurückhaltend in diesem Bereich agieren. Vor diesem Hintergrund ist es problematisch, dass der Bericht des JRC nur die Versicherungskosten und nicht die „Wertverluste ohne Versicherung" in die Berechnung der „totalen Kosten" einfließen lässt.605 Neben diesen Wertverlusten, die die Landwirte infolge einer gentechnischen Verunreinigung ihrer Produkte zu befürchten haben, haben die Landwirte weitere Kosten im Zusammenhang mit erforderlichen Maßnahmen zur Verhinderung gentechnischer Verunreinigungen und im Zusammenhang mit erforderlichen Kontrollmaßnahmen und Produktüberprüfungen zu erwarten. Das JRC kommt bei der Berechnung dieser weiteren Kosten zu folgenden Ergebnissen:
602
Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 103. 603 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 107. 604 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 107. 605 Siehe Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 113 ff.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
197
Die Kosten für besondere Maßnahmen zur Verhinderung gentechnischer Verunreinigungen wären zum Beispiel beim Rapsanbau zur Saatgutproduktion für konventionelle landwirtschaftliche Betriebe gleich null, und für ökologische Landwirtschaftsbetriebe, die nach internen Richtlinien an einen niedrigeren Schwellenwert gebunden sind, sind Kosten in Höhe von 194 €/ha zu erwarten.606 Beim Maisanbau betragen die Kosten für konventionelle Landwirtschaftsbetriebe 45,4 €/ha. Ökologisch wirtschaftende Betriebe haben keine Kosten zu erwarten, da bereits die derzeit von diesen Betrieben angewendeten Maßnahmen ausreichend sind, Verunreinigungen oberhalb der vom JRC zugrunde gelegten Schwellenwerte einer Kennzeichnungspflicht zu verhindern.607 Die Kosten einer Kontrolle der Produkte entlang der Produktionskette und die Kosten einer Überprüfung der Produkte auf gentechnische Verunreinigungen hin betragen beim Rapsanbau zur Saatgutproduktion für konventionelle landwirtschaftliche Betriebe 106 €/ha und für ökologisch wirtschaftende Landwirtschaftsbetriebe 112 €/ha.608 Beim Maisanbau entstehen den konventionellen Landwirtschaftsbetrieben Kosten der Überprüfung in Höhe von 46,2 €/ha und den ökologisch wirtschaftenden Landwirtschaftsbetrieben Kosten in Höhe von 90,8 €/ha.609 Die Unterschiede bei den einerseits den konventionellen und andererseits den ökologischen Landwirtschaftsbetrieben entstehenden Kosten erklären sich daraus, dass die Kosten der Einrichtung und Betreibung von Kontrollmaßnahmen bei beiden gleich hoch sein werden. Die grundsätzlich kleineren ökologischen Landwirtschaftsbetriebe haben deshalb verhältnismäßig höhere Kosten zu erwarten. 610 Die vom JRC errechneten und hier beispielhaft dargestellten Kosten, die landwirtschaftliche Betriebe infolge einer gentechnischen Verunreinigung ihrer Produkte zu erwarten haben, können allerdings nicht im Einzelnen auf die hier vorgeschlagene Kennzeichnungsregelung übertragen werden. Bei der hier vorgeschlagenen Kennzeichnungspflicht jeglicher (nachweisbarer) Anteile gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel werden die Kosten nämlich wohl eher noch höher liegen. Denn es würden beispielsweise weitere
600
Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 113. 007 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 116. 608 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 113. 609 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 116. 610 Vgl. Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 111.
198
4. Teil: Eigener Vorschlag
Maßnahmen zur Verhinderung von Verunreinigungen notwendig und die Produkte müssten umfassender auf Verunreinigungen hin überprüft werden.611
B. Regelung zur Gewährleistung einer Koexistenz verschiedener Landwirtschaftsformen
Bei einer - hier vorgeschlagenen - Kennzeichnungspflicht jeglicher nachweisbarer Anteile gentechnisch veränderter Organismen im Lebensmittel sind in besonderem Maße Vorsorgemaßnahmen zur Verhinderung gentechnischer Verunreinigungen erforderlich, um eine Realisierung der Kennzeichnungspflicht im Einzelfall zu vermeiden. Es sind also Regelungen zur Gewährleistung einer Koexistenz gentechnisch veränderter, konventioneller und ökologischer Kulturen erforderlich. Dabei sei hier nur darauf hingewiesen, dass es längst nicht als sicher gilt, dass eine wirkliche Koexistenz beim Anbau gentechnisch veränderter Pflanzen gewährleistet werden kann.612 Im Folgenden sollen die Fragen, inwieweit eine solche Regelung der Koexistenz auf gemeinschaftlicher oder auf nationaler Ebene getroffen werden sollte und wie eine solche auszugestalten ist, in ihren Grundzügen aufgegriffen werden. Bezug genommen wird dabei auf eine bereits ergangene Empfehlung der Europäischen Kommission, die Leitlinien für die Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen vorschlägt.613
/. Regelung auf der Ebene des gemeinschaftlichen
oder nationalen
Rechts
Die Frage, inwieweit eine Regelung der Maßnahmen zur Sicherung einer Koexistenz verschiedener Landwirtschaftsformen auf gemeinschaftlicher oder nationaler Ebene zu treffen ist, entscheidet sich in erster Linie danach, ob die
611 Das Joint Research Centre geht in seinem Bericht davon aus, dass die Kosten, die im Zusammenhang mit gentechnischen Verunreinigungen von Produkten anfallen, grundsätzlich umso höher werden, je niedriger der Schwellenwert angesetzt wird; Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 110. 612 In Kanada beispielsweise wird in einigen Gebieten des Landes, in denen gentechnisch veränderter Raps angebaut wird, kein Bio-Raps mehr angebaut, weil das Risiko der Verunreinigung zu groß ist. Vgl. Spiegel-Interview mit dem früheren britischen Umweltminister Michael Meacher, Spiegel Online vom 7. November 2003, im Internet unter: www.Spiegel.de/wissenschafl/mensch/o,l 518,272797,00.html 613 Europäische Kommission, Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 2003 zu Leitlinien für die Erarbeitung einzelstaatlicher Strategien und geeigneter Verfahren für die Koexistenz gentechnisch veränderter, konventioneller und ökologischer Kulturen.
9. Kap. : Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
199
Gemeinschaft oder die Mitgliedstaaten für eine solche Regelung nach dem EG-Vertrag eine Kompetenz besitzen. Die Regelung möglicher Maßnahmen zur Sicherung einer Koexistenz in der Landwirtschaft fällt in den Bereich der Agrarpolitik im Sinne von Art. 37 EGV,614 für den die Gemeinschaft eine konkurrierende Kompetenz besitzt. Im Falle einer konkurrierenden Kompetenz haben grundsätzlich die Gemeinschaft und die Mitgliedstaaten die Kompetenz zur Rechtssetzung; eine Kompetenz der Mitgliedstaaten ist allerdings ausgeschlossen, soweit die Gemeinschaft von ihrer Regelungskompetenz Gebrauch macht.615 Die Europäische Kommission hat Leitlinien zur Koexistenz in der Rechtsform einer Empfehlung erlassen. Der gemeinschaftliche Rechtsakt einer Empfehlung ist gemäß Art. 249 Abs. 5 EGV ein unverbindlicher Rechtsakt. Die Europäische Kommission begründet ihre Zurückhaltung, Vorsorgemaßnahmen zur Gewährleistung einer Koexistenz verbindlich zu regeln, damit, dass in den verschiedenen Mitgliedstaaten erhebliche natürliche und geographische Unterschiede bestehen, die es erforderlich machen, dass die Mitgliedstaaten selbst die für ihr Gebiet passenden Vorsorgemaßnahmen regeln.616 Aus diesem Grund hat sich die Kommission mit der Empfehlung für eine Regelung entschieden, die es den Mitgliedstaaten überlässt, erforderliche Betriebsführungsmaßnahmen zur Gewährleistung einer Koexistenz zu erarbeiten und umzusetzen.617 Die gemeinschaftliche Regelung der Leitlinien einer Koexistenz in Form einer unverbindlichen Empfehlung der Gemeinschaft ist zur Erreichung gemeinschaftlicher Ziele aber nicht ausreichend. Eine damit intendierte hauptsächlich nationale Regelung der Koexistenz beinhaltet nämlich die Gefahr, dass die länderspezifischen Regelungen der Mitgliedstaaten stark voneinander abweichen, so dass der innergemeinschaftliche Wettbewerb verfälscht würde.618 Angestrebt werden sollte deshalb eine vorrangig von der Gemeinschaft
614
So auch Fischler , Communication from Mr Fischler to the Commission, Coexistence of Genetically Modified, Conventional and Organic Crops, S. 9. 615 Geiger , EUV/EGV, Art. 10 EGV Rdnr. 12 m.w.N. 616 Europäische Kommission, Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 2003 zu Leitlinien für die Erarbeitung einzelstaatlicher Strategien und geeigneter Verfahren für die Koexistenz gentechnisch veränderter, konventioneller und ökologischer Kulturen, S. 8. 617 Europäische Kommission, Empfehlung der Kommission vom 23. Juli 2003 zu Leitlinien für die Erarbeitung einzelstaatlicher Strategien und geeigneter Verfahren für die Koexistenz gentechnisch veränderter, konventioneller und ökologischer Kulturen, S. 8. 618 So schon der EU-Agrarkommissar Fischler in seinem an die Europäische Kommission gerichteten Bericht „Co-existence of Genetically Modified, Conventional and
200
4. Teil: Eigener Vorschlag
zu treffende Regelung der Maßnahmen zur Sicherung einer Koexistenz in der Landwirtschaft, wie sie u.a. von EU-Agrarkommissar Fischler als mögliches Modell zur Regelung der Koexistenz vorgeschlagen wurde.619 Die gemeinschaftliche Regelung sollte dabei allerdings darauf beschränkt werden, Grundzüge der Maßnahmen zur Verhinderung von Verunreinigungen zu regeln; z. B. in Form einer Rahmenrichtlinie, die den Mitgliedstaaten die Auswahl der im Einzelfall erforderlichen Maßnahmen und deren Ausgestaltung im Detail überlässt. Die Subsidiarität im Sinne von Art. 5 Abs. 2 EGV ist bei einer solchen gemeinschaftlichen Regelung, die der Einheitlichkeit geschuldete Grundzüge einer landwirtschaftlichen Koexistenz regelt, gewahrt.
II
Grundzüge einer gemeinschaftlichen
Regelung der Koexistenz
Die Grundzüge einer Koexistenz sollten also gemeinschaftlich geregelt werden. Die Empfehlung der Kommission enthält für die Regelung von Grundzügen einer Koexistenz viele gute Ansätze, z. B. Vorschläge zur Transparenz und Einbeziehung von Interessengruppen bei der Regelung von Vorsorgemaßnahmen, eine Aufzählung von Faktoren, die bei der Erarbeitung nationaler Strategien zu berücksichtigen sind, und Vorschläge für mögliche Vorsorgemaßnahmen in Betrieben und Nachbarbetrieben.620 Von wesentlicher Bedeutung ist der Vorschlag der Kommission, dass Vorsorgemaßnahmen zur Eindämmung des Genflusses in der Einführungsphase einer neuen landwirtschaftlichen Erzeugungsform von demjenigen vorzunehmen und finanziell zu tragen sind, der diese neue Erzeugungsform anwendet.621 Im vorliegenden Fall wären dies die Landwirte, die gentechnisch veränderte Kulturen anbauen. Eine solche Verantwortlichkeit der Landwirte, die gentechnisch veränderte Kulturen anbauen, lässt sich auch aus dem Gemeinschaftsrecht begründen, und zwar über die umweltrechtlichen Grundprinzipien der Europäischen Union. Eine Verpflichtung der gentechnisch veränderte Organismen einsetzenden
Organic Crops", S. 8; so auch Künast, Unverbindliche Leitlinien zur Koexistenz zu wenig, Pressemitteilung Nr. 184 vom 24. Juli 2003. 619 Fischler , Communication from M r Fischler to the Commission, Co-existence of Genetically Modified, Conventional and Organic Crops, S. 7 tf. 620 Europäische Kommission, Empfehlung vom 23. Juli 2003. 621 Europäische Kommission, Empfehlung vom 23. Juli 2003, S. 10; siehe allerdings, dass sich eine solche Verantwortlichkeit des Anwenders einer neuen Erzeugungsform der Empfehlung der Kommission in deutscher Fassung infolge eines Übersetzungsfehlers nicht entnehmen lässt.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
201
Landwirte zur Tragung der Kosten, die infolge von Vermeidungsmaßnahmen entstehen, lässt sich auf das umweltrechtliche Verursacherprinzip des Gemeinschaftsrechts stützen. Das gemeinschaftsrechtliche Verursacherprinzip ist in Art. 174 Abs. 2 EGV verankert und wird als Kostenzurechnungsprinzip verstanden, das besagt, dass die finanziellen Kosten zur Vermeidung, Beseitigung oder Verminderung von bestehenden oder drohenden Umweltbelastungen von demjenigen zu tragen sind, der für ihre Entstehung verantwortlich ist.622 Die Maßnahmen zur Vermeidung gentechnischer Verunreinigungen lassen sich hingegen nicht auf das Verursacherprinzip stützen, da dieses - wie gesehen - als reines Kostenzurechnungsprinzip verstanden wird und keine darüber hinausgehende Verantwortlichkeit z. B. zur Vermeidung oder Verhinderung von Umweltbeeinträchtigungen begründen kann.623 Eine Verantwortlichkeit des Verursachers gentechnischer Verunreinigungen für Maßnahmen zur Vermeidung gentechnischer Verunreinigungen müsste sich aber auf die übrigen gemeinschaftlichen Umweltprinzipien, d.h. das Vorbeuge-, Vorsorge· und Ursprungsprinzip stützen lassen.624 Einer solchen Begründung der Verantwortlichkeit des Verursachers für Kosten und Maßnahmen zur Verhinderung gentechnischer Verunreinigungen über die Umweltprinzipien des Gemeinschaftsrechts könnte entgegenstehen, dass Sinn und Zweck der Maßnahmen zur Vermeidung gentechnischer Verunreinigungen nicht in erster Linie die Verhinderung damit eventuell verbundener Umweltbeeinträchtigungen ist, sondern im Vordergrund die Gewährleistung steht, dass verschiedene Landwirtschaftsformen nebeneinander existieren können. Allerdings geht es bei den Maßnahmen zur Verhinderung gentechnischer Verunreinigungen auch darum, Eingriffe in die Umwelt im Sinne einer gentechnischen Verunreinigung von Pflanzen, die dann einen erheblichen Wertverlust der verunreinigten Pflanzen bedeuten, zu vermeiden. Die Umweltprinzipien können somit zumindest analog herangezogen werden. Auch der durch die Kommission vorgeschlagenen Beschränkung der Verantwortlichkeit der Anwender neuer Erzeugungsformen auf die Phase der Einführung ist zuzustimmen. Denn es erscheint möglich, dass gentechnische Verunreinigungen mit wachsender Akzeptanz durch die Verbraucher in der Zukunft keinen Schaden mehr bedeuten und der Anbau konventioneller, ökologischer und gentechnisch veränderter Kulturen dementsprechend gleichzu-
622
Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 174 EGV Rdnr. 35
m.w.N. 623 So ausdrücklich zur Zielrichtung des gemeinschaftsrechtlichen Verusacherprinzips: Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, S. 103; s.a. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 26. 624 So allgemein für eine direkte Inanspruchnahme des Verursachers von Umweltbeeinträchtigungen Epiney, Umweltrecht in der Europäischen Union, S. 103.
202
4. Teil: Eigener Vorschlag
behandeln ist. Es ist demnach auch möglich, dass zukünftig auch konventionell oder ökologisch wirtschaftende Landwirte Vorsorgemaßnahmen treffen müssen.
C. Vorschlag für eine Haftungsregelung in Anbetracht der Wertverluste gentechnisch verunreinigter Produkte
Zum Ausgleich der finanziellen Verluste, die Landwirten infolge einer gentechnischen Verunreinigung ihrer Produkte entstehen,625 müssten die geschädigten Landwirte Schadensersatz- bzw. Ausgleichsansprüche besitzen. Solche Ansprüche könnten sich gegebenenfalls auf im nationalen oder gemeinschaftlichen Recht bereits bestehende Anspruchsgrundlagen stützen lassen. Soweit solche Anspruchsgrundlagen nicht bereits existieren, müssten sie neu geschaffen werden. Der EU-Agrarkommissar Fischler und die Europäische Kommission verweisen in diesem Zusammenhang auf die auf mitgliedstaatlicher Ebene bestehenden zivilrechtlichen Haftungsregelungen. Sie wollen die bestehenden Regelungen im Hinblick auf das Subsidiaritätserfordernis zunächst daraufhin überprüft wissen, ob diese nicht für den Fall der gentechnischen Verunreinigung von Produkten den Geschädigten bereits ausreichende und miteinander vergleichbare Ansprüche gewähren.626
I. Bestehende
Haftungsregelungen
Im Folgenden soll zunächst geprüft werden, inwieweit auf nationaler oder gemeinschaftlicher Ebene bereits Regelungen bestehen, auf die Schadensersatz· oder Ausgleichsansprüche der geschädigten Landwirte im Falle einer gentechnischen Verunreinigung ihrer Produkte gestützt werden könnten.
1. Ebene des nationalen Rechts a) Haftungsregelungen
auf nationaler
Ebene
Betreffend die auf nationaler Ebene bereits bestehenden Haftungsregelungen liegt die Vermutung nahe, dass diese in den meisten Fällen einer gentech625
Dazu soeben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, A. Fischler, Communication from Mr Fischler to the Commission, Co-existence of Genetically Modified, Conventional and Organic Crops, S. 6 f.; Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 5. März 2003 „Kommission befasst sich mit der Koexistenz gentechnisch veränderter Pflanzen", S. 2. 626
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
203
nischen Verunreinigung von Produkten keinen Schadensersatz- oder Ausgleichsanspruch des Geschädigten begründen. Denn der - nach dem traditionellen zivilen Deliktsrecht erforderliche und grundsätzlich dem Geschädigten obliegende - Beweis der Kausalität eines Ereignisses für einen Schaden ist im Falle einer gentechnischen Verunreinigung von Produkten häufig nicht zu führen. Dabei besteht zunächst das Problem, die tatsächliche Quelle einer Verunreinigung aufzufinden. Als Ursprungsquelle kommen nämlich sowohl an das verunreinigte Feld angrenzende als auch weit entfernt liegende Anbauflächen gentechnisch veränderter Organismen in Betracht. Ein besonderes Problem besteht dabei, wenn das genetische Konstrukt des gentechnisch veränderten Organismus, der die Verunreinigung begründet, mehreren gentechnisch veränderten Kulturen, die als Ursprungsquelle der Verunreinigung in Betracht kommen, zugrunde liegt. Der Beweis der Kausalität einer dieser Kulturen für die Verunreinigung ist in solchen Fällen kaum möglich. Außerdem kann die Verunreinigung sich bereits im Saatgut befunden haben oder im Zuge der Ernte oder des Transports erfolgt sein. Die Vermutung, dass auf nationaler Ebene bereits bestehende Haftungsregelungen für den Fall der gentechnischen Verunreinigung von Produkten in den meisten Fällen keinen Schadensersatzanspruch des Geschädigten begründen, findet sich bei einer beispielhaft daraufhin vorgenommenen Untersuchung des Deliktsrechts verschiedener Mitgliedstaaten bestätigt.
aa) Ansprüche nach deutschem Recht Die folgende Darstellung unterscheidet zwischen der vor der Novellierung des Gentechnikrechts durch das Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts627 und der nach der Novellierung bestehenden Rechtslage. Eine Darstellung der vor der Novellierung in Deutschland bestehenden Rechtslage ist erforderlich, um darzulegen, dass auch nach dem deutschen Recht ursprünglich kein effektives Rechtsschutzsystem für durch das Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Organismen geschädigte Landwirte bestand und vor diesem Hintergrund eine gemeinschaftsrechtliche Haftungsregelung erforderlich gewesen wäre. Die Darstellung der deutschen Rechtslage nach der Novellierung des Gentechnikrechts nimmt insbesondere die durch § 36 a GenTG n.F. geregelte Erleichterung des Geltendmachens von Ausgleichsansprüchen nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB in Betracht.
627 Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts vom 21. Dezember 2004, BGBl. 2005 Teil I, S. 186.
204
4. Teil: Eigener Vorschlag
(1) Rechtslage vor der Novellierung des Gentechnikrechts Bis zu der durch das Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts in § 36 a GenTG neu geregelten Erleichterung des Geltendmachens speziell von Ausgleichsansprüchen desjenigen, der durch das Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Organismen Schäden erlitten hat, konnten solche Ansprüche lediglich auf die in §§32 ff. GenTG enthaltene Haftungsregelung gestützt werden, die aber die soeben aufgezeigten Beweisschwierigkeiten für den Geschädigten beinhaltete. Der Geschädigte musste für einen Schadensersatzanspruch nach der gentechnikspezifischen Haftungsregelung in § 32 GenTG beweisen, dass der Schaden infolge von Eigenschaften eines gentechnisch veränderten Organismus, die auf gentechnischen Arbeiten beruhen, eingetreten ist. Zwar enthält § 34 GenTG eine Beweiserleichterung in Gestalt einer so genannten „Ursachenvermutung". Diese bedeutet aber keine wirkliche Beweiserleichterung. Denn die Vermutung, dass der Schaden durch Eigenschaften eines gentechnisch veränderten Organismus verursacht wurde, die auf gentechnischen Arbeiten beruhen, greift erst, wenn der Geschädigte bewiesen hat, dass der Schaden grundsätzlich durch den gentechnisch veränderten Organismus verursacht worden ist.628 Der eigentlich schwierige Beweis der Kausalität einer gentechnisch modifizierten Ursprungsquelle für den Schaden muss danach vom Geschädigten erbracht werden. Nach den gentechnikspezifischen Schadensersatzansprüchen des deutschen Gentechnikrechts hätte der Landwirt, dessen Produkte gentechnisch verunreinigt und damit kennzeichnungspflichtig sind, mithin wegen häufiger Beweisschwierigkeiten in diesen Fällen eher keinen Schadensersatzanspruch erfolgreich geltend machen können. Ansprüche des geschädigten Landwirts können sich auch aus dem deutschen zivilrechtlichen Deliktsrecht ergeben. Denkbar wäre ein auf § 823 BGB gestützter Schadensersatzanspruch oder ein auf § 906 Abs. 2 S. 2 BGB gestützter Ausgleichsanspruch629. Die für einen Anspruch aus § 823 Abs. 1 BGB erforderliche Verletzung eines Rechtsguts liegt mit der Wertminderung gentechnisch verunreinigter Pro-
628
Siehe Wollenteit, Vortrag „Sicherheit und Haftung" im Rahmen des Diskurs Grüne Gentechnik am 11./12. Juni 2002, S. 7, der geltend macht, dass die Regelung des § 34 GenTG wegen ihrer nur eingeschränkten Beweiserleichterung im Gentechnikgesetz fälschlicherweise als „Ursachenvermutung" bezeichnet ist. 629 Siehe, dass das Geltendmachen eines Ausgleichsanspruchs nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB durch § 36 a GenTG n.F. erleichtert wurde. Hier werden die durch § 36 a GenTG begründeten Erleichterungen allerdings noch nicht berücksichtigt, denn es geht hier ja gerade um die Darstellung der vor Erlass der Verordnung über Lebens- und Futtermittel in den Mitgliedstaaten bestehenden Haftungsregelungen und die Frage, ob vor diesem Hintergrund eine gemeinschaftliche Haftungsregelung erforderlich gewesen wäre.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
205
dukte als einer Verletzung des Rechtsguts Eigentum vor. 630 Bereits bei der Prüfung der Rechtswidrigkeit der schädigenden Handlung stellt sich aber die Frage, ob eine solche Verunreinigung überhaupt rechtswidrig im Sinne von § 823 Abs. 1 BGB ist. Denn einer Verunreinigung liegt grundsätzlich ein genehmigter Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen zugrunde. Im Rahmen von nachbarschaftlichen Verhältnissen ist die Rechtswidrigkeit einer Rechtsgutverletzung nach den nachbarrechtlichen Vorschriften, insbesondere nach § 906 BGB zu beurteilen.631 Nach § 906 Abs. 1 BGB hat der Eigentümer eines Grundstücks Einwirkungen soweit zu dulden, und Einwirkungen gelten insoweit auch als rechtmäßig, soweit die Einwirkung die Benutzung des Grundstücks nicht oder nur unwesentlich beeinträchtigt. Das Vorliegen einer Genehmigung für eine Anlage, von der die Einwirkung auf das benachbarte Grundstück ausgeht, kann nicht die Rechtswidrigkeit der Einwirkung aufheben. Das Vorliegen einer Genehmigung kann lediglich dazu führen, dass der Abwehranspruch nach § 906 Abs. 1 BGB durch das im Einzelfall anzuwendende Anlagengenehmigungsrecht z. B. gemäß § 23 GenTG auf einen Anspruch auf das Ergreifen von Schutzmaßnahmen oder einen Ausgleichsanspruch beschränkt wird. 632 Bei der Beantwortung der Frage, ob die gentechnische Verunreinigung eines Produktes als wesentliche Beeinträchtigung im Sinne von § 906 BGB zu werten ist, wurde in der zivilgerichtlichen Rechtsprechung nicht auf die Marktwertminderung des gentechnisch verunreinigten Produktes abgestellt, sondern allein auf die naturwissenschaftliche Gefahr einer gentechnischen Verunreinigung. 633 Die Rechtsprechung bejahte das Vorliegen einer wesentlichen Beeinträchtigung im Sinne von § 906 BGB mithin erst dann, wenn die gentechnische Verunreinigung naturwissenschaftliche Gefahren hervorgerufen hat. Ob im Einzelfall das Bestehen einer naturwissenschaftlichen Gefahr als Folge einer gentechnischen Verunreinigung vom Gericht bejaht wurde, war, da die Frage nach den von gentechnisch veränderten Organismen ausgehenden naturwissenschaftlichen Gefahren umstritten ist, höchst fragwürdig. In der Literatur hingegen wurde eine wesentliche Beeinträchtigung im Sinne von § 906 BGB angenommen, wenn die gentechnische Verunreinigung eines Pro-
630 So auch Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff. (277) m.w.N.; Wellkamp, Haftung in der Gentechnologie, NuR 2001, 188 ff. (190). 631 Thomas, in: Palandt (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 823 Rdnr. 34. 632 Vgl. Bassenge, in: Palandt (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch § 906 Rdnr. 37 ff. 633 OLG Stuttgart, Urteil vom 24.8.1999, ZUR 2000, 29 f. (30). Kritisch dazu, dass die Rechtsprechung allein auf naturwissenschaftliche Gefahren und nicht auf die Wertminderung der Produkte infolge gentechnischer Verunreinigungen abstellt Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff. (277).
206
4. Teil: Eigener Vorschlag
duktes zu einer Minderung des Marktwerts des Produktes führt. 634 Allerdings führte auch nach der Literaturansicht ein Schadensersatzanspruch nach § 823 BGB in den meisten Fällen nicht zum Erfolg. Denn auch nach § 823 BGB hat der Geschädigte die Kausalität einer Handlung für die Beeinträchtigung zu beweisen,635 und dies ist - wie gesehen - in den meisten Fällen einer gentechnischen Verunreinigung nicht möglich. Außerdem konnte der geschädigte Landwirt versuchen, soweit die gentechnische Verunreinigung von einem benachbarten Grundstück stammte, einen Ausgleichsanspruch gemäß § 906 Abs. 2 S. 2 BGB erfolgreich geltend zu machen. Erste Voraussetzung eines Ausgleichsanspruchs nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB ist, dass es sich bei der gentechnischen Verunreinigung um eine wesentliche Beeinträchtigung handelt. Das Vorliegen einer wesentlichen Beeinträchtigung wurde - wie gesehen - von Literatur und Rechtsprechung für den Fall der gentechnischen Verunreinigung aber unterschiedlich beurteilt, so dass allein deshalb ein Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB geringe Erfolgsaussichten besaß. (2) Rechtslage nach der Novellierung des Gentechnikrechts Im Zuge der Umsetzung der Freisetzungsrichtlinie in deutsches Recht hat der Gesetzgeber durch das Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts636 die Haftungsregelungen des Gentechnikgesetzes durch § 36 a GenTG ergänzt. § 36 a GenTG schafft dabei nicht die Grundlage eines eigenständigen Schadensersatzanspruchs, sondern erleichtert das Geltendmachen von Ausgleichsansprüchen nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB für Schäden, die durch in Verkehr gebrachte gentechnisch veränderte Organismen entstanden sind, indem er bestimmt, wann eine wesentliche Beeinträchtigung i.S.v. § 906 Abs. 2 BGB vorliegt. Nach § 36 a Abs. 1 GenTG soll die Übertragung von Eigenschaften eines Organismus auf einen anderen Organismus eine wesentliche Beeinträchtigung im Sinne von § 906 BGB darstellen, „wenn entgegen der Absicht des Nutzungsberechtigten wegen der Übertragung oder des sonstigen Eintrags Erzeugnisse insbesondere 1. nicht in Verkehr gebracht werden dürfen oder
634
So Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff. (277); Schmidt, in: UBA, Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, S. 64; Wellkamp, Haltung in der Gentechnologie, NuR 2001, 188 ff. (190 f.). 635 Bassenge, in: Palandt (Hrsg.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, § 906 Rdnr. 30. 636 Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts vom 21. Dezember 2004, BGBl. 2005 Teil I, S. 186.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
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2. nach den Vorschriften dieses Gesetzes oder nach anderen Vorschriften nur unter Hinweis auf die gentechnische Veränderung gekennzeichnet in den Verkehr gebracht werden dürfen oder 3. nicht mit einer Kennzeichnung in Verkehr gebracht werden dürfen, die nach den für die Produktionsweise jeweils geltenden Rechtsvorschriften möglich gewesen wäre."
In der Gesetzesbegründung wird ergänzend klargestellt, dass im Einzelfall bei einer erforderlichen Berücksichtigung von Schwellenwerten diese den maßgeblichen Bezugspunkt für die Frage, ob eine Beeinträchtigung wesentlich ist, bilden.637 § 36 Abs. 4 GenTG enthält darüber hinaus für Fälle, in denen mehrere Nachbarn als Verursacher in Betracht kommen, einen Rechtsfolgenverweis auf die in §§ 830 Abs. 1 S. 2, 840 Abs. 1 BGB geregelte gesamtschuldnerische Haftung. 638 Nach § 830 Abs. 1 S. 2 BGB können mehrere mögliche Verursacher gemeinschaftlich haften, auch wenn die Kausalität des Handelns der Mitschädiger oder der Umfang der Kausalität nicht feststellbar ist. § 36 a Abs. 4 GenTG lautet dementsprechend: „Kommen nach den tatsächlichen Umständen des Einzelfalls mehrere Nachbarn als Verursacher in Betracht und lässt es sich nicht ermitteln, wer von ihnen die Beeinträchtigung durch seine Handlung verursacht hat, so ist jeder für die Beeinträchtigung verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn jeder nur einen Teil der Beeinträchtigung verursacht hat und eine Aufteilung des Ausgleichs auf die Verursacher gemäß § 287 ZPO möglich ist."
Auch nach der Neuregelung des § 36 a GenTG trägt der Geschädigte die Beweislast, dass es auf seinem Feld zu ungewollten Eintragungen von gentechnisch veränderten Organismen gekommen ist. Der Gesetzgeber hat es ausweislich der Gesetzesbegründung für nicht erforderlich gehalten, beweisrechtliche Spezialregelungen zur Durchsetzung von Ausgleichsansprüchen nach § 906 BGB zu erlassen.639 Das allgemeine Beweisrecht (§ 286 ZPO) stelle insoweit ein ausreichendes Instrumentarium zur Verfügung. Dazu zähle auch der Anscheinsbeweis, nach dem von feststehenden Tatsachen auf einen typischen Geschehensverlauf geschlossen werden kann. So würde z. B. wenn auf einem Feld A GVO angebaut werden und auf einem benachbarten Feld Β entsprechende Einkreuzungen festzustellen sind, regelmäßig der Beweis des ersten Anscheins dafür sprechen, dass der Anbau auf Feld A für die Einkreuzung auf Feld Β ursächlich war. Für die Erschütterung eines solchen An637
Begründung zum Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts Drs. 15/3088,
S. 31. 638
So auch Begründung zum Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts Drs. 15/3088, S. 31. 639 Begründung zum Gesetz zur Neuordnung des Gentechnikrechts Drs. 15/3088, S. 31.
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4. Teil: Eigener Vorschlag
scheinsbeweises reiche nicht schon der Hinweis auf einen anderen denkbaren Geschehensablauf. Erforderlich sei vielmehr, dass die Gegenpartei konkrete Tatsachen behauptet und nötigenfalls beweist, aus denen sich die Möglichkeit eines vom gewöhnlichen abweichenden Verlaufs ergibt und dass diese andere Möglichkeit ernsthaft in Betracht kommt. (3) Bewertung der Regelung des § 36 a GenTG Der vom deutschen Gesetzgeber gewählte Weg, die Ansprüche der durch einen Eintrag gentechnisch veränderter Organismen geschädigten Landwirte über das Nachbarschaftshaftungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs zu regeln, besitzt für die Geschädigten insoweit einen wesentlichen Vorteil, als der Ausgleichsanspruch des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB verschuldensunabhängig ausgestaltet ist. Demgegenüber besteht der Nachteil, dass die Regelung der Ansprüche der Geschädigten über das Nachbarschaftshaftungsrecht des Bürgerlichen Gesetzbuchs gleichzeitig eine Beschränkung der Haftungsschuldner auf die Nachbarn des geschädigten Landwirts bedeutet, so dass ζ. Β. die Hersteller gentechnisch veränderter Organismen oder Saatgutlieferanten nur unter den erschwerten Voraussetzungen des deliktischen Haftungsrechts gemäß §§ 823 ff. BGB in Anspruch genommen werden können. Dabei ist die mögliche und erleichterte Inanspruchnahme insbesondere der Hersteller gentechnisch veränderter Organismus, die diese erstmals in Verkehr bringen, aber aus verschiedenen Gründen erforderlich. 640 Von der Neuregelung ungeklärt bleibt die Frage, ob und inwieweit der Geschädigte auch die ihm durch die Überprüfung seiner Produkte auf gentechnische Verunreinigungen hin entstandenen Analyse- und Nachweiskosten geltend machen kann. Fraglich ist, ob diese von einem Ausgleichsanspruch nach § 36 a GenTG erfasst werden.641 Der Gesetzgeber nimmt zu dieser Frage keine Stellung. Es ist umstritten, ob der Ausgleichsanspruch nach § 906 Abs. 2 S. 2 BGB als Schadensersatzanspruch nach den §§ 249 ff. BGB zu verstehen und damit auf den Ersatz aller entstandenen und zukünftigen Vermögenseinbußen gerichtet ist642 oder - wie von der Rechtsprechung des BGH vertreten - eine
640 Näher dazu gleich unter 2. b) cc). So auch Winter in seiner Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Novellierung des Gentechnikrechts am 14.06.2004, im Internet unter: www.keinegentechnik.de. 641 Dies wird wohl bejaht von Großekathöfer, Das neue Haftungsrecht im Gentechnikgesetz, Neue Briefe aus der Landwirtschaft 2004, 110; der SRU hingegen beklagt, dass die Kosten für die Vermeidung von Verunreinigungen und die Kosten für Untersuchungen auf transgene Verunreinigungen von der neuen Regelung des Gentechnikgesetzes nicht erfasst werden, SRU, Koexistenz sichern: Zur Novellierung des Gentechnikgesetzes, Kommentar zur Umweltpolitik Nr. 4, März 2004, S. 13.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
209
Billigkeitsentschädigung bedeutet, wonach allein ein Wertausgleich für den rechtmäßigen Entzug sonst gewährter Eigentümerbefügnisse erfolgt 643. Zwar hat der Bundesgerichtshof in einem Fall die Kosten eines Gutachtens, das zur Ermittlung der Beeinträchtigung in Auftrag gegeben wurde, als ausgleichsfahig betrachtet.644 Jedoch ist zweifelhaft, ob der Bundesgerichtshof, der den Ausgleichsanspruch des § 906 Abs. 2 S. 2 BGB mittlerweile als Entschädigungsanspruch begreift, an dieser Rechtsprechung bezogen auf die Ausgleichsfähigkeit von Analyse- und Nachweiskosten festhalten würde. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die durch die Neuregelung bedingte Aufspaltung der Entschädigungsansprüche geschädigter Landwirte auf einerseits das nachbarschaftsrechtliche Haftungsrecht und andererseits das deliktische Haftungsrecht. Besser wäre es, die Ansprüche auf das Deliktsrecht zu konzentrieren, z. B. um die Haftungsschuldner nicht auf Nachbarn zu beschränken, und die Voraussetzungen für deliktische Ansprüche gleichzeitig zu erleichtern. 645
bb) Ansprüche nach französischem Recht Im französischen Recht gibt es zwar seit Ende des Jahres 2000 ein gentechnikspezifisches Umwelthaftungsrecht. 646 Dieses begründet allerdings lediglich eine ordnungsrechtliche Haftung des Verwenders gentechnisch veränderter Organismen und hingegen keine zivilrechtlichen Haftungspflichten im Verhältnis zu Dritten, die durch die Verunreinigung ihrer Produkte mit gentechnisch veränderten Organismen geschädigt wurden. Die zivilrechtliche Haftung des Verwenders gentechnisch veränderter Organismen richtet sich somit nach allgemeinem Deliktsrecht des Code Civil. 647 Nach dem französischen Deliktsrecht muss ebenso wie im deutschen Recht grundsätzlich der Geschädigte den Kausalzusammenhang zwischen haftungsbegründendem Tatbestand und Schaden beweisen.648 Somit wird sich auch 642 So Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 6, 3. Autlage, 1997, § 906 Rdnr. 135; Bassenge, in: Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, 63. Aullage, 2004, § 906 Rdnr. 33. 643 So die Rechtsprechung des BGH, vgl. die Nachweise bei Säcker, in: Münchener Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 6, 3. Auflage, 1997, § 906 Rdnr. 135 Fn. 303. 644 BGH, NJW 1986, 1980 (1982). 645 Näher dazu siehe unten Π. und ΕΠ. 646 Artide L536-3 ff. Code de l'environnement. 647 Zu den möglichen deliktsrechtlichen Ansprüchen im Einzelnen siehe Dolde, Gentechnikhaftung in Europa: Deutschland, Frankreich und EU-Regelungen im Vergleich, S. 151 ff.
210
4. Teil: Eigener Vorschlag
nach französischem Recht in den meisten Fällen einer gentechnischen Verunreinigung von Produkten kein Schadensersatzanspruch des geschädigten Landwirts begründen lassen.
cc) Ansprüche nach englischem Recht Und auch nach englischem Recht, in dem es keine gentechnikspezifischen Haftungsregelungen gibt, hat nach allgemeinem Deliktsrecht der Geschädigte den Nachweis zu erbringen, dass der Schaden mit überwiegender Wahrscheinlichkeit auf das vorwerfbare Verhalten des Schädigers zurückzufuhren ist. Zwar werden die Anforderungen an den Beweis der Kausalität bei schwieriger Beweislage häufig richterlich herabgesetzt.649 Ein durch eine gentechnische Verunreinigung geschädigter Landwirt könnte somit im Einzelfall davon befreit werden, die Kausalität eines schädigenden Ereignisses für den Schaden nachweisen zu müssen. Es ist aber unsicher, ob die englischen Gerichte im Falle gentechnischer Verunreinigungen von dieser Möglichkeit der Beweisbefreiung Gebrauch machen würden. Eine solche mit Unsicherheit behaftete Regelung ist als ergänzende Regelung der hier vorgeschlagenen Kennzeichnungsregelung nicht geeignet.
b) Staatshaftung
Grundsätzlich wäre auch denkbar, dass der Landwirt, der infolge gentechnischer Verunreinigungen seiner Produkte einen finanziellen Schaden erlitten hat, einen Anspruch auf Entschädigung aus Staatshaftung besitzt. Der Anspruch könnte sich darauf stützen, dass der Gesetzgeber es unterlassen hat, zivilrechtliche Haftungsregelungen für solche Fälle zu schaffen. Ein Recht der Staatshaftung ist in den meisten Mitgliedstaaten der Europäischen Union geregelt.650 Ein Durchgreifen staatshaftungsrechtlicher Ansprüche des geschädigten Landwirts soll hier aber nicht im Einzelnen überprüft werden. Denn selbst wenn Ansprüche der geschädigten Landwirte aus Staatshaftung begründet werden könnten, würde dies die Schaffung zivilrechtlicher Haftungsansprüche nicht überflüssig werden lassen, sondern die Schaffung solcher Ansprüche ge648 Vgl. Dolde, Gentechnikhaftung in Europa: Deutschland, Frankreich und EURegelungen im Vergleich, S. 151 ff., 251 f. 649 Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, S. 165 m.w.N. 650 Die Mitgliedstaaten Deutschland, Frankreich, Italien, Österreich, Spanien und das Vereinigte Königreich besitzen ein eigenes Staatshaftungsrecht; vgl. Magnus/ Wurmnest, Casebook Europäisches Haftungs- und Schadensersatzrecht, S. 59 ff.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
211
radezu erfordern. Die Pflicht zur Entschädigung soll nämlich gerade nicht den Staat und damit die Gemeinschaft treffen, sondern diejenigen, die aus der Anwendung gentechnisch veränderter Organismen einen Nutzen ziehen.
2. Ebene des Gemeinschaftsrechts Zu prüfen bleibt, ob das Gemeinschaftsrecht für den Fall der finanziellen Schädigung eines Landwirts infolge einer gentechnischen Verunreinigung seiner Ernte Schadensersatz- bzw. Ausgleichsansprüche bereit hält. Die Freisetzungsrichtlinie und die neuen Verordnungen betreffend gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel enthalten selbst keine Regelungen zivilrechtlicher Haftung. 651 Und auch der Umwelthaftungsrichtlinie 652 lassen sich keine Ansprüche eines Landwirts, der infolge einer gentechnischen Verunreinigung seiner Produkte geschädigt ist, entnehmen.653 Denn die Umwelthaftungsrichtlinie soll mit Rücksicht auf in den Mitgliedstaaten bereits bestehende zivilrechtliche Haftungsregelungen - ausschließlich eine ordnungsrechtliche Haftung, d.h. eine Haftung des Schädigers gegenüber dem Staat regeln, und begründet dementsprechend gemäß Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie ausdrücklich keine Ansprüche von Privatpersonen auf Ersatz wirtschaftlicher Verluste, die ihnen aufgrund eines Umweltschadens oder der unmittelbaren Gefahr eines solchen Schadens entstanden sind.
3. Zwischenergebnis Es lassen sich somit grundsätzlich weder aus nationalem Recht der Mitgliedstaaten noch aus Gemeinschaftsrecht Schadensersatz- oder Ausgleichsansprüche von Landwirten, die durch eine gentechnische Verunreinigung ihrer Produkte einen Schaden erlitten haben, herleiten.
651
So auch Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff.
(275). 652 Richtlinie 2004/3 5/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 21. April 2004 über Umwelthaftung zur Vermeidung von Umweltschäden, ABl. L 143, S. 56. 653 So auch das Europäische Parlament, Plenarsitzungsdokument vom 2. Mai 2003, A5-0145/2003, S. 19, 44 f.
212
4. Teil: Eigener Vorschlag II. Vorschlag für eine Haftungsregelung
in ihren
Grundzügen
Da sich somit aus dem nationalen und gemeinschaftlichen Recht für den Fall der kennzeichnungspflichtigen gentechnischen Verunreinigung von Produkten grundsätzlich keine Schadensersatzansprüche des geschädigten Landwirts begründen lassen, bedarf es für diese Fälle einer gesonderten Haftungsregelung. Im Rahmen eines Vorschlags für eine Haftungsregelung werden im Folgenden insbesondere die Fragen, ob eine solche Haftungsregelung auf gemeinschaftlicher oder nationaler Ebene getroffen werden sollte und wie die Grundzüge einer solchen Regelung aussehen sollten, diskutiert.
1. Regelung auf der Ebene des gemeinschaftlichen oder nationalen Rechts Nachdem sich gezeigt hat, dass auf nationaler und gemeinschaftlicher Ebene keine ausreichenden Haftungsregelungen für den Fall der gentechnischen Verunreinigung von Produkten bestehen und es somit einer gesonderten Haftungsregelung für solche Fälle bedarf, stellt sich die Frage, ob eine solche Regelung auf gemeinschaftlicher oder nationaler Ebene getroffen werden sollte. Bevor auf die für diese Frage relevanten Vorgaben des Gemeinschaftsrechts insbesondere die des Art. 5 EG-Vertrag - eingegangen wird, soll kurz erörtert werden, welche der beiden Alternativen wünschenswert wäre. Die Europäische Kommission scheint sich eine Regelung der Haftung auf Ebene der Mitgliedstaaten zu wünschen. Dahinter steht wohl die Befürchtung, dass ein Gesetzgebungsprozess zur Schaffung von Haftungsregelungen sehr lange dauern und ein Moratorium dann wieder eingesetzt werden könnte. Das Ergebnis der Haltung der Kommission ist allerdings sehr unbefriedigend. Denn mit dem Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens der beiden Verordnungen wird das Moratorium aufgehoben, d.h. Zulassungen für Freisetzungen und das Inverkehrbringen werden erneut erteilt werden, obwohl Regelungen zur Sicherung der Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen nicht aufgestellt sind und die Frage der Haftung im Falle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten nicht geklärt ist.654 Daneben gibt es auch noch einen weiteren Grund, der eine Regelung der Haftung in Fällen der gentechnischen Verunreinigung von Produkten - zu654
In diesem Sinne fordert auch das Europäische Parlament die Europäische Kommission auf, „so rasch wie möglich einen Rechtsrahmen für die Haftung für Schäden festzulegen, die durch gentechnisch veränderte Organismen verursacht werden Europäisches Parlament, Plenarsitzungsdokument vom 2. Mai 2003, A5-0145/2003, S. 44.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
213
mindest in ihren Grundzügen - auf gemeinschaftlicher Ebene wünschenswert erscheinen lässt. Dies, wenn man bedenkt, dass die Gefahr einer gentechnischen Verunreinigung von Produkten erst über gemeinschaftliche Regelungen, d.h. die neuen gemeinschaftlichen Verordnungen für gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel und die Freisetzungsrichtlinie, eröffnet wird. Die Gemeinschaft sollte dann auch dafür sorgen müssen, dass daraus kein Schaden entsteht bzw. grundsätzlich die Möglichkeit besteht, den Schaden ersetzt zu bekommen.655 Unabhängig von diesen Überlegungen sind bei der Frage, ob eine Regelung der Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten auf gemeinschaftlicher Ebene getroffen werden kann, die Vorgaben des Art. 5 EGV zu beachten. Nach Art. 5 EGV ist Voraussetzung der Rechtmäßigkeit einer gemeinschaftlichen Regelung, dass die Gemeinschaft sich bei der Regelung innerhalb der Grenzen der ihr im EG-Vertrag zugewiesenen Kompetenzen hält sowie den Subsidiaritätsgrundsatz i. S. v. Art. 5 Abs. 2 EGV und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz i. S. v. Art. 5 Abs. 3 EGV beachtet.
a) Kompetenz der Gemeinschaft
Eine Haftungsregelung, wonach infolge einer gentechnischen Verunreinigung geschädigte Landwirte Schadensersatzansprüche besitzen, wäre eine notwendige Folgeregelung der Verordnungen betreffend gentechnisch veränderte Lebens- und Futtermittel und der Freisetzungsrichtlinie, nach denen das Freisetzen und Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Pflanzen erst ermöglicht wird. Deshalb würde eine Haftungsregelung ebenso wie die beiden Verordnungen und die Freisetzungsrichtlinie in den Politikbereich der Landwirtschaft fallen, für den gemäß Art. 37 Abs. 2 UAbs. 3 EGV eine konkurrierende Kompetenz der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten gilt. Daneben wäre auch Art. 95 EGV, die allgemeine Rechtsgrundlage für eine Harmonisierung des gemeinschaftlichen Binnenmarktes, als Kompetenzgrundlage einer gemeinschaftlichen Haftungsregelung denkbar.656 Denn eine gemeinschaftliche Regelung der Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten würde dazu beitragen, Wettbewerbsverzerrungen als Folge der in den Mitgliedstaaten bestehenden unterschiedlichen Entschädigungssysteme abzubauen bzw. gar nicht erst entstehen zu lassen. Auch Art. 95
655
So auch Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff.
(276). 656
(275).
So auch Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff.
214
4. Teil: Eigener Vorschlag
EGV begründet eine konkurrierende Kompetenz der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten.657 Für eine gemeinschaftliche Regelung der Haftung in Fällen der gentechnischen Verunreinigung von Produkten besäße die Gemeinschaft somit eine Rechtssetzungskompetenz.
b) Wahrung der Subsidiarität
In Fällen, in denen die Gemeinschaft keine ausschließliche, sondern - wie hier - eine konkurrierende oder eine gemischte Kompetenz besitzt, darf die Gemeinschaft eine Maßnahme in diesem Bereich nur erlassen, wenn dabei der Grundsatz der Subsidiarität i. S. v. Art. 5 Abs. 2 EGV gewahrt bleibt, d.h., wenn die Ziele der in Betracht gezogenen gemeinschaftlichen Maßnahme auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend und auf Ebene der Gemeinschaft daher besser erreicht werden können. Die Frage, ob eine den Mitgliedstaaten überlassene Regelung der Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten Ziele der Gemeinschaft nicht ausreichend erreichen könnte, wird von der Europäischen Kommission wohl verneint. Die Kommission verweist in diesem Zusammenhang ausdrücklich auf den Subsidiaritätsgrundsatz und die auf Ebene der Mitgliedstaaten bestehenden zivilrechtlichen Haftungsregelungen. 658 Die bestehenden nationalen zivilrechtlichen Haftungsregelungen sind aber wie gesehen zur Regelung der Haftung in Fällen der gentechnischen Verunreinigung von Produkten nicht ausreichend. Entgegen der Auffassung der Kommission kann vielmehr davon ausgegangen werden, dass eine Regelung der Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten auf gemeinschaftlicher Ebene getroffen werden muss. Für ein solches Erfordernis, eine solche Haftungsregelung auf Ebene der Gemeinschaft zu treffen, spricht zum Beispiel, dass gentechnische Verunreinigungen auch über Grenzen der Mitgliedstaaten hinweg stattfinden werden. Andernfalls - bei einer nationalen und damit unterschiedlichen Haftungsregelung der Mitgliedstaaten - würden bei der rechtlichen Würdigung einer grenzüberschreitenden Verunreinigung verschiedene Rechtsordnungen aufeinander treffen, und deren Anwendbarkeit müsste erst einmal geklärt werden. Bei einer solchen Rechtslage könnte es mithin an einem effektiven Rechtsschutz des Geschädigten mangeln. Zudem könnte bei einer fehlenden gemein-
657
Kahl, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 95 EGV Rdnr. 7. Europäische Kommission, Pressemitteilung vom 5. März 2003 „Kommission befasst sich mit der Koexistenz gentechnisch veränderter Pflanzen", S. 2. 658
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
215
schaftlichen Haftungsregelung der freie Wettbewerb, der eine Zielbestimmung des EG-Vertrages in Art. 3 Abs. 1 g) EGV ist, behindert werden. Denn in den Mitgliedstaaten unterschiedlich gestaltete Haftungsregelungen bzw. das völlige Fehlen von Haftungsregelungen in vereinzelten Mitgliedstaaten könnten zu einer Verlagerung des Anbaus gentechnisch veränderter Pflanzen und gegebenenfalls auch zu einer Verlagerung der Standorte der Biotechnologieindustrie in Mitgliedstaaten, die sehr restriktive Haftungsregelungen oder überhaupt gar keine besitzen, führen. Damit wären Wettbewerbsverzerrungen zwischen den Mitgliedstaaten und damit ein Verstoß gegen das in Art. 3 Abs. 1 g) EGV verankerte Ziel der Gemeinschaft, den Wettbewerb innerhalb des Binnenmarktes vor Verfälschungen zu schützen, vorprogrammiert. 659 Die Wahrscheinlichkeit, dass sich diese Prognose realisiert, ist groß. Bereits jetzt sind Landwirte in einigen Mitgliedstaaten gesetzlich oder gemäß der Rechtsprechung von einer Haftung für Schäden, die infolge der Freisetzung von gentechnisch veränderten Organismen auftreten, befreit. 660 Nach der zweiten Voraussetzung des gemeinschaftlichen Subsidiaritätsgrundsatzes müsste eine gemeinschaftliche Regelung der Haftung die Ziele der Gemeinschaft besser erreichen als eine Regelung der Haftung auf Ebene der Mitgliedstaaten. Die Gemeinschaftsorgane besitzen bei einer solchen erforderlichen Überprüfung der Subsidiarität grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum.661 Die Wettbewerbsverzerrungen, die bei einer Regelung der Haftung auf Ebene der Mitgliedstaaten zu erwarten sind, würden bei einer gemeinschaftlichen vereinheitlichenden Regelung der Haftung vermieden. Das Ziel der Gemeinschaft, Wettbewerbsverzerrungen auf der Ebene des Binnenmarktes vorzubeugen, würde somit bei einer gemeinschaftlichen Regelung der Haftung besser erreicht.
659 In diesem Sinne hält es zum Beispiel die deutsche Verbraucherschutzministerin Renate Künast für nicht akzeptabel, eine Regelung der zivilrechtlichen Haftungsfragen allein den Mitgliedstaaten zu überlassen. Insbesondere „könne dies zu Wettbewerbsverzerrungen führen"; Künast, EU-einheitliche Haftungsregelungen bei Grüner Gentechnik notwendig, Pressemitteilung Nr. 290 vom 5. September 2002. 660 Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 107. Konkret dazu, dass in Dänemark keine Schadensersatzansprüche eines Landwirts bestehen, der infolge der Auskreuzung gentechnisch veränderter Organismen auf seine Felder einen finanziellen Schaden erlitten hat, Stökl , Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff. (275 Fn. 24) mit Verweis auf ein Gutachten des dänischen Kronanwalts vom Januar 2003 (Notat om de erstatningsretlige konsekvenser af GM-pollenspredning til GMO-frie afgroder). 661 Geiger , EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 15; Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 61 m.w.N.
216
4. Teil: Eigener Vorschlag
Im Ergebnis sprechen somit mehr Gründe dafür, die Frage der Haftung zumindest in ihren Grundzügen - auf gemeinschaftlicher Ebene zu regeln. Insbesondere bedarf es einer solchen Regelung zur Wahrung eines funktionierenden Wettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten.
c) Erforderlichkeit
gemäß Art. 5 Abs. 3 EGV
Der in Art. 5 Abs. 3 EGV normierte Grundsatz der Erforderlichkeit wird als Ausdruck des gemeinschaftsrechtlichen Prinzips der Verhältnismäßigkeit verstanden.662 Danach muss die gemeinschaftliche Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Ziels geeignet sein und darf das Maß des hierzu Erforderlichen nicht überschreiten; ferner müssen die verursachten Nachteile in angemessenem Verhältnis zu den erstrebten Zielen stehen.663 Eine hier vorgeschlagene Regelung der Haftung lediglich in ihren Grundzügen würde diesen Anforderungen wohl genügen; zumal, wenn man bedenkt, dass dem gemeinschaftlichen Gesetzgeber bei der Beurteilung der Erforderlichkeit einer gemeinschaftlichen Regelung grundsätzlich ein weiter Beurteilungsspielraum zukommt, der nur eingeschränkt durch den EuGH überprüfbar ist.664
d) Zwischenergebnis
Es bestehen - wie gesehen - Gründe dafür, die Grundzüge einer Haftungsregelung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten auf gemeinschaftlicher Ebene festzulegen. Einer solchen gemeinschaftlichen Haftungsregelung stehen die Anforderungen des Art. 5 EGV, die bei einer jeglichen gemeinschaftlichen Regelung einzuhalten sind, nicht entgegen.
2. Gemeinschaftliche Regelung der Grundzüge einer Haftung Im Folgenden werden überblicksartig die Möglichkeiten der Ausgestaltung einer gemeinschaftlichen Regelung der Grundzüge einer Haftung in Fällen der gentechnischen Verunreinigung von Produkten diskutiert. Das Ergebnis der 662 Vgl. Geiger, EUV/EGV, Art. 5 Rdnr. 13; Lienbacher in: Schwarze (Hrsg.), EUKommentar, Art. 5 EGV Rdnr. 34. 663 EuGH, Rs. 265/87, Slg. 1989, 2237 Rdnr. 21; EuGH, Rs. 331/88, Slg. 1990, I4023 Rdnr. 13; EuGH, Rs. 161/96, Slg. 1998,1-281 Rdnr. 31. 664 Vgl. Calliess, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/EGV, Art. 5 EGV Rdnr. 48; Geiger, EUV/EGV, Art. 5 Rdnr. 15.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
217
Diskussion wird ein eigener Vorschlag für eine gemeinschaftliche Regelung der Grundzüge einer Haftung sein. Eine gemeinschaftliche Regelung der Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten sollte sich zwar auf eine Regelung der wesentlichen, wettbewerbsrelevanten Grundzüge einer Haftung beschränken. Allerdings wird eine gemeinschaftliche Grundregelung, die die Mitgliedstaaten lediglich verpflichtet, überhaupt wirksame Regelungen der Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten zu treffen, das Entstehen von Wettbewerbshindernissen wohl nicht verhindern können und wäre somit nicht ausreichend.665 Zu den Grundzügen, die - in Anbetracht ihrer Wettbewerbsrelevanz - in einer solchen gemeinschaftlichen Haftungsregelung bindend festgelegt werden sollten, gehören insbesondere Antworten auf die Fragen, inwieweit ein Verschulden des Schädigers zu verlangen ist, wer primärer Haftungsschuldner des geschädigten Landwirts sein sollte und ob bzw. inwieweit Beweiserleichterungen in die Regelung aufzunehmen sind.
a) Verschuldensunabhängige
Haftung
Das Vorliegen eines Verschuldens des Schädigers ist im Recht der größten Mitgliedstaaten der Europäischen Union grundsätzlich eine notwendige Tatbestandsvoraussetzung deliktsrechtlicher Ansprüche.666 Es gibt in den nationalen Rechtsordnungen und im Gemeinschaftsrecht allerdings auch Fälle, in denen Ansprüche aus Delikt auch ohne das Vorliegen von Verschulden des Schädigers gewährt werden.667 Grundsätzlich handelt es sich dabei um Fälle der Gefährdungshaftung, d.h. um Fälle, in denen der Schädiger eine Gefahrenquelle eröffnet, deren Gefahren sich trotz aller technischen Fortschritte und größter Vorsicht einer völligen Beherrschbarkeit entziehen und denen Außenstehende deshalb nicht entgehen können. Der Schädiger soll in solchen Fällen für alle Schäden, die durch die Verwirklichung einer Gefahr eintreten, verschuldensunabhängig haften. Das Inverkehrbringen gentechnisch veränderter Organismen bedeutet die Anwendung einer Technologie, deren Gefahren nicht vorhersehbar und schwer zu kontrollieren sind.668 Dritte sind dieser Gefahrenquelle zunächst 665 Eine solche bloße „gemeinschaftliche Grundregelung" wird von Stökl vorgeschlagen, Stökl, Die Gentechnik und die Koexistenzfrage, ZUR 2003, 274 ff. (276). 666 Zum deutschen, englischen und französischen Recht so Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, S. 151. 667 Wurmnest, Grundzüge eines europäischen Haftungsrechts, S. 151, 158. 668 Dazu bereits ausführlich im ersten Teil der Arbeit, 1. Kap. Β. Π.
218
4. Teil: Eigener Vorschlag
einmal schutzlos ausgesetzt. Eine Form, in der sich die Gefahren der Anwendung gentechnisch veränderter Organismen verwirklichen können, ist die gentechnische Verunreinigung von Produkten, durch die der Betroffene finanzielle Verluste erleidet. Im Ergebnis ist die gentechnische Verunreinigung von Produkten infolge einer Anwendung gentechnisch veränderter Organismen somit ein klassischer Fall, in dem - im Sinne einer Gefährdungshaftung - Haftungsansprüche der durch gentechnisch veränderte Organismen Geschädigten verschuldensunabhängig bestehen sollten.
b) Haftungsschuldner
In eine gemeinschaftliche Regelung, die Grundzüge einer Haftung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten regelt, sollte auch eine Regelung des Haftungsschuldners aufgenommen werden. Der für eine gentechnische Verunreinigung verantwortliche Schädiger steht nämlich häufig nicht fest und ist gegebenenfalls nur schwer oder überhaupt nicht ausfindig zu machen,669 wodurch die Durchsetzbarkeit eines Schadensersatzanspruchs des Geschädigten gefährdet sein könnte. Als Haftungsschuldner kommen grundsätzlich der unmittelbare Schädiger (beispielsweise benachbarte Landwirte oder Saatguthersteller) oder die Großkonzerne, die gentechnisch veränderte Organismen herstellen und erstmals in Verkehr bringen, in Betracht.
aa) Haftung des unmittelbaren Schädigers Eine Haftungsregelung, wonach Haftungsschuldner der unmittelbar für die Verunreinigungen verantwortliche Schädiger ist, würde bedeuten, dass der Geschädigte zur Durchsetzung seines Anspruchs den einzelnen Schädiger ausfindig und die Kausalität dessen Handlungen für die Verunreinigung beweisen müsste. Angesichts der damit - wie gesehen670 - verbundenen Beweisschwierigkeiten wäre die Aufnahme von Beweiserleichterungen in eine solche Regelung erforderlich. 671
669
Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit I. 1. a). Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit I. 1. a). 671 So auch Schmidt, in: UBA (Hrsg.), Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, 2002, S. 93; Wollenteit, Vortrag „Sicherheit und Haftung" im Rahmen des Diskurs Grüne Gentechnik am 11./12. Juni 2002, S. 8. Allgemein zur Notwendigkeit von 670
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
219
In Betracht kommt eine Beweiserleichterung in Form einer Kausalitätsvermutung.672 Danach würde, soweit eine transgene Kultur geeignet erscheint, vorgefundene gentechnische Verunreinigungen hervorzurufen, vermutet, dass die Verunreinigung durch die transgene Kultur verursacht ist.673 Als eine weitere Möglichkeit der Beweiserleichterung wird im vorliegenden Zusammenhang - u.a. von EU-Agrarkommissar Fischler - eine Art Beweislastumkehr vorgeschlagen. Danach läge die Beweislast zunächst beim beklagten vermutlichen Schädiger, der beweisen muss, die ihm auferlegten Vorsichtsmaßnahmen beim Umgang mit gentechnisch veränderten Organismen eingehalten zu haben.674 Gelingt ihm dieser Beweis, richtet sich die Bestimmung von Kausalität und Verschulden im Übrigen nach den gewöhnlichen Beweislastregeln zivilrechtlicher Haftung. 675 Eine solche teilweise Beweislastumkehr bedeutet für den Geschädigten allerdings keine wesentliche Beweiserleichterung. Denn Landwirte werden in den meisten Fällen nachweisen können, die ihnen auferlegten Maßnahmen zur Vermeidung von Verunreinigungen eingehalten zu haben. Die Beweislast in der die Beweisschwierigkeiten begründenden Frage, inwieweit eine Anwendung gentechnisch veränderter Organismen für die Verunreinigung kausal ist, hätte nach wie vor der Geschädigte zu tragen. Eine Haftungsregelung, die eine Haftung des unmittelbar für eine gentechnische Verunreinigung Verantwortlichen vorsieht, bedeutet - abgesehen von den Beweisschwierigkeiten - für die Durchsetzbarkeit von Schadensersatzansprüchen des geschädigten Landwirts weitere Probleme. Der Landwirt, dessen Produkte durch Anteile gentechnisch veränderter Organismen verunreinigt sind, müsste nämlich alle potentiellen Schädiger, die die Verunreinigung verursacht bzw. mitverursacht haben könnten, ausfindig
Beweiserleichterungen im Gentechnikhaftungsrecht Damm, Das Beweisrecht des Gentechnikgesetzes, NuR 1992, 1 ff. (2). 672 Eine Beweiserleichterung in Form einer Kausalitätsvermutung wird als Ergänzung einer Haflungsregelung für Fälle der gentechnischen Verunreinigung verschiedentlich gefordert; z. B. von Schmidt, in: UBA (Hrsg.), Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, 2002, S. 101; Wollenteit, Vortrag „Sicherheit und Haftung" im Rahmen des Diskurs Grüne Gentechnik am 11 ./12. Juni 2002, S. 10. 673 Ähnlich Schmidt, in: UBA (Hrsg.), Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, 2002, S. 101. Bereits im damaligen Gesetzgebungsverfahren zum deutschen Gentechnikgesetz plädierten der Rechtsausschuss des Bundesrats und die SPDFraktion für die Aufnahme einer Kausalitätsvermutung in die Regelung der Gentechnikhaftung, vgl. BR-Drs. 387/1/89 Rdnr. 228 und BT-Drs. 11/6778 S. 111 f. 67 4 Fischler , Communication from M r Fischler to the Commission, Co-existence of Genetically Modified, Conventional and Organic Crops, S. 7. 67 5 Fischler , Communication from M r Fischler to the Commission, Co-existence of Genetically Modified, Conventional and Organic Crops, S. 7.
220
4. Teil: Eigener Vorschlag
machen und verklagen. Das Auffinden des Schädigers bzw. der Schädiger kann dabei erhebliche Probleme mit sich bringen, wenn man bedenkt, dass die Verunreinigungen auch von weit entfernt liegenden landwirtschaftlichen Flächen stammen können und beispielsweise die Verunreinigung auch schon in Saatgutlieferungen vorhanden gewesen sein könnte. Soll der geschädigte Landwirt seine Schadenersatzansprüche gegen die unmittelbaren Schädiger geltend machen, ist dies demnach mit einem erheblichen Zeit- und ggf. Kostenaufwand für ihn verbunden. Auch bedeutet eine solche Haftungsregelung, wonach Klagegegner der unmittelbare Schädiger ist, ein erhebliches Prozessrisiko für den Geschädigten. Denn der Geschädigte hat alle potentiellen unmittelbaren Schädiger zu verklagen, wobei die Klage gegen Einzelne der Beklagten, deren Handeln sich als nicht ursächlich für den Schaden herausstellt, abgewiesen werden kann, so dass der Geschädigte die Prozesskosten tragen müsste. Letztendlich besteht, auch wenn der Schädiger ausfindig gemacht und die Kausalität seiner Handlung bewiesen werden kann, immer noch die Gefahr, dass der Schädiger zahlungsunfähig ist. Im Ergebnis wäre eine Regelung, die grundsätzlich von einer Haftung desjenigen ausgeht, der unmittelbar für die gentechnische Verunreinigung verantwortlich ist, somit angesichts der damit immer noch für den Geschädigten verbundenen Nachteile keine ideale Lösung.
bb) Zusammenschluss der Haftungsschuldner in einem Haftungsfonds Ein Haftungsmodell, das die Probleme, die bei einer Haftung des unmittelbaren Schädigers gentechnischer Verunreinigungen auftreten, gegebenenfalls vermeiden könnte, könnte die Einrichtung eines Haftungsfonds sein.676 In Fällen eines bestehenden Haftungsfonds muss der Geschädigte nicht jeden einzelnen potentiellen Schädiger ausfindig machen und verklagen; bereits eine einzige erfolgreiche Klage sichert dem Geschädigten Schadensersatzan-
676
Vorschläge dazu bei Hermann/Barth, Haftungsfonds für GVO-Einkreuzungen, in: UBA (Hrsg.), Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, 2002, S. 158 ff. Die Einrichtung eines Haftungsfonds wird auch in Neuseeland diskutiert, wo es mittlerweile eine umfangreiche Diskussion der Frage gibt, wie mit gentechnischen Verunreinigungen umzugehen ist; vgl. Law Commission , Liability for Loss Resulting From the Development, Supply or Use of Genetically Modified Organisms, May 2002, S. 34 ff. Und schließlich wird auch in England für Fälle der gentechnischen Verunreinigung die Einrichtung eines Haftungsfonds diskutiert; vgl. z. B. Agriculture and Environment Biotechnology Commission (AEBC'), Liability Sub-group, Note of Stakeholder seminar held on 8 aprii 2003, Rdnr. 13 ff.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
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Sprüche, die aus dem Haftungsfonds beglichen werden.677 Die Regelung von kollektiven Entschädigungssystemen wie zum Beispiel einem Haftungsfonds ist dementsprechend auch für solche Fälle geeignet, in denen der Haftpflichtige nicht oder nicht schnell genug ermittelt werden kann oder aber zahlungsunfähig ist. Die Einrichtung von Haftungsfonds wird auch für die hier diskutierten Fälle der Schädigung von Landwirten durch gentechnische Verunreinigungen ihrer Produkte vorgeschlagen. Unterschiede der einzelnen Vorschläge bestehen allerdings in der Frage, wie ein solcher Haftungsfonds - insbesondere in Bezug auf den Kreis der Einzahler - ausgestaltet werden sollte. Zur Einzahlung verpflichtet werden könnten allein die Unternehmer, die gentechnisch veränderte Organismen produzieren; 678 andererseits wird eine Beteiligung am Fonds all derjenigen diskutiert, die gentechnisch veränderte Organismen in Verkehr bringen und verwenden, also z. B. auch der Landwirte.679 Auch das Haftungsmodell, wonach Schadensersatzansprüche infolge einer gentechnischen Verunreinigung aus einem Haftungsfonds beglichen werden, beinhaltet allerdings Probleme in der Durchführung. Es ist insbesondere unklar, wie die Höhe der in den Fonds einzuzahlenden Beträge, auch unter Berücksichtigung der von den Anwendungen gentechnisch veränderter Organismen unterschiedlich ausgehenden Risiken, zu berechnen ist.680 Eine - wünschenswerte - Orientierung der Höhe der einzuzahlenden Beträge am Risiko der jeweiligen Anwendung gentechnisch veränderter Organismen ist nicht möglich, denn das von einer solchen Anwendung ausgehende Risiko ist häufig ungewiss und somit schwer zu beziffern. Es könnte deshalb im Einzelfall zu einer ungerechtfertigt hohen Einzahlung und Haftung der einzelnen in den Haftungsfonds einzahlenden Unternehmen oder Landwirte kommen. In diesem Sinne wird zum Teil davon ausgegangen, dass die Einrichtung eines Haftungsfonds und die damit begründete Haftung aller für einen Schaden, der nur von wenigen oder sogar nur von einem der Einzahler begründet wurde, einen Verstoß gegen das Verursacherprinzip begründen würde.681 Ein zusätzliches Problem einer Einzahlungspflicht in einen Haftungsfonds, die unabhängig von einem im Einzelfall bestehenden Risiko berechnet wird, 677
Näher dazu Bohlken, Waldschadensfonds im EG-Recht, S. 50 ff. So z. B. Law Commission , Liability for Loss Resulting From the Development, Supply or Use of Genetically Modified Organisms, May 2002, S. 34. 679 So ζ. B. Hermann/Barth, in: UBA (Hrsg.), Grüne Gentechnik und ökologische Landwirtschaft, 2002, S. 158 ff. 680 Law Commission , Liability for Loss Resulting From the Development, Supply or Use of Genetically Modified Organisms, May 2002, S. 35. 681 Law Commission , Liability for Loss Resulting From the Development, Supply or Use of Genetically Modified Organisms, May 2002, S. 36. 678
222
4. Teil: Eigener Vorschlag
ist, dass es einer solchen Regelung an einer präventiven Wirkung fehlt, die als häufiger Nebeneffekt von Haftungsregelungen hoch geschätzt wird. Der Einzelne wird sich nicht zu sorgfältigem Handeln veranlasst sehen, wenn sich dies nicht auch auf seine Haftpflicht auswirkt. Außerdem spricht gegen die Einrichtung eines Haftungsfonds für Fälle der gentechnischen Verunreinigung von Produkten, dass sorgfältig handelnde Landwirte oder Unternehmen in einem solchen Haftungsmodell doppelt zahlen würden: zum einen bei der Vornahme von Vorsichtsmaßnahmen und zum anderen bei der Beteiligung am Haftungsfonds. Unter Berücksichtigung all dessen ist zu erwarten, dass ein Haftungsfonds nur eine geringe Akzeptanz bei den zur Einzahlung Verpflichteten genießen wird, worunter die Zahlungsmoral der Einzahlenden und damit gegebenenfalls auch die Liquidität des Fonds zu leiden hätten. Im Ergebnis ist somit auch die Einrichtung eines Haftungsfonds keine ideale Lösung, um dem Landwirt, der durch gentechnische Verunreinigungen geschädigt wurde, die Durchsetzung von Schadensersatzansprüchen zu erleichtern.
cc) Unternehmenshaftung Eine Haftung in Fällen einer gentechnischen Verunreinigung von Produkten könnte auch dahingehend ausgestaltet werden, dass Schadensersatzansprüche allein gegen das einzelne Unternehmen, das den betreffenden gentechnisch veränderten Organismus erstmals in Verkehr gebracht hat, zu richten sind.682 In einem solchen Haftungsmodell bräuchte der Geschädigte nur das Unternehmen zu verklagen, das den gentechnisch veränderten Organismus entwikkelt und erstmals in Verkehr gebracht hat. Die für eine solche Regelung bestehende Notwendigkeit, eine gentechnische Verunreinigung einem Unternehmen zuzuordnen, ist dabei kein Problem. Denn im Rahmen der Überprüfung einer gentechnischen Verunreinigung wird zwangsläufig bekannt, welcher Art der die Verunreinigung begründende gentechnisch veränderte Organismus ist und welches Unternehmen diesen entwickelt und vertreibt. Im Rahmen einer solchen Regelung würden der nach dem ersten Haftungsmodell bestehende Kosten- und Zeitaufwand und aus Beweisschwierigkeiten resultierende Prozessrisiken nicht bestehen und auch die Ungerechtig-
682 Dazu, dass die Hersteller in die Haftung miteinbezogen werden sollten siehe auch Winter in seiner Stellungnahme zur Anhörung des Ausschusses für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft zur Novellierung des Gentechnikrechts am 14.06.2004, im Internet unter: www.keine-gentechnik.de.
9. Kap.: Regelungen zur Ergänzung des eigenen Vorschlags
223
keiten, die mit der Einrichtung eines Haftungsfonds verbunden sind, würden vermieden. Verklagten Unternehmen sollte allerdings die Möglichkeit eröffnet sein, bei ihrem Vertragspartner, dem unmittelbaren Anwender gentechnisch veränderter Organismen, Regress zu nehmen, wenn dieser vorsätzlich oder fahrlässig den Eintritt des Schadens begründet hat. Derartige Regressansprüche könnten vertraglich verankert werden. Positiver Nebeneffekt solcher Regressansprüche wäre zudem, dass die unmittelbaren Anwender gentechnisch veränderter Organismen zu einem sorgfältigen Umgang mit diesen angehalten werden, denn ihnen wird daran gelegen sein, vertragliche Schadensersatzansprüche zu vermeiden. Eine solche Unternehmenshaftung wird dem hier verfolgten Anliegen, dem geschädigten Landwirt möglichst effektive Schadensersatzansprüche zu gewährleisten, am ehesten gerecht.
III. Zusammenfassung:
Haftungsregelung
in ihren
Grundzügen
Der Vorschlag für eine Regelung der Grundzüge von Ansprüchen derjenigen, die durch die gentechnische Verunreinigung ihrer Produkte einen Schaden erlitten haben, kann somit folgendermaßen zusammen gefasst werden: Die richtige Regelungsebene, auf der die Grundzüge von Schadensersatzansprüchen der Geschädigten geregelt werden sollten, ist die Ebene des Gemeinschaftsrechts. Die Schadensersatzansprüche der durch eine gentechnische Verunreinigung Geschädigten sollten außerdem - im Sinne einer Gefährdungshaftung - verschuldensunabhängig bestehen. Und es sollte den Geschädigten die Möglichkeit eröffnet sein, alternativ zur Inanspruchnahme des den Schaden verursachenden Nachbarn als Haftungsschuldner das Unternehmen in Anspruch zu nehmen, das den für den Schaden ursächlich gewordenen gentechnisch veränderten Organismus entwickelt und erstmals in Verkehr gebracht hat.
D. Vorschlag für eine Regelung des Kostenträgers der erforderlichen Überprüfung von Produkten auf gentechnische Verunreinigungen hin
Eine Kennzeichnungspflicht jeglicher nachweisbarer gentechnisch veränderter Organismen im Produkt wird außerdem dazu führen, dass Produkte weitergehend als bislang auf Verunreinigungen hin überprüft werden müssen. Damit werden auch die Kosten der Überprüfung, die schon bei einer Kenn-
224
4. Teil: Eigener Vorschlag
Zeichnungspflicht bis zu einem Schwellenwert von 1% ca. 170 € für jede qualitative PCR und ca. 320 € für jede quantitative PCR betragen682, steigen. Denn die Kosten, die infolge der erforderlichen Überprüfungen der Produkte auf gentechnische Verunreinigungen hin entstehen, sind grundsätzlich umso höher, je niedriger der Prozentsatz der Verunreinigung, die noch aufgefunden werden muss, liegt.683 Bei der Frage, wer diese Kosten zu tragen hat, muss unterschieden werden. Soweit sich bei der Überprüfung eines Produktes eine Verunreinigung mit Anteilen gentechnisch veränderter Organismen bestätigt, müsste der Geschädigte die Kosten der Überprüfung im Rahmen der Schadensersatzklage, die er hinsichtlich des Wertverlusts der Produkte führt, als zusätzliche Forderung geltend machen können. Andernfalls, soweit das überprüfte Produkt keine Anteile gentechnisch veränderter Organismen enthält, hat der Landwirt oder Lebensmittelhersteller die Kosten der Überprüfung selbst zu tragen. Die Entstehung dieser Kosten ist dann als Ausdruck der Entscheidung des gemeinschaftlichen Gesetzgebers für verschiedene Landwirtschaftsformen zu sehen. Eine solche Kostenbelastung bedeutet auch - wie gesehen684 - keinen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsausübungsfreiheit der Betroffenen.
682
Joint Research Centre , Scenarios for co-existence of genetically modified, conventional and organic crops in European agriculture, May 2002, S. 87 f. 683 Vgl. oben in diesem Teil und Kapitel der Arbeit, A. 684 Siehe dazu in diesem Teil der Arbeit, 8. Kap.
Schlussbetrachtung Am Ende dieser Arbeit stehen die Forderung und der Vorschlag einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel. Die Forderung nach einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel stützt sich insbesondere auf das Erfordernis einer Wahlfreiheit der Verbraucher. Eine Wahlfreiheit der Verbraucher setzt die Möglichkeit der Verbraucher voraus, sich in einer - optimalerweise umfassenden Informiertheit über ein Produkt für oder gegen den Kauf des Produktes entscheiden zu können. Die Bedeutungsschwere einer Wahlfreiheit der Verbraucher leitet sich daraus her, dass die Verbraucher erst dadurch in die Lage versetzt werden, als gleichberechtigte Wirtschaftsteilnehmer am Marktgeschehen teilzunehmen, Eigenvorsorge zu betreiben und sich selbst zu bestimmen. Im Zusammenhang mit Lebensmitteln besitzt eine Wahlfreiheit der Verbraucher gesteigerte Bedeutung. Denn Lebensmittel betreffen den Menschen in einer weitestgehend möglichen unmittelbaren Art und Weise. Lebensmittel sind für den Menschen lebensnotwendig und können seine Gesundheit beeinflussen. Die Regelung einer „umfassenden" Pflicht zur Kennzeichnung gentechnisch veränderter und gentechnisch hergestellter Lebensmittel muss außerdem durch ergänzende Regelungen flankiert sein. Insbesondere bedarf es einer Regelung der Haftung für die Fälle, dass Landwirte oder Lebensmittelhersteller, die selbst keine Gentechnik einsetzen, deren Produkte aber gentechnisch verunreinigt wurden, Ersatz ihrer Schäden verlangen können. Und außerdem bedarf es einer Regelung der Koexistenz, damit gentechnische Verunreinigungen in der Landwirtschaft möglichst vermieden werden. Die derzeitige Rechtslage, wonach Lebensmittel, die gentechnisch veränderte Organismen mit einem Anteil von < 0,9% enthalten, und „mit" gentechnisch veränderten Organismen hergestellte Lebensmittel nicht gekennzeichnet werden müssen, ist mit einer so verstandenen Wahlfreiheit der Verbraucher unvereinbar. Mit dieser teilweisen Beschränkung der Kennzeichnungspflicht wird dem Verbraucher die einzige ihm verbleibende Möglichkeit genommen, selbst über den eigenen Umgang mit gentechnisch veränderten und hergestellten Lebensmitteln zu entscheiden und dies im Marktgeschehen zum Ausdruck zu bringen. Ihm wird damit gleichzeitig die Möglichkeit genommen, Eigenvorsorge zu betreiben und sich selbst zu bestimmen. Zudem ist es bedauerlich, dass der gemeinschaftliche Gesetzgeber im Rahmen der Neuregelung des Umgangs mit gentechnisch veränderten Lebensmit-
226
Schlussbetrachtung
teln keine Vorkehrungen dafür getroffen hat, dass beim Einsatz der Gentechnik im Agrar- und Lebensmittelsektor eine Koexistenz der verschiedenen Landwirtschaftsformen gewährleistet ist und Schadensersatzansprüche der durch gentechnische Verunreinigungen geschädigten Landwirte sichergestellt sind. Die Kennzeichnungspflicht sollte außerdem durch eine hoheitliche Verbraucherinformation und -aufklärung ergänzt werden, damit die Verbraucher die Kennzeichnung mit Hintergrundwissen betrachten und verstehen können. Den Verbrauchern muss klar gemacht werden, was sich hinter dem Einsatz gentechnischer Verfahren bei der Lebensmittelherstellung verbirgt und welche Risiken für Mensch und Umwelt damit verbunden sind. Die Anwendung der Gentechnik allgemein und deren Anwendung in der Lebensmittelherstellung sind für den Verbraucher noch sehr unbekannte Bereiche. Eine Aufklärung der Verbraucher ist darüber hinaus noch aus einem anderen Grunde wichtig. Die Anwendung der Gentechnik beinhaltet nämlich die Besonderheit, dass die von der Anwendung ausgehenden Risiken für die Umwelt oder den Menschen sich gegebenenfalls erst lange Zeit nach der Anwendung verwirklichen. Zu diesem Zeitpunkt könnte ein Ausstieg aus der Technologie insbesondere aufgrund zu erwartender Auskreuzungen nur noch schwer möglich sein. Solche langfristigen evolutiven Risiken werden in der Politik, aber auch vom Einzelnen, oft bewusst oder unbewusst verdrängt. Denn es ist leicht, die Verantwortung für ein Handeln zu verdrängen, dessen Folgen räumlich und zeitlich weit entfernt sind. Bei der Anwendung der Gentechnik im Lebensmittel- und Agrarbereich könnte dies in Anbetracht der kaum möglichen Rückholbarkeit einmal freigesetzter gentechnisch veränderter Organismen und der damit verbundenen Unumkehrbarkeit dieses Einsatzes der Gentechnologie zu fatalen Folgen führen. Deshalb sollte die Kennzeichnung durch eine breite Information der Verbraucher flankiert sein, so dass die Verbraucher in der Lage sind zu entscheiden, ob sie gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellte Lebensmittel trotz der damit verbundenen Risiken konsumieren wollen. Aus den genannten Unwägbarkeiten, die die Anwendung der Gentechnik im Lebensmittel- und Agrarsektor mit sich bringt, ist dem Gesetzgeber allgemein bei der Regelung einer Anwendung der Gentechnik ein vorsichtiges und besonnenes Vorgehen anzuraten. Er muss sich darüber bewusst sein, dass die Weichen für eine Anwendung der Gentechnik jetzt gestellt werden und gegebenenfalls später nicht mehr umzustellen sind. Die mit der Verordnung
über genetisch
veränderte
Lebens- und Futtermit-
tel begründete Rechtslage bedeutet eine Fortsetzung der derzeitigen unbefriedigenden Situation, in der die Mehrheit der Verbraucher die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung ablehnt, sie aber bereits jetzt unbewusst Produkte konsumieren, die unter Anwendung gentechnischer Verfahren hergestellt sind. Höchst unerfreulich ist schließlich, dass den Verbrauchern damit die Anwendung der Gentechnik heimlich untergeschoben wird,
Schlussbetrachtung
um im Nachhinein - bei der Frage, ob Gentechnik in der Lebensmittelherstellung eingesetzt werden soll - darauf verweisen zu können, dass gentechnische Verfahren längst eingesetzt werden und die Entwicklung nicht mehr umzukehren ist. Eine Gesetzgebung, die ein solches Vorgehen zulässt und unterstützt, verspielt in einem erheblichen Maße das Vertrauen der Verbraucher. Natürlich kann es sein, dass die hier im Zusammenhang mit gentechnisch veränderten und gentechnisch hergestellten Lebensmitteln eingeforderte Verwirklichung von Verbraucherschutzrechten schon bald nach Einführung der Gentechnik obsolet wird. Dann nämlich, wenn die Verbraucher gentechnisch veränderte und gentechnisch hergestellter Produkte auf breiter Ebene akzeptieren. Im Moment aber lehnt die Mehrheit der Bevölkerung die Anwendung der Gentechnik in der Lebensmittelherstellung ab und dies sollte gerade bei der Regelung von Kennzeichnungspflichten entsprechend berücksichtigt werden.
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Sachwortregister Antibiotikaresistenz 31 f., 49, 57 f. Auskreuzung 41, 43, 50 ff, 59, 195
Grundrecht auf Informationsfreiheit 105 ff, 173 Grundrecht auf Leben und körperliche
Beweiserleichterung 204, 217 ff.
Unversehrtheit 114 f.
Beweislastumkehr 219 f.
Grundrecht auf Religions- und Welt-
Cartagena Protokoll 175 ff. Codex Alimentarius 176 f.
Grundrecht auf Selbstbestimmung
Diskriminierungsverbot 94
Haftung 195, 202 ff, 206 ff, 212 f.
anschauungsfreiheit 112 ff.
DNA 28 ff, 36, 53, 55 f., 64 f., 67 f., 159 ff.
111 f.
- deliktisch 208 ff - gesamtschuldnerisch 207 - nachbarschaftsrechtlich 208 f.
Enzym 22, 30 f., 33 ff, 64, 70, 75 f.,
- verschuldensunabhängig 217 f.
161 ff Erkennungsmarker 49, 80 Etikettierungsrichtlinie 63, 66, 71 Europäische Charta der Grundrechte 88 f., 96, 105, 112 f., 132, 164, 173 f.
Haftungsfonds 220
Europäische Menschenrechtskonvention 88, 89 f, 91, 105
Inverkehrbringen 57, 61 f., 74, 80 ff,
Haftungsschuldner 208 f., 217 ff. Horizontaler Gentransfer 48 f. Inländergleichbehandlung, Gebot der 183 ff, 186 ff. 219 Irreführung der Verbraucher 71 ff,
Freisetzung 46, 49 ff, 57 Freisetzungsrichtlinie 57, 61 ff, 206,
141 f. 192 Irreführungsverbot 71
211,213 Kausalität 203 ff, 206 f., 210, 218 f. GATT 178 f., 183 f., 185 ff.
Kausalitätsvermutung 219
Gefährdungshaftung 217, 223
Kennzeichnung
Gentechnikgesetz 81 f., 206 ff.
- verfahrensbezogen 63, 77 f., 143 , 152 ff
Gentechnisch veränderte Mikroorganismen 27, 32 ff. Gleichartige Ware 183, 186 Grundfreiheiten 85 ff, 88, 91 , 93 ff
100
- merkmalsbezogen/ nachweisbezogen 63 f., 77, 142, 155 Kennzeichnungslücke 78 ff, 111 Koexistenz 81, 194, 198 ff, 225
Grundrecht auf Berufsfreiheit 164 ff, 169
Meistbegünstigungsverpflichtung 183
Sachwortregister Nachweisverfahren 64 f., 79, 82, 159 ff. Negativ-Kennzeichnung 69 ff. Neuartige Lebensmittel 62 f.
239
Staatshaftung 210 Schwellenwert 67 ff., 78 ff., 109, 122, 152, 155, 169 f., 177 f. Standortregister 81
Neuartige Lebensmittel- und Lebensmittelzutaten-VO (NLV) 69 ff. Nichtdiskriminierungsgebot 183 f.,
Technikfolgenabschätzung 47 ff. Technische Vorschrift 180 ff.
186 Novel Food-Verordnung 62 f f , 66
Umwelthaftung 209 f. Unternehmenshaftung 222 f.
Polymerasen-Kettenreaktion (PCR) 64, 159 ff., 165,224 Process and production methods (PPMs) 181, 187, 192
Verbraucherinformation 122, 130 f., 133, 139, 141 ff, 152, 171, 173,226 Verbraucherleitbild 72, 133
Protein 29, 45, 56, 67 f., 121, 159
Verbraucherschutz 130 ff, 139, 140 ff, 144 f., 158, 166 ff, 171
Risiken 27 ff., 46 ff.
Verursacherprinzip 201, 221
- evolutionäre 48 f.
Verwilderung 50 ff
- ökologische 46 ff.
Vorsorgeprinzip 98, 116 ff.
- wirtschafts- und gesellschaftspolitische 58 f. - gesundheitliche 53 ff.
Wahlfreiheit 123 f., 129 ff, 168 ff, 179, 225
Risikovergleich 47 ff.
Warenstrombegleitende Dokumentati-
Saatgut 24
Working Party on Border Tax Adjust-
on 77, 80 f., 160, 163 Schadensersatzanspruch 203 ff. Selbstbestimmung 111 f., 125, 136 ff.
ments 184, 189 f.