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German Pages 326 Year 2014
Christiane Lahusen Zukunft am Ende
Histoire | Band 52
Christiane Lahusen (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neueste und Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin.
Christiane Lahusen
Zukunft am Ende Autobiographische Sinnstiftungen von DDR-Geisteswissenschaftlern nach 1989
Gedruckt mit Unterstützung der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2014 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat: Christiane Lahusen Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-2585-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einleitung | 9 1 Erzählung und Gegenerzählung: Einführung | 9 2 Von der Welt- zur Selbstbeschreibung: die Quellen dieser Arbeit | 13 3 Der Streit um die richtige Erinnerung: geschichtspolitischer Kontext | 19 4 Autobiographie als Gattung, Quelle und narrative Sinnstiftung: theoretische Ausgangspunkte | 25 5 Problemstellung und Auf bau der Arbeit | 34 6 Forschungsstand | 37 7 Kurzvorstellung der Protagonisten | 45 Gestern. Erzählungen vom Ankommen | 53 1 Vom Wandel des Gegenübers: Einführung | 53 2 Konversionserzählungen | 55 3 Davor: Faschismus | 62 3.1 Erzählungen von der Kontinuität im Wandel | 63 3.2 Erzählungen von der Zäsur | 69 3.3 Kontinuität im Wandel – Zäsur in der Kontinuität | 79 4 Dazwischen: Ankunft im guten Leben | 81 4.1 Politisierung: Der Blick zurück | 81 4.2 Staatssozialismus | 89 4.3 Gründungsmythos DDR | 92 4.4 Partei ergreifen | 94 5 Danach: Das gute Leben | 96 5.1 Der Weg in die Wissenschaft | 96 5.2 Wissenschaft als Ich-Kontinuität | 101 6 Konversion zur Wissenschaft: Fazit | 105
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II Heute. Erzählungen von der besseren Hälfte | 109 1 Autobiographen als geschichtspolitische Akteure: Einführung | 109 2 Geschichte erinnern und nutzen | 113 3 In moralischer Opposition – das dominierende Bild | 124 3.1 Vom Verschwinden des eigenen Lebens | 129 3.2 Vom »Haß« der Mächtigen | 131 4 Die andere Seite der Geschichte | 135 4.1 »Man merkte direkt so gut wie nichts« – der 17. Juni 1953 | 137 4.2 Der Mauerbau als »Veränderung des Grenzregimes« | 145 4.3 Die Staatssicherheit: Das Leben von allen | 157 4.4 Der Blick nach Westen | 170 4.5 Die Wahrheit der Wissenschaft | 178 5 Die bessere Hälfte: Fazit | 202
III Morgen. Erzählungen von der verschwundenen Zukunft | 207 1 2 3 4
Zäsurerfahrung und Zukunftsaneignung: Einführung | 207 ›Objektive‹ Zäsuren | 212 Vitale Zeitordnungen | 216 ›1989‹ und die Zukunft | 220 4.1 Die Welt stürzt ein | 220 4.2 Vom Scheitern der Hoffnungen | 223 5 Vom Ende und Anfang der Zukunft | 227 5.1 Erste Erschütterungen | 229 5.2 ›1961‹ und ›1968‹: »Katalysator für erneutes Nachdenken« | 234 5.3 Von Ulbricht zu Honecker: Der Verlust der Zukunft | 239 5.4 Rückzug in die Wissenschaft – eine »wunderbare Zeit«? | 241 5.5 Zurück in die Zukunft | 248 6 ›1989‹ als Umschlagplatz von Zukunftsorientierungen: Fazit | 256
IV Résumé. Erzählungen vom guten Leben | 261 Abkürzungsverzeichnis | 275 Quellen- und Literaturverzeichnis | 277 Anhang. Nachwende-Autobiographien | 311 Dank | 323
Und wenn es auch nicht so werden würde, wie wir es erhofft hatten, so änderte dies doch an der Hoffnung nichts. Die Hoffnungen würden bleiben. Die Utopie würde notwendig sein. Peter Weiss, Ästhetik des Widerstands
Einleitung 1 E RZ ÄHLUNG UND G EGENERZ ÄHLUNG : E INFÜHRUNG Die meisten Menschen sind im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler.1
»Wir haben keine Vorstellung davon, wie eine Kultur aussehen würde, in der man nicht mehr wüßte, was Erzählen heißt.«2 In der Tat sind Erzählungen überall, ist »ihre Menge unüberschaubar«3. Folgerichtig hat sich im späten 20. Jahrhundert der Begriff des Menschen als homo narrans entwickelt,4 der schon immer »in Geschichten verstrickt«5 ist. Erzählungen und Narrative6 sind prinzipielle Ordnungsmuster für das Erzeugen 1 | MUSIL, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek 1987, Bd. 1, S. 650. 2 | RICOEUR, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. II: Zeit und literarische Erzählung, München 1989, S. 51. 3 | BARTHES, Roland: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a.M. 1988, S. 103-143, hier S. 103. 4 | Er geht zurück auf Arbeiten des Kommunikationswissenschaftlers Walter Fisher, dem zufolge Menschen sich auf ihre Umwelt und auf sich selbst weniger durch reine Beobachtung und rationale Erwägung, als durch das Erzählen glaubhafter Geschichten beziehen. Vgl. FISHER, Walter: Human Communication as Narration. Columbia 1987. Vgl. dazu auch: SCHMIT T, Christoph (Hg.): Homo narrans: Studien zur populären Erzählkultur. Münster 1999. 5 | SCHAPP, Wilhelm: In Geschichten verstrickt – Zum Sein von Mensch und Ding. Frankfurt a.M. 1985. 6 | Als Narrative können zunächst im Anschluss an Fludernik Texte bezeichnet werden, in denen aufeinander bezogene Handlungen und Ereignisse in zeitlicher Abfolge dargestellt werden: Vgl. FLUDERNIK, Monika: Erzähltheorie. Eine Einfüh-
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und Vermitteln von Wissen, für Orientierungen in Gegenwart und Vergangenheit, für Sinnerzeugung 7 – sie sind das Grundmuster der kulturellen Gestaltung von Gesellschaft.8 Eine spezielle Variante dieses Grundmusters steht im Mittelpunkt dieses Buches: die Autobiographie als das Erzählen von sich selbst im öffentlichen Raum. Damit ist bereits eine entscheidende Besonderheit dieser Textgattung benannt: Bei Autobiographien handelt es sich um Erzählungen, die sich mit ihrer Publikation gezielt an die Öffentlichkeit wenden, um Verbreitung zu finden und am gesellschaftlichen Diskurs zu partizipieren. Dabei setzen die Autoren die eigene Biographie in Bezug zur Gesellschaft, in der sie leben, womit zwei Spielarten des Erzählens zusammentreffen: die Erzählung des Selbst und die Erzählung der Gesellschaft.9 Autobiographien dienen dem Erzähler dazu, sich selbst in seiner historisch-sozialen Umgebung zu verorten, sie dienen aber zugleich dazu, diesen historisch-sozialen Bezugsrahmen seinerseits erst näher zu definieren. Somit gehören Autobiographien zu den geschichtlichen Narrativen im weitesten Sinn. Wie bei allen Erzählungen erfahren dabei einige von ihnen größere Anerkennung und Aufmerksamkeit als andere, denn rung, Darmstadt 2010, S. 176f. Grundsätzlich zur Erzähltheorie: KOSCHORKE, Albrecht: Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a.M. 2012. Während die Erzähltheorie zunächst eine Domäne der Literaturwissenschaften war, ist seit dem narrative turn und den Arbeiten von Franklin R. Ankersmit, Arthur C. Danto und Hayden White der narratologische Ansatz auch auf wissenschaftliche Erzählungen und auf Erzählungen über Kulturen und Gesellschaften übertragen worden. Vgl. grundlegend: ANKERSMIT, Franklin R.: Narrative Logic: A Semantic Analysis of the Historian’s Language, Groningen 1981; DANTO, Arthur C.: Narration and Knowledge. New York 1985; WHITE, Hayden: Metahistory: The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1983. 7 | SONNENSCHEIN, Ulrich/MENTZER, Alf: Alles ist Geschichte – Erzählen ist immer und überall, in: 22 Arten, eine Welt zu schaffen. Erzählen als Universalkompetenz, hg. v. Alf Mentzer u. Ulrich Sonnenschein, Frankfurt a.M. 2008, S. 11-18, hier S. 12. Siehe auch RÜSEN, Jörn: Zeit und Sinn. Strategien historischen Denkens, Frankfurt a.M. 1990. 8 | SCHÖNERT, Jörg: Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie. In: Geschichtsdarstellung, hg. v. Vittorio Borsò u. Christoph Kann, Köln 2004, S. 131-144, hier S. 131. 9 | Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, S. 25.
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das narrative Grundmuster einer Gesellschaft ist nicht von gleichmäßiger Webart, sondern weist in allen Teilbereichen Stränge auf, die deutlich hervortreten und oft als ›Meistererzählung‹ umschrieben werden.10 Solche dominanten Narrative sind häufig Anlass von Auseinandersetzungen, wobei sie sich keineswegs als statisch erweisen, sondern in komplexen Aushandlungsprozessen fortwährend modifiziert, transformiert oder aber auch bestätigt werden. Besonders augenfällig wird dies an Narrativen, die eine Vielzahl von Menschen betreffen und somit auch eine Vielzahl von Perspektiven zulassen. Ein sich herauskristallisierendes dominantes Narrativ kann aber nicht alle Blickwinkel berücksichtigen und vernachlässigt mithin einen nicht unerheblichen Teil von ihnen, weshalb sich in ihm keineswegs alle Beteiligten wiederfinden können. Der Kampf um ›die richtige Erzählung von der DDR‹, der auch mehr als zwanzig Jahre nach ihrem Zusammenbruch regelmäßig an den unterschiedlichsten Punkten neu entflammt und in einem Zusammen- und Wechselspiel von öffentlicher Erinnerung, staatlicher Gedenkpolitik und historischer Wissenschaft stattfindet, ist beispielhaft für solche komplexen Aushandlungsprozesse. Da in diesem Konflikt zahlreiche Zeitzeugen mit ihren Autobiographien eine entscheidende Rolle einnehmen, eignet sich diese Textgattung im besonderen Maße für eine Untersuchung über Erzählungen und Gegenerzählungen, die zugleich Erzeuger sowie Erzeugnisse des Ordnungsmusters »Zeitgeschichte« sind. Damit ist der Kontext dieser Studie umrissen: Im Zentrum stehen sechs Autobiographien, die von ehemaligen DDR-Geisteswissenschaft10 | Ein master narrative oder eine Meistererzählung bezeichnet »die in einer kulturellen Gemeinschaft zu einer gegebenen Zeit dominante Erzählweise des Vergangenen«, also »eine kohärente, mit einer eindeutigen Perspektive ausgestattete und in der Regel auf den Nationalstaat ausgerichtete Geschichtsdarstellung, deren Prägekraft nicht nur innerfachlich schulbildend wirkt, sondern öffentliche Dominanz erlangt.« Vgl.: JARAUSCH, Konrad H./SABROW Martin: ›Meistererzählung‹ – Zur Karriere eines Begriffs. In: Historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, hg. v. dies., Göttingen 2002, S. 9-32, hier S. 16/17. Vgl. zudem MIDDELL, Matthias (Hg.): Zugänge zu historischen Meistererzählungen. Leipzig 2000. Vgl. zur Begriffsgeschichte: THIJS, Krijn: Vom ›master narrative‹ zur ›Meistererzählung‹? Überlegungen zu einem Konzept der narrativen Hierarchie, in: Sinnstiftung durch Narration in Ost-Mittel-Europa. Geschichte-Literatur-Film, hg. v. Alfrun Kliems u. Martina Winkler, Leipzig 2005, S. 21-53.
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lern nach dem Ende der DDR verfasst wurden. Ihre Besonderheit besteht in der Doppelrolle, die sie als Zeitzeugen und Wissenschaftler beanspruchen. Diese Erinnerungen werden auf narrative Selbstdeutungen hin untersucht, die gleichzeitig als subjektive und gesellschaftliche Sinnstiftungsprozesse aufgefasst werden sollen. Sie werden anhand dreier thematischer Schwerpunkte analysiert, die hier nur kurz angerissen und im Verlauf der Einleitung weiter entwickelt werden: Ausgehend von der Zäsur11 von 1989/90 geht es erstens um die narrative Identitätskonstruktion12 der Autobiographien angesichts des durchlebten historischen Wan11 | Der Begriff ›Zäsur‹ wird im Sinne eines markanten Punktes, eines sichtbaren Einschnittes in der geschichtlichen Entwicklung verwandt, vgl. SABROW, Martin: Zäsuren in der Zeitgeschichte, in: Zeitgeschichte. Konzepte und Methoden, hg. v. Frank Bösch u. Jürgen Danyel, Göttingen 2012, S. 109-130. ›Umbruch‹ sowie ›Bruch‹ werden synonym für ›Zäsur‹ gebraucht. Ausführlich dazu Kap. III dieses Buches. 12 | Es kann an dieser Stelle nicht auf die verschiedenen Identitätstheorien und ihre Kritik eingegangen werden; aufgegriffen wird das Definitionsangebot von Heiner Keupp: »Identität ist ein Projekt, das zum Ziel hat, ein individuell gewünschtes oder notwendiges ›Gefühl von Identität‹ (sense of identity) zu erzeugen. Basale Voraussetzungen für dieses Gefühl sind soziale Anerkennung und Zugehörigkeit. […] Alltägliche Identitätsarbeit hat die Aufgabe, die Passungen (das matching) und die Verknüpfungen unterschiedlicher Teilidentitäten vorzunehmen. Qualität und Ergebnis dieser Arbeit findet in einem machtbestimmten Raum statt, der schon immer aus dem Potential möglicher Identitätsentwürfe bestimmte behindert beziehungsweise andere favorisiert, nahe legt oder gar aufzwingt. Qualität und Ergebnis der Identitätsarbeit hängen von den Ressourcen […] einer Person ab, von individuell-biographisch fundierten Kompetenzen über die kommunikativ vermittelten Netzwerkressourcen bis hin zu gesellschaftlich-institutionell vermittelten Ideologien und Strukturvorgaben.« Vgl. KEUPP, Heiner: Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung, in: Identitätsarbeit heute. Klassische und aktuelle Perspektiven der Identitätsforschung, hg. v. ders.u. Renate Höfer, Frankfurt a.M. 1997, S. 11-39, hier S. 34. Identitätsarbeit ist also abhängig von sozialer bzw. gesellschaftlicher Akzeptanz und das »Potential möglicher Identitätsentwürfe« entspricht weitestgehend den außerhalb der individuellen Wahrnehmung wirkenden Codes der kollektiven Identität. Zudem hat Jan Assmann darauf hingewiesen, dass Identität in besonderem Maße eine Sache des Bewusstseins ist und dass dies nicht nur für individuelles, sondern auch kollektives Leben gilt. Vgl. ASSMANN, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politi-
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dels und die Rolle, die präformierte Erzählmuster dabei spielen. Zweitens wird nach der narrativen (Selbst-)Verortung gefragt, mit der sich die Autobiographen als Erinnerungsakteure in den umstrittenen Diskurs zur DDR einbringen. Drittens befasst sich die Arbeit mit der temporalen Struktur der Autobiographien und rückt damit die Frage in den Fokus, wie die Autoren in ihrer Erinnerung vergangene und gegenwärtige Zukunftserwartungen modulieren.
2 V ON DER W ELT- ZUR S ELBSTBESCHREIBUNG : DIE Q UELLEN DIESER A RBEIT Die Quellengrundlage ist Teil einer unzähligen Menge an Lebenserinnerungen, die im Anschluss an den Systemzusammenbruch entstanden sind und deren Strom bis heute nicht abreißt. Diese Masse der veröffentlichten Lebenserinnerungen lässt auf einen grundsätzlichen Zusammenhang von erfahrenem Wandel und Autobiographie schließen, insofern der Wandel die Niederschrift der eigenen Lebensgeschichte erst motiviert hat.13 Eine Erklärung für diese Korrelation von Zäsur und Autobiographie bietet der niederländische Historiker Jan Romein, der bereits 1948 in seinen Betrachtungen über die Biographie als Kunstform feststellt: »Immer dann, wenn der Mensch zu zweifeln beginnt, d.h. wenn alte Werte wanken, neue aber erst noch gebildet werden müssen, ist die Regsamkeit im biographischen Bereich besonders groß.«14 Und als eine »wankende« Zeit lassen sich die Jahre um 1989 herum fraglos beschreiben: Die radikalen Veränderungen traten in einem Moment ein, als bereits mehrere Generationen in die deutsche Zweistaatlichkeit hineingewachsen waren und ihre Leben mit einem der beiden Systeme verwoben hatten – im Falle der Autobiographen mit der DDR. Zwar bedeutete der Umsturz nicht für sche Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 130. Im Folgenden wird dieses Konzept noch um seinen narrativen Aspekt erweitert. 13 | Vgl. ausführlicher zu diesem Zusammenhang: PREUSSER, Heinz-Peter/ SCHMITZ, Helmut (Hg.): Autobiographie und historische Krisenerfahrung. Heidelberg 2010; LAHUSEN, Christiane: Umbrucherzählungen in Nachwendeautobiographien. In: BIOS 2/2010, S. 256-266. 14 | ROMEIN, Jan: Die Biographie. Einführung in ihre Geschichte und ihre Problematik, Bern 1948, S. 28.
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alle lebensgeschichtlichen Situationen einen identischen Veränderungsdruck, doch gerade diese heterogenen Verhältnisse zwischen historischer und biographischer Zäsur führten zu einem immensen Bedürfnis nach individueller wie kollektiver Orientierung und historischer Selbstvergewisserung,15 das sich nicht zuletzt in der regen Betriebsamkeit im Feld der Autobiographie ausdrückte und ausdrückt. Die (gefühlte) Kontingenz der Lebenszusammenhänge hat also eine Auswirkung auf die Entstehung von Autobiographien, bietet sich damit doch eine Möglichkeit an, diese in Unsicherheit geratenen Selbstverständnisse narrativ zu bewältigen. Damit lässt sich ein Zusammenhang von Zäsur und Autobiographie konstatieren und von der »Geburt der Autobiographie aus der Erfahrung der Selbstentfremdung«16 sprechen. Biographische Unsicherheit führt demnach zu einem gesteigerten Selbsterklärungsaufwand. Um weiterhin eine eigene Identität auszuweisen (oder herzustellen), rückt die eigene Biographie als Lebensnarration in den Fokus: »Biographie als Selbstidentifikation gewinnt da ihre besondere Bedeutung, wo die historischen Umstände die Kontingenz des individuellen Daseins dramatisieren. Das kann seinen Grund in katastrophenartigen Veränderungen der bestehenden Ordnung haben.«17 Der Entschluss zur Autobiographie kann als Reaktion auf eine krisenhafte Infragestellung von Identität verstanden werden, und zwar eine Infragestellung, die sich aus dem zeithistorischen Kontext, aus der Erfahrung von schlagartigem Wandel ergibt. Verstärkte Selbstvergewisserung erfolgt in dem Moment, in dem jemand abrupt aus seinen biographischen und historischen Zusammenhängen gerissen wird: Zäsur und Kontingenzerfahrung sind die Wurzeln des Autobiographischen – ein Zusammenhang, der sich hier durch den Umbruch von 1989 zeigt.18 15 | Vgl. DEPKAT, Volker: Lebenswenden und Zeitenwenden. Deutsche Politiker und die Erfahrungen des 20. Jahrhunderts (=Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 18), München 2007, S. 13f. 16 | HAHN, Alois: Konstruktionen des Selbst, der Welt und der Geschichte. Aufsätze zur Kultursoziologie, Frankfurt a.M. 2000, S. 11. 17 | ASSMANN, Jan: Sepulkrale Selbstthematisierung im alten Ägypten. In: Selbstthematisierung und Selbstzeugnis: Bekenntnis und Geständnis, hg. v. Alois Hahn u. Volker Kapp, Frankfurt a.M. 1987, S. 208-232, hier S. 212. 18 | Kontingenzbewältigung als anthropologischer Erklärungsversuch – Menschen versuchen, durch das Erählen von Geschichten ihre Lebenswirklichkeit in einen für sie (und andere) begreiflichen Gesamtzusammenhang einzuordnen, weil
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Als die autobiographische Welle Anfang der 1990er Jahre einsetzte und dem Buchmarkt zahlreiche Erinnerungstexte bescherte, meldeten sich in ihnen zunächst vor allem die Opfer der SED-Herrschaft zu Wort, die nicht nur informieren, sondern auch anklagen wollten.19 Ihre Erinnerungen wurden zum Bestandteil einer öffentlichen Debatte um Rehabilitierung und angemessene Entschädigung. Kurz darauf erschienen in großem Umfang auch die Lebenserinnerungen ehemaliger DDR-Funktionäre: Zehn der 25 Mitglieder des SED-Politbüros publizierten Autobiographien, Hans Modrow und Egon Krenz mit wenigen Jahren Abstand sogar mehrfach. Doch auch Künstler, Dichter, Schauspieler, Sportler und ›ganz normale‹ Menschen veröffentlichten seit dem Systemumbruch ihre Autobiographien, deren Menge nach wie vor stetig wächst.20 Einen kleinen Teil dieser Erinnerungstexte verfassten ehemalige DDR-Geisteswissenschaftler. Bei der Auswahl wurden dabei ausschließlich »erzählende« Autobiographien berücksichtigt, bei denen das Ganze des Lebens bis zum Zeitpunkt der Niederschrift in den Blick genommen, chronologisch geordnet und schriftlich zu einer in sich geschlossenen Erzählung gestaltet wird.21 Konkret geht es um die Autobiographien von sie die Vorstellung, Gesetzmäßigkeiten ohne tieferen Bezug auf ihr Dasein ausgeliefert zu sein, nicht ertragen – ist freilich bei weitem nicht die einzige Funktion von Erzählungen. Sie können ebenfalls in den Dienst des Abbaus von Sinnbezügen gestellt werden, etwa durch die Demontage von hegemonialen Sinnzwängen. Vgl. KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, S. 11. 19 | Vgl. hierzu und ff.: LINKS, Christoph: Gibt es für Ostdeutschlandstudien einen Markt? Erfahrungen eines Verlegers, in: Initial – Berliner Debatte, 26.05.2003. 20 | Hinzu kommen autobiographische Interviewbände, vgl.: ARP, Agnès/LEO, Annette: Mein Land verschwand so schnell … 16 Lebensgeschichten und die Wende, Weimar 2009; HECHT, Arno: Enttäuschte Hoffnungen. Autobiographische Berichte abgewickelter Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands, Berlin 2008; HERZBERG, Guntolf/MEIER, Klaus (Hg.): Karrieremuster. Wissenschaftlerporträts, Berlin 1992; KAPFERER, Norbert (Hg.): Innenansichten ostdeutscher Philosophen. Darmstadt 1994; MAIER, Erika: Einfach leben. Hüben wie drüben. Zwölf Doppelbiographien, Berlin 2007; SCHUG, Alexander/SIEBECK, Cornelia/THOMAS, Alexander: Verlorene Zeiten? DDR-Lebensgeschichten im Rückblick – eine Interviewsammlung, Berlin 2009. 21 | Vgl. LEHMANN, Jürgen: Bekennen – Erzählen – Berichten. Studien zu Theorie und Geschichte der Autobiographie, Tübingen 1988, S. 54-87. Dieses Kriterium
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Herbert Hörz22 (Philosoph, *1933), Wolfgang Jacobeit 23 (Ethnologe, *1921), Fritz Klein24 (Historiker, 1924-2011), Eckart Mehls25 (Historiker, *1935), Werner Mittenzwei26 (Theater- und Literaturwissenschaftler, *1927) und Kurt Pätzold 27 (Historiker, *1930). Im letzten Teil der Einführung werden die Viten der Protagonisten skizziert. Die Autobiographien dieser Autoren weisen eine Besonderheit auf, insofern sie die Doppelrolle beanspruchen, sowohl als Zeitzeugen wie auch als Wissenschaftler zu schreiben. In ihren Texten treffen sich einerseits Aussagen von Persönlichkeiten, die das Leben in der DDR, die historische Zäsur von 1989 sowie die Erfahrungen in der für sie neuen Bundesrepublik aus der Warte vermeintlich objektivierender Wissenschaftlichkeit beobachten; ihre Selbstsicht ist dabei stark von einem fachlich kontrollierten Wahrheitsanspruch geprägt.28 Andererseits sind ihre Lebensgeschichten als Formen narrativer Sinnstiftung im Prozess des Sich-selbst-Erzählens schloss einige Texte aus, die zwar im weiteren Sinne auch autobiographische Projekte darstellen, nicht aber in der Definition, die dieser Arbeit zugrunde liegt. Ein weiteres Auswahlkriterium war, dass die Autobiographen zum Zeitpunkt der ›Wende‹ noch in der DDR gelebt haben müssen. Die Texte, die durch diese Kriterien ausgeschlossen wurden, finden sich im Anhang dieser Arbeit, wo alle Autobiographien aufgelistet sind, die auf ihre Schreibmotivation hin analysiert wurden (vgl. Anmerkung 50/Einleitung). Die Autobiographie des Historikers Jan Peters stimmt mit den Kriterien dieser Arbeit überein, erschien allerdings, als sie nahezu abgeschlossen war; sie wurde nur noch auf ihre Schreibmotivation hin untersucht. 22 | HÖRZ, Herbert: Lebenswenden. Vom Werden und Wirken eines Philosophen vor, in und nach der DDR, Berlin 2005. 23 | JACOBEIT, Wolfgang: Von West nach Ost – und zurück. Autobiographisches eines Grenzgängers zwischen Novation und Tradition, Münster 2000. 24 | KLEIN, Fritz: Drinnen und Draußen. Ein Historiker in der DDR. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 2000. 25 | MEHLS, Eckart: Unzumutbar. Ein Leben in der DDR, Berlin 1998. 26 | MIT TENZWEI, Werner: Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit, Leipzig 2004. 27 | PÄTZOLD, Kurt: Die Geschichte kennt kein Pardon. Erinnerungen eines deutschen Historikers, Berlin 2008. 28 | Vgl. hierzu ausführlich Kap. II/4.5 dieser Arbeit. Vgl. außerdem SABROW, Martin: Der Historiker als Zeitzeuge. Autobiographische Umbruchsreflexionen deutscher Fachgelehrter nach 1945 und 1989, in: Verletztes Gedächtnis. Erin-
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immer auch subjektive Biographieentwürfe. Untersucht werden mit diesen Texten also Selbst- und Weltbeschreibungen von Personen, die sich beruflich einer wissenschaftlichen Darstellung der Wirklichkeit verschrieben haben. Dabei waren sie Teil der sozialistischen Deutungselite29 der DDR, genossen aber gegenüber den Partei-Funktionären keine funktionale Selbstständigkeit: Im Staatssozialismus waren Wissenschaft und Politik als dialektische Einheit gedacht.30 Alle Protagonisten dieser Untersuchung waren erfolgreich im System verankert; sie galten als Akteure, die aktiv an der offiziellen Geschichtskonstruktion der DDR mitwirkten. Dies erklärt möglicherweise, dass nach der ›Wende‹ in dieser Berufsgruppe ein starkes Bedürfnis nach narrativer Selbstverortung herrschte: Immerhin lassen sich bei DDRGeisteswissenschaftlern mehr publizierte Lebenserinnerungen finden als bei DDR-Naturwissenschaftlern. Letztere betrachten sich selbst und ihre Forschung als weitgehend systemunabhängig, weshalb die wenigen Autobiographien aus den Federn von Naturwissenschaftlern kaum gesellschaftliche Fragen streifen.31 Die Geisteswissenschaftler wiederum nerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, hg. v. Konrad Jarausch u. Martin Sabrow, Frankfurt a.M. 2002, S. 125-152, hier S. 145f. 29 | Wissenschaftler als Deutungselite – ein Anspruch, den sie durch das Verfassen ihrer Autobiographie auch weiterhin reklamieren: Allein die Tatsache, dass jemand eine Autobiographie schreibt und veröffentlicht, macht ihn zum Mitglied einer Deutungselite. Der Autobiograph deutet nicht nur sich selbst, sondern auch den Mitlesenden das eigene Leben und die eigene Zeit aus. Damit werden Deutungsmuster angeboten, in denen sich auch Lesende mit ihren eigenen Lebens- und Geschichtserfahrungen wiederfinden können. Vgl. DEPKAT, Lebenswenden, S. 45. 30 | Vgl. hierzu: KOCKA, Jürgen: Wissenschaft und Politik in der DDR. In: Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch. Interdisziplinäre Arbeitsgruppe Wissenschaften und Wiedervereinigung, hg. v. ders.u. Renate Mayntz, Berlin 1998, S. 435-459, hier S. 438; vgl. ausführlicher zur Wissenschaft in der DDR Kap. II/4.5. 31 | Vgl. hierzu: JAKOBS, Silke: »Selbst wenn ich Schiller sein könnte, wäre ich lieber Einstein«. Naturwissenschaftler und ihre Wahrnehmung der »zwei Kulturen«, Frankfurt a.M. 2006. Eine Ausnahme stellt der Graphomane Manfred von Ardenne dar: Der Physiker veröffentlichte in den Jahren 1972, 1988, 1990 und 1997 ganze vier Autobiographien, zusätzlich existiert die sogenannte »Urfassung« (vgl. Anhang der Arbeit). Alle diese Texte gleichen sich im Wortlaut weitgehend – aber
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lassen sich über die soziale Rolle, die sie als Intellektuelle ausfüllen, als Gruppe fassen: Sie besteht nicht in erster Linie darin, dass sie bestimmte Führungspositionen bekleideten, sondern vielmehr darin, dass sie als Deutungselite und Intellektuelle anzusehen sind, die den jeweiligen gesellschaftlichen Vorrat an Sinn- und Vorstellungswelten formulieren, vermitteln und tradieren32 – wenngleich in der DDR auch unter den speziellen, politischen Bedingungen des SED-Regimes, die in die Analyse einbezogen werden. Eine Rolle bei der Auswahl spielte zudem die Generation, der die Autobiographen angehören: Berücksichtigt wurden die Lebenserinnerungen, deren Protagonisten sich der Kohorte zurechnen lassen, die gemeinhin als HJ-Generation bezeichnet wird und die als die einzige und eigentliche Aufsteigergeneration der DDR gelten kann; dabei wird Generation allerdings nicht als wissenschaftliche Analysekategorie, sondern als Selbstthematisierungsformel verstanden; das heißt, dass sich Menschen einem Kollektiv zugehörig fühlen, das sie für ihr eigenes Selbstverständnis als relevant ansehen und durch das sie sich mit anderen, die sie als gleich oder zumindest ähnlich erachten, verbunden glauben.33 Alle der im folgenden analysierten Lebenserinnerungen sind Anfang der 1920er bis Anfang der 1930er Jahre geboren, waren also bei Kriegsende zwischen 12 und 24 Jahre alt. Mit Dorothee Wierling lässt sich festhalten, dass aus dieser Gruppe »die neuen Basiseliten der DDR rekrutiert wurden«; sie stiegen in die »gebildeten Schichten« der DDR auf und eben nur weitgehend – und sind jeweils um weitere Lebensjahre ergänzt. Die Änderungen, die er vornimmt, dienen beispielsweise der Eigenrevision in Bezug auf sein Verhältnis zur Staatsmacht. Sie wurden von Gerhard Barkleit im Rahmen einer biographischen Studie analysiert. Vgl. BARKLEIT, Gerhard: Manfred von Ardenne. Selbstverwirklichungen im Jahrhundert der Diktaturen, Berlin 2006, S. 311-330. 32 | SCHELSKY, Helmut: Die Arbeit tun die anderen. Klassenkampf und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975, S. 99ff. Trotz der polemischen Stoßrichtung des Buches ist die grundsätzliche Beschreibung der Position der Intellektuellen innerhalb von Gesellschaften überzeugend und verwendbar. Vgl. zur Intellektuellengeschichte auch: MORAT, Daniel: Intellektuelle und Intellektuellengeschichte. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 20. 11.2011, : https:// docupedia.de/zg/Intellektuelle_und_Intellektuellengeschichte?oldid=84628. 33 | Vgl. hierzu: JUREIT, Ulrike: Generationenforschung. In: Zeitgeschichte, S. 352369, hier S. 353 u. S. 357-364.
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wurden von ihrem Ende getroffen, als sie »Ende 50 bis Mitte 60« waren: »[O]ft sahen sie ihr biographisches Projekt erneut in verletzender Weise negiert.«34 Beim vorliegenden Buch handelt es sich um eine qualitative Studie, die »vom Punktuellen zum Allgemeinen, vom Detail zum Ganzen, von innen nach außen, vom Individuum zur sozialen Gruppe vor[geht].«35 Damit nimmt sie eine erfahrungsgeschichtliche und kulturgeschichtliche Perspektive ein, deren Fragen sich auf die Sinnmuster richten, mit denen die Autobiographen »ihre Welt ausgestattet haben, um sie auf diesem Weg überhaupt erst zu ›ihrer‹ Welt zu machen.«36
3 D ER S TREIT UM DIE RICHTIGE E RINNERUNG : GESCHICHTSPOLITISCHER K ONTE X T Die untersuchten Lebenserzählungen haben gemein, dass sie sich an eine Geschichte erinnern, die höchst umstritten ist. Letztendlich geht es dabei immer um die Frage, welches DDR-Bild, auch im größeren Kontext der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, künftigen Generationen überliefert werden soll und wer am Entwurf dieses Bildes beteiligt sein darf. Diese Auseinandersetzung, die zweifellos auch eine politische Be-
34 | WIERLING, Dorothee: Lob der Uneindeutigkeit. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 3/2008, S. 105. Depkat untersucht eine ähnliche Kohorte, die 1945 ein wenig älter, 20 bis 25 Jahre, waren. Also die, »die die Grundlagen für die zweite deutsche Demokratie legten, die soziale Marktwirtschaft ausgestalteten und die Politik der Westintegration auf den Weg brachten. Ebenso wurde in der DDR das sozialistische Experiment des Arbeiter- und Bauernstaates als Gegenmodell zur Ordnung des Westens von Leuten eingeleitet, die bereits zwischen 1900 und 1933 im politikfähigen Alter gewesen waren – und auf beiden Seiten des »Eisernen Vorhangs« waren es Mitglieder dieser Alterskohorten, die nach 1945 als erste als Autobiographen in Erscheinung traten.« DEPKAT, Lebenswenden, S. 14. 35 | VIERHAUS, Rudolf: Die Rekonstruktion historischer Lebenswelten. Probleme moderner Kulturgeschichtsschreibung, in: Wege zu einer neuen Kulturgeschichte, hg. v. Hartmut Lehmann, Göttingen 1995, S. 7-28, hier S. 23. 36 | LANDWEHR, Achim: Kulturgeschichte. In: Zeitgeschichte, S. 313-328, hier S. 320.
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deutung hat 37 – nicht ohne Grund wird sie häufig mit dem Attribut »geschichtspolitisch« versehen38 – ist zugleich zu einem wissenschaftlichen Forschungsfeld avanciert, was darauf hinweist, dass der Deutungskampf schon historisiert wird, während er noch im vollen Gange ist. Dies verdeutlicht, dass nicht nur innerhalb einer breiteren Öffentlichkeit, sondern ebenso in der Fachwissenschaft unterschiedliche und kontroverse Erzählungen über die DDR existieren, die teilweise sehr weit auseinander liegen: Die Konflikte, die dabei entstehen, drehen sich um die Schwerpunkte, die mit einer solchen Erzählung gesetzt werden sollen und die Kontexte, in die sie eingebunden gehört.39 So kann man für die DDR zwar einerseits festhalten, dass sie zu den am intensivsten untersuchten Ge37 | Gleichwohl ist der Kampf um die Deutungshoheit über die DDR-Geschichte hinsichtlich der Frage nach der demokratischen Dimension von Erinnerungskonstruktion, ihren Akteuren, Institutionen und Entscheidungsstrukturen, in der Forschung lange unterbelichtet geblieben. Erst jüngst hat Carola Rudnick diese Lücke mit einer umfangreichen Forschungsarbeit geschlossen, die die auf die DDR-Vergangenheit bezogene Geschichtspolitik seit 1990 analysiert. Vgl. RUDNICK, Carola: Die andere Hälfte der Erinnerung. Die DDR in der deutschen Geschichtspolitik nach 1989, Bielefeld 2011. 38 | Vgl. an dieser Stelle nur Helmut König, der darauf hingewiesen hat, dass Geschichtspolitik – die er Gedächtnispolitik nennt, damit jedoch auch den Bezug auf Vergangenheit meint – gerade nach »Umbrüchen und politischem Neubeginn« eine große Rolle spielt: »Die jeweilige neue politische Ordnung steht vor der Aufgabe, sich zu legitimieren, und ein wesentliches Mittel dafür ist sich vom jeweiligen Vorgänger-Regime abzugrenzen, also das Vorgängersystem und seine Anhänger zu delegitimieren. Das kann gedächtnispolitisch durch ganz entgegengesetzte Strategien bewirkt werden: entweder durch Vergessen und Vergeben oder durch Erinnern und Bestrafen.« KÖNIG, Helmut: Politik und Gedächtnis. Weilerswist 2008, S. 12. Ausführlich dazu Kap. II/2. 39 | So fand in der DDR-Forschung eine breite Einbettung in die deutsche, europäische und globale Geschichte lange nicht statt, weshalb zeitweise ihre »Verinselung« moniert wurde. Vgl. LINDENBERGER, Thomas/SABROW, Martin: Das Findelkind der Zeitgeschichte. Zwischen Verinselung und Europäisierung. Die Zukunft der DDR-Geschichte, in: Deutschland Archiv 1/2004, S. 123-127. Auch abgesehen von diesen Richtungskämpfen hat die erhebliche Forschungsleistung der Zeitgeschichte bis dato zu keinem gesellschaftlichen Konsens das DDR-Geschichtsbild betreffend geführt.
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bieten der deutschen Geschichte gehört,40 gleichwohl zeigt sich immer wieder, dass sie kaum auf eine Formel oder auf einen Begriff zu bringen ist, was sich beispielhaft in den Versuchen ihrer begrifflichen Klassifizierung und Spezifizierung als Diktatur offenbart.41 Ein gutes Beispiel für diesen Deutungskampf im Bereich der Wissenschaft sind die Reaktionen auf die Arbeit der Bundestags-Enquete-Kommission, die 2005 mit dem Auftrag eingesetzt worden war, ein Konzept für einen dezentral organisierten Geschichtsverbund zur Aufarbeitung
40 | Die wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR hat eine Vielfalt erreicht, die ihre zusammenfassende Betrachtung kaum noch möglich macht. Die geschichtspolitischen Abläufe sind dabei nicht ohne einen beständigen Blick auf zeithistorische Forschung und Forscher denkbar; vgl. Martin Sabrow, Die Historikerdebatte über den Umbruch von 1989. In: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, hg. v. ders., Ralph Jessen u. Klaus Große Kracht, München 2003, S. 114-137. Einen Eindruck zur Vielfalt der Forschung vermitteln EPPELMANN, Rainer/FAULENBACH, Bernd/MÄHLERT, Ulrich (Hg.): Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung. Paderborn 2003. 41 | So sprach, um nur einige Deutungen zu nennen, Mary Fulbrook von der »partizipativen Diktatur«, Konrad H. Jarausch von der »Fürsorgediktatur«, Jürgen Kocka von der »modernen Diktatur«, Martin Sabrow von der »Konsensdiktatur«, Klaus Schroeder vom »spättotalitären Überwachungs- und Versorgungsstaat« und Stefan Wolle von der »Diktatur der Liebe«. Vgl. FULBROOK, Mary: The people’s state: East German society from Hitler to Honecker. New Haven 2005; JARAUSCH, Konrad H.: Jenseits von Verdammung und Verklärung: Plädoyer für eine differenzierte DDR-Geschichte. In: Die Überlieferung der Diktaturen. Beiträge zum Umgang mit Archiven der Geheimpolizeien in Polen und Deutschland nach 1989, hg. v. Agnès Bensussan u.a., Essen 2004, S. 229-240; KOCKA, Jürgen: Die DDR – eine moderne Diktatur? Überlegungen zur Begriffswahl, in: Geschichte und Emanzipation, hg. v. Michael Grüttner, Rüdiger Hachtmann u. Heinz-Gerhard Haupt, Frankfurt a.M.1999, S. 540-550; SCHROEDER, Klaus: Kunst und Künstler im (spät-)totalitären Sozialismus. In: Eingegrenzt – Ausgegrenzt. Bildende Kunst und Parteiherrschaft in der DDR 1961-1989, hg. v. ders.u. Hannelore Offner, Berlin 2000, S. 9-14; SABROW, Martin: Der Konkurs der Konsensdiktatur. Überlegungen zum inneren Zerfall der DDR aus kulturgeschichtlicher Perspektive, in: Weg in den Untergang. Der innere Zerfall der DDR, hg. v. Konrad H. Jarausch u. Martin Sabrow, Göttingen 1999, S. 83-116; WOLLE, Stefan: Die heile Welt der Diktatur. Bonn 1998.
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der SED-Diktatur auszuarbeiten.42 Bereits im Vorfeld der öffentlichen Präsentation ihres Votums und einer Anhörung im Deutschen Bundestag im Frühjahr 2006 entzündete sich an den sich abzeichnenden Vorschlägen heftiger Streit, der überwiegend in den Feuilletons und der Fachpresse ausgetragen wurde. Unmut erregte vor allem die Idee, in einem »Forum Aufarbeitung« auch die »Alltagskultur« stärker zu gewichten, sah das Expertengremium in der öffentlichen Dokumentation von DDR-Geschichte diese doch im Gegensatz zum Repressionscharakter des Regimes als unterrepräsentiert an.43 Dies wurde von anderer Seite allerdings als »aufdringliche 42 | Vgl.: DEUTSCHER BUNDESTAG (Hg.): Materialien der Enquete-Kommission »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« (12. Wahlperiode), 9 Bde., Baden-Baden 1995; DERS. (Hg.): Materialien der EnqueteKommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« (13. Wahlperiode), 8 Bde., Baden-Baden 1999. Andrew Beattie hat in einer umfassenden Untersuchung den politisch aufgeladenen Versuch einer Historisierung der DDR durch die Enquete-Kommissionen selbst historisiert und damit die Weichen für eine »Aufarbeitung der Aufarbeitung« gestellt, vgl.: BEAT TIE, Andrew: Playing Politics with History. The Bundestag Inquiries into East Germany (=Studies in Contemporary European History 4), New York 2008. 43 | Zur umfassenden Nachzeichnung der Debatte vgl.: SABROW, Martin/ ECKERT, Rainer/FLACKE, Monika u.a. (Hg.): Wohin treibt die DDR-Erinnerung? Dokumentation einer Debatte, Göttingen 2007. Die Arbeit der Kommissionen wurde bereits eingehend analysiert: Vgl. SCHRATEN, Jürgen: Die kollektive Erinnerung von Staatsverbrechen. Eine qualitative Diskursanalyse über die parlamentarische Bewertung der SED-Diktatur, Baden-Baden 2007; MASER, Peter: Die parlamentarische Aufarbeitung von Diktaturgeschichte am Beispiel der Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages. In: Woran Erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, hg. v. Peter März u. Hans-Joachim Veen, Köln 2006, S. 133-145; FAULENBACH, Bernd: Die Arbeit der Enquete-Kommissionen und die Geschichtsdebatte in Deutschland seit 1989, in: The GDR and Its History: Rückblick und Revision, hg. v. Peter Barker, Amsterdam 2000, S. 21-33; CONZE, Eckart: Zeitgeschichte und Vergangenheitspolitik. Die Enquete-Kommission »Aufarbeitung und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland« und ihre Ergebnisse, in: Historische Mitteilungen 11/1998, S. 306-320; WILKE, Manfred: Die deutsche Einheit und die Geschichtspolitik des Bundestages, in: DA 4/1997, S. 607-613; BOCK, Petra: Von der Tribunal-Idee zur Enquete-Kommission. Zur Vorgeschichte
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Homöopathisierung der ostdeutschen Diktaturgeschichte«44 verstanden: Man verharmlose das SED-Unrecht, so lässt sich der Hauptvorwurf an die Kommission zusammenfassen45 und fördere damit die rückwirkende Verklärung der DDR, ein Phänomen, das sich unter dem Rubrum »Ostalgie« fassen lässt.46 Gestritten wird demnach darum, welche Bereiche der DDR in der Erforschung betont werden, wobei immer wieder die Befürchtung artikuliert wird, dass eine Betonung der ›falschen‹ Schwerpunkte eine ›falsche‹ Erinnerung nach sich zöge: Damit ist der Streitpunkt von der richtigen Erforschung der DDR zum Streitpunkt um die richtige Erinnerung an die DDR geworden.47 Er resultiert auch daraus, dass trotz der breit gefächerten Erforschung der DDR, trotz seit 1989 stets intensiver öffentlicher Debatte über diese Vergangenheit, keine einheitliche Erzählung von der DDR entstanden ist. In pluralistischen Gesellschaften sind auch die Vergangenheiten umkämpft. Gerade im Vergleich zum Natio-
der Enquete-Kommission des Bundestages, in: DA 11/1995, S. 1171-1183; WÜSTENBERG, Ralf K.: Die politische Dimension der Versöhnung. Eine theologische Studie zum Umgang mit Schuld nach den Systemumbrüchen in Südafrika und Deutschland, Gütersloh 2004, S. 325-244; ALTENHOF, Ralf: Die Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages. Wiesbaden 2002. 44 | GEIPEL, Ines: Kleine, graue, miese DDR – Das Expertenpapier zur Aufarbeitung der SED-Diktatur markiert keinen Paradigmenwechsel, in: Die Welt, 09.06.2006. 45 | Eine Zusammenschau der Reaktionen findet sich in folgendem Pressespiegel: www.zeitgeschichte-online.de/portals/_rainbow/documents/pdf/presse_votum.pdf [letzter Zugriff 09/2012]. 46 | Zur ›Ostalgie‹ als Teil der Erinnerungskultur vgl.: GOLL, Thomas/LEUERER, Thomas (Hg.): Ostalgie als Erinnerungskultur? Baden-Baden 2004. Auch die Enquete-Kommission »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« befasste sich unter der Rubrik »Alltagsleben« in zwei Beiträgen des Bandes V mit ihr: FRITZE, Lothar: »Ostalgie« – Das Phänomen der rückwirkenden Verklärung der DDR-Wirklichkeit und seine Ursachen, S. 479-510; GEBHARDT, Winfried/KAMPHAUSEN, Georg: »Ostalgie« – Das Phänomen der rückwirkenden Verklärung der DDR-Wirklichkeit und seine Ursachen, S. 511-539. 47 | Vgl. hierzu auch: SABROW, Martin: Die DDR erinnern, in: Erinnerungsorte der DDR, hg. v. ders., München 2009, S. 11-27, hier S. 20.
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nalsozialismus ist festgehalten worden, dass die Grenzen des Sagbaren im Falle der DDR nicht sehr deutlich ausgeprägt sind.48 Die Pluralität dessen, was über die DDR gesagt werden kann, bedeutet jedoch nicht, dass die unterschiedlichen Lesarten auf je die gleiche gesellschaftliche Akzeptanz stoßen. So existiert ein erinnerungs- und geschichtspolitischer Diskurs, der Interpretationen unterschiedlich gewichtet und sanktioniert. Eine der prominentesten Erzählungen über die DDR ist sicherlich jene, die Repression und Staatsicherheit in den Vordergrund stellt und dabei oft auf einer Polarisierung von Opfern und Tätern beruht. Dieser öffentliche Diskurs wird von den einzelnen Akteuren verschieden, nicht selten aber als ›offizieller Diskurs‹ wahrgenommen. Dies stützt nicht zuletzt die Positionierung im Feld der Erinnerung an die DDR: Eine ›herrschende Meinung‹ dient auch als Konstruktion, gegen die man anschreiben kann, wie dies etwa die hier untersuchten Autobiographien unternehmen. Hervorgehoben werden in diesen Autobiographien abweichende Bilder, alternative Deutungen und Gegenerzählungen, die sich nicht in die Erzählung von der DDR als Diktatur einpassen lassen. Diese abweichenden Bilder finden sich freilich in unterschiedlichsten Medien;49 besonders augenfällig aber werden sie in den zahlreichen Autobiographien, die nach 1989 von ehemaligen DDR-Bürgern veröffentlicht wurden und persönliche Lebensgeschichten im Kontext der DDR und ihrem Niedergang erzählen. Allein aufgrund der schieren Masse und den damit verbundenen zahlreichen Möglichkeiten unterschiedlichster 48 | In diesem Zusammenhang wird oft die Erinnerung an das ›Dritte Reich‹ als Vergleichsfolie herangezogen, die im Gegensatz zur Erinnerung an die DDR schon einen festen Platz im kulturellen Gedächtnis gefunden habe. Sie war 20 Jahre nach 1945 allerdings auch noch sehr umstritten und ist dies bis in die jüngste Vergangenheit – auch heute gibt es keinesfalls die ›richtige‹ Erzählung über den Nationalsozialismus. Allerdings sind die Grenzen der zulässigen Narrative im Bezug auf den Nationalsozialismus deutlich klarer gezogen, was auch damit zusammenhängt, dass er im Gegensatz zur DDR einen »Zivilisationsbruch markiert.« Vgl. SABROW, Die DDR erinnern, S. 15. 49 | Als Beispiel sei an dieser Stelle nur auf zwei Filme verwiesen, die sich daran versuchten, den Alltag der DDR auf eher verspielte Weise in den Mittelpunkt zu rücken: »Sonnenallee« aus dem Jahr 1999 (Drehbuch: Thomas Brussig, Detlev Buck und Leander Haussmann) und »Good bye Lenin« aus dem Jahr 2001 (Drehbuch: Wolfgang Becker).
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Lesarten lassen sie sich nicht auf einen gemeinsamen Nenner bringen. Dennoch hat ein Großteil dieser Lebenserinnerungen gemein, die Veröffentlichung explizit damit zu rechtfertigen, ein Korrektiv zum gängigen DDR-Diskurs anbieten zu wollen, den man für unvollständig, wenn nicht gar ›falsch‹ halte.50 Es herrscht, so lässt sich an dieser Stelle verkürzt zusammenfassen, trotz eines offiziellen Diskurses zur DDR nach wie vor Uneinigkeit darüber, wie die jüngste Vergangenheit angemessen und zufriedenstellend für alle gesellschaftlichen Bereiche und Gruppen interpretiert und eingeordnet werden soll. Für die zeithistorische Forschung bedeuten die alternativen Stimmen, in diesem Falle die Autobiographien, eine besondere Herausforderung – nicht nur hinsichtlich ihres gesellschaftlichen und politischen Stellenwerts im und für den öffentlichen Diskurs, sondern ebenso hinsichtlich ihrer Rolle und Einordnung in benannte Auseinandersetzungen.
4 A UTOBIOGR APHIE ALS G AT TUNG , Q UELLE UND NARR ATIVE S INNSTIF TUNG : THEORE TISCHE A USGANGSPUNK TE Autobiographien, verstanden als klassische Form des schriftlichen Selbstzeugnisses, entstehen in der Regel aus eigener Initiative und werden mit dem Ziel der Veröffentlichung verfasst, wobei charakteristisch ist, dass sie aus einer einheitlichen Schreibperspektive komponiert sind und die zusammenhängende Darstellung eines Lebensweges präsentieren.51 Die 50 | Im Rahmen der Forschungsarbeit wurden 244 Autobiographien auf diese Fragestellung hin untersucht. Dabei finden sich häufig mehrere Schreibanlässe in einer Autobiographie. Die explizit – in wenigen Fällen auch implizit – formulierte Motivation, mit der eigenen Lebenserinnerung das öffentliche Bild zu korrigieren oder zumindest zu vervollständigen, wurde in allen Texten gefunden. Im Anhang findet sich eine Liste aller untersuchen Autobiographien. 51 | LEHMANN, Bekennen – Erzählen – Berichten, S. 35-53; vgl. ebenso: HOLDENRIED, Michaela: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 25; vgl. WAGNER-EGELHAAF, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2000, S. 187ff. Diese Gattungsdefinition wurde vorwiegend im 18. und 19. Jahrhundert entwickelt. Vgl. hierzu: MISCH, Georg: Geschichte der Autobiographie. 4 Bde., Bern 1949-1969; NIGGL, Günter:
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Verwendung von Autobiographien als Quelle in der Geschichtswissenschaft ist allerdings in vielerlei Hinsicht umstritten und war in den letzten Jahrzehnten starken Veränderungen unterworfen. Der Ausgangspunkt der Forschung zur Autobiographie im deutschsprachigen Raum wurde durch Wilhelm Dilthey52 und seinen Schüler Geschichte der deutschen Autobiographie im 18. Jahrhundert. Theoretische Grundlegung und literarische Entfaltung, Stuttgart 1988. Daneben arbeitet die neuere Selbstzeugnisforschung mit einem breiteren Quellen- und Gattungsverständnis: Die Begriffe ›Selbstzeugnis‹ und ›Ego-Dokument‹ umfassen alle Texte, in denen das ›Selbst‹ aus freien Stücken thematisiert wird. Winfried Schulze erweiterte den Begriff um Quellen, die auch unfreiwillige Aussagen zur Person einschließen. Seine Definition fasst neben Tagebüchern, Autobiographien, Erinnerungen, Reisebeschreibungen und Briefen alle Quellen, die autobiographische Informationen enthalten. Diese erweiterte Definition hat den Vorteil, dass sie illiterate Gruppen – Schulze dachte vor allem an Frauen aus den Unterschichten – einbezieht, die aufgrund mangelnder Schreibfähigkeit nur selten von ihnen verfasste Zeugnisse hinterlassen haben, sondern vor allem in administrativem und gerichtlichem Schriftgut ihr ›Selbst‹ offenbarten, vgl. SCHULZE, Winfried: EgoDokumente: Annäherung an den Menschen in der Geschichte? Vorüberlegungen für die Tagung »Ego-Dokumente«, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hg. v. ders., Berlin 1996, S. 11-30; vgl. auch: JANCKE, Gabriele/ULBRICH, Claudia (Hg.): Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen 2005, S. 10. Schulzes Quellenbegriff wird trotz dieses Vorzugs hier jedoch nicht übernommen. Ziel der vorliegenden Studie ist es, ein begrenztes Korpus zu untersuchen, für dessen Protagonisten der Anspruch entscheidend ist, einen autobiographischen Text verfasst zu haben, der zudem das ganze Leben in den Blick nimmt. Demnach ist eine Definition, nach der jeder Text durch die implizite Selbstthematisierung des Schreibers ein ›Ego-Dokument‹ sein kann, für eine solche quellenkundliche Arbeit unbrauchbar. Vgl. zu dieser Überlegung auch HERZBERG, Julia: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013, S. 68. 52 | Dilthey adelte erst die Biographie und später dann die Selbstbiographie zur idealen Quelle. Zugrunde lag dem sein Versuch, das Feld der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften abzustecken und die Historie mit einem wissenschaftstheoretischen Fundament zu versehen. In diesen Quellen sah er nicht nur ein heilsames Gegenmittel »zu den toten Abstraktionen, die meist aus
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Georg Misch begründet, dessen klassische Definition im Zusammenhang seiner monumentalen »Geschichte der Autobiographie« aus dem Jahr 1907 nach wie vor Referenz- und Abgrenzungspunkt der einzelnen Ansätze in der historischen Autobiographienforschung ist: Nach Misch sind Autobiographien als das zu bestimmen, »was der Ausdruck besagt: die Beschreibung (graphia) des Lebens (bios) eines Einzelnen durch diesen selbst (auto)«53. Innerhalb der Geschichte der Biographie, insbesondere aber der theoretischen Auseinandersetzung mit dieser Gattung und auch ihrer Verwendung als Quelle im Rahmen der Geschichtswissenschaft zeigt sich eine unterschiedliche Gewichtung dieser drei Elemente, nämlich die Verschiebung von bios zu autos und schließlich zu graphia.54 dem Archiv entnommen werden«, sondern ebenso die Inkarnation des hermeneutischen Paradigmas: Jedes Leben hat einen eigenen Sinn. Erkenntnis lasse sich nicht durch die Herstellung von Kausalzusammenhängen gewinnen, sondern ausschließlich mithilfe der Sammlung individueller Erfahrung. Damit verschaffte er der »Selbstbiographie« nicht nur eine theoretische Grundlegung, sondern ebenfalls einen festen Platz in der Philosophie, der Geschichtswissenschaft, Psychologie und Literaturwissenschaft. Vgl. DILTHEY, Wilhelm: Einleitung in die Geisteswissenschaften, Versuch einer Grundlegung für das Studium der Gesellschaft und der Geschichte, Bd. 1, Leipzig 1922, S. 33-34; vgl. ausführlich zur Entwicklung der Autobiographieforschung im deutschen Raum: HERZBERG, Gegenarchive, S. 24ff. 53 | MISCH, Georg: Begriff und Ursprung der Autobiographie. In: Ders.: Geschichte der Autobiographie. Erster Band: Das Altertum. Bern 1949, S. 3-21, hier S. 7. 54 | Diese Auseinandersetzung nachzuzeichnen würde eine eigene Untersuchung bedeuten. Knapp zusammengefasst kann festgehalten werden, dass bis in die 1970er Jahre autobiographische Quellen als eine Art Faktensteinbruch genutzt wurden, als Beweis historischer Einmaligkeit »großer Männer« oder als Gradmesser für die kulturelle Reife des Bürgertums. Ab den 1980er Jahren wandte man sich nach ›innen‹ und stellte das ›Selbst‹ des Schreibenden in den Mittelpunkt. In der dritten Phase schließlich wurde mit dem »Tod des Autors« auch die »biographische Illusion« zerstört, der Bourdieu zufolge sowohl die (Auto-)Biographen als auch ihre Theoretiker immer wieder verfallen waren; vgl. BOURDIEU, Pierre: Die biographische Illusion, in: BIOS 1/1990, S. 75-81. Als Überrest blieb die Textualität, die es seither erlaubt, autobiographische Texte nicht als Ausdruck eines selbstgewissen Subjekts zu lesen, sondern die eingeschriebenen Prozesse der Identitätsproduktion offenzulegen; vgl. DEPKAT, Lebenswenden, S. 452.
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So wird inzwischen der Glaube an die Kongruenz »zwischen dem Akt, dem Subjekt und dem Objekt des Schreibens als sträfliche Unbedarftheit«55 verstanden. Vor allem aber ist auch der in Mischs Autobiographiegeschichte übergangene Leser dieser Texte als unzulässige Vernachlässigung zu benennen, wird doch hier ein Akteur vergessen, der entscheidend an dem mitwirkt, was Philippe Lejeune den »autobiographischen Pakt« nannte.56 Mit dem Konzept des autobiographischen Paktes wird die Bedeutung der Beziehung des Autobiographen zu seinem Leser hervorgehoben und zum Dreh- und Angelpunkt des Gattungsverständnisses von Autobiographien gemacht. Lejeune spricht von einem referentiellen Vertrag, den der Autor mit dem Leser schließt und unter dessen Bedingungen der Leser das Erzählte als etwas Faktuales anerkennt, das auf Erlebtes und Erfahrenes des jeweiligen Verfassers zurückzuführen ist. Damit ist der Autor auch nicht mehr der alleinige Schöpfer der Autobiographie, die vielmehr der Leser im Lektüreakt miterzeugt. Durch diesen Pakt wird zudem ein Einblick in die Wahrheitsvorstellungen der Leser gewährt, was sich nicht zuletzt in den verletzten Reaktionen derselben äußert, die ein »Vertragsbruch« nach sich zieht.57 Mit der Theorie des autobiographischen Pakts bei Lejeune ist ein wichtiger Lösungsvorschlag für das Problem von Fakten und Fiktionen, klassisch gesprochen von »Dichtung und Wahrheit«, in autobiographischen Texten verbunden. Er verweist darauf, dass die Bewertung auto55 | HERZBERG, Julia: Autobiographik als historische Quelle in ›Ost‹ und ›West‹. In: Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich, hg. v. ders.u. Christoph Schmidt, Köln 2007, S. 15-62, hier S. 18. 56 | LEJEUNE, Philippe: Le pacte autobiogaphique. Paris 1996 (1975), S. 19ff. 57 | Exemplarisch für einen fälschlicherweise angebotenen »autobiographischen Pakt« steht der Autor Bruno Dössekker, der 1995 unter dem Namen Binjamin Wilkomirski seine vermeintliche Autobiographie »Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939-1948« veröffentlichte, die wenige Jahre später als eine Fälschung und damit als »fiktiv« enttarnt wurde, was weltweite Empörung nach sich zog. Eine ausführliche Zusammenfassung der Debatte unter diesem Hinblick bietet BAUER, Alexandra: »My private holocaust«. Der Fall Wilkomirski(s). Zeitschrift für Philosophie und Kultur im Netz: www.sicetnon.org/content/literatur/My_private_holocaust.pdf [letzter Zugriff 02/2012]; vgl. auch: DIEKMANN, Irene/SCHOEPS, Julius H.: Das Wilkomirski-Syndrom. Eingebildete Erinnerungen oder Von der Sehnsucht, Opfer zu sein, Zürich 2002.
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biographischen Schreibens nicht allein in den Kriterien von Wahrheit, Authentizität und Unmittelbarkeit aufgehen kann.58 Gerade diese Aufhebung vormals fester Grenzen zwischen Fakten und Fiktionen in der Autobiographietheorie Ende der 1970er Jahre führte dazu, dass die autobiographische ›Quelle‹ entweder als grundsätzlich verdächtig bewertet und oft von vornherein der ›Lüge‹ bezichtigt wurde59 – oder dass, trotz eingangs formulierter Vorbehalte beschriebene Sachverhalte mit realen gleichgesetzt werden, das heißt der Text als Spiegel einer außertextlichen Wirklichkeit buchstäblich gelesen wird.60 Im Rahmen dieser Untersuchung ist die Unterscheidung von Fakten und Fiktionen jedoch nicht von Interesse, geht es doch hier nicht um die Dekonstruktion des Autobiographischen unter dem Gesichtspunkt von Wahrem und Falschem, sondern um die Analyse der narrativen Sinnund Vorstellungswelten, die Autobiographien transportieren, und um 58 | Zu den Unterschieden zwischen der Bestimmung des Wahren, Echten und Authentischen vgl. SAUPE, Achim: Authentizität. In: Zeitgeschichte, S. 144-165, hier S. 145ff. 59 | Paul de Mans 1978 erschienener Aufsatz »Autobiographie als Maskenspiel« wird als Wendepunkt in der Autobiographietheorie verstanden. Durch zwei Thesen forderte er die hermeneutisch arbeitenden Historiker und Literaturwissenschaftler gleichermaßen heraus: Erstens sei es unmöglich, zwischen Fiktion und Autobiographie zu unterscheiden. Zweitens sei die Autobiographie weder Gattung noch Textsorte, sondern vielmehr eine Lese- oder Verstehensfigur, die in allen Texten auftreten könne. DE MAN, Paul: Autobiographie als Maskenspiel. In: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Frankfurt a.M. 1993, S. 131-146, hier S. 133-134. 60 | Frevert nutzt Selbstzeugnisse als Quelle der Identitätskonstruktion, liest sie teilweise aber auch buchstäblich als Spiegel gelebter Praxis, vgl. FREVERT, Ute: Geschlechter-Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts, in: Identitäten [=Erinnerung, Geschichte, Identität, Bd. 3], hg. v. Aleida Assmann u. Heidrun Friese, Frankfurt a./M. 1999, S. 181-216; dies gilt auch für Trepp, die sich auf die kulturanthropologische Kategorie der ›Erfahrung‹ bezieht, vgl. TREPP, AnneCharlott: Sanfte Männlichkeit und selbständige Weiblichkeit. Frauen und Männer im Hamburger Bürgertum zwischen 1770 und 1840, Göttingen 1996; reflektierter dagegen Habermas, die den Inszenierungscharakter von Selbstzeugnissen nicht nur in der Einleitung, sondern auch in der Analyse berücksichtigt, vgl. HABERMAS, Rebekka: Frauen und Männer des Bürgertums. Eine Familiengeschichte (17501850), Göttingen 2000.
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die Bindungskräfte, die dabei zum Vorschein kommen. Sie befinden sich durchaus in einem Spannungsverhältnis zu gesellschaftlichen Diskursen, daher soll das Moment der Referenz auch keinesfalls vollkommen aufgegeben werden. Autobiographisches Schreiben ist nicht nur Teil der Lebenswelt, sondern formt sie wesentlich als Teil ihrer sozialen Konstruktion mit. Referentialität und Textualität widersprechen sich nicht – der Verweis auf die sprachliche Bedingtheit der Welt lässt die Realität nicht verschwinden, sondern räumt lediglich mit der Illusion auf, einen unmittelbaren Zugang zu ihr jenseits von Sprache zu besitzen:61 »Textualität leugnet nicht die Verbindung zur Welt, sie stellt sie her.«62 Hieran schließt an, was sich auf den dritten Bestandteil von Mischs Definition, das graphia bezieht: Der Autor erschreibt sich sein Ich und sein Leben – im Akt dieser Niederschrift wählt er aus, konstruiert, modelliert63 und entwirft in diesem Prozess eine narrativ ausgestaltete Identität.64 Die Herstellung von Kontinuität und Kohärenz als identitätsstiftende Leistung von Erzählungen wurde bereits hervorgehoben; ein weiterer Aspekt hängt dabei erneut mit dem Rezipienten zusammen: Identitäten sind immer narrative Konstruktionen, die performativ hervorgebracht werden. Der Autor versieht sich mit bestimmten Eigenschaften im Wandel der Zeit und macht sich damit als durch Erfahrungen geprägt kenntlich. Auf diese Weise konturiert er nicht nur sein eigenes Ich, sondern passt es auch an die imaginierten oder tatsächlichen Leser-Reaktionen an.65 61 | FINCK, Almut: Autobiographisches Schreiben nach dem Ende der Autobiographie. Berlin 1999, S. 39. 62 | Ebd., S. 15. 63 | KORMANN, Eva: Ich, Welt und Gott. Autobiographik im 17. Jahrhundert, Köln 2004, S. 298. 64 | Vgl. RICOEUR, Paul: Zeit und Erzählung. Bd. III: Die erzählte Zeit, München 2007, S. 395ff. 65 | QUASTHOFF, Uta: ›Erzählen‹ als interaktive Gesprächsstruktur. In: Text- und Gesprächslinguistik. Ein internationales Handbuch zeitgenössischer Forschung, hg. v. Klaus Brinker, Gerd Antos, Wolfgang Heinemann u.a., Berlin 2001, S. 12931309; vgl. auch: DEPPERMANN, Arnulf/LUCIUS-HOENE, Gabriele: Narrative Identität und Positionierung. In: Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion; Ausgabe 5 (2004), S. 166-183, hier S. 168, www.gespraechsfor schungozs.de/heft2004/ga-lucius.pdf [letzter Zugriff 07/2013].
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In diesem Verständnis stellen Autobiographien eine Ordnungsleistung dar, durch die der Autor sich in der Zeit orientiert und seinen Identitätsentwurf präsentiert. Damit positioniert er sich im Verhältnis zu bestehenden Identitätsangeboten, eignet sich bereits vorhandene Narrative an, führt sie fort oder verwirft sie. Im Schreiben einer Autobiographie bestätigen die Autoren ihre Bindungen, setzen sich von ihrer Herkunft ab oder schreiben sich in neue Gruppen ein.66 Besonders gut sichtbar werden die Prozesse des Einschreibens in den Momenten des Versagens, in Augenblicken, in denen die Vorstellung einer kohärenten Identität erschüttert wird.67 Der Einbruch der bisherigen Lebenswelt, der die Verfasser über ihre Erzählmuster straucheln lässt, lässt sich besonders gut dort ablesen, »wo frühere Formen des Schreibens nicht mehr funktionieren, neue Elemente hinzukommen, anderes beiseite gelegt wird.«68 Im Laufe eines Lebens können vertraute Selbstbilder abhanden kommen, was Niederschlag in den verwendeten Schreibformen findet: Die Möglichkeiten des Sagbaren schreiben auch an Autobiographien mit.69 Die autobiographische Selbstreflexion ist dabei kein Monolog im leeren Raum, sondern in die sozialen Selbstverständigungsprozesse einer Zeit eingebunden – somit lässt sich jede Autobiographie als ein Ereignis sozialer Kommunikation begreifen.70 Damit stehen Autobiographien auf 66 | Grundlegend für diese Ausführungen ist das Konzept der narrativen Identität von Ricoeur und Somers: RICOEUR, Paul: Personale und narrative Identität. In: Ders.: Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 141-171; SOMERS, Margaret R.: The Narrative Constitution. The Narrative Constitution of Identity. A Relational and Network Approach, in: Theory and Society 5/1994, S. 605-649. 67 | STÄHELI, Urs, Poststrukturalistische Soziologien.Bielefeld 2000, S. 57. 68 | HERZBERG, Gegenarchive, S. 12. 69 | Dies hat eine Vielzahl an Studien gezeigt; vgl. hier nur: STEINMETZ, Willibald: Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780-1867, Stuttgart 1993; LANDWEHR, Achim: Geschichte des Sagbaren. Einführung in die Historische Diskursanalyse, Tübingen 2004. 70 | Vgl. DEPKAT, Lebenswenden, S. 23. Die Erkenntnis, dass autobiographisches Schreiben ein kollektiver und kommunikativer Prozess ist, wurde auch unter dem Einfluss der Neuro- und Sprachwissenschaften gewonnen und hat bei einigen Autobiographietheoretikern zur Revision früherer Forschungsmeinungen geführt. Vgl. EAKIN, Paul John: How our lives become stories: Making Selves, New York 1999, S. 11.
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der Grenze zwischen Individuum und sozialen Gruppen: Einerseits sind sie individuelle, andererseits aber auch kollektive Selbsthistorisierungsleistungen. Somit geben sie Auskunft über Stabilität und Instabilität sozial konstruierter Identitäts- und Wirklichkeitsvorstellungen angesichts erfahrenen historischen Wandels. In dieser Lesart lassen sie sich als Quelle nutzen, um Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Zäsurerfahrung und dem Wandel oder der Stabilität kultureller Sinnsysteme zu erlangen.71 Ausgangspunkt für diesen Zugang zum Autobiographischen ist nach wie vor Wilhelm Diltheys Ansatz, demzufolge die Autobiographie als eine der »Wurzeln alles geschichtlichen Auffassens« 72 zu begreifen ist, in der eine disparate Lebensrealität über die Kategorien von Bedeutung, Wert, Sinn und Zweck in ein kohärentes und sinnhaftes Ganzes umgedeutet wird.73 Zentral ist in diesem Zusammenhang die Kategorie der Bedeutung als die »eigenste Kategorie geschichtlichen Denkens.« 74 Bedeutung verbindet oder trennt Vergangenes und Gegenwärtiges, zugleich reguliert sie die Auswahl der erinnerten Erlebnisse. Der autobiographisch repräsentierte Lebenszusammenhang ist deshalb mehr als die Summe seiner Teile, nämlich eine rückblickend konstruierte Sinneinheit, die alle diese Teile zu einem möglichst kohärenten Ganzen verbinden soll.75 Demnach lässt sich Autobiographie »als eine retrospektive, Vergangenheit und Gegenwart ineinander verschränkende Ich-Synthese begreifen.« 76 Diese Ich-Synthese ist untrennbar mit den kollektiven Prozessen sozialer Kommunikation verknüpft.77 Zu diesen kollektiven Ordnungsmustern setzen sich die Autoren mit ihren Lebensentwürfen in Beziehung, was besonders die Vorstellungen von einer ›normalen‹ oder idealen Biographie prägt 78 – und die Vorstellungen ihrer Verschriftlichung. Für die Quellen 71 | Vgl. DEPKAT, Lebenswenden, S. 20ff. 72 | DILTHEY, Wilhelm: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Frankfurt a.M. 1981, S. 235-272, hier S. 237. 73 | Ebd., S. 244. 74 | Ebd., S. 249. 75 | DEPKAT, Lebenswenden, S. 25. 76 | Ebd. 77 | BERGER, Peter L./LUCKMANN, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1972, S. 7f. 78 | Hierzu nach wie vor einschlägig KOHLI, Martin: Soziologie des Lebenslaufs. Darmstadt 1978; DERS.: Normalbiographie und Individualität: Zur institutionellen
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dieser Arbeit gilt dabei als entscheidende Vorüberlegung besonders zu beachten, dass ihre Urheber alle Teil eines Systems waren, das klare Vorstellungen von einer Idealbiographie einschließlich ihrer Vermittlung besaß und verbreitete. Damit folgt die ›sozialistische‹ Autobiographie anderen Regeln als etwa die klassische bürgerliche Autobiographie, in der der Autobiograph um das Herausarbeiten seiner Individualität bemüht ist.79 Im Unterschied dazu ordnen sich Protagonisten von »Arbeiterautobiographien« in ihrer Darstellung im Idealfall ihrer Sinnwelt, dem Sozialismus, unter, präsentieren sich als Teil der kommunistischen Bewegung, als ›Rädchen im Getriebe‹.80 Als ›biographiewürdig‹ galten in der DDR Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes, in: Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, hg. v. Hanns-Georg Brose u. Bruno Hildenbrand, Opladen 1988, S. 33-54; DERS./ROBERT, Günther: Biographie und soziale Wirklichkeit. Stuttgart 1984. 79 | Vgl. hierzu auch die russische Tradition der Autobiographik, die das Schreiben vom Ich in der DDR stark beeinflusste und in der lange »das Bekenntnis zum Ich als Todsünde der Eitelkeit galt und die Autobiographie als Defekt.« Vgl. SCHMIDT, Christoph: Einleitung, in: Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich, hg. v. ders.u. Julia Herzberg, Köln 2007. S. 7-14, hier S. 11. Vgl. dazu auch als Quelle für die Autobiographik in der DDR: STIEHLER, Gottfried: Über den Wert der Individualität im Sozialismus. Berlin 1978. Hingegen zur bürgerlichen Tradition der Autobiographie vgl. besonders MAURER, Michael: Die Biographie des Bürgers. Lebensformen und Denkweisen in der formativen Phase des deutschen Bürgertums (1680-1815), Göttingen 1996. 80 | Vgl. hierzu als Quellen: MÜNCHOW, Ursula: Frühe deutsche Arbeiterautobiographie. Berlin (Ost) 1973, insbesondere das Kapitel »Die Erzählweise der Arbeiterautobiographien«, S. 87-92; KUCZINSKY, Jürgen: Probleme der Autobiographie. Berlin (Ost) 1983. Vgl. zur Forschung vor allem zwei nach wie vor aktuelle Monographien FRERICHS, Petra: Bürgerliche Autobiografie und proletarische Selbstdarstellung. Frankfurt a.M. 1980; KUHN, Hermann: Bruch mit dem Kommunismus. Über autobiographische Schriften von Ex-Kommunisten im geteilten Deutschland, Münster 1990, S. 299ff; vgl. zudem: HARBÖCK, Wolfgang: Stand, Individuum, Klasse. Identitätskonstruktionen deutscher Unterschichten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Münster 2006, S. 150-155. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang zudem die Anthologie von EMMERICH, Wolfgang (Hg.): Proletarische Lebensläufe. Autobiographische Dokumente zur Entstehung der Zweiten Kultur in Deutschland, 3 Bde., Reinbek 1974/75.
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vor allem die genannten Arbeiter, im speziellen Bauern, was sich an den geförderten »Bauerntagebüchern« zeigte, die einen Einblick in dörfliche Lebenswelten gewähren sollten.81 Dennoch gilt auch für die hier untersuchten postsozialistischen Autobiographien, dass die Autoren im Sinne der Gattung ihr Leben subjektiv wahrhaftig ausdeuten und sich dabei zu kollektiv geteilten Sinn- und Vorstellungswelten in Beziehung setzen, die sie dabei zugleich transformieren, reproduzieren oder in Frage stellen.82 Autobiographien sind somit Identitätsentwürfe, die im »Dreieck von individueller Geschichtserfahrung, retrospektiver Deutung und Gegenwartsbezug« gründen.83 Sie werden damit zuallererst als narrative Sinnbildungen über Zeiterfahrungen verstanden.
5 P ROBLEMSTELLUNG UND A UFBAU DER A RBEIT In Autobiographien überlagern sich verschiedene Erlebnis- und Zeitschichten. Zwar ist der Perspektivpunkt immer die Schreibgegenwart, dabei werden jedoch verschiedene Zeitebenen verknüpft: das einst erlebende Subjekt, das jetzt erzählende Ich und der im Selbstdeutungsprozess erkannte Wirkungszusammenhang, der früher und heute miteinander verbindet.84 Diese Einteilung in ein Vorher und Nachher durch die Erzäh81 | In den 1980er Jahren entstanden in der DDR – ebenso wie in der Bundesrepublik, der Schweiz und Österreich – Sammelstellen für lebensgeschichtliche Aufzeichnungen. In der DDR wurde sie an der Akademie der Wissenschaften eingerichtet und »Konsultationsstelle für Schreibebücher« genannt. Hier standen bäuerliche Lebenswelten im Mittelpunkt, was mit der marxistischen Historiographie als der Geschichtsschreibung der Unterdrückten und Marginalisierten begründet wurde. Vgl. ihren wichtigsten Vertreter: PETERS, Jan (Hg.): Bäuerliche Anschreibebücher als Quellen zur Wirtschaftsgeschichte. Neumünster 1992, S. 121-132; PETERS, Jan: Mit Pflug und Gänsekiel. Selbstzeugnisse schreibender Bauern. Eine Anthologie, Köln 2003 (vgl. Anmerkung 21/Einleitung). 82 | Vgl.: DEPKAT, Lebenswenden, S. 29. 83 | Ebd., S. 45. 84 | SOMMER, Manfred: Zur Formierung der Autobiographie aus Selbstverteidigung und Selbstsuche (Stoa und Augustinus). In: Identität, hg. v. Odo Marquard u. Karlheinz Stierle, München 1979, S. 699-702, hier S. 701.
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lung konstituiert damit den Sinnhorizont der gelebten und reflektierten, der erfahrenen Zeit.85 Die Schreibgegenwart, in der über »Ereignisse aus der Perspektive späterer Ereignisse [erzählt wird], also mit Bezugnahme auf einen Standpunkt […], von dem aus sie nicht hätten beobachtet oder protokolliert werden können«86, befindet sich fraglos im Nachher, als das sie von vielen Protagonisten auch identifiziert wird. Die Erzählstruktur, die sie für ihre Lebensberichte nutzen, erschöpft sich zumeist jedoch nicht im Gestern und Heute, sondern wendet sich auch in vielfältigen Formen dem Morgen zu. Diese drei Zeitdimensionen strukturieren die thematische Analyse. Der erste Bereich, der im Vordergrund von Kapitel I steht, widmet sich dem Gestern und stellt die Identitätskonstruktionen der Protagonisten in den Mittelpunkt. Hierbei messen sie einerseits ihrer Profession und andererseits dem Bekenntnis zum Staatssozialismus starke Bedeutung bei. Beide Funktionen sind in der Chronologie der Lebenserinnerungen allerdings deutlichen Veränderungen unterworfen.87 So eng diese Bereiche wie ihre Funktionalisierungen in den Lebensgeschichten auch miteinander verwoben sind, sollen sie im Folgenden doch entwirrt werden: Wie erzählen und funktionalisieren die Protagonisten ihren Weg hinein in das System des Staatssozialismus? Betrachtet man die Konstruktion der Lebenserinnerungen, fällt ins Auge, dass die Autoren starkes Gewicht auf die Beschreibung derjenigen Jahre legen, die sie ausdrücklich als Wendezeit – vom Nationalsozialismus zum Sozialismus – entwerfen und als Konversionserzählungen anlegen: weg vom falschen, vom schlechten Leben hin zum guten und richtigen Leben. Damit greifen sie auf ein kollektiv geformtes Erzählmuster zurück, dessen Analyse Rückschlüsse auf Fragen der Bindungskräfte der sozialistischen Sinnwelt ermöglichen soll. Sie müssen sich dabei alle dem gleichen Paradox stellen: nicht nur, dass es das System, in das sie sich hineinschreiben, zum Zeitpunkt der Niederschrift nicht mehr gibt – noch dazu lässt es sich ob der erlittenen Le85 | Vgl. KOSSELECK, Reinhart: Darstellung, Ereignis und Struktur, in: Ders.: Vergangene Zukunft, Frankfurt a.M. 1992, S. 144-157, hier S. 145. 86 | HABERMAS, Jürgen: Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a.M. 1968, S. 195. 87 | Die Frage, welche Funktion ihre Tätigkeit als Wissenschaftler für die Selbsthistorisierungen hat, wird nicht in einem gesonderten Kapitel abgehandelt, sondern läuft als roter Faden der Untersuchung stets mit; in Kapitel I aber ist sie analyseleitend.
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gitimationseinbußen nicht mehr umstandslos als roter Faden der Identitätskonstruktion nutzen. Wie entwickeln sich diese Erzählungen von der radikalen Hinwendung zum Staatssozialismus im Laufe des erzählten Lebens? Der zweite Themenkomplex dreht sich um das Heute und wird in Kapitel II behandelt. Die Texte werden hier in die geschichtspolitischen Auseinandersetzungen nach 1989 eingebettet; ihnen gemein ist, dass sie mindestens zehn Jahre nach dem Mauerfall veröffentlich wurden und sich in unterschiedlichen Formen sämtlich auf den aktuellen Diskurs zur DDR beziehen. Die Autoren verstehen sich und ihre Texte – nicht nur, aber auch – als Teil einer Erinnerungskonkurrenz. Damit lassen sich ihre autobiographischen Stellungnahmen in den Verlauf und den Gesamtkontext des allgemeinen Aufarbeitungsbetriebs einbetten. Anhand der Texte wird untersucht, inwiefern deren Urheber der Deutung der vorherrschenden Diskurse zustimmen oder ihr widersprechen und mit welchen narrativen Strategien die Autobiographen was für ein Geschichtsbild verankern. Wie Biographie und Geschichte aufeinander bezogen wird und welche Selbst- und Geschichtsbilder auf diese Weise entstehen, steht also im Mittelpunkt dieses Kapitels. An welchen Punkten kommt es zu einer Transformation historischer Primärerfahrung in eine symbolhafte Erinnerungskultur, an welchen Stellen besteht das Beharren auf der eigenen Geschichte? Ein dritter Bereich schließlich legt den Schwerpunkt auf das Morgen, auf die »vergangene Zukunft« 88, die gleichwohl ohne das Gestern nicht zu denken ist. Sie steht im Mittelpunkt von Kapitel III. Hier wendet sich der Blick von der Gegenwart in die Zukunft, hin zu der Frage, wie die Protagonisten sie angesichts der Vergangenheit gestalten. In diesem Sinne sollen die temporalen Strukturen, die Zukunftsbezüge in den Autobiographien und ihre Modifikationen, nicht nur nach 1989, sondern die gesamten Erzählungen in den Blick nehmend, herausgearbeitet werden. Wie und mit welchen Strategien blickten und blicken die Protagonisten nach vorne, in welchem Bezug zur Vergangenheit stehen ihre Strategien der Zukunftsaneignungen? Dabei geht es auch um die Frage nach der Bedeutung von persönlichen und historischen Zäsuren: Welche subjektiven Periodisierungslinien strukturieren die Interpretationen des eigenen Lebens, über welche Kriterien definieren die Autobiographen Kontinuitäten 88 | KOSELLECK, Reinhart: Vergangene Zukunft. Frankfurt a.M. 1992.
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und Umbrüche? Stellen sie im Akt der autobiographischen Deutung die Vorstellung von ›objektiven‹ Zäsuren in der Zeitgeschichte in Frage oder bringen sie sie erneut hervor?89
6 F ORSCHUNGSSTAND Mit diesen Überlegungen knüpft die Arbeit an verschiedene Forschungsfelder an, die im Folgenden überblicksartig vorgestellt werden; eine breitere Einbettung in die thematischen Zusammenhänge erfolgt jeweils zu Beginn der einzelnen Kapitel. Zu nennen ist zunächst die verstärkte Aufmerksamkeit, die das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft dank Neuer Kulturgeschichte, Alltagsgeschichte, Historischer Anthropologie und Mikrohistorie genießt. Dies hat vor allem die Erfahrungen, Wahrnehmungen und Handlungen Einzelner wieder ins Blickfeld der Historiographie gerückt.90 Diese kul89 | Vgl. hierzu an dieser Stelle nur: ESCH, Arnold: Zeitalter und Menschenalter. Die Perspektiven historischer Periodisierung, in: Ders.: Zeitalter und Menschenalter. Der Historiker und die Erfahrung vergangener Gegenwart. München 1994, S. 9-38; KOSELLECK, Reinhart: Zeitschichten. Studien zur Historik, Frankfurt a.M. 2000; FULDA, Daniel: Auf der Suche nach der verlorenen Geschichte. Zeitbewußtsein in Autobiographien des ausgehenden 20. Jahrhunderts, in: Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne, hg. v. Annette Simonis u. Linda Simonis, Bielefeld 2000, S. 198-226. 90 | Aus der Fülle der Literatur hier eine enge Auswahl: VAN LAAK, Dirk: Alltagsgeschichte, in: Neue Themen und Methoden der Geschichtswissenschaft [=Aufriss der Historischen Wissenschaften, Bd. 7], hg. v. Michael Maurer, Stuttgart 2003. S. 14-78; MAURER, Michael: Historische Anthropologie, in: Neue Themen und Methoden, S. 294-387; MEDICK, Hans: Quo vadis Historische Anthropologie? Geschichtsforschung zwischen Historischer Kulturwissenschaft und Mikro-Historie, in: Historische Anthropologie 9 (2001), S. 78-92; LÜDTKE, Alf: Alltagsgeschichte, Mikro-Historie, historische Anthropologie, in: Geschichte. Ein Grundkurs, hg. v. Hans-Jürgen Goertz, Reinbek 1998, S. 557-578; DERS. (Hg.): Alltagsgeschichte. Zur Rekonstruktion historischer Erfahrungen und Lebensweisen, Frankfurt 1989; SCHULZE, Winfried (Hg.): Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikrohistorie. Göttingen 1994; BERLINER GESCHICHTSWERKSTAT T (Hg.): Alltagskultur, Subjektivität und Geschichte. Zur Theorie und Praxis von Alltagsgeschichte, Münster 1994.
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turgeschichtliche Erweiterung der Sozialgeschichte hat eine Neubewertung der Rolle des Individuums in ihrer Relevanz für historische Prozesse mit sich gebracht. Daraus ergibt sich ein neues Interesse an Selbstzeugnissen, konkret an der Autobiographie und damit verbunden auch an der Biographieforschung. Die mit den lebensgeschichtlichen Ansätzen verbundenen Erkenntnisinteressen sind breit gestreut und vielfältig. Gerade in der Familien- und Geschlechtergeschichte sind Arbeiten entstanden, die zum großen Teil auf der Erschließung von Selbstzeugnissen, also auch von Autobiographien, basieren.91 Doch auch in anderen Bereichen werden mit diesen Quellen mentalitätsgeschichtliche Fragen ebenso erörtert wie alltags- und sozialisationsgeschichtliche.92 Einige Arbeiten nähern sich einzelnen historischen Phänomenen und ganzen Epochen über biographische Collagen.93 Ebenso wurden Kollektivbiographien zu verschiedenen sozialen Gruppen94
91 | Dies gilt insbesondere für BUDDE, Gunilla-Friederike: Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840-1914, Göttingen 1994; FREVERT, Geschlechter-Identitäten; HABERMAS, Frauen und Männer; TREPP, Sanfte Männlichkeit. 92 | Vgl. hier nur: LAFERL, Christopher F./TIPPNER, Anja (Hg.): Leben als Kunstwerk. Künstlerbiographien im 20. Jahrhundert. Von Alma Mahler und Jean Cocteau zu Thomas Bernhard und Madonna, Bielefeld 2011; KWASCHIK, Anne: Auf der Suche nach der deutschen Mentalität. Der Kulturhistoriker und Essayist Robert Minder, Göttingen 2008; GEIPEL, Ines: Black Box DDR: unerzählte Leben unterm SED-Regime, Wiesbaden 2009; KÜMPER, Hiram (Hg.): Historikerinnen: eine biobibliographische Spurensuche im deutschen Sprachraum. Kassel 2009. 93 | SCHWARZ, Hans-Peter: Das Gesicht des 20. Jahrhunderts: Monster, Retter, Mediokritäten. München 2010; FRÖHLICH; Michael (Hg.): Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2001; DERS.: (Hg.): Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2002; FREVERT, Ute/HAUPT, Heinz-Gerhard (Hg.): Der Mensch des 19. Jahrhunderts. Essen 2004; DIES. (Hg.): Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Essen 2004. 94 | Zur Methode vgl. SCHRÖDER, Wilhelm-Heinz: Kollektivbiographie als interdisziplinäre Methode in der historischen Sozialforschung. Köln 2011; zur Umsetzung: BERGHOFF, Hartmut: Englische Unternehmer 1870-1914. Göttingen 1991; BRAKENSIEK, Stephan: Richter und Beamte an den Unterbehörden in HessenKassel. Möglichkeiten und Grenzen einer Kollektivbiographie, in: Biographiefor-
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und Generationen95 vorgelegt. Soziale Selbstbeschreibungen und ihre Bedeutung für Wandel und Stabilität sozialer Ordnungen sind damit immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt.96 Gleichzeitig lässt sich eine Renaissance der Debatte über Narrativität als historiographisches Theorieproblem beobachten.97 Betrachtet man spezieller die Autobiographien als zeithistorische Quelle, so sind jedoch die methodischen Überlegungen und mehr noch die empirische Umsetzung deutlich dünner gesät. Was die Methodik angeht, so haben vor allem Volker Depkat und Julia Herzberg in den letzten Jahren innovative und anschlussfähige Überlegungen angestellt und diese auch empirisch überzeugend umgesetzt.98 schung und Stadtgeschichte, hg. v. Gisela Wilbertz u. Jürgen Scheffler, Bielefeld 2000, S. 44-69. 95 | WIERLING, Dorothee: Geboren im Jahr eins. Der Jahrgang 1949 in der DDR. Versuch einer Kollektivbiographie, Berlin 2002. 96 | Zur Idee der Selbstbeschreibung: LUHMANN, Niklas: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, in: Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 866-868; NOLTE, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, DERS.: Gesellschaftstheorie und Gesellschaftsgeschichte. Umrisse einer Ideengeschichte der modernen Gesellschaft, in: Geschichte zwischen Kultur und Gesellschaft, hg. v. Thomas Mergel u. Thomas Welskopp, München 1997, S. 275-298. 97 | Vgl. als Auslöser dieser Debatte: WHITE, Hayden: Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen. Stuttgar t 1986; DERS.: Metahistory; vgl. außerdem RÜSEN, Jörn: Wie kann man Geschichte vernünftig schreiben? Über das Verhältnis von Narrativität und Theoriegebrauch in der Geschichtswissenschaft, in: Theorie und Erzählung in der Geschichte, hg. v. Jürgen Kocka u. Thomas Nipperdey, München 1979, S. 300-333; DERS: Kann gestern besser werden? Über die Verwandlung der Vergangenheit in Geschichte, in: Gesch. und Ges. 2/2002, S. 305-321. 98 | Mit Volker Depkats Habilitation liegt ein wichtiges Referenzwerk vor, denn er nutzt seine autobiographischen Quellen keinesfalls als »Faktensteinbruch«, sondern legt starkes Gewicht auf ihre Textualität; dabei widmet er sich Politiker-Autobiographien des 20. Jahrhunderts. Vgl. DEPKAT, Lebenswenden. Vgl. außerdem: DEPKAT, Volker: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 3/2003, S. 441-476; HERZBERG, Julia: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion, Bielefeld 2013; vgl. zur Quellenkritik zudem GÜNTHER, Dagmar: »And now for something
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Zudem existieren literaturwissenschaftliche99 und auch soziologische100 Arbeiten, die wichtige Anknüpfungspunkte für den Umgang mit dem Material bieten, an das sie gleichwohl andere Fragen stellen. Um die Wechselwirkung zwischen geschichtspolitischem Kontext und den individuellen Erinnerungen, das heißt den Rekurs auf die gegenwärtigen Auswirkungen von Vergangenheit in sich wandelnden politischen und gesellschaftlichen Diskursen sichtbar zu machen, kann auf eine Reihe von Forschungsarbeiten zurückgegriffen werden, die sich Fragen der Geschichtspolitik101 bzw. Überlegungen zu »Erinnerung und
completely different«. Prologemena zur Autobiographie als Quelle der Geschichtswissenschaft, in: HZ 1/2001, S. 25-61; zu nennen ist hier zudem eine Untersuchung, die »autobiographische Schriften von Ex-Kommunisten im geteilten Deutschland« ins Zentrum stellt. Sie liegt über zwei Jahrzehnte zurück, ist in ihrem Quellenverständnis ihrer Zeit allerdings weit voraus. Vgl. hierzu KUHN, Bruch mit dem Kommunismus. 99 | Besonders hervorzuheben ist hier TATE, Dennis: Shifting Perspectives: East German Autobiographical Narratives Before and After the End Of The GDR. New York 2007; vgl. auch: STEINIG, Valeska: Abschied von der DDR – Autobiografisches Schreiben nach dem Ende der politischen Alternative, Frankfurt a.M. 2007. 100 | Vgl. HEINZE, Carsten: Identität und Geschichte in autobiographischen Lebenskonstruktionen. Wiesbaden 2009. 101 | RÜSEN, Jörn: Historische Orientierung; DERS.: Geschichtskultur. In: Gesch. in Wissen und Unterricht 46, 1995, S. 513-521. WOLFRUM, Edgar: Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Darmstadt 1999; DERS.: Geschichte als Waffe. Göttingen 2001. Zur Geschichtspolitik nach 1989 hat Bernd Faulenbach mehrere grundlegende Skizzen vorgelegt: FAULENBACH, Bernd: Die neue geschichtspolitische Konstellation der neunziger Jahre und ihre Auswirkungen auf Museen und Gedenkstätten, in: Der Kommunismus im Museum, hg. v. Volkhard Knigge und Ulrich Mählert, S. 54-69; DERS: Die DDR als Gegenstand der Geschichtswissenschaft. In: Geschichte vermitteln. Ansätze und Erfahrungen in Unterricht, Hochschule und politischer Bildung, hg. v. Jens Hüttmann, Ulrich Mählert u. Per Pasternack, Berlin 2004, S. 65-79; DERS.: Zehn Jahre Auseinandersetzung über die doppelte Nachkriegsgeschichte und die Frage der inneren Einheit in Deutschland, in: Deutsche Fragen. Von der Teilung zur Einheit, hg. v. Heinz Timmermann, Berlin 2001, S. 647-660.
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Identität«102, »Erinnerung und Geschichte«103 und der in den letzten Jahren florierenden Generationenforschung widmen.104 Auch im Rahmen der erinnerungsgeschichtlichen und geschichtspolitischen Forschungsansätze zur Auseinandersetzung mit der DDR finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte – aber auch Lücken, die diese Arbeit in Ansätzen füllen möchte. Trotz der schwer zu überschauenden Vielzahl an Publikationen zur DDR-Geschichte, der Aufarbeitung des Umgangs mit ihr,105 trotz der Konjunktur der kulturwissenschaftlichen Erinnerungsforschung seit den 1990er Jahren, die auch die DDR in den 102 | Vgl. MARQUARD, Odo/STIERLE, Karlheinz: Identität (=Poetik und Hermeneutik, Bd. 8). München 1979. NEUMANN, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a.M. 1970; PATZEL-MAT TERN, Katja: Geschichte im Zeichen der Erinnerung. Subjektivität und kulturwissenschaftliche Theoriebildung. Stuttgart 2002. 103 | GROSSE-KRACHT, Klaus: Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs – Pierre Nora. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47, 1996, S. 21-31; NORA, Pierre: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Frankfurt a.M. 1998. 104 | JUREIT; Generationenforschung; JUREIT, Ulrike/WILDT, Michael (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005; REULECKE, Jörn (Hg.): Generationalität und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert. München 2003; SCHULZ, Andreas/GREBNER, Gundula: Generation und Geschichte. Zur Renaissance eines umstrittenen Forschungskonzepts, in: Generationswechsel und historischer Wandel, hg. v. dies., München 2003, S. 1-23; PARNES, Ohad/VEDDER, Ulrike/WILLER, Stefan: Das Konzept der Generation. Eine Wissenschafts- und Kulturgeschichte, Frankfurt a.M. 2008. 105 | Vgl. Anmerkung 37, vgl. außerdem: SCHAARSCHMIDT, Thomas/HANDRO, Saskia: Aufarbeitung der Aufarbeitung. Die DDR im geschichtskulturellen Diskurs, Schwalbach 2011. Auch implizit ist das Feld in den Blick der Wissenschaft gerückt, wenn beispielsweise versucht wird, »Legenden« oder auch Bezugspunkte der DDR neu zu befragen. Vgl. GROSSBÖLTING, Thomas (Hg.): Friedensstaat, Leseland, Sportnation? DDR-Legenden auf dem Prüfstand, Berlin 2009; vgl. auch SABROW, Martin: Erinnerungsorte der DDR; vergleichbare Fragestellungen finden sich zudem in der Auseinandersetzung mit ›Ostalgie‹. GALLINAT, Anselma: Being »East German« or being »At home in eastern Germany«? Identity as experience and as rhetoric, in: Identities, 6/2008, S. 665-686; vgl. auch AHBE, Thomas: Ostalgie. Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005. In ihrer Bandbreite, im Ineinanderwirken der verschiedenen Felder sowie in ihren
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Blick nimmt,106 fanden die Quellen, die in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden – die Nachwende-Autobiographien – bisher wenig geschichtswissenschaftliche Aufmerksamkeit. Ihre Textualität selbst steht lediglich in einer einzigen Untersuchung im Mittelpunkt: Stefan Zahlmann stellt sie Erinnerungstexten gegenüber, die nach dem Ende des amerikanischen Bürgerkriegs entstanden sind und wertet sie auf die Frage hin aus, wie Nationen sich an die Zeit ihrer Teilung und an »das Scheitern« erinnern.107 Es existieren einige wenige Monographien, die sich der autobiographischen Auseinandersetzung mit der DDR widmen, die dabei aber vor allem im Bemühen verharren, die Unzuverlässigkeit dieser Erinnerungen sichtbar werden zu lasen und damit in das Reich des Fiktionalen zu überführen.108 So reduziert etwa Christian Jung seine Untersuchung Wirkungen ist die DDR-Vergangenheit als Bestandteil der politischen Kultur der 1990er Jahre und der folgenden Dekade noch nicht erfasst. 106 | Im Falle der »Oral History« meinen Selbstzeugnisse nicht nur die Quelle, sondern auch die Methode. Vgl. hierzu ausführlich: WIERLING, Dorothee: Oral History, in: Neue Themen und Methoden, S. 81-151, hier S. 81-85. Als Arbeiten in diesem Bereich sind besonders hervorzuheben: WIERLING, Geboren im Jahr Eins; FULBROOK, Mary: Dissonant Lives. Generations and Violence Through the German Dictatorships; Oxford 2011; 2009 erschien eine Anthologie von DDR-Erinnerungsorten, 2011 in England ein Sammelband, in dem die Erinnerung an die DDR unter verschiedenen Gesichtspunkten – u.a. Museen, Generationen, Erinnerungen von Eliten – historisiert wird. Vgl. SABROW, Erinnerungsorte der DDR; CLARKE, David/ WÖLFEL, Ute: Remembering the German Democratic Republic. Divided Memory in a United Germany, Basingstoke 2011. 107 | Dieser Arbeit liegt ein sehr weitgefasster Quellenbegriff zugrunde. Zusätzlich zu den klassischen Autobiographien untersucht er beispielsweise auch Lebensläufe und Interviews, vgl. ZAHLMANN, Stefan: Autobiographische Verarbeitungen gesellschaftlichen Scheiterns: Die Eliten der amerikanischen Südstaaten nach 1865 und der DDR nach 1989. Köln 2009, S. 63. 108 | Auch die Autobiographik in der DDR ist bislang wenig erforscht. Hervorzuheben ist dabei BROMKE, Heidrun: Vergangenheit im Spiegel autobiographischen Schreibens. Untersuchungen zu autobiographischen Texten von Naturwissenschaftlern und Technikern der DDR in den 70er und 80er Jahren, Weinheim 1993; DEPKAT, Volker: Die DDR-Autobiographik als Ort sozialistischer Identitätspolitik. In: Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. v. Martin Sabrow, Göttingen 2012, S. 110-138; SCHLEIERMACHER,
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von Funktionärs-Autobiographien auf die Frage nach dem »Wahrheitsgehalt« der Erinnerungen.109 Ute Hirsekorn, die die gleichen Texte analysiert, geht zwar darüber hinaus und versucht vor allem, Erzählmuster ausfindig zu machen, die auf eine »Funktionärs-Mentalität« schließen lassen könnten – belässt es dann allerdings weitgehend dabei, »thematische Übereinkünfte« herauszufiltern, ohne diese weiter zu interpretieren.110 Zudem sind im Bereich der oral history Arbeiten entstanden, in deren Zentrum die Umbrucherfahrung von 1989 und ihre biographische Sabine: ›Humanistisch, dem Menschen dienend, ist deshalb das Ethos des Arztberufes‹. Die Beschreibung des Nationalsozialismus in ärztlichen Autobiographien in der DDR, in: Erinnerungskartelle. Zur Konstruktion von Autobiographien nach 1945, hg. v. Angelika Schaser, Bochum 2003, S. 141-166; LUDOROWSKA, Halina: Strategien der Selbstdarstellung in Schriftstellerautobiographien aus der DDR. Lublin 2006. 109 | Christian Jung beabsichtigt in seiner Dissertation eine »deskriptive Darstellung der in den Autobiografien behandelten Themen, Komplexe und Selbstreflexionen, um sie in einer vergleichenden Analyse gegeneinander zu stellen und auf ihre Verifizierbarkeit zu untersuchen«. Er weist den Autobiographen in seiner Studie primär vermeintliche Geschichtsklitterung nach und geht dabei nicht auf die sinnkonstituierende Leistung der Erinnerungen ein. Mit dem Titel seiner Arbeit – »Geschichte der Verlierer« – bezieht er sich auf die einst von SED-Funktionären gerne verwendete Paraphrase von den »Verlierern der Geschichte«, die in ihrer Sicht jenseits des Eisernen Vorhangs zu finden waren. Jung nun betrachtet es als seine historiographische Aufgabe, den »Verlierern« nachzuweisen, dass sie die tatsächlichen Verlierer waren. Vgl. JUNG, Christian: Geschichte der Verlierer. Historische Selbstreflexion von hochrangigen Mitgliedern der SED nach 1989. Heidelberg 2007, Zitat von S. 29. 110 | Die Arbeit ist noch nicht erschienen, eine Zusammenfassung der Untersuchung liegt allerdings in verschiedenen Aufsätzen vor: HIRSEKORN, Ute: Thought patterns and Explanatory Strategies in the Life Writing of High-Ranking GDR Party Officials after the Wende, in: German Life Writing in the 20th Century, hg. v. Birgit Dahlke, Dennis Tate u. Roger Woods, New York 2010, S. 179-195, vgl. hier S. 179180; DIES.: Kontinuitäten und Brüche in den Lebensbeschreibungen von Angehörigen der Parteielite der DDR nach der Wende. In: Autobiografie und historische Krisenerfahrung, hg. v. Heinz-Peter Preusser u. Helmut Schmitz, Heidelberg 2010, S. 149-160.
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Verarbeitung steht,111 ihnen liegen mit Interviews jedoch anders geartete Quellen zugrunde: Autobiographien stiften einen Zusammenhang, der im Falle von Interviews erst hergestellt wird. Abgesehen davon nähern sich dem Phänomen des Umbruchs zahlreiche soziologische und auch psychologische Untersuchungen, stellen dabei aber andere Fragen als geschichtswissenschaftlich orientierte Analysen, da sie sich vor allem auf die akuten Verarbeitungsprozesse in der jeweiligen Gegenwart beziehen.112 Demgegenüber wird hier eine Perspektiverweiterung unternommen, indem nicht nur nach der Ausbildung und Umformung autobiographischer Narrative im Zusammenhang eines Systemwechsels gefragt wird, sondern auch nach den Beharrungskräften, die sich in der Gebundenheit an bestimmte Narrative zeigen. Dabei geht es um das Wechselspiel zwischen Zäsurerfahrung und narrativer (Selbst-)Konstruktion und der damit zusammenhängenden Veränderung von Zukunftsvorstellungen. 111 | Vgl. Anmerkung 105/Einleitung; außerdem ist ein jüngst erschienener Sammelband zu nennen, in dem biographische Erfahrungen und Bearbeitungsstrategien nach dem politischen Umbruch diskutiert werden, auch in anderen postsozialistischen Gesellschaften; explizit werden hier inhaltliche Fragen mit der Diskussion der methodischen Zugangsweisen der Oral History und deren adäquater Fortentwicklung verknüpft. Vgl. OBERTREIS, Julia/STEPHAN, Anke (Hg.): Oral History und (post-)sozialistische Gesellschaften. Erinnerungen nach der Wende. Remembering after the fall of communism. Oral history and (post-)socialist societies, Essen 2009. 112 | Die biographische Bewältigung des Verlusts der vertrauten Lebenswelt, Entwicklung bzw. Kontinuitäten ostdeutscher Mentalitäten, die Untersuchung einer ostdeutschen Sonderidentität oder auch Erfahrungen ost- und westdeutscher Differenzen in unterschiedlichen Kontexten standen im Blickfeld verschiedener wissenschaftlicher Studien. Vgl. ALHEIT, Peter u.a: Die zögernde Ankunft im Westen. Biographien und Mentalitäten in Ostdeutschland, Frankfurt a.M. 2004; ARP/BOECK, Mein Land verschwand so schnell; KARUTZ, Annemarie: Von der Idealisierung des Nationalsozialismus zur Idealisierung des Kommunismus. Eine biographietheoretische Verlaufstudie früherer SED-Genossen von 1990-1999, Gießen 2003; POLLACK, Detlev/PICKEL, Gert: Die ostdeutsche Identität – Erbe des DDR-Sozialismus oder Produkt der Wiedervereinigung? Die Einstellung der Ostdeutschen zu sozialer Ungleichheit und Demokratie, in: APuZ 41-42, 1998, S. 9-23; SCHERGER, Simone/KOHLI, Martin: Eine Gesellschaft – zwei Vergangenheiten. Historische Ereignisse und kollektives Gedächtnis in Ost- und Westdeutschland, in: BIOS 1/2005, S. 3-7.
Einleitung
Weder die dieser Arbeit zugrunde liegenden Quellen noch sonstige Nachwende-Autobiographien wurden bislang systematisch auf narrative Topoi der historischen Erfahrung und Erinnerungskonstruktion hin analysiert. Ebenso fand der geschichtspolitische Aspekt, der die Autobiographen auch als Akteure auf einem besonders umkämpften Gebiet aktueller Erinnerungspolitik versteht, bislang keine Beachtung. Diese Lücken möchte die vorliegende Arbeit schließen. Damit versteht sie sich als kulturgeschichtlicher Beitrag zur historischen Autobiographieforschung, zur Historisierung der Bewältigung der DDR-Vergangenheit nach 1989 und zur Erforschung von Zeitvorstellungen und ihrer Veränderbarkeit.
7 K URZ VORSTELLUNG DER P ROTAGONISTEN Bevor die Textanalyse die Lebenserzählungen der Protagonisten in den Mittelpunkt rückt, werden hier ihre Lebenswege selbst vorgestellt, fokussiert freilich auf die beruflichen und politischen Werdegänge und auch dies nur in aller Kürze – der Blick der Arbeit ist nicht darauf gerichtet, was die Beteiligten erlebt haben, sondern wie sie später davon berichten. Neben einer ersten Orientierung sollen die folgenden Skizzen in alphabetischer Reihenfolge deshalb vor allem Aufschluss darüber geben, an welchem Punkt ihres (beruflichen) Lebens die Autobiographen sich befanden, als sie ihre Erinnerungen verfassten.113 Herbert Hörz, 1933 in Stuttgart als Sohn einer ledigen Köchin geboren, verbringt die ersten Lebensjahre in Echterdingen in der Familie seiner Tante mütterlicherseits. Nach der Hochzeit der Mutter zieht die Familie nach Erfurt, wo Hörz seine Jugend verlebt, 1949 SED-Mitglied wird und 1952 das Abitur macht. Anschließend studiert er bis 1956 an der Universität Jena und der Humboldt-Universität zu Berlin (HUB)114 Philo113 | Quellengrundlage hierfür v.a. ist das Lexikon »Wer war wer in der DDR?«, das 2010 stark erweitert in der fünften Auflage erschienen ist: MÜLLER-ENBERGS, Helmut/WIELGOHS, Jan/HOFFMANN, Dieter u.a. (Hg.): Wer war wer in der DDR? Ein Lexikon ostdeutscher Biographien, Berlin 2010. 114 | HUB war in der DDR die gängige Abkürzung für die Humboldt-Universität, die von den Autobiographien verwendet und auch hier übernommen wird. Seit 1989/90 wird sie gemeinhin mit HU Berlin abgekürzt.
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sophie mit den Nebenfächern Physik und Mathematik. Die üblichen wissenschaftlichen Karriereschritte kommen in rascher Folge: Assistent am Institut für Philosophie der HUB, 1960 Promotion mit der Arbeit »Die philosophische Bedeutung der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation«, 1962 Habilitation, 1965 Professur. 1966 wird Hörz erst Prodekan, 1967/68 dann Dekan der Philosophischen Fakultät und nach der Hochschulreform von 1968 bis 1972 Direktor der Sektion marxistisch-leninistische Philosophie der HUB. Hörz etabliert sich auf diese Weise bald als prominenter Repräsentant der DDR-Philosophie. Nach einem Jahr als Gastprofessor an der Moskauer LomonossowUniversität wird Hörz 1973 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW), wo er bis 1990 mehrere hohe Ämter innehat. Gestützt auf den Vorwurf des Revisionismus betreibt Hörz 1981 die Maßregelung der Gruppe um Peter Ruben, die für Ruben mit Parteiausschluss und Lehrverbot endet.115 1989 erhält Hörz die Ehrendoktorwürde der Pädagogischen Hochschule (PH) Erfurt-Mühlhausen. Hörz bleibt bis 1995 an der – mittlerweile neugegründeten – Akademie, dann verliert er diese Arbeit im Zuge der Abwicklung116. Er wechselt anschließend zur Leibniz-Sozietät, die 1993 ins Leben gerufen wurde, um das ›wahre Erbe‹ der Akademie weiter zu verwalten. Staatliche Anerkennung blieb diesem Vorhaben bislang verwehrt. Hörz ist von 1998 bis 2006 ihr Präsident. 2005 erscheint seine Autobiographie, bei deren Veröffentlichung er 72 Jahre alt ist. 115 | Vgl. hierzu: WARNKE, Camilla: Nicht mit dem Marxismus-Leninismus vereinbar! Der Ausschluß von Peter Rubens Philosophiekonzept aus der DDR-Philosophie 1980/81, in: Ausgänge. Zur DDR-Philosophie in den 70er und 80er Jahren, hg. v. Hans-Christoph Rauh u. Hans-Martin Gerlach, Berlin 2009, S. 560-600. 116 | Der Begriff ›Abwicklung‹ spielt in allen Autobiographien eine wichtige Rolle. Er entstammt dem Einigungsvertrag, der ihn allerdings nur einziges Mal nennt und sich dabei auf die Auslandsvermögen der DDR bezieht. Im Volksmund wurde er aber rasch auf viele andere Bereiche bezogen, die im Zuge der Wiedervereinigung einem Transformationsprozess unterworfen waren – so auch die Wissenschaft. In Artikel 38 des Einigungsvertrages wurde ihre »notwendige Erneuerung« konstatiert, sowie die »Begutachtung […] durch den Wissenschaftsrat«. Vgl. Einigungsvertrag Art. 38, Absatz 1, www.gesetze-im-internet.de/einigvtr/art_38.html [letzter Zugriff 07/2013]. Im Zuge dieser Evaluation verlor ein Großteil der früheren DDR-Wissenschaftler ihre Anstellung. Vgl. ausführlich dazu Kap. II dieser Arbeit.
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Wolfgang Jacobeit wird 1921 in Naumburg (Saale) in eine großbürgerliche Familie geboren. Im Anschluss an das Abitur 1939 studiert er Geschichte und Volkskunde an den Universitäten Leipzig und Königsberg. Der Einberufungsbefehl unterbricht das Studium 1941: Jacobeit wird Soldat, bis er 1945 in englische Gefangenschaft gerät. Nach dem Kriegsende nimmt er sein Studium in Göttingen wieder auf und wählt nun die Fächer Geschichte, Volkskunde sowie Ur- und Frühgeschichte. 1948 wird er mit einer ethnographischen Arbeit promoviert, anschließend arbeitet er in einem Aluminiumwerk und bekommt ein Stipendium von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft, der späteren Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zeitgleich ist er bis Mitte der 1950er Jahre beim Suchdienst der Mission francaise des Recherches tätig, wo er an der Exhumierung und Identifizierung tausender Leichen beteiligt ist. 1956 siedelt er in die DDR über, wo er bis 1972 am Institut für Deutsche Volkskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften (DAW) arbeitet117. Anfang der 1960er Jahre habilitiert er sich mit einer Arbeit über »Schafhaltung und Schäfer in Zentraleuropa bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts«, danach wird er Gastdozent an der HUB und 1970 Honorarprofessor. 1972 übernimmt er die Leitung des Museums für Volkskunde auf der Berliner Museumsinsel, bis er 1980 ordentlicher Professor an der HUB wird. 1986 wird Jacobeit emeritiert. Jacobeit galt als einer der wichtigsten Vertreter der Volkskunde in der DDR und war zeitweise Präsident der Association Internationale des Musées d’Agriculture sowie Mitglied des Präsidiums der Société Internationale d’Ethnologie et de Folklore. Er gehörte keiner Partei an. Seine Lebenserinnerungen entstehen, als Jacobeit Ende 70 ist. Fritz Klein, geboren 1924 in Berlin, wächst zunächst in großbürgerlichem Milieu als Sohn eines Nationalkonservativen auf, verliert aber früh beide Eltern. Ab 1936 lebt er als Pflegekind bei der Familie des sozialdemokratischen Bildungsreformers Heinrich Deiters. Nach dem Abitur wird Klein zur Wehrmacht einberufen und ist von Herbst 1942 bis März 1945 Soldat an der Ostfront. Nach kurzer Kriegsgefangenschaft beginnt er zunächst ein Geschichtsstudium in Göttingen, kehrt aber bald nach Berlin zurück, heiratet, wird KPD-Mitglied und setzt 1946 das Studium
117 | Die DAW wird ab 1972 in Akademie der Wissenschaften (AdW) umbenannt.
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an der HUB fort. 1952 wird Klein mit einer Arbeit über die deutsch-sowjetischen Beziehungen während der Weimarer Republik promoviert. Sein Arbeitsleben beginnt er im Museum für Deutsche Geschichte, entscheidet sich aber bald für die Wissenschaft. 1953 gehört er zu den Gründern der Zeitschrift für Geschichtswissenschaft (ZfG), 1956 wird er Chefredakteur, nach nur einem Jahr wegen des Vorwurfs »objektivistischer und revisionistischer Tendenzen«118 von seinem Posten entbunden und einem Parteiverfahren unterworfen, das ihm jedoch nicht nachhaltig schadet. 1958 geht Klein als Mitarbeiter ans Institut für Geschichte der DAW zu Berlin und übernimmt dort die Leitung der Arbeitsgruppe »1. Weltkrieg«. Zehn Jahre später habilitiert sich Klein an der Karl-MarxUniversität Leipzig mit einer Arbeit über den deutschen Imperialismus und die Entstehung des 1. Weltkriegs, 1970 wird er Professor. Bis 1989 leitet er verschiedene historische Forschungsbereiche an der Berliner Akademie. Von 1979 bis 1989 wird Klein beim MfS als IM »Wilhelm« geführt. Diese Tätigkeit verhindert eine spätere Übernahme in den ›gesamtdeutschen‹ Wissenschaftsbetrieb. Obwohl Kleins wissenschaftliche Leistungen weithin Anerkennung finden, muss er 1992 wegen seiner Stasivergangenheit aus der Struktur- und Berufungskommission der HUB ausscheiden. Die von ihm herausgegebene dreibändige Arbeit »Deutschland im Ersten Weltkrieg« (1968/69) gilt bis heute als Standardwerk und wurde 2004 noch einmal aufgelegt; 1999 erhält Klein die Ehrendoktorwürde der Universität Lüneburg. Um diese Zeit – mit Mitte 70 – schreibt er seine Autobiographie. Klein starb 2011 in Berlin. Eckart Mehls ist der jüngste unter den Biographen. Er wird 1935 in Stettin in eine Beamtenfamilie geboren. Das Kriegsende erlebt er auf der Flucht, die Schulzeit verbringt er in einem Internat im Osten Mecklenburgs. 1953 legt er sein Abitur ab, wird Mitglied der SED und beginnt ein Jura-Studium an der HUB, wechselt aber bald zu Geschichte und Russisch mit dem Ziel des Lehramts. Nach dem Staatsexamen 1959 wird er für zwei Jahre Lehrer an der Erweiterten Oberschule Wolgast, um dann als Auslandsreferent des Rektors an die HUB zurückzukehren. In dieser Zeit, 1966, unterschreibt er eine Verpflichtungserklärung beim MfS als IM »Eckhard«. Von 1969 bis 1979 ist er Direktor für internationale Be118 | KOWALCZUK, Ilko-Sascha: Legitimation eines neuen Staates. Parteiarbeiter an der historischen Front. Geschichtswissenschaft in der SBZ/DDR 19451961, Berlin 1997, S. 311.
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ziehungen der HUB, im Anschluss habilitiert er sich mit einer Arbeit über die Geschichte von Sowjetunion und Sozialismus. 1983 wird Mehls Dozent für die Geschichte des sozialistischen Weltsystems an der HUB und bald darauf Professor für Neuere Geschichte Osteuropas. Aufgrund seiner Mitarbeit bei der Staatssicherheit wird Mehls 1992 in den Vorruhestand entlassen. Sechs Jahre später – Mehls ist 63 Jahre alt – erscheint seine Autobiographie. Werner Mittenzwei blickt erst nach seinem 70. Geburtstag auf sein Leben zurück. 1927 in Limbach (Sachsen) geboren, beginnt Mittenzwei 1942 eine Lehre zum Industriekaufmann, die er jedoch Ende 1944 wegen seiner Einberufung unterbrechen muss. 1945 ist er für kurze Zeit in sowjetischer Gefangenschaft. Nach seiner Rückkehr wird Mittenzwei Neulehrer, 1946 Mitglied der SED, Anfang der 1950er Jahre Assistent an der Deutschen Hochschule für Musik in Berlin, anschließend Aspirant am Institut für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED. 1960 wird er mit einer Arbeit über Bertolt Brecht promoviert, vier Jahre später habilitiert er sich auf dem Gebiet der Dramentheorie. Nur zwei Jahre darauf, 1966, wird er schließlich Professor für Literaturtheorie. 1967 geht er als Mitarbeiter an die DAW; in der Folge wird er Mitglied der AdW sowie der Akademie der Künste, gehört dem Leitungsgremium des Berliner Ensembles an und erhält 1973 den Nationalpreis der DDR, 1982 im Kollektiv ein weiteres Mal. 1991 wurde er im Zuge der Abwicklung in den Vorruhestand versetzt. Er veröffentlicht vor allem literatur- und theaterwissenschaftliche Arbeiten mit Schwerpunkt auf Exilliteratur und Dramentheorie. Verschiedene Monographien beschäftigen sich zudem mit dem Schicksal von DDR-Wissenschaftlern nach 1989. Seine Autobiographie erscheint 2004. Mittenzwei ist damals 74 Jahre alt. Kurt Pätzold, geboren 1930 in Breslau (Wrocław, Polen), wächst in einer sozialistischen Arbeiterfamilie auf. 1945 muss die Familie fliehen und gelangt schließlich nach Weimar, wo Pätzold Mitglied der Antifaschistischen Jugend und der Freien Deutschen Jugend (FDJ) wird. Als Arbeiterkind wird er besonders gefördert und kann mit einem Stipendium das Internat der Freien Schulgemeinde Wickersdorf besuchen.119 Nach dem Abitur 1948 studiert Pätzold bis 1953 erst Germanistik, dann 119 | Vgl. hierzu: BARTH, Dieter: Die Internatsschule Wickersdorf in den Jahren 1945 bis 1991. Baden-Baden 1999, S. 34ff.
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Geschichte, Politische Ökonomie und Philosophie an der Universität Jena. In dieser Zeit wird er Mitglied der SED. Im Anschluss an das Studium bleibt Pätzold für zehn Jahre als Assistent und Aspirant an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (FSU), außerdem lehrt er an der Arbeiter- und Bauernfakultät. Zeitweise ist er Universitäts-Parteisekretär und vor allem Ende der 1950er Jahre an der Diskriminierung und Ausgrenzung Andersdenkender beteiligt. 1963 wird er mit einer Arbeit über den Zeiss-Konzern in der Weltwirtschaftskrise promoviert. Im selben Jahr wechselt er als Sekretär der Sektion Geschichte an die DAW nach Berlin. 1967 wird er Assistent an der HUB, wo er sich 1973 habilitiert und unmittelbar darauf zum ordentlichen Professor ernannt wird. 1988 erhält er den Nationalpreis der DDR. Nach 1989 gerät er aufgrund maßgeblicher Beteiligung an der politisch motivierten Relegation von Studenten der Sektion Geschichte an der HUB in den Jahren 1968, 1971/72 und 1976 unter heftige öffentliche Kritik; 1992 wird er deshalb in den Vorruhestand versetzt. Pätzold ist wie Hörz Mitglied der Leibniz-Sozietät. Pätzolds Forschungen widmen sich vor allem der deutschen Geschichte zwischen 1933 und 1945. Er gilt als prominenter Vertreter der marxistisch-leninistischen Faschismus-Forschung. Seine Biographie erscheint 2008; Pätzold ist damals 78 Jahre alt. So weit die knappe Vorstellung der Biographen selbst. Nur einer von ihnen, Mehls, steht zum Zeitpunkt der Niederschrift noch im siebten Lebensjahrzehnt, alle anderen Autoren sind dagegen schon über siebzig, als sie ihre Erinnerungen festhalten. Bei allen liegt die aktive Berufszeit bereits in der Vergangenheit, bei Hörz, Mehls und Pätzold wurde sie unfreiwillig beendet. Und noch etwas ist allen Autoren gemein: Sie alle betonen ostentativ, dass sie alt geworden sind.120 Damit erläutern sie nicht nur die Motivation, ihre Erinnerungen überhaupt aufzuschreiben, sondern sig120 | Jacobeit reflektiert über den Schreibanlass und bezieht sich dabei auf sein Alter: »[…] an der Schwelle zum achten Decennium […]« (JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 11); auch Pätzold erwähnt sein Alter, als er sich im Nachwort an den Leser richtet, um das Zustandekommen der Autobiographie zu erklären (PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 311); ebenso Klein im Prolog (KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 7ff.), Mehls im Vorwort (MEHLS, Unzumutbar, vor allem S. 6), Mittenzwei im letzten Kapitel seiner Erinnerungen (MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 482ff.) und Hörz im Vorwort (HÖRZ, Lebenswenden, S. 21).
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nalisieren zugleich einen besonderen Anspruch, der ihre Niederschrift trägt: Aus dem langen und ereignisreichen Leben, auf das sie zurückblicken, leiten die Autoren eine besondere historische Deutungsautorität ab, die bereits von der schieren Länge des gelebten Lebens getragen wird. Die bloße Aufschichtung von Ereignissen, die Ansammlung von Erfahrungen an sich verleihen den Autoren in ihrer Selbstwahrnehmung einen Weitblick, der die Erinnerungen, wenn nicht mit besonderer Wahrhaftigkeit ausstattet, so doch jedenfalls über das eher kontingente Feld des persönlichen Erlebens hinaus auf eine überpersönliche Ebene hebt. Dass das Alter freilich keinesfalls der einzige Schreibanlass ist, der sich aus den Autobiographien extrahieren lässt, wird die weitere Analyse zeigen. Vorerst stehen allerdings die Identitätskonstruktionen der Protagonisten im Mittelpunkt und die Frage, welche Erzählung sie hierfür als nötigen roten Faden in ihren Erinnerungen nutzen.
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1 V OM W ANDEL DES G EGENÜBERS : E INFÜHRUNG Autobiographien fungieren als retrospektive und coram publico vollzogene Selbstvergewisserung des Einzelnen über sein Leben – sowohl über dessen beruflich-öffentliche wie familiär-private Seiten, die zumeist stark miteinander verwoben sind.1 Auch im 20. Jahrhundert werden angesichts der wechselnden gesellschaftspolitischen Konstellationen die Verknüpfungen lebensgeschichtlicher Erfahrungen mit den politischen Prozessen evident, wird das Private politisch, das Politische privat und das Leben des Einzelnen insgesamt auch in politischer Hinsicht rechtfertigungs- und legitimationsbedürftig. Die eigene Identität über die zahlreichen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts zu retten, ist keine einfache Aufgabe. Das Schreiben einer Autobiographie ist eine Strategie, sie zu bewerkstelligen. War einst die Beichte das Vehikel der Festlegung des Ichs auf seine Inhalte, so stehen die neuen Bekenntnisformen wie die Autobiographie eher im Dienst der Dynamisierung des Selbst angesichts fremderzeugten Anpassungsdrucks. Solche 1 | Im Unterschied zu Memoiren, die eine Sonderform der Autobiographie darstellen: Sie konzentrieren sich nicht auf die Identitätsfindung des Verfassers, sondern erzählen von einem bereits sozialisierten Individuum, dessen berufliche und in den meisten Fällen öffentlich bedeutsame Tätigkeit im Erwachsenenalter nachgezeichnet wird – etwa als Politiker, Wissenschaftler oder Künstler. Diesen terminologischen und strukturellen Unterschied hat vor allem Bernd Neumann herausgearbeitet. Vgl. NEUMANN, Bernd: Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a.M. 1970, S. 12f.; vgl. außerdem COUSER, Thomas G.: Memoir. An Introduction, Oxford 2012.
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heteronomen Zwänge lasten in besonderer Weise auf den hier untersuchten Autobiographien: Durch den Bruch von 1989/90 hat sich für die Autoren das »soziale Gegenüber«2 verändert, was das ohnehin schwierige Vorhaben, eine ein für allemal stimmige Biographie zu erzeugen, zusätzlich verkompliziert. Das politische System, in dem die Autoren einen Großteil ihres Lebens verbrachten, existiert nicht mehr und hat überdies nach seinem Zusammenbruch erhebliche Legitimationseinbußen erlitten. Auch der Bereich der Wissenschaft, in dem die Autoren tätig waren, ist von diesen Rechtmäßigkeitsverlusten betroffen. Sie alle waren Teil des alten Systems – nicht so exponiert wie beispielsweise die politischen Funktionäre, aber dennoch der Deutungselite3 zugehörig. Nun stehen sie vor der Aufgabe, ihr Ich als Teil oder zumindest im Zusammenhang mit diesem System zu erzählen, ohne aber sich selbst in Frage stellen zu müssen. Zum Zeitpunkt der Niederschrift ihrer Lebenserinnerungen gehörte die DDR bereits der Vergangenheit an. Das Etikett ›Nachwende-Erinnerungen‹, unter dem sie in vielen Kontexten verhandelt werden,4 bündelt diese Chronologie und legt den Fokus auf die Zeit ›danach‹. Betrachtet man jedoch die Konstruktion der Lebenserinnerungen, fällt ins Auge, dass die Autoren das Gewicht keinesfalls auf diese Jahre legen, sondern der Beschreibung ihres Weges in das politische System der DDR hinein einen sehr viel größeren Wert beimessen als der Schilderung, wie sie das untergegangene System wieder verlassen haben. Die Autobiographen verweben die Hinwendung zur DDR eng mit den vorhergehenden Jahren 2 | Vgl. hierzu und im Folgenden: HAHN, Alois: Zur Soziologie der Beichte und anderer Formen institutionalisierter Bekenntnisse: Selbstthematisierung und Zivilisationsprozess, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 3/1982, S. 407-434, hier S. 434. 3 | Vgl. Anmerkung 29/Einleitung. 4 | Sowohl in Rezensionen als auch in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist dieser Schreibzeitpunkt häufig Ausgangspunkt der Überlegungen; nicht zuletzt werden die Erinnerungstexte im Buchhandel oft unter dem Schlagwort ›Nachwende‹ geführt. Die Klassifizierung mittels Schreibzeitpunkt findet sich nicht nur im deutschen Sprachraum, wie bspw. das Forschungsprojekt »After the Wall« der Universitäten von Bristol und Bangor zeigt, das auf seiner Homepage eine Bibliographie zu »German Post-Reunification Autobiographies« anbietet, vgl. http://afterthewall.bangor.ac.uk/Autobiography.php#Secondary [letzter Zugriff 07/2013].
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des Nationalsozialismus, die in den Erinnerungen zur Negativfolie für die weitere Entwicklung werden. Wie sie diesen Weg – auch unter dem Gesichtspunkt der Niederschrift post festum – narrativ darstellen und motivieren, wird im Folgenden untersucht werden; von diesen Überlegungen aus kann die Selbstpositionierung der Autoren in allen Phasen analysiert werden. Zwei weitere Fragen sind dabei von zentraler Bedeutung: einmal die Überlegung, inwiefern sich diese Narrative vom Weg in den Sozialismus an größeren Erzählzusammenhängen orientieren, und des Weiteren die Frage nach der Funktion, die der Wissenschaft in diesem Prozess zugeschrieben wird. Dabei muss jeweils im Blick behalten werden, ob, wann und warum diese Bezugnahmen bzw. Rollenzuschreibungen im Laufe der Chronologie Veränderungen unterworfen sind.
2 K ONVERSIONSERZ ÄHLUNGEN Narrative Muster und ihre impliziten Funktionalisierungen sind die Referenzpunkte, an denen die Analyse von den Erzählungen über den Weg in das System des Sozialismus aufgespannt ist. Um diese Referenzpunkte sichtbar zu machen, werden die Erzählungen vom Anfang in der DDR vor der Folie einer narrativen Struktur gelesen, die auf eine lange Tradition zurückblicken kann und häufig für Erzählungen genutzt wird, die den Wandel und die erneute Hinwendung unterstreichen sollen: die Konversionserzählung.5 Geprägt wurde der Begriff der Konversionserzählung vor allem von Thomas Luckmann.6 Die Konversion wird dabei nicht im streng religionswissenschaftlichen Sinne verstanden, sondern vielmehr als »Zu- und Abwanderung von einem Deutungssystem«, als »ein dramatischer Wandel, 5 | Zur Geschichte des Genres Konversionserzählung hier nur: SPAM, Walter: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, Gütersloh 1990. 6 | LUCKMANN, Thomas: Kanon und Konversion, in: Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, hg. v. Aleida Assmann u. Jan Assmann, München 1987, S. 38-46. Vgl. hierzu auch: SNOW, David A./MACHALEK, Richard: The Sociology of Conversion, in: Annual Review of Sociology, Vol. 10 (1984), S. 167-190.
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eine Wendung von einer Auffassung zu einer anderen«,7 sie kann damit auch zur Kennzeichnung eines radikalen Wandels politischer Einstellungen genutzt werden, sofern dieser von Dauer ist.8 Heuristisch offen, könnte man von Übertritt sprechen. Eine politische Konversion meint demnach ein Geschehen, das zu einem »entscheidenden und folgenreichen Bruch mit der politischen Vergangenheit einer Persönlichkeit« führt.9 Die Konversion bezieht sich dabei sowohl auf einen Wandel des verbindlichen politischen Symbolsystems als auch auf einen Wandel der biographischen Selbstdefinition.10 Gleichwohl zeichnet sich die Konversion durch wichtige Konstanzen aus. Wie insbesondere Aleida Assmann herausgearbeitet hat, ist eine totale Verwandlung gerade keine Konversion. Bei allem fundamentalen Wandel muss ein Identitätskern tradiert werden, »weil das alte Selbst als wichtiger Bezugspunkt für die neue Existenz erhalten bleiben muß.«11 Charakteristisch für die Konversion ist, dass eine Plausiblitätsstruktur durch eine andere ersetzt wird;12 es findet ein »Wechsel zwischen Sinnsystemen«13 statt, der als »Übergang in eine andere Welt«14 verstanden werden kann. Die Konversion ist damit ein Bewusstseinswandel, der reflexiv ins Verhältnis zum vorherigen Zustand gesetzt und für die Konstitution einer 7 | KNOBLAUCH, Hubert: Religionssoziologie. Berlin 1999, S. 98. 8 | Vgl. HAUPT, Heinz-Gerhard: Politische Konversionen in historischer Perspektive. Methodische und empirische Überlegungen, in: Zeitperspektiven. Studien zu Kultur und Gesellschaft. Beiträge aus der Geschichte, Soziologie, Philosophie und Literaturwissenschaft, hg. v. Uta Gerhard, Stuttgart 2003, S. 267-304, hier S. 273. 9 | Ebd., S. 274. 10 | Ebd. 11 | ASSMANN, Aleida: Kulturen der Identität, Kulturen der Verwandlung, in: Verwandlungen, hg. v. Aleida Assmann/Jan Assmann, München 2005 (=Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation, IX), S. 25-45, hier S. 39. 12 | BERGER, Peter L.: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1973, S. 49. 13 | WOHLRAB-SAHR, Monika/KRECH, Volkhard/KNOBLAUCH, Hubert: Religiöse Bekehrung in soziologischer Perspektive, in: Religiöse Konversion. Systematische und fallorientierte Studien in soziologischer Perspektive, hg. v. dens., Konstanz 1998, S. 7-43, hier S. 8. 14 | Ebd., S. 16.
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neuen Identität in Anspruch genommen wird. Hierfür wird in einer »biographischen Rekonstruktion«15 die Vergangenheit reinterpretiert und teleologisch auf das Jetzt bezogen. ›Konvertiten‹, so ihre Beschreibung in der Literatur, nehmen die identitäre Zuschreibung ›jetzt erst recht‹, für sich in Anspruch: ›Ich bin derselbe, weil ich ein ganz anderer war‹ – ›Ich bin nur deshalb Paulus, weil ich Saulus war.‹16 Zentral ist folgerichtig auch das »Amnesieverbot« in der Konversionserzählung: Nach der prägnanten Devise von Luckmann darf »das Vorher […] nicht getilgt werden«17, denn nur in Abgrenzung vom Leben als Saulus kann das Leben als Paulus seine Strahlkraft gewinnen.18 In diesem Zusammenhang bezeichnen Peter L. Berger und Thomas Luckmann die »biographische Bruchstelle« der Konversion als »kognitive Scheidung von Dunkelheit und Licht«.19 Luckmann unterstreicht darüber hinaus, dass man sinnvollerweise nur dann von Konversion sprechen kann, wenn die neu übernommene Weltsicht über einen kanonisch festgelegten Kern verfügt. Nicht jede tiefgreifende Wandlung der Weltsicht ist auch eine Konversion, sondern erst »eine einschneidende Veränderung der Wirklichkeitsauffassung durch bewusste Zukehr zu einem verbindlich – eben ›kanonisch‹ – festgelegten Kern dieser Wirklichkeitsauffassung«. Zwei Beispiele verdeutlichen, welche Art von Glaubensübertritten Luckmann dabei vor Augen hat. Ausdrücklich nennt er als mögliche Konversionen die »Bekehrung zum Christentum oder auch zum Kommunismus«.20 Hier zeigt sich ein Hinweis für den ersten Zugriff auf die autobiographischen Quellen, die jede für sich einen Weg hin zum Sozialismus beschreiben. Die Protagonisten berichten dabei alle von ihrer persönlichen 15 | LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 40. 16 | Vgl. WEITBRECHT, Julia: Verwandlung zur Konversion. Die Lektüre des Goldenen Esels als Autobiographie einer Umkehr in Spätantike, Mittelalter und Früher Neuzeit, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, S. 79-104, hier S. 89. 17 | LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 44. Vgl. hierzu auch LEITNER, Hartmann: Wie man ein neuer Mensch wird, oder: Die Logik der Bekehrung, in: Biographische Sozialisation, hg. v. Erika M. Hoerning, Stuttgart 2000, S. 61-86. 18 | Vgl. hierzu auch HAUPT, Politische Konversionen, S. 281. 19 | BERGER, Peter L./LUCKMANN, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1994, S. 171. 20 | LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 41.
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Konversion. Freilich lassen sich die Merkmale der Gattung Konversionserzählung noch deutlich verfeinern. Im Anschluss an Luckmann hat Bernd Ulmer als zentrales Merkmal einer Konversionserzählung ihre dreigliedrige Zeitstruktur herausgearbeitet: Davor – Dazwischen – Danach.21 Der Gesinnungswechsel ist ein Prozess, der einen Anfang und ein Ende hat und in verschiedenen Etappen abläuft. Die vorkonversionelle Biographie wird rückblickend negativ bewertet und damit die Diskrepanz zur jetzigen Lebenssituation betont. Als Anlass für die Konversion wird häufig eine biographische Krise aufgrund eines existentiellen Problems angeführt. Die komplexe Aufgabe, die es bei der Rekonstruktion der vorkonversionellen Biographie zu bewältigen gilt, besteht darin, dass einerseits die Ereignisse vor der Konversion mit den damals gültigen Deutungen geschildert werden müssen,22 gleichzeitig aber die Revisionsbedürftigkeit dieser Interpretation und die nach der Konversion favorisierte Deutung derselben Ereignisse zum Ausdruck zu kommen hat. Welche der Phasen der Konversion besondere Aufmerksamkeit erhalten, ist von der Narration abhängig: Sie kann dem ›Davor‹ gelten (sündiges Leben), oder dem ›Danach‹ (tugendhafter Wandel). Insbesondere im ›Dazwischen‹, im transitorischen Raum der Wende, ist Platz für vielerlei Formen von Veränderung, und dieses ›Dazwischen‹ kann auch von stark divergierender Dauer sein. Anhand dieser kommunikativen Struktur der Konversionserzählung werden die autobiographischen Erzählungen von den Anfängen des sozialistischen Systems der DDR analysiert. Dabei spielt besonders ihre Rhetorik eine Rolle, auf die vor allem die soziologische Konversionsforschung Bezug nimmt. Sie rückt den radikalen Wandel ins Zentrum ihrer Betrachtung und betont die Differenz zwischen Neuem und Altem.23 In 21 | Vgl. ULMER, Bernd: Die autobiographische Plausibilität von Konversionserzählungen, in: Wer schreibt meine Lebensgeschichte? Biographie, Autobiographie, Hagiographie und ihre Entstehungszusammenhänge, hg. v. Walter Sparn, Gütersloh 1990, S. 287-295. Vgl. ebenso: ULMER, Bernd: Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung. Erzählerische Mittel und Strategien bei der Rekonstruktion eines Bekehrungserlebnisses, in: Zeitschrift für Soziologie 17/1988, S. 19-33. 22 | Luckmann spricht hier vom »Amnesieverbot«: Die Ereignisse vor der Konversion dürfen nicht getilgt werden. Die Zensur bezieht sich nur auf den »Sinn« des Alten. LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 44. 23 | Vgl. hierzu und ff. WOHLRAB-SAHR, Monika: Konversion zum Islam in Deutschland und den USA, Frankfurt a.M. 1999, S. 387.
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dem Maße, in dem dies als Rhetorik beschreibbar wird, lassen sich Kontinuitäten im Wandel erkennen. Sobald Strukturen der Autobiographie und die damit verbundenen Habitusformen mit in die Analyse einbezogen werden, rücken die Kontinuitäten zwangsläufig in den Blick. Konvertiten erscheinen dann als Personen, die in einem völlig veränderten Bedeutungssystem dennoch einen Habitus reproduzieren, der bereits im ›Davor‹ bestimmend war, bzw. denen es nach einem radikalen biographischen Bruch gelingt, in einem anderen Gewand und damit distinktiv an Maximen und Habitus des ›Davor‹ wieder anzuknüpfen. Wohlrab-Saar hat damit eine unerlässliche Unterscheidung herausgearbeitet, die sich auf die Formel »Wird Wandel behauptet oder findet Wandel statt?« bringen lässt.24 Es gilt daher zu beachten, dass die Konversionserzählungen sich »an kommunikativen Modellen von Konversionserfahrungen, genauer: an Modellen des Erzählens von Konversionerfahrungen aus[richten].«25 Orientierung bietet insoweit nicht zuletzt die Gründungserzählung der DDR, in der die antifaschistische Tradition über 40 Jahre »staatstragendes Ideologem und zentrale Berufungsinstanz«26 war. Auch sie beinhaltet Elemente der Konversionserzählung und erzählt eine Ab- wie eine Hinwendungsgeschichte:27 In den Nachkriegsjahren hatten die neuen politischen Kräfte in der SBZ und der frühen DDR nicht nur mit eklatanten ökonomischen und sozialen Problemen eines weitgehend zerstörten Landes zu kämpfen, sie mussten sich auch mit der Frage auseinandersetzen, wie sie mit der nationalsozialistischen Vergangenheit umgehen sollten. Der Bezug auf 24 | Vgl. WOHLRAB-SAHR, Konversion zum Islam, S. 67ff. 25 | LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 41. 26 | BARCK, Simone: Antifa-Geschichte(n). Eine literarische Spurensuche in der DDR der 1950er und 1960er Jahre, Köln 2003, S. 12. 27 | Vgl. MÜNKLER, Herfried: Antifaschismus und antifaschistischer Widerstand als politischer Gründungsmythos der DDR, in: APuZ 45, 1998, S. 16-29, hier: S. 16; DERS.: Das kollektive Gedächtnis der DDR, in: Parteiauftrag: Ein neues Deutschland. Bilder, Rituale und Symbole der frühen DDR, hg. v. Dieter Vorsteher, Berlin 1996, S. 458-468; BARCK, Antifa-Geschichte(n); WIENAND, Christiane: Remembered Change and Changes of Remembrance: East German Narratives and Antifascist Conversion, in: Becoming East German: Socialist Structures and Sensibilities after Hitler, hg. v. Mary Fulbrook u. Andrew I. Port, New York 2013, S. 99-118.
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den Antifaschismus wurde hier zu einem zentralen ideologischen Rahmen, zum Gründungsmythos des ostdeutschen Staates, der dazu beitragen sollte, das neue politische System zu legitimieren und auch ehemalige Mitläufer und ›einfache Nazis‹, die im Osten Deutschlands ebenfalls die Mehrheit der Bevölkerung darstellten, in die neue sozialistische Ordnung zu integrieren.28 Die wesentliche politische Funktion des Narrativs war demnach seine spezifische Integrationsfunktion für die DDR-Gesellschaft; gleichzeitig diente es als Legitimation nach außen, als Beweis dafür, der ›bessere‹ deutsche Staat zu sein.29 Der antifaschistische Diskurs war eng mit dem kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus verbunden, und dessen Kämpfer, wie Ernst Thälmann, wurden zu den »neuen Helden« oder gar »Heiligen des Sozialismus«.30 Abgesehen von diesen kommunistischen antifaschistischen Erzählungen31 gab es darüber hinaus einen Diskurs, der sich um die sogenannten antifaschistischen Heimkehrer bildete. Die DDR und ihre kontrollierten Massenmedien entwickelten rasch ein spezielles Interesse für die heimkehrenden Wehrmacht-Soldaten, die für sich beanspruchten, in sowjetischer Gefangenschaft eine antifaschistische Konversion erlebt zu haben.32 Sie wurden von der DDR-Führung als »Neue 28 | Vgl. hierzu: LEO, Annette: Antifaschismus, in: DDR-Erinnerungsorte, hg. v. Martin Sabrow, München 2009, S. 29; DANYEL, Jürgen: Zum Umgang mit der Widerstandstradition und der Schuldfrage in der DDR, in: Die geteilte Vergangenheit. Zum Umgang mit Nationalsozialismus und Widerstand in beiden deutschen Staaten, hg. v. ders., Berlin 1995, S. 42f.; MÜNKLER, Antifaschismus, S. 16, der parallel zum Gründungsmythos der DDR (Antifaschismus) den der BRD in der Währungsreform und dem Wirtschaftswunder identifizierte. 29 | Vgl. LEONHARD, Nina: Politik und Geschichtsbewusstsein im Wandel. Die politische Bedeutung der nationalsozialistischen Vergangenheit im Verlauf von drei Generationen in Ost- und Westdeutschland, Münster 2002, S. 84; vgl. auch DANYEL, Zum Umgang mit der Widerstandstradition, S. 42. 30 | GRIES, Rainer: Die Heldenbühne der DDR. Zur Einführung, in: Sozialistische Helden. Eine Kulturgeschichte von Propagandafiguren in Osteuropa und der DDR, hg. v. ders.u. Silke Satjukow, Berlin 2002, S. 84-100, hier S. 89. 31 | Simone Barck hat in »Antifa-Geschichte(n)« analysiert, wie der antifaschistische Diskurs rund um den kommunistischen Widerstand die DDR-Literatur und auch autobiographisches Schreiben beeinflusste, vgl. BARCK, »Antifa-Geschichte(n)«. 32 | Vgl. WIENAND, Remembered Change, S. 100.
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Menschen« beworben, die eine besondere Rolle beim Auf bau des neuen sozialistischen Deutschland übernehmen sollten.33 Diese Konversionserzählungen spielen bereits ab 1948 eine dominante Rolle in offiziellen Reden und Manuskripten der SED-Funktionäre.34 Ob und in welcher Weise die Autobiographien auf diese Erzählungen zurückgreifen, ist Teil der folgenden Untersuchung – es geht um die »Macht des Narrativs«, um die Übernahme kulturell vorgegebener Konstruktionselemente.35 Dabei wird analysiert, ob es sich um das schlichte Wiederholen dieses eingeübten Topos handelt, ob die staatsoffizielle Erzählung in der Autobiographie refiguriert wurde oder ob in ihnen von einem tatsächlich stattgefundenen Wandel berichtet wird. In diesem Zusammenhang ist auch der Schreibzeitpunkt entscheidend: Mit 1989/90 änderte sich der politische und ideologische Rahmen, und bestimmte Erzählungen galten nicht mehr als plausibel, nicht mehr als erzählbar – dazu gehörte auch die antifaschistische Gründungserzählung der DDR, die kritischer Forschung ausgesetzt und damit auch oft modifiziert wurde.36 33 | GRIES, Die Heldenbühne, S. 84ff. 34 | Vgl. BIES, Frank: Homecomings. Returning POWs and the Legacies of Defeat in Postwar Germany, Oxford 2006, S. 126ff. 35 | Diese Überlegung schließt an die Theorie der narrativen Identität an (vgl. Anmerkung 66, Einleitung), die dafür argumentiert, dass Individuen für ihre autobiographischen Erzählungen auf kollektiv vorgeformte Erzählformen – auch Skripts oder plots genannt – zurückgreifen, die durch soziale Interaktion und kulturelle Tradierung vermittelt wurden. Lebensgeschichten sind damit aus Synthetisierungen dieser Skripts mit eigenen Erfahrungen zusammengesetzt: »Wir machen Anleihen bei den um uns herum angebotenen Skripts und Formularen, die uns als Kohärenzregeln für unsere eigene Lebensorganisation dienen.« Vgl. BUDE, Heinz: Lebenskonstruktionen als Gegenstand der Biographieforschung, in: Biographische Methoden in den Humanwissenschaften, hg. v. Gerd Jüttemann u. Hans Thomae, Weinheim 1998, S. 247-258, hier S. 251; vgl. auch grundlegend: POLKINGHORNE, Donald E.: Narrative Psychologie und Geschichtsbewußtsein. Beziehungen und Perspektiven, in: Erzählung, Identität und historisches Bewußtsein: die psychologische Konstruktion von Zeit und Geschichte, hg. v. Jürgen Straub, Frankfurt a.M. 1998; vgl. zum Einfluss der Rezeption von Medien auf die Formung der individuellen Erfahrung: ERLL, Astrid: Medien und Gedächtnis, in: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, hg. v. dies. Stuttgart 2005, S. 123-142. 36 | Vgl. Anmerkung 26/Kap. I.
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3 D AVOR : F ASCHISMUS Sechs Autobiographien, sechs Buchanfänge werden erzählt. Konventionell beginnt nur Fritz Klein: »Am 11. Juli 1924 wurde ich in Berlin geboren.«37 Auch Kurt Pätzold beginnt mit seiner Geburt, die er jedoch eher verspielt zu Papier bringt, denn er wurde »[a]m dritten Tag des Wonnemonats Mai […] mittels einer Spezialzange ans Licht der Welt gezogen.«38 Wolfgang Jacobeits Autobiographie setzt intertextuell mit der Bezugnahme auf andere Lebenserinnerungen ein: »Ich wüsste von keiner Autobiographie, die sich nicht in relativer Ausführlichkeit mit Herkunft, Familie und Verwandtschaft des Autors beschäftigte«39. Herbert Hörz wiederum beginnt in defensiver Haltung: »Bedarf es einer Rechtfertigung für dieses Buch?«40 Wolfgang Mittenzwei hingegen setzt erst einige Jahre nach seiner Geburt ein: »An dem Tag, da der Krieg begann, sagte mein Vater zu meiner Mutter: ›Der Krieg geht an dem Jungen vorbei.‹«41 Und Eckart Mehls lässt den Leser keine Zeile im Zweifel an seinem politischen Sendungsbewusstsein, wenn er ihm mit der »Internationalen« zuruft: »›Wacht auf, Verdammte dieser Erde…‹«.42 Sechs einleitende Sätze, die auf den ersten Blick wenig miteinander gemein haben. Und doch spannen alle Autoren, wie sich zeigen wird, in der Einteilung ihrer Autobiographien einen ersten großen Bogen von der Geburt bis zum Kriegsende, das sie als Ausgangspunkt in der Entwicklung des Lebens darstellen. Mag die Erzählung der Kindheit und frühen Jugend auf den ersten Blick lediglich als narratives Präludium anmuten, das auf die Zäsur des 8. Mai 1945 zuläuft, um dort in eine erste entscheidende Phase zu gelangen, so handelt es sich dabei durchaus um eine wegweisende Zeitspanne des ›Davor‹: Trotz augenfälliger Unterschiede in der Dramaturgie – die auch den familiären Prägungen geschuldet sind – spielt die Kriegserfahrung für alle Narrative eine dominante Rolle, ebenso die Kriegsniederlage. Dabei lassen sich zwei Muster herausarbeiten, die in ihrem Rückgriff auf die Konversionserzählung je unterschiedliche 37 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 15. 38 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 5. 39 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 13. 40 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 9. 41 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 9. 42 | MEHLS, Unzumutbar, S. 11.
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Schwerpunkte setzen: Das eine Muster betont vor allem die Kontinuität im Wandel, das andere ebenso deutlich die Zäsur. Die Wahl des jeweiligen Erzählmusters steht dabei in engem Zusammenhang mit den Elternhäusern der Protagonisten.
3.1 Erzählungen von der Kontinuität im Wandel Bei Kurt Pätzold, der in einer Arbeiterfamilie im damaligen Breslau aufwächst, dient die Anfangserzählung dazu, Vorfahren mütterlicher- wie väterlicherseits ausführlich zu schildern, wobei die Vokabel »ärmlich« dominiert und die Szenerie von Hofknechten, Zimmermädchen, körperlicher Schwerarbeit, Waschfrauen, Mühlarbeitern und Gewerkschaften geprägt ist. Der Adel findet als Arbeitgeber Erwähnung, die adlige Lebenswelt aber erscheint keineswegs als Sehnsuchtsort: »Früh erklärte Vater mir, daß diese andere Welt nicht die der besseren Menschen wäre.«43 Schon auf der dritten Seite seiner Autobiographie ist die bescheidene und ehrliche Arbeiterherkunft anschaulich beschrieben, zu der untrennbar auch die antifaschistische Grundhaltung im Elternhaus gehört: Soviel über meine Vorfahren, über die mehr nicht überliefert ist. Mit Nachforschungen auf diesem Feld hat sich in unserer Familie nie jemand beschäftigt, wozu die Ablehnung der nazistischen Ahnenkunde gewiß beitrug, die »arischen« (oder »germanischen« oder »nordischen« oder einfach »deutschen«, so ganz wurde das nie geklärt) Hochmut nähren und der Auffindung von Juden dienen sollte. 44
Pätzold stellt hier direkt eine Opposition zum Nationalsozialismus her, erklärt aber zugleich den Kommunismus für geschichtslos, jedenfalls im Vergleich mit der bürgerlichen Sinnsuche nach Familienvergangenheit. Sein Elternhaus hätte von Anfang an nicht auf Seiten des NS-Regimes gestanden: »Da war mir von meinen Eltern schon verdeutlicht worden, dass dies nicht unser Krieg, nicht unsere Siege, nicht unsere Fahnen waren.«45 Sein Vater Max war Mitglied der Sozialistischen Arbeiterpartei, seine Mutter arbeitete unter anderem für einen jüdischen Rechtsanwalt. Über ihn lernten sie ein jüdisches Ehepaar kennen, das nach der Deportation 43 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 9. 44 | Ebd., S. 7. 45 | Ebd., S. 16.
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ins sogenannte Judenhaus von der Familie Pätzold mit Lebensmitteln versorgt wurde. Pätzold beschreibt dies als prägende Erfahrungen, ebenso die Informationen, die er durch das Hören des »Feindsenders« erhalten habe: »Daß meine Eltern auf das Kriegsende warteten und dies nicht mit Vorstellungen eines deutschen Sieges verbanden, mußte mir vollends bewußt werden, seit Vater mit mir allabendlich die Nachrichten des Londoner Rundfunks hörte.«46 Vor der Hitlerjugend (HJ) konnten ihn seine Eltern dennoch nicht bewahren, immerhin aber kam er dort bei den Sanitätern unter. 1944 gehörte er als Vierzehnjähriger zu einer Truppe, die medizinische Versorgungsstellen und Hilfskrankenhäuser einzurichten hatte. Dabei sei ihm die desolate Kriegslage offenbar geworden: »Die Art, wie wir in Gebäuden […] wertvolle Ausstattungen vernichteten, ließ mir keinen Zweifel am nun geltenden Grundsatz: Nach uns die Sintflut.«47 Nach einer überstürzten Flucht erlebte Pätzold das Kriegsende in Straßfurt, kurz darauf war die Familie in Weimar wieder vereint. Die Haltung zur Potsdamer Konferenz war eindeutig: Die Geschichte kenne kein Pardon und Kriege, verlorene zumal, hätten ihren Preis, war Vaters Kommentar. Wir zahlten ihn mit Millionen, wiewohl meine Eltern, was ihre Haltung in Nazijahren betraf, nicht eben zu den Zahlungspflichtigen gehörten. Am Tisch der Familie wurde über das Verlorene nicht geklagt. 48
Da seine Eltern ihn früh gegen den Nationalsozialismus »immunisiert« hätten und er durch sie gelernt habe, »Gesellschaft, Staat und Krieg mit eigenen und anderen Augen [zu] sehen«,49 wird der Tag des Kriegsendes recht undramatisch in seine Erzählung eingebunden; bewusst grenzt er sich vom Narrativ des Zusammenbruchs ab: »Der meist gebrauchte Begriff für das Geschehen der Jahre 1989/1990 heißt bis heute Wende und besitzt etwa den Aussagewert, den das Wort Zusammenbruch zur Benennung des 8. Mai 1945 aufweist.«50 Durch die Zusammenstellung der bei46 | Ebd., S. 19. 47 | Ebd., S. 21f. 48 | Ebd., S. 43. Warum der Vater nicht in den Krieg muss, erfährt man in der Autobiographie nicht, lediglich von der Angst vor dem Einberufungsbefehl wird berichtet (S. 16). 49 | Ebd., S. 29. 50 | Ebd., S. 240.
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den Umbrüche setzt Pätzold das Ende des Staatssozialismus hier narrativ in eine Parallele zum Kriegsende, wodurch die vorherige Zweistaatlichkeit von DDR und BRD in gewisser Weise zum Kriegszustand wird.51 Die elterlichen Deutungsmuster, auf die Pätzold verweist, aber auch die Alltagserfahrungen wie etwa die als unspektakulär wahrgenommene Ankunft der Alliierten52, verdeutlichen bereits Pätzolds Sicht auf die Veränderungen dieser Zeit: Er kann ohne Bedrängnis eine Ich-Kontinuität behaupten, einen »Vorrat an Eigenem, auf den sich zugreifen ließ«53. Eine Hinwendung zum Nationalsozialismus gab es nie, und so bedeutete das Kriegsende die Niederlage eines Systems, das er niemals wollte. Dies erklärt auch die knappe Beschreibung des Kriegsendes, die so wenig Raum einnimmt, dass man sie beinahe überlesen könnte. Der Bruch, die »grundstürzende Veränderung«54, die er dennoch konstatiert, ist äußerlicher, nicht innerlicher Natur. Obwohl Pätzold betont, keinem Änderungsdruck ausgesetzt gewesen zu sein, weil er niemals dem ›Davor‹ anhing, nutzt er die narrative Struktur der Konversionserzählung. Er bezieht sie aber ausschließlich auf die äußeren Umstände, meint das System, das große Ganze, nicht seine individuelle Identität. Herbert Hörz – ein uneheliches Kind – verbrachte einen Großteil seiner Kindheit nicht bei seiner Mutter, die in Stuttgart arbeitete, sondern lebte von 1933 bis 1941 bei ihrer Schwester Anna und deren Mann Fritz in Echterdingen. Dort wuchs er in emotional wie lebensweltlich kargen Verhältnissen auf, es herrschten strenge Erziehungsregeln mit körperlicher Züchtigung. Sein Onkel Fritz war ein frühes NSDAP-Mitglied und gehörte der SS an, dementsprechend war die politische Haltung zu Hause, von der er sich jedoch nicht habe beeinflussen lassen. Er weist darauf hin, bereits in dieser Zeit, also mit gut sechs Jahren, eine kritische Haltung zum Krieg entwickelt zu haben, die durch die Überlegung, dass es hierbei immer um »Menschenleben«55 geht, ausgelöst worden sei – hier lässt 51 | Hierzu ausführlich Kap. II/3. 52 | »Nach unserem Eintreffen waren noch keine drei Wochen vergangen, als am 9. April 1945 anglo-amerikanische Truppen die Stadt erreichten. Das Eindringen geschah ohne Vorfälle. Eine Patrouille fragte im Hausflur, ob sich hier deutsche Soldaten befänden. Als das verneint wurde, wandte sie sich weiter.« (Ebd., S. 37) 53 | Ebd., S. 29. 54 | Ebd. 55 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 38.
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sich bereits der Anfang seiner Konversionserzählung erkennen: »Das waren die ersten Schritte, die mich eigentlich in eine pazifistische Richtung führten, zumindest dem Krieg den Glorienschein nahmen, den er erhält, wenn man weit weg von den Leiden und dem Sterben nur die Vernichtung der Feinde gelobt hört.«56 Später, als er bereits wieder bei seiner Mutter und ihrem neuen Ehemann in Erfurt lebte, wurde er dennoch Mitglied der HJ, »weil mir die Uniform, die Geländespiele und die Kameradschaft am Anfang Spaß machten«57. Doch wegen seiner Aversion gegen die Nationalsozialisten hätten ihm deren Ideologie und Habitus nicht nahekommen können. Er, Hörz, habe nicht zum Untertan getaugt: »Dumme Leute mit Führerschnur konnten von einem verlangen, was sie wollten. Befehle waren meist nicht einsichtig für mich.«58 Über das Kriegsende schreibt er einfach hinweg – immer wieder beginnen Sätze vor 1945 und enden weit danach: »Offensichtlich klappte alles, denn mit 7 Jahren kam ich 1940 in die Schule und verließ sie mit dem Abitur 1952 nach 12 Jahren, wie in der DDR üblich.«59 Das dazugehörige Kapitel heißt lapidar »Krieg und Nachkrieg« – ein Indiz dafür, dass der Bruch, den Hörz konstatiert, ebenfalls die Außenwelt betraf und er an dieser Stelle einen Wandel beschreibt, der so nicht erlebt wurde und erst durch die Erfahrungen des ›Davor‹ und des ›Danach‹ nachträglich zu konstruieren ist. Die Systeme mögen sich ändern und mit ihnen die Straßennamen – »Mit 8 Jahren kam ich 1941 nach Erfurt, wohnte dort zuerst in der Rosenstraße 46, die nach 1945 Liebknechtstraße hieß«60 –, Hörz aber erzählt sich als ein und denselben, ein Denkender, Lesender, der sich hauptsächlich in seinen Romanwelten aufhält. So werden Krieg, Kriegsende und Systemwechsel überschrieben von einer für sich auch hier in Anspruch genommenen Ich-Kontinuität als Intellektueller. Gleichzeitig schildert Hörz sich als durchaus verankert und positioniert in der politischen Welt, als klaren Gegner der nationalsozialistischen Herrschaft, deren Ende dann, dem Muster der Konversionsgeschichte folgend, als Bruch erzählt werden muss – in einer allerdings sehr formelhaften Sprache: »In Erfurt erlebte ich die erste prinzipielle Lebens56 | Ebd. 57 | Ebd., S. 51. 58 | Ebd. 59 | Ebd., S. 49. 60 | Ebd., S. 48.
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wende [Hervorhebung CL] vom dritten [sic!] Reich zu einer neuen antifaschistisch-demokratischen Ordnung, den Übergang vom Krieg zum Frieden und den Aufbau neuer Jugendorganisationen.« 61 Die Lebenswende ist, wie bei Pätzold, bei Hörz äußerlicher Natur, denn seine innerliche Entwicklung zeichnet er als klare Linie, zu der die stete Ablehnung des nationalsozialistischen Systems gehört; auch die anfängliche Freude an der HJ bleibt gänzlich unpolitisch. Das Kriegsende, das Hörz erinnert, ist ebenfalls wenig dramatisch – »Von den Amerikanern merkten wir nicht viel«62 –, erscheint retrospektiv aber gleichwohl als deutliche Lebenswende. Der Wandel kommt selten anders als in eingeschliffenen, fast formelhaften Behauptungen zum Vorschein, die in auffälligem Gegensatz zur dominanten Erzählung von einer Ich-Kontinuität stehen, auf der Hörz beharrt. Das erste Kapitel in Werner Mittenzweis Autobiographie ist mit »Die Nachkriegszeit in der Kleinstadt« überschrieben, den Auftakt bildet die Unterüberschrift »Heimkehr«, die aber vorerst in die Irre führt, denn es folgt eine lange Schilderung der letzten Kriegszeit, die er, siebzehnjährig, noch als Soldat erleben musste. Die Nachricht von der deutschen Kapitulation erreichte ihn an der Front in Schlesien, kurz darauf kam er in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er aber bald wieder entlassen wurde. Es gelang ihm, sich in seine von Amerikanern besetzte Heimatstadt Limbach durchzuschlagen. Nun war der Krieg zwar vorbei und Mittenzwei bei seiner Familie, doch kam dies »keinem befreiten Aufatmen gleich«63. Die Zeit war geprägt von Unsicherheiten, vom allgegenwärtigen Gefühl, nicht zu wissen, was kommen mag oder wenigstens, was kommen soll. Im Hinblick auf die (anti-)faschistische Vergangenheit beschreibt Mittenzwei die Tatsache, dass er einem Arbeiterhaushalt entstammt, mit einem kommunistisch organisierten Vater und einer christlichen Mutter aufgewachsen ist, als stark prägend, ohne dass die beiden ihren Antifaschismus wirklich verbalisiert hätten: »Auch über die Herrschaft der Nationalsozialisten äußerte er [der Vater, CL] sich selten, obwohl es keinen Zweifel gab, wie er darüber dachte. […] Man konnte bei ihm immer heraushören, das Siegen werde nicht gut enden.«64 Sein Onkel war ein aktives Mitglied der Kommunisten und wurde bereits 1933 von der SA schwer misshan61 | Ebd. 62 | Ebd., S. 55. 63 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 18. 64 | Ebd., S. 25.
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delt. Durch diese Erlebnisse, vor allem aber durch den Einfluss des Vaters, sei Mittenzwei kein Anhänger des Regimes geworden: Fragte ich im Gespräch meinen Vater, ob denn alles so geschehen werde, wie ich es überall hörte, dann liefen seine Antworten immer auf ein Nein heraus. Er argumentierte nicht, schimpfte selten, er sagte über zwölf Jahre eigentlich immer nur: Nein. […] Seinem konsequenten Nein-Sagen habe ich es sicher zu verdanken, dass es bei mir, als ich selbst in den Krieg mußte, keiner Ernüchterung bedurfte, um diesem mit Widerwillen zu begegnen. 65, 66
In einem solchen Elternhaus kam keine Kriegs-Euphorie auf, doch auch das Kriegsende schildert Mittenzwei nüchtern: Als uns die Nachricht von der deutschen Kapitulation durch Feldmarschall Keitel erreichte, befanden wir uns in Schlesien, irgendwo in der Nähe der Grenze zwischen Sachsen und dem Sudetengebiet. […] Auf einer Brücke, die über einen kleinen Fluß oder Bach führte, warf ich meine Waffe ins Wasser. 67
Der Ton dieser Schilderung erinnert an Pätzolds Zeilen über das Kriegsende, dessen unmittelbare Zäsurwirkung auch von Mittenzwei in Frage gestellt wird. Er habe zunächst nicht mehr gewollt, als »die Vergangenheit hinter sich«68 zu lassen, geleitet vom »Gefühl, etwas Schreckliches hinter sich und etwas Neues, wenn auch Ungewisses, vor sich zu haben.«69 Mit dieser eher skizzenartigen Schilderung des ›Davor‹ hat es sein Bewenden, Mittenzweis Blick richtet sich nach vorn: »Leidenschaftlich setzte ich mich für das ein, was als neu und zukunftsträchtig galt.« 70 Auch er nutzt also die Differenz von ›Davor‹ und ›Danach‹, ohne sie allerdings auf seine Person auszudehnen. Der Umbruch betraf die Umwelt, nicht ihn.
65 | Ebd., S. 25f. 66 | Warum der Vater nicht eingezogen wurde, erfährt man in der Autobiographie nicht. 67 | Ebd., S. 13. 68 | Ebd., S. 44. 69 | Ebd., S. 94f. 70 | Ebd., S. 45.
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3.2 Erzählungen von der Zäsur Das Elternhaus, auf das Wolfgang Jacobeit zurückblickt, unterscheidet sich stark von denen der bisherigen Protagonisten: Die Ehe der bürgerlichen Eltern beschreibt er als eher unglücklich, dem Vater, einem fanatischen Anhänger Ludendorffs, attestiert er eine »deutschtümelnd-chauvinistische Ideologie« 71, seine Bezugsperson war die Mutter, eine zarte Person, die das klassische Leben einer Frau des Bürgertums führte72 . Vom Vater fühlte er sich ver- und abgestoßen; die Entwicklung seiner politischen Einstellung war untrennbar damit verbunden. Sein Geschichtsstudium musste er zwanzigjährig kriegsbedingt unterbrechen, hier aber legt er den Grundstein für seine Konversionserzählung: Ich habe diesen deutschen Faschismus als junger Mensch, der mit seinem Studium gelernt hatte, historische Zusammenhänge zu erkennen und sie zu begreifen, zunächst eher instinktiv abgelehnt, um ihn erst später – mit seinen Verbrechen unmittelbar konfrontiert – zu hassen und dem in Wort und Schrift Ausdruck zu geben.73
Ausführlich beschreibt er seine Jahre im Kriegseinsatz, in denen er »nicht den mindesten Ehrgeiz hatte, mich als Soldat irgendwie hervorzutun« und Begriffen wie »soldatische Ehre, Deutschtum, Vaterland« keinerlei »verpflichtende Wirkung« zubilligen konnte.74 Jacobeit war 71 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 15. 72 | »Sie kochte gut, arrangierte alles sorgfältig, besorgte dem Gatten, der sich selten in ein Geschäft traute, Schuhe, Anzüge, Hüte und dergleichen. Ihre Musik betrieb sie nebenbei und zu sporadisch« (Ebd., S. 14). 73 | Ebd., S. 43. Jacobeit berichtet jedoch auch, sich damals unter anderem an Professoren orientiert zu haben, von deren »Verhältnis zum Nationalsozialismus« er »erst in den Auseinandersetzungen um die Totalitarismusfrage beim ›Historikerstreit‹ der 1980er Jahre« erfuhr (Ebd., S. 40). Zur Realgeschichte kann noch hinzugefügt werden, dass zur Studienzeit Jacobeits die jüdischen und/oder politisch unliebsamen Wissenschaftler bereits gezwungen worden waren, die Universität zu verlassen. Vgl. hierzu: LAMBRECHT, Ronald: Politische Entlassungen in der NSZeit. Vierundvierzig biographische Skizzen von Hochschullehrern der Universität Leipzig (=Beiträge zur Leipziger Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Reihe B; Bd. 11), Leipzig 2006. 74 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 44
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nach Selbstauskunft noch nie Teil derer, die dem System zugestimmt und überzeugt zugearbeitet hatten, und erzählt mehrfach, wie er als Funker offen Feindsender gehört und sich enttäuscht vor anderen über das fehlgeschlagene Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944 geäußert habe.75 Jacobeit stand schon immer außerhalb der Masse – seine »Renitenz« möchte er aber im Nachhinein keinesfalls als »Formen von Widerstand qualifizieren«,76 wie er sich auch damals nicht als »Widerständler gefühlt [hat]« 77. Dies zu unterstreichen, ist ihm ebenso wichtig wie zu betonen, dass er am Ende »doch so etwas wie ein brauchbarer Soldat« 78 wurde, um den etwaigen Vorwurf des Lesers, es habe ihm an »Kameradschaftsgeist« 79 gemangelt, entschieden von sich zu weisen. Und ein Hauch von Widerstand weht womöglich auch in Jacobeits deutlicher Betonung seiner »Renitenz« – immerhin klingt darin jene apolitische Resistenz an, die (west)deutsche Historiker in den 1980er Jahren als Widerstands- und Protestform entdeckten.80
75 | Ebd., S. 48ff. 76 | Ebd., S. 45. 77 | Ebd., S. 49. 78 | Ebd., S. 45. 79 | Ebd., S. 46. 80 | Verbunden war mit ›Resistenz‹ ein erweiterter Widerstandsbegriff, der auch Nonkonformität und Verweigerung, nicht nur Umsturzaktionen und öffentlichen Protest erforschen wollte. Damit war eine Perspektivenverschiebung gegeben: Sie ermöglichte neue Ausgestaltungsmöglichkeiten für literarische Figuren, die dem repressiven Charakter des nationalsozialistischen Herrschaftssystems mit Nonkonformität und Verweigerung begegnen konnten. Jacobeits »Renitenz« erzählt von eben dieser Nonkonformität. Vgl. dazu: SAUPE, Achim: Der Historiker als Detektiv, der Detektiv als Historiker. Historik, Kriminalistik und der Nationalsozialismus als Kriminalroman, Bielefeld 2009, S. 424. Zur Debatte in der Bundesrepublik vgl. insbesondere das sogenannte Bayern-Projekt, geleitet von Martin Broszat, sowie BROSZAT, Martin: Plädoyer für eine Historisierung des Nationalsozialismus, in: Merkur 3/1985, S. 375-385. Zur Kritik und Debatte vgl. FRIEDLÄNDER, Saul: Überlegungen zur Historisierung des Nationalsozialismus, in: Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit, hg. v. Dan Diner, Frankfurt a.M. 1987, S. 34-50; BROSZAT, Martin/FRIEDLÄNDER, Saul: Um die Historisierung des Nationalsozialismus. Ein Briefwechsel, in: Vierteljahreshefte für
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Dem Fronteinsatz entging Jacobeit in den letzten Kriegsmonaten nur knapp. »Das ersehnte Ende des Krieges« erlebte er schließlich in der Nähe von Husum: [W]ieder eine Zäsur […], von der wir uns vielleicht zum ersten Mal bewußt machten, daß wir Leute der 1920er Jahrgänge so oder so unmittelbar von dem, was nun kommen würde, betroffen waren. Zu Soldaten hatte man uns auf Befehl der Obrigkeit gemacht. Jetzt waren wir und unsere Familien auf uns selbst angewiesen. Wir hatten zu entscheiden, was aus uns in den Wirren der Zeit werden könnte. 81
Der Unterschied zu den Beispielen Hörz, Mittenzwei und Pätzold liegt auf der Hand. Einmal bedeutet 1945 etwas Abgeschlossenes. Damit begann etwas Neues, von dessen näherer Ausgestaltung Jacobeit zwar noch nicht viel ahnen konnte; gleichwohl war er sich schon damals sicher, über Einflussmöglichkeiten zu verfügen, die ihn zur Beteiligung am Auf bau des unbekannten Landes verpflichteten: Er musste und wollte den richtigen Weg finden und ihn gleichzeitig anderen weisen. Zudem schreibt Jacobeit sich hier in ein Kollektiv ein – die »Leute der 1920er Jahrgänge«82, denen er sich zuordnet, sind durch mehr als nur die zeitliche Koinzidenz ihrer Geburten miteinander verbunden. Gemeinhin gelten sie als die Auf baugeneration der DDR,83 der Jacobeit sich in seinem Tatendrang ebenfalls zugehörig fühlt. Dieses Kollektiv verlässt er auch sprachlich über viele Seiten nicht, indem er alle Erfahrungen, die den Wandel betreffen, in der Wir-Form schildert.84 Für Pätzold war dieses ›Wir‹ am Anfang der Autobiographie noch die Familie – Jacobeit blieb diese Möglichkeit verwehrt, und so ist seine Ablehnung des ›Davor‹ immer auch verwoben mit der »Kraft […], die väterliche Weltanschauung
Zeitgeschichte 36/1988, S. 339-372; KERSHAW, Ian: Der NS-Staat. Geschichtsinterpretationen und Kontroversen im Überblick, Hamburg 1994, S. 316-342. 81 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 51. 82 | Ebd. 83 | Vgl. Anmerkung 33 u. 34/Einleitung. 84 | Dabei berichtet er auch von den »beginnenden Diskussionen um die Schuld der Deutschen am Aufstieg der Nazis und am Zweiten Weltkrieg« (JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 54), er führt also eine Trennung zwischen den Deutschen auf der einen und den Nazis auf der anderen Seite ein.
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abzulehnen«.85 Wegen der familiären Nähe zum System fällt seine Verdammung sprachlich wesentlich vehementer aus, sie betrifft nicht nur äußere Umstände, sondern sogar die Entwicklung seines Selbst: Nach der Zäsur habe er nicht nur einen anderen, sondern vielmehr den »entgegengesetzten Weg«86 eingeschlagen. Jacobeit schreibt demnach nicht nur die Geschichte einer Systemkonversion, er bezieht sich durchaus in die Brucherzählung ein – allerdings stets als Mitglied seiner Generation, die als Ganze ›vom Wandel betroffen‹ ist. Fritz Kleins Eltern stammten ursprünglich aus Siebenbürgen, zu Beginn der 1920er Jahre zogen sie nach Berlin. Dort wurde sein Vater Chefredakteur der Deutschen Allgemeinen Zeitung, deren Anspruch nach dem Ersten Weltkrieg wie folgt formuliert war: »Die Sammlung des deutschen Bürgertums für die Arbeit am Wiederauf bau dessen, was durch den verlorenen Krieg und all das Unglück, das er im Gefolge hatte, zerstört ward.«87 Klein wuchs in bürgerlichem Umfeld auf und schildert diese Zeit der Dienst- und Kindermädchen, der Bechstein-Flügel und Ferienreisen nach Siebenbürgen ausführlich auf nahezu 60 Seiten. Die Geschwister des Vaters hätten es ebenfalls allesamt »weit gebracht«88: Ein Bruder war Professor der Literaturgeschichte, der andere Generaldirektor der Hermannstädter Allgemeinen Sparkasse, die Schwester promovierte Germanistin. So war auch für Klein früh klar, dass aus ihm etwas werden sollte: »Ich war auch sehr bereit dazu, bewunderte den Vater, hatte Respekt vor dem Professor, dem Bankdirektor, der Literaturkennerin, die alle lieb und freundlich zu uns waren. Irgendwie fand ich es schon gut, zu einem so bedeutenden Clan zu gehören.« 89 Der deutschnationale Vater begrüßte das neue Kabinett 1933 nicht vorbehaltlos optimistisch, sondern durchaus voller Zweifel. In seinen Augen war »es eine nicht hoch genug zu wertende Pflicht der Zeitung, nicht erst wenn das Unglück geschehen sei, sondern von der ersten Stunde an ›darauf zu bestehen, daß nicht eine Allein85 | Ebd., S. 44. 86 | Ebd. 87 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 22; siehe auch: VON KUENHEIM, Haug: Bürger im Balanceakt, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.08.2003; FISCHER, HeinzDietrich: Die Deutsche Allgemeine Zeitung, in: Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts, hg. v. ders., Pullach 1972, S. 269-282. 88 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 29. 89 | Ebd.
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herrschaft Hitlers, sondern eine Zusammenarbeit aller nationalen Kräfte notwendig sei‹«.90 Diese Haltung veranlasste ihn zu mehreren kritischen Artikeln über die neue Regierung, was wiederum ein dreimonatiges Verbot der Zeitung zur Folge hatte, das erst aufgehoben wurde, nachdem Kleins Vater als Chefredakteur ausgewechselt worden war. Klein selbst wurde zu dieser Zeit, im Alter von zehn Jahren, Mitglied der bündischen Jugend – so dachte er zumindest –, ohne freilich recht gewusst zu haben, was es damit eigentlich auf sich hatte: Von der überaus verwickelten, unübersichtlichen, durch immer neue Gründungen und Spaltungen gekennzeichneten Geschichte der bündischen Jugend hatte ich keine Ahnung, wußte auch nichts von den Konflikten, die gleich nach der »Machtergreifung« zwischen den nichtnationalsozialistischen Jugendbewegungen jedweder Couleur und dem Totalitätsanspruch der Hitlerjugend aufbrachen. 91
Erst durch die nüchterne Analyse des Rückblicks sei ihm klar geworden, dass die bündische Jugend schon 1933 zwangsaufgelöst wurde und er somit Mitglied des Jungvolks gewesen sein musste – was ihm entgangen sei, da der »bündische Charakter der Gruppe so stark betont«92 wurde. Abgesehen davon resümiert Klein: »Ein richtiger kleiner Nazi zu werden, war für mich nicht möglich, sah ich in ihnen doch die Partei, die meinen Vater gemaßregelt hatte.«93 Gleichwohl war der Vater auch kein Gegner des neuen Regimes: Bei alledem aber gab es immer noch die große Übereinstimmung in entscheidenden Fragen. Rückhaltlose Unterstützung der Gutgesinnten, wo immer sie früher standen, verdiene das »Tiefe und Ursprüngliche« der nationalsozialistischen Bewegung. Auch er habe den Wunsch, sich mit seiner Zeitung »einzugliedern in das stürmische Geschehen der Zeit, einzufügen in die Gesetzmäßigkeit des Volkes, … im rauschenden Strom dieser Tage der Stimme unseres nationalen Gewissens zu folgen«. 94
90 | Ebd., S. 39. 91 | Ebd., S. 45. 92 | Ebd., S. 46 93 | Ebd. 94 | Ebd., S. 49, zitiert aus einem Brief an Ernst Brandi vom 3. Februar 1933.
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Klein leitet schon hier eine Distanzierung vom Nationalsozialismus ein, indem er von seinem Vater ein differenzierteres Bild zeichnet und den Jargon seiner neuen Wochenzeitung Deutsche Zukunft deutlich von der üblichen Nazipresse abgrenzt: »Kritik zwischen den Zeilen zu üben, Spitzen auszuteilen, ohne sich direkt eine Blöße zu geben, war eine Kunst, in der Autoren der Deutschen Zukunft eine ziemliche Fertigkeit erwarben.« 95 1936 aber starb der Vater an den Folgen eines Reitunfalls, was das Leben der Familie Klein von Grund auf änderte: Es musste wesentlich bescheidener gelebt werden, ohne Angestellte, ohne Auto, in einer kleineren Wohnung, die partiell untervermietet wurde. Nur zwei Jahre später starb auch die Mutter an Tuberkulose in einem Sanatorium in der Schweiz. Fritz und sein Bruder blieben in der Pflegefamilie, in der sie für die Zeit des Sanatoriums untergebracht worden waren, die beiden jüngeren Brüder wuchsen fortan bei Verwandten in Hermannstadt auf. Das neue Umfeld unterschied sich eklatant von seinem Elternhaus – bürgerlicher Gemeinschaftssinn statt elitärem Sendungsbewusstsein, Sozialdemokratie statt Nationalkonservatismus. Klein war hingerissen: Ausführlich und liebevoll portraitiert er seinen Pflegevater, den Sozialdemokraten und Oberschulrat Heinrich Deiters, dessen Frau Lisbeth und die drei Kinder. Besonders betont er die selbstverständliche Ablehnung des NS-Regimes, die aber keine aktive Widerstandsarbeit bedeutete: »Man war dagegen, eine Haltung, die man sich nicht fortwährend eifernd zu bestätigen brauchte.«96 Klein misst dem Einfluss seiner Pflegefamilie große Bedeutung bei, er spricht sogar von einer »antifaschistischen Gesinnung«97, zu der ihn Heinrich Deiters erzogen habe: Die politische Konversion setzt nicht erst durch den Systemzusammenbruch, durch das Kriegsende ein, sondern erfolgt bereits wesentlich früher durch seine Pflegeeltern. Dennoch meldete er sich 1942, nach dem Abitur, freiwillig zum Dienst in der Wehrmacht, allerdings aus taktischen Gründen, wie er berichtet: Durch die freiwillige Meldung umging Klein den Arbeitsdienst, außerdem konnte er sich die Waffengattung aussuchen. Obwohl er unterstreicht, dass weder Abenteuerlust noch irgendeine Form der Kriegsbegeisterung ihn zu diesem Schritt geführt hätten, ist es ihm – ähnlich wie 95 | Ebd., S. 50f. 96 | Ebd., S. 67. 97 | Ebd., S. 73.
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Jacobeit – ein Anliegen, ausdrücklich auf seinen Kameradschaftsgeist hinzuweisen: »Irgendwie, so empfand ich bei aller Abneigung gegen den Krieg und das Regime, gehörte es sich, ein Zeichen zu geben, daß man hinter den unendlich vielen Altersgenossen, besonders aber denen, die man kannte und mit denen man befreundet war, nicht zurückstehen wollte.«98 Der Krieg brachte Klein im Oktober 1942 an die Ostfront. Im März 1945 konnte er wegen einer Verletzung in Richtung Heimat aufbrechen, damit ist sein Frontdienst beendet. Die Kapitulation im Mai bedeutete deshalb keine große Veränderung in Kleins Leben; vorerst führte sie zur Gefangenschaft in verschiedenen Lagern: »So hat sich mir die Stunde nicht eingeprägt, in der ich vom Selbstmord Hitlers oder von der deutschen Kapitulation erfuhr.«99 Durch Kontakte im Lager erlangte er rasch einen Entlassungsschein und verließ das Lager Richtung Göttingen. Das ist auch der Punkt, an dem er einen Schnitt setzt, an dem er von der »beispiellosen Radikalität des Zusammenbruchs«100 spricht,101 aus der er etwas Neues habe entstehen lassen wollen – was auch immer das sein möge: »Konkrete Vorstellungen von meiner Zukunft besaß ich kaum. Eines aber stand für mich fest: das neue Leben, das nun für mich und mein Land begann, sollte ein anderes, ein besseres, eben wirklich ein neues Leben werden.«102 Klein zitiert hier sowohl den Komponisten Louis Fürnberg103 und sein Lied »Das neue Leben muss anders werden«, das zu einer FDJ-Hymne wurde,104 als auch Heinrich Heines »Wintermärchen«, in dessen Eingangsversen Heine ein Mädchen mit »wahren Gefühlen und falscher Stimme« die staatlichen, kirchlichen und gesellschaftlichen
98 | Ebd., S. 86. 99 | Ebd., S. 97. 100 | Ebd., S. 8. 101 | Im Gegensatz zu Pätzold, der den Begriff explizit ablehnt (PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 240). 102 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 99. 103 | Louis Fürnberg (1909-1957) war ein politischer Dichter und Komponist, der vor allem durch seine Komposition »Das Lied der Partei« zu Anerkennung in der DDR gelangte, das zur SED-Lobeshymne wurde; bekannt wurde besonders der einprägsame Vers »Die Partei, die Partei, die hat immer recht«. 104 | Vgl. GROTSCHLICH, Helga/HERMS, Michael/LANGE, Katharina u.a.: »Das neue Leben muss anders werden….«. Studien zur Gründung der FDJ, Berlin 1996.
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Verhältnisse in Deutschland kritisieren und sich bessere Umstände wünschen lässt: Ein neues Lied, ein besseres Lied O Freunde, will ich euch dichten! Wir wollen hier auf Erden schon Das Himmelreich errichten.105
Mit diesem Doppelzitat wird das vage Sprechen vom Leben, das sich ändern soll, zur politischen Aussage. Gleichwohl geht es dabei durchaus auch um ihn selbst, um die Veränderung seiner »inneren Bereitschaft«106, um den häufig wiederholten Wunsch, es in Zukunft »anders und endlich besser«107 zu machen. Freilich heißt das für ihn nicht, es bis dato schlecht gemacht zu haben. So spricht Klein viel vom Glück, »nicht persönlich schuldig geworden zu sein«108, wie er überhaupt immer wieder das Glück als Kategorie bemüht, um seine Kriegsjahre zu beschreiben.109 In seiner eigenen Bewertung hat er sich in diesen Jahren widersprüchlich verhalten, denn er »hatte den Krieg nicht gewollt oder begrüßt, glaubte nicht an einen deutschen Sieg und wünschte ihn auch nicht«, tat aber dennoch pflichtgetreu seinen Dienst.110 Er erklärt dies einerseits mit der »Zwangssituation« dieser Jahre, andererseits aber auch mit fehlendem Mut und fehlendem Willen.111 So schlug er beispielsweise Ende 1942 die Möglichkeit aus, zu den Russen überzulaufen: Einerseits fürchtete er sich vor dem Leben in der Kriegsgefangenschaft, andererseits sah er in einem solchen Akt lediglich rein eigensüchtiges Handeln – und nicht etwa Widerstand gegen ein verbrecherisches Regime. Es habe ihn die »traditionelle Vorstellung [gehalten], man dürfe sich dem Kampf der nationalen 105 | HEINE, Heinrich: Deutschland. Ein Wintermärchen, DHA, Bd. 4, S. 92. 106 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 88. 107 | Ebd., S. 8. 108 | Ebd. 109 | »Das Glück, das mich fast bis Kriegsende unversehrt durch den Krieg brachte, blieb mir auch in einer Situation treu, die sehr schlimme Folgen hätte haben können. […] Glück im Unglück hatte ich schließlich, als ich in Ungarn im März 1945 mit einer Verwundung endgültig die Front verlassen konnte.« (Ebd., S. 94) 110 | Ebd., S. 87. 111 | Ebd., S. 88.
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Gemeinschaft, der man nun einmal angehörte, nicht aus egoistischen Gründen entziehen.«112 Die Gemeinschaft war, wie schon bei Jacobeit, auch für Klein der Bezugspunkt: »[W]ie Millionen andere«113 habe er zunächst gedient, während es ihm nach dem Krieg um die »Gestaltung der künftigen Gesellschaft«114 gegangen sei. Die Erzählung vom Wandel oszilliert damit eigentümlich zwischen Konversion und Konstanz – immer wieder betont Klein, durch Einfluss und Erziehung seines Pflegevaters einen Gesinnungswandel durchgemacht zu haben; zugleich legt er aber Wert darauf, sich trotz seiner gesinnungswidrigen Handlungen »nicht persönlich schuldig«115 gemacht zu haben, eben innerlich »dagegen«116 gewesen zu sein. Eckart Mehls ist der einzige unter den Autobiographen, der nicht nur seine Eltern, sondern sich selbst deutlich als Unterstützer des nationalsozialistischen Systems beschreibt. Seine Autobiographie beginnt mit dem Großkapitel »Kindheit und Jugend«, das in acht Unterabschnitte aufgeteilt ist, wobei auf »Behütete Kinderjahre« direkt »1945« folgt und dann schlicht der »Abschied von zu Hause: Internat«. Zu den behüteten Kinderjahren gehören die Jahre 1937 bis Ende 1944: Ein Elternhaus, in dem die »Ideale des Bildungsbürgertums« hochgehalten worden seien – ein Erbe des Großvaters mütterlicherseits, der es überdies zum »geschäftlich erfolgreichen agrarischen Unternehmer« gebracht hatte.117 Von der Schrankenwärterfamilie des Vaters waren demnach nur wenige Anregungen zu verzeichnen. Als Neunjähriger habe er sich, den Vorstellungen seiner Eltern gemäß, auf die Seite von Regime und Vaterland gestellt: »Natürlich teilte ich die elterliche Hoffnung auf den ›Endsieg‹ im ›Schicksalskampf des deutschen Volkes‹. Genau so natürlich waren für mich eben deutsche Soldaten die besten und tapfersten aller kriegführenden Nationen.«118 Auf zehn Seiten schildert er danach das Jahr 1945. Im Mittelpunkt steht die Flucht von Stettin Richtung Rostock mit ihren vielen Etappen, zu deren
112 | Ebd., S. 89. 113 | Ebd., S. 87. 114 | Ebd., S. 156. 115 | Ebd., S. 8. 116 | Ebd., S. 73. 117 | MEHLS, Unzumutbar, S. 12. 118 | Ebd., S. 16.
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zahlreichen aufregenden Ereignissen auch das Kriegsende gehörte, das jedoch unmittelbar keine positiven Gefühle auslöste: Wir saßen in der Falle – der Krieg war für uns faktisch aus. Niemand, ich am allerwenigsten, wußte, was das wirklich heißt. Niemand wußte, ob dies nun wirklich das oftmals angedrohte und in den finstersten Farben ausgemalte Ende – oder wider Erwarten doch vielleicht ein neuer Anfang sein werde.119
Obwohl Mehls die Unsicherheit in der Zukunftserwartung betont, schimmert auf den folgenden Seiten das trotz aller widriger Alltagserscheinungen vorwärtsgewandte, »das neu beginnende Leben«120 durch [ausführlich zu dieser Zeitdimension vgl. Kap. III]. Dieser Optimismus scheint freilich vor allem dem freundlichen Licht der Retrospektive geschuldet zu sein, schildert er seine damaligen Eindrücke doch vor allem als »Fiasko eines Weltbildes«121 und erklärt, alles durch »die Brille der elterlichen Bewertungsmaßstäbe«122 gesehen zu haben. Das Kriegsende belegt er mit dem Terminus »Zusammenbruch«123, den auch Klein nutzt, während Pätzold ihn explizit ablehnt;124 ein Zusammenbruch, der »sich ganz unvermittelt uns Kindern mit[teilte]«.125 Er setzt hier deutlich eine Zäsur, die umso prägnanter wirkt, als sie in seinem Elternhaus offensichtlich negativ besetzt war. Das ändert sich erst, als er 1947 das Elternhaus verließ und 119 | Ebd., S. 21. 120 | Ebd., S. 23. 121 | Ebd., S. 25. 122 | Ebd., S. 26. 123 | Ebd., S. 24. 124 | ›Zusammenbruch‹ wie auch ›Stunde Null‹ sind die Begriffe, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit am häufigsten genutzt wurden und die eher materielle Not, Zerstörungen, Demontagen, Flucht und Vertreibung sowie den Aspekt des Neuanfangs, der hier zentral ist, betonen. ›Zusammenbruch‹, so die Kritik am Begriff, folge zudem noch deutlich der nationalsozialistischen Selbstsicht aus der Kriegsendphase. Vgl. KIRSCH, Jan-Holger: »Befreiung« und/oder »Niederlage«? Zur Konfliktgeschichte des deutschen Gedenkens an Nationalsozialismus und Zweiten Weltkrieg, in: 1945 – Der Krieg und seine Folgen. Kriegsende und Erinnerungspolitik in Deutschland, hg. v. Burkhard Asmuss, Kay Kufeke u. Philipp Springer, Berlin 2005, S. 60-71, hier S. 61. 125 | MEHLS, Unzumutbar, S. 24.
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in einem Internat lebte. Dort wurden die Lehrer zu den Bezugspersonen, was durch die »totale Identität der Lebensumstände«126 von Lehrern und Schülern noch verstärkt wurde. Die Abkehr ist bei Mehls nicht primär und unmittelbar eine Abkehr vom Nationalsozialismus, sie ist vielmehr eine Abkehr vom Elternhaus, das allerdings untrennbar mit der Ideologie des untergegangenen Regimes verbunden ist. Mit dem Weggang ins Internat war zwei Jahre nach dem Kriegsende die »einschneidende Trennung«127 vollzogen und der Blick nunmehr selbstbewusst nach vorn gerichtet. Mehls nutzt nicht nur die narrative Struktur der Konversionserzählung: Die innere korrespondiert mit der äußeren Konversion. Das Kriegsende brachte »im wahrsten Sinne des Wortes und in jeder Hinsicht«128 einen Zusammenbruch, es zerstörte ein Weltbild, für das Ersatz gesucht werden musste.
3.3 Kontinuität im Wandel – Zäsur in der Kontinuität Alle Autoren spannen einen ersten Bogen von der Kindheit bzw. Jugend bis zum Kriegsende 1945, das einen klaren Wendepunkt darstellt. Die Jahre des Nationalsozialismus werden zum ›Davor‹, zur biographischen Abgrenzungsgröße. Die Schilderungen der letzten Kriegsjahre, des Kriegsendes und der direkten Nachkriegszeit sind bei allen Autoren von Konversionstermini geprägt: Die Rede ist von »Schuld«129 und »Umkehr«130, von »radikaler Neuausrichtung«131, vom gänzlich anderen Leben, das man sich erwünscht.132 Alle Biographien beschreiben die Abwendung vom Nationalsozialismus – von einem verbindlich festgelegten Kern der Wirklichkeitsauffassung also – als Konversion, die freilich im Einzelfall verschiedene Reichweite entfaltet; das narrative Angebot der Erzählstruktur wird unterschiedlich aktualisiert: Die Autobiographen, deren Elternhäuser mit dem alten Regime sympathisierten, betonen sämtlich ihre bürgerliche Herkunft und beschreiben den Wandel wesentlich vehementer, 126 | Ebd., S. 30. 127 | Ebd., S. 27. 128 | Ebd., S. 24. 129 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 54. 130 | Ebd., S. 44, S. 86. 131 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 8f. 132 | Ebd., S. 8, S. 142.
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bezieht er sich doch nicht nur auf die politischen Systeme, sondern auch auf die eigene Identität. Paradoxerweise zeigt sich zugleich, dass letztere trotzdem als ungebrochen dargestellt wird: Wirklich schuldig hat sich keiner gemacht, und wenn von Schuld gesprochen wird, so ist sie Sache des Kollektivs, dem man aus ehrbarem Gemeinschaftssinn ebenfalls anhing. Bei Pätzold, Hörz und Mittenzwei wiederum betrifft die Konversion ausschließlich das System. Sie alle erzählen die Geschichte einer Kontinuität im Bruch: Dabei standen sie dem ›Davor‹ immer ablehnend gegenüber, wie auch ihre Elternhäuser sich eindeutig gegen den Nationalsozialismus positioniert hatten. Dennoch sprechen sie von einem radikalen Bruch mit der Vergangenheit, den sie aber wesentlich knapper darstellen und kaum ausschmücken – er muss nicht gesondert authentifiziert werden, da er ihre Identität nicht betrifft. Und so erzählen alle Autoren vom Wandel und betonen dabei die Kontinuität. In diesem Widerspruch zeigt sich die Stärke des Konversionsnarrativs: Die Autobiographen passen das gelebte dem erzählten Leben an, sie erzählen von einem radikalen Umbruch, der einer andere Logik als der der biographischen Erfahrung folgt – auf der sie gleichwohl beharren, indem sie sich immer wieder auf ihren unveränderten identitären Kern beziehen. Auf diese Weise ähneln sich trotz divergierender Konversionsebenen die narrativen Strukturen der Erzählungen sehr. Das Kriegsende markiert den Abschluss einer Epoche, von der man sich radikal abgrenzen möchte. Und wie auch immer die Schilderungen in Details voneinander abweichen, so weisen sie sämtlich eine typische Eigenschaft von Konversionserzählungen auf: Der Lebensphase des ›Davor‹, die für abgeschlossen erklärt werden soll, wird im Rückblick die innere Kohärenz abgesprochen; sie zeigt, in den Worten von Luckmann »kein oder kein richtiges Ordnungsprinzip«133. Bei allen Autoren finden sich – über die Kriegsjahre hinaus – entsprechende Bemerkungen darüber, wie »wirr« 134 und »chaotisch«135 ihnen ihre Epoche erscheint. Das alte Leben verlangte nach Veränderung. Wohin aber die Umkehr führen sollte, war noch unklar. Die Autobiographen füllen die erwünschte Zukunft vorerst nicht mit Begriffen, sondern bezeichnen sie mit der Setzung einer Wendemarke ausschließlich 133 | LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 44. 134 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 46, S. 52; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 51. 135 | MEHLS, Unzumutbar, S. 19; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 52.
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recht vage als »neu«, »anders«, »besser« und »zukunftsträchtiger«. Damit erschöpft sich zunächst der Wandel – der Abschied von der schlechten Vergangenheit ist noch keine Ankunft in einer besseren Zukunft. Dass etwas anderes kommen musste, wird genauso häufig beschworen wie die Ungewissheit darüber, was man konkret zu erwarten hatte. Deutlich ist in den Erzählungen lediglich, dass die Abkehr eine Lücke gelassen hatte, die nunmehr in den folgenden Analyseabschnitten gefüllt werden soll.
4 D A Z WISCHEN : A NKUNF T IM GUTEN L EBEN 4.1 Politisierung: Der Blick zurück Im Fortschreiten der Konversionserzählungen nimmt die Zukunft Gestalt an: Sie wird in den Erinnerungen zunehmend mit politischen Fragen verbunden, an denen sich – ganz im Sinne Luckmanns – der deutliche Wunsch einer erneuten Zukehr zu einem verbindlichen Kern zeigt. Jacobeit, der das Kriegsende als »Lebenszäsur« bezeichnet und erklärt, »nicht ›ungeläutert‹ aus dem Kreise meines Soldatenseins zurückgekehrt« zu sein, lässt keinen Zweifel daran, in welche Richtung der neue Weg führte: In eine sich allmählich abzeichnende Gemeinschaft »gegen Krieg und deutschen Faschismus, ohne dass es da schon eine feste ideologische Grundlage gegeben hätte.«136 Doch die Politisierung schritt rasch voran, denn unmittelbar darauf berichtet er vom Gang zur Universität in Göttingen 1945, wo er sein unterbrochenes Studium wieder aufnehmen wollte. Und nicht nur das: Wenn ich mich […] vom NSDStB137 bewußt und mit Erfolg ferngehalten hatte, so interessierten mich jetzt doch studentische Vereinigungen, die ideologische Ziele für ein neues Deutschland zum Ausdruck brachten. […] Am eindeutigsten schienen mir die Parolen und Aussagen des »Sozialistischen Studentenbundes«, ohne daß ich heute noch sagen könnte, ob seine Mitglieder eindeutig den Kommunisten oder Sozialdemokraten hätten zugeordnet werden können. Sie waren auf jeden Fall nicht völkisch orientiert, setzten sich für ein friedliebendes und friedfertiges Deutschland ein, verdammten den Hitlerschen Nazistaat und forderten Ahndung 136 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 56. 137 | NSDStB = Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund
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der begangenen Verbrechen. Das entsprach meinen Anschauungen, und ich trat diesen »Sozialisten« bei.138
Der eben erst konstatierte Mangel einer ideologischen Grundlage ist damit rasch behoben. Jacobeit offenbarte sich bei den Sozialisten eine deutliche und detaillierte Programmatik, die ihn sogar zur Mitgliedschaft veranlasste. Auch wenn er sich noch in einem Zwischenraum befand und vor allem von vagen Wünschen und Plänen, von der »Absicht, sich einem neuen Deutschland zur Verfügung zu stellen«139, spricht, nimmt er doch eine klare, fortschreitende Politisierung für sich in Anspruch. Da er darauf jedoch nur wenige Zeilen verwendet und direkt im Anschluss vermutet, dass »[d]er Leser mit dem Wissen und den Erfahrungen von heute […] eine so schnelle Entscheidung nicht verstehen [wird]«140, mutet Jacobeits Politisierungsgeschichte eher als Akt der Pflichterfüllung gegenüber der von ihm gewählten narrativen Struktur an. Diese Einschätzung lässt sich auch dadurch untermauern, dass er an diesem Punkt offensichtlich nicht verharren will, sondern stattdessen mit seiner Biographie fortfährt, die mehr und mehr der Kollektiverzählung entwächst und fortan die erste Person Singular in den Mittelpunkt rückt. Klein formuliert den gleichen Wunsch nach einem neuen Leben. Doch um wirklich von einem solchen sprechen zu können, musste in seinen Augen auch das Umfeld veränderungsbereit sein. Er beklagt, nur wenig »von einem neuen Schwung, einem Drang nach Erneuerung«141 gespürt zu haben. Klein führt das unter anderem auf die Politik der britischen Besatzungsmacht zurück, die keine politischen Versammlungen erlaubte. Vorwärtsstreben bedeutete für ihn politisches Engagement, bedeutete, sich mit dem ›Davor‹ zu beschäftigen, allerdings nur als Orientierungshilfe ex negativo; keinesfalls sollte auf die Zeit vor dem Nationalsozialismus rekurriert werden: Mein Eindruck aber war doch der, dass viele Leute zu sehr [Hervorhebung CL] nach rückwärts blickten, sich auf eine Wiederherstellung früherer Verhältnisse einrichteten, einfach anknüpften an frühere Denkweisen, was bedeutete, daß man 138 | Ebd. 139 | Ebd. 140 | Ebd. 141 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 103.
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bewußt oder unbewußt daranging, die bösen zwölf Jahre als eine Art Aberration möglichst schnell und möglichst gründlich zu streichen.142
Das änderte sich erst, als Klein nach Berlin zu seiner Pflegefamilie zurückkehrte. Nun ist von der »wiedergeschenkten Arbeit« die Rede, vom »Glücksgefühl«, mit dem man zur Arbeit ging: »Der Schwung der Aufbruchstimmung zog mich unwiderstehlich an.«143 Die Arbeit bestand vorerst noch in einer Tätigkeit als Neulehrer, um die Wartezeit bis zum Studienbeginn sinnvoll zu überbrücken. Klein spricht hier vom Gewinn einer neuen »Weltsicht«, die ihn befähigte, einen »neuen Weg«144 einzuschlagen, auch wenn sie ausschließlich auf der direkten Vergangenheit fußte: Neben der scharfen Ablehnung des »Naziregimes« speiste sie sich vor allem aus der »Scham über das Unheil, das Deutsche über andere Völker gebracht hatten«.145 Wie Jacobeit wollte auch Klein sich politisch entscheiden, konnte sich darunter aber zunächst nicht mehr vorstellen als die Abkehr von der eben erst beendeten NS-Zeit. Pätzold, der bereits während der nationalsozialistischen Jahre »sehen gelernt«146 hatte, ging es in der unmittelbaren Nachkriegszeit vor allem darum, die Gestaltung der Zukunft wieder selbst in die Hand zu nehmen, denn »[d]as Pläneschmieden auch nur für kurze Fristen hatten wir uns abgewöhnt«.147 Wie Klein bemängelt er den »um sich greifenden Egoismus«148 dieser Zeit, der für ihn gerade die bundesrepublikanische Gesellschaft charakterisiert, die aus der Sicht vieler Ostdeutscher zunächst kapitalistisch orientiert war und weniger als soziale Marktwirtschaft begriffen wurde.149 Nach einer Aufgabe suchend wurde er bald von seinem Vater mit einer Gruppe bekannt gemacht, die dieser als »die Richtigen«150 qualifizierte, nämlich der Antifa-Jugend in Weimar, wo die Familie mittlerweile wohnte. Hier fand Pätzold den ersehnten Gemeinschaftssinn, 142 | Ebd., S. 104. 143 | Ebd., S. 106f. 144 | Ebd., S. 108. 145 | Ebd., S. 107. 146 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 29. 147 | Ebd., S. 42. 148 | Ebd., S. 44. 149 | Ausführlich hierzu Kap. II/4.4. 150 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 45.
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aber auch anregende Vorträge und Diskussionen, denn – so seine Einschätzung – »in keiner anderen thüringischen Stadt lebten so viele und so viele kluge Antifaschisten«151. Einerseits sei bei diesen Treffen offen von »Geschichte und Literatur, von Gott und der Welt« gesprochen« worden, alles konnte erfragt werden, »Tabus gab es nicht«.152 Man wusste in der Gruppe um die »abenteuerliche[n] Lebenswege«, die hinter den vortragenden Antifaschisten lagen – immer wieder schreibt Pätzold von den Erfahrungen aus Konzentrations- und Vernichtungslagern, die einige von ihnen hatten erleiden müssen.153 Gerade diese Kontakte und Erfahrungen befruchteten seinen Willen, etwas Neues aufzubauen und aktiv mitzuwirken, und so wird in der Retrospektive Brechts Diktum »Um uns selber müssen wir uns selber kümmern« zur Maxime, die auch für Pätzold gilt: »Wir schlossen uns in dem Bewußtsein zusammen: Jetzt sind einfach wir an der Reihe.«154 Im Stadium des Übergangs von ›Davor‹ zum ›Danach‹ hat Pätzold rasch sein Kollektiv gefunden. Bei allem Erfahrungsaustausch freilich soll das ›Davor‹ auch nicht zu viel Platz einnehmen, ein Phänomen, dem man auch bei Fritz Klein begegnet,155 denn der Elan gilt dem Morgen: »Die Frage Woher spielte in unseren Gesprächen keine Rolle, wir redeten über unser Wohin.«156 Dieses Wohin wird vorerst nicht genauer bestimmt, wiederholt als das »neue Leben« und die »neue Zeit«157 benannt, aber eindeutig mit einer Politisierung verknüpft. Herbert Hörz, der eine klare Brucherfahrung beschrieben hatte – »die erste prinzipielle Lebenswende«158 –, tritt zunächst vor allem als Beobachter dieser Erfahrung auf: Den Untergang des ›Davor‹ nahm er wahr und hielt ihn für richtig, fühlte sich aber gleichwohl nicht wirklich betroffen: 151 | Ebd. 152 | Ebd. 153 | »Stefan hatte während den zwölf Jahren der Nazidiktatur sich nur kurze Zeit in Freiheit befunden. Der Kommunist und Jude durchlitt Buchenwald, Auschwitz und wieder Buchenwald« (ebd., S. 53). 154 | Ebd., S. 46. 155 | »Wie lange lag das zurück? Noch keine elf Monate und war doch entrückt wie in ein anderes Jahrhundert« (KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 56). 156 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 47. 157 | Ebd., S. 49. 158 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 48.
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»Man [Hervorhebung CL] war froh, die Nazizeit hinter sich zu haben, doch die Aufarbeitung der Vergangenheit war nicht leicht.«159 Aber für einen »Jungen […] mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn«160 hielten auch die Wirren der Nachkriegszeit viele Schwierigkeiten bereit. In diesem Zusammenhang macht er geltend, sich bereits als Zwölfjähriger an der »ungenügenden Entnazifizierung im Westen Deutschlands«161 gestört zu haben. Hörz sieht sich als distanzierten Grübler, der sich damals vor allem dem ›Davor‹ und der »Aufarbeitung der Vergangenheit« widmete, nicht zuletzt in der politischen Diskussion mit einem »freundlichen, gesprächsbereiten Rotarmisten, der keiner Frage auswich«.162 Eckart Mehls vollzieht eine »einschneidende Trennung«163 von seinem Zuhause und damit zugleich vom ›Davor‹. Ihm liegt nun daran, diese Abkehr immer wieder glaubhaft zu machen, indem er die »günstigen Bedingungen für die Abnabelung vom Elternhaus und seinen Einflüssen«164 ausführlich schildert. Damit ist er in der Übergangsphase angelangt, im Prozess der »Umwertung vieler Werte«, den er als »kompliziert und auch schmerzlich« beschreibt.165 Für die neuen Werte mitsamt einer neuen Zeit standen die jungen Lehrer des Internats, die über »Überzeugungskraft« und »Ausstrahlungskraft« verfügten und sich politisch eindeutig verortet hatten. Es ist Mehls an dieser Stelle wichtig, die Prozesshaftigkeit des Gewinns einer neuen Orientierung zu unterstreichen und den Einfluss der Lehrer zwar als wichtig herauszustellen, in ihnen aber gleichzeitig nicht Erlöser- oder gar neue Führerfiguren zu identifizieren. Die neuen Werte bildeten sich im Zuge intensiver Auseinandersetzung heraus, für die Mehls das Bild des »dornige[n] und beileibe nicht geradlinige[n] Pfad[s]«166 bemüht. Gemeint ist damit vor allem die Beschäftigung mit dem ›Davor‹, mit »der Zeit des deutschen Faschismus und der militaristisch-preußischen Linie neuerer deutscher Geschichte.«167 Mehls kri159 | Ebd., S. 54. 160 | Ebd., S. 55. 161 | Ebd. 162 | Ebd. 163 | MEHLS, Unzumutbar, S. 27. 164 | Ebd., S. 30. 165 | Ebd., S. 32. 166 | Ebd., S. 33. 167 | Ebd.
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tisierte schon damals den sich »in Westdeutschland kräftig entwickelnden Revanchismus« und wollte zu den Guten gehören, zu den »neuen politischen Kräfte[n]«, die versprachen, »Lehren aus der verhängnisvollen Vergangenheit, deren unmittelbare Folgen wir direkt gespürt hatten und noch spürten, ziehen zu wollen«.168 Ausführlich legt er dar, warum er sich schon als Vierzehnjähriger politisch vom Westen abgestoßen gefühlt habe: Wenn ich mich richtig in meine damalige Gedankenwelt hineinversetzen kann, dann war es weniger die offensichtliche und auch für noch sehr junge Menschen präzis zu erkennende Spaltungspolitik Adenauers, die mich damals besonders bewegte, als vielmehr der unübersehbare Kurs auf die Restauration der alten politischen und wirtschaftlichen Machtverhältnisse in Westdeutschland.169
Das Kriegsende und mehr noch das System, das damit zusammengebrochen war, insgesamt eben das eigene ›Davor‹ – von ihnen wendete Mehls sich ab, »Ansporn« bedeutete ihm von nun an das Bekenntnis »Das ist nicht das Ende, das ist erst der Anfang!«170 Bei Werner Mittenzwei ist das Kriegsende in den Erinnerungen nicht unmittelbar als Zäsur sichtbar, da es nicht das Gefühl von wiedergewonnener Sicherheit brachte: »Es war […] noch immer Gefahr in Verzug.«171 Auch später, als langsam »die Ausrichtung auf eine neue Weltsicht begann«, die er schlicht mit »Wechsel der Einflüsse« überschreibt, sei er einzig und allein mit »Überleben« beschäftigt gewesen und habe sich von den sich neu konstituierenden gesellschaftlichen Kräften zunächst nicht angesprochen gefühlt: »Die neugegründeten Parteien und Organisationen sandten ihre Botschaften aus. Ich nahm sie zur Kenntnis, aber sie bewegten mich nicht.«172 Und dennoch schreibt Mittenzwei die Geschichte eines Neuanfangs, eine Auf bruchsgeschichte, die er mit märchenhaften Zügen versieht: Aber eines Tages kam es zu einer merkwürdigen Begegnung, von der andere kein Aufsehen gemacht hätten. Auf dem Weg, der mich früher in meine Schule geführt 168 | Ebd., S. 34. 169 | Ebd. 170 | Ebd., S. 36. 171 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 18f. 172 | Ebd., S. 26.
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hatte, kam ich an einem Papierwarengeschäft vorbei. […] Jetzt sah ich ein Schaufenster, ausgeschlagen mit braunem, von der Sonne verblichenem Packpapier. Darin lagen, wie beim Ausräumen vergessen, nur zwei Artikel: ein Stoß gummierter Feldpostbriefe, die nun als Briefpapier verkauft wurden, und ein schmaler broschierter Band. Er trug den Titel Deutsche Literatur während des Imperialismus. Sein Autor hieß Georg Lukács.173
Mittenzwei beschreibt die Lektüre, die ihn »gefangennahm«, als Erweckungserlebnis, als »Einführung in eine neue Gedankenwelt«,174 als Beendigung der bisherigen Existenz, die nur auf das pure Überleben ausgerichtet war: »Und doch begann in dieser Zeit etwas, das mich aus dem tristen Alltag herausführte und nicht wieder losließ. Wenn ich es mir richtig überlege, war das meine Befreiung.«175 Nicht das Kriegsende befreite den Autor vom ›Davor‹, von der Last, »im Jungvolk […] gewirkt« zu haben und vom »Nationalsozialismus beeinflußt«176 worden zu sein, sondern Georg Lukács177, der nicht weniger bot als eine neue Weltsicht: Hier führte mir einer vor, nicht nur die Literatur, sondern die Welt auf andere Art zu verstehen. In einer überlegenen und jeden Zweifel ausschließenden Art belehrte mich der Verfasser darüber, daß man die Literatur 173 | Ebd., S. 27. 174 | Ebd., S. 28. 175 | Ebd., S. 27. 176 | Ebd., S. 43. 177 | Georg Lukács (1885-1971) war ein ungarischer Literaturwissenschaftler und Philosoph, der, mit Ernst Bloch, Karl Korsch und Antonio Gramsci als bedeutender Erneuerer der marxistischen Philosophie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gilt. 1946 wurde Lukács Mitglied des Parlaments, einer der intellektuellen Führer des Petöfi-Klubs und damit des Budapester Aufstandes 1956. Unter Imre Nagy war er Kulturminister und wurde nach der Niederschlagung des Aufstandes verhaftet. Die Konsequenz dieses Abweichens von der Linie war sein Ausschluss aus der Akademie 1956, die Enthebung vom Lehramt und die Verfemung im gesamten sowjetischen Einflussbereich, also auch in der DDR. Vgl. hierzu: BAUER, Christoph J./CASPERS, Britta/HEBING, Niklas/JUNG, Werner/WENDT, Holger: »Bei mir ist jede Sache Fortsetzung von etwas.« Georg Lukács. Werk und Wirkung (=Studien des Gesellschaftswissenschaftlichen Institutes Bochum, Bd. 2), Bochum 2008.
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aus den objektiven Bedingungen ihrer Zeit verstehen müsse. […] Zugleich nahm der Autor den Leser auf eine höchst gewaltsame Art in die Pflicht, indem er erklärte, das deutsche Volk stehe vor einer größeren Aufgabe als nach dem Dreißigjährigen Krieg, vor einer Schicksalswende [Hervorhebung CL]. Lukács wurde zu einem der Götter meiner Jugend.178 Mittenzwei war damit auf dem Weg in ein ›Danach‹ angelangt, die Konzentration auf die physische Existenz wich dem tief empfundenen Gefühl, eine große Aufgabe vor sich und einen »Gott«179 über sich zu haben, an den er glauben konnte. Der Weg lag nun vor ihm; gewiesen wurde er durch »die Spur der Bücher«180 – damit knüpft Mittenzwei an eine Erzählung an, die unsere Vorstellungen von Konversion stark geprägt hat: Auch in Augustinus‹ Confessiones wird der Weg durch die Bücher gewiesen, die Aufforderung »nimm und lies« leitet seine Bekehrung ein.181 Und so begann auch für Mittenzwei mit der Lektüre eine »neue Zeit«182 . Was genau sie bringen sollte, eignete Mittenzwei sich partiell ebenfalls lesend an: »Daß man eine neue Zeit erhoffte, in der auch die Arbeiter eine Zukunft haben, erfuhr ich nach und nach erst aus der Literatur«183. Bei aller Betonung, die er auf die Abgeschlossenheit dieser Vergangenheit legt, war es gleichwohl eine Phase, in der das Vorwärtsstreben noch diffus verschwommen blieb: Die »politische[n] Diskussionen«, die in Mittenzweis Umfeld geführt wurden, zeigten, »daß sich bei uns jungen Menschen, die nicht auf Erfahrungen von vor 1933 zurückgreifen konnten, noch alles im Umbruch und im Ungewissen befand.«184 Mittenzwei spricht von der »Lust des Beginnens«185, die ihn angetrieben habe, von der Leidenschaft für alles, »was als neu und zukunftsträchtig galt«186 – so war er ein Beflügelter, ein Reisender, aber noch kein Angekommener: »Ich erwartete noch einiges.«187 178 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 28. 179 | Ebd. 180 | Ebd., S. 29. 181 | AUGUSTINUS: Bekenntnisse. Frankfurt a.M. 2004, S. 183. 182 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 33. 183 | Ebd., S. 39. 184 | Ebd., S. 44. 185 | Ebd., S. 53. 186 | Ebd., S. 45. 187 | Ebd., S. 52.
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4.2 Staatssozialismus Die Erzählungen von den beginnenden Politisierungen weisen alle auf den Wunsch nach einem neuen ›Konzept‹, nach einem neuen Kern, an den man glaube konnte. Sind es zu Beginn vor allem Ablehnungsgeschichten der alten Ordnung, die sich auf Formeln wie das Bekenntnis zu einem ›neuen Land‹ und für die ›richtige Seite‹ beschränken, werden sie zunehmend konkreter und dabei zu Hinwendungsgeschichten zum Staatssozialismus. Bei Klein vollzog sich diese Hinwendung durch die Mitgliedschaft in der KPD und dann der SED. Es ist ihm ein Anliegen, dies als wohlüberlegtes, sorgfältiges Abwägen verschiedener Positionen darzustellen und keinesfalls als übereilte oder außengelenkte Festlegung. Wieder legt er das Gewicht auf die Personen, die ihn beeinflussten und erzählt von antifaschistischen Widerstandskämpfern: »Sie haben mich tief beeindruckt und waren ein wichtiger Anstoß für mich, den politischen Weg einzuschlagen, an dem sie auch unter schwierigsten Bedingungen festgehalten hatten.«188 Nahezu 15 Seiten verwendet er auf die Beschreibung ihrer schicksalhaften Lebensläufe und ihres politischen Glaubens, um seine Entscheidung für den Parteieintritt plausibel zu machen. Gleichzeitig nennt er seinen Weg eine »logische«189 Konsequenz, eine »natürliche Entscheidung«190, getragen von den Lehren, die der sozialistische Staat aus der Vergangenheit zog. Zusätzlich beschreibt er den Parteieintritt als Gemeinschaftsentscheidung und Hommage an den früheren Pflege- und jetzigen Schwiegervater: Für mich, wie für Dorle und Ludwig [die Kinder seines Pflegevaters, Dorle ist zudem seine spätere Ehefrau, CL], war es ganz natürlich, der Entscheidung des verehrten Mannes zu folgen, die die vielfältigen Anregungen, die wir von außen erhalten hatten, gleichsam persönlich bestätigten. Als im April 1946 die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands gegründet wurde, waren wir vier Mitglieder dieser Partei.191
188 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 110. 189 | Ebd., S. 118. 190 | Ebd., S. 121. 191 | Ebd., S. 120.
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Pätzold, der seine Politisierung unmittelbar mit dem Beginn seines Antifa-Engagements verknüpfte, beschreibt seine konkreten Zukunftsziele dabei noch als unklar. Erst die Teilnahme an einem Lehrgang für junge Kommunisten und Sozialdemokraten habe ihm geholfen, einen klaren Blick zu bekommen: »Voraussetzungen und Bedingungen wurden erkennbar, die aus dem alten in ein neues Leben führen sollten.«192 Dieser Weg wurde ihm von einem Kulturarbeiter der KPD-Landesleitung gewiesen, der ihn anhielt, vorerst das Abitur zu machen, dafür allerdings vom bürgerlichen Gymnasium aufs Internat zu wechseln. Zwar betont Pätzold noch wenige Seiten zuvor, dass der Bedarf an »wundertätigen Führern«193 bei allen gestillt gewesen sei, dennoch zeigt sich hier eine weitgehend bedingungslose Hingabe zu den Menschen, die ihn in dieser Zeit umgaben und nicht weniger als »wichtige Weichenstellungen« in seinem Leben vornahmen: »Eine Vorstellung, wohin diese Wegweisung [der Besuch des Internats, CL] führen werde, besaß ich nicht, doch folgte ich dem Vorschlag.«194 Hörz, dessen politische Haltung sich nach Selbsteinschätzung lange Zeit mehr im Denken als im Handeln niederschlug, führt seine Ankunft in einem neuen Aktivismus ganz nebenbei ein. Unvermittelt spricht er von sich als »gewählte[m] Vorsitzendem der Kindervereinigung«195 der FDJ und macht damit wie selbstverständlich deutlich, dass er sich nunmehr tatkräftig für seine politischen Ziele einzusetzen gedachte. Die plötzliche und klare Politisierung begründet Hörz mit dem Kontakt zur Antifa-Jugend, die seinen »Übergang von der als unmenschlich empfundenen NAZI-Ordnung zu neuen antifaschistisch-demokratischen Werten stark geprägt«196 hätte. Im Folgenden skizziert er kurz die Ansprüche, die er an seine politische Tätigkeit stellte – von den Funktionären mit Herrschaftsallüren setzt er sich klar ab: Das war alles mit meinem Verständnis von sozialistischer Demokratie und Volksherrschaft, mit dem Ruf, dem Volk und der Partei zu dienen, und stets zu beachten,
192 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 54. 193 | Ebd., S. 46. 194 | Ebd., S. 54. 195 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 57. 196 | Ebd., S. 23.
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daß man als Funktionär selbst ein Teil des werktätigen Volkes war, nicht zu vereinbaren. Ich wollte anders sein. Das war meine Erkenntnis.197
Dies ist ein entscheidender Punkt in seiner Narration – Hörz wollte anders sein, sagt dabei allerdings zugleich, dass er danach strebte, »Funktionär« zu sein und nennt dies seine »Erkenntnis«. Nun sah er nicht nur den Weg, den er einschlagen wollte, sondern war sich auch bewusst geworden, wie er ihn gehen möchte. Sein Bekenntnis zu Partei und Volk, die Nonchalance und Überzeugtheit, mit der er einen politischen Weg beschritt, kommen freilich etwas überraschend, hatte er doch bisher seinen Status als gesellschaftlicher Beobachter, nicht als Akteur unterstrichen; sie ergeben sich allerdings aus der Logik der Konversionserzählung, die nach einem neuen Bekenntnis verlangt. Auch Mehls beschreibt den Kontakt zu antifaschistischen Kämpfern als »nachvollziehbar, überzeugend, beeindruckend«198 und möchte seinen neuen Weg unbedingt als Ergebnis einer bewussten und auf Grundlage profunder sowie mehrfach geprüfter Kenntnisse gefällten Entscheidung verstanden wissen: Mit den Inhalten des Potsdamer Abkommens war er »intensiv vertraut«, er habe um die »verbindliche[n] Grundlage[n] [der] Regierungspolitik« gewusst und »lebhaft« die politischen Vorgänge im Land verfolgt, zudem »umfassende Diskussionen […] über Grundlagen und Inhalt einer Verfassung eines neuen deutschen Staates« geführt.199 Seine Politisierung ist ebenfalls Ergebnis eines Prozesses, eines sorgfältigen Abwägens: Im Kollektiv habe er den drängenden Wunsch entwickelt, »mit unseren bescheidenen Kräften daran mitzuwirken«, den Neuanfang »bewußt mitzugestalten«.200 Seine Hinwendung zum Sozialismus nach 1945 erzählt Mehls demnach als den schwierigen Weg zu einer wohlüberlegten Entscheidung, als Abwendung nicht nur vom Nationalsozialismus, sondern damit verbunden auch vom Elternhaus: »Fast jeder Schritt auf diesem Weg stellte das gesamte Geflecht von Beziehungen und inneren Bindungen zu den Eltern und dem familiären Umfeld in Frage.«201 Aber
197 | Ebd., S. 58. 198 | MEHLS, Unzumutbar, S. 32. 199 | Ebd., S. 34f. 200 | Ebd., S. 35f. 201 | Ebd., S. 33.
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in diesem »grundsätzlichen Wandel politischer Haltungen«202, darauf legt Mehls großen Wert, war er Herr seines eigenen Lebens, und so erzählt er von seiner Entscheidung »für eine weltanschauliche Grundposition und eine politische Option«203: »Ich wollte Partei ergreifen in den Kämpfen unserer Zeit. Und so stellte ich, wohl wissend, daß dies eine konsequenzenreiche Entscheidung ist, den Antrag, als Kandidat in die SED aufgenommen zu werden.«204 Mittenzwei spricht gleichfalls davon, er habe sich »endlich auch politisch entscheiden«205 wollen, was dann eine klare Hinwendung zum Staatssozialismus bedeutete und sich nicht lediglich in der Ablehnung des ›Davor‹ erschöpfen konnte. Er betont, dass niemand ihn »drängte«, er sich »nicht durchzuringen« brauchte, sondern sich der Eintritt in die SED durch Herkunft und, mehr noch, durch den Einfluss der schönen Literatur ergab: »Sie hat mich auf diesen Weg geleitet und mich selber in Bewegung gebracht. […] Ich vertraute der Literatur, die mich am meisten bewegte.«206 Mittenzwei, der sich politisch bisher hauptsächlich als Freigeist zeichnete, erklärt seinen Parteieintritt auch mit dem Wunsch, »auf der richtigen Seite zu stehen« und dem »Widerstand«, den es damals gegen die Parteimitglieder gab, die Stirn zu bieten: »[I]ch wollte mich bekennen.«207 Auffallend ist bei diesen Hinwendungsgeschichten, dass alle Protagonisten die Freiheit und Eigenständigkeit ihrer Entscheidungen für den Sozialismus betonen, dabei aber immer wieder eine Art ›Konversionshelfer‹ erwähnen, der jeweils unterschiedliche Gestalt annimmt. Der Gründungsmythos der DDR ist zentrale Anlehnungsgröße in ihren Erzählungen.
4.3 Gründungsmythos DDR Die antifaschistische Gründungserzählung der DDR spiegelt sich auch in den persönlichen Bekehrungsgeschichten der Autobiographen deutlich wider. Sie trägt, wie in der Einleitung skizziert, Züge einer Konversions202 | Ebd., S. 35. 203 | Ebd., S. 55. 204 | Ebd., S. 54. 205 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 61. 206 | Ebd., S. 61f. 207 | Ebd., S. 62.
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erzählung.208 Der Rückgriff zeigt sich besonders deutlich in der Nutzung von besagten ›Konversionshelfern‹, die als Lehrer, Kulturfunktionäre, Antifaschisten oder Literaten auftreten. Sie werden in den Autobiographien zu den »neuen Menschen«, die das ›Erweckungserlebnis‹ ermöglichten, teilweise sogar verantworteten und vor dem Hintergrund des Wandels eine deutende und wegweisende Rolle einnehmen. Sie geben der jeweiligen Geschichte in besonderem Maße Plausibilität wie Legitimität: In allen Erinnerungen spielt der Kontakt mit »antifaschistischen Kämpfern« in der Erklärung ihrer Konversion eine herausragende Rolle – ein Kontakt, der jeweils sehr ausführlich dargestellt wird. So zeichnen Klein, Hörz und Pätzold diese Zusammentreffen und ihre Gedankengänge dazu detailreich nach. Bei Mehls, Mittenzwei und Jacobeit nimmt dieser Erzählstrang weniger Raum ein, aber auch sie sprechen bestimmten Menschen – allerdings jeweils nur einer einzelnen Person – eine dominante Rolle in ihrer politischen Entwicklung zu: Bei Mittenzwei ist es, wie bereits deutlich wurde, die Lektüre der Schriften Lukács’, die ihm den Weg wies. Jacobeit und Mehls wiederum bemühen die Figur des gütigen Lehrers,209 die auch Pätzold zusätzlich zu den antifaschistischen Kreisen einführt 210. Damit greifen die Autobiographen ein Narrativ auf, das zum politischen Selbstverständnis der DDR als antifaschistischem Staat zeit seiner Existenz gehörte und nicht nur frühzeitig eingeführt, sondern auch zum 40. Jahrestag der Staatsgründung unverändert proklamiert wurde: Die DDR, der neue deutsche Staat, in dem das werktätige Volk unter Führung der Arbeiterklasse die Macht ausübt, nahm die progressiven Traditionen der deutschen Geschichte auf, zog die Lehren und richtete von Anfang an seine Politik darauf, eine dauerhafte Friedensordnung in Europa schaffen zu helfen, getreu dem Schwur, den in Konzentrationslager und Zuchthäuser Gesperrte, in die Illegalität und das Exil Getriebene geleistet hatten: ein friedvolles Land zu errichten, von 208 | LEO, Annette/REIF-SPIREK, Peter: Helden, Täter und Verräter. Studien zum DDR-Antifaschismus, Berlin 1999; LEO, Annette: Antifaschismus, S. 30-42. 209 | So heißt es bei Jacobeit: »Hier ist nun der Name des Mannes zu nennen, der für mein weiteres Leben und meine Entwicklung zum Wissenschaftler entscheidende Bedeutung bekommen sollte« (JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 62). 210 | Seinen Russischlehrer hebt er hier gesondert hervor, nennt ihn »nichts weniger als einen Missionar« (PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 62), der ihn vom richtigen Glauben überzeugt habe.
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dessen Boden nie wieder Krieg ausgehen darf, in dem auch die geistigen Wurzeln des Faschismus ausgerottet sind und demokratische Verhältnisse herrschen. Deutsche Antifaschisten waren die Unermüdlichen der ersten Stunde! Sie waren schon daran gegangen, Wege und Ziele abzustecken, die Keime des Neuen zu setzen, als der Krieg noch in den letzten Zügen lag. 211
Die antifaschistische Gründungserzählung legt also starkes Gewicht darauf, auch im Wandel noch an Traditionen anzuknüpfen, und zeigt die Kontinuitäten auf, an die sich anschließen lässt. So begründet sie eine eigene, wenn auch ambivalente Identität als sozialistische deutsche Nation.
4.4 Partei ergreifen Bei der Schilderung der unmittelbaren Nachkriegsjahre sprechen alle Autoren in der einen oder anderen Formulierung davon, nunmehr ein gänzlich geläutertes, ein neues Leben führen zu wollen. Dieser Wunsch verlangt in der Narration zunächst vor allem nach einer deutlichen Positionierung zum ›Davor‹, zum ›schlechten Leben‹ im Nationalsozialismus, dem die Protagonisten mit einem dezidierten Gegenmodell begegnen. Wie sie die Zukunft im Sinne eines ›guten Lebens‹ gestalten konnten, war noch unklar. Fest stand aber, dass sie aktiv am Auf bau einer besseren Gesellschaft teilhaben wollten und dass ihr Engagement politischer Natur sein sollte. Die Zukunft bekommt in den Texten zunehmend mehr Raum. Die Autobiographien erzählen somit keine reine Abgrenzungs-, sondern auch eine Ankunftsgeschichte, in deren Verlauf die Politisierung der Autoren in klare Bahnen gelenkt wird – ganz konkret in Richtung Staatssozialismus, einzige Ausnahme ist Jacobeit, der noch in Westdeutschland lebte, sich allerdings dem sozialistischen Studentenbund anschloss. Die Gründung der DDR ist deshalb in allen Biographien die »notwendige Alternative«212 . Dass man dies damals erkannte, war Folge besonderer historischer Sensibilität, dass man sich dem nicht verweigerte, nicht mehr als die natürliche Konsequenz aus dem ›Davor‹. Wer die politische Entscheidung für ein besseres Leben treffen wollte, musste sich zum Staatssozialismus bekennen – das ist der Tenor, der alle Erinnerungen 211 | ULBRICH, Klaus/SEIFERT, Peter/MÜLLER, Brigitte u.a. (Hg.): Deutsche Demokratische Republik, Leipzig 1990, S. 23. 212 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 94.
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durchzieht. Auf diesem Weg vom Gestern zum Heute machen sich alle Autobiographien den Identitätsentwurf der sozialistischen Persönlichkeit zu eigen. Ihm liegt die Vorstellung eines gänzlich politischen Individuums zugrunde, das, »getrieben von der Einsicht in die Richtigkeit der marxistisch-leninistischen Lehre, so rast- wie selbstlos für die Verwirklichung der sozialistischen Zukunftsutopie kämpft«.213 Hier gleichen sich die Erzählungen auch sprachlich sehr. Die Protagonisten wollten damals sämtlich im wahrsten Sinne des Wortes Partei ergreifen und schreiben vom Wunsch nach »Bekenntnis«, nach Positionierung auf der »richtigen Seite«. Differierten sie bei der Abwendung vom Nationalsozialismus noch sehr hinsichtlich des Umfangs, den sie ihr einräumen, sprechen die Erinnerungen hier alle vom »natürlichen«214 Weg, den sie in der Hinwendung zum neuen Staat und seiner Ideologie sahen – unabhängig vom Elternhaus und dem persönlichen Erleben der Jahre vor 1945. Dabei unterstreichen alle die Rolle, die der Kontakt mit den »antifaschistischen Kämpfern« spielte und berufen sich damit auf eine der »ideologischen, kulturellen und mentalen ›Grundfesten‹«215 der DDR. Alle Autoren sehen die politische Entscheidung als Zeichen, Verantwortung übernommen, etwas beigetragen zu haben, um eine Wiederholung des ›Davor‹ unmöglich und ein strahlendes ›Danach‹ möglich zu machen. In diesem Zusammenhang aber gewinnt ein weiteres Narrativ an immer prominenter werdender Bedeutung: das Dasein als Geisteswissenschaftler, das alle Autobiographen auszeichnet und zunehmend mit ihrer Politisierungsgeschichte verwoben wird, sie komplexer macht und ihrem Leben insgesamt ein Stück der verlorenen Souveränität zurückverleihen sollte.
213 | Vgl. DEPKAT, Volker: Die DDR-Autobiographik als Ort sozialistischer Identitätspolitik, in: Autobiographische Aufarbeitung. Diktatur und Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert, hg. v. Martin Sabrow (=Helmstedter Colloquien, Heft 14), Göttingen 2012, S. 110-138, hier S. 120. 214 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 121ff.; MEHLS, Unzumutbar, S. 32f.; JACOBEIT, Von West nach Ost u.a. S. 90, S. 116; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 54; HÖRZ, Lebenswenden, S. 24ff.; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 61f. 215 | BARCK, Antifa-Geschichte(n), S. 12.
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5 D ANACH : D AS GUTE L EBEN 5.1 Der Weg in die Wissenschaft Gerade Klein, Mehls und Jacobeit, die, im Gegensatz zu den anderen Autobiographen, an keine antifaschistische Tradition anschließen können, erzählen direkt im Anschluss an den Krieg vom Umbruch und vom neuen Leben, das sie sich zu führen ersehnten. Sie sprechen vom Wunsch, sich als Personen gänzlich verändert haben zu wollen. Das ›sündige Davor‹ und seine zahlreichen Verirrungen seien den Einflüssen des Elternhauses, dem jugendlichen Alter und damit verbundener Unkenntnis geschuldet gewesen und konnten deshalb durch »Lernen«216, »Studium«217, »Bildung«218 aus der Welt geräumt werden. Hier zeigt sich möglicherweise unterschwellig die Reproduktion eines bildungsbürgerlichen Ideals, vor allem aber knüpfen die Autoren damit an Wertvorstellungen des Sozialismus an, in dem Wissen gar nicht hoch genug geschätzt werden konnte.219 Nicht nur in der Politikbegründung, auch in der sozialen Wertehierarchie der DDR spielte es eine immense Rolle, die bis hin zum Selbstverständnis der DDR als Literaturgesellschaft, als »Leseland DDR« reichte.220 Diese
216 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 47; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 34; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 103; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 57. 217 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 39ff.; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 108ff.; MEHLS, Unzumutbar, S. 57f.; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 44f. 218 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 102f.; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 66; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 112; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 272; HÖRZ, Lebenswenden, S. 16. 219 | SABROW, Martin: Sozialismus als Sinnwelt. Diktatorische Herrschaft in kulturhistorischer Perspektive, in: Potsdamer Bulletin für Zeithistorische Studien Nr. 40-41/2007, S. 9-23, hier S. 19ff. 220 | Ein Titel, mit dem die DDR sich gerne schmückte, und ein Anspruch, den die Partei- und Staatsführung jährlich zur Leipziger Buchmesse auch inszenierte. Vgl. hierzu: Leseland DDR. APuZ 11, 2009. Vgl. zur Zensur und zum »heimlichen Leser« in der DDR: LOKATIS, Siegfried/SONNTAG, Ingrid (Hg.): Heimliche Leser in der DDR: Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008; BARCK, Simone/LOKATIS, Siegfried (Hg.): Zensurspiele: heimliche Literaturgeschichten aus der DDR, Halle 2008; BARCK, Simone/LANGERMANN, Martina/LOKATIS,
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»sakralisierende Hochschätzung«221 spiegelt sich in den Autobiographien immer dann wider, wenn es um den Erwerb und den Zuwachs von Wissen geht. So spricht Mehls vom »breiten Spektrum von Kenntnissen in den Bereichen Politik, Geschichte, Literatur und Kunst«, das er sich aneignete, um das »Abzeichen für gutes Wissen« der FDJ zu erhalten, das mit der Formel »Wissen ist Macht« versehen war.222 Der Wissenserwerb war jedoch nicht nur auf die Zukunft gerichtet, sondern wurde eng mit der Vergangenheit verknüpft. Alle Autobiographen schildern die Bildung als Auftrag, das ›Danach‹ in Abgrenzung zum ›Davor‹ zu gestalten, und verbinden auf diese Weise ihre Profession mit der Konversion: Die Bildung, später die Ausübung ihrer wissenschaftlichen Berufe, war das Rüstzeug, um das System, von dem sie sich abgewendet hatten, zu bannen, eine Wiederholung unmöglich zu machen und ausschließlich an die bereits zitierten »progressiven Traditionen« anzuknüpfen. Sie hätten sich, davon sind die Autoren überzeugt, auf der richtigen Seite befunden, auf der Seite derer, die »am radikalsten widerstanden hatten, am schärfsten verfolgt worden waren und nun am geschlossensten die neue Linie vertraten«223. Dieser permanente Selbstbezug auf die Zeit ›davor‹, die alle Autoren nicht nur verdammen, sondern deren Erforschung und Erklärung sie »ein Teil dieses Lebens«224 widmen wollten, um jede Wiederholung des Geschehenen zu verhindern, klingt bei Pätzold und Klein besonders stark, im übrigen aber in allen Erinnerungen an. Pätzold bekam den Auftrag, die Geschichte des Nationalsozialismus zu erforschen, in seiner Erzählung von den Opfern selbst: Seine Eltern versteckten Besitztümer für jüdische Bekannte, darunter eine Schreibmaschine, die »uns mit dem Bemerken übergeben worden [war], dass ich sie auch benutzen solle.«225 Diese Aufforderung verknüpfte Pätzold mit späteren Rechercheberichten zu ihrem Verbleib – auch in seinem Forschungstrieb blieb er untrennbar mit dem ›Davor‹ verbunden:
Siegfried: »Jedes Buch ein Abenteuer«: Zensur-System und literarische Öffentlichkeiten in der DDR bis Ende der sechziger Jahre, Berlin 1997. 221 | SABROW, Sozialismus als Sinnwelt, S. 19. 222 | MEHLS, Unzumutbar, S. 37. 223 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 121. 224 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 54. 225 | Ebd., S. 17.
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Von der Geschichtswissenschaft, die sich mit den Verbrechen an den europäischen Juden befaßt, kann und muß ein Beitrag verlangt werden, daß es nie wieder geschieht‹. Das ist die einzige Weise von Wiedergutmachung, die den Namen verdient. Und damit das Vergangene Vergangenheit bleibt, muß gewußt werden, warum es geschah und geschehen konnte. Eine Geschichtsforschung, die nicht bis zur Frage »Warum?« gelangt, zeitigt einen Torso. Sie gleicht einer Teilkapitulation. 226
Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem ›Davor‹ ist sein Beitrag für eine bessere Gesellschaft, sein Beitrag zu verhindern, dass die Vergangenheit in der Gegenwart zurückkehren kann. Folgerichtig nimmt die Beschreibung seiner Forschungsinteressen, die politischer Natur sind, immer wieder großen Platz in seiner Autobiographie ein.227 Wissenschaft und Politik lassen sich in seiner Biographie nicht trennen, wobei er erstere oft funktionalisiert, um letztere außen vor lassen zu können. Der Weg in eine vom ›Davor‹ abgegrenzte Zukunft, in ein besseres ›Danach‹ bedeutete auch für Pätzold zunächst einmal Bildung, Ausbildung, und zwar in einer Schule, die ihm zufolge »ideale Voraussetzungen« dafür bot und so zum »Glücksfall [s]eines Lebens« wurde.228 Unterrichtet von Pädagogen, die vielfach aktive Widerstandskämpfer waren, beginnt er »sich in [der Gegenwart, CL] zu orientieren«; seinen Lehrern attestiert er auch »weltanschaulich« einen bestimmenden Einfluss.229 In der Gesamtheit führte dieses Umfeld zu einem neuen Weg, zu einer »Parteinahme« und zur »unzweifelhaft[en]« Annahme, bei »künftigen Wandlungen der Gesellschaft mit[zu]tun«.230 Auch Jacobeit und Mittenzwei verknüpfen die Hinwendung zu den Sozialisten aufs Engste mit der wissenschaftlichen Wertschätzung sozialistischer Ideale. Mittenzwei hatte seine Erzählung vom ›neuen Leben‹ von Anfang an eng mit Literatur verbunden – Lukács war die »Erleuch-
226 | Ebd., S. 193. 227 | Die Termini ›Antifaschismus‹ und ›Faschismus‹ fallen im Laufe der Erinnerungen über 50 Mal, siehe nur ebd., S. 17, S. 49, S. 74, S. 175, S. 216, S. 257, S. 276f. 228 | Ebd., S. 61. 229 | Ebd., S. 62. 230 | Ebd., S. 64.
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tung«. Bücher führten ihn in die »neue Zeit«231, seine Beschäftigung für »Theater, Musik und Kunst« versteht er als Engagement in allem, was »neu und zukunftsträchtig« war.232 Es sei »diese Kunst« gewesen, die ihn »für die Politik eingenommen« habe,233 die Vorstellung von der Zukunft sei durch sie geprägt geworden: »Daß man eine neue Zeit erhoffte, in der auch die Arbeiter eine Zukunft haben, erfuhr ich nach und nach erst aus der Literatur«234. Den Zweck der Kunst sah er in ihren Möglichkeiten »zu einer friedfertigen Erziehung der Deutschen bei[zu]tragen«235. So war der Wunsch nach Bildung für ihn zugleich ein Beitrag für eine bessere Zukunft; seine »Professoren und Dozenten« bewunderte er aufgrund ihrer »anderen Vergangenheit«: Es handelte sich weitgehend um Emigranten, die er als »geistig und politisch prägend« beschreibt.236 Jacobeit absolvierte bereits während der Zeit des Nationalsozialismus einen Großteil seines Geschichtsstudiums aufgrund der »unterschiedlichen Auffassung von Geschichte«237 gegen erhebliche Widerstände seines Vaters.238 So empfand Jacobeit die Wiederaufnahme des Studiums als neue »Lebenszäsur«239 und die damit verbundenen Möglichkeiten als echte Befreiung: »Jetzt war alles anders, machte neugierig auf bisher kaum bekannte Sichtweisen von Geschichte, von Mensch und Gesellschaft, auf theoretische Grundlagen für ein neues Denkgebäude nach der intellektuellen Trostlosigkeit des Nazifaschismus.«240 Er strebte nicht weniger als ein neues Denkgebäude an, der »Wille zur Mitverantwortung«241 war ebenso groß wie die Ablehnung des Alten. Die Wissenschaft bzw. der Geist 231 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 33. 232 | Ebd., S. 45. 233 | Ebd., S. 94. 234 | Ebd., S. 39. 235 | Ebd., S. 97. 236 | Ebd., S. 105. 237 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 34. 238 | »Ordensgeschichte war für Herbert Jacobeit ohnehin ein Reizwort, und er konnte mein Interesse gerade an dieser Historie nicht verstehen. Es gab heftige Debatten, und wir haben einmal wochenlang wegen nicht zu vereinbarender Vorstellungen über den deutschen Ritterorden nicht miteinander gesprochen« (Ebd., S. 41f.). 239 | Ebd., S. 56. 240 | Ebd., S. 61. 241 | Ebd.
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spielten hierbei eine große Rolle. Das ›Davor‹ war »intellektuell trostlos«, eine geistige Tätigkeit wird in Jacobeits Erzählung per se zum Akt der Abwendung von der alten Zeit, zum politischen Statement: Alles war anders. So stellte sich ihm auch die »Zerschlagung des Nationalsozialismus« als Zäsur für sein Fach dar, sie führte zu einem »Paradigmenwechsel«, den er nicht als etwas »Fachimmanentes, sondern als verantwortungsbewußtes Angebot der Mitwirkung am gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« verstanden wissen möchte.242 Fritz Klein nennt das Kapitel, das auf die Kriegszeit folgt, »Neubeginn«, mit der kleinen Einschränkung, dass für »[g]roße Pläne […] nicht gleich die Zeit«243 war. Auch er verknüpft den neuen Weg sofort mit der Ausbildung des Geistes, mit dem Studium, das das nötige Rüstzeug für die Gestaltung einer besseren Zukunft bieten sollte. Es führte überhaupt erst zum Impuls, die »Flucht« – damit meint er die illegale Beschaffung eines Entlassungsscheines durch einen Bekannten – aus dem Gefangenenlager in Wunstorf bei Hannover zu wagen: »Den Anstoß, diese Situation zur Flucht zu nutzen, gab dann eine Zeitungsnotiz, in der über die bevorstehende Wiedereröffnung der Universität Göttingen berichtet wurde.«244 Hatte Klein zu Beginn seiner Nachkriegserzählung noch starkes Gewicht auf die Rolle der Menschen für seine Politisierung gelegt, stellt er nun zunehmend intellektuelle Überlegungen in den Mittelpunkt: »Hier war eine Theorie, so sahen wir es, die geeignet war, Orientierung zu geben für künftiges Denken und Handeln.«245 Klein betont die intensive Beschäftigung mit der neuen Gesellschaftstheorie, keinesfalls habe er sich »allzu einfachen Denkmustern« hingegeben, sondern »aufmerksam« verfolgt, was sich in dieser Zeit tat.246 Den neuen Weg setzt Klein eng mit seinem Bildungsweg in Beziehung, durchdringende Erkenntnis sollte helfen, das ›Davor‹ endgültig zu bannen und zu einem besseren ›Danach‹ zu finden – so sei seine Studienwahl, sein späterer Beruf kein Produkt bloßer Neigung gewesen, sondern entsprach höheren Zielen: »Geschichte schien mir nun ein Fach, das besonders wichtig sein würde, gelte es doch, die Voraussetzungen zu studieren, unteren denen Deutsch242 | Ebd., S. 264. 243 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 101. 244 | Ebd., S. 99. 245 | Ebd., S. 117. 246 | Ebd., S. 119.
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land in seine jetzige Lage gekommen war.«247 Dieses Narrativ – das Gelingen der Zukunft mittels Durchdringung der Vergangenheit – zieht sich durch die ganze Erinnerung und wird immer wieder auch mit konkreten Forschungsthemen verbunden: Das Studium der Vergangenheit, um die Gegenwart besser zu verstehen und die Zukunft besser zu gestalten – für mich war das keine Allerweltsformel, sondern ein Appell zu verantwortungsbewußter Arbeit, die auf dem Feld der Weltkriegsgeschichte besonders produktiv geleistet werden konnte. 248
In allen Erinnerungen zeigt sich, dass Studium und Wissenschaft immer stärker als Mittel dargestellt werden, selbst zum Erfolg der neuen Gesellschaft beizutragen und das ›Davor‹ zu verarbeiten – diese Beispielen beleuchten Luckmanns bereits erwähntes »Amnesieverbot« der Konversionserzählung in Reinform: »Das Vorher [darf] nicht getilgt werden.«249
5.2 Wissenschaft als Ich-Kontinuität Kontinuität im Wandel herzustellen, gelingt durch den Bezug auf Bildung und Ausbildung. Dabei fallen in allen Schilderungen des Weges in die Wissenschaft die private und die politische Ebene vollständig ineinander. Sämtliche Autobiographien sind – auch wenn sie zeitlich lange vor Kriegsende und Neuanfang beginnen – klar als Erinnerungen von Wissenschaftlern konzipiert und etikettiert. Teilweise deuten die Autoren ihren beruflichen Werdegang sogar als Schicksal, das in ihrem Wesen angelegt sei. Auf diesen Aspekt wird im Laufe der Erinnerungen immer stärkeres Gewicht gelegt. So weist Kurt Pätzold bereits im Titel seiner Lebensgeschichte auf seinen Beruf hin: »Die Geschichte kennt kein Pardon« – das klingt mahnend und ernst. Gleichzeitig lässt es, wie auch der Untertitel – »Erinnerungen eines deutschen Historikers« – keinen Zweifel daran, auf welchen Aspekt seines Ichs er den Schwerpunkt legt, aus welcher Warte er erzählt und wie er wahrgenommen werden möchte. Den Auftrag zu schreiben und zu forschen, erhielt er bereits im Kindesalter; auch betont er wieder247 | Ebd., S. 124. 248 | Ebd., S. 220. 249 | LUCKMANN, Kanon und Konversion, S. 44.
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holt sein frühes Interesse für historische Zusammenhänge. Später heißt es bei ihm: »Sich der Wissenschaft hinzugeben«, so habe er es während seines Studiums gelernt, sei »Dienst in einer besonderen Welt«.250 Auch Herbert Hörz verknüpft bereits seine Kindheitserzählung mit der späteren Profession, schildert sich allerdings eher als lesebegeisterten Intellektuellen, der aus »Achtung vor Archivalien«251 selbst ihn belastende Papiere – er bezieht sich auf seine Beförderung zum HJ-Jungeschaftsführer – nicht vernichtete. Er verschlang zunächst »Sagen, Western, Krimis und alle Bände von Karl May, lustige und ernste, aktuelle und historische Romane, alles was zu bekommen war. Auch nach dem Krieg suchte ich alles an neuer Literatur zu erhalten.«252 Der Titel seiner Autobiographie erzählt vom roten Faden in der Biographie, den ihm die Wissenschaft bietet: Zwar betitelt er seine Autobiographie mit »Lebenswenden«, stellt die Veränderungen also programmatisch über seine Vita, gleichzeitig zeugt der Untertitel davon, dass die großen Umbrüche um ihn herum geschahen, nicht in ihm: »Vom Werden und Wirken eines Philosophen vor, in und nach der DDR«. Auch wenn die DDR Bezugspunkt bleibt, zeigt Hörz durch die Wahl seines Titels vor allem, dass es um sein Dasein als Philosoph gehen wird, demnach um die Kontinuität in seinem Leben. Hörz war bei der Gründung der DDR 16 Jahre alt, beschreibt jedoch auch diese jugendliche Zeit mit »Werden eines Philosophen«. Den Kern seiner Ich-Identität extrahiert er damit unmissverständlich heraus: Hörz war, ist und bleibt Philosoph. Das zeigt auch die Selbstinszenierung im Bild: Vom Cover der Autobiographie blickt er mit gerunzelter Stirn und konzentriertem Gesichtsausdruck in die Ferne. »Philosophie [ist] vor allem eine Lebenshaltung, eben Nachdenken über das, was die Welt im Innersten zusammenhält. Das kann man schon sehr früh,«253 lässt er den Leser später wissen. Und so werden viele Kindheitserinnerungen unter diesem Aspekt erzählt, sogar eine Zugfahrt, während der der Siebenjährige schweigend aus dem Fenster sah, zieht Hörz als frühes Zeugnis seiner Berufung heran: »Ob sich der Philosoph in seiner Neugier da schon zeigte?«254
250 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 78. 251 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 52. 252 | Ebd., S. 50. 253 | Ebd., S. 36. 254 | Ebd., S. 48.
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Jacobeit sucht und findet ebenfalls frühe Spuren in seiner Lebensgeschichte, die auf die spätere Berufswahl hindeuten: »Ich weiß nur, daß ich sehr viel gelesen habe und immer wieder Historica […].«255 Dabei rekurriert er wiederholt auf seinen bildungsbürgerlichen Hintergrund, wenn er über sich und seine Eltern sagt: »Jeder von uns dreien hatte ›seine‹ Bibliothek.«256 Die Wiedereröffnung der Universität nennt er einen »Wink des Schicksals« und äußert sich hier beinahe wortgleich wie Mehls, der seinen Wechsel zum Studienfach Geschichte in der »Gesamtbilanz des Lebens« als »gütige Fügung des Schicksals« bezeichnet, habe ihm dieses Studium doch ermöglicht, »ganz anders gearteten Fragestellungen an das Leben« nachzugehen, was wiederum zu einer »letztlich doch befriedigendere[n] Gestaltung« des Lebens geführt habe.257 Mehls verweist zwar nicht auf seine Kindheit – einmal in der Wissenschaft angekommen, war diese jedoch weit mehr denn reiner Broterwerb: »Meinen ganzen Lebensrhythmus stellte ich fast völlig darauf ab, so viel wie möglich lesen zu können.«258 Jacobeit wiederum betrachtet über weite Strecken seiner Erinnerungen alles in Bezug auf die Wissenschaft.259 Freundschaften erscheinen als »wissenschaftlich-persönliche Beziehungen«260, seine zweite Frau wird über ihr Fachinteresse charakterisiert: Die gemeinsame Museumsarbeit in Wandlitz mit einer Reihe von kleineren, aber gediegenen Sonderausstellungen und die umfangreichen Vorarbeiten für die Präsentation des Museums vor den Teilnehmern von CIMA 5 261 sowie Sigrids Interesse, ja Leidenschaft für wissenschaftliches Arbeiten überhaupt, förderten das 255 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 23. 256 | Ebd., S. 22. 257 | MEHLS, Unzumutbar, S. 59f. 258 | Ebd., S. 62. 259 | Jacobeit zitiert hier Pierre Nora: »Die Übung besteht darin, die eigene Geschichte so zu beleuchten, wie man es mit der Geschichte eines anderen täte, und den kalten, umfassenden, erklärenden Blick … auf sich selbst zu richten, der so oft anderen gegolten hat; als Historiker das Band zwischen der Geschichte, die man gemacht hat und der Geschichte, die einen gemacht hat, zu erklären« (JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 266ff.). 260 | Ebd., S. 78. 261 | Ein Kongress der Association Internationale des Musées d’ Agriculture (AIMA), eine UNESCO/ICOM-Organisation.
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gegenseitige Verstehen. […] Kurzum, wir heirateten 1978 und nahmen unseren Wohnsitz in Birkenwerder. 262
Mittenzwei, der auf kein »bücherfreundliches Haus« zurückblicken kann, gibt trotzdem an, sein Weg sei der »Spur der Bücher« gefolgt.263 Deren Anziehungskraft führt er mit einer leicht märchenhaften Kindheitsanekdote ein: Um genau zu sein, in meiner frühen Kindheit gab es in meinem Elternhaus nur ein Buch. Es war groß und schwer. Als ich noch nicht zur Schule ging, vermochte ich es kaum aufzuheben. Ich schob es auf dem Fußboden in die gewünschte Position und lag auf dem Bauch, wenn ich mir die Bilder darin ansah. Allein die Größe und Schwere weckte meine Neugier, noch bevor ich von dem Inhalt Kenntnis erhielt. 264
Im Folgenden schildert er sich als frühreifen Leser, der beim häufigen Kauf von Büchern stets zu hören bekam, er sei zu jung für die Lektüre.265 Seine Erinnerungen macht er streckenweise in erster Linie zu einer Erzählung seiner literarischen Entwicklung: »In dieser Zeit kam ich erstmals mit den Werken von Bertolt Brecht in Berührung, die mein Leben entscheidend bestimmen sollten.«266 Das Theater, die Literatur und seine wissenschaftliche Beschäftigung damit treten immer wieder so raumgreifend in den Vordergrund, dass alles andere dahinter nahezu verschwindet.267 Die Wichtigkeit, die er der Kunst und damit verbunden seiner Profession zumisst, ist der rote Faden seiner Erzählung; ein frühes Kapitel heißt programmatisch: »Mit der Kultur fing alles an oder Woher die Hoffnung kam«268. In der Kunst findet Mittenzwei Kontinuität. Auch Klein erhoffte sich Wegweisung von den Büchern, die ihn seit jeher begleiteten und in seiner bürgerlichen Jugend eine große Rolle spielten. Immer wieder kommt er auf die Besonderheit zu sprechen, dass er als 262 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 147f. 263 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 29. 264 | Ebd. 265 | Vgl. ebd., S. 32. 266 | Ebd., S. 48f. 267 | »Die Salome unter Kempe hinterließ bei mir einen nachhaltigen, fast möchte ich sagen lebensbestimmenden Eindruck« (ebd., S. 72). 268 | Ebd., S. 54.
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Bürgerlicher in den sozialistischen Staat integriert worden sei, womit zugleich die in der DDR häufig bemühte humanistische Bildungstradition anklingt. »[N]ach Neigung, Herkunft und Erziehung« sei es für diese Eingliederung in das neue Kollektiv »selbstverständlich« gewesen, »ein Universitätsstudium aufzunehmen«, denn die Universität versprach, das Nötige zu vermitteln, »um sich in dem neuen Leben zurechtzufinden und zu bewähren«: »Irgendwo im weiten Feld der Geisteswissenschaften […], aus dem Gefühl, dort am ehesten das an Bildung, Aufklärung und Belehrung zu finden, was ein junger Mann brauchte, um sich in dem neuen Leben zurechtzufinden und zu bewähren, das nun vor ihm lag.«269 Die Anlage seiner Autobiographie zeigt sich auch in ihrem Untertitel, dort nennt er sich einen »Historiker in der DDR«: So will er sich wahrgenommen wissen, und es vergehen nur wenige Seiten, auf denen nicht von diesem professionellen Wissenschaftlerdasein die Rede ist.270 Diese Funktionalisierung der Wissenschaft – oder des wissenschaftlichen Interesses – als Ich-Kontinuität erfüllt eine dualistische Rolle: Die Autobiographen übernehmen damit in ihrer Konversionserzählung nicht nur ein präformiertes Erzählmuster, sondern fügen ihm einen eigenen Bereich hinzu. Die Wissenschaft ermöglicht ihnen einerseits, ihren Willen zum politischen Neuanfang zu unterstreichen, begreifen sie sie doch als Beitrag zum gesellschaftlichen Neuauf bau. Andererseits betonen sie gerade immer wieder die Unabhängigkeit der Wissenschaft vom politischen System. Wissenschaft erzeugt Kontinuität: Sie unterstreicht die Wandlungsbereitschaft, und sie bewahrt bei alledem die Autonomie des Handelnden.
6 K ONVERSION ZUR W ISSENSCHAF T : F A ZIT Die Analyse der Erzählungen vom Ankommen im System des Staatssozialismus hat herausgearbeitet, dass alle Autoren die Struktur einer Konversionserzählung nutzen, um ihre Entscheidung plausibel zu machen. Dabei werden allerdings auch deutliche Unterschiede in den Erzählmus269 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 101f. 270 | Auf 368 Seiten fallen die Termini ›Historiker‹ und ›Geschichtswissenschaft‹ weit über 200 Mal, siehe hier nur Ebd., S. 10ff., S. 64, S. 126, S. 162, S. 164, S. 166, S. 170, S. 172, S. 354, S. 364.
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tern sichtbar, die mit der Haltung des jeweiligen familiären Umfeldes zum Nationalsozialismus zusammenhängen: umso regimetreuer die Familie, umso deutlicher eine Zäsur, umso eindringlicher die Geschichte einer Ich-Konversion. Und umso weiter das Elternhaus der alten Ideologie fernstand, umso klarer wird auf einer Ich-Kontinuität im Wandel beharrt: Die Konversion betrifft in diesen Geschichten vor allem das System, nicht den eigenen Kern. Diese Unterschiede verwischen sich jedoch wieder, denn auch die Protagonisten, die in besonderem Maße einen Bruch erzählen und einen Wandel des Ichs reklamieren, beziehen die Konversion letztendlich doch in erster Linie auf das System, von dem sie sich radikal abwenden wollten. Auch ihre Persönlichkeit überlebte den Wandel. Alle Protagonisten nutzen die Konversionserzählung – dieser Befund weist auch auf die Bindungskraft hin, die bestimmte Narrative aus einstigen Sinnwelten, hier die sozialistische, ausüben: Gerade die Konversionserzählung mit ihren antifaschistischen Bezügen ist untrennbar mit der Gründung der DDR verbunden. In den Autobiographien zeigt sich, dass ihre Struktur stets als Folie genutzt wird, um die Hinwendung zum System plausibel zu machen; vom unbedingten Wandel wird berichtet, vom sündigen Vorleben, das im Widerspruch dazu dennoch als fremdbestimmte Kinder- und frühe Jugendjahre geschildert wird oder als Zeit, in der man sich ideologisch nicht vom Nationalsozialismus hat beeinflussen lassen. Die Autobiographen übernehmen ein ›Skript‹, eine Erzählung, die individualbiographisch keinesfalls immer naheliegend ist und deshalb häufig passend gemacht werden muss – die Autobiographie wird mit der Erzählung des Staates synchronisiert. Die Lebensgeschichte folgt der Macht der Erzähllogik, den Gesetzen der Konversionserzählung. Dies zeigt sich auch in der modifizierten Übernahme des »neuen Menschen« aus der antifaschistischen Gründungserzählung der DDR, den die Autobiographen in der Funktion eines persönlichen ›Konversionshelfers‹ auftreten lassen und der in je unterschiedlichen Ausgestaltungen zu finden ist. Deutlich formulieren alle Texte den Wunsch, sich einer ›neuen Sache‹ gänzlich zur Verfügung zu stellen. An dieser Stelle werden die Politisierungserzählungen konkreter, die Protagonisten aktive Mitglieder der Partei; das lange diffus gebliebene Bedürfnis nach Zukunftsgestaltung mündet in die handfeste Hinwendung zum Staatssozialismus. Die individuelle Bildungs- und Entwicklungsgeschichte wendet sich ins Politische: Die Autobiographen berichten, wie sich ihr politisches Bewusstsein in der Auseinandersetzung mit den historischen Erfahrungen des 20. Jahrhun-
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derts entfaltete. Im Laufe ihrer Entwicklungsgeschichte machen sich alle Autobiographen den Identitätsentwurf der sozialistischen Persönlichkeit zu eigen, der aber, kaum im ›Danach‹ angekommen, ins Wanken gerät: Die Erzählung von der Konversion hin zum Sozialismus wird deutlich schwächer und zunehmend mit einem weiteren Narrativ verwoben, mit dem sie ein komplexes Wechselverhältnis bildet. In dem Maße, in dem das Rekurrieren auf das Konversionsnarrativ von Staat und Individuum abnimmt, wird die Erzählung von der Ankunft in der Wissenschaft sichtbarer. Der Weg in die Wissenschaft wird einerseits ursächlich mit der Ergründung des ›Davor‹ verbunden und als klare Entscheidung für die neue Gesellschaft beschrieben. Dabei sprechen die Geschichten von Konversion und Konstanz, von absolutem Wandel bei gleichzeitiger Ich-Kontinuität, die die Autoren mittels eines bereits in früher Kindheit verankerten Wissenschaftlerdaseins herstellen. Verbunden mit diesem Narrativ ist immer auch die Vorstellung einer wissenden Avantgarde, zu der sich die Autobiographen zählen und die zur Führung der Unwissenden befähigt – Wissen war, wie bereits angeführt, in der DDR eine entscheidende Legimitationsressource. Andererseits wird die Wissenschaft in den Erzählungen zunehmend zu einem Bereich funktionalisiert, der den Autoren erlaubt, sich gänzlich aus dem politischen System herauszuschreiben: Wissenschaft wird hier zur reinen Weltbeschreibung, die nichts mit der DDR an sich zu tun hat. Aus der Zuwendung zum Sozialismus wird ein Bekenntnis zur Wahrheitssuche. Die Erzählung des ›geborenen Wissenschaftlers‹ tritt deutlicher hervor und dient in allen Erinnerungstexten als roter Faden der Identitätskonstruktion. In diesem vielschichtigen Wechselverhältnis von Sozialismus, Staat und Wissenschaft zeigt sich die Konfiguration und Rekonfiguration von kollektiv geteilten Sinnsystemen im Prozess ihrer Problematisierung:271 Die Konversionserzählung, die von den Autoren wohl bereits vor 1989 genutzt wurde, erhält nach 1989 zusätzlichen Sinn und dient nicht mehr, wie zu Zeiten der DDR, ausschließlich dem Beharren darauf, im besseren System zu leben. Sie wird nun zusätzlich zur Rechtfertigung des gesamten Lebens in der DDR genutzt, wird also angereichert und be271 | Vgl. hierzu: DEPKAT, Volker: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS 2/2010, S. 170187, hier S. 179.
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kommt kommunikativ wie biographisch eine andere Funktion. Das gute und richtige Leben in der DDR ist nach dem erneuten Systemumbruch 1989/90 erheblichem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt; auch hier hilft der Gründungsmythos im Versuch, dem Staatssozialismus mit Verweis auf das unbestritten schrecklichere ›Davor‹ eine trotz allem legitime Geschichte zu verschaffen. Der Bezug auf das ›Davor‹ und die Gewissheit, sich für die richtige Seite entschieden zu haben, lassen sich allerdings nicht mehr ohne Schwierigkeiten vertreten. Keinesfalls geben die Autoren ihre Entscheidung für die DDR jedoch einfach auf. Sie entkoppeln den Glauben an den Sozialismus in der retrospektiven Rückblende allerdings zunehmend vom Staat und ersetzen ihn teilweise in Gänze durch den Glauben an die Wissenschaft. Das wissenschaftliche Ethos wird zum Bezugsrahmen ihres Lebens. Hier zeigt sich das grundlegende Dilemma der Autobiographien: Die Konversionserzählung als bedeutender Teil der Nachkriegsidentität kann nicht einfach aufgegeben, aber auch nicht mehr umstandslos und in ›Reinkultur‹ übernommen werden. So lesen sich die Autobiographen an diesen Punkten immer wieder auch als angestrengte und dennoch unmögliche Versuche, erzählte Zeit und Erzählzeit zur Deckung kommen zu lassen272 und dabei eine überzeugende Geschichte von einem guten, sinnbringenden und erfüllten Leben zu erzählen.273 Die Funktion, die der Wissenschaft dabei zugeschrieben wird, ist – wie eben gesehen – erheblichen Veränderungen unterworfen. Ist sie zu Beginn noch Partnerin, vielleicht sogar Dienerin höherer politischer Ziele, die private Neigung und berufliche Entscheidung mühelos miteinander in Einklang bringen, tritt im Laufe der Autobiographien eine deutliche Entfremdung zutage. Die Verbindung von Wissenschaft und Politik löst sich wieder. Die Vermutung liegt nahe, dass diese narrative Ausdifferenzierung dem Zeitpunkt der Niederschrift geschuldet ist. Das weitere ›Danach‹ – nämlich das Heute – übt einen geschichtspolitischen Zwang aus, dem sich auch die Autobiographen nicht entziehen können. Dieser Hypothese geht das folgende Kapitel nach. 272 | Vgl. hierzu: ULMER, Konversionserzählungen als rekonstruktive Gattung, S. 22. 273 | Das politisch verordnete Glück, das »gute Leben« in der DDR hat Peggy Mädler vor wenigen Jahren in ihrem Debütroman behandelt: MÄDLER, Peggy: Legende vom Glück des Menschen. Berlin 2011.
II Heute Erzählungen von der besseren Hälfte
1 A UTOBIOGR APHEN ALS
GESCHICHTSPOLITISCHE
A K TEURE : E INFÜHRUNG
Im vorigen Kapitel wurden narrative Strategien analysiert, mit deren Hilfe die Autoren Voraussetzungen schaffen, um zu einer kohärenten Geschichte von einem guten, sinnbringenden Leben zu finden. Das Augenmerk war dabei auch auf den Bruch von 1989/90 gerichtet, der die narrativen Gewichtungen in besonderer Weise beeinflusst hat. Insgesamt ging es um eine auf die Konstruktion der Ich-Identität zielende und damit eher nach innen gerichtete Funktion der Texte. Im Folgenden steht dagegen mehr das forum externum im Mittelpunkt. In allen untersuchten Quellen wird auch eine deutlich nach außen gerichtete Funktion der autobiographischen Form sichtbar: Autobiographien sind nicht nur verschriftlichte Lebenserinnerungen, sondern es sind veröffentlichte Lebenserinnerungen. Insofern werden Autobiographien auch im Hinblick auf ein Publikum geschrieben – sie sollen gelesen werden. Demnach können Autobiographen als Akteure verstanden werden, die am Diskurs über eine Geschichte, die auch die ihre ist, teilhaben möchten. Mit ihrer Darstellung äußern sie Wünsche, verteidigen Erzählungen oder lehnen Sichtweisen ab, kurz: Sie verhalten sich zur Welt und prägen dabei Vergangenheitsversionen, Identitätskonzepte und Geschichtsbilder in nicht unbedeutendem Maße mit.1 Autobiographen entscheiden sich in einem Prozess der autobiographischen Selbstreflexion zwischen verschie-
1 | Vgl. hierzu: ERLL, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, S. 158.
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denen zirkulierenden Narrativen und zielen dabei darauf ab, diese kollektiven Deutungsmuster umzubauen oder zu modifizieren.2 Autobiographien vermitteln mithin Versionen von Wirklichkeit. Der Autor präsentiert eine Vergangenheit, die er selbst erlebt und verinnerlicht hat. Dies macht die in dieser Arbeit untersuchten Quellen besonders aufschlussreich, verhalten sie sich doch zu einer Vergangenheit, die nach wie vor stark umstritten ist: zur Geschichte der DDR. Wie erbittert der Kampf um die ›richtige‹ Erinnerung an die DDR – nicht nur in der fachhistorischen Auseinandersetzung – noch immer geführt wird, zeigt beispielsweise die Diskussion um die Reichweite des Begriffes ›Unrechtsstaat‹, die seit 1989/90 und zuletzt im Jahr 2009 über Monate hinweg zwischen verhärteten Fronten ausgetragen wurde.3 Noch 2 | Vgl. DEPKAT, Lebenswenden, S. 29. Vgl. auch: LUCKMANN/BERGER, Die gesellschaftliche Konstruktion, S. 7f. Ausführlich zu den »kollektiven Deutungsmustern« bzw. den kollektiv geteilten Vorstellungen von einer Biographie: KOHLI, Soziologie des Lebenslaufs; DERS.: Normalbiographie und Individualität; DERS./ ROBERT, Biographie und soziale Wirklichkeit. 3 | Diese Debatte vollständig nachzuzeichnen, ist in diesem Zusammenhang nicht möglich. Daher sei nur darauf verwiesen, dass bereits im Einigungsvertrag vom »SED-Unrechts-Regime« die Rede war (Einigungsvertrag, Art. 17, Satz 2) und auch der damalige Bundespräsident Roman Herzog vor der Enquete-Kommission zur »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« erklärte: »Sie war ein Unrechtsstaat!« (HERZOG, Roman: Wege ins Offene – Erfahrungen und Lehren aus den Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Rede, gehalten am 26.03.1996 vor der Enquete-Kommission »SED-Diktatur« in Berlin, w w w.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Roman-Her zog /Reden/ 1996/03/19960326_Rede.html [letzter Zugriff 07/2013]). Von anderer Seite wurde immer wieder gefordert, die Rechtsnormen der DDR genauer zu analysieren und nicht schlicht durch eine Kategorie zu ersetzen. Im Zuge der Feierlichkeiten zum 20. Jahr des Mauerfalls und der Wiedervereinigung ist die Kontroverse wieder neu aufgeflammt und wurde quer durch die Parteien geführt. Joachim Gauck erklärte dazu, man müsse zunächst verdeutlichen, in welchem Zusammenhang der Begriff ›Unrechtsstaat‹ gebraucht werde – in einer politischen oder in einer wissenschaftlichen Debatte. Politisch gesehen sei die DDR durchaus ein Unrechtsstaat gewesen, doch passe dieser Begriff nicht in ein juristisches Seminar (so im Gespräch mit der Leipziger Volkszeitung am 17. Juni 2010). Von der öffentlichen Meinung wird Gauck eindrucksvoll bestätigt: In einer
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jüngeren Datums ist eine Studie, mit der das Wissen – oder Nichtwissen – heutiger Schüler über die DDR belegt werden soll. In der anschließenden Debatte kamen ebenfalls auf allen Seiten schwere Geschütze zum Einsatz; das Spektrum reicht von »demokratiegefährdend« bis »wissenschaftlich unhaltbar«.4 Auch die Ausstrahlung eines Interviews mit
Umfrage von Infratest dimap Ende 2009 meinten 72 Prozent der Befragten, die DDR sei ein Unrechtsstaat gewesen, nur 19 Prozent verneinten dies, weitere 9 Prozent wussten auf diese Frage keine Antwort. Vgl. hierzu: www.infratest-dimap. de/uploads/media/dt0911_bericht_02.pdf. [letzter Zugriff 07/2013]. Eine Zusammenschau der Debatte bietet HOLTMANN, Everhard: Die DDR – ein Unrechtsstaat? Veröffentlichungen der Bundeszentrale für politische Bildung, www.bpb. de/geschichte/deutsche-einheit/lange-wege-der-deutschen-einheit/47560/ unrechtsstaat?p=all [letzter Zugriff 07/2013]. 4 | Durchgeführt wurden diese Studien 2007 und 2012 vom Forschungsverbund SED-Staat der Freien Universität Berlin; 2007 wurde »DDR-Wissen« abgefragt, 2012 zusätzlich Wissen über NS-Zeit, alte Bundesrepublik und wiedervereinigtes Deutschland. Vgl. SCHRÖDER, Klaus/DEUTZ-SCHRÖDER, Monika: Soziales Paradies oder Stasi-Staat? Das DDR-Bild von Schülern – Ein Ost-West-Vergleich, München 2008; DIES.: Oh, wie schön ist die DDR. Kommentare und Materialien zu den Ergebnissen einer Studie, Schwalbach, 2009; DIES./SCHULE HEULING, Dagmar/ QUASTEN, Rita: Später Sieg der Diktaturen? Zeitgeschichtliche Kenntnisse und Urteile von Jugendlichen, Frankfurt a.M. 2012. Folgerichtig zum Titel der letzten Studie – »Später Sieg der Diktaturen?« – werden ihre Ergebnisse immer wieder als »verheerend« bezeichnet, wird über die mangelhaften Kenntnisse der Schüler gewettert, die demokratiegefährdend seien. Auf der anderen Seite wurden die Ergebnisse der Studie bzw. ihre Interpretation auch sehr kritisch betrachtet, vor allem von wissenschaftlicher Seite. Vgl. hierzu SABROW, Martin: Wie, der Schüler kennt den Dicken mit der Zigarre nicht? Das Geschichtswissen der Fünfzehnjährigen lässt wieder einmal zu wünschen übrig. Doch die Aufregung über versetzungsgefährdende Unkenntnis der DDR ist fehl am Platz, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.02.2009.
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Margot Honecker am 2. April 20125, die unbeirrt an ihren Erzählmustern über die DDR festhielt, provozierte empörte Reaktionen.6 Dies sind nur drei Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, denen man unzählige Debatten seit 1989/90 hinzufügen könnte:7 Das Ende der DDR war zugleich der Beginn des Streits um die Deutung ihrer Geschichte.8 Die Autobiographien der hiesigen Protagonisten nehmen ebenfalls an dieser Auseinandersetzung teil. DDR-Autobiographen sind Erinnerungsakteure, die sich in einem besonders umstrittenen Feld bewegen – und die damit auch im Lichte der Forschungsfelder, die vorerst tentativ mit ›Erinnerungskultur‹ und ›Geschichtspolitik‹ überschrieben seien, zu betrachten sind. Im folgenden Kapitel wird analysiert, inwieweit die Autobiographien zu einer Geschichtsdeutung der DDR beitragen möchten und wie sie sich dabei zum herrschenden Diskurs, der noch zu identifizierenden ›Meis-
5 | Das Interview wurde im Rahmen der NDR-Dokumentation »Der Sturz. Honeckers Ende« gezeigt, die auf große Resonanz stieß: 4,2 Millionen Zuschauer sahen sie, das entspricht einem Marktanteil von 13,5 Prozent. Vgl. Pressemitteilung des NDR vom 3. April 2012, www.ndr.de/unternehmen/presse/pressemitteilungen/ pressemeldungndr10029.html [letzter Zugriff 07/2013]. Die Ausstrahlung des verfilmten Bestsellers von Uwe Tellkamps »Der Turm«, der von einer Dresdener Familiengeschichte in ihrer bildungsbürgerlichen Nische im DDR der 1980er Jahre handelt, wurde von über 6 Millionen Zuschauern gesehen (trotz parallel laufender Champions League), was einem Marktanteil von 19,7 Prozent entspricht. 6 | Besonders ihre Aussagen zu den ›Mauertoten‹ wurde breit als »Verhöhnung der Opfer« aufgegriffen: »Es lässt einen nicht ruhig, wenn ein junger Mensch auf diese Weise ums Leben kommt. Man hat sich vor allem auch immer gefragt: Wieso hat er das riskiert? Warum? Denn das braucht ja nicht sein. Der brauchte ja nicht über die Mauer zu klettern. Diese Dummheit mit dem Leben zu bezahlen, das ist schon bitter.« Vgl. die im Anschluss an das Interview erschienenen Ausgaben des Focus, aller Berliner Tageszeitungen, der Augsburger Allgemeinen Zeitung, des Hamburger Abendblatts, der WELT, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung u.v.m. 7 | Vgl. hierzu nur: SABROW, Martin/JESSEN, Ralf/GROSSE KRACHT, Klaus (Hg.): Zeitgeschichte als Streitgeschichte. Große Kontroversen seit 1945, München 2003; JARAUSCH/SABROW, Verletztes Gedächtnis. 8 | ›Geschichte‹ wird hier also nicht als das Vergangene verstanden, sondern als eine bestimmte Deutung oder Bezugnahme von Vergangenem.
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tererzählung‹9, verhalten. Man darf dabei bereits an dieser Stelle die Vermutung äußern, dass der Drang, autobiographisch hervorzutreten, häufig erst dort ausgelöst wird, wo zwischen den Ansichten der Mehrheit und der persönlichen Erinnerung eine Lücke klafft. Es spricht deshalb einiges dafür, dass die Autobiographen sich selbst in mehr oder weniger offener Opposition zur gängigen ›Meistererzählung‹ befinden. Wie weit diese Hypothese tatsächlich trägt, soll im Folgenden untersucht werden. Auch hierfür werden die narrativen Strukturen analysiert, mithilfe derer die Autoren ihr Geschichtsbild skizzieren und vor allem: positionieren.
2 G ESCHICHTE ERINNERN UND NUT ZEN Um sich diesen Fragen zu nähern, finden die Forschungsfelder der Erinnerungskultur und Geschichtspolitik nähere Betrachtung. Dabei wird deutlichgemacht, worin ihre Beziehung zur vorliegenden Arbeit liegt und inwiefern sie relevante Zugriffe für die Analyse der Autobiographien bieten. Die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten Eingang in die deutsche Geschichtswissenschaft gefunden.10 Sie steht in engem methodischen wie auch begrifflichen Verhältnis zur Diskussion über die Möglichkeiten von »kollektiven Gedächtnissen«; maßgeblich für diese Form der Vergemeinschaftung von Erinnerung ist vor allem die Theorie des französischen Soziologen Maurice Halbwachs.11 Danach ist es unter bestimmten Voraussetzungen 9 | Siehe zum Begriff der ›Meistererzählung‹ Anmerkung 10/Einleitung. 10 | Vgl. die systematisierenden Aufsätze von CORNELISSEN, Christoph: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: GWU 54/2003, S. 548-563, hier S. 556-559. Er unterscheidet in kulturalistischer Perspektive die sozialen Rahmenbedingungen des Erinnerns, seine generationellen Aspekte, den Stellenwert von Nation und Nationalstaat, die Rolle von Glauben und Ideologien sowie die Funktion von Medien und Techniken der Erinnerung; DERS.: Erinnerungskulturen. In: Zeitgeschichte – Konzepte und Methoden, S. 166-184. 11 | Halbwachs’ Arbeiten entstanden in den 1920er bis 1940er Jahren, wurden aber erst in den letzten zwanzig Jahren zu einem zentralen, wenn nicht gar kanonischen Bezugspunkt im Feld der Erinnerungsforschung. Der Begriff ›cadres sociaux‹ beschreibt soziale Bezugsrahmen als unabdingbare Voraussetzung für
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möglich, auch transpersonalen Entitäten – wie eben der Gesellschaft an sich – die Fähigkeit zur kollektiven Speicherung kultureller, politischer oder historischer Daten zuzubilligen. Die Vorstellung eines »kollektiven Gedächtnisses« trifft allerdings auf Kritik, seit Halbwachs sie erstmals formuliert hat. Teils wird es für unzulässig gehalten, individuelle Prozesse auf die gesellschaftliche Ebene zu übertragen, teils wird auch nur die Unbestimmtheit des Begriffes kritisiert, der kaum Erklärungsgehalt habe.12 Die vorliegende Untersuchung geht gleichwohl davon aus, dass es zwar keine »kollektive Erinnerung«, aber durchaus »kollektive Bedingungen möglicher Erinnerungen« gibt,13 die keinesfalls statisch sind. In diejede individuelle Erinnerung. Soziale Rahmen prägen unsere Erfahrungen, Wahrnehmungs- und Denkschemata jeweils gruppenspezifisch. Dabei gibt es eine wechselseitige Abhängigkeit: Das individuelle Gedächtnis kann nur unter Berücksichtigung des kollektiven Gedächtnisses verstanden werden und umgekehrt. Nur das individuelle Gedächtnis hat einen organischen Ort. Zudem gehört jeder Mensch unterschiedlichen sozialen Gruppen an, auf deren kollektives Gedächtnis sein individuelles Gedächtnis einen »Ausblickspunkt« bietet: Halbwachs’ Begriff ›mémoire collective‹ bezeichnet darüber hinaus den »Vorrat an für das Kollektiv relevanten Erfahrungen und geteiltem Wissen«. Jede existierende (auch imaginierte) soziale Gruppe hat demnach ihr spezifisches kollektives Gedächtnis. Bei einer sozialen Gruppe im Sinne Halbwachs’ kann es sich dabei um alles von der Familie bis zur Nation (oder Weltgesellschaft) handeln. Vgl. HALBWACHS, Maurice: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967, hier insb. S. 15-18. 12 | So wird selbst bei einer metaphorischen Verwendung von ›Gedächtnis‹ der Wechsel zwischen individueller und kollektiver Ebene häufig nicht reflektiert, wie z.B. die gängige Übertragung von explizit psychoanalytischen Begriffen wie ›Trauma‹ auf eine kollektive Ebene zeigt. Dabei besteht die Gefahr, dass Kollektiven so eine Wesenhaftigkeit oder gar der Status intentional handelnder Subjekte zugeschrieben wird. Vgl. hierzu: GIESEN, Bernard/SCHNEIDER, Christoph: Tätertrauma. Nationale Erinnerungen im öffentlichen Diskurs, Konstanz 2004. 13 | KOSELLECK, Reinhart: Gebrochene Erinnerung? Deutsche und polnische Vergangenheiten, in: Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, Jahrbuch 2000, S. 19-32, hier S. 21. Er fährt fort: »Und es gehört zur oft beschworenen und ebenso oft vergeblich beschworenen Würde des Menschen, dass er einen Anspruch auf seine eigene Erinnerung hat« (ebd.). Vgl. auch NIETHAMMER, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur, Reinbek 2000.
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sen Zusammenhang gehören auch die Arbeiten von Aleida und Jan Assmann. Nicht zuletzt in Reaktion auf die genannte Kritik entwickelten sie ein Konzept, um das »kollektive Gedächtnis« weiter zu differenzieren: Sie unterscheiden dabei das »kulturelle« und das »kommunikative Gedächtnis«.14 Unter letzterem wird die kaum formalisierte, meist durch Alltagsinteraktion geprägte, oftmals mündliche Erinnerung in einer »mitwandernden« Zeitspanne von drei bis vier Generationen, das heißt ca. 80 bis 100 Jahre, gefasst.15 Das »kulturelle Gedächtnis« hingegen beschreibt an feste Objektivationen gebundene, hochgradig formalisierte und institutionalisierte Formen der Erinnerung, die einen festen Bestand von Inhalten transportieren und von spezialisierten Trägern (wie etwa Archivaren) organisiert werden.16 Aus diesem Gedächtnis gewinnen soziale Gruppen ihre Identität. Aleida und Jan Assmann folgend befindet sich die Erinnerung an die DDR in der Phase des »kommunikativen Gedächtnisses«: Einzelne Akteure und Gruppen, Zeitzeugen und Beobachter tragen ihre divergierenden, oft noch vorläufigen und flüchtigen Deutungen der Geschichte vor, ohne dass es bereits eine überwölbende Gemeinschaftserinnerung gibt. Da das »kommunikative Gedächtnis« drei bis vier Generationen umfasst, wird sich die Erinnerung an die DDR noch einige Zeit auch auf der Ebene mündlicher Traditionsbildung bewegen. Gleichwohl steht die Gesellschaft schon heute am Übergang zum »kulturellen Gedächtnis« – 14 | Vgl. diese Konzepte bei ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis; ASSMANN, Aleida: Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München 2006. 15 | Es wird oft das gesellschaftliche »Kurzzeitgedächtnis« genannt. Aleida Assmann spricht an anderer Stelle auch vom kommunikativen Gedächtnis als Alternativbegriff zum individuellen Gedächtnis, vgl. ASSMANN, Aleida: Vier Formen des Gedächtnisses. Erwägen, Wissen, Ethik, 13, 2002, S. 183-190, hier S. 184. 16 | Die ursprüngliche Definition vom »kulturellen Gedächtnis« durch Jan Assmann war noch sehr nah am Begriff des kollektiven Gedächtnisses: »den in jeder Gesellschaft und jeder Epoche eigentümlichen Bestand an Wiedergebrauchs-Texten, -Bildern und -Riten […], in deren ›Pflege‹ sie ihr Selbstbild stabilisiert und vermittelt, ein kollektiv geteiltes Wissen […] über die Vergangenheit, auf das eine Gruppe ihr Bewußtsein von Einheit und Eigenheit stützt«. Vgl. ASSMANN, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität. In: Kultur und Gedächtnis, hg. v. ders.u. Tonio Hölscher, Frankfurt a.M. 1988, S. 9-19, hier S. 15.
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die kommunizierte Erinnerung wird längst transformiert und institutionalisiert; sie lässt das Individuum hinter sich und geht in Institutionen auf, wird von wissenschaftlichen Einrichtungen bewahrt und bekommt in Gedenkakten und Mahnmalen eine sichtbare Manifestation. »Kommunikatives« und »kulturelles« Gedächtnis lassen sich im Verständnis dieser Arbeit jedoch nicht so deutlich voneinander abgrenzen, wie es von Aleida und Jan Assmann ursprünglich vorgesehen ist.17 Da das »kommunikative Gedächtnis« immer im Kontext kultureller Formung steht und umgekehrt die Inhalte des »kulturellen Gedächtnisses« stets auch in der Alltagskommunikation präsent sind, handelt es sich eher um unterschiedliche Modi von Erinnerung als tatsächlich um vollkommen voneinander getrennte Bereiche.18 Demnach lösen sich »kommunikatives« und »kulturelles« Gedächtnis nicht nacheinander ab, sondern entfalten sich vielmehr gleichzeitig und stehen in ihrer Genese in dauerhafter wechselseitiger Beeinflussung: Die Erinnerung an die DDR ist zugleich subjektiv und objektiv, individuell und transpersonal, eben »kommunikativ« und »kulturell«. Daraus ergibt sich ein mehrschichtiger Streit darum, welches DDR-Bild, auch im größeren Kontext der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert, künftigen Generationen überliefert werden soll. Es bietet sich an, dieses Neben- und oft auch Gegeneinander verschiedener Erinnerungsformen in ihrer Gesamtheit unter dem Begriff ›Erinnerungskultur‹ zusammenzufassen.19 Damit sind nicht nur die zahlreichen historischen und unhistorischen Verästelungen des »kollektiven Gedächtnisses« gemeint, sondern sämtliche Erscheinungsweisen von Geschichte – der geschichtswissenschaftliche Diskurs gehört genauso dazu wie auch diejenigen individuellen Erinnerungen, die in der Öffentlichkeit Spuren 17 | Damit schließt sie sich der Kritik an, die den Begriff »kommunikatives Gedächtnis« vor allem als Oppositionsbegriff und Abgrenzungsfolie zum »kulturellen Gedächtnis« sieht, der darüber hinaus aber recht unbestimmt bleibt. Vgl. ERLL, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen: Eine Einführung. Stuttgart 2005, S. 28. Zudem wird das Verhältnis zwischen beiden Arten von Gedächtnis nur nebulös als »floating gap« beschrieben. Vgl. ASSMANN, Das kulturelle Gedächtnis, S. 48. 18 | Vgl. BEREK, Mathias: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit : Eine Theorie der Erinnerungskulturen, Wiesbaden 2009, S. 44f. 19 | Vgl. CORNELISSEN, Erinnerungskulturen, S. 166.
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gelassen haben.20 Auch Autobiographien sind demnach Bestandteil der allgemeinen Erinnerungskultur; ihren Ort haben sie an der Schnittstelle von »kommunikativem« und »kollektivem« Gedächtnis, dort, wo die flüchtigen, individuellen Sichtweisen beginnen, sich zu einer belastbaren Gemeinschaftsvergangenheit zu verdichten. Versteht man ›Erinnerungskultur‹ in diesem weiten Sinn, so ist der Begriff nahezu deckungsgleich mit dem Konzept der Geschichtskultur. Stärker als letzteres betont er jedoch das Moment des funktionalen Gebrauchs der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke. ›Erinnerungskultur‹ reflektiert, dass Geschichte immer der Formierung einer historisch begründeten Identität dient. Noch deutlicher wird dies im untergeordneten Begriff ›Geschichtspolitik‹, der Auseinandersetzungen um Geschichte ganz unverblümt als »politisches Ereignis« kennzeichnet.21 Dahinter verbirgt sich ein vergleichweise junges Forschungsfeld, das sich Untersuchungen zur identitäts- und sinnstiftenden, (de)legitimatorischen, konfrontativen oder ausgrenzenden Funktionen der Geschichte innerhalb
20 | Vgl. KLESSMANN, Christoph: Zeitgeschichte als wissenschaftliche Aufklärung. In: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S. 240-262; JARAUSCH, Konrad H.: Zeitgeschichte und Erinnerung. Deutungskompetenz oder Interdependenz?, in: Verletztes Gedächtnis, S. 9-37. 21 | Vgl. Edgar Wolfrums kanonisch rezipiertes Werk: WOLFRUM, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland, S. 19. Dauerhaften Eingang in die politische und zeithistorische Sprache fand der Begriff im Zusammenhang mit dem Historikerstreit 1986/87, dabei war er zunächst dezidiert kulturkämpferisch und polemisch geprägt. Mitte der 1990er Jahre wurden interdisziplinäre Forschungskonzepte entwickelt, womit ›Geschichtspolitik‹ vom politischen Schlagwort zum wissenschaftlich konzeptualisierten Begriff zeitgeschichtlicher Studien avancierte. Vom normativen Ballast befreiten ihn vor allem die Arbeiten von Peter Reichel und Peter Steinbach zu nennen. Vgl. REICHEL, Peter: Politik mit der Erinnerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistische Vergangenheit, München/Wien 2005; STEINBACH, Peter: Zeitgeschichte und Politikwissenschaft. In: Regierungssystem und Regierungslehre. Fragestellungen, Analysekonzepte und Forschungsstand eines Kernbereichs der Politikwissenschaft, Opladen 1989, S. 25-32; DERS.: Zur Geschichtspolitik (Kommentar). In: Die DDR als Geschichte. Fragen – Hypothesen – Perspektiven, hg. v. Jürgen Kocka u. Martin Sabrow, Berlin 1994, S. 159-169.
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einer politischen Ordnung widmet.22 Nach Hans Günter Hockerts ist »Geschichtspolitik« ein lockerer »Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauchs der Geschichte für die Öffentlichkeit«.23 Sie umschreibt also die Besinnung auf zurückliegendes Geschehen, die nicht nur für Individuen, sondern auch für Gesellschaften Fundament von Sinn, Sicherheit und Orientierung ist und insofern den »Geschichtsbedarf sozialer Systeme«24 deckt. Dabei konzentriert sich diese Besinnung auf ausgewählte Bestände, denen damit eine fortdauernde Bedeutung zugeschrieben wird.25 In der geschichtspolitischen Forschung konnte vor allem durch die Rezeption kulturwissenschaftlicher Herangehensweisen näher umrissen 22 | Vgl. WINKLER, Heinrich August (Hg.): Griff nach der Deutungsmacht. Zur Geschichte der Geschichtspolitik in Deutschland, Göttingen 2004; FRÖHLICH; Claudia/HEINRICH; Horst-Alfred (Hg.): Geschichtspolitik. Wer sind ihre Akteure, wer ihre Rezipienten?, Stuttgart 2004; WOLFRUM, Geschichte als Waffe; BOCK, Petra/WOLFRUM, Edgar (Hg.): Umkämpfte Vergangenheit. Geschichtsbilder, Erinnerung und Vergangenheitspolitik im internationalen Vergleich, Göttingen 1999. 23 | HOCKERTS, Hans Günter: Zugänge zur Zeitgeschichte. In: Verletztes Gedächtnis, S. 41. Bernd Faulenbach fasst sie enger als »die durch besondere Institutionen oder im öffentlichen Raum vollzogene Vergegenwärtigung von denkwürdigen Ereignissen, des Handelns und Leidens von Menschen der Vergangenheit im Hinblick auf die Gegenwart«. Vgl. FAULENBACH, Bernd: Diktaturerfahrung und demokratische Erinnerungskultur in Deutschland. In: Orte des Erinnerns. Gedenkzeichen, Gedenkstätten und Museen zur Diktatur in SBZ und DDR, hg. v. Annette Kaminsky, Bonn 2004, S. 18-30, hier S. 20. CORNELISSEN, Was heißt Erinnerungskultur?, S. 555, legt sie als »Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse […], seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur«, weiter aus. 24 | LUHMANN, Niklas: Weltzeit und Systemgeschichte. Über Beziehungen zwischen Zeithorizonten und sozialen Strukturen gesellschaftlicher Systeme, in: Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme, hg. v. Peter Christian Ludz, Opladen 1997, S. 81-115, hier S. 99. 25 | SCHMID, Harald: Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept. Zur Historisierung der Kategorie »Geschichtspolitik«, in: Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, hg. v. ders., Göttingen 2009, S. 53-75, hier S. 54.
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werden, auf welche Art und Weise dieser gesellschaftliche Rückbezug auf die Quellen und Bestände der eigenen Identität praktisch vollzogen wird. Außer Symbolen, Strategien und Ritualen sind dabei auch sprachliche Strukturen ins Zentrum des Interesses gerückt.26 Vor allem Harald Schmid hat nachdrücklich darauf hingewiesen, dass Sprache ein Mittel von Geschichtspolitik ist.27 Die Analyse von Narrativen, die Frage, wie Geschichte sprachlich inszeniert wird, wie dabei verzerrt, manipuliert, ausgelassen und hinzugefügt wird, ist deshalb grundlegend, um Formen von Geschichtspolitik zu untersuchen.28 Dabei ist immer zu beachten, dass Geschichtspolitik als soziale Praxis notwendigerweise in einen gesellschaftlichen Raum eingebunden ist, der Hintergründe liefert und Grundlage für Motivationen bildet. Die Akteure wirken zwar auf diesen Raum ein, stehen aber umgekehrt schon von Beginn an selbst unter dem Einfluss ihres sozialen Umfeldes; so etwas wie ein »geschichtspolitischer Nullpunkt«29 existiert nicht. Im Fokus geschichtspolitischer Analysen stehen damit insgesamt die Prozesse, in denen Erinnerung und Geschichte konstruiert werden – »[m]it Geschichte will man etwas«, wie es Alfred Döblin in seinem 1936 veröffentlichten Aufsatz »Der historische Roman und wir« pointiert zusammengefasst hat.30 Geschichte nimmt zwar ihren Anfang in vergangenen Ereignissen der Vergangenheit, darüber hinaus aber ist sie auf die 26 | Vgl. SCHMID, Harald: Konstruktion, Bedeutung, Macht. Zum kulturwissenschaftlichen Profil einer Analyse von Geschichtspolitik, in: Geschichtspolitik und sozialwissenschaftliche Theorie, hg. v. Horst-Alfred Heinrich u. Michael Kohlstruck, Stuttgart 2008, S. 75-98. 27 | Schmid identifiziert insgesamt fünf Kernbereiche von Geschichtspolitik: »Formen und Mittel«, »Inhalte und ›Produkte‹«, »Funktionen«, »Akteure« und »Normative Kontexte«; vgl. SCHMID, Vom publizistischen Kampfbegriff zum Forschungskonzept, S. 72-74; DERS.: Geschichtspolitik – Historiographie und Deutungsmacht. In: Wege zur Geschichte. Konvergenzen – Divergenzen – Interdisziplinäre Dimensionen, hg. v. Hamid Reza Yousefi, Hermann-Josef Scheidgen, Klaus Fischer u.a., Nordhausen 2010, S. 63-85. 28 | SCHMID, Vom publizistischen Kampfbegriff, S. 72. 29 | Ebd., S. 74. 30 | DÖBLIN, Alfred: Der historische Roman und wir. In: Ders.: Schriften zur Ästhetik, Poetik und Literatur, hg. v. Erich Kleinschmidt, Freiburg i.Br. 1989, S. 291316, hier S. 302. Siehe dazu auch die Untersuchung von KIT TSTEIN, Ulrich: »Mit
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Gestaltung von Gegenwart gerichtet, die zudem Zukunft zu prägen beansprucht. Der Gebrauch von Geschichte sagt mindestens ebenso viel über die gegenwärtige wie über die vergangene Zeit aus. Darin aber liegt die entscheidende Verbindung zu den Forschungen über Erinnerungskulturen und »kollektive Gedächtnisse«31 – und ebenso die Verknüpfung zu den Quellen dieser Arbeit: Auch die Autobiographen ›wollen etwas‹, auch ihre individuellen Gedächtnisleistungen stehen in beständiger Wechselwirkung zum Kollektivgedächtnis, auch sie positionieren sich im Kontext einer übergeordneten Erinnerungskultur. Da die narrativen Sinnstiftungen der Autobiographen Konstruktionsprozesse von Erinnerung und Geschichte beinhalten, bieten auch sie sich in besonderer Weise für eine geschichtspolitische Analyse an. Dabei geht es nicht um die Frage, ob das vermittelte Geschichtsbild einem Abgleich mit der Vergangenheit standhält, ob gleichsam tatsächlich die ›Wahrheit‹ überliefert wurde. Statt des Was? der Erinnerung ist vielmehr entscheidend, »wie, durch wen, warum, mit welchen Mitteln, welcher Absicht und welcher Wirkung Erfahrungen mit der Vergangenheit thematisiert und politisch relevant werden«.32 Politische Relevanz ist dabei in einem denkbar weiten Sinne zu verstehen. Gemeint sind damit längst nicht nur staatliche oder ideologische Belange. Der Bezug auf Geschichte kann zahlreiche andere wichtige Funktionen erfüllen. Um diese Extension darzustellen, lässt sich Geschichte will man etwas.« Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918-1945), Würzburg 2006. 31 | Vgl. SCHMID, Vom publizistischen Kampfbegriff, S. 72; HOCKERTS, Zugänge zur Zeitgeschichte, S. 52; vgl. aber Reinhart Koselleck: »Wer als Akteur Geschichte politisieren zu können glaubt, erliegt seiner eigenen Ideologie«. Vgl. KOSELLECK; Reinhart: Die Transformation der politischen Totenmale im 20. Jahrhundert. In: Zeitgeschichte als Streitgeschichte, S. 205-228, hier S. 206. Zur Erklärung der seit den 1980er Jahre anhaltenden Kontroversen um den Umgang mit der Vergangenheit weist Kirsch mit Recht auf die starke Wechselwirkung und beiderseitige Durchdringung der Konzeptionen von Geschichts- und Erinnerungskultur hin: KIRSCH, Jan-Holger: »Wir haben aus der Geschichte gelernt.« Der 8. Mai als politischer Gedenktag in Deutschland, Köln 1999, S. 29. 32 | WOLFRUM, Geschichtspolitik, S. 26. Eindeutige historische Wahrheit wird hier nicht festzustellen sein; vgl. KLESSMANN, Christoph/SABROW, Martin: Zeitgeschichte in Deutschland nach 1989. In: APuZ 39, 1996, S. 3-24, hier S. 4f.
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mit Klas-Göran Karlsson von »use of history« sprechen: Von Geschichte wird nach Karlsson dann Gebrauch gemacht, wenn ausgewählte Aspekte einer »historical culture« in einen Kommunikationsprozess eingebracht werden, weil »bestimmte Gruppen in einer bestimmten Gesellschaft bestimmte Bedürfnisse befriedigen oder bestimmte Interessen verfolgen« wollen.33 Die Geschichtskultur, von der Karlsson spricht, bezieht sich dabei auf Jörn Rüsens Definition, die weitgehend mit dem oben erläuterten Begriff der Erinnerungskultur übereinstimmt.34 Karlsson hat – in anderem Kontext – eine Typologie verschiedener »uses of history« herausgearbeitet, die den Begriff ›Geschichtspolitik‹ um wichtige Aspekte weiterentwickeln, weil sie die Komplexität menschlicher Verhaltensformen besser widerspiegeln als die Beschränkung auf eine diffuse Kategorie des Politischen dies kann. Diese Abstufungen erlauben es auch, die verschiedenen Akteure und ihre Positionen innerhalb der einzelnen Gebrauchsfunktionen stärker zu berücksichtigen. Dank ihrer Ausdifferenzierungen ist Karlssons Typologie ein analytisches Raster, mit dessen Hilfe geschichtspolitische Strategien und Erzählmuster aufgeschlüsselt und schärfer voneinander abgegrenzt werden können. Er
33 | KARLSSON, Klas-Göran: The Holocaust as a Problem of Historical Culture. Theoretical and Analytical Challenges, in: Echoes of the Holocaust. Historical Cultures in Contemporary Europe, hg. v. Klas-Göran Karlsson u. Ulf Zander, Lund 2003, S. 9-57, hier: S. 38; vgl. auch DERS.: Public uses of history in Contemporary Europe. In: Contemporary History on Trial: Europe since 1989 and the Role of the Expert Historian, hg. v. Harriet Jones, Kjell Östberg u. Nico Randeraad, New York 2007, S. 27-45. 34 | Um die problematische Trennung bzw. Gegenüberstellung von Geschichte und Erinnerung zu vermeiden, beharrt Rüsen auf der gegenseitigen Bedingtheit von Erinnerung und Geschichte: »Erinnerung konstituiert Geschichte. […] Geschichte ihrerseits kann […] Erinnerung beeinflussen«. Vgl. RÜSEN, Jörn: Sinnverlust und Sinnbildung im historischen Denken am Ende des Jahrhunderts. In: Globale Konflikte, Erinnerungsarbeit und Neuorientierungen seit 1945 (=Geschichtsdiskurs Bd.5), hg. v. ders., Wolfgang Küttler u. Ernst Schulin, Frankfurt a.M., S. 360-377, hier S. 374.
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identifiziert – idealtypisch35 – fünf Arten, Geschichte in Gebrauch zu nehmen.36 Es handelt sich um (a) den professionell-wissenschaftlichen Gebrauch von Geschichte: Er basiert auf der historiographischen Hypothese, dass Ereignisse und Phänomene der Vergangenheit im Kontext ihrer jeweiligen Zeit verstanden und erklärt werden müssen und nicht im Lichte späterer Interessen und Umstände betrachtet werden dürfen.37 Diese Prämisse steht über der Arbeit des Historikers; ausgeübt und kontrolliert wird sie durch diszipli35 | Darauf weist Karlsson selbst hin, S. 42. Dennoch stellt er ein Analyseinstrument zur Verfügung, das die Operationalisierung ermöglicht und, wie verschiedene Arbeiten gezeigt haben, durchaus konstruktiv angewendet werden kann, ohne schematisch übernommen zu werden; vgl. DIETSCH, Johan: Making sense of suffering. Lund 2006; FERRO, Marc: The use and abuse of history, London 2003. 36 | Ausgearbeitet hat er diese Typologie zuerst im Zusammenhang der Erinnerungskultur der Sowjetunion, später dann erweitert. Im deutschen Sprachraum wurde sie v.a. von Jörn Rüsen übernommen, der mit ›Geschichtskultur‹ den gesellschaftlichen Versuch, Geschichte zu interpretieren, in den Mittelpunkt rückt, der Geschichten auf unterschiedliche Weise sinnlich, ästhetisch und kreativ präsentiert; vgl. hierzu: RÜSEN, Jörn: Historical memory and democracy: Setting the scene. In: Democracy under construction: Patterns from four countries, hg. v. Ursula van Beek, Opladen: 2005, S. 337-349; DERS.: How to make sense of the past – salient issues of Metahistory. In: The Journal of Transdisciplinary Research in Southern Africa vol. 3, no. 1, July 2007, S. 171-221; DERS.: Leidensverdrängung und Trostbedarf im historischen Denken. In: Über den Trost, hg. v. Tiemo Rainer Peters u. Claus Urban, Ostfildern 2008, S. 76-84, DERS.: How to Come to Terms with a Burdening Past – the German Example. In: Korean Journal of Genocide Studies 2009, 2, S. 167-187; vgl. zu diesem Verständnis von ›Geschichtskultur‹ auch GROSSE KRACHT, Gedächtnis und Geschichte. 37 | Dem wissenschaftlichen Gebrauch wurde in westlichen Gesellschaften lange Zeit die stärkste Position im Deutungskampf zugeschrieben bzw. er war ausschließlich den universitären Lehrstuhlinhabern vorbehalten. Unterdessen wird ihnen diese Position von »Schnittstellenakteuren« streitig gemacht, die sich ebenfalls mittels wissenschaftlichem Gebrauch von Geschichte an die Öffentlichkeit wenden. Gemeint sind: »Gedenkstätten-Initiativen, Historiker-Journalisten, Filmproduzenten und […] Zeitzeugen«. Vgl. SABROW, Martin: Der Zeitzeuge als Wanderer zwischen den Welten. In: Die Geburt des Zeitzeugen nach 1945, hg. v. ders.u. Norbert Frei, Göttingen 2012, S. 13-32, hier S. 20.
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näre Regeln, Standards, Methoden und Theorien. Die Auswahl einer bestimmten Vergangenheit für die Nutzung in Forschung und Lehre hat demnach die Funktion, einen nach Einschätzung des Historikers vielversprechenden Zugang weiter auszubauen oder wenigstens ein historisches Ereignis auszuleuchten;38 (b) den existentiellen Gebrauch von Geschichte: Ausgelöst wird er durch das Bedürfnis, etwas zu erinnern oder zu vergessen, um Gefühle der Orientierung und Identität aufrechtzuerhalten oder zu verstärken. Gerade abrupte gesellschaftliche Veränderungen können Gefühle von Unsicherheit nach sich ziehen, die durch den Bezug auf die Vergangenheit relativiert werden und das Individuum mit der notwendigen Kontinuität ausstatten; (c) den moralischen Gebrauch von Geschichte, der oft eine Reaktion auf vermeintliche offizielle Anstrengungen ist, bestimmte Aspekte der Vergangenheit zu vertuschen, zu trivialisieren oder zu banalisieren.39 Ziel ist die Enthüllung, Wiederentdeckung oder Rehabilitierung; der Fokus liegt deshalb nicht auf einer Gesamtheit der Geschichte, sondern vor allem auf dem, was bisher vergessen oder verschwiegen wurde; (d) den politisch-pädagogischen Gebrauch von Geschichte, der möglichst unmittelbar eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellt. Im Gegensatz zum professionell-wissenschaftlichen Gebrauch wird der damalige Kontext unter das grelle Licht der heutigen Ziele und Absichten gestellt: Geschichte wird als Hilfsmittel genutzt, um die politischen Probleme der Gegenwart anzugehen. Dabei geht es vor allem um die Bildung von Analogien und den Gewinn tragfähiger Rückschlüsse: Sofern sich zwei Ereignisse, die sich zu unterschiedlichen Zeiten zugetragen haben, in einer Hinsicht ähneln, hofft man, diese Ähnlichkeit werde sich auch auf weitere Aspekte erstrecken;40 e) den ideologischen Gebrauch von Geschichte: Danach erscheint Geschichte in einem Kontext, der von vornherein weniger aus empirischen Rahmendaten besteht, sondern eher durch ideologische Ziele definiert wird. Geschichte wird zum Argument, das häufig legitimatorischen Zwecken dienen soll.41 Und entsprechend werden delegitimierende oder 38 | DIETSCH, Making Sense of Suffering, S. 33. 39 | FERRO, The Use and Abuse of History, S. 10. 40 | KARLSSON, The Holocaust as a problem of Historical Culture, S. 40. 41 | Ebd., S. 41.
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ideologisch unbrauchbare Epochen gerne absichtsvoll ausgeblendet; der Nichtgebrauch von Geschichte ist deshalb ein wichtiger Sonderfall innerhalb dieser Kategorie. Karlssons begriffliches Instrumentarium wird im Folgenden bei der Untersuchung der Autobiographien angewendet, um die geschichtspolitischen Strategien der Autoren differenziert zu durchleuchten.
3 I N MORALISCHER O PPOSITION – DAS DOMINIERENDE B ILD Der Geschichtsgebrauch der Autobiographen lässt sich nicht analysieren, ohne den Kontext, in dem sie verfasst wurden, zu berücksichtigen. Damit ist einerseits der zum Zeitpunkt der Niederschrift dominierende Diskurs zur Geschichte der DDR gemeint, andererseits – und wichtiger – die Frage, wie die Autoren diese ›Meistererzählung‹ deuten. Ihre Erinnerungen erschienen zwischen 1998 und 2008, wobei der Schwerpunkt auf der Zeit um die Jahrtausendwende liegt. Wie ist dieser Zeitpunkt unter geschichtspolitischen Gesichtspunkten einzuordnen? Bernd Faulenbach, der mehrere grundlegende Skizzen zur Geschichtspolitik nach 1989 vorgelegt hat,42 unterscheidet im bisherigen Aufarbeitungsprozess der DDR vier Phasen, in die sich das Verfassen und Veröffentlichen der Autobiographien einordnen lassen. Faulenbach verortet die erste Phase der Auseinandersetzung mit der DDR in den revolutionären Ereignissen von 1989/90.43 In dieser Phase lag der Umgang mit dem vierzigjährigen Erbe noch in ostdeutschen Händen, geriet aber mit der ›Vereinigung‹ rasch in die Hände einer westdeutschen Deutungs-
42 | Vgl. FAULENBACH, Bernd: Die neue geschichtspolitische Konstellation der neunziger Jahre; DERS.: Die DDR als Gegenstand der Geschichtswissenschaft; DERS.: Zehn Jahre Auseinandersetzung; DERS.: Die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit in vergleichender Perspektive. In: Auf den Kehrichthaufen der Geschichte? Der Umgang mit der sozialistischen Vergangenheit, hg. v. Isabelle de Keghel u. Robert Maier, Hannover 1999, S. 13-26. 43 | Hierzu wurde bereits eine wichtige Untersuchung vorgelegt: BOCK, Petra: Vergangenheitspolitik im Systemwechsel. Die Politik der Aufklärung, Strafverfolgung, Disqualifizierung und Wiedergutmachung im letzten Jahr der DDR, Berlin 2000.
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hoheit.44 Die zweite Phase meint die Jahre bis 1995, in denen die DDRVergangenheit »auf allen Ebenen« thematisiert wurde: Faulenbach nennt die strafrechtliche Aufarbeitung, die Rehabilitierung und Entschädigung der Diktaturopfer, die Offenlegung der Geheimdienstunterlagen und die damit einhergehende Nichtbeschäftigung von Belasteten im öffentlichen Dienst, die politisch-wissenschaftliche Aufarbeitung der DDR durch die beiden Enquete-Kommissionen des Bundestages, gesellschaftliche Aufarbeitungsinitiativen, die Auseinandersetzung in den Medien sowie die wissenschaftliche Beschäftigung mit der DDR. Diese Phase der Aufarbeitung erlebt die hitzigsten und heftigsten Wortgefechte zur DDR-Geschichte überhaupt – die Debatten werden von den erheblichen Verkürzungen einer Täter-Opfer-Polarität dominiert und sind häufig parteipolitisch stark aufgeladen. Seit dieser Zeit kursieren auch drastische Bezeichnungen für die DDR-Aufarbeitung insgesamt, etwa, wenn von »Stasi-Hysterie« gesprochen, das Etikett »Siegerjustiz« verwendet wird und die Einschätzung weite Zustimmung findet: »Die Sieger schreiben die Geschichte«.45 In diese Phase fällt auch eine der wichtigsten geschichtspolitischen Wegmarken der 1990er Jahre, nämlich die Schaffung der beiden EnqueteKommissionen zu »Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SEDDiktatur in Deutschland« und »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit«.46 Zugleich hat die im Bundestag – das heißt an höchster Stelle – angesiedelte Thematisierung der DDRGeschichte zur Ausprägung einer dritten Phase der Aufarbeitung geführt: Im Zeitraum zwischen 1995 und der Jahrtausendwende sind Ansätze zu einer Historisierung der DDR und zur Professionalisierung ihrer Erin44 | Nur für diese Phase und auch nur begrenzt lässt sich im Vergleich mit den anderen ehemals sozialistischen Staaten von annähernd ähnlichen Ausgangsbedingungen in der Geschichtspolitik sprechen. 45 | Vgl. FAULENBACH, Zehn Jahre, S. 662. 46 | Die von den Kommissionen herausgegebenen Bände mit Expertisen, Gutachten und Zeitzeugenberichten sind für die Zeitgeschichtsforschung von großem Interesse, zeigen sie doch, dass Geschichtspolitik stets gegenwartsbezogen ist. Der dokumentierte Streit der beiden Volksparteien darüber, wer von ihnen die Partei der deutschen Einheit sei, ist dafür nur ein Beispiel; vgl. hierzu nur: Parteien-Streit um Einheit eskaliert. Schröder wirft CDU Geschichtsfälschung vor, in: Der Tagesspiegel, 01.10.2000.
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nerung – etwa durch die Schaffung der »Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur« – zu beobachten. Diese noch vorsichtige Distanzierung zur ursprünglichen Geschichte verhärtet sich in der vierten Phase der Aufarbeitung, die nach Faulenbach etwa mit dem 10. Jahrestag von 1989/90 begonnen hat. Seitdem sind im wissenschaftlichen Diskurs deutliche Anzeichen einer Historisierung nicht zu übersehen. 47 Dass dies zu neuen Debatten – und möglicherweise zu einer neuen Phase der Aufarbeitung – geführt hat, ist hier nicht näher auszuführen. 4 8 In den ersten Jahren nach 1989 lag so etwas wie eine ›Meistererzählung‹ über die DDR noch in weiter Ferne, verschiedenste Erinnerungen, Deutungen und Narrative existierten neben- und miteinander. Dies stellt sich zehn Jahre nach der Wiedervereinigung – am Übergang der zweiten zur dritten Aufarbeitungsphase – schon ganz anders dar: Die Öffentlichkeit blickt klarer und zielstrebiger zurück; viele Erzählungen haben ihre Daseinsberechtigungen im Zuge geschichtspolitischer Aushandlungsprozesse verloren, in denen der politisch-pädagogische Gebrauch von Geschichte dominiert hat. Es ist zu diesem Zeitpunkt insgesamt wesentlich deutlicher auszumachen, welche Deutung der DDR-Geschichte in das kulturelle Gedächtnis der Bundesrepublik eingeschrieben werden soll und welche nicht, und so muss vieles, »was die DDR und das Leben in ihr ausmachte, […] in dieser öffentlich gespeicherten Erinnerung an die DDR ausgespart« bleiben.49 Genau in diese Zeit aber, die aus Sicht der ehemaligen DDR-Bürger häufig Randständigkeiten zu viel und Lebensthemen
47 | FAULENBACH, Zehn Jahre, S. 649-654. 48 | Betrachtet man Kontroversen der letzten Jahre, wie beispielsweise die Debatte um den Begriff ›Unrechtsstaat‹, befinden wir uns wohl bereits in einer fünften Phase, in der es – anders als noch in den 1990er Jahren – selbst für manche Geschichtspolitiker kein unmittelbares Bedürfnis nach Delegitimierung mehr gibt, sondern in der vielmehr die Konturen der verblichenen DDR zu aktuellen Zwecken überhaupt erst und immer wieder neu beschrieben werden. Im Falle der Unrechtstaatsdebatte wurde ein Begriff, dem keine analytische Funktion innewohnt, zum Politikum erhoben. Wer sich dabei um begriffliche Differenzierung bemühte (so SCHWAN, Gesine: In der Falle des Totalitarismus, in: Die Zeit, 25.06.2009, S. 13), machte sich politisch angreifbar. Vgl. auch Anmerkung 43/Einleitung. 49 | SABROW, Die DDR erinnern, S. 13.
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zu wenig Raum lässt, fällt die Niederschrift und Veröffentlichung der hier untersuchten Autobiographien. Die Grundzüge einer ›Meistererzählung‹ über die DDR lassen sich zu diesem Zeitpunkt bereits unschwer erkennen. Die ersten und größten Aufregungen der Nach-Wende-Zeit sind mittlerweile verblasst, zudem haben die ehemaligen SED-Granden in häufig kaum kaschierten Rechtfertigungsschriften ihren publizistischen Höhepunkt bereits hinter sich.50 Die Deutungshegemonie liegt in diesen Jahren nach Thomas Ahbe und Carola Rudnick bei zwei Gruppen von Akteuren: aus den sogenannten alten Bundesländern sind es Intellektuelle,51 (konservative)52 Politiker53 und Journalisten, die den Diskurs beherrschen, aus Ostdeutschland sind es vor allem diejenigen, »die durch das DDR-System behindert oder Opfer staatlicher Gewalt geworden waren.«54 Letztere verweisen, so Ahbe 50 | Vgl. hier nur: HONECKER, Erich: Moabiter Notizen, Berlin 1994; SCHWABOWSKI, Günter: Der Absturz, Hamburg 1992; MODROW, Hans: Aufbruch und Ende, Hamburg 1991. 51 | Während auch Bernd Faulenbach ›Erinnerungskultur‹ als ein klassisches Anliegen der Intellektuellen bezeichnet, definiert Reinhart Koselleck die Instanzen der Erinnerungskonstruktion als die fünf großen »›P…s‹: Politiker, Professoren, Pfarrer, Publizisten und PR-Spezialisten«. Vgl. FAULENBACH, Diktaturerfahrung, S. 20; KOSELLECK, Die Transformation, S. 206. Vgl. auch MÜNKLER, Herfried: Politische Mythen und nationale Identität. Vorüberlegungen zu einer Theorie politischer Mythen, in: Mythen der Deutschen: deutsche Befindlichkeiten zwischen Geschichten und Geschichte, hg. v. Wolfgang Frindte u. Harald Pätzolt, S. 2127, hier S. 25, der die Intellektuellen ebenfalls als Begründer politischer Mythen identifiziert. 52 | Vgl. hierzu: RUDNICK, Die andere Hälfte der Erinnerung, S. 731. 53 | Die Bundesebene ist nach 1989/90 zunehmend als geschichtspolitischer Akteur in Erscheinung getreten. Politiker nutzen die Legitimitätsressource Geschichte im symbolpolitischen (Gedenk-)Alltag. Das ›Sich-Selbst-Zelebrieren‹ ehemals an der Vereinigung führend beteiligter Politiker wird vom politischen Gegner freilich kritisiert, vgl. MECKEL, Markus: Kritischer Rückblick. In: Ders: Selbstbewusst in die Deutsche Einheit, Berlin 2001. Über die Selbstdarstellung Helmut Kohls als »Kanzler der Einheit« vgl. ebd., S. 220f. 54 | »Erstens die staatlichen Gewaltmaßnahmen, zweitens die politische und geistige Bevormundung […], drittens die Ineffizienz der sozialistischen Planwirtschaft […] und viertens schließlich das als opportunistisch gegeißelte Arrange-
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weiter, in ihren DDR-Darstellungen auf jene Aspekte, die sie selbst zu Gegnern des Systems hatten werden lassen. All diese Protagonisten – zugleich Stützen der geschichtspolitischen Bildungsarbeit – verstehen sich in Abgrenzung zum »unangeleiteten Diskurs« der breiten Bevölkerung als eine Art Avantgarde, als »Aufgeklärte«.55 Als die hiesigen Protagonisten ihre Erinnerungen niederschreiben, ist die DDR deshalb in vielerlei Hinsicht diskreditiert. Die allgemeine Geschichtsschreibung fokussiert sich auf den Repressions- und Unrechtscharakter des untergegangen Systems; totalitarismustheoretische Auslegungen der SBZ- und damit auch der DDR-Geschichte dominieren.56 Selbst im Vergleich mit dem ›Dritten Reich‹ – bis dahin dem Unrechtsstaat schlechthin – schneidet die DDR aufgrund der vergleichsweise stärkeren Herrschaftsdurchdringung der Gesellschaft und ihrer längeren Existenz in einzelnen Darstellungen schlechter ab.57 Die ›Meistererzählung‹, so lässt sich das im Hinblick auf die Autobiographen zusammenfassen, bietet zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit der positiven Identifikation mit der DDR. Es steht zu vermuten, dass die Protagonisten diese Erzählung nicht unkritisch übernehmen. Die folgenden Überlegungen gehen deshalb der Frage nach, wie die Autoren sich zur vorherrschenden Meinung verhalten, wie sie ihre eigenen Absichten ment vieler Ostdeutscher.« Vgl. AHBE, Thomas: Ostalgie: Zum Umgang mit der DDR-Vergangenheit in den 1990er Jahren, Erfurt 2005, S. 64f. 55 | So GAUCK, Joachim: Gemeinsamkeiten der Erinnerung im vereinten Deutschland. In: Woran erinnern? Der Kommunismus in der deutschen Erinnerungskultur, hg. v. Peter März u. Hans Joachim Veen, Köln 2006, S. 191-199, hier S. 193. 56 | Nach dem Ende der DDR erfuhr die Totalitarismustheorie eine Konjunktur innerhalb der historisch-wissenschaftlichen Auseinandersetzung über die SBZ/ DDR. Insbesondere unter dem Schlagwort der »doppelten Vergangenheitsbewältigung« wurde nicht selten eine unkritische Analogisierung von Nationalsozialismus und DDR vorgenommen. Siehe u.a. JESSE, Eckhard: War die DDR totalitär? In: APuZ 40, 1994, S. 12-23. 57 | Eine kritische Auseinandersetzung über diese »doppelte Vergangenheitsbewältigung« findet sich bei RUDNICK, Carola S.: Doppelte Vergangenheitsbewältigung. In: Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland. Debattenund Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945, hg. v. Torben Fischer u. Matthias Lorenz, Bielefeld 2007, S. 275-279. Vgl. ebenso: TROEBST, Jalta versus Stalingrad, S. 49.
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definieren und was sie über ihre Motivation aussagen, ein eigenständiges und abweichendes Bild zu formulieren.
3.1 Vom Verschwinden des eigenen Lebens Die Autoren sind, als sie ihre Erinnerungen zu Papier bringen, vom öffentlichen Diskurs weitgehend ausgeschlossen; sie gehören nicht zu den Akteursgruppen, die Gehör finden. Mit der Veröffentlichung ihrer (Lebens-) Geschichten drängen sie bewusst zurück in diesen Diskurs, der als Bedrohung für ihre persönliche Lebenserzählung erscheint. Mehls schreibt von den »immer unerträglicher werdenden Versuchen, die Geschichte der DDR und das Leben ihrer Bürger dreist umzulügen«58, Pätzold sieht »Zerr- und Horrorbilder verbreitet«, die »von den Zeiten [handeln], in denen sich mein Leben vollzog«59 und Hörz weigert sich, sein Leben von einem »hysterischen Zeitgeist […] deformieren zu lassen.«60 Auch Mittenzwei schreibt gegen diesen »Zeitgeist« an, den er in einer weit verbreiteten »Diskriminierungsliteratur« wiederfindet, nach deren Lektüre ehemalige DDR-Bürger »ihr eigenes Leben nicht wiedererkannten.«61 Klein und Jacobeit argumentieren grundsätzlich ähnlich, wenn auch in der Form zurückhaltender und unpersönlicher. Klein möchte mit seinen Erinnerungen Klarheit darüber schaffen, »wie einer gelebt hat in diesen Zeiten, die zu verstehen uns allen so schwerfällt«62, ein Anliegen, das sich vor allem auf die Wissenschaft bezieht. Darin trifft er sich mit Jacobeit, der moniert, als »Wissenschaftler und Intellektueller zu wenig Beachtung [zu] finden«, was zu »gewissen Defiziten« führe.63 Kleins und Jacobeits Ausrichtung ist wesentlich konsensorientierter, allerdings sind sie im Vergleich zu den anderen Autobiographen auch besser in den gesamtdeutschen Wissenschaftsbetrieb integriert.64 So wünscht sich Klein, 58 | MEHLS, Unzumutbar, S. 8. 59 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 312. 60 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 494. 61 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 491. 62 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 13. 63 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 292. 64 | Zum Zeitpunkt der Niederschrift befinden sich zwar alle Autoren im – teilweise erzwungenen – Ruhestand. Gleichwohl lässt sich für Klein und Jacobeit insofern von einer besseren Integration sprechen, als sie über Tagungen, Kongresse und
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es möge »ohne Beschönigung und ohne Verteufelung – in beiden Richtungen – um die Wirklichkeit des Lebens in Ost und West gesprochen und gestritten werden, um so beizutragen zu einem ruhigeren und vernünftigeren Miteinander im vereinten Deutschland.«65 Der Wunsch, dass es nicht nur um den Osten, sondern auch um den Westen gehen solle, findet sich in allen Quellen und zeugt davon, dass die Erzählung vom eigenen Leben und damit auch die Vorstellung, die man sich vom eigenen Leben macht, durch den offiziellen Diskurs bedrängt und in Frage gestellt werden. Dies drücken Pätzold, Hörz, Mittenzwei und Mehls sehr deutlich aus; Klein und Jacobeit formulieren durchweg deutlich moderater als die anderen vier Autobiographen. Jacobeit äußert sich kaum politisch, ihm geht es folgerichtig auch nicht darum, das Bild vom Staatssozialismus zu retten, sondern nur einen Teilbereich, nämlich die Volkskunde im Staatssozialismus, deren Bewertung er als »borniert«, »gehässig und unsachlich« bewertet.66 Sämtlichen Autoren ist gemein, dass sie die gängigen Beschreibungen der DDR als undifferenziert und desavouierend empfinden – alles wird »verworfen, was dort gemacht wurde«67: »Es ging immer offensichtlicher nicht nur mehr darum, die Differenziertheit und Vielfältigkeit des Lebens in der DDR auf Klischees und ein tristes Schwarz-Weiß zu reduzieren, sondern letzten Endes nur noch die Farbe Schwarz gelten zu lassen.«68 Dieser »Trend, der keine Differenzierung zuließ«69, habe dazu geführt, dass es »für aufrechtes Weiterleben« eine »unabdingbare Notwendigkeit [wurde], das Recht auf differenzierte Wertungen und Bewertungen einzufordern und zu verteidigen.«70 Die ›Meistererzählung‹ soll nicht unwidersprochen hingenommen werden: »So ist dieses Buch auch eine Gegenschrift, in dem jedoch keine alte Rechnung zu begleichen war.« 71 Damit formulieren alle Autobiographen, was nach Karlsson der moralische Vortragstätigkeiten weiterhin Teil des Wissenschaftssystems waren. Obgleich ihre Position mit der vor 1989 natürlich nicht vergleichbar ist, blieb ihnen die vollständige Exklusion damit erspart. 65 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 360. 66 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 282, S. 270. 67 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 33. 68 | MEHLS, Unzumutbar, S. 8. 69 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 461. 70 | MEHLS, Unzumutbar, S. 8. 71 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 312.
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und auch der existentielle Gebrauch von Geschichte ist: Es geht ihnen darum, aufzudecken, was »umgelogen« 72 oder verschwiegen werde, um damit die eigene Identität aufrechtzuerhalten. Den Trend zur Pauschalisierung, den hier alle Erinnerungen ausmachen, datieren die Protagonisten auf die 1990er Jahre – eine Zeit, in der »Geschichtsschreibung« ihrer Ansicht nach besonders schwierig war.73 Darüber hinaus gibt es noch eine weitere augenfällige Übereinstimmung: auch die sozialen Gruppen, die für die Diffamierungen der DDR verantwortlich gemacht werden, sind bei allen Autoren dieselben. Dies soll im Folgenden analysiert werden.
3.2 Vom »Haß« 74 der Mächtigen Als Hauptschuldige an dem ungünstigen Aufarbeitungsklima identifizieren alle Protagonisten die BRD-Politiker der Wende- und Nachwendezeit, die häufig mit dem Attribut »herrschend« 75 versehen werden, als »herrschende Macht« 76 auftreten oder schlicht als »die Herrschenden« 77 agieren, was – vermutlich absichtsvoll – suggeriert, man habe es bei der BRD keineswegs mit einem demokratischen System zu tun. Immer wieder finden sich auch Bezeichnungen wie »neue Machthaber« oder »neue Führungsriege« 78 – nicht die Strukturen haben sich demnach geändert, sondern lediglich die Machtverhältnisse. Aus Sicht der Autobiographen ist eine Deutungselite an die Stelle einer anderen getreten; das politische System spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.
72 | MEHLS, Unzumutbar, S. 8. 73 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 461. 74 | Ebd., S. 485. 75 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 499; MEHLS, Unzumutbar, S. 308; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 240. 76 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 289; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 341, S. 117. 77 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 241; HÖRZ, Lebenswenden, S. 499, S. 501, S. 527; MEHLS, Unzumutbar, S. 306. 78 | MEHLS, Unzumutbar, S. 7; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 196, S. 258, S. 291.
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Die willigen Unterstützer der »Machthaber«, ihrerseits Anführer des »Feldzugs«, seien in dieser Zeit »die Feuilletons der großen Zeitungen« 79, die schrieben, was politisch »gefragt« 80 sei und sich »als Ankläger im Namen der Geschichte aufspielten.« 81 Diesen »Autoren ist das letzte Wort nicht zuzugestehen.« 82 Der Begriff des Feldzugs bringt unvermittelt zum Ausdruck, was sich in allen Texten findet: Man wähnt sich im Krieg oder jedenfalls in einer kämpferischen Auseinandersetzung, die auf dem Gebiet der Geschichte der Besiegten tobt. Jacobeit spricht von der »Kriegsfahne« 83, bei Hörz, Pätzold und Mittenzwei ist von den »Siegern« 84 die Rede, und Mehls lehnt es ab, sein Leben »mit der kalten Elle des Bürgerkrieges« 85 messen zu lassen. Pätzold sieht die »Geschichte der DDR als ein Feld, auf welchem das Dauerfeuer der Sieger lag.«86 Inhaltliche Unterstützung fänden ›die Politiker‹ bei »einer zur entscheidenden Opposition gegen die DDR fälschlicherweise hochgelobten Gruppe, die versichert, in der DDR gelitten […] zu haben«, das heißt bei den Oppositionellen und den Opfern des Systems, die nunmehr »als Gefolgsleute, als Claqueure« des BRD-Regimes aufträten.87 Die Autobiographen engagieren sich also in einem Kampf um die ›richtige‹ Geschichte. Ihre Gegner sind Politiker, Journalisten und Opfer; die Leidenserzählungen der letzteren bewerten sie als reine Anbiederungsrhetorik, die nicht von eigenen Erlebnissen gespeist werde, sondern ausschließlich der Absicht entspringe, sich den neuen Umständen anzudienen. Zusätzlich machen die Autoren für die Motive der gegnerischen »Wortführer«88 düstere Emotionen verantwortlich: Sie schreiben von »Haß«89
79 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 484. 80 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 251. 81 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 361. 82 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 312. 83 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 227. 84 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 27; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 304. 85 | MEHLS, Unzumutbar, S. 316. 86 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 304. 87 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 484. 88 | Ebd., S. 484; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 239 89 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 485; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 346.
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und »Wut«90 auf die DDR, von »Rachegelüsten«91 und »Aggression«92, von »antikommunistisch ausgerichteten Kräften«93. Diese Gefühle wiederum sind in ihren Augen dem Umstand geschuldet, dass die DDR so lange durchgehalten hat, trotz der »gewaltigen Propaganda- und Verleumdungskampagne, die nicht erst seit gestern gegen den Sozialismus als Ganzes und die DDR im besonderen geführt worden ist und wird.«94 Als konkreten Beleg für diese Kampagne wird die Debatte darüber angeführt, ob die DDR sich tatsächlich durch einen besonderen antifaschistischen Charakter ausgezeichnet hätte,95 was im Zuge des Anstiegs der xenophoben Gewalt vor allem im Osten Deutschlands Anfang der 1990er Jahre immer wieder in Frage gestellt wurde. Hatte man die Fremdenfeindlichkeit zu Beginn noch häufig damit erklärt, dass die jungen Menschen im Osten häufiger von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen seien, dominierte in den westdeutschen Medien bald eine andere These: »Fremdenfeindliche Gewalt im Osten – eine Folge der autoritären DDR-Erziehung?«, fragte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen in einer Studie, deren Titel jedoch weniger als Frage denn als bewiesene These rezipiert wurde.96 Wie sehr diese öffentlichen Zweifel auf das Selbstverständnis vieler DDR-Bürger zielten, zeigt beispielhaft die Reaktion von Pätzold: Die dominierende Propaganda bezeichnet die aggressiven Rechtsextremen als Hinterlassenschaft und Erbe der DDR, an dem sich beweise, daß sie antifaschis90 | MEHLS, Unzumutbar, S. 253; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 484. 91 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 244. 92 | Ebd., S. 298. 93 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 484. 94 | MEHLS, Unzumutbar, S. 294. 95 | Wie sehr dieser Charakter konstitutiv für das Selbstverständnis der DDR ist, wurde in Kap. I gezeigt. 96 | Obwohl diese These von der empirischen Werteforschung längst widerlegt wurde, hält sie sich hartnäckig. Vgl. BERTH, Hendrik/WAGNER, Wolf/DECKER, Oliver/BRÄHLER, Elmar: Und Propanda wirkt doch!…? Eine empirische Untersuchung zu Autoritarismus in Deutschland und zur Überprüfung von Theorien über die Entstehung von Einstellungsunterschieden zwischen Ost- und Westdeutschen, in: Deutsch-deutsche Vergleiche. Psychologische Untersuchungen 10 Jahre nach dem Mauerfall, hg. v. Hendrik Berth u. Elmar Brähler, Berlin 1999, S. 41-159.
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tisch nicht gewesen sei, sondern ihren Bürgern der Antifaschismus zwar verordnet, von diesen aber nicht verinnerlicht worden wäre. Nur wenige wandten sich gegen diese Behauptung, was nicht bedeutet, daß die Lüge DDR-Bürgern gleichgültig gewesen wäre. Doch zu viele waren nicht bereit oder es alsbald überdrüssig, sich mit Zerrbildern ostdeutscher Vergangenheiten zu befassen und sich ihre Biographien erklären zu lassen. Daher ist meine Auflehnung hier und heute gegen die Lüge vom verordneten Antifaschismus eine Frage des Anstands. 97
Kurt Pätzold erklärt sich – und seinen Lesern – den erstarkenden Rechtsradikalismus vielmehr mit der neuen, kapitalistischen Staatsform und der schlechten Lage vieler Ostdeutscher: Wie sollte sich, als rechtsextreme Demagogen als Entwicklungshelfer auftauchten, massive Gegenwehr entwickeln, in einem Augenblick hochgradiger Verwirrung von Gedanken- und Gefühlshaushalten vieler Menschen? Mit der Rückkehr des Kapitals kehrte auch Fremdenfeindlichkeit in den Osten zurück, die Teile der über ihre Lage frustrierten Bevölkerung ergriff. Neubelebt wurden alte Erscheinungen ungehemmten Eigennutzes, der Ellbogenmentalität, der Entsolidarisierung. Diese Importe aus dem Westen erregten wenig Aufsehen, gehören sie doch zu Haltungen, welche die bürgerliche Gesellschaft züchtet und hinnimmt. 98
Auch Hörz und Mehls nehmen diese Debatte auf; von ihnen wird vielfach der Antikommunismus wie Antisozialismus der BRD beschworen, die sich »diese einzigartige Möglichkeit, sich einen ungeliebten Herausforderer vom Hals zu schaffen […] nicht entgehen lassen [konnte]«99. Klein spricht von der »wohlfeilen Verteufelung von allem und jedem, was im Zeichen des Realsozialismus wo auch immer geschah«, und mahnt, die »idealistische Intention ehrlicher Sozialisten« dürfe nicht einfach als »törichte Selbsttäuschung oder Schlimmeres« abgetan werden.100 Dabei herrscht in den Texten Konsens darüber, dass »die Vergangenheit nicht durch Gerichte, Enquete-Kommissionen und andere staatliche Institutionen aufzuarbeiten« sei.101 Damit werden »jene Einrichtungen, die eigens 97 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 277. 98 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 279. 99 | MEHLS, Unzumutbar, S. 306. 100 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 364. 101 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 461.
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zum Zwecke der historisch-politischen und moralischen Delegitimierung des ostdeutschen Staates geschaffen wurden«102, ebenfalls zum Gegner. Pätzold spricht vom »Anstand«103, der ihm gebietet, sich gegen bestimmte Erzählungen des herrschenden Diskurses zu wehren, und formuliert damit eine, hier erneut auftretende Dimension: Die Autoren sehen vor allem einen moralischen Auftrag, die herrschende Erzählung zu korrigieren. Ganz im Einklang mit Karlssons Kategorisierung handeln hier oppositionelle Denker, die mit ihren Veröffentlichungen bestimmte Aspekte von Geschichte »enthüllen« möchten,104 da sie erleben, wie ihnen die Geschichtsschreibung ihres Landes und damit ihres Lebens aus den Händen genommen wird.105 Darüber hinaus zeigt sich, vor allem im Hinblick auf die neuen »Machthaber«, die immer wieder mit vergangenen Machtstrukturen – sei es DDR, alte BRD oder Nationalsozialismus – parallelisiert werden, auch eine politisch-pädagogische Motivation, die gerade in solchen Simplifizierungen virulent wird. Besonders dominant aber bleibt ein Gebrauch von Geschichte, der nach Karlsson ursächlich mit Existenznöten verbunden ist: Die »Notwendigkeit«106, die herrschende Erzählung zu korrigieren, entspringt dem Wunsch, Gefühle der Orientierung zu bewahren und die eigene Identität aufrechtzuerhalten. Diese existenzielle Kategorie lässt sich ohne Abstriche auf die Situation der Autobiographen anwenden – der plötzliche Umbruch, den die Autoren erlebten, führt zu Unsicherheiten, die sich durch den Bezug auf die Kontinuitäten der Geschichte eindämmen lassen.
4 D IE ANDERE S EITE DER G ESCHICHTE Damit ist freilich noch kein Gegenbild entworfen. Die Autoren bestreiten jede Legimitation des herrschenden Diskurses und werfen den dominierenden Meinungsträgern unlautere Motive vor: Im besten Fall getrieben 102 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 298. 103 | Ebd., S. 277. 104 | Vgl. zu diesem Aspekt auch: DIETSCH, Making Sense of Suffering, S. 34ff. 105 | Im Rückgriff auf Karlsson hat Marc Ferro diesen Aspekt der empfundenen Banalisierung und Trivialisierung besonders herausgearbeitet, vgl. FERRO, The Use and Abuse of History, S. 10. 106 | MEHLS, Unzumutbar, S. 8.
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vom Wunsch nach eigenem Vorwärtskommen, im schlechtesten von Machthunger und Hass auf die sozialistische Ideologie, so die Autobiographen, hätten sie sich eine Geschichte angeeignet, die nicht die ihre sei. Die Geschichte der Autobiographen dagegen sieht anders aus. Auch sie muss jedoch narrativ vermittelt werden. Die geschichtspolitischen Strategien, von denen die Autoren dabei Gebrauch machen, kommen vor allem in drei Themenbereichen zum Einsatz: Einmal geht es um die allerorten behauptete Repression in der DDR, des weiteren um die ›guten Seiten‹ der DDR, die zum Zeitpunkt der Niederschrift im öffentlichen Diskurs keine Erwähnung mehr finden,107 und schließlich um die Wissenschaft in der DDR, in der die Autoren ihr Lebenswerk vollbracht haben. Im Hinblick auf die staatlichen Repressalien der DDR stellen die Autobiographen die Ereignisse und Strukturen in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen, die auch die öffentlichen Debatten am meisten bestimmten. Dies sind zunächst zwei historische Ereignisse, die gemeinhin als Zeichen des repressiven Charakters der DDR gedeutet werden: Der 17. Juni 1953 und der Mauerbau am 13. August 1961. Dazu kommt eine DDR-Institution, die bis heute weithin »als Kern der SED-Herrschaft und damit als Kern all dessen, was die DDR zu einer repressiven Erfahrung machte«,108 angesehen wird: die Staatssicherheit. Alle drei Phänomene üben auf viele DDR-Bürger im Rückblick einen erhöhten Rechtfertigungsdruck aus: Der Volksaufstand von 1953 wirft die Frage auf, warum danach keine oppositionelle Massenbewegung mehr aufkam, obwohl doch spätestens mit dem Mauerbau jedermann hätte klar sein müssen, dass das Regime keine guten Absichten verfolge. Erheblich verstärkt wird die damit verbundene Rechenschaftspflicht durch das Agieren eines allgegenwärtigen Geheimdienstes, das den Glauben an einen menschenwürdigen Sozialismus ebenfalls erheblich erschüttert. Auch die Autoren nehmen dazu Stellung. Wie die Texte konkret mit diesen Aspekten der Geschichte ihres Landes umgehen, wird im Folgenden analysiert; das Augenmerk richtet sich zunächst auf den 17. Juni 1953, danach auf den Mauerbau und abschließend auf die Staatssicherheit. 107 | Das Phänomen ›Ostalgie‹ sowie der dazugehörige Disput kamen erst später auf, vgl. Anmerkung 46 u. 105/Einleitung. 108 | WIERLING, Dorothee: Die Stasi in der Erinnerung. In: Staatssicherheit und Gesellschaft. Studien zum Herrschaftsalltag in der DDR, hg. v. Jens Gieseke, Göttingen 2007, S. 187-208, hier S. 187.
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4.1 »Man merkte direkt so gut wie nichts« 109 – der 17. Juni 1953 Die Geschehnisse vom 17. Juni 1953 erschütterten das politische System der DDR und zeigten lange über dieses Datum hinaus Wirkung110 – so führte noch die Massenflucht von DDR-Bürgern im August 1989 bei Erich Mielke, dem Minister für Staatssicherheit, zur panischen Frage: »Ist es so, daß morgen der 17. Juni ausbricht?«111 Vorausgegangen waren komplexe Entwicklungen, die in aller Kürze so zusammengefasst werden können: Die SED verlor zu Beginn der 1950er Jahre zunehmend ihre Anziehungskraft,112 vor allem auf die Arbeiterschaft; außerdem stieg die Zahl der Flüchtlinge in dieser Zeit immens.113 Hinzu kamen Säuberungen in den kommunistischen Staatsparteien, die erstmals auch prominente Moskauer Remigranten betrafen und erst mit Stalins Tod am 5. März 1953 endeten – allerdings nicht in der DDR. Diese Geschehnisse dürften damals nur eine Minderheit in der Bevölkerung unmittelbar betroffen haben, allerdings ging damit ein Wirtschaftsbeschluss des ZK einher, der auch für die Mehrheit große Bedeutung hatte: Er sah eine zehnprozentige Normerhöhung bei entsprechenden Lohneinbußen vor. Dies führte DDR-weit zu tagelangen Streiks und Demonstrationen, die in den Ereignissen des 17. Juni kulminierten. Durch den darauf folgenden Eingriff sowjetischer Truppen verloren mindestens 50 Menschen ihr Leben, von denen mindestens 20 standrechtlich erschossen wurden: »Für die Bevölkerung der DDR bedeutete der 17. Juni 109 | MEHLS, Unzumutbar, S. 56. 110 | Vgl. zum 17. Juni als Erinnerungsort: RENAUDOT, Myriam: Der Siebzehnte Juni. In: Erinnerungsorte der DDR, S. 516-525. 111 | MILLER, Armin/WOLLE, Stefan (Hg.): Ich liebe euch doch alle! Befehle und Lageberichte des MfS, Januar–November 1989, Berlin 1990, S. 125. 112 | Vgl. hierzu: MÄHLERT, Ulrich: Kleine Geschichte der DDR, München 2007, S. 68ff.; MALYCHA, Andreas: Die SED. Geschichte ihrer Stalinisierung. 19461953, Paderborn 2000; KOWALCZUK, Ilko-Sascha: 17.6.1953: Volksaufstand in der DDR. Ursachen – Abläufe – Folgen, Bremen 2003; MÄHLERT; Ulrich (Hg.): Der 17. Juni 1953. Ein Aufstand für Einheit, Recht und Freiheit, Bonn 2003. 113 | Im Verlauf des Jahres 1952 hatten ca. 120.000 DDR-Bürger ihren Staat verlassen; in den ersten vier Monaten des Jahres 1953 waren es bereits 182.000 Menschen, die gingen. Vgl. MÄHLERT, Der 17. Juni 1953, S. 69.
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1953 die Erfahrung, dass der Versuch einer gewaltsamen Veränderung des politischen Systems unter bestehenden Machtverhältnissen keine Aussicht auf Erfolg hatte.«114 Für die Auf baugeneration wurde er zum angstbesetzten Tabu in der DDR-Geschichte, verbunden mit der Befürchtung von Repressalien.115 Die Geschichtswissenschaft der DDR verbreitete die offizielle Lesart des 17. Juni 1953, mit der die These vom »faschistischen Putsch« bestätigt wurde.116 Dieses Geschichtsbild blieb bis 1989 konstant, abgesehen von kleinen Varianten in der Begrifflichkeit.117 Nach 1989/90 wurde der 17. Juni 1953 in verschiedener Hinsicht zu einem umstrittenen Erinnerungsort;118 geschichtspolitische Debatten löst 114 | WEBER, Hermann: Geschichte der DDR, München 1986, S. 249; vgl. dazu auch: LANGE, Peter/ROSS, Sabine (Hg.): 17. Juni 1953 – Zeitzeugen berichten. Protokoll eines Aufstands, Münster 2004, S. 355ff. 115 | Vgl. die Ergebnisse des Oral-History-Projekts, das im Jahr 1987 von Lutz Niethammer, Dorothee Wierling u.a. in Jena durchgeführt wurde. NIETHAMMER, Lutz: Was haben Sie am 17. Juni gemacht? Oder die Nische im Gedächtnis, in: Wissenschaftszentrum NRW – Kulturwissenschaftliches Institut (Hg.): Das Gründungsjahr, Bericht 1990, Essen 1991, S. 40-66, hier S. 47. 116 | RENAUDOT, Der Siebzehnte Juni, S. 518. 117 | Vgl. ebd.: So wurde ab Mitte der sechziger Jahre häufig vom »konterrevolutionären Putsch« gesprochen. 118 | Dies war er in der BRD auch zuvor schon. Dort hatte man den Tag bereits am 4. August 1953 zum gesetzlichen Feiertag, zum »Tag der deutschen Einheit«, erklärt, dahinter standen jedoch unterschiedliche und teils konträre Interpretationen des Aufstands. Als »Tag der deutschen Einheit« verschwand er paradoxerweise gerade zu dem Zeitpunkt, als er endlich zu neuer Bedeutung aufstieg: Fast niemand protestierte, als 1990 der 17. Juni durch einen neuen Nationalfeiertag ersetzt wurde. Seit dem fünfzigsten Jahrestag des Ereignisses versuchen Historiker und Politiker den Aufstand verstärkt als ein positives Erbe der DDR wiederzuentdecken, was den Empfehlungen des Abschlussberichts der zweiten Enquete-Kommission des Bundestags »Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozess der deutschen Einheit« aus dem Jahr 1998 entsprach. Vgl. EISENFELD, Bernd/KOWALCZUK, Ilko-Sascha/NEUBERT, Ehrhart: Die verdrängte Revolution: der Platz des 17. Juni 1953 in der deutschen Geschichte, Bremen 2004, S. 787f. Vgl. hierzu auch die von Bundestagspräsident Wolfgang Thierse formulierte Frage: »Ist es nicht ein Datum, das alle Deutschen betrifft, ein Datum, das zu einer gemeinsamen, ungeteilten Erinnerung in Ost und West beitragen kann?«. Vgl.: Rede
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er bis heute aus.119 Zum Schreibzeitpunkt der Autobiographien wurde vor allem die blutige Niederschlagung des Aufstandes in den Mittelpunkt gestellt und der Widerstand gegen das kommunistische Regime betont, der die Geschehnisse getragen hätte.120 Für die Autobiographen ist diese Gewichtung nicht mehr als ein weiterer Versuch, die DDR unter Hinweis auf die Unfähigkeit und Gewaltbereitschaft der damaligen Staatsführung zu diskreditieren. Die Autoren bemühen sich um eine Bedeutungsreduktion der historischen Ereignisse und setzen dazu unterschiedliche narrative Strategien ein. Herbert Hörz, damals eigentlich Philosophiestudent, machte zu diesem Zeitpunkt ein Praktikum als Rangierer in der Maxhütte in der Nähe von Saalfeld. Von einem Lokführer, in dessen Schicht er arbeitete, erfuhr er von den »Arbeitsniederlegungen in Berlin.«121 Der Lokführer war nicht nur ein redlicher Arbeiter, sondern noch dazu »für Podiumsdiskussionen sehr aufgeschlossen« und ein guter Gesprächspartner in Sachen »Literatur, Philosophie und Politik«.122 Nachdem Hörz ihn so nicht nur aus Klassensicht, sondern auch intellektuell legitimiert hat, lässt er ihn die Bewervon Bundestagspräsident Wolfgang Thierse bei der Gedenkstunde zum 50. Jahrestag des 17. Juni im Bundestag, www.thierse.de/reden-und-texte/reden/ge denk stunde-17-juni-im-bundestag/[letzter Zugriff 07/2013]. Grundlegend zur Deutung und Verarbeitung des Siebzehnten Juni in der Bundesrepublik vgl. WOLFRUM, Geschichtspolitik in der Bundesrepublik Deutschland. Vgl. zu den Übergängen von einem Gedächtnis zum anderen: RENAUDOT, Der Siebzehnte Juni, S. 521ff. 119 | Vgl. hierzu exemplarisch die Debatte aus dem Jahr 2012 um das Verhalten der LINKEN zum 17. Juni, ausgelöst durch den Besuch Bodo Ramelows am »Fest der Linken« anlässlich des 17. Juni 1953, die wütende Proteste von Politikern und Opferverbänden nach sich zog: »Die LINKE entdeckt den 17. Juni. Allerdings nicht, um sich des Versagens der einstigen Staatsführung und -Partei zu erinnern, die wesentlich identisch waren, sondern um dem Tag offensichtlich ein anderes Gepräge, sprich Erinnern zu geben« – so der Verein Vereinigung 17. Juni 1953 e.V., http://17juni1953.wordpress.com/2012/06/15/ramelow-linke-diskutiert-den17-juni/[letzter Zugriff 07/2013]. 120 | Vgl. hierzu nur: HERTLE, Hans-Hermann/AHRBERG, Edda/HOLLITZER, Tobias/Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur (Hg.): Die Toten des Volksaufstandes vom 17. Juni 1953, Münster 2004. 121 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 88. 122 | Ebd., S. 89.
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tung der Ereignisse übernehmen, der er sich selbst enthält: »Er verstand nicht, was der Streik solle, nachdem der Neue Kurs ausgerufen war und sich erst einmal bewähren müsse.«123 Erst im Anschluss kommt wieder Hörz selbst zur Sprache, der seine Sicht aber, wie er immer wieder betont, lediglich fremder Wahrnehmung verdankt: Durch Jenaer Studenten erfuhr er von den »vielen Zerstörungen«, die es gegeben hätte; ein tapferer Mensch, der sich »Randalierern« entgegengestellt hatte, »war verletzt« worden.124 Davon abgesehen entzieht sich Hörz diesem Datum durch offensives Nicht-Erleben und Reduktion der Ereignisse vollkommen: »Als ich Ende Juni nach Jena kam, waren die Ereignisse vom 17. Juni kaum noch zu bemerken.«125 Wolfgang Jacobeit spricht den Ereignissen mehr Dramatik zu, stellt den 17. Juni 1953 allerdings in den Schatten des XX. Parteitags der KPdSU 1956. Man habe damals schon die »Gegenrichtung« sehen können, die »die Polit-Funktionäre des Ostblocks« einschlugen und die hinsichtlich »ihrer Vehemenz« unerwartet gewesen sei.126 Er als Person wird in dieser Erzählung nicht sichtbar – allerdings lebte er zu diesem Zeitpunkt auch noch in Göttingen. Gerade weil er aber nach diesen Ereignissen den Weg in die DDR wählt, habe er sich damals unter Rechtfertigungsdruck gefühlt.127 Seine Einschätzung der Ereignisse zeigt sich schon an den Anführungszeichen, in die er den Volksaufstand setzt. Noch deutlicher wird sie, als er einen ND-Artikels seines Mentors Wolfgang Steinitz vom 19. Juni 1953 zitiert, den er für gelungen hält: In diesen Tagen stehen zwei Fragen im Mittelpunkt der Diskussion: Die faschistische Provokation und die Kluft zwischen unserer Partei und den werktätigen Massen. … [Diese] Kluft aber – die müssen wir überbrücken, da kann uns niemand helfen! … Es scheint mir eine große Gefahr vorzuliegen, daß wir durch die nur unseren sowjetischen Freunden zu verdankende schnelle Erledigung der Provokation nun billigen Triumph zeigen und die entscheidenden Aufgaben vergessen.128
123 | Ebd., S. 89. 124 | Ebd., S. 90. 125 | Ebd., S. 91. 126 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 272. 127 | Ebd., S. 264ff. 128 | Ebd., S. 277.
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Zwar wird hier das sich verschlechternde Verhältnis zwischen Partei und Arbeitern angesprochen, gleich zwei Mal jedoch ist die Rede von der Provokation, die der Aufstand tatsächlich gewesen sei, mehr noch: von der faschistischen Provokation. Mit diesem Deutungsmuster bleibt Jacobeit der offiziellen DDR-Linie und ihrer These vom konterrevolutionären Putsch treu. Klein wählt, ähnlich wie Hörz, eine Privatisierungsgeschichte – auch er reklamiert, die Geschehnisse nicht erlebt zu haben: »Von dem, was wirklich vorging im Lande, bemerkten wir hauptstädtischen Intellektuellen sehr wenig, zumal in der idyllischen Abgeschiedenheit an der Ostsee.«129 Es ist demnach nicht nur die örtliche Abgeschiedenheit des Urlaubs, sondern auch seine Profession, die ihn von der ›Wirklichkeit‹ entfernt. Klein war damals stellvertretender Abteilungs-Leiter am Museum für Deutsche Geschichte, seit Juni 1953 hauptamtlich Chefredakteur der ZfG.130 Diese Distanz zu den Geschehnissen hindert ihn freilich nicht daran, eine dezidierte Meinung zu den Vorkommnissen zu formulieren, die er allerdings nicht aus seiner Perspektive, sondern in der unbestimmten dritten Person darlegt: Daß Partei und Regierung einen neuen, maßvolleren Kurs in Aussicht stellten und Fehler, die gemacht worden waren, korrigierten, nahm unsereins mit Zustimmung und neuer Hoffnung zur Kenntnis. […] man [war] sich einig in der Ablehnung von grundsätzlich regimekritischen Forderungen. […] man [stand] positiv zur sozialistischen Ordnung der DDR und sah in einer Änderung nach westlichem Vorbild einen Rückschritt.131
Klein pendelt zwischen solchen ausführlichen Schilderungen, die alle im Kollektiv vorgetragen werden und zugunsten des Regimes ausfallen, und der stetig wiederholten Beteuerung, dass man eigentlich ohnehin nichts mitbekommen hätte: »Die Informationen waren lückenhaft und zufällig.«132 Dann aber wirft er überraschend doch den Blick auf das große 129 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 167. 130 | Die Zeitschrift wurde im selben Jahr gegründet und 1993 vom MetropolVerlag übernommen, in dem sie bis heute erscheint. Sie hatte in der DDR in den Geschichtswissenschaften eine dominante politische und ideologische Position inne. Vgl. WOLFRUM, Geschichte als Waffe, S. 96ff.; MIDELL, Matthias: Erst grün, dann bunt – Die ZfG vor und nach 1989. In: ZfG 11/2002, S. 911-988, hier S. 984. 131 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 167. 132 | Ebd.
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Ganze, auf seine »Grundvorstellung von den großen Zusammenhängen unseres politischen Kampfes«, macht den 17. Juni 1953 zur grundsätzlichen Systemfrage und beantwortet diese aus eigener Perspektive.133 Dabei betont er, dass es sich um die damalige Sicht handelt: »Ich wollte diese neue Ordnung, weil ich sie für sozial gerechter und antifaschistisch zuverlässiger hielt [Hervorhebung CL] als die restaurative westdeutsche.«134 Den Aufbau und die Existenz des Staates, in dem er lebte, sieht er als »historische[n] Glücksfall, der auf keinen Fall aufs Spiel gesetzt werden durfte. Seine Ergebnisse zu bewahren war unter allen Umständen das Wichtigste.«135 Der Vergleich mit der BRD rechtfertigt die »gravierenden Mängel« der DDR, handelt es sich nach Kleins Meinung bei Westdeutschland doch nicht nur um ein politisch unzuverlässiges, restauratives Land, sondern noch dazu um eines, dass im Falle derartiger Streiks keinen Deut anders gehandelt hätte: »[…] keine der Besatzungsmächte [war] damals (und auch später nicht) bereit […], Veränderungen in ihrem Machtbereich zuzulassen, die sie als Verletzung ihrer Interessen ansah.«136 Klein tritt demnach einerseits als distanzierter Beobachter eines Geschehens auf, das er andererseits durch einen ideologischen Gebrauch von Geschichte relativiert: Er kontextualisiert den 17. Juni 1953 und möchte so die Nachvollziehbarkeit des damaligen Staatshandelns belegen. Bei Eckart Mehls geht das Datum vollkommen in einer Privatisierungsgeschichte unter, die im Gegensatz zu Klein durchgängig bestehen bleibt: »Der normale Abiturstreß, der uns von Mitte Mai bis Mitte Juni voll gefangen hielt, drängte andere wichtige Ereignisse in den Hintergrund. […] Die Nachrichten aus Berlin über die dortigen Vorgänge um den 17. Juni herum überraschten mich fast.«137 Mehr ist über dieses Datum nicht zu erfahren; fernab in seinem Internat waren die Geschehnisse, die er etwas buchhalterisch und dabei auch verkleinernd »Vorgänge« nennt, räumlich und geistig sehr weit entfernt – dennoch ist ihm wichtig, lebensgeschichtliche Souveränität zu bewahren, indem er sich nur »fast« überrascht zeigt und folglich keineswegs von den Ereignissen machtlos überrannt wurde. 133 | Ebd., S. 170. 134 | Ebd., S. 169. 135 | Ebd. 136 | Ebd., S. 169. 137 | MEHLS, Unzumutbar, S. 55f.
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Werner Mittenzwei, damals Lehrer, beschreibt dagegen offen, wie sehr er in die Geschehnisse rund um den 17. Juni involviert gewesen sei. Er schildert sich ganz allgemein als einen in die Welt Geworfenen, der sich seine Lebensumstände nicht habe aussuchen können und sich schon deshalb an ihnen gerieben habe. Diese Umstände aber hätten geradezu zwangsläufig in die Juni-Ereignisse gemündet: »Die Unstimmigkeiten mit mir selbst und mit der Zeit, in die ich mich gestellt sah [Hervorhebung CL], und mit mir viele andere, liefen auf ein Ereignis zu, das seinen Ausdruck und seinen Ausbruch am 17. Juni 1953 fand.«138 Mittenzwei bewertet diese Zeit deutlich als Zäsur in der Geschichte der DDR, die den Menschen gezeigt habe, dass sie sich zwischen den Fronten des Kalten Krieges befänden. Die anfängliche Euphorie über die Möglichkeit eines echten Neuanfangs sei in der Folge deutlich abgeebbt: Nicht nur in der Politik, auch im Denken und Verhalten der Menschen hatte sich etwas verändert. Das Gefühl, etwas Schreckliches hinter sich und etwas Neues, wenn auch Ungewisses, vor sich zu haben, bestand nicht mehr. Vielmehr wurde für die Menschen auf verschiedene Art deutlich, zwischen gegensätzliche Kräfte geraten zu sein, von denen etwas Bedrohliches ausging.139
Mittenzwei setzt mit dem 17. Juni eine wirkmächtige Zäsur, die nichts weniger als die Stimmung im Lande geändert habe. Und sogar noch mehr: Der neue Weg, den man vor sich gesehen habe, der Optimismus, tatkräftig und überzeugt am Auf bau einer besseren Welt beteiligt zu sein, seien nun dem Zwang gewichen, sich einer Obrigkeit zu beugen, die im »Befehlston« »die Ausführung ihrer Befehle verlangte.«140 Mittenzwei bemängelt die verlorene Eigenständigkeit, den verlorenen Drang, »zu überzeugen«, »die Menschen für uns zu gewinnen«, das verlorene Gefühl, »daß alles noch offen ist«.141 Dies alles führt er auf die Geschehnisse des 17. Juni zurück und stellt sich auch wesentlich später in der Autobiographie noch die Frage, ob eine »andere Art von Sozialismus […] einen 17. Juni«142 hätte verhindern können. 138 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 94. 139 | Ebd., S. 94f. 140 | Ebd. 141 | Ebd., S. 95. 142 | Ebd., S. 258.
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Im Lauf der weiteren Ausführungen jedoch findet auch Mittenzwei andere Ursachen für die Veränderungen, die nach dem 17. Juni in der DDR spürbar wurden. Wie Klein wendet er den Blick nach Westen und macht für den »raschen Übergang von der ideologischen Geißelung alles Militärischen, Kriegerischen zur Bereitschaft militärischer Verteidigung«143 die dortigen Entwicklungen verantwortlich, namentlich die Unterzeichnung von Deutschland- und EVG-Vertrag durch Adenauer im Mai 1952. Diese »Remilitarisierung Westdeutschlands« sieht Mittenzwei als Ausgangspunkt der Geschehnisse in der DDR, die dadurch selbst zur »Bewaffnung« gezwungen worden sei, was wiederum zu einem »übereilten Ausbau der Schwerindustrie, des Militärs und des Sicherheitsapparates sowie zu einem Abbau der Sozialleistungen und des allgemeinen Lebensniveaus« geführt habe.144 Obwohl diese Entwicklung in der Erzählung Mittenzweis durchaus folgerichtig und konsistent dargestellt wird, spricht er anschließend von »unsinnigen politischen Entscheidungen«.145 Etwas verklausuliert bringt er die Frage zur Sprache, wie er sich als Parteimitglied dazu verhalten habe. Die Antwort lautet bezeichnenderweise »ich weiß es nicht mehr«, gefolgt von der Bemerkung, dass es sich bei den Kürzungen um zeitlich sehr begrenzte Einschnitte gehandelt habe: »Vielleicht kam mir zu Hilfe, dass ich darauf verweisen konnte, die Maßnahmen würden bald aufgehoben.«146 Aufgelöst werden diese Widersprüche, indem er sie ins Privatleben ausklingen lässt, das er abschließend – was in seinen Erinnerungen nicht häufig vorkommt – ganz in den Vordergrund stellt: »1953 kam es auch [Hervorhebung CL] in meinem privaten Leben zu einer Zäsur.«147 Er bezieht sich dabei auf seinen Umzug nach Berlin. Mittenzweis immer wieder anklingendes Bemühen, durch Bezugnahme auf die damaligen Entwicklungen im Westen das Vorgehen der Staatsmacht am 17. Juni 1953 zu legitimieren, zeigt ebenfalls den ideologischen Gebrauch von Geschichte. Wesentlich stärker allerdings lässt er sich bei Pätzold ausmachen: Er beschreibt den Tag als ein herausragendes Datum, einen Tag, »der wie wenige andere in der Geschichte der 143 | Ebd., S. 95. 144 | Ebd., S. 96. 145 | Ebd., S. 97. 146 | Ebd., S. 98. 147 | Ebd.
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DDR markiert ist.«148 Die blutige Niederschlagung der Streiks wird nicht erwähnt, Pätzolds Beschreibung der Ereignisse liegt ganz ›auf Parteilinie‹, wenngleich er nicht wie Jacobeit das Narrativ vom »faschistischen Konterputsch« übernimmt. Die lohn- und sozialpolitischen Verordnungen der Regierung, die die Menge aufbrachten, sieht er als ausschließlich darin begründet, den »deklarierten Aufbau der Grundlagen des Sozialismus forcieren« zu wollen; eine Diskussion mit der »brodelnde[n] Menge« sei nicht möglich gewesen, sei es doch zu »Handgreiflichkeiten gegen jeden […], der ihnen widersprach« gekommen.149 Die Demonstrierenden nennt er folgerichtig »Schläger«, vor denen man sich habe retten müssen – gleichwohl erinnert er die »politische Atmosphäre« der kommenden Wochen nicht als »sonderlich dramatisch« und war vor allem von den »deutlichen Worten der Selbstkritik« beeindruckt, die aus dem »Führungskreis der Partei« zu vernehmen gewesen seien.150 Die Geschehnisse des 17. Juni bricht er auf »widerstreitende Interessen« herunter, die kein Unikum der DDR-Gesellschaft darstellten, sondern »in allen ihren Vorgängern« zu finden wären.151 Vielmehr sei es hauptsächlich um die Geschwindigkeit gegangen, in der »sozialistische Ziele angesteuert werden konnten.«152 Hier betont Pätzold, was »wir« aus der Geschichte der KPdSU gelernt hätten und degradiert damit die Meinung der streikenden Arbeiter innerhalb des großen Ganzen zur vernachlässigbaren Stimmungsschwankung: »[S]ozialistische Politik dürfe sich nicht im Nachtrab von Massenstimmungen bewegen.«153
4.2 Der Mauerbau als »Veränderung des Grenzregimes« 154 In den frühen Morgenstunden des 13. August 1961 begannen Pioniereinheiten damit, DDR-weit die Straßen zu den Westsektoren mit Stacheldraht und Spanischen Reitern abzuriegeln. Unter dem Schutz schwerbewaffneter Volkspolizisten und NVA-Soldaten waren bis gegen sechs Uhr sämtliche innerstaatlichen Grenzübergänge endgültig geschlossen; mit 148 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 105. 149 | Ebd., S. 106. 150 | Ebd., S. 107. 151 | Ebd., S. 108. 152 | Ebd. 153 | Ebd., S. 109. 154 | Ebd., S. 148, S. 240.
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dem Bau der Berliner Mauer war der ›Westen‹ ohne weiteres nicht mehr erreichbar.155 Die einschneidenden, häufig existenziellen Folgen156 dieser Abriegelung für die Bevölkerung der DDR müssen hier nicht noch ein weiteres Mal beschrieben werden.157 Der Bau der Mauer, das Leben mit und das Sterben an ihr sowie letztlich ihr Fall spielen in der individuellen und öffentlichen Erinnerung eine herausgehobene Rolle, auch weil sie einem tatsächlichen Ort zugeordnet werden können. Touristen aus aller Welt strömen nach Berlin, um die Mauer »wie einen erlegten Drachen zu inspizieren.«158 Der Verlauf der ehemaligen Grenze ist mittlerweile jedoch nur noch partiell nachvollziehbar – nach 1989 wollte man sich von diesem Ort rasch trennen: »Mit der gleichen Gründlichkeit, mit denen sie die Mauer 28 Jahre lang bewacht 155 | Vgl. hierzu und im Folgenden MÄHLERT, Kleine Geschichte der DDR, S. 98ff.; vgl. ebenso: STEININGER, Rolf: Der Mauerbau. Die Westmächte und Adenauer in der Berlinkrise 1958-1963, München 2001; ULRICH, Maren: Geteilte Ansichten: Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze, Berlin 2006; EISENFELD, Bernd/ENGELMANN, Roger: 13. August 1961: Mauerbau. Fluchtbewegung und Machtsicherung. Bremen 2001. An einer Art Erfahrungsgeschichte der Mauer versuchen sich FISCHBECK, Hans-Jürgen/BICKHARDT, Stephan/MEHLHORN, Ludwig (Hg.): Das Mauersyndrom – die Rückwirkungen des Grenzregimes auf die Bevölkerung der DDR. In: Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland, Bd. V: Deutschlandpolitik, hg. v. der Enquetekommission des Deutschen Bundestages, Baden-Baden/Frankfurt a.M. 1995, S. 1188-1211. 156 | Siehe insbesondere zur bis heute umstrittenen Zahl der ›Mauertoten‹: HERTLE, Hans-Hermann/SÄLTER, Gerhard: Die Todesopfer an Mauer und Grenze. Probleme einer Bilanz des DDR-Grenzregimes, in: DA. 4/2006, S. 667-676; außerdem HERTLE, Hans-Hermann/NOOKE, Maria: Die Todesopfer an der Berliner Mauer 1961-1989. Ein biographisches Handbuch, hg. v. Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam und der Stiftung Berliner Mauer, Berlin 2009. 157 | Siehe exemplarisch WIERLING, Geboren im Jahr Eins, S. 171. 158 | KLAUSMEIER, Axel: Ein Memorialort neuer Prägung. Die Erweiterung der »Gedenkstätte Berliner Mauer« an der Bernauer Straße, in: DA 5/2009, S. 892-900, hier: S. 893. Die Mauer hat sich rasch zu einer (Touristen-)Attraktion entwickelt. Das tragische und bewegende Potential der Geschichten und Schicksale rund um die Mauer wurde entdeckt; auch die Masse der Tunnelfilme und Fluchthelferautobiographien spricht davon. Vgl. hier nur als Beispiel das Melodram »Die Frau vom Checkpoint Charly«, das 2007 in der ARD fast 9,1 Millionen Zuschauer verfolgten.
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hatten, gingen die DDR-Grenztruppen, seit dem 3. Oktober dem Bundeswehrkommando Ost unterstellt, nun bei ihrem Abriss zu Werk.«159 Gänzlich ist die Mauer allerdings nicht verschwunden. Vielmehr findet sie sich heute in eine deutsch-deutsche Erinnerungslandschaft eingebettet160, die den »furor murensis« – die Tilgung der Teilungsspuren in den 1990er Jahren – ebenfalls thematisiert.161 Die nahezu drei Jahrzehnte währende Existenz der Mauer wurde zu dem Symbol der DDR-Diktatur, sie diente als »pars pro toto dafür, dass die DDR rechtsstaatwidrig ihren eigenen Bürgern die Ausreise verbot sowie bereit und imstande war, diese bei Zuwiderhandlung ohne Gerichtsprozess zu ermorden.«162 Diese – ausschließlich negative – Deutung ist im öffentlichen Diskurs bis heute vorherrschend; in den 1990er Jahren wurde die Debatte zudem von den »Mauerschützenprozessen« geprägt, in denen unter großer medialer Aufmerksamkeit die tödliche Seite der geschlossenen Grenze ausgeleuchtet wurde.163 Die Auseinandersetzung um ›die Mauer‹ wird in allen Erinnerungstexten aufgenommen – das Gewicht, das ihr beigemessen wird, sowie die offiziellen Erklärungen für ihren Bau halten die Autobiographen jedoch für falsch. Mithilfe verschiedener Erzählstrategien versuchen sie sich an der Implementierung eines Narrativs, das die Schließung der Grenze und die Existenz der Mauer vor allem als einen Akt der Befreiung und Erleichterung erzählt. Am wenigsten zu der Thematik äußert sich Wolfgang Jacobeit. Er berichtet über die Mauer im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf sein persönliches Leben, jedoch bar jeder Dramatik und in distanzierendem Gestus, als berühre sie ihn nicht – oder als falle ihm zumindest das Schreiben über sie schwer: »Es war die Zeit ›nach der Mauer‹, und wir hatten Probleme mit der Anschaffung von ›Westliteratur‹.«164 Abgesehen 159 | JARAUSCH, Konrad H./HERTLE, Hans-Hermann/SABROW, Martin: Die Berliner Mauer – Erinnerung ohne Ort? Memorandum zur Bewahrung der Berliner Mauer als Erinnerungsort, Potsdam, im März 2005, hsozkult.geschichte.hu-berlin. de/…/2005_mauer_memorandum.doc [letzter Zugriff 03/2013]. 160 | ULRICH, Geteilte Ansichten. 161 | KLAUSMEIER, Ein Memorialort neuer Prägung, S. 893. 162 | DETJEN, Die Mauer, S. 390. 163 | BRÄUTIGAM, Hansgeorg: Die Toten an der Berliner Mauer und an der innerdeutschen Grenze und die bundesdeutsche Justiz. In: DA 6/2004, S. 969-976. 164 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 112.
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davon nutzt er sie als Anker in der Zeit, um rein privatgeschichtlich die Chronologie des Lebens in ein ›Davor‹ und ein ›Danach‹ einteilen zu können. Dies allerdings auf eine Weise, die den Mauerbau zu einem fast betont undramatischen Punkt in der äußeren Struktur seiner Lebenserinnerungen werden lässt: »[…] und es war das erste Habil-Verfahren an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität nach dem Mauerbau am 13. August 1961.«165 Mit dieser privaten Überblendung steht Jacobeit in deutlichem Gegensatz zu allen anderen Autobiographen. So hat Herbert Hörz dem Ereignis ein ganzes Kapitel gewidmet, das ihn und seine Familie allerdings »persönlich […] kaum traf«: »Politische, wirtschaftliche und militärische Argumente wirkten dadurch bei uns stärker.«166 Diese Argumente, die er in der Folge aufzählt, entsprechen ganz der damaligen Regierungsbegründung: Friedenssicherung und wirtschaftlicher Protektionismus, weil bis dahin Westberliner und Ausländer die subventionierten DDR-Waren auf ihren Besuchen oder beim Pendeln erstehen konnten. Die negativen Folgen des Mauerbaus verniedlicht Hörz als soziale Marginalien – »[f]ür manche hörte zwar der regelmäßige Kinobesuch in Westberlin auf«167 – die Chancen dagegen bläht er wissenschaftlich auf: Mir war jedoch aus meiner Zyklentheorie klar, dass der Mauerbau nur Wirkungen für einen Kleinzyklus von 7 bis 8 Jahren brachte, bei dem teilweise Erfolge in der Wirtschafts- und Sicherheitspolitik zu erwarten sein konnten, dann hätte man jedoch Verhandlungen über die Durchlässigkeit der Mauer einleiten müssen, um Reiseangelegenheiten und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Arbeitsverträgen zu regeln.168
Hier zeigt sich eine besondere Erzählstrategie, die auch bei den übrigen Autobiographien eine Rolle spielt: Hörz nutzt Geschichte auf ideologische Art und Weise, situiert sie in einem bestimmten Kontext – dem Kalten Krieg –, verbrämt dies aber wissenschaftlich, wie sich hier am Beispiel der Zyklentheorie zeigt, die zusätzlich autorisieren und rationalisieren soll.
165 | Ebd., S. 110. 166 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 390. 167 | Ebd., S. 392. 168 | Ebd., S. 394.
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Laut Hörz wären besagte »Verhandlungen über die Durchlässigkeit der Mauer« tatsächlich eingeleitet worden, wäre dem nicht der ›Prager Frühling‹ »in den Weg«169 gekommen.170 Wieder sitzen die eigentlichen Verantwortlichen nicht in der DDR. Die Handlungen der Staatsmacht selbst sind bloß Antworten auf oktroyierte Zwänge von Außen. Hörz spaltet sich bei seiner Bewertung der Mauer in zwei Personen auf, einmal in den »marxistischen Humanisten«, der »die Mauer nicht befürworten konnte«, dann aber in den normalen Bürger, der angesichts der genannten Gründe – Friedenssicherung, ›Devisenklau‹ – den Bau als notwendig »einsah«.171 Für beide Sichtweisen ist der Mauerbau eine Zäsur; im Laufe der Autobiographie verschmelzen sie wieder zu einer Perspektive, die ganz auf Parteilinie liegt: Hörz spricht vom Mitleid für die Maueropfer, unterscheidet hier allerdings zwischen den Flüchtlingen, »die wussten, was auf sie zukommt« und den Grenzsoldaten, die »ermordet und verwundet« wurden, obwohl sie nur ihre »Pflicht im Rahmen der DDR-Gesetze taten.«172 In diesem vordergründig differenzierten Sowohl-als-auch fällt der Schritt zur sprachlichen Verkleinerung der Mauer nicht schwer: 169 | Ebd. 170 | Der ›Prager Frühling‹ bezieht sich auf das Frühjahr 1968 und die damaligen Anstrengungen der tschechoslowakischen Kommunistischen Partei unter Alexander Dub þ ek, ein Demokratisierungs- und Liberalisierungsprogramm durchzusetzen. Diese Reformbemühungen wurden durch eine kritische Öffentlichkeit deutlich unterstützt. Der Begriff ›Prager Frühling‹ bezieht sich einmal auf diesen Versuch, einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« zu schaffen, andererseits aber auch auf sein Scheitern: Am 21. August 1968 marschierten Truppen des Warschauer Pakts ein und besetzten alle strategisch wichtigen Punkte des Landes, was innerhalb weniger Tage zur erzwungenen Rücknahme aller Reformprojekte führte. In der DDR waren die Erinnerungen an den Prager Frühling während ihrer gesamten Lebensdauer streng tabuisiert. Die wenigen in der DDR erhältlichen Darstellungen der Geschichte der Tschechoslowakei handelten das Jahr 1968 mit einigen hölzernen Floskeln ab. Vgl.: WOLLE, Stefan: Der Traum von der Revolte. Die DDR 1968, Berlin 2008, hier S. 37ff; KRAMER, Stefan/TOMILINA, Natalja/ TSCHUBARJAN, Alexander u.a. (Hg.): Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, Bd. 1 Beiträge (=Veröffentlichungen des Ludwig-Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung Graz-Wien-Klagenfurt; Sonderband 9/1), Köln 2008. 171 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 394 172 | Ebd.
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Ihr Bau wird so auf die Größe von unbestimmten »Maßnahmen«173 geschrumpft. Auch Fritz Klein räumt dem Mauerbau in seinen Erinnerungen ausdrücklich Platz ein und widmet seiner Schilderung sogar eine Zwischenüberschrift: »Die Mauer«.174 Den Großteil davon verwendet er darauf, die Ereignisse in ihren historischen Kontext einzubetten. Seine Darstellung ist von einer starken Zerrissenheit charakterisiert: Er spricht von den zahllosen Menschen, die die DDR im Vorfeld des Mauerbaus verließen, »abgestoßen durch die Mischung von aufdringlicher politischer Bevormundung und Versorgungslücken«, er beschreibt die Unsicherheit angesichts der »ständigen dunklen Drohungen Chruschtschows«, er beklagt die Arbeitseinschränkungen für Intellektuelle, Wissenschaftler und Künstler angesichts der Forderung, »den Geboten marxistisch-leninistischer Parteilichkeit zu folgen.«175 Einerseits zeichnet er damit ein recht düsteres Bild der damaligen Situation und Atmosphäre in der DDR. Gleichzeitig jedoch sprechen seine Erinnerungen vom großen Verständnis für den Mauerbau, ohne den das Land seine »Existenz […] aufs Spiel [gesetzt hätte], dessen Lebenskraft auszurinnen drohte.«176 Klein wählt hierfür wieder den Blick aus großer Ferne, denn er befand sich zum Zeitpunkt der Ereignisse »wie am 17. Juni 1953 in Ahrenshoop, weit entfernt vom Ort dramatischer Ereignisse in unserer Heimatstadt.«177 Die Tatsache, dass die »Reaktionen unter den Feriengästen anders als damals« waren, ist ihm der Erwähnung wert, wenngleich diese Differenz angesichts der vollkommen unterschiedlichen Ereignisse im Grunde nicht verwundert.178 Klein äußert Verständnis, marginalisiert und relativiert die Folgen der Mauer, habe es doch »Beispiele für gesperrte Grenzen […] auch anderwärts in der Welt« gegeben.179 An anderer Stelle nennt er die Mauer schlicht »eine Grenze besonderer Art«180; seine Überlegungen beschließt er mit einem Plädoyer für 173 | Ebd., S. 395. 174 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 213. 175 | Ebd., S. 211. 176 | Ebd., S. 212. 177 | Ebd., S. 211. 178 | Ebd. 179 | Ebd., S. 213. 180 | Ebd., S. 335.
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die DDR, das er als »frühere Meinung«181 etikettiert, ohne jedoch seine angedeutete aktuelle Meinung preiszugeben: »Meine grundsätzliche Einstellung zur DDR änderte sich durch den Bau der Mauer nicht. Er war, so sah ich es damals, hinzunehmen als kleineres Übel gegenüber der sonst unausweichlichen Alternative: der Aufgabe eines für mich nach wie vor legitimen Gesellschaftsversuchs.«182 Um diesen Versuch in einer »äußeren Stabilität ruhiger, gelassener und toleranter zu betreiben«, war die »Abschottung vom Westen« notwendig, dem Klein, ebenso wie Hörz, entscheidende Verantwortung für das Geschehen zuschreibt: »In den heißen Debatten der letzten Jahre über die Remilitarisierung, den Auf bau der Bundeswehr, ihre Ausrüstung womöglich mit Atomwaffen, die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze waren in Westdeutschland doch auch sehr beunruhigende Töne zu vernehmen gewesen.«183 Der ideologische Geschichtsgebrauch wird auf diese Weise durch einen professionell-wissenschaftlichen Gebrauch angereichert und gleichsam abgesichert. So gehen Kleins Ausführungen zum Mauerbau 1961 zu Ende – überraschenderweise stellt er damit eine Paraphrase des Anfangsabsatzes auch an den Schluss seiner Ausführungen. Sie bezieht sich auf die Begründung, die die Warschauer Vertragsstaaten zur Grenzschließung abgegeben haben: »Die Aktion wurde mit der Notwendigkeit begründet, die durch die offene deutsch-deutsche Grenze gegebene Gefahr einer kriegerischen Aggression des westdeutschen Militarismus zu bannen und der Wühltätigkeit gegen die Länder des sozialistischen Lagers den Weg zu verlegen.«184 Klein inszeniert den Mauerbau nicht als Zäsur, sondern maximiert seine Notwendigkeit und minimiert die Folgen; letzteres gelingt nach dem Ausweichen in die Ferien mit dem Ausweichen in den Alltag: Das Jahr 1961 wird so vor allem zum beruflich aufregenden Einschnitt: »Die breite Unterstützung aller einschlägig interessierten DDR-Historiker gewannen wir in einem informellen Arbeitskreis Erster Weltkrieg, den ich im Herbst 1961 ins Leben rief.«185 Im Gegensatz dazu will Mehls den 13. August 1961 und seine Folgen sehr deutlich als Zäsur verstanden wissen: Er schreibt ihm »das Ende der 181 | Ebd., S. 213. 182 | Ebd., S. 335. 183 | Ebd., S. 213. 184 | Ebd., S. 211. 185 | Ebd., S. 223.
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Vorläufigkeit«186 zu. Die damaligen Geschehnisse kommentiert er hauptsächlich durch die Wiedergabe eines Tagebucheintrags, der authentifizieren soll, dass es sich wirklich um seine damalige Einstellung handelt.187 Mehls entwirft darin ein düsteres Zukunftsszenario für die DDR und sieht eine Entwicklung voraus, in der es den »›verhaßten‹ Intellektuellen […] an den Kragen« gehen wird – zu denen er sich ebenfalls zählt –, so dass er sich »mehr ausgeliefert […] als je zuvor« sieht.188 In schroffem Gegensatz zu diesen Sorgen stand freilich Mehls damalige Situation, die eigentlich nicht erwarten ließ, dass er in Schwierigkeiten geraten könnte: Er trat zu diesem Zeitpunkt sein Amt als Auslandsreferent des Rektors der Humboldt-Universität an, das er für acht Jahre innehatte. Dieser Widerspruch ist Mehls sehr wohl bewusst – einerseits die feste Verankerung im System, andererseits die Erzählung vom Menschen, der Angst davor hat, dass »sie nun freie Hand haben«, wobei er im Vagen belässt, wer sich dahinter verbirgt. Er löst diesen Gegensatz nicht auf, sondern endet mit einem offensiven Bekenntnis: »Meine Situation war schizophren, um es ein wenig untertrieben zu formulieren.«189 Mehls verfolgte damals ein hehres Arbeitsziel: Nicht weniger als zu den »Grundlagen der Zivilisation« habe er beitragen wollen, indem er »über die Wirren der Zeit geistige Werte« bewahrte.190 Diesem Ziel näherzukommen habe er versucht, indem er als Auslandsreferent »an einer Art geistiger Kommunikation über System- und Ländergrenzen« hinweg mitwirken wollte.191 Dass ihm dabei der Mauerbau in die Quere kam, liegt auf der Hand. Dennoch betrachtet er ihn als »Chance der politischen Füh-
186 | MEHLS, Unzumutbar, S. 110. 187 | Auffällig ist an diesem Tagebuchausschnitt, dass er dort geäußerte Gefühle und Einschätzungen häufig mehrfach explizit als die seinigen kennzeichnet (»meiner Meinung nach«, »das ist ein recht unbehagliches Gefühl, für mich jedenfalls«) – Redewendungen, die für diese Textgattung ungewöhnlich sind. Vgl. SEIFERT, Nicole: Tagebuchschreiben als Praxis. In: Inszenierte Erfahrung. Gender und Genre in Tagebuch, Autobiographie, Essay, hg. v. Renate Hof u. Susanne Rohr, Tübingen 2008, S. 39-59. 188 | MEHLS, Unzumutbar, S. 111. 189 | Ebd., S. 113. 190 | Ebd. 191 | Ebd., S. 114.
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rung«192, als »notwendiges und sicherlich zeitweiliges Übel«193, das »erheblichen Stabilitätsgewinn«194 brachte – und nicht nur das: Der Mauerbau führte zu einer »gewisse[n] Normalität«, denn, so relativiert er wie Klein: »in den meisten Staaten der Welt [konnte man], wenn man es realistisch betrachtet, […] nicht mehr einfach weglaufen, wenn einem etwas nicht gefällt.«195 Gleichwohl beschreibt er die Situation als »bedrückend«, »deprimierend« und »erschreckend«,196 was er aber nicht der Grenzschließung, sondern der »gesamte[n] Atmosphäre«197 zuschreibt, die dazu führte, dass man begann, »um sich selbst einen eigenen ›Schutzwall‹ zu errichten.«198 Als Ursache des Mauerbaus identifiziert auch Mehls den Westen und die dortigen Versuche, »die DDR zu strangulieren, sie zu isolieren, zu schwächen und vollständig in die Defensive zu treiben, um so ihr Ende schneller herbeizuführen.«199 Diese zweigleisige Erzählung zum Mauerbau, den er rechtfertigt und zugleich seine fatalen Auswirkungen schildert, mündet in eine Entpersonalisierung: Mehls flüchtet sich in die dritte Person und einen bürokratischen, passivischen Stil, der ihn selbst verschwinden lässt: So »mußte es […] darum gehen, die neue Situation […] zu befragen«, sie »war zu begreifen«, »es galt nun, alles von neuem zu überdenken.«200 Am Ende dieser ausführlichen Selbstbefragung taucht Mehls als handelnde Person wieder auf und gibt ein umständliches Glaubensbekenntnis an die Möglichkeiten ab, die er der Entwicklung der DDR trotz allem noch zugeschrieben habe: Beobachtungen der beschriebenen Art und Versuche, diese nach ihrem Wesensgehalt zu befragen, verstärkten bei mir den Eindruck, daß es ungeachtet der unmittelbaren Erlebnisse aus dem DDR-Alltag Anzeichen dafür gäbe, daß unter anderen Bedingungen, zu denen auch die Rolle anderer Führungspersönlichkeiten gehörte, der Sozialismus als Gesellschaftsordnung durchaus andere Entwicklungsmöglich192 | Ebd., S. 125. 193 | Ebd., S. 114. 194 | Ebd., S. 188. 195 | Ebd., S. 125. 196 | Ebd., S. 114. 197 | Ebd., S. 116. 198 | Ebd., S. 145. 199 | Ebd., S. 140. 200 | Ebd., S. 124.
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keiten zulasse, als die, die sich in der DDR gerade vollzogen. Im größeren Maßstab schien eine gewisse Dynamik der Entwicklung unverkennbar. 201
Die Umständlichkeit und Undurchsichtigkeit dieses Plädoyers ist wohl der Tatsache geschuldet, dass Mehls die Situation im Land zuvor auffallend negativ beschrieben und seine Leiden daran besonders herausgestrichen hat. Um in dieser Situation Verständnis für sich wie auch für den Staat zu erhalten, wählt er eine ungewöhnliche Metapher für die Parteiführung – er wirbt für sie um Mitleid, indem er sie zum Opfer ihrer eigenen Politik erklärt, was zugleich Mehls widersprüchliches Verhalten nachvollziehbar machen soll: Und so wurde uns […] schon irgendwie verständlich, daß die Parteiführung, vielleicht mit einem verwundeten Tier vergleichbar, sehr viel sorgfältiger und mißtrauischer in der politischen Lage nach Gefahrenherden Ausschau hielt und sehr viel harscher auf alles reagierte, was sich ihr als potentielle Gefährdung darstellte. 202
Mehls sieht den Bruch, den der Mauerbau bedeutete; die Verantwortlichen dafür saßen allerdings auch bei ihm in der BRD. Folglich schien es ihm auch lohnend, zu bleiben und weiter für die gute Sache zu kämpfen. Werner Mittenzwei beschreibt den Mauerbau ebenfalls als Zäsur, als »Gewaltakt«, in dessen Folge »Beziehungen beeinträchtigt« und »familiäre[s] Dasein zerstört« wurde.203 Westberliner hätten sich danach »auf der richtigen Seite«204 gewähnt. Das ist der eine Erzählstrang, wohl eine Referenz an die Erzählzeit. Der andere Strang handelt von der »Hoffnung, sowohl im privaten wie im politischen Bereich«, da die Mauer habe verhindern sollen, dass seine eigenen Kinder einen Krieg würden erleben müssen – auch wenn Mittenzwei wusste, »daß Grenzwälle keine Kriege verhindern. Es war eben eine Hoffnung.«205 Damit deutet sich bereits an, wie Mittenzwei mit dieser Zäsur umgeht: Er benennt sie zwar, doch spielt sie keine große Rolle: »Verwandte von ›drüben‹, wie es jetzt hieß,
201 | Ebd., S. 134. 202 | Ebd., S. 139f. 203 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 177. 204 | Ebd., S. 178. 205 | Ebd., S. 179.
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besaß ich nicht.«206 Wo der Mauerbau spürbar wird, sind seine Folgen positiv: Die angesprochene Hoffnung richtet sich darauf, man könne nun »freimütig diskutieren«; am Berliner Ensemble habe damals wahre »Aufbruchstimmung« geherrscht.207 Vor allem aber erzählt Mittenzwei Privatgeschichte – die Geschichte der privaten Hoffnungen, aber auch der privaten Geschehnisse, die sich in den Vordergrund drängten: »Uns bewegten in diesen Augusttagen andere Sorgen. Ingrid war hochschwanger.«208 In Kurt Pätzolds Erinnerungen »markiert« der 13. August 1961 eine »partielle Wende« – allerdings nur in der Hochschulpolitik.209 Ansonsten marginalisiert er den Bau der Mauer, was sich schon in seiner Wortwahl zeigt; Die Bezeichnung ›Mauerbau‹ hält er für »unpolitisch« und »verhüllend«210 und bevorzugt, von der »Veränderung des Grenzregimes«211, der »neuen Grenzkontrolle«212, der »strikte[n] Kontrolle«213 der Grenze oder dem »kontrollierte[n] Grenzregime«214 zu sprechen – Euphemismen, die die Undurchlässigkeit und tödliche Gefahr der besagten Grenze verhüllen. Seine Unterstützung der Maßnahmen begründet er mit dem Wissen um die damalige Situation: Durch »vertrauliche Informationsberichte« sei ihm klar gewesen, warum der Staat, mit dem er sich identifiziert, nicht anders handeln konnte: »Ökonomisch brauchten wir [Hervorhebung CL] dringend Kontinuität und Schutz.«215 Zudem waren die »bürokratischen Hürden«, so Pätzold, für Treffen auch über die Grenze hinweg »nicht unüberwindlich«.216 Die Konsequenzen des Mauerbaus bewertet er positiv, mit »dem Schritt hatte die DDR Souveränität in mehrfacher Hinsicht gewonnen.«217 Damit bezieht er sich vor allem auf den Westen, der die Überzeugung von 206 | Ebd., S. 178. 207 | Ebd., S. 180. 208 | Ebd., S. 178. 209 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 144. 210 | Ebd., S. 240. 211 | Ebd., S. 148. 212 | Ebd., S. 143, S. 160. 213 | Ebd., S. 142. 214 | Ebd., S. 240. 215 | Ebd., S. 143. 216 | Ebd., S. 142. 217 | Ebd., S. 159.
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der Kurzlebigkeit des ostdeutschen Staates nun habe überdenken müssen. Insgesamt habe die Mauer für die Bürger nur wenige Veränderungen gebracht, und wenn, dann seien sie positiv gewesen. Als Zäsur beschreibt er den Mauerbau, wie erwähnt, ausschließlich in Bezug auf die Hochschulpolitik: Der Einfluss der wissenschaftlichen Elite auf gesellschaftliche Entscheidungen sei in der Folge stark zurückgegangen. Obwohl »von Berufswegen mit den Wechselfällen der Geschichte befasst«218 ist ihm dieses »Mißtrauen gegen ›Gebildete‹« dennoch nachvollziehbar, rühre es doch aus der Aversion »gegen die bürgerliche Intelligenz, die den kapitalistischen Staat stützte.«219 Pätzold hält die Maßnahmen für richtig und gibt an, dies auch zum Zeitpunkt ihres Geschehens getan zu haben. Seine Erklärung ist in sich schlüssig – um den Preis, dass er bestimmte Aspekte, wie die ›Mauertoten‹, nicht berührt. In allen Autobiographien finden sich dominante Narrative zum Mauerbau, die zum Zeitpunkt des Geschehens Legitimität besaßen: Die DDR handelte aus Notwehr. Dass eine große Mehrheit der Bevölkerung in beiden deutschen Staaten sich in der Zeit nach dem Mauerbau »in Trauer, Wut und Verzweiflung […] und im Einklang mit dem Weltgewissen«220 vereint sah, findet in keiner der Autobiographien Widerhall. Vielmehr wird die Mauer als friedenserhaltende Maßnahme interpretiert, die zur Stabilisierung der weltpolitischen Lage beigetragen und geholfen habe, einen Dritten Weltkrieg zu verhindern; zusätzlich findet sich in allen Erinnerungen die Erzählung von der reformsozialistischen Hoffnung, die der Mauerbau ausgelöst habe: Nun könnten die Verhältnisse in der DDR freiheitlich gestaltet werden, da das Regime keine Einmischungen aus West-Berlin mehr zu befürchten habe. Die Übernahme dieser Narrative bezeugen teilweise die Staatsgläubigkeit und Autoritätshörigkeit, die zum Zeitpunkt des Geschehens in beiden deutschen Staaten noch wirksam waren,221 ihre zusätzliche Legitimationsanstrengung verweist aber auch deutlich auf den Schreibzeitpunkt der Erinnerungstexte: Die Protagonisten spielen im Zusammenhang ihres Bezugs auf Geschichte sehr deutlich auf ihre Profession an. So unterfüttern sie ihre hauptsächlich ideologischen Kontextualisierungen 218 | Ebd., S. 143. 219 | Ebd., S. 145. 220 | DETJEN, Die Mauer, S. 390. 221 | Ebd., S. 393.
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mit Theorien und Hinweisen, sich mit der Thematik beruflich befasst zu haben und vor allem einen wissenschaftlich geschulten Blick auf sie zu haben. In starkem Gegensatz dazu steht der Rückzug ins Privatleben, der die Erzählung vom Mauerbau häufig überblendet: Er stellt eine Form des Nichtgebrauchs von Geschichte dar, die zur Entdramatisierung der Geschehnisse beitragen soll.
4.3 Die Staatssicherheit: Das Leben von allen Kein anderer Bereich der DDR steht so im Mittelpunkt der geschichtspolitischen Debatten wie die Durchdringung des Staates durch das Ministerium für Staatssicherheit (MfS). In den 1990er Jahren wurde die ›Stasi‹ rasch zum Symbol für die DDR schlechthin. Entstanden ist das MfS im Februar 1950, nur wenige Monate nach der Gründung der DDR. Erstaunlicherweise umfasste die Rechtsgrundlage nur einen einzigen Paragraphen222 – das Gesetz enthielt weder eine Definition der Aufgaben noch eine Bestimmung der inneren Strukturen der neuen Behörde.223 Solche näheren Hinweise wären der erwünschten uneingeschränkten politischen Verwendung zuwidergelaufen, das MfS arbeitete deshalb praktisch ohne jegliche gesetzliche Grundlage, was wiederum alle staatlichen und gesellschaftlichen Bereiche für jegliche geheimdienstliche, polizeiliche und juristische Aktivitäten des MfS öffnete.224 In der Tradition der russischen Tscheka sah sich das MfS als »Schild und Schwert« der SED, dessen Politbüro es unterstellt war.225 Die Personalanzahl wuchs in den Jahren seiner Existenz immens, der Apparat 222 | Gesetzblatt der Deutschen Demokratischen Republik: Gesetz über die Bildung eines Ministeriums für Staatssicherheit vom 08.02.1950, Berlin, 21.02.1950. In: Die Zentrale. Das Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit in Berlin-Lichtenberg, hg. v. ASTAK e.V., Berlin 2003, S. 124. 223 | Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (Hg.): Anatomie der Staatssicherheit. Geschichte. Struktur. Methoden. Die Organisationsstruktur des Ministeriums für Staatssicherheit, Bd. 10., Berlin 1996, S. 7. 224 | HENKE, Klaus-Dietmar: »Staatssicherheit«. In: Handbuch zur deutschen Einheit, hg. v. Werner Weidenfeld, Karl-Rudolph Korte, Bonn 1996, S. 647. 225 | Bis in die 1950er Jahre waren sowjetische »Instrukteure« unmittelbar am Aufbau beteiligt. Später wurden sie von »Instrukteuren« zu »Beratern«, vgl. FRI-
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dehnte sich immer weiter aus; bis 1989 war die DDR vollständig überzogen von dieser »Kontroll-, Disziplinierungs- und Unterdrückungsmaschinerie«.226 In konkreten Zahlen ausgedrückt stieg die Zahl der Hauptamtlichen Mitarbeiter bis 1989 auf ca. 91.000227, die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter (IM) belief sich zu diesem Zeitpunkt auf ca. 174.000228 – in Relation zur Einwohnerzahl von ca. 16,7 Millionen wohl das dichteste Geheimdienstnetz der Welt.229 Doch änderte sich Stoßrichtung des MfS im Laufe der Jahre: Hatte im ersten Statut 1953 noch die Sicherheit des Staates im Mittelpunkt gestanden, war die Hauptaufgabe gemäß dem Statut von 1969 die positive Imagepflege der DDR nach außen und die verschärfte Verfolgung der politischen Opposition im Innern. In diesen Jahren wurde das Personal zunehmend professionalisiert und bestand aus exzellent geschulten Absolventen der MfS-Kaderschmieden.230 In den 1980er Jahren erklärte Erich Mielke die absolute Überwachung der Bürger zum Hauptziel: »Noch einmal wiederhole ich: Wir müssen alles erfahren! Es darf an uns nichts vorbeigehen.«231 Hierzu gehörte die Anwendung »operativer Psychologie«, was beispielsweise die »systematische Organisierung beruflicher und gesellschaftlicher Misserfolge« und das »Erzeugen von Misstrauen und gegenseitiger Verdächtigungen« bedeuten konnte.232 Das MfS war ein omnipräsenter Apparat in der DDR, der selbstverständlich auch
CKE, Karl Wilhelm: »Schild und Schwert der Partei«: Die Stasi, in: Die Zentrale, S. 39. 226 | HENKE, »Staatssicherheit«, S. 648. 227 | Ebd., S. 647. Die Zahlen, von denen ausgegangen wird, schwanken; so geht Jan Eik von 103.000 HMA aus. Vgl. EIK, Jan: Zur Topographie und Geschichte des Lichtenberger Stasi-Komplexes. In: Die Zentrale, S. 28. 228 | Vgl. RUDNICK, Die andere Hälfte, S. 340. 229 | Vgl. KRÖHNERT, Steffen: Bevölkerungsentwicklung in Ostdeutschland. In: Online-Handbuch Demographie des Berliner Instituts für Bevölkerung und Entwicklung, www.berlin-institut.org/online-handbuchdemografie/bevoelkerungs dy na mik/regio na le-dynamik/ostdeutschland.html [letzter Zugriff 07/2013]. 230 | HENKE, »Staatssicherheit«, S. 647. 231 | MIELKE, Erich: Schlusswort auf einer Kollegiumssitzung des MfS vom 19.2.1982, z. n. FRICKE, Schwert und Schild, S. 63. 232 | HENKE, »Staatssicherheit«, S. 649.
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die Universitäten im Blick hatte und die dortigen Reisekader kontrollierte.233 Nachdem der riesige Nachlass des MfS offengelegt war, kamen die unvorstellbaren Dimensionen dieser Behörde Schritt für Schritt ans Licht.234 Die Diskussionen, die sich an die Offenlegung dieses Spionagesystems anschlossen, konzentrierten sich – insbesondere in den Anfangsjahren – vor allem auf die Tätigkeit der IMs. Diese Bezeichnung war bis zur Wende lediglich ein behördenintern bekannter Versuch der semantischen Neutralisierung, wurde aber nach 1990 in der Öffentlichkeit zum zentralen Symbol der allgegenwärtigen Überwachung in der DDR.235 Seither repräsentiert ›der IM‹ das gesamte staatliche Spionagewesen des untergegangenen Systems – ein Stellenwert, der weniger mit tatsächlicher Macht oder besonderer strafrechtlicher Schuld erklärt werden kann, sondern wohl hauptsächlich auf die soziale Nähe zurückzuführen ist, die IMs gewöhnlich zu den Beobachteten pflegten. Geschichten wie die Enttarnung von Knud Wollenberger, der seine Ehefrau Vera jahrelang als »IM Donald« bespitzelt hatte, trugen zum Bild einer bis in die persönlichsten Vertrauensstrukturen durchdrungenen Gesellschaft bei:236 Die Überwachung und Verfolgung durch das Ministerium für Staatssicherheit in der DDR spielt eine elementare Rolle im historischen Gedächtnis der neuen Bundesre233 | FRICKE, »Schild und Schwert«, S. 74. Unberührt von der Staatssicherheit blieb vor allem die Arbeiterschaft in der DDR, also die Produktionsarbeiter und niedrig Qualifizierte wie niedrig Bezahlte, wohingegen Intellektuelle und sogenannte Leistungskader sowohl in der Gruppe der offiziellen als auch inoffiziellen Mitarbeiter deutlich überrepräsentiert waren. Vgl. HÜRTGEN, Renate: Das MfS im Betrieb. Jeder Vertrauensmann ein Spitzel der Staatssicherheit?, in: Dies.: Zwischen Disziplinierung und Partizipation. Vertrauensleute des FDGB im DDR-Betrieb, Köln 2005, S. 209-246, hier S. 241ff. 234 | Ein Beispiel hierfür – und auch für die zunehmend ineffiziente Arbeitsweise des MfS – sind die vorgefundenen, nicht im Zuge der Auflösung des MfS/AfNS vernichteten 200km ›Stasi-Akten‹. 235 | Hier und im Folgenden: GIESEKE, Jens: Die Stasi und ihr IM. In: Erinnerungsorte der DDR, S. 98-108, S. 102ff. 236 | WOLLENBERGER, Vera: Virus der Heuchler. Innenansichten aus Stasi-Akten, Berlin 1992. Insgesamt sind auffallend wenige Selbstzeugnisse ehemaliger Opfer oder Stasi-Offiziere erschienen. Vgl. WIERLING, Die Stasi in der Erinnerung, S. 187.
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publik. Zentrale geschichtspolitische Termini wie der des Unrechtsstaats und der der totalitären Diktatur gründen […] maßgeblich auf der Erinnerung an das Wirken dieser Geheimpolizei als Erfüllungsgehilfe der kommunistischen Diktatur. 237
Tatsächliche oder vermeintliche IM-Tätigkeiten rufen deshalb bis heute erregte Debatten in der Öffentlichkeit hervor: Zum einen ist davon die Legitimität essentieller, nicht selten höchstpersönlicher Entscheidungen betroffen, zum anderen sind es häufig prominente DDR-Bürger, gegen die entsprechende Vorwürfe erhoben werden. Auch im Vergleich mit anderen postkommunistischen Ländern Europas ragt der ›Stasi-IM‹ als singuläre Erscheinung heraus;238 spätestens seit dem Erfolg des Filmes »Das Leben der Anderen« ist er auch in der internationalen Wahrnehmung ostdeutscher Zeitgeschichte zu einer festen Größe geworden.239 In den 1990er Jahren war die Diskussion um das MfS vor allem von totalitarismustheoretischen Interpretationen geprägt;240 beispielhaft hierfür stehen die Bezeichnung der Zentrale der MfS-Untersuchungshaftanstalt als »Dachau des Kommunismus« oder die Einschätzung, die Staatssicherheit sei »gegenüber der Gestapo ungleich monströser« gewesen.241 Es verwundert nicht, dass auch die Autobiographen zu diesem Themenkomplex Stellung nehmen. In allen Erinnerungstexten wird die Debatte um das MfS und seine IM aufgenommen und vielmals als »hysterisch«242 abgetan; die Autoren halten das Gewicht, das dieser Institution in der Nachwendezeit beigemessen wird, für übertrieben. Auch in diesem Bereich positionieren die Autoren sich dezidiert gegen eine weitverbreitete Erzählung. Ihr Anliegen ist es, Abscheu und Entsetzen der Öffentlichkeit zu mindern, und zugleich ihre eigene Herkunft aufzuwerten. Die Erzählstrategien, die dabei zum Einsatz kommen, sind Gegenstand der folgenden Darstellung.
237 | GIESEKE, Die Stasi und ihr IM, S. 98. 238 | Ebd., S. 99. 239 | GIESEKE, Die Stasi und ihr IM, S. 107. 240 | Vgl. zu diesen Debatten: RUDNICK, Die andere Hälfte, S. 37ff. 241 | Zitiert nach RUDNICK, Die andere Hälfte, S. 735; Originalzitat von Hubertus Knabe, dem Leiter der Gedenkstätte Hohenschönhausen. 242 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 473; MEHLS, Unzumutbar, S. 300.
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Das MfS als alltägliche Behörde Klein und Mehls, die beide als IM tätig waren, unterliegen beim Thema »Staatssicherheit« einem besonderem Rechtfertigungsdruck. Beide stellen die Gespräche, die sie mit dem MfS führten, als gleichberechtigte Unterhaltungen dar, was der Institution den Schrecken nehmen soll, sie als ›ganz normalen‹ Geheimdienst kennzeichnet und die Gespräche insgesamt eher im Lichte kollegialer Plaudereien, die »ruhig und sachlich«243 geführt wurden, erscheinen lässt. So spricht Klein vom »häufigen Dissens mit dem Stasivertreter«, der »den Charakter dieses oder jenes Kontaktes mit amerikanischen Kollegen oder auch Diplomaten« betraf und der vor allem seine Redlichkeit unterstreichen soll, so dass Klein später feststellen kann:244 »In der SBK 245 habe ich in der festen Meinung mitgearbeitet, daß aus meinen Stasikontakten keine Zweifel an meiner Integrität abgeleitet werden könnten.«246 Dem implizierten Einwand, er habe das Vertrauen seiner amerikanischen Gesprächspartner, deren Unterhaltungen er protokollierte, missbraucht, hält er entgegen, dass sie sicherlich ob ihrer Kenntnis der »Mechanismen der DDR-Gesellschaft verstanden, daß Mitarbeiter einer Institution wie der Akademie nicht frei waren, Kontakte mit ihnen auf rein privater Basis zu unterhalten« – also »fest annahmen, daß ich über die Gespräche mit ihnen berichten würde.«247 Er spielte in seiner Sicht mit offenen Karten – auch wenn er sie nicht explizit offengelegt hatte. Nicht nur die Gespräche mit der Staatssicherheit werden von Klein und Mehls – inhaltlich wie atmosphärisch – als professionell und freundlich geschildert, auch bei der Erzählung von der Anwerbung durch das MfS legen sie Wert darauf, dass es sich nicht um Zwang, sondern um das Angebot einer unbedenklichen, normalen, wenn nicht gar ehrenhaften Aufgabe handelte. So war die Tätigkeit als IM für Mehls nicht nur die »Erfüllung einer formal gebotenen Treuepflicht meinem ›Dienstherren‹ gegenüber«, sondern entsprang auch dem Wunsch, die DDR zu schüt243 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 194. 244 | Ebd., S. 290. 245 | SBK = die Struktur- und Berufungskommission, die vom Berliner Senat zur Erneuerung des Faches Geschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin eingesetzt wurde. 246 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 357. 247 | Ebd., S. 290.
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zen, indem er ein Staatsorgan unterstützte, das »für die Identifizierung und Abwehr von verdeckten Angriffen auf die DDR mit einer gewissen Kompetenz ausgestattet« war.248 Auch Klein betont, dass man derlei Tätigkeiten durchaus auch habe ablehnen können, was von der Staatssicherheit »unaufgeregt zur Kenntnis«249 genommen worden sei. Eine ähnliche Geschichte erzählt auch Mittenzwei, der einen Anwerbungsversuch der Staatssicherheit folgenlos ablehnt: »Damit war für mich und für ihn die Sache erledigt.«250 Von Zwang oder Druck habe demnach keine Rede sein können. Gleichzeitig spricht Mehls von einer »Problematik«, die er schon damals gegenüber der Staatssicherheit empfand; diese Haltung, die er als »gespalten« bezeichnet und mit seinem »Unterbewusstsein« erklärt, stellt sich als Spaltung zwischen der Staatssicherheit auf der einen Seite dar – das waren die Bösen, die bespitzelten und ausforschten – und dem MfS auf der anderen Seite – das waren die Guten, die »angesichts der erkennbaren internationalen Lage verständlichen Schutz- und Sicherheitsinteressen der DDR befriedigen sollten.«251 Doch die Darstellung des MfS als einer den eigenen Bürgern freundlich gesinnten Sicherheitsbehörde reicht angesichts der existierenden Enthüllungen offenbar nicht aus, um die persönliche Mitarbeit nicht nur verständlich zu machen, sondern vermutlich auch zu entschuldigen. Klein nutzt zwei verschiedene Strategien, indem er angibt, erst nach der Aktenöffnung von den »unmenschlichen Methoden«252 erfahren zu haben, und überdies dabei bleibt, dass seine Motive »nicht verwerflich waren.«253 Mehls fügt der Strategie der ›Entdämonisierung‹ der Staatssicherheit eine weitere hinzu, die seine Tätigkeit als IM betrifft. Wie Klein trennt er sie sorgfältig von der »normalen Stasi-Verbindung«254 als Reisekader bzw. Auslandsreferent. In Anbetracht des besonders schlechten Leumunds von IMs offeriert Mehls eine überraschende Erzählung: Er wisse nicht mehr, dass er eine IM-Erklärung unterschrieben habe – dieser Bereich »ent248 | MEHLS, Unzumutbar, S. 157. 249 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 204. 250 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 53. 251 | MEHLS, Unzumutbar, S. 158. 252 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 325. 253 | Ebd., S. 358. 254 | MEHLS, Unzumutbar, S. 287.
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zieht sich der lebendigen Erinnerung«, was Mehls selber »sehr erstaunt«; gleichwohl zieht er die Authentizität der Verpflichtungserklärung nicht in Zweifel.255 Er hält seine Verpflichtung jedoch für so »harmlos« und »lapidar«256, dass er vermutet, sie einfach deswegen vergessen zu haben. Die Gespräche, die er in seiner Akte findet, erkannte er damals ob seiner »Naivität« nicht als Unterhaltungen mit seinen Führungsoffizieren; außerdem entbehrten sie jeder Brisanz, denn er habe keine Personen bespitzelt, sondern lediglich denkbar harmlose Unterlagen weitergegeben: Es ging um Einblick in langfristige Planungsunterlagen, Vertragsdokumente, operative Reisevorbereitungsunterlagen, vornehmlich Reiseanträge und deren Begründungen, um Zusammenstellungen und Analysen, wie z.B. die von uns regelmäßig angefertigten Jahresanalysen der internationalen Beziehungen der Universität. […] Es handelte sich also, um es einfacher zu formulieren, im wesentlichen um eine Zweitablage von Analysen, Zusammenstellungen und Berichten, die von uns ohnehin für eigene Verwendungszwecke oder im Auftrag übergeordneter Instanzen erarbeitet wurden. 257
Dies alles führt dazu, dass Mehls sich selbst überhaupt gar nicht als IM verstanden wissen möchte: »Natürlich [Hervorhebung CL] war mein Erstaunen groß, als ich erfuhr, daß ich nach Aktenlage des MfS dort als ›Inoffizieller Mitarbeiter‹ (IMS) geführt wurde. Zugrunde lag dem offensichtlich die Tatsache, daß ich seinerzeit schriftlich etwas erklärt hatte.«258 Allein im Hinweis, dass es sich um einen Sachverhalt »nach Aktenlage« handelt, liegt schon der unterschwellige Zweifel daran, ob diese Aktenlage tatsächlich der Wahrheit entspricht, werden doch die Akten mehrfach als »vage« und »nichtssagend« bezeichnet.259 Mehls jedenfalls scheint »die Aktenlage« offen für jedwede Form der »Funktionalisierung«.260 255 | Ebd., S. 158. 256 | Ebd., S. 159. 257 | Ebd., S. 160. 258 | Ebd., S. 358. Dieses Verhalten angesichts überwältigender Beweise, wie hier der schriftlichen Selbstverpflichtung, war häufige Reaktion enttarnter IM und ist nicht immer schlicht als Lüge zu verstehen. Vgl. WIERLING, Die Stasi in der Erinnerung, S. 195. 259 | MEHLS, Unzumutbar, S. 362. 260 | Ebd.
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Mehls und Klein entwerfen damit die Geschichte einer gewöhnlichen Behörde, deren Aufgaben – zumal im Kalten Krieg – denjenigen eines jeden souveränen Staates entsprochen habe. Eine derartige Verharmlosung der Staatssicherheit wird selbst von denjenigen Autobiographen gestützt, die selber nicht aktiv in sie eingebunden waren. So fand Jacobeit in seiner Akte »nichts weiter […] als eine Anzahl von fotokopierten Briefen, die ich an Kollegen in der BRD und im westlichen Ausland privat geschrieben hatte.«261 Diese Tatsache berührt ihn nicht weiter; er sieht darin lediglich einen »Sachverhalt«, der ihn »wenig interessierte,«262 wie auch Pätzold keinerlei »Neugier«263 für dieses Material aufzubringen vermag. Gerade dieses Desinteresse stellt eine Strategie der De-Skandalisierung dar – und gleichzeitig eine Gegen-Skandalisierung: Der westdeutsche Umgang mit diesen vermeintlich nichtssagenden und harmlosen Akten ist das eigenlichte Skandalon. Die Akten, die nach der ›Wende‹ sichergestellt wurden, werden hier als Material verstanden, das einerseits weitgehend nicht der Wahrheit entspricht und mit dem andererseits »nach Bedarf« umgegangen werden kann, sprich: »[U]nbequeme« Menschen werden mit der Begründung, Informanten des MfS gewesen zu sein, entlassen.264 Folgerichtig bezeichnet Pätzold die sogenannten Stasi-Akten als »Schatz der neuen Machthaber«.265 Das Gewicht der gesammelten Information wird heruntergespielt – entweder bestünden die Akten aus Belanglosigkeiten, oder sie enthielten – von der alten oder von der neuen Macht – verfälschte Informationen, gegen die man allerdings wehrlos sei; niemand könne hier »Wahrheit und Lüge sondern«, und der »Unwahrheitsbeweis« sei nicht anzutreten:266 »[E]in absurder Gedanke freilich – wie hätten wir glaubwürdig machen können, daß das Behauptete einer miesen Phantasie entstammte?«267 Auch Mittenzwei spricht von »zusammengeschusterten und erlogenen«268 Akten – anhand derer man
261 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 92. 262 | Ebd. 263 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 310. 264 | Ebd., S. 264. 265 | Ebd., S. 365. 266 | Ebd., S. 264. 267 | Ebd., S. 264. 268 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 148.
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folgerichtig über niemanden urteilen könne, es sei denn, man wolle, so Hörz, zu einer »deformierenden Fehlbewertung«269 kommen.
Opfer? – »Opfer«! Gestützt und verstärkt wird die Erzählung von der harmlosen Staatssicherheit dadurch, dass die Opfererzählungen diskreditiert werden, die im starken Kontrast zu ihr stehen. Wo sie Platz finden müssten, klafft entweder eine narrative Lücke – wie bei Klein und Mittenzwei – oder ihre Glaubwürdigkeit wird offensiv in Frage gestellt. So distanziert sich Hörz stets durch die Setzung von Anführungszeichen: »Soviel zur Wahrheitsliebe mancher ›DDR-Opfer‹.«270 Er bewertet sie als Denunzianten, die sich dem ›neuen Regime‹ andienen wollen, was in der Tradition einer »tragische[n] deutschen Mentalität« stünde, die »nicht neu ist:«271 Menschen, »die kaum als ›Opfer‹ bezeichnet werden können, [betätigen] sich nach Umbrüchen denunziatorisch.«272 Sie müssten nun vom schlechten Gewissen geplagt sein, schließlich hätten sie »leichtfertig mitgeholfen, wichtige soziale Errungenschaften der DDR aufzugeben.«273 Grund hierfür sei persönliches Versagen im alten System, in dem sie die »selbstverschuldete Unmündigkeit« wählten und nun einen Sündenbock für »fehlendes konstruktives Handeln ausmachen« möchten.274 Er unterscheidet sie gleichwohl von den »wirklichen Opfern, Deformierten und Gepeinigten, denen mein Mitgefühl gilt«, deren konkrete Erlebnisse er jedoch im Dunkeln belässt und die vor allem am großen Bild der DDR nichts ändern: »Betonen möchte ich dazu, dass ich keine nachgewiesene Verletzung von Menschenrechten in der DDR verteidige, ja über das Ausmaß menschenfeindlichen Verhaltens bestürzt bin. Das kann aber meine Überzeugung nicht brechen, dass es Bewahrens- und Bedenkenwertes gab.«275 Auch Pätzold bezweifelt die Glaubwürdigkeit der Opfer, die ihr Leben mit solchen Erzählungen in seinen Augen schlicht den Umständen anpassen und eine »Wunschbiographie« verfassen würden: »War da nicht 269 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 494. 270 | Ebd., S. 356. 271 | Ebd., S. 491. 272 | Ebd., S. 492. 273 | Ebd., S. 210. 274 | Ebd., S. 12. 275 | Ebd., S. 492.
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ein Konflikt mit der Macht gewesen, die nun Unrechtsstaat hieß, nicht eine inquisitorische Befragung, eine Zurücksetzung, Zwangsversetzung oder Bestrafung? War nicht Westverwandtschaft zum Hindernis einer Karriere geworden?«276 Mehls ironisiert die Geschichten der Opfer ebenfalls, die für ihn Teil einer groß angelegten Verleumdungskampagne sind. Die 1990er Jahre sind für ihn die Zeit des großen Ausforschens, der Fragebögen, der Anhörungen vor unzähligen Kommissionen, der Denunziationen, der öffentlichen Schmähungen und Verleumdungen, der üblen Nachrede und der eilfertigen Legendenbildung, des Auftauchens immer neuer ›Opfer‹ und Widerstandskämpfer. 277
Die Opfergeschichten, denen entweder vorsichtiges Misstrauen oder offener Unglaube entgegentreten, würden von westdeutschen Politikern gerne aufgegriffen, weil sie »Edelmunition«278 bedeuteten, mit der man die DDR weiter »›delegitimieren und kriminalisieren«279 könne. Jacobeit drückt sich zurückhaltender aus und zeigt nicht Ironie, sondern Misstrauen gegenüber denen, die öffentlich auf den repressiven Charakter der DDR eingehen. So spricht er davon, »außerordentlich skeptisch gegenüber Äußerungen von Personen« zu sein, die heute ihr Mißfallen über diesen Staat DDR, dessen Unvollkommenheiten, Rechtsbeugungen und anderes lauthals zum Ausdruck bringen und doch während jener Zeit meist unangefochten ihren persönlich-beruflichen Zielen nachgehen konnten und zudem jahrzehntelang SED-Mitglieder waren. 280
Das Leben der anderen ist auch nicht besser Ein drittes Erzählmuster ist die Relativierung des MfS und seiner Aktivitäten durch den Blick nach Westen und der Parallelisierung mit dortigen Institutionen. So schreibt Pätzold, keinerlei Interesse für die Akten, »die aus der Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit herrühren« aufzu276 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 247. 277 | MEHLS, Unzumutbar, S. 335. 278 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 414. 279 | MEHLS, Unzumutbar, S. 314. 280 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 260.
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bringen: »Das gilt ebenso für jene von ähnlichen Diensten der Bundesrepublik.«281 Klein, der als Reisekader für das MfS Berichte anfertigte, hatte dabei zwar »Vorbehalte«, die aber durch seine entschiedene Ablehnung der »antikommunistischen, in ihren Methoden mitnichten wählerischen CIA« relativiert worden seien.282 Mehls wehrt die Anklage des repressiven Charakters der DDR mit Beispielen ab, die zeigen sollen, dass »es zu den Regeln dieser Welt gehört, daß Bürger eines Landes mit seiner Geschichte leben müssen«, denn »wo sollten alle Franzosen mit der in ihrem Land erfundenen und massenhaft genutzten Guillotine hin?«283 In diesem Vergleich zeigt sich besonders anschaulich der politisch-pädagogische Gebrauch von Geschichte, der sich durch simplifizierende, symbolhafte Vergleiche auszeichnet. Diese »Regeln«, von denen Mehls spricht, sieht er ausschließlich bei ehemaligen DDR-Bürgern nicht eingehalten: Ich konnte mich nicht des Hinweises enthalten, daß wohl niemand auf der Welt auf den Gedanken käme, einem Bürger der USA, der aktiv für deren Stärkung nach innen und außen gearbeitet habe, die vorwurfsvolle Frage zu stellen, wie er in einem Land habe arbeiten können, von dessen Präsidenten einer die Erstanwendung der Atombombe ohne zwingende militärische Notwendigkeit und damit die ungerechtfertigte und leichtfertige Tötung Hunderttausender befohlen hatte. 284
Mehls wählt hier zwei Beispiele, die jeweils mit der Tötung unzähliger Menschen zusammenhängen und das Anlegen von Akten lachhaft erscheinen lassen sollen. Dieser vergleichbar harmlosen Tätigkeit würde nun von den etablierten Parteien ein Stellenwert zugewiesen, »von dem aus sie Haß und Wut auf die Stasimitarbeiter und damit auf die DDR loswerden konnten.«285 Dieser Vergleich des MfS mit staatlichen Institutionen anderer Länder oder die Relativierung seiner Tätigkeit mit dem Verweis auf die »Tötung Hunderttausender«, die von anderen Staaten vorgenommen wurde, weist auf ein Erzählmuster hin, das großen Raum in den Erinnerungen ein281 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 310. 282 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 288. 283 | MEHLS, Unzumutbar, S. 314. 284 | Ebd., S. 316. 285 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 484.
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nimmt und noch gesonderte Beachtung finden wird: Die Geschichte von der DDR als der besseren und analog dazu die Geschichte von der BRD als der schlechteren Hälfte Deutschlands. Will man den je spezifischen Gebrauch von Geschichte analysieren, soweit er die repressiven Seiten des Systems betrifft, sind drei dominante Erzählstrategien herausgearbeitet worden, die insgesamt ein Gegennarrativ etablieren sollen: Das deutlichste Erzählmuster ist das der qualitativen Bedeutungsverringerung, das alle Autoren verwenden. Ideologische und politisch-pädagogische Verwendungen der Geschichte, immer wieder wissenschaftlich unterfüttert, erscheinen in allen Autobiographien und sollen die ›Meistererzählung‹ von der schlechten DDR in Richtung einer ›Geschichte vom guten Lebens im Sozialismus‹ verändern. Die staatliche Gewalt des 17. Juni erhält die Qualität einer Schulhofrauferei, die damals Streikenden werden zu Provokateuren, denen der Sinn fürs große Ganze fehlte. Die Mauer wiederum steht für ein Bauwerk, das Stabilität und Wohlstand bringen sollte und, wenn nicht erfreut zur Kenntnis genommen werden musste, so doch jedenfalls übersehen werden konnte. Die Arbeit der Staatssicherheit schließlich mutiert zur bloßen Aktenhuberei einer Bürokratenkaste, wie es sie in allen Ländern dieser Welt gibt. Zu diesen Strategien gehören nicht nur die konkret benannten Reduktionen, sondern auch die Überblendung durch Formen der Privatisierung. Diese Erzählungen vermitteln letztendlich, dass die Ereignisse nicht die Wucht besaßen, die einen Urlaub hätten überschatten können – und dass die Staatssicherheit eben doch nicht ins wirklich Private der Menschen hineinwirken konnte, sondern ein ›ganz normaler‹ Geheimdienst war. Das Muster, die Staatssicherheit als einen »zwar als integralen, damit aber auch berechenbaren und nicht bedrohlichen Teil des DDR-Herrschaftssystems«286 zu beschreiben, findet sich vor allem bei Klein und Mehls, die beide ehemalige Angehörige dieser Institution sind. Dies unterstreicht auch ein weiteres Erzählmuster, das historische Parallelisierungen einsetzt, um die weitreichenden Verästelungen und Grausamkeiten des MfS zu relativieren: Man habe diese Tätigkeit – sei 286 | Vgl. WIERLING, Die Stasi in der Erinnerung, S. 198. Dieses Muster deckt sich mit anderen Lebenserinnerungen von ehemaligen MfS-Angehörigen. Vgl. z.B. WOLF, Markus: Die Kunst der Verstellung: Dokumente, Gespräche, Interviews. Berlin 1998; GEBAUER, Karl: Doppelagent. Berlin 1999.
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es in der Wahrnehmung oder sogar in der aktiven Mitarbeit – nicht als auffallend und schon gar nicht als negativ empfunden, sondern sie als gewöhnliche Schutzarbeit eines Geheimdienstes verstanden, die in vielen Ländern geleistet wurde und wird. In eine ähnliche Richtung zielen historische Vergleiche, bei denen die DDR unter dem Strich stets in besserem Licht erscheint als die Vergleichsgröße. Wer will, so stellt es sich bei den Autobiographen dar, schon darüber richten, dass ein Land Akten über Menschen angelegt hat, wenn andere Länder Tötungsmaschinen erfanden? Wer will die Grausamkeit der Mauer anprangern, wenn es doch überall auf der Welt Grenzen gibt, die Menschen daran hindern, von einem Ort zum anderen zu gelangen – und es im Falle der DDR noch dazu gar nicht um ›Verhinderung‹, sondern um Schutz ging? Diese gleichermaßen eingängigen wie simplifizierenden Vergleiche laufen alle auf eine ähnliche Formel hinaus: Anderswo ist und war es auch nicht besser – eher schlechter. Gleichwohl werden die Verkleinerungsstrategien immer wieder von Erwähnungen der Betroffenheit, der Zweifel und der Ängste, die man gefühlt habe und die oft beinahe kompensatorisch im Anschluss an Reduktionen der Repression auftauchen, durchbrochen. In der Schwierigkeit, sie auszuformulieren, zeigt sich dabei auch, dass es sich gerade bei Ängsten und Zweifeln um schwer Sagbares handelt, um »Spuren der Erinnerung an die DDR, für die es kaum einen kommunikativen Ausdruck im öffentlichen Gedenken gibt«.287 Eine weitere Auflockerung der Verkleinerungsstrategien liegt in der immer wieder eingestreuten Anerkennung von Leid und Unrecht. Man gesteht zu, dass es tatsächlich Einschnitte gab, die mit Gewalt einhergingen, oder dass der Geheimdienst wirklich brutale Methoden anwenden konnte. Was auf den ersten Blick wie ein Schuldanerkenntnis wirken könnte, ist allerdings nur eine Schuldverschiebung, die sich auf die simple Formel ›Was in der DDR schlecht war, war schlecht, weil die BRD es provoziert hat‹ bringen lässt. Gerade in diesem Narrativ, das 1989/90 ungebrochen überdauert, zeigen sich die Bindungskräfte des sozialistischen Sinnstiftungssystems. In diesen Zusammenhang gehört das Narrativ vom 17. Juni 1953 als »faschistischem Putsch« oder »konterrevolutionä-
287 | SABROW, Die DDR erinnern, S. 13.
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rem Putsch«288, aber auch die Erzählung, die die heilende Wirkung des Mauerbaus unterstreicht und damit den sogenannten »antifaschistischen Schutzwall« legitimiert. Zentral bei alledem ist der Blick nach Westen, für den an dieser Stelle die BRD steht: Die Relativierung mithilfe der Bezugnahme auf das andere Deutschland zieht sich durch alle Erinnerungen und bildet Grundlage wie Ausgangspunkt für eine andere Erzählung von der DDR. Dieses Gegennarrativ steht in der folgenden Betrachtung im Mittelpunkt.
4.4 Der Blick nach Westen Die Autoren der Erinnerungen belassen es nicht dabei, schlicht eine dominante Erzählung zu demontieren, sondern versuchen sich auch am Aufbau einer alternativen Geschichte. Sie wird von einem Erzählmuster getragen, das in zwei Schritten vorgeht, die sich wechselseitig verstärken: Der erste beinhaltet die vernichtende Analyse jenes Landes, dessen Bürger die Autoren nun gezwungenermaßen geworden sind. Er bildet die Folie für den zweiten Erzählschritt, der in den Augen der Autobiographen eine ausgewogene Geschichte der DDR vornimmt, die mittels der unterschiedlichen Narrative plausibel gemacht werden soll.
Kapitaldiktatur Um das öffentliche Bild von der repressiven Diktatur, die die DDR war, in Frage zu stellen, richten die Autoren immer wieder den Blick gen Westen und werfen die Frage auf, wie es eigentlich um die Staatsform und um die Geschichte der BRD bestellt sei. Ihre weitgehend ideologischen historischen Bezugnahmen stützen sie auch in diesem Rahmen durch einen professionell-wissenschaftlichen Gebrauch von Geschichte ab, der immer wieder auf eine (vermeintliche) empirische Absicherung verweist.
288 | Letzterer löste den »faschistischen Putsch« ab Mitte der 1960er Jahre immer häufiger ab. Siehe: EISENFELD/KOWALCZUK/NEUBERT, Die verdrängte Revolution, S. 343-345. Vgl. auch: RENAUDOT, Erinnerungsorte. Sie zitiert den ostdeutschen Historiker Peter Hübner, der noch 1988 schrieb: »Sowjetische Panzer fuhren auf, um 1953 die Freiheit der Arbeiter und Bauern zu schützen« – und fünf Jahre später einräumte, dass diese Aussagen »einer wissenschaftlichen Kritik bereits zum Zeitpunkt des Erscheinens in keiner Weise standgehalten hätten« (ebd., S. 518).
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Die BRD genießt in den Erzählungen von Mehls, Pätzold und Hörz kein Ansehen. So versteht Hörz »Demokratie und Freiheit« lediglich als »Schlagworte«, mit denen Politiker versuchten, die ehemaligen DDR-Bürger zur Dankbarkeit anzuhalten.289 Dass diese Demokratie aber nicht als Errungenschaft aufgefasst werde, »sollte Nachdenken auslösen.«290 Diese Reflexion liefert Hörz gleich selbst: In seinen Augen handelt es sich nur um eine »Schein- oder Teildemokratie«291, und auch Mehls bezweifelt, ob das System, in dem er nun lebt, wirklich eine »Demokratie par excellence« sei oder nicht vielmehr eine Struktur, die sich »Demokratie immer nur so lange leistet, wie man sie sich leisten kann?«292 Pätzold verzichtet gänzlich auf den Begriff ›Demokratie‹, er spricht konsequent vom »Kapitalismus«, wenn er die Staatsform der Bundesrepublik beschreibt. In ihn aber setzt er keine Hoffnungen: Dass er sich »menschlich gestalten lässt«, erfordert für ihn »mehr Glaubenskraft als der Gedanke, daß Bedingungen entstehen und Voraussetzungen geschaffen werden könnten, die über ihn hinausführen«, würde eine solche Fortentwicklung doch schließlich wieder ein sozialistisches System bedeuten.293 Folgerichtig hat er nichts Erfreuliches über seine neue Pflichtheimat zu berichten: Der »Staatsdienerschaft« arbeiteten »Strategen« zu, die ihnen ermöglichten, je »rechtskonforme Vorgehen« vorzuweisen, die aber einzig und allein von ihrer »antikommunistischen Ausrichtung« beseelt seien und nicht etwa vom Glauben an das Grundgesetz.294 Nach wie vor sieht er die BRD im politischen Verhalten in der Traditionslinie des NSStaates: »Auch sie setzen an die Stelle realer Antriebe ebenso vorgetäuschte, ideologische und politische, andere als die Nazifaschisten, aber doch wie diese solche, die von den wirklich verfolgten Interessen und Zielen weglenken. Nicht nach Erdöl wird gestrebt, sondern Demokratie exportiert.«295 Diese Verknüpfung findet sich auch bei Hörz, den »die Wendemarken« seines Lebens »vom Kapitalismus zum Kapitalismus« brachten.296 289 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 16. 290 | Ebd. 291 | Ebd., S. 20. 292 | MEHLS, Unzumutbar, S. 350. 293 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 309. 294 | Ebd., S. 254. 295 | Ebd., S. 202. 296 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 30.
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Was mit der NS-Diktatur begann, endet nun in der »Kapitaldiktatur«297, für die er die BRD hält: Sie bevorzugt »die durch Geburt schon mit Gütern versehenen Individuen, die erfolgreichen Geschäftsleute, die rücksichtslosen Politiker und die Anpasser.«298 Er sieht eine Staatsform mit »monetären und bürokratisch-rechtlichen Strukturen mit hoher Arbeitslosigkeit, wachsender Bürokratie, Obdachlosigkeit und verbreiteter Armut.«299 Das Land sei geprägt von »Reformstau«300, biete zwar oberflächlich betrachtet mehr Freiheiten, bedeute tatsächlich aber »wirkliche Unfreiheit, die in der Existenzunsicherheit, bei möglicher Arbeits- und Obdachlosigkeit begründet ist.«301 Die Freiheitlichkeit der BRD stellen alle Erinnerungstexte in Frage, zielen dabei aber auf verschiedene Bereiche ab. Mehls und Pätzold zweifeln an der Freiheit der Wissenschaft im Westen,302 Jacobeit betont die politische Unfreiheit, die dazu führte, dass er im Westen der Nachkriegszeit keine Stelle bekam,303 Klein wiegt die Unterdrückung der »Schwachen«304 gegen die Bewegungsfreiheit auf, und in Mittenzweis Erinnerungen schließlich fällt der Terminus nicht ein einziges Mal, die Erzählung von den Zwängen des Westens ist jedoch omnipräsent. Mehls spricht in diesem Zusammenhang von der »geheiligten Ordnung des Oben und Unten der bürgerlichen Gesellschaft«, von Strukturen, die auf der Unantastbarkeit und Macht des privaten Eigentums an Kapital und Produktionsmitteln beruhen« sowie von gesellschaftlichen »Rechten und Privilegien«, die auf »Besitz und Herkunft« basieren.305
297 | Der Begriff zieht sich bei häufiger Nennung durch die gesamte Autobiographie; HÖRZ, Lebenswenden, S. 17, S. 18, S. 19, S. 31, S. 43, S. 52, S. 61, S. 100, S. 121, S. 134, S. 160, S. 178, S. 211, S. 291, S. 299, S. 300, S. 301, S. 311, S. 493, S. 523, S. 532. 298 | Ebd., S. 18. 299 | Ebd., S. 17. 300 | Ebd., S. 16. 301 | Ebd., S. 19. 302 | MEHLS, Unzumutbar, S. 349; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 257. 303 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 90. 304 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 267. 305 | MEHLS, Unzumutbar, S. 306.
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In der Ablehnung des Narrativs ›Freier Westen versus unfreier Osten‹ treffen sich alle Erinnerungstexte. Hörz, Pätzold und Mehls zeichnen ein vernichtendes Bild des westlichen Systems; bei Jacobeit, Klein und Mittenzwei fällt die Darstellung zwar moderater aus, die Argumentationsmuster sind jedoch vergleichbar. Auch sie stellen in Frage, ob die BRD tatsächlich die erstrebenswerte Alternative zur untergegangenen DDR sei und ob sie wirklich so viel demokratischer war und ist. Dabei beruft sich Klein am ausführlichsten auf Geschichte: Bei der Gründung der beiden deutschen Staaten habe er auf die Ratschläge derer gehört, die sich in den Jahren zuvor gegen den Nationalsozialismus engagiert hätten, somit »auf Liebknecht, der die Kriegskredite verweigert – und nicht auf Ebert, der sie bewilligt hatte; auf Thälmann, den die Nazis eingekerkert und schließlich umgebracht hatten – und nicht auf Theodor Heuss, der 1933 dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt hatte.«306 Doch nicht nur das deutsche Klein-Klein habe er im Blick gehabt, auch die »größeren Zusammenhänge dessen, was geschah«, hätten für die DDR gesprochen: »Siegreiche Revolutionen in China und Vietnam, die Beendigung der britischen Herrschaft über Indien zeugten vom Willen vieler Millionen Menschen, anders zu leben als bisher, ohne Ausbeutung durch Gutsbesitzer, Kapitalisten und fremde Kolonialherren.«307 In diesem Dreisatz der Ausbeuter ist implizit auch die Kritik an der BRD enthalten. Diese formuliert er allerdings vor allem ex negativo, indem er ausführlich darauf eingeht, welche Ziele ausschließlich in Ostdeutschland verfolgt wurden. Konsequent gewendet hieße das dann, dass die BRD sich nach 1945 nicht radikal geändert, die alte Ordnung nicht überwunden, sondern auf personale wie institutionelle Strukturen zurückgegriffen habe; diese Ordnung beruhe auf »Profitmaximierung sowie auf der Ausbeutung der Unterschichten im eigenen Land und der Bevölkerung abhängiger Länder«, sie sei nicht dem Frieden verpflichtet und sozial ungerecht gewesen, kurz: der Inbegriff von Imperialismus und Militarismus.308 In der BRD, so Pätzold und Mittenzwei, seien »Ausbeutung und Herrschaft«309 sowie »Elitedenken«310 an der Tagesordnung gewesen. 306 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 142. 307 | Ebd., S. 142. 308 | Ebd., S. 143. 309 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 129. 310 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 129.
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All dies habe im Gegensatz zur DDR gestanden, weswegen nur diese als Alternative in Betracht gekommen sei: »Vielleicht wird daraus dem interessierten Leser ebenfalls klar, warum ich, trotz lockender Angebote, nicht aus der DDR in die BRD wollte.«311 Für die Zeit nach der Wiedervereinigung stellt Klein für die »Gesellschaft, in der wir leben«, knapp fest: »Das Ziel, eine Welt des Friedens zu schaffen, ist nicht erreicht.«312 Die Ursache sieht er im Streben um wirtschaftliche Vormachtstellung, in den »ökonomischen Mechanismen«, das heißt im Kapitalismus.313 Mittenzwei fasst sich wesentlich kürzer und abstrakter: Der Kapitalismus der BRD führe die Menschen auf einen »apokalyptischen Weg«, während der Sozialismus versucht habe, sie davon abzubringen.314 Jacobeit wählt ebenfalls den Systemvergleich, um den Diskurs von der repressiven DDR zu relativieren, allerdings weniger explizit; als Beispiel dient ihm hauptsächlich der eigene Werdegang. Er stellt sich damit als pars pro toto dar, habe er doch aufgrund seiner »bekannten ›linken‹ Einstellung«315 in der BRD keine Anstellung bekommen, was die Demokratie in seinen Augen fragwürdig macht.
Sozialistische Freiheit Zusätzlich zu dieser Vergleichsfolie gehen die Autoren auf den Diskurs zur ›repressiven Diktatur‹ ein, gestehen ihm allerdings deutlich weniger Platz zu. Sie nehmen dabei in besonderer Weise die privilegierten Erkenntnismöglichkeiten des Zeitgenossen für sich in Anspruch: Nur sie haben schließlich in der DDR gelebt, deshalb seien auch nur sie dazu befähigt, das Leben dort zu beurteilen und die beiden Systeme miteinander zu vergleichen. Damit entfernen sie sich vom wissenschaftlichen Anspruch, der ihre Einschätzung der »Kapitaldiktatur« noch prägte und legen das Gewicht auf die »Authentizität« ihrer Erinnerungen, die nur durch das direkte Erleben erreichbar sei: Da wird sich ein ehemaliger DDR-Bürger, der, im Gegensatz zu den Westdeutschen, zwei Systeme kennt, eben soziale Erfahrungen im ›Realsozialismus‹ und 311 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 19. 312 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 364. 313 | Ebd., S. 364. 314 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 421. 315 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 90.
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im ›Realkapitalismus‹ sammelte und sammelt, und so umfangreichere Vergleiche anstellen kann, schon die Frage stellen, welchen Freiheitsgewinn ihm die nun gepriesene Demokratie bringt. 316
Mit dieser argumentativen Vorbereitung werden nun die guten Seiten der DDR erzählt – immer mit vergleichendem Blick in Richtung Westen: So spricht Hörz zwar von der »Staatsdiktatur«, die aber im Gegensatz zur westdeutschen »Kapitaldiktatur« ihren Bürgern »Möglichkeiten bot, wenn man wusste, wie ihre Hürden zu umgehen waren.«317 Es seien also Freiräume vorhanden gewesen, im Gegensatz zur BRD, wo die »monetären und bürokratischen Strukturen« längst in jeden Winkel des öffentlichen und privaten Lebens eingedrungen seien.318 Damit ist Hörz wieder beim Diskurs über Freiheit und Unfreiheit der Systeme angekommen: Indem er der BRD abspricht, wirkliche Freiheit zu bieten, verbittet er sich gleichzeitig die in den 1990er Jahren dominierende Erzählung von der DDR als durchherrschtem Raum. Die Erinnerungen bewegen sich damit weg von der Repression hin zu den Seiten, für die die DDR auch stehen könnte, es in der Öffentlichkeit aber keineswegs tut. Die Autobiographen rücken dabei die Ziele und Grundlagen der DDR in den Mittelpunkt, die man, so Hörz, nicht ignorieren dürfe, wenn es einem auch weiterhin um »humane Ideale« und eine »soziale Alternative« gehe: »Mir geht es darum, Vergangenes nicht zu verherrlichen und Gegenwärtiges nicht abzuwerten.«319 Hörz möchte die »Vor- und Nachteile sozialer Systeme« in einer »sachlichen Analyse« abwägen, wobei »persönliche Erlebnisse« helfen könnten, die er auch aus diesem Grunde veröffentlicht.320 Damit sind zwei Schlagworte gefallen, die in allen Texten sinngemäß vorkommen: die DDR als soziale Alternative321 und die 316 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 17. 317 | Ebd., S. 15. 318 | Ebd. 319 | Ebd., S. 16. 320 | Ebd. 321 | »Die Gründung der Republik empfand ich als notwendige Alternative.« (MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 94); »Zum Großen Nein, das so unabweisbar nötig war, gehörte das Große Ja zur radikalen, Neubau von Grund auf versprechenden Alternative.« (KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 9); »[…] das Gesellschafts- und Politikmodell, […] in dem ich trotz vieler schwerwiegender Zweifel dennoch eine
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Attribuierung der dortigen Zustände als humanitär erstrebenswert.322 Die »soziale Alternative« wird vor allem mit der Garantie eines Arbeitsplatzes – wieder in scharfer Abgrenzung zur BRD323 – mit der allumfassenden Kinderbetreuung324, der Gleichberechtigung der Frauen325 (definiert als Integration in das Erwerbsleben) und mit dem antifaschistischen Grundkonsens begründet. All dies habe zu »neuen Maßstäben der Bewertung des Menschen« geführt, die die »aus Besitz und Herkunft hergeleiteten Rechte und Privilegien in der Gesellschaft ersetzen« sollten.326 Diese »neuen Methoden der Regelung des Zusammenlebens« sollten aus einem »langwierigen Lernprozeß« hervorgehen, der letztlich zur »sozialistischen Demokratie« führe.327 Dieser Prozess begann mit der Staatsgründung und der Hingabe, mit der man sich am Auf bau der »Alternative« beteiligt habe – die man in der BRD aufgrund der Elitenkontinuität nach 1945 niemals hätte leisten können. So spricht Hörz von der »psychischen und physischen Kraft«, die er und seine Frau »neben vielen anderen in die Gründung, den Auf bau und die Entwicklung der DDR investiert haben«.328 Mehls geht in diesem Zusammenhang ausgiebig auf den sich verschärfenden Kalten Krieg ein, auf die Tatsache, dass es darum ging »den wirklichen Neubeginn zu wagen«, gangbare und historisch gerechtfertigt erscheinende Alternative gesellschaftlicher Entwicklung gesehen harte und letzten Endes immer wieder zu sehen bereit gewesen war.« (MEHLS, Unzumutbar, S. 127); »[…] das ›Experiment‹, eine andere Welt zu schaffen« (PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 236). 322 | Allein bei HÖRZ, Lebenswenden, fällt das Stichwort »human« nahezu 100 Mal. 323 | HÖRZ, Lebenswenden, erwähnt die Arbeitslosigkeit im Westen am häufigsten, jeweils um zu unterstreichen, warum die BRD keine Alternative war (S. 15, S. 17, S. 301, S. 302, S. 363, S. 471, S. 493, S. 494, S. 532), aber auch bei den anderen Autobiographien findet sich diese Argumentationsfigur (PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 259; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 228; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 211, S. 283, S. 353; MITTENZWEI, Zwielicht, S. 449, S. 475). 324 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 181. 325 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 146; HÖRZ, Lebenswenden, S. 469; MITTENZWEI, Zwielicht, S. 349. 326 | MEHLS, Unzumutbar, S. 306. 327 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 108. 328 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 11.
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was die westliche Seite nicht getan habe und zieht das Fazit, dass er die »schließlich im Oktober 1949 erfolgende Bildung einer eigenständigen DDR […] als eine logische Konsequenz der Entwicklung« empfand.329 Die Staatsgründung selbst erscheint dabei vor allem als symbolisches Ereignis; die Erinnerungen erzählen zwar davon, für welche Ideologie sie stand, in der Chronologie der Ereignisse kommt sie jedoch kaum vor. So schreibt Hörz über das Jahr 1949 hinweg, obwohl wir uns im Kapitel »Wendemarken« befinden: »1946 zogen wir in die Dienstwohnung des Hallenbads am Hermannsplatz 10, die meinem Vater als Verwalter und verantwortlichem Schwimmmeister zustand. Dort wohnte ich bis zu meinem Studium in Jena, das 1952 begann.«330 Die Staatsgründung wertet er demnach nicht als Wendemarke, die sein Leben »wesentlich geprägt«331 hat; »den wichtigsten Einschnitt« in Hörz’ Leben bildet vielmehr »die schon 1954 erfolgte Heirat mit der Studentin Helga Ivertowski, die ich beim Studium in Berlin kennen und lieben gelernt hatte«332 – und damit ist Hörz mit seiner Erzählung bereits im fünften Jahr der Existenz der DDR angekommen. Auch die anderen Autoren lassen das Ereignis eher untergehen, gewichten das Private (Alltagsschwierigkeiten, Alltagsbesonderheiten) plötzlich stärker – wenn sie politisch werden, geht es um die andere Seite. Mittenzwei, der die Staatsgründung chronologisch auslässt, bezieht sich erst wesentlich später auf sie und auch dann nur in Abgrenzung vom Westen: »Die Gründung der Republik empfand ich als notwendige Alternative.«333 In der Ausblendung der Staatsgründung zeigt sich, dass die Hinwendung zum Sozialismus, die bereits nach Kriegsende mit Parteieintritten erfolgte, durch die Neuentstehung des Staates nicht mehr zusätzlich legitimiert wird – damit wird erneut sichtbar, dass dem Staat retrospektiv lieber weniger Raum gegeben wird als der Ideologie, die ihm zugrunde liegt [vgl. Kap. I/5]. Einzig Eckart Mehls, allerdings ausschließlich entpersonalisiert, erwähnt die aufwendige Feier zur Staatstaufe und beschreibt, dass sich Großes vollzog, das durchaus auch so wahrgenommen wurde: »Stalins
329 | MEHLS, Unzumutbar, S. 36. 330 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 48. 331 | Ebd., S. 22. 332 | Ebd., S. 25. 333 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 94.
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Staatstelegramm, das diesem Ereignis den Rang eines ›Wendepunktes in der Geschichte Europas‹ bescheinigte, machte Eindruck.«334 Das alternative Bild, das die Erinnerungen zur ›Meistererzählung‹ über die DDR entwerfen, ruht an entscheidenden Punkten auf einer alternativen Darstellung der BRD: Der Charakter der Diktatur, der die DDR im öffentlichen Diskurs der Nachwendezeit auszeichnet, wird durch die Infragestellung bestimmter Kriterien auf die BRD übertragen. Während die Öffentlichkeit über die DDR postuliert, die Menschen seien »unfrei« gewesen, verstehen die Erinnerungen unter »Freiheit« nicht die in der BRD im Grundgesetz verankerten Versprechungen von Bewegungs- oder Reisefreiheit, sondern definieren sie als das Recht auf Arbeit und die Unabhängigkeit von kapitalistischen Handlungszwängen, die in der BRD nicht gewährleistet seien. Das Leben hinter der Mauer wird so deutlich ›humaner‹ als das Dasein im kapitalistischen »Haifischbecken« 335. Dagegen strahlt die DDR in den Autobiographen in leuchtenden Farben. Um diesen Entwurf nicht zu trüben, müssen bestimmte Dinge ausgeblendet und der Staat auf Distanz gehalten werden. Hierin zeigt sich der Karlssonsche »Nichtgebrauch von Geschichte« in aller Deutlichkeit: Um die DDR tatsächlich als die bessere Alternative darstellen zu können, werden einige ihrer Bestandteile vollständig vernachlässigt.
4.5 Die Wahrheit der Wissenschaft Hinsichtlich der Nutzung von Geschichte besteht ein Zusammenhang zwischen privaten und politischen Anliegen: Die Autoren tragen zu einer geschichtspolitischen Debatte bei, kämpfen damit aber gleichzeitig um die Anerkennung der eigenen Lebensentscheidungen und der persönlichen 334 | MEHLS, Unzumutbar, S. 36. Das erinnert an die Antrittsrede, die der erste Präsident der neuen Republik, Wilhelm Pieck, am 11. Oktober 1949 in Berlin hielt: »Wir stehen heute an der Wende der deutschen Geschichte« – abends wurde dieses Ereignis mit 200.000 Fackeln tragenden FDJ-Mitgliedern gefeiert, die in Berlin Unter den Linden entlangzogen, flankiert von etwa 800.000 Besuchern. Vgl. GRIES, Rainer: Dramaturgie der Utopie. Kulturgeschichte der Rituale der Arbeiter-und-Bauern-Macht, in: Arbeiter im Staatssozialismus. Ideologischer Anspruch und soziale Wirklichkeit, hg. v. Peter Hübner, Christoph Kleßmann u. Klaus Tenfelde, Köln 2005, S. 191-214, hier S. 193. 335 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 449.
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Rolle im System. Dies lässt sich in besonderem Maße an den Erzählungen von der Wissenschaft in der DDR und den Karrieren, die die Autoren in diesem Bereich machten, erkennen. Die Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaft in den frühen 1990er Jahren und mehr noch die damit verbundene öffentliche Wahrnehmung, es habe sich ohnehin nur um eine politisch gesteuerte Pseudowissenschaft gehalten, betreffen die Autoren und ihr Selbstverständnis unmittelbar.336 Um keinen anderen Themenbereich kreisen die Texte so intensiv, nirgends zeigt sich so deutlich, in welchem Ausmaß die Autobiographen von der Mitgestaltung des Diskurses nach 1989/90 ausgegrenzt waren und sind. Das gesamtdeutsche Leben spielt sich weitgehend ohne ihre Beteiligung ab. In der DDR hingegen durften die Autobiographen mit einer ganz anderen Wahrnehmung rechnen. Alle Autoren waren vor der Wende erfolgreiche Geisteswissenschaftler. Sie hatten sich im Wissenschaftssystem ihres Landes etabliert, Lehrstühle erreicht und in ihren jeweiligen Disziplinen geforscht und veröffentlicht. In allen Erinnerungen wird deshalb gleichermaßen deutlich, dass 1989/90 eine starke Abwertung der wissenschaftlichen Lebensleistungen bedeutet und auch als solche empfunden wird. Um diese persönliche Betroffenheit besser zu verstehen, soll kurz das System skizziert werden, in dem die Autoren forschten und lehrten. Die Politik in der DDR hatte den Anspruch, sämtliche gesellschaftlichen Teilbereiche zu steuern. Dies umfasste auch die Wissenschaft, die demnach keine funktionale Selbstständigkeit besaß.337 Im offiziellen Verständnis waren Wissenschaft und Politik als dialektische Einheit gedacht:338 336 | Vgl. hierzu auch die große Umfrage, die unter den Rechtswissenschaftlern der DDR gemacht wurde und sich in der Zeitschrift »Staat und Recht« findet. Dabei wird gefragt, wie sie den Zusammenbruch ihres Staates beurteilen, was ihnen wichtig erscheint und welche Zukunftsaufgaben sie sich vorstellen. Die Antworten zeugen von der großen inneren Erschütterung, die die Abwicklung bedeutete. In: Staat und Recht, Jahrgang 39, Heft 1. 337 | Das Verhältnis von Politik und Wissenschaft blieb in den 40 Jahren der Existenz der DDR keinesfalls unverändert; an dieser Stelle werden ausschließlich die groben Linien dieses Verhältnisses gezeichnet, Veränderungen spielen im folgenden Kapitel eine Rolle. 338 | Vgl. KOCKA, Wissenschaft und Politik in der DDR, S. 438.
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Nach ihrem Selbstverständnis war die Politik der Partei- und Staatsführung als weitertreibendes Moment der gesetzmäßigen historisch-gesellschaftlichen Entwicklung wissenschaftlich begründet und zu ihrer Orientierung, Effektivierung, Konkretisierung und Aktualisierung auf Leistungen der Wissenschaft in Form von Forschung, Beratung, Lehre und anderen Anwendungen angewiesen. 339
Diese grundsätzliche Angewiesenheit der Politik auf Leistungen der Wissenschaft führte jedoch nicht zum Primat der letzteren, sondern begründete einen umfassenden Kontrollanspruch der ersteren. Die Politik plante, leitete und überwachte den Wissenschaftsbetrieb und formulierte spezifische Erwartungen hinsichtlich seiner Leistungen und Ergebnisse. Diese politische Überwölbung wurde von Seiten der Wissenschaft durchaus akzeptiert, schließlich erwies sie sich nicht nur als nachteilig – die grundsätzliche Bedeutung für die Arbeit der Partei konnte umgekehrt in den Anspruch auf politischen Einfluss, gesellschaftliche Anerkennung und, ganz konkret, wissenschaftliche Förderung gewendet werden. Zwischen Wissenschaft und Politik blieb damit zwar noch eine Differenz, »jedoch minimiert und für den Denkansatz nicht konstitutiv.«340 Gegensätze oder Konflikte zwischen beiden Seiten waren weder vorgesehen noch galten sie als legitim; das die ganze Gesellschaft überragende Primat des Politischen war der wissenschaftlichen Reflexion und Kritik entzogen.341 Man darf daraus freilich keine direkten Hierarchien ableiten, die das Verhältnis von Politik und Wissenschaft als eines von Befehlsgebung und -ausführung dargestellt hätten. Vielmehr handelte es sich um ein durchaus komplexes, häufig symbiotisches Verhältnis gegenseitiger Beeinflussung und Durchdringung, bei dem zwar die Politik die größeren Einflussmöglichkeiten behielt, davon abgesehen aber beide Akteursgrup-
339 | Ebd., S. 439. 340 | Vgl. hier und im Folgenden: Ebd., S. 439ff. 341 | Eine offizielle Formulierung dieses Selbstverständnisses findet sich bei Kurt Hager, der sich hier zum Verhältnis von Politik und Gesellschaftswissenschaften im Zusammenhang mit dem Zentralen Plan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften für den Zeitraum 1986-1990 äußert: HAGER, Kurt: Wissenschaft und Wissenschaftspolitik im Sozialismus. Vorträge 1972-1987, Berlin (Ost), S. 183ff.
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pen Ressourcen und Möglichkeiten füreinander bereithielten.342 Was die Partei von der Wissenschaft an ›Bringdiensten‹ erwartete, lässt sich exemplarisch dem Programm der SED aus dem Jahre 1976 entnehmen: Die Wissenschaft leistet einen ständig wachsenden Beitrag zur planmäßigen Vervollkommnung der Produktion und zur Entwicklung des materiellen und geistigkulturellen Lebens aller Werktätigen. Sie fördert den Wohlstand, die Gesundheit und die geistigen Bedürfnisse der Menschen im Sozialismus. 343
Hier findet sich ein Grundsatz formuliert, der außer- und innerhalb der Wissenschaften weithin akzeptiert war: Die Wissenschaft hatte Leistungen für Gesellschaft und Staat in der DDR zu erbringen; ihre Fragestellungen und Ergebnisse mussten sich deshalb an der sozialistischen Funktionsbestimmung orientieren. Für die verschiedenen Disziplinen zeitigte dieser Grundsatz unterschiedliche Konsequenzen, was sich am deutlichsten an einer Gegenüberstellung von Natur- und Gesellschaftswissenschaften zeigt. Während die Zielvorgaben für erstere en gros »wie international üblich«344 bestimmt wurden, verlangte man von letzteren offen und offiziell ›Parteilichkeit‹. Sie waren ein Mittel im Einsatz für die als gesetzmäßig unterstellte Entwicklung des Sozialismus und im Kampf gegen den ›Klassengegner‹. Daraus wurde schließlich eine Form von ›Leistungsbezug‹, die nach dem marxistisch-leninistischen Selbstverständnis mit seinen identitätsphilosophischen Voraussetzungen dem Grundsatz von ›Objektivität‹ nicht widersprach. Insbesondere in den Geschichtswissenschaften, aber auch in den übrigen Gesellschaftswissenschaften345 konnte dies jedoch 342 | ASH, Mitchell G.: Wissenschaft und Politik als Ressourcen für einander. In: Wissenschaften und Wissenschaftspolitik – Bestandsaufnahmen zu Formationen, Brüchen und Kontinuitäten im Deutschland des 20. Jahrhunderts, hg. v. Rüdiger vom Bruch, Stuttgart 2002, S. 32-51. 343 | Programm der Sozialistischen Deutschen Einheitspartei, 1976, Berlin (Ost), S. 61. 344 | Vgl. BIELKA, Heinz/HOHLFELD, Rainer: Biomedizin. In: Wissenschaft und Wiedervereinigung, S. 79-142, hier S. 108; vgl. im gleichen Band: KOCH, Helmut: Mathematik, S. 143-174. 345 | Vgl. zu den einzelnen Disziplinen den Band von KOCKA/MAYNTZ, Wissenschaft und Wiedervereinigung.
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zur Einschränkung international üblicher Überprüfungsverfahren, zur Tabuisierung bestimmter Fragestellungen und zu bipolar verkürzenden Deutungsmustern im Sinne des ›Freund-Feind-Denkens‹ führen.346 Es gab also Tabus in der Wissenschaft, gezielte politische Interventionen347, offene Maßregelung oder Entfernung einzelner Wissenschaftler als Folge individueller Konflikte mit politischem Gehalt – wobei nicht verschwiegen werden soll, dass dem auch in den Geschichtswissenschaften international anerkannte Leistungen gegenüberstehen.348 Zum Zeitpunkt der Niederschrift der Autobiographien freilich kursierte überwiegend die These von der insgesamt diktatorisch durchherrschten Gesellschaft der DDR, die auch den Bereich der Wissenschaft betraf. Die empirische Forschung differenzierte sie in den 1990er Jahren in doppelter Weise: Zum einen wurde die Diskrepanz zwischen dem propagierten Ziel und der Wirklichkeit des Herrschaftsanspruches der SED-Diktatur hervorgehoben. Zum anderen verwies man vermehrt auf die Grenzen der diktatorischen Durchherrschung der Gesellschaft, die sich aus der Komplexität moderner Gesellschaften, ihren Funktionsimperativen, der Einbindung in internationale und systemübergreifende Zusammenhänge und Entwicklungen, dem Fortleben älterer Traditionen und dem »Eigen-
346 | Vgl. hierzu ausführlich: BERTHOLD, Werner/LOZEK, Gerhard/Meier, Helmut/SCHMIDT, Walter: Kritik der bürgerlichen Geschichtsschreibung. Handbuch, Köln 1971, S. 1-19; KOSELLECK, Reinhart (Hg.): Objektivität und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft. München 1977; SABROW, Martin: Geschichte als Herrschaftsdiskurs – Der Fall Günter Paulus. In: Berliner Debatte Initial, Nr. 4/5, S. 51-67; SABROW, Martin: Parteiliches Wissenschaftsideal und historische Forschungspraxis. Überlegungen zum Akademie-Institut für Geschichte (19561989), in: Historische Forschung und sozialistische Diktatur: Beiträge zur Geschichtswissenschaft der DDR, hg. v. Martin Sabrow und Thomas Walther, Leipzig 1995, S. 195-225; SABROW, Martin: Das Diktat des Konsenses: Geschichtswissenschaft in der DDR 1949-1969. München 2001; SABROW, Martin: »Beherrschte Normalwissenschaft«. Überlegungen zum Charakter der DDR-Historiographie, in: Gesch. und Gesellsch. 3/1998, S. 412-445. 347 | Vgl. MAYNTZ, Renate: Die Folgen der Politik für die Wissenschaft in der DDR. In: Wissenschaft und Wiedervereinigung, S. 463. 348 | Vgl. FISCHER, Wolfram/ZSCHALER, Frank: Wirtschafts- und Sozialgeschichte. In: Wissenschaft und Wiedervereinigung, S. 392ff.
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sinn« der Menschen ergaben.349 Dabei handelt es sich jedoch um Differenzierungen, die im öffentlichen Diskurs zu diesem Zeitpunkt wenig Beachtung fanden. Die sogenannte Abwicklung ist zum Zeitpunkt der Niederschrift abgeschlossen. In ihrem Zusammenhang wurden bis Dezember 1991 alle außeruniversitären staatlichen Forschungsinstitutionen350 aufgelöst, und auch für viele Forscher an den Universitäten bedeutete sie das Ende ihrer Karriere – insgesamt hat mehr als die Hälfte der DDR-Forscher infolge der Evaluation von 1991 bis 1993 ihre Arbeit verloren.351 Auch im Berufsleben der hiesigen Protagonisten haben die Ereignisse von 1989/90 tiefe Spuren hinterlassen. Klein und Jacobeit gingen noch vor der Wende planmäßig in Rente; Mittenzwei wurde nach negativer Evaluation noch ein halbes Jahr weiterbeschäftigt, bis auch er das Rentenalter erreicht hatte;352 349 | KOCKA, Wissenschaft und Politik, S. 435f.; überblickend zu der Debatte über diese Grenzen der diktatorischen Durchdringung: LINDENBERGER, Thomas: In den Grenzen der Diktatur. Die DDR als Gegenstand der »Gesellschaftsgeschichte«, in: Bilanz und Perspektiven der DDR-Forschung, hg. v. Rainer Eppelmann, Bernd Faulenbach u. Ulrich Mählert, Paderborn 2003, S. 239-245. 350 | Mit einem Anteil von 24 Prozent war die außeruniversitäre Forschung in der DDR doppelt so groß wie im Westen und in den zentral gesteuerten Forschungskombinaten ihrer drei Akademien konzentriert: der Bauakademie, der Landwirtschaftsakademie und vor allem der Akademie der Wissenschaften (AdW) mit ihren an die sechzig Instituten und zuletzt etwa 24.000 Mitarbeitern. Vgl. MESKE, Werner: Forschung und Entwicklung in der Wirtschaft der DDR. Situationsanalyse im Juli/ August 1990 und Beschreibung möglicher Veränderungen, Berlin Oktober 1990; sowie DERS.: Die Umgestaltung des ostdeutschen Forschungssystems – eine Zwischenbilanz. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Berlin 1993, 38 S. 351 | Rechtliche Grundlage bildete der Artikel 38 des »Vertrages zwischen der BRD und der DDR über die Herstellung der Einheit Deutschlands«, nach dem »Wissenschaft und Forschung […] auch im vereinten Deutschland wichtige Grundlagen für Staat und Gesellschaft [bilden]. Der notwendigen Erneuerung von Wissenschaft und Forschung unter Erhaltung leistungsfähiger Einrichtungen […] dient eine Begutachtung von öffentlich getragenen Einrichtungen durch den Wissenschaftsrat«. Vgl. www.gesetze-im-internet.de/einigvtr/art_38.html [letzter Zugriff 07/2013]. 352 | Mittenzwei verlor seine Stelle auch im Zuge der Abwicklung, da dies aber ein halbes Jahr vor seinem Rentenantritt geschah, verblieb er diese Zeit noch in den Reststrukturen der AdW; vgl. hierzu: WOLF, Hans-Georg: Organisationsschick-
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Hörz, Mehls und Pätzold dagegen wurden im Zuge der Abwicklung entlassen. Wenngleich die Abwicklung im Laufe der 1990er Jahre auch im Westen kritisch diskutiert wurde, blieben die meisten DDR-Wissenschaftler – vor allem aus dem Bereich der Gesellschaftswissenschaften – vom akademischen Betrieb weitgehend ausgeschlossen. Folgerichtig konzentrieren sich die Erinnerungstexte auf drei Themenkomplexe, zu denen sie eine alternative Erzählung anbieten: Die eigene wissenschaftliche Leistung, das System, in dem sie diese erbrachten und die Abwicklung dieses Systems. Diesen drei Themen nähern sich die Autoren mit unterschiedlichen Erzählstrategien, mit denen sie sich an einer Demontage des öffentlichen Bildes der DDR-Wissenschaften versuchen: In einem ersten Schritt bewerten sie die Repression und Lenkung, die im Wissenschaftsbereich geherrscht haben soll, um dann ihre eigene Arbeit innerhalb des Systems darzustellen. Schließlich wenden sie sich der Abwicklung und damit dem, was sie als konkreteste Ablehnung ihrer Lebensleistung empfinden, zu.
Die Erzählung von der Normalität Alle Erinnerungstexte gehen auf die unterstellte politische Lenkung der DDR-Gesellschaftswissenschaften ein, allerdings in unterschiedlichem Ausmaß. Dabei korreliert die Ausführlichkeit, mit der sie sich zu den Vorwürfen verhalten, damit, wie sehr sie selbst im Zuge der Abwicklung in Frage gestellt wurden. Kurt Pätzold war in den Jahren 1968, 1971/72 und 1976 an der politisch motivierten Relegation von Studenten der Sektion Geschichte an der HUB beteiligt und geriet dadurch nach 1989 sehr stark in öffentliche Kritik.353 Diese Angriffe haben in seinen Augen nur Bestand, »wenn ein paar Tatsachen unter den Teppich gekehrt werden.«354 Pätzold entwirft ein Bild, in dem die Hinauswürfe aus den Universitäten zur »Kapitulation«355 eines Lehrers werden, der mit den störrischen Schüler nicht weiter weiß: Da »die Basis für eine Zusammenarbeit« fehlte und »auf beiden Seiten sale im deutschen Vereinigungsprozeß. Die Entwicklungswege der Institute der Akademie der Wissenschaften der DDR (=Schriften des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung Köln, Band 27), Frankfurt a.M. 1996, S. 49. 353 | Vgl. Kurzvorstellung der Protagonisten (Einleitung). 354 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 185. 355 | Ebd., S. 188.
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Aversionen dominierten«, habe es keine andere Möglichkeit gegeben, ihnen den richtigen Weg zu weisen:356 »Erst eigene Erfahrungen machen Menschen bereit, zuzuhören, zumal, wenn die ihnen übermittelten Botschaften nicht froh sind.«357 Er reduziert die Repression auf einen »Konflikt« zwischen Lehrer und Schüler und beschränkt die Motivation dafür auf den Wunsch, jungen Menschen, die den »politischen Anforderungen nicht genügen«, rechtzeitig einen anderen Weg aufzuzeigen.358 Die heutige Bewertung solcher Geschehnisse »als Beweis für Diktatur und Unrechtsstaat«, als »Zeugnisse der Kaltherzigkeit eines ›Systems‹ und seiner Funktionäre im Umgang mit jungen und suchenden Menschen«, entspräche nicht den »Tatsachen«, zumal, wie Pätzold später en passant erwähnt, einer dieser Studenten »inzwischen an der Akademie Karriere gemacht« habe.359 Hörz, der sich an der politischen Maßregelung eines Kollegen beteiligte, wählt das gleiche Erklärungsmuster.360 Auch bei den Vorwürfen, die gegen ihn erhoben werden, seien »Tatsachen nicht berücksichtigt«, nicht »Argument gegen Argument geprüft« worden; vielmehr hätten »Diffamierungen an der Stelle von prüf baren Nachweisen« gestanden.361 Grundsätzlich weist er darauf hin, dass die »politische Rehabilitierung keine Aussage über den Inhalt des philosophischen Streits« sei.362 Anders ausgedrückt: Sein ehemaliger Gegner wurde nach 1989 zwar rehabilitiert, gleichwohl hatte Hörz, was den wissenschaftlichen Gehalt der Auseinandersetzung betrifft, aus seiner Sicht recht – womit er vor allem betont, dass es um Wissenschaft und nicht um Politik gegangen sei und er ausschließlich um der Erhaltung wissenschaftlicher Standards willen mit ›harten Bandagen‹ gekämpft habe: »Da bleibe ich bei meiner Auffassung, dass die Konzeption von R. zu argumentativ nicht vertretbaren Problemreduktionen im Verhältnis von Philosophie und Naturwissenschaften führt.«363 Angriffe gegen ihn bringt er in Verbindung mit »schwarzen 356 | Ebd., S. 187. 357 | Ebd., S. 188. 358 | Ebd., S. 186. 359 | Ebd., S. 256. 360 | Vgl. Kurzvorstellung der Protagonisten/Einleitung. 361 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 355. 362 | Ebd., S. 356. 363 | Ebd., S. 357.
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oder gar braunen Seilschaften«, die gegen ihn hetzten, »unterstützt durch einige ehemalige DDR-Kollegen.«364 Dass es, wie Hörz es nennt, durchaus »politische Regelungen wissenschaftlicher Fragen«365 gab, wird in keinem der Texte negiert. Die heutige Qualifizierung der Gesellschaftswissenschaften, insbesondere der Geschichtswissenschaft als »›Herrschaftswissenschaft‹«366, »bisweilen auch Verurteilung der DDR-Geschichtswissenschaft als einer der SED hörigen Disziplin«367 halten alle Autobiographen jedoch für vereinfachend, die angeklagten Sachverhalte seien undifferenziert dargestellt oder entsprächen nicht der Wahrheit: »Es gehörte zu den honorierten Wendelügen, daß einer meiner Berliner Kollegen in einem Zeitungsinterview erklärte, er habe, was er Studenten vortrug, vorab zur Prüfung vorlegen müssen.«368 Zum Vorwurf der Zensur äußert sich auch Pätzold, der zwar eine »vielfach vorauseilende Selbstzensur« konstatiert, allerdings betont, dass man sich ihr immer durch Nichtpublikation habe entziehen können: »Dennoch stand jedem Autor frei, sich einem Vorschlag zur Textänderung zu widersetzen und darauf zu verzichten, daß seine Ausarbeitung zum Druck gelangte.«369 Für einen Wissenschaftler, der im üblichen Verständnis doch gerade von der öffentlichen Auseinandersetzung um Argumente lebt, ist dieser Hinweis auf die ungebrochene Möglichkeit, einfach zu schweigen, eine recht überraschende Apologie. Jacobeit wählt ebenfalls eine relativierende Erzählung, die bestimmte Praktiken zum ganz normalen Wissenschaftsalltag macht: Daß Steinitz als Institutsdirektor kein Manuskript zum Verlag gehen ließ, das er zuvor nicht selbst gelesen und mit der Autorin/dem Autor über strittige Fragen diskutiert hätte, war für alle eine Selbstverständlichkeit, die nichts mit Eingriffen in die persönliche Freiheit, wie heute gern argumentiert wird, zu tun hatte. 370
364 | Ebd., S. 29. 365 | Ebd., S. 356. 366 | MEHLS, Unzumutbar, S. 331. 367 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 292. 368 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 246. 369 | Ebd., S. 196. 370 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 90.
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Hier findet sich ein bekanntes Argumentationsmuster, das zur Normalisierungsstrategie gehört: Der Systemvergleich und damit verbunden die Frage, ob die Kontrolle der Wissenschaft in der DDR tatsächlich ein besonderes Ausmaß annahm. Noch deutlicher wird es bei Hörz, der »politisch-ideologische Rahmenbedingungen in allen Ländern und sozialen Systemen« ausmacht und deshalb an der DDR-Wissenschaftspraxis nichts Auffallendes finden kann: Die Wissenschaft ist von der Förderung durch die Gesellschaft abhängig. Gelingt es deshalb, mit den Argumenten des Zeitgeistes [Hervorhebung CL], mehr finanzielle, personelle und ideologische Hilfe durch Politiker zu erreichen, so ist es, im Interesse der Wissenschaftsentwicklung wichtig, das auszunutzen. 371
Aus staatlich kontrollierter Forschung werden nach Hörz »Ergebenheitsadressen an die Obrigkeit«, die mit »großzügiger Förderung« vergolten worden seien, was es so in der Geschichte der Wissenschaft »immer gegeben« hätte.372 Pätzold spricht in diesem Zusammenhang vom »wissenschaftlichen Kader der BRD«373 und von der nur angeblichen »Freiheit wissenschaftlicher Lehre«, bei der »Politiker und deren Beauftragte« dennoch dafür sorgten, dass »westdeutsche Fakultäten marxistenfrei blieben«.374 Gleichwohl gestehen alle Erinnerungstexte ein gewisses Maß an Unfreiheit der Wissenschaft ein, das einzig bei Pätzold nicht negativ besetzt wird: Hörz spricht gar von »Repression«375, Jacobeit von »angeordneten Maßregelungen«376, Mittenzwei von »staatlichen Dirigismus«377 und Klein von einer »Geschichtswissenschaft, die […] in hohem Maße als Funktion der allgemeinen Politik betrieben worden war.«378 Hier zeigt sich auch die Routine, mit der man in der Vergangenheit gelernt hatte, durch maßvolle
371 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 438. 372 | Ebd., S. 436. 373 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 188. 374 | Ebd., S. 256. 375 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 355. 376 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 292. 377 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 297. 378 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 317.
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Selbstbezichtigung Schaden von sich abzuwenden.379 Eingerahmt werden diese ›Bekenntnisse‹ von einem anderen Erzählmuster, das sie teilweise wieder zurücknimmt oder jedenfalls in ihrer Bedeutung einschränkt: die Darstellung der persönlichen Freiräume der eigenen wissenschaftlichen Arbeiten.
»Und dennoch!« – Die Erzählung von der geschützten Zone Das Eingeständnis einer politisch kontrollierten und gemaßregelten Wissenschaft geht einher mit der Erzählung von der Selbstbehauptung in diesem System, von der Bewahrung eigener Handlungsmöglichkeiten, von einem Gestus des »und dennoch«.380 Die nach 1989/90 öffentliche Infragestellung der wissenschaftlichen Leistungen, die in der DDR erbracht wurden, wird von den Autoren bei gleichzeitigem Zugeständnis gewisser Unfreiheiten vehement zurückgewiesen, bildet ihre Professionalität doch den roten Faden in der Identitätskonstruktion:381 »Ich lebte in der DDR als Wissenschaftler und Vertreter einer Disziplin.«382 Um diesen roten Faden nicht zu gefährden, findet sich in allen Erinnerungen die Erzählung von der geschützten Zone – die Geschichte kommt in ganz existentieller Hinsicht zum Einsatz. So beklagt Jacobeit als »Desiderata« in der Auseinandersetzung mit der DDR, es müsse stärker anerkannt werden, wie sehr sie [die Wissenschaftler, CL] unter den angeordneten Maßregelungen zu leiden hatten, zu konspirativem Verhalten für den Schutz der eigenen Person und der Angehörigen gezwungen waren, den Kreis verläßlicher Vertrauter recht eng ziehen mußten und dennoch ihrer [sic!] Wissenschaft lebten, sie entwickelten und internationale Anerkennung erfuhren. 383
Um dies zu unterstreichen, zieht er eine Rezension der Autobiographie Fritz Kleins heran, in der betont wird, »was unter schwierigsten Bedin379 | Vgl. hierzu: STOLLEIS, Michael: Sozialistische Gesetzlichkeit. Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in der DDR, München 2009, S. 163. 380 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 292; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 334; MITTENZWEI, Zwielicht, S. 472; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 254f. 381 | Vgl. Kap. II/5. 382 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 266. 383 | Ebd., S. 292.
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gungen dennoch in einzelnen Bereichen der Forschung geleistet wurde.«384 Auch Mehls spricht von »einem Regime engstirniger Bevormundung und totaler Entmündigung«, das für die »Sektion Geschichte« aber vermieden werden konnte, woran er sich einen »bescheidenen Anteil« zurechnet.385 Hier habe »uneingeschränkte Eigenverantwortlichkeit« gegolten, so dass in »nicht einem einzigen Falle durch den Sektionsdirektor oder die Parteileitung irgendeine Art von ›Zensur‹ ausgeübt worden« sei.386 Nach Pätzold sind im Ergebnis »Leistungen von internationalem Rang – und das auch in der Geschichtswissenschaft«387 – vollbracht worden. Mehls’ Wunsch, in dem er sich mit »der gewählten Leitung der Parteiorganisation« einig gewesen sei, war die Schaffung »einer Atmosphäre möglichst schöpferischer und fruchtbarer wissenschaftlicher Arbeit«, die »ein Regime kleinlichen Administrierens oder der kontrollierenden Zensur von Arbeitsergebnissen« ausgeschlossen hätte.388 Ermöglicht habe dies eine »Verkettung glücklicher Zufälle«389, auf die er aber nicht näher eingeht. Auch Hörz erzählt die Geschichte einer geschützten Zone, die er »im eigenen Einflussbereich« habe durchsetzen können und zu der seine »Überzeugungen von wissenschaftlicher Arbeit, von Toleranz und humanem Verhalten« beigetragen hätten.390 In seinem Bereich habe eine »gewisse Narrenfreiheit« geherrscht, die er auch darauf zurückführt, dass das System »die geförderte seriöse wissenschaftliche Arbeit« als »Alibi« genutzt habe.391 Mittenzwei erzählt ebenfalls von den Möglichkeiten, trotz »Dirigismus« die eigene »Sicht auf Literatur zum Ausdruck« gebracht zu haben – und auch wo sie möglicherweise gelenkt worden sei, dürfe sie nicht ignoriert werden, denn »jede Generation hat das Recht auf Irrtum.«392 Hörz sieht zwar »Prozesse der Disziplinierung und Selbstdisziplinierung«, denen er aber »Hoffnungen auf eine schöpferische Entwicklung der Philo384 | Ebd., S. 293. 385 | MEHLS, Unzumutbar, S. 237. 386 | Ebd., S. 238. 387 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 266. 388 | MEHLS, Unzumutbar, S. 251. 389 | Ebd., S. 253. 390 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 15. 391 | MEHLS, Unzumutbar, S. 493. 392 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 297.
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sophie« gegenüberstellt, »die wir mit eigenen Forschungen erfüllten«.393 Wo die Verbindung beider Seiten narrativ schwer zu bewältigen ist, benennt er diese Diskrepanz und erhebt sie ihrerseits zum wissenschaftlichen Problem: »So sind die zu schildernden Erfahrungen mit der DDR, die ich als Wissenschaftsphilosoph und politisch tätiger Mensch machte, dialektisch-widersprüchlicher Natur. Ich sah einerseits die Vorzüge und musste mich andererseits mit den Nachteilen auseinandersetzen.«394 Die Menschen aber, die heute die repressive Seite des Systems beklagten und sich als ihre Opfer sähen, hätten oft nur »weniger gearbeitet und mehr das politische Engagement für oder gegen die DDR als Alibi für fehlende Leistungen«395 genutzt.396 Damit werden die Opfer der Repression nicht nur schlichte »Arbeitsverweigerer« – womit Hörz auf eine strafrechtliche Kategorie des DDR-Rechts Bezug nimmt;397 mit der lapidaren Gleichstellung von »politischem Engagement für oder gegen die DDR« suggeriert 393 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 269. 394 | Ebd., S. 12. 395 | Ebd., S. 490. 396 | An anderer Stelle heißt es bei Hörz: »Selbstverständlich kann man sich dabei auf denunziatorische Aussagen von denjenigen stützen, die denken, vorher zu kurz gekommen zu sein« (HÖRZ, Lebenswenden, S. 346). 397 | Die Steigerung der Arbeitsproduktivität war eine ständige Forderung in der DDR. Zahlreiche Disziplinierungsmittel sollten eine hohe Arbeitsproduktivität garantieren. »Arbeitsbummelei« und »Arbeitsscheu« trafen die »Arbeitsgesellschaft« DDR im Kern ihres Selbstverständnisses, legitimierte sich der sozialistische Staat doch zu einem großen Teil über Arbeit. Folgerichtig beschäftigte sich auch das Oberste Gericht der DDR mit diesem Bereich: »Notorische Arbeitsbummelanten, arbeitsscheue Spekulanten, Prostituierte und andere parasitäre Elemente, die sich auf unlautere Weise Mittel zum Unterhalt verschaffen, […] wirken destruktiv auf wesentliche Grundlagen des gesellschaftlichen Zusammenlebens«, da sie die » Gefahr der Herausbildung asozialer Verhaltensweisen bei anderen Personen« beinhalten. Vgl. Beschluss des Präsidiums des Obersten Gerichts zur Anwendung des § 249 StGB vom 7.1. 1971, in: Neue Justiz, H.3/1971, Beilage. Vgl. ausführlich zu diesem Thema: KORZILIUS, Sven: »Asoziale« und »Parasiten« im Recht der SBZ/DDR. Randgruppen im Sozialismus zwischen Repression und Ausgrenzung (=Arbeiten zur Geschichte des Rechts der DDR; Bd. 4), Köln 2005, v.a. S. 305ff; ZIMMERMANN, Verena: Den neuen Menschen schaffen. Köln 2004. Vgl. zur »Arbeitsgesellschaft DDR«: KOHLI, Martin: Die DDR als Arbeitsgesellschaft?
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Hörz zudem, dass Konformität/Affirmation und Opposition alltägliche, gleichermaßen mögliche und anerkannte Erscheinungsformen der politischen Betätigung waren. Er selbst habe mit diesem Bereich nichts zu tun gehabt und weist den vorweggenommenen Vorwurf, mit seiner Arbeit »das Unrecht in der DDR gestützt« zu haben, von sich: Philosophie orientiere sich »auf Ideale«, wohingegen »Politik Machtkonstellationen betrifft.«398 Auch Klein geht einen narrativen Spagat ein: Es ist ihm einerseits wichtig, die »Wahrheit solcher Kritik [an der gelenkten Wissenschaft, CL] hervorzuheben«, andererseits möchte er betonen, dass es nicht die »ganze Wahrheit« sei.399 Er spricht unverstellt vom »starken politischen Druck zur Ausrichtung der Geschichtswissenschaft auf die Ziele der Parteiführung der SED«, von der »Amputation des Marxismus im dogmatischen Surrogat des parteioffiziellen ›Marxismus-Leninismus‹« und beharrt gleichzeitig darauf, Historiker hätten »auf vielen Gebieten Leistungen vorgelegt, die sich sehen lassen konnten.«400 Die Ergebnisse sprächen demnach für sich, und so sieht auch Pätzold seine wissenschaftliche »Arbeitskraft« als »Waffe« gegen diejenigen, »die uns fortgesetzt erklärten, wie wir gelebt und worin wir gefehlt hatten«, und versuchten, »uns aus der Wissenschaft zu drängen«.401
Die Erzählung von der frei schwebenden Wissenschaft Ein weiteres Narrativ, das die Vorstellung einer geschützten Zone stützt, ist dasjenige von der unabhängigen Wissenschaft, die im Kern abgekoppelt von jedwedem System existiert. Auch diese Erzählung zeigt in besonderem Maße, was Karlsson den »existentiellen Gebrauch von Geschichte« nennt: Wissenschaft als Wahrheitssuche wird zum Richtungsweiser in Arbeit, Lebenslauf und soziale Differenzierung, in: Sozialgeschichte der DDR, hg. v. Hartmut Kälble, Hartmut Zwahr u. Jürgen Kocka, Stuttgart 1994, S. 31-61. 398 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 488. Und später noch einmal: »Sie orientiert auf Ideale und hat keine direkte machtzerstörende oder machtstabilisierende Auswirkung« (ebd., S. 346). 399 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 346. 400 | Ebd.; Michael Stolleis sieht bei Fritz Klein sich »bestürzend rasch ändernde Argumentationsmuster«, begründet in einer Vermischung von »Idealismus und Aufbauwille, politischem Druck und allgegenwärtiger Propagandasprache, Sorge um Familie und Karriere«. Vgl. STOLLEIS, Sozialistische Gesetzlichkeit, S. 167. 401 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 258.
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den Erinnerungen, ermöglicht Kontinuität in turbulenten Zeiten und bewahrt das Ich in seinem tiefsten Innern vor den lebensweltlichen Friktionen und Brüchen, denen es an der Oberfläche ausgesetzt ist. So spricht Mittenzwei mit Verweis auf Bourdieu vom ganz grundsätzlichen und unlösbaren »Dilemma des engagierten Intellektuellen«402, der einer Sache dienen möchte, ohne in Dienst genommen zu werden, und gleichzeitig nur seiner Wissenschaft verpflichtet bleiben will. Auch Hörz sieht sich »allein der Wissenschaft und der Aufklärung über ihre Erkenntnisse in der Öffentlichkeit verpflichtet.«403 Dieser Anspruch ist der basso continuo in seinen Erinnerungen404 und dient stets als Antwort auf den antizipierten Vorwurf, dem System gedient zu haben: »Wer einmal von der Wissenschaft ergriffen ist, den lässt sie nicht mehr los. Es ist wie eine Sucht. Man ist ihr verfallen und sucht, trotz vieler Hindernisse, die einen fast verzweifeln lassen, weiter nach neuen Einsichten.« 405 So zeigt er seine Überlegenheit im Bezug auf die abwickelnde Evaluierungskommission, die herausfinden möchte, was »wahr und falsch sei«, auch mithilfe seiner wissenschaftlichen Expertise: Ich machte ihn [den Vorsitzenden der Kommission, CL] zu Beginn darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung der Kommission eine Fehlleistung sei, denn wie könne sie über meine Integrität urteilen. Dazu wären wohl kaum Kolleginnen und Kollegen aus der alten BRD und Kritiker der DDR in der Lage, denn es bedürfe doch bei Urteilen über die Integrität einer Person der Kenntnis aller der Rahmenbedingungen, unter denen gehandelt wurde, der Erfahrungen mit ihrem Tun und der Einschätzung dessen, was sie geleistet hat. […] Meinen kurzen Darlegungen zu komplexen Wahrheiten und zur Dialektik der Erkenntnis, die eine solche Dichotomie des Verhaltens eines Menschen nicht zulässt, konnte er nichts hinzufügen. 406
Nach Ansicht der Protagonisten bestehen Hindernisse, wie sie der DDRWissenschaft nun zum Vorwurf gemacht werden, in jedem System, sei es 402 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 491. 403 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 506. 404 | »Wissenschaft als Wahrheitssuche« (ebd., S. 499); »Wissenschaft sucht Wahrheit« (ebd., S. 531); »Fehlender Zweifel ist der Tod von Wissenschaft und gesellschaftskritischer Philosophie« (ebd., S. 520). 405 | Ebd., S. 516. 406 | Ebd., S. 487.
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nun die DDR, die BRD oder ein drittes Land. Weil aber staatliche Strukturen wissenschaftlicher Arbeit eben grundsätzlich nicht förderlich seien, könne man daraus für die DDR im speziellen auch keinen Vorwurf ableiten – Mittenzwei etwa gibt deshalb auch den »Glauben an die Gerechtigkeit, die Liebe zur Wissenschaft und die Hoffnung auf Unterstützung nicht auf.«407 Ähnlich sieht auch Klein den Historiker hilflos den Umständen ausgeliefert, auch wenn er natürlich trotzdem verzweifelt versuche, die Welt zu einer besseren zu machen: Viel ist es nicht, was Historiker tun können, ihr [der Mahnung, die Welt zu verändern, CL] zu folgen. So zeigt es unsere Erfahrung – und nicht nur unsere. Das wenige aber, das möglich ist, aufzuspüren und nach besten Kräften zu nutzen, wird immer, so hoffe ich, auch künftighin versucht werden. 408
Dieser melancholische Unterton erklingt auch bei Jacobeit, der sich auf die »Apologie der Geschichtswissenschaft oder Der Beruf des Historikers« von Marc Bloch bezieht, wenn er ein Diktum für seine Vergangenheit wie auch seine Gegenwart formuliert: [E]in Wort ist es, das all unsere Studien leitet und erhellt: ›verstehen‹. Das Wort ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden, berechtigt aber auch zu großen Hoffnungen. Vor allem ist es ein Wort voller Freundschaft. Wir urteilen viel zu viel, selbst in unserem Handeln. Es ist so einfach, ›an den Pranger!‹ zu rufen. Wir verstehen niemals genug. 409
In diesem Muster zeigt sich einmal mehr eine grundsätzliche Besonderheit von Wissenschaftlerautobiographien, die in ihrem fachlich kontrollierten Wahrheitsanspruch besteht. Die Texte postulieren immer wieder, bestimmte Sachverhalte »richtiger«, »wahrhaftiger« zu erinnern als nichtwissenschaftliche Zeitzeugen, da die professionelle Auseinandersetzung mit der Vergangenheit vor Fehlern schütze. Das erklärt auch ein weiteres Spezifikum dieser Quellen: Die Tendenz zur empirischen Absicherung. Offenbar nehmen die Autobiographen ihr Erinnerungsprojekt in gleicher Weise in Angriff wie ihre wissenschaft407 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 505. 408 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 365. 409 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 292.
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lichen Publikationen und fühlen sich damit vor Ungenauigkeiten oder gar zweifelhaften Erinnerungen gefeit. Sie unterstreichen allesamt deutlich und wiederholt die Transparenz ihrer Aussagen,410 verweisen auf ihre nachvollziehbaren und reinen Quellenbelege,411 schreiben fußnotenaffin und zitieren nicht nur zeitgenössische bzw. frühere Aufzeichnungen,412 sondern auch Gespräche und sogar Tagebücher413. Häufig fügen sie zudem ganze Quellenapparate, Register und dokumentarische Anhänge an.414 Das ließe gemäß Karlsson auf eine reine Form des professionell-wissenschaftlichen Gebrauchs von Geschichte schließen, wiese diese empi410 | Beispielhaft: Ebd., S. 10; MEHLS, Unzumutbar, S. 19. 411 | »Eines aber habe ich doch aus meiner umfänglichen Memoiren-Lektüre gelernt und will das beherzigen: Das Schreiben einer Autobiographie beansprucht vor allem für den der Wissenschaft ein Leben lang ergebenen Verfasser die Benutzung eines entsprechenden, ihm gewohnten ›Apparats‹, einer Quellensammlung. Die steht ihm mit seinen Schriften, seiner wissenschaftlichen, persönlichen und amtlichen Korrespondenz meist zur Verfügung. Wenn er diese im Hinblick auf das spätere Schreiben seiner Erinnerungen nicht schon geordnet hat, steht ihm diese Arbeit mit als erster Schritt für sein Anliegen noch bevor; abgesehen davon, daß er sich der sein Leben begleitenden Zeitläufte an Hand mehr oder weniger aufwendiger Literaturrecherchen bewußt werden sollte, um sich und sein Tun in den jeweiligen historischen Rahmen zu stellen, es adäquat einzuschätzen. Aus diesen Zusammenhängen erst ergibt sich auch der Titel, das Motto, für sein autobiographisches Unterfangen – und Wagnis« (JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 11). 412 | Ebd., S. 138, S. 245; MEHLS, Unzumutbar, S. 360, S. 362; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 332, S. 361; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 61, S. 445; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 198, S. 228; HÖRZ, Lebenswenden, S. 295, S. 392, S. 490. 413 | Vor allem Mehls zitiert seitenweise aus seinen »Aufzeichnungen«, die sogar im Klappentext als Ausweis von Authentizität herangezogen werden: »Der Autor geht, gestützt auf über Jahrzehnte geführte Aufzeichnungen, der Frage nach, wie dieses so be(ver)urteilte Leben wirklich war.« 414 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 314f.; MEHLS, Unzumutbar, S. 359f.; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 295ff.; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 369ff.; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 492ff.; HÖRZ, Lebenswenden, S. 559ff. Vgl. zu diesem Phänomen: SABROW, Der Historiker als Zeitzeuge; LAHUSEN, Umbrucherzählungen.
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rische Absicherung nicht eine weitere Besonderheit auf: Die Quellen, auf die die Protagonisten sich beziehen, bestehen zum absoluten Großteil aus ihren ureigenen, privaten Erinnerungen. Sie werden zur Wissenschaft geadelt, weil sie von Wissenschaftlern stammen. Es handelt sich letztlich um Verweise auf die Lebensgeschichte, die aber mit professionell-wissenschaftlicher Rhetorik dargelegt werden. Der Authentifizierungsdrang und der Glaube an Authentifizierungsmöglichkeiten, die hier zum Ausdruck kommen, verdichten sich in den Texten gerade am neuralgischen Punkt der Frage nach dem Wert ihrer wissenschaftlichen Arbeit, also einer Frage, die direkt auf ihr Selbstverständnis zielt, damit auch »unbändige Wut« und »Empörung«415 auslöst und deren Beantwortung besonderer Absicherung bedarf: Exemplarisch spricht Hörz von diffamierenden Angriffen auf die Wissenschaft, die »den historisch nachweisbaren Verhaltensweisen und den überprüf baren Leistungen« entgegenstünden und lässt dem einen langen Exkurs über seine wissenschaftliche Arbeitsweise folgen.416 Diese Besonderheit unterstreicht, wie sehr die Autoren sich als Wissenschaftler verstehen und wie sehr folglich die öffentliche Infragestellung dessen, was sie als gelungenes Lebenswerk empfinden, auf ihre Identität zielt. Am sicht- und spürbarsten wird diese Nichtanerkennung am Verlust des Arbeitsplatzes oder der Schließung ganzer Institute und Akademien: der ›Abwicklung‹. Die Autoren sind überzeugt, Forschung geleistet zu haben und halten diese Forschung unverändert für bestandskräftig – das System, in dem sie entstand, war zwar nicht makellos, aber auch nicht schlechter als andere. Ihre Erzählung von der Abwicklung ist demnach die Geschichte von »Siegerjustiz« aus Sicht der Besiegten – die Geschichte einer einzigen Ungerechtigkeit und damit das, was in der Karlssonschen Differenzierung der »moralische Gebrauch von Geschichte« genannt wird.
415 | MEHLS, Unzumutbar, S. 7. 416 | »Wissenschaftliche Disziplinen sind durch die Existenz eines Forschungsobjekts, eines Komplexes allgemeiner und spezifischer Methoden zu seiner Untersuchung, einer spezifischen Sprache und einer Gruppe von Gelehrten charakterisiert, die Methoden und Sprache beherrschen und spezifisches Wissen über das Objekt gesammelt haben« (HÖRZ, Lebenswenden, S. 347).
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Die Abwicklung – »Offensive auf die Lehrstühle« 417 Die Gegenerzählungen der Autobiographien zur Repression in der Wissenschaft und der gelenkten Pseudowissenschaft leiten die Beschäftigung mit der Abwicklung ein, die in allen Texten großen Raum einnimmt. Überall wird sie als rein politisch motiviert beschrieben, als »Herausdrängen« ohne jeden Bezug zur vollbrachten Leistung, »gerichtet gegen Recht und Gesetz«418, wobei in diesem Zusammenhang immer wieder von »Okkupation« die Rede ist, von den »Zerstörern« der »historisch gewachsenen Einrichtung.«419 Motiv dieses »Tribunals«420 der westlichen Wissenschaftler sei es gewesen, ihre Deutungshoheit in der Wissenschaft zu sichern, was in den Augen der Autobiographen erschwert worden wäre, hätte man sich auf eine »Debattenkultur mit den Wissenschaftlern der untergegangen DDR«421 eingelassen. »Marxistisch geprägte Bilder der Geschichte« hätten unmittelbar die »Wut der neuen Herren«422 auf sich gezogen, die sich nicht lange mit »Differenzierungen« aufgehalten, sondern gleich einen »radikalen Elitenwechsel« angestrebt hätten.423 Dieser habe ganz besonders die Wissenschaftler getroffen, die erfolgreich eine ›geschützte Zone‹ für ihren Lehrstuhl geschaffen hatten. Genau das habe man ihnen nun negativ ausgelegt und daraus einen Beleg für Obrigkeitsnähe und systemkonforme Forschung konstruiert:
417 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 266. 418 | Ebd., S. 501. 419 | Ebd., S. 499; in diesem Falle die AdW, CL. 420 | MEHLS, Unzumutbar, S. 330. 421 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 447. 422 | MEHLS, Unzumutbar, S. 253. 423 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 464; Ähnlich Pätzold: »Für das Geschehene ist im Staat der Phrasendrescher der famose Begriff »Elitentausch« erfunden und erklärt worden, daß gesellschaftliche Wandlungen davon noch stets begleitet gewesen wären. Wer aber ist beim Beitritt der ostdeutschen Länder zur Bundesrepublik gegen wen getauscht worden? Der Einzug der Spezialisten aus dem Westen ging mit dem Auszug ihrer Vorgänger nach Irgendwo einher. 1991 kam diese Bewegung auch in der Universität Unter den Linden in Gang, nicht ganz so rasch und glatt, wie ihre Initiatoren und Interessenten sich wünschten« (PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 259).
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Der Preis dafür [für die geschützten Arbeitsverhältnisse, CL] war hoch. Er bestand u.a. darin, daß sich für die Sektion Geschichte unter anderem [sic!] wegen nicht stattgehabter offener Konfrontationen oder, von der anderen Seite betrachtet, ausgebliebener Maßregelungen der Ruf verfestigte, ›angepaßt‹ und ein Stützpfeiler des von Honecker geprägten Regimes der SED der letzten Jahre gewesen zu sein. 424
Auch der Ablauf der Abwicklung offenbart sich damit als systematisch ins Werk gesetzt: Bis 1991 wurden die wissenschaftlichen Institutionen der DDR ›abgewickelt‹. 1992/93 diskriminierte und entließ man Identifikationsfiguren der DDR. 1993/94 erfolgte die personelle Grobreinigung von ›Altlasten‹. Die Feinreinigung ist im Gange. Da Stellen gesucht sind, wird es bald eine Welle denunziatorischer Angriffe geben. 425
Die »Sieger«426 hätten aus »Rache«427 gehandelt oder um dem »eigenen Nutzen«428 zu dienen. Sich zu wehren, sei weder jetzt noch zuvor strukturell oder verbal möglich gewesen, da die neuen »Herrscher« den Diskurs sehr bewusst unzugänglich hielten und ihnen »die Deutungshoheit über die DDR Geschichte ohnehin zufalle«.429 Gestützt würden sie durch »schwache Menschen«, die versuchten, »sich selbst zu schützen, indem sie andere diffamierten.«430 Um die Entfernung eines Großteils der ostdeutschen Wissenschaftler aus den Akademien und Universitäten zu rechtfertigen, müsse von den »wahren Antrieben und Zielen« abgelenkt werden, die darin bestünden, die freigewordenen Plätze mit Westdeutschen besetzen zu wollen.431 Diese Ablenkung erfolge mittels der »These von der DDR als Wissenschafts424 | MEHLS, Unzumutbar, S. 253. 425 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 494. 426 | Ebd., S. 27; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 304; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 431. 427 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 27; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 29; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 209. 428 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 27. 429 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 267. 430 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 27. 431 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 266.
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wüste«.432 Das Ziel der Autobiographen ist es, dieses »infame Bild« zu widerlegen: »Noch blieb mir das Schreiben, um zu erklären, wie ich die Vorgänge sehe und mit meiner eigenen Vergangenheit umzugehen habe.« 433 Alle anderen Zugangsmöglichkeiten zur Öffentlichkeit seien abgeschnitten, da die Wissenschaftler »kaum noch Einfluß auf Presseorgane und Sender besaßen«434, die »Redaktionen bürgerlicher Zeitungen«435 sie ignorierten und man insgesamt versucht habe, sie zum »vollständigen Rückzug ins Privatleben«436 zu bewegen: »Man drängte die wissenschaftliche Elite der DDR an den sozialen Rand, schloss sie mehrheitlich aus der aktiven Arbeit aus, nahm ihr die Kommunikationsmöglichkeiten und die Stellen, die zustehende Rente und die Identität.«437 Damit sei die weitere wissenschaftliche Arbeit stark erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht worden – Hörz schildert ein desaströses Bild, wobei er die Lage der Wissenschaftler sehr zurückgenommen als »problematisch« beschreibt, was die direkt anschließende Darstellung umso vernichtender ausfallen lässt: Man habe den Wissenschaftlern das »Heimatgefühl« genommen, negiere »den Sinn ihrer bisherigen Arbeit« und gestalte »die objektiven und subjektiven Bedingungen antihuman« – zudem verweist er noch einmal auf die »durchgeschnittenen Kommunikationsstränge«.438 Pätzold beschreibt den »Ärger« der Machthaber, dass »viele der Entlassenen und Abgewickelten […] bei ihren Leisten« blieben und sich zu Wort meldeten, was Reaktionen nach sich zog, die »weniger dem strittigen Gegenstand gelten, als Invektive zur Charakteristik des Autors bieten, weil der immer noch nicht zum Schweigen gebracht ist.«439 Doch auch diese Versuche, sich zu engagieren, änderten das Ergebnis der Abwicklung nicht; die Wissenschaftler seien »an den Rand des geistigen Lebens der Bundesrepublik verwiesen und [ihr] Einfluß entscheidend beschnitten.«440 432 | Ebd. 433 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 448. 434 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 312. 435 | Ebd., S. 285. 436 | Ebd., S. 273. 437 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 32. 438 | Ebd., S. 499. 439 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 237. 440 | Ebd., S. 273.
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Dieses Verhalten der »Sieger« wird, eine bereits bekannte Erzählstrategie, immer wieder mit anderen Ereignissen verglichen, die das Extreme der Geschehnisse unterstreichen sollen. Erneut wird Geschichte genutzt, um Geschichte zu machen: Mehls bezeichnet die Abwicklung als »Säuberung« 441 der Universität von ihren ehemaligen Mitarbeitern, wählt für diese sprachliche Aufrüstung aber ein historisches Beispiel, das normalerweise nicht mit »Säuberung« assoziiert wird: Ein »Verfahren nach römischer Cäsarenmanier« sei es gewesen, ein »schmutziges Geschäft«, betrieben von einer evaluierenden Kommission, die Mehls noch immer mit – in seinen Augen – gerechtem Zorn verfolgt.442 Dabei bedient er sich keiner damnatio memoriae, sondern zählt sämtliche Kommissionsmitglieder namentlich auf, damit ihre Untaten nicht dem Vergessen anheimfallen. Noch deutlicher wird Pätzold; er merkt an, dass »die Vertreibung tausender ostdeutscher Wissenschaftler von ihren Arbeitsplätzen mit einer in der deutschen Geschichte beispiellosen Vernichtung intellektueller Kräfte einher[ging]« – und fährt passivisch fort: »Sie ist zur Politik in Beziehung gesetzt worden, deren Opfer 1933/35 jüdische Deutsche wurden.«443 Wenngleich er den Vergleich selber als unangemessen bezeichnet, sieht er die Ereignisse »aus anderen Blickwinkel« doch als vergleichbar an: Im einen wie im anderen Falle schwieg die Mehrheit der deutschen Intelligenz, während sich eine Minderheit an den Kampagnen direkt beteiligte oder sie rechtfertigte. Vergleichbar macht beide Ereignisse auch, daß das eine wie das andere ihre Nutznießer hatte, die auf freigemachte Plätze drängten. Und schließlich waren die Geschehnisse jeweils von Auftritten der Ideologen begleitet, im älteren Fall von fanatischen Rassisten und Antisemiten, im jüngeren von Antikommunisten, Marxfressern und Marxistentötern. Verwandt sind sie aber vor allem in ihren Zielsetzungen. Die Juden wurden aus Universitäten entfernt, weil sie als Liberale, Demokraten und – in wenigen Fällen – auch als Sozialisten nicht in die Diktatur paßten. Mit ihrer Kampflosung gegen Juden und Marxisten drückten die deutschen Faschisten aus, wem sie die ›Rassefeinde‹ an die Seite stellten. Auch im wieder größeren Deutschland sollte jenen Wissenschaftlern geistiger und politi-
441 | MEHLS, Unzumutbar, S. 351. 442 | Ebd., S. 349. 443 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 271.
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sche [sic!] Einfluß genommen werden, die mit ihren Auffassungen und Haltungen als systemwidrig galten. 444
Pätzold erwähnt mehrfach die »lange Geschichte des Umgangs mit Marxisten in deutschen Staaten«, die er selber als »hochempfindlichen Punkt« bezeichnet.445 In diesem Zusammenhang zieht er Parallelen zu »Gustav Mayer, einem Juden, für den es in der Weimarer Republik trotz oder gerade wegen seiner herausragenden Leistungen auf dem Feld der Geschichte des Marxismus und der Arbeiterbewegung keinen Lehrstuhl gab«.446 Mittenzwei argumentiert ähnlich, wenn er von der Abwicklung der DDR-Akademie der Künste schreibt: »Überraschend schnell geriet ich in Umstände und Konflikte, die denen der Akademiemitglieder von 1933 glichen.«447 In dieselbe Kerbe schlägt Hörz, wenn er von der Zerschlagung der Strukturen der Wissenschaftsphilosophie in der DDR spricht: »Die verächtliche Bemerkung im Gespräch eines westlichen Liquidators mit wissenschaftlichen Graden über die Elite der DDR ist nicht unzutreffend: ›Konzentrationslager brauchen wir nicht. Wir drängen sie an den Rand der Gesellschaft.‹«448 Abgesehen von diesen drastischen Verknüpfungen wird vor allem immer wieder der Vergleich mit der Bundesrepublik gewählt, der zeigen soll, dass die Systeme sich letztendlich alle gleichen und somit der Vorwurf, 444 | Ebd., S. 271. 445 | Ebd., S. 357. 446 | »Auch viele meiner Kollegen verschlossen sich der Einsicht, daß es nicht um die Biografien einzelner ging, sondern um den Vorsatz, alle ostdeutschen Hochschulen von Jena bis Greifswald von Wissenschaftlern zu entleeren, die marxistische Positionen vertreten hatten, und ebenso von jenen, die, ohne an der ›ideologischen Front‹ tätig gewesen zu sein, ob Agrarwissenschaftler, Physiker oder Mediziner, überzeugte Sozialisten waren« (ebd., S. 246). 447 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 470. 448 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 346. An diesen Rand allerdings ließ Hörz sich nicht drängen, sondern wurde 1993 Präsident der sich in diesem Jahr gründenden Leibniz-Sozietät, die die DDR-Tradition zu bewahren sucht und den Anspruch erhebt, die eigentliche Erbin der Tradition von 1700 zu sein, also die legitime Nachfolgerin der AdW. Sie hat heute etwa 200 Mitglieder und publiziert ihre eigenen Sitzungsberichte und Abhandlungen (alle im TRAFO-Verlag Berlin, in dem auch Hörz’ Autobiographie erschienen ist).
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der den Autobiographen gemacht wird, absurd ist: »Die Westdeutschen kamen im staatlichen Auftrag, um die staatsnahen Wissenschaftler der anderen Seite zu überprüfen.«449 Auch hier werden staatliche Handlungen parallelisiert. So lassen die Erinnerungstexte zwar immer wieder gelten, dass es politische Eingriffe in die Wissenschaft gegeben habe, verweisen dabei aber stets auf vergleichbare Vorgänge im Westen, früher wie heute. Pätzold etwa spricht von den »Verfechtern der Freiheit wissenschaftlicher Lehre«, die aber doch gleichzeitig »dafür sorgten, daß bei Berufungen westdeutsche Fakultäten marxistenfrei blieben«.450 Ähnliche Bemerkungen fallen auch bei Klein und bei Jacobeit.451 Schließlich finden sich in den Texten auch die kritischen Töne aus dem Westen wieder, die sich im Laufe der 1990er Jahre zunehmend in den Diskurs zur »Wissenschaftswüste« und zum Prozedere der Abwicklung mischten – nicht zuletzt von aktiv Beteiligten.452 Dabei bringt Pätzold am prononciertesten auf den Punkt, was in allen Erinnerungen anklingt: 449 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 441. 450 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 257. 451 | Klein, der bis zur Bekanntwerdung seiner Mitarbeit beim MfS selbst der Struktur- und Berufungskommission des Berliner Senats angehörte, hält sich ansonsten stark zurück und lässt lediglich einfließen, besagte Kommission habe so schnell gearbeitet, um möglichst viele »vollendete Tatsachen mit Neuberufungen zu schaffen«, bevor der Klage der Universität gegen den Abwicklungsbeschluss möglicherweise Recht gegeben würde (KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 356). 452 | So schrieb Dieter Simon 1995, der zu Zeiten der Abwicklung Vorsitzender des Wissenschaftsrats war: »Die Westtheorie besagte, dass die Besten und von diesen wieder die Idealisten nach Osten ziehen würden. Gelegentlich war das so. Kein kundiger Beobachter würde dies bestreiten. Aber wenn heute auch hintere Ränge völlig geräumt sind, wenn noch die drittklassigste Begabung aus dem Wartestand erlöst wurde und sich mit souveränem Schulterklopfen als Kollege zu erkennen gibt, wo sie bestenfalls zum Taschenträger bestimmt schien – wenn dies so ist, dann hat offenbar die Praxis die Theorie erschlagen«. Vgl. SIMON, Dieter: »Westliche Theorie – Östliche Realität«. Drei Szenen aus der deutsch/deutschen Wissenschaft, in: Transit. Europäische Revue, Heft 9, Frankfurt a.M. 1995, S. 159168, hier S. 160. Ausführlich zu seinen Beobachtungen als Handelnder in dieser Zeit: SIMON, Dieter: Evaluationssplitter. In: RJ 10/1991, S. 399-425. Lesenswert auch die Betrachtung der Abwicklung und des DDR-Rechtssystems von der Rechtswissenschaftlerin Inga Markovits, die sie in Form eines Tagebuches erzählt;
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Als alle Messen gelesen waren, wurden die frei erfundenen Horrorgeschichten der Vergessenheit anheim gegeben. Sie hatten ihren Zweck erfüllt. Nun paßten sie nicht zur Schilderung der Verdienste von Tätern der ›Wiedervereinigung‹. Was Methode war, wurde als ›Fehler‹ eingestanden und mit Kenntnismangel erklärt, als wären die Anschluß-Exekutoren in den Osten gekommen wie einst die ersten Entdecker und Kolonialherren in den afrikanischen Dschungel. Die Geschichte der ›Erneuerung‹ der ostdeutschen Hochschulen ist von ihrem Anbeginn bis in ihre spätere Darstellung durch an ihr Beteiligte und Unbeteiligte auch eine Geschichte von Ignoranz, Fälschung und Heuchelei. 453
Auf engem Raum erscheinen hier noch einmal alle Themen aus dem Wissenschaftsbereich, zu denen die Autobiographien eine alternative Erzählung entwickeln: Die eigene wissenschaftliche Leistung, das System, in dem diese erbracht wurde, bis hin zu dessen Abwicklung, die den Abgewickelten selbst keine Chance zur Verteidigung und Gegenwehr gegeben hätte. Die DDR mag nicht perfekt gewesen sein – aber schlecht war sie deshalb auch nicht.
5 D IE BESSERE H ÄLF TE : F A ZIT Die Autobiographen entwerfen mit ihren Erinnerungen ein Bild von der Welt, die sie im Laufe ihres Lebens durchschritten haben. Dass diese Welt eine vergangene ist, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache. Im Falle der hiesigen Protagonisten freilich fällt der Blick zurück auf eine Vergangenheit, die durch den politischen Umbruch von 1989/90 aufgehört hat, zu existieren. Ihre Vergangenheit ist nicht nur vergangen, sie ist vor allem untergegangen. Umso mehr sticht heraus, wie präsent sie den Autobiographen noch immer ist – nicht als existente Lebenswelt, aber als Bezugssystem, dem auch für die Gegenwart Maßstab und Orientierung des eigenen Handelns entnommen werden können. Die Protagonisten erkennen sich – wie ein großer Teil der ostdeutschen Bevölkerung – nicht in den Positionen zur DDR nach 1989/90 wieder. Sie möchten mit der Veröffentlichung ihrer Erinnerungen an der Deutung MARKOVITS, Inga: Die Abwicklung. Ein Tagebuch zum Ende der DDR-Justiz, München 1993. 453 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 267.
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der Geschichte der DDR partizipieren, auf den gesellschaftlichen Raum einwirken und die vorherrschende ›Meistererzählung‹ demontieren. Für sie ist es im Karlssonschen Sinne existentiell, eine alternative, sinnstiftende Geschichte zu etablieren, in die sich das eigene Leben positiv einfügen lässt, damit erzählbar und mit einer Kontinuität ausstattet wird, die die Aufrechterhaltung der Identität ermöglicht. Bei der ›Richtigstellung‹ des dominanten Diskurses zur DDR lassen sich in allen Texten Erzählmuster herausarbeiten, die sich bei allen sonstigen Unterschieden eklatant ähneln und einen vergleichbaren Gebrauch von Geschichte offenlegen. Die Grundmotivation ist ein moralischer Anspruch: Die Autoren bewerten die Erzählung von der Vergangenheit als falsch gewichtet – bestimmte Aspekte erhalten, so ihre Wahrnehmung, keinerlei Aufmerksamkeit, werden verschwiegen oder sogar bewusst unterdrückt und sollen nunmehr rehabilitiert werden; andere wiederum werden in einem Ausmaß betont, das in keinem Verhältnis zur Wirklichkeit stehe, werden aufgebauscht, skandalisiert und von höchster Stelle zur Diffamierung der DDR verwendet. Auch darauf antworten die Autoren mit dem von moralischer Empörung getragenen Vorhaben, ihre eigene historische Wahrheit gegen die herrschende Meinung in Stellung zu bringen. Dies offenbart erneut, dass Erinnerungen vor allem Zeugnisse komplizierter Verarbeitungsstrategien sind. Sie präsentieren einen Erinnerungshorizont, der für das Studium der schon in der DDR gängigen Wahrnehmungen und Deutungsmuster auch dann noch eine wertvolle Quelle bleibt, wenn die Autobiographien selbst erst lange nach dem Untergang des real existierenden Sozialismus verfasst wurden. Die Langlebigkeit solcher Denktraditionen manifestiert sich besonders im Gebrauch ideologischer und politisch-pädagogischer Argumentationsfiguren, die ganz im Zeichen des Kalten Krieges stehen und sich oft eng an offizielle Deutungsmuster der DDR-Staatsmacht anlehnen. In diesem Zusammenhang sind auch die häufigen Systemvergleiche zu sehen, die die DDR unter variierenden Gesichtspunkten durchweg als die ›bessere Hälfte‹ darstellen. Sie werden häufig mit einem professionell-wissenschaftlichen Gebrauch von Geschichte kombiniert, indem allerdings weniger die Expertise ausgewiesener Forschung herangezogen wird, sondern vor allem der geschulte Blick des Experten – hier der Autoren selbst – Betonung findet. Die Quellen, auf die sie dabei verweisen, bestehen zum absoluten Großteil in der Bezugnahme auf ureigene Erinnerungen in Form von Tage-
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büchern, Notizen oder Briefen aus dem Kollegenkreis. Hierin zeigt sich erneut eine Besonderheit der Wissenschaftler-Autobiographien: Das fachliche Selbstverständnis, privilegierten Zugang zur historischen Wahrheit zu haben, prägt auch die Selbstsicht der Autobiographen. Eine spezielle Form des ideologischen Gebrauchs von Geschichte stellen die zahlreichen – rhetorischen wie sachlichen – Verniedlichungen dar, die sich vor allem auf den Repressionsapparat der DDR beziehen, der über den Mauerbau, den 17. Juni und die Staatssicherheit Erwähnung findet. Gerade hier stößt der Geschichtsbezug aber immer wieder an Grenzen, die in der Tendenz zu Privatisierungserzählungen offensichtlich wurden: Was sich auch durch den reichhaltigen Einsatz des Bezugs auf Geschichte nicht integrieren lässt, verschwindet im Anekdotischen. Großen Raum nimmt in allen Texten die Bezugnahme auf die Abwicklung der ostdeutschen Wissenschaft ein, die für die Protagonisten, ob unmittelbar davon betroffen oder nicht, gleichbedeutend mit der Abwicklung ihrer Lebensleistung ist. Ausführlich gehen sie dabei auf die öffentlichen Vorwürfe ein, die DDR-Wissenschaft sei systemgesteuert und ›unfrei‹ gewesen. Um diese zu entkräften, nutzen sie erneut den Systemvergleich, der auf die grundsätzliche Systemabhängigkeit aller Wissenschaft hinausläuft. Damit übernehmen sie Teile der ›Meistererzählung‹, transformieren sie dabei jedoch: Das zeigt sich gerade im Zugeständnis gewisser Eingriffe in die Forschung, die in der Darstellung zwischen »Regelungen« und »Zensur« changieren, aber jeweils unmittelbar mit dem Hinweis enden, man habe sich dennoch auf erstaunliche Weise eigene Freiheiten bewahren können. Die genannten Erzählmuster, die sich unterschiedlicher Argumentationsfiguren bedienen, um den öffentlichen Diskurs zur DDR-Geschichte zu verändern, erlauben zwei Schlussfolgerungen: Zunächst zeigt sich, dass die alternativen Deutungen nicht als trotzige Gegenerzählungen abgetan werden können; vielmehr geht es um den dringlichen Versuch, sich eine Lebenserzählung zurückzuerschreiben, die für die Stabilisierung der Identität essentiell benötigt wird. Darin liegt die persönliche Ebene dieser Auseinandersetzung. Dieser persönliche Aspekt verweist aber zugleich auf eine politische Dimension: Die Autobiographien erzählen von einer DDR, die sich in den offiziellen Erzählungen ostdeutscher Geschichte nicht oder nur wenig wiederfindet. Sie fördern damit die Einsicht, dass die DDR zu verschiedenen Zeiten für verschiedene Gruppen Unterschiedliches bedeutete – ein
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an sich unspektakulärer Umstand, der trotzdem gerne übersehen wird. Historisch lässt sich daraus wohl nicht mehr – aber auch nicht weniger – gewinnen als ein weiterer Beleg für das Ende der ›großen Erzählungen‹. In gesellschaftspolitischer Hinsicht allerdings erlauben die untersuchten Quellen den Schluss, dass die DDR in ihrer mehrdeutigen Gestalt auch im heutigen Deutschland nicht eindimensional weiterwirken kann, sondern in vielfältiger und differenzierter Weise fortlebt.454
454 | Vgl. dazu auch: WIERLING, Erinnerung an die Stasi, S. 208.
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III Morgen Erzählungen von der verschwundenen Zukunft
1 Z ÄSURERFAHRUNG UND Z UKUNF TSANEIGNUNG : E INFÜHRUNG Die Protagonisten beschäftigen sich in ihren Texten, wie bereits angedeutet, nicht nur mit Vergangenheit und Gegenwart, sondern in erheblichem Ausmaß auch mit der Zukunft. Zwischen diese drei Ebenen spannen sie ihre Lebenserinnerungen auf.1 Dabei sind insbesondere die Zukunftsbezüge starken Veränderungen unterworfen, die im Zusammenhang mit der Zäsurwahrnehmung von ›1989‹ stehen. Damit ist im Wesentlichen bereits benannt, worum es im Folgenden gehen soll: um die Wahrnehmung von Zäsuren und ihre Auswirkung auf die Funktionalisierung von Zukunftsaneignungen. ›1989‹ wird in allen Autobiographien als Zäsur begriffen. Diese Zäsur, aber möglicherweise auch andere Umbrüche, und die Auswirkungen, die sie auf die historische Selbstverortung der Protagonisten, auf die Ausrichtung von vergangener Vergangenheit, vergangener Gegenwart und vergangener Zukunft 2 hat, spielt für die folgenden Überlegungen eine zentrale Rolle. Hier zeigt sich die Verknüpfung von privat und historisch Erlebtem, die Berührung von Lebensgeschichte und Weltgeschichte in
1 | Vgl. dazu: RÜSEN, Jörn: Die Kultur der Zeit. Versuch einer Typologie temporaler Sinnbildungen, in: Ders. (Hg.): Zeit deuten. Perspektiven – Epochen – Paradigmen, Bielefeld 2003, S. 23-53, hier S. 28. 2 | Vgl. ausführlich dazu: GRAF, Rüdiger: Zeit und Zeitkonzeptionen. In: Zeitgeschichte, S. 84-108, hier S. 101-106.
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der erinnernden Darstellung.3 An ›1989‹ wird der Übergang von Individuum und Geschichte sichtbar: ›1989‹ bedeutet einen Moment, in dem Menschen anhand eines bestimmten historischen Ereignisses, einer ›objektiven‹ Zäsur, ihre Biographie innerhalb der Geschichte verorten. Mit Hilfe dieser Zäsur wird die Lebensgeschichte strukturiert und gerät gleichzeitig auf den Prüfstand, was sich an den Veränderungen der Zukunftsbezüge zeigt. Zukunft versteht sich dabei nicht als »künftige Gegenwart«, sondern als »Zukunftshorizont […] der Gegenwart«4, der durch Zäsurerfahrungen in Bewegung gerät: Der Bruch wird zu einem Fluchtpunkt der sozialen Selbstverständigung, der das Bild von der Welt und vom Ich in der Welt reorganisiert. Zäsuren bedeuten Kontingenzerfahrung, die wiederum eine »Urerfahrung des Zeitlichen«5 darstellt und damit eine Herausforderung an die »Deutungsarbeit des Bewussteins«.6 Ein abrupter Umbruch wie ›1989‹ zerstört Zukunftshorizonte, die Zeit gerät auf der Alltagsebene in Bewegung, sie wird sozusagen »suspendiert« – bis eine neue Ordnung an die Stelle der alten tritt.7 Gerade in der Schwellenphase, bevor sich die Ordnung verfestigt hat, werden Zeitvorstellungen in stärkerem Maße reflexiv und damit der historischen Analyse zugänglich.8 Wenn Zeitgenossen ihre historische Situation demnach als Zäsur begreifen, erhellen sich regelmäßig weitreichende Erwartungshorizonte – oder verdunkeln sich, je nachdem, ob der Bezug zu den Erfahrungen 3 | Zur erinnernden Darstellung und zum autobiographischen Fokus »auf Zeitumstände und Mitmenschen« vgl. WAGNER-EGELHAAF, Autobiographie, S. 12. 4 | LUHMANN, Niklas: Die Beschreibung der Zukunft. In: Ders.: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 129-147, hier S. 140. In einem Aufsatz aus dem Jahr 1976 nannte Luhmann diese Unterscheidung »future presents and present future«. Vgl. LUHMANN, Niklas: The Future Cannot Begin. Temporal Structures in Modern Society, in: Social Research 43/1976, S. 130-152, hier S. 141. 5 | RÜSEN, Jörn: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen, Köln 2006, S. 193. 6 | Ebd. 7 | GRAF, Zeit und Zeitkonzeptionen, S. 103. 8 | Vgl. dazu DEPKAT, Lebenswenden und Zeitenwenden, S. 129; HERZOG, Reinhart/KOSELLECK, Reinhart (Hg.): Epochenschwelle und Epochenbewusstsein. München 1987; HORN, Gerd-Rainer/KENNEY, Padraic (Hg.): Transnational Moments of Change. Oxford 2004.
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erschwert wird oder nicht.9 Konkret lassen sich diese Horizonte anhand der Motive von Optimismus und Pessimismus und ihren Veränderungen aufschlüsseln, die Rückschlüsse auf Enttäuschungen und Erwartungen und damit auf Zukunftsvorstellungen erlauben.10 An diesem Punkt setzt die folgende Analyse an: Die Wahrnehmung von Zäsuren generiert Enttäuschungen oder Hoffnungen und führt dazu, dass sich Zeitgenossen neu verorten, dass sie sich die Zukunft erneut aneignen müssen, woran sie möglicherweise auch scheitern.11 Anhand der Analyse der autobiographischen Zukunftskonstruktionen und ihrer Funktionalisierungen zeigt sich, wo die Protagonisten Zäsuren (und Kontinuitäten) identifizieren und welche Rolle dabei die ›objektiven‹ Periodisierungen der Zeitgeschichte spielen. Konkret bedeutet das, die äußerliche Anerkennung der Zäsur von ›1989‹ vor der Folie der dahinterliegenden temporalen Struktur zu analysieren.12 Die Frage ist dabei, ob dieser Um9 | Mit Kosellecks Begriffspaar »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« ist eine bestimmte Dynamik historischer Zeit erfassbar. »Erwartung« zielt als »vergegenwärtigte Zukunft« auf das Noch-Nicht und wird der Erfahrung als »gegenwärtige Vergangenheit«, in welcher »durch Generationen oder Institutionen vermittelt, immer fremde Erfahrung enthalten und aufgehoben« ist, gegenübergestellt. In: KOSELLECK, Vergangene Zukunft, S. 354f. 10 | Enttäuschung und Erwartung werden dabei als eigenständige Kategorie historischer Erfahrung verstanden. Vgl. hierzu und zur Untersuchung von Zukunftserwartungen auch: NEUENKIRCH, Sophie/KROH, Jens: Zukunftserwartungen in Empirie und Theorie. In: Erzählte Zukunft. Zur inter- und intragenerationellen Aushandlung von Erwartungen, hg. v. dens., Göttingen 2011, S. 7-18, hier S. 12. 11 | Vgl. zu dieser Dimension des Scheiterns: ZAHLMANN, Stefan: Sprachspiele des Scheiterns – Eine Kultur biographischer Legitimation. In: Scheitern und Biographie. Die andere Seite moderner Lebensgeschichten, hg. v. ders.u. Sylka Scholz, Gießen 2005, S. 7-31. 12 | Mit dieser Unterscheidung zweier Ebenen wird, angeregt durch Rüdiger Grafs Arbeit zur Zukunft der Weimarer Republik, die sprachphilosophische Unterscheidung von ›use‹ und ›mention‹ genutzt. ›Use‹ bezieht sich dabei auf die Haltungen und Erwartungen, die in den Erinnerungen bezüglich der Zukunft zum Ausdruck gebracht werden, also die optimistischen oder pessimistischen Zukunftsaneignungen, währenddessen ›mention‹ die Aussagen über Optimismus und Pessimismus meint, die beurteilen, ob diese angemessene Formen der Zukunftsaneignung darstellen oder nicht. Diese beiden Ebenen sind selten deckungsgleich: man kann
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bruch als Kontingenz erfahren wird, als Ungewissheit dessen, was kommen mag, ob Zukunftsvorstellungen also tatsächlich Veränderungen unterworfen werden und wenn ja, an welchem Punkt dies geschieht. Wie die vorherigen Kapitel gezeigt haben, wird ›1989‹ von allen Protagonisten als deutliche Zäsur gesetzt und dabei als vor allem negativer Umbruch bewertet: Das System, mit dem sie ihre Biographie und damit auch ihre Zukunft über vier Jahrzehnte hinweg verwoben haben, existiert nicht mehr; das Land, dem sie nun zwangsweise angehören, scheint ihnen keine Alternativzukunft zu bieten und ihre Lebensleistung, allzumal die wissenschaftliche, nicht anzuerkennen. Gleichwohl nutzen sie zur Niederschrift ihrer Erinnerungen – und ihrer Zukunftsvorstellungen – ein Genre, das gewöhnlich nicht mit einem schmerzhaften Fiasko, nicht in der Zukunftslosigkeit endet: Autobiographien erzählen zumeist, oft entgegen aller Widrigkeiten, die Geschichte von einem guten, sinnbringenden Leben, was für die bürgerliche Tradition gleichermaßen gilt wie für proletarische Selbstdarstellungen13 – wenngleich die Kriterien für ein erfülltes Leben sich unterscheiden. Auch unter diesem Gesichtspunkt wird die Analyse der Zukunftsbezüge in den Autobiographien und ihrer Modifikationen nach ›1989‹ zu einem aufschlussreichen Unterfangen. Wie und mit welchen Strategien blicken die Protagonisten nach vorne, welche Modi der Zukunftsaneignung laszum Beispiel den Fortschrittsoptimismus auf der ›mention‹-Ebene ablehnen und doch zugleich auf der ›use‹-Ebene optimistisch in die Zukunft sehen. In der deutschen Linguistik hat das Bedeutungspaar »use and mention« seine Entsprechung in »Gebrauch eines Ausdrucks« – »Anführung eines Ausdrucks«. Vgl. hierzu GRAF, Rüdiger: Die Zukunft der Weimarer Republik. Krisen und Zukunftsaneignungen in Deutschland 1918-1933, München 2006, zur obigen Unterscheidung insb. S. 2738; vgl. hierzu außerdem: PELZ, Heidrun: Linguistik: Eine Einführung. Hamburg 1996, S. 31ff. u. MOLITOR, Graham T.T.: Change: Optimistic and Pessimistic Perspectives, in: Encyclopedia of the Future, Bd. 2, New York 1996, S. 666-667; zur Differenzierung verschiedener Arten des Optimismus siehe POLAK, Fred L.: The Image of the Future. Amsterdam 1973, S. 46-48. Darüber hinaus bedient sich die folgende Analyse – wie die gesamte Arbeit – des grundlegenden Instrumentariums der neueren Erzähltheorie bzw. Narratologie. Vgl. hierfür insb. das Kapitel »Elementare Operationen« in KOSCHORKE, Wahrheit und Erfindung, S. 27-110, sowie das Kapitel »Modellierung von sozialer Zeit«, ebd., S. 203-286. 13 | Vgl. Forschungsliteratur Anmerkung 80/Einleitung.
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sen sich herausarbeiten und welche Rolle spielt dabei das Gestern, das Sinnsystem der DDR? Dabei stehen die Haltungen und Einstellungen zur Zukunft auf dem Prüfstand, aber auch die Inhalte, mit denen sie gefüllt werden.14 Dass zwischen Autobiographien und Zäsuren ein Zusammenhang besteht, wurde bereits in der Einleitung konstatiert – dieser erschöpft sich jedoch nicht in der Motivation zur Niederschrift, sondern nimmt sich wesentlich vielschichtiger aus. So mag der Umbruch ›1989‹ die Kontingenzerfahrung bedeuten, die durch das Verfassen der Niederschrift bewältigt werden soll; zugleich aber dient die Synchronisierung mit dieser ›objektiven‹ Zäsur der nötigen Strukturierung der Erinnerungen, was noch nichts über ihre tatsächliche biographische Bedeutung aussagt. Dieser Komplex soll im Folgenden nähere Betrachtung finden. Dafür wird zunächst erörtert, was ›1989‹ eigentlich zu einer ›offiziellen‹ Zäsur macht. Im Anschluss werden beispielhaft anhand der Zäsuren 1933 und 1945 zwei neue Formen »vitaler Zeitordnung«, die ›subkutane‹ und die ›welt14 | Das Spektrum der Arbeiten, die sich mit dem Inhalt von Zukunftsvorstellungen beschäftigen, ist weit und reicht von der Untersuchung der Zukunftsvorstellungen von Parteien über die Entwicklung bestimmter literarischer Genre, über Veränderungen von Ängsten bis hin zur Architekturentwicklung. Vgl. hierzu beispielhaft: VOIGT, Wolfgang: Atlantropa. Weltbauen am Mittelmeer. Ein Architektentraum der Moderne, Hamburg 1998; DIENEL, Hans-Liudger/TRISCHLER, Helmuth (Hg.): Geschichte der Zukunft des Verkehrs. Verkehrskonzepte von der frühen Neuzeit bis zum 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1997; ROTH, Ralf/SCHLÖGEL, Karl: Neue Wege in ein neues Europa. Geschichte und Verkehr im 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2009; NERDINGER, Wolfgang: Architekturutopie und Realität des Bauens zwischen Weimarer, Republik und Drittem Reich, in: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit, hg. v. Wolfgang Hardtwig, München 2003, S. 269-286; HÖLSCHER, Lucian: Die verschobene Revolution. Zur Generierung historischer Zeit in der deutschen Sozialdemokratie vor 1933, in: Utopie und politische Herrschaft im Europa der Zwischenkriegszeit (=Schriften des Historischen Kollegs 56), hg. v. Wolfgang Hardtwig, München 2003, S. 219231; KROLL, Frank-Lothar: Utopie als Ideologie. Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn 1998; UEKÖT TER, Frank/HOHENSEE, Jens (Hg.): Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004. Vgl. ausführlich zu dieser Zusammenschau: GRAF, Zeit und Zeitkonzeptionen, S. 104f.
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geschichtliche‹, identifiziert. Sie bilden die Grundlage dafür, in einem nächsten Schritt herauszufiltern, wie die Autobiographen mit ›1989‹ umgehen.
2 ›O BJEK TIVE ‹ Z ÄSUREN Autobiographische Geschichtsschreibungen zeugen von einem deutlichen Gliederungsbedarf, von dem Wunsch, mittels Zäsursetzungen die Zeit in ein ›Vorher‹ und ein ›Nachher‹ einzuteilen, was sich auf die Erinnerungen der jeweils vergangenen Zeitebenen auswirkt.15 In diesem Bedürfnis treffen sie sich mit der professionellen Geschichtsschreibung, zu deren »wichtigsten Aufgaben« es gehört, »das historische Kontinuum in gliedernde Absätze zu teilen«, will sie sich nicht in »bloßer Annalistik erschöpf[en].«16 Dabei sind die konkrete Datierung sowie die Reichweite von Zäsuren in der Geschichtswissenschaft umstritten.17 Die Vorstellung, dass Zäsuren nicht Eigenschaften der Welt und der Geschichte selbst sind, sondern »Betrachtungsformen« des Historikers, »die der denkende Geist dem empirisch Vorhandenen gibt«18 – modern gesagt konstruiert und perspektivenabhängig –, findet weitgehend Anerkennung. Dennoch kennt die Periodisierungsdiskussion zur deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts Kriterien, die gemeinhin anerkannte, ›objektive‹ Zäsuren hervorbringen19: Hierfür dienen im Wesentlichen ›erfolgreiche‹ 15 | SCHÜLLER, Thorsten: Modern Talking – Die Konjunktur der Krise in anderen und neuen Modernen, in: Von Zäsuren und Ereignissen. Historische Einschnitte und ihre mediale Verarbeitung, hg. v. ders.u. Sascha Seiler, Bielefeld 2010, S. 1327, hier S. 14. 16 | SABROW, Zäsuren in der Zeitgeschichte, S. 109. 17 | Vgl. BERG, Manfred: Der 11. September 2001 – eine historische Zäsur? In: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 3/2011, S. 463474, hier S. 463. 18 | DROYSEN, Johann Gustav: Historik. Die Vorlesung von 1857, 2. Teil, §19, in: Ders.: Historik. Hg. v. Peter Leyh, Stuttgart 1977, S. 371. 19 | Dies zeigt auch, dass die Geschichtswissenschaft trotz aller Diskussionen um den Zäsurenbegriff als heuristisches Instrument keinesfalls auf ihn verzichten kann: »Dass das Zäsurenbewusstsein in unserem Geschichtsverständnis ubiquitäre Bedeutung hat, verlangt vielmehr nachdrücklich, die aufschließende ebenso
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politische Systemwechsel,20 konkret die Daten 1918/19, 1933, 1945 und 1989/90.21 Zwar werden immer wieder auch alternative »Scheidewege«22, »Umbrüche«23 und »Wendepunkte«24 zur Periodisierung der modernen deutschen Geschichte diskutiert,25 dominant ist jedoch weiterhin der Ansatz, der Wandlungen von Staatlichkeit und Staatsformen, allgemein gesprochen: Systemwechsel26 in den Mittelpunkt stellt.27 wie die einengende Kraft von Zäsuren zu reflektieren.« SABROW, Zäsuren in der Zeitgeschichte, S. 122. 20 | KLESSMANN, Christoph: 1945 – welthistorische Zäsur und »Stunde Null«. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 15.10.2010, https://docupedia.de/ zg/1945?oldid=76218 [letzter Zugriff 06/2013]; Philipp Ther, 1989 – eine verhan delte Revolution. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.2.2010, https:// docupedia.de/zg/1989?oldid=77785 [letzter Zugriff 05/2013]. 21 | Vgl. GALLUS, Alexander: Einleitung. In: Deutsche Zäsuren. Systemwechsel seit 1806, hg. v. ders., Köln 2006, S. 9-20; JESSE, Eckhard: Systemwechsel in Deutschland: 1918/19 – 1933 – 1945/49 – 1989/90. Bonn 2011. 22 | WEHLER, Hans-Ulrich (Hg.): Scheidewege der deutschen Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517-1989, München 1995. 23 | PAPENFUSS, Dieter/SCHIEDER, Wolfgang (Hg.): Deutsche Umbrüche im 20. Jahrhundert. Köln 2000. 24 | STERN, Carola/WINKLER, Heinrich August (Hg.): Wendepunkte deutscher Geschichte 1848-1990. Frankfurt a.M. 2003. 25 | So beispielsweise der März 1848, der Juni 1953 oder auch das strukturgeschichtlich bedeutsame ›1968‹. In den letzten Jahren wird auch die Zeit nach 1970 verstärkt als Umbruchsphase gedeutet. Vgl. dazu: DOERING-MANTEUFFEL, Anselm/RAPHAEL, Lutz: Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte nach 1970. Göttingen 2010; BÖSCH, Frank: Umbrüche in die Gegenwart. Globale Ereignisse und Krisenreaktionen um 1979, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 1/2012, S. 8-32; JARAUSCH, Konrad H. (Hg.): Das Ende der Zuversicht? Die siebziger Jahre als Geschichte, Göttingen 2008. 26 | Dazu hat sich eine breite politikwissenschaftliche Forschung etabliert. Vgl. v.a. MERKEL, Wolfgang (Hg.): Systemwechsel. 5 Bde., Opladen 1994-2000. 27 | Aus kulturgeschichtlicher, internationaler, sozialgeschichtlicher oder sozioökonomischer Perspektive ergeben sich freilich andere, nicht weniger sinnvolle Epocheneinheiten. Vgl. PRINZ, Michael/FRESE, Michael: Sozialer Wandel und politische Zäsuren seit der Zwischenkriegszeit. Methodische Probleme und Ergebnisse, in: Politische Zäsuren und gesellschaftlicher Wandel im 20. Jahrhundert.
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Damit sind wesentliche Einschnitte der Deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert in erster Linie politikgeschichtlich markiert 28 – dass ›1989‹ in dieser Hinsicht eine Zäsur darstellt, steht außer Frage. Ungeachtet der genauen Tragweite dieses Umbruchs, auf die noch näher einzugehen sein wird, bedeutet der Kollaps nahezu des gesamten Ostblocks das Ende des Kalten Kriegs und bringt die Nachkriegsgeschichte – und mit ihr womöglich das gesamte kurze Jahrhundert – zu einem vorzeitigen Abschluss. Signifikanteste Symbole dieses Umbruchs sind nach wie vor der Mauerfall und die rasch nachfolgende Vereinigung Deutschlands: »Die epochale Bedeutung des Mauerfalls 1989 ist unmittelbar augenfällig, und die Kerbe, die wir mit historischen Umbrüchen verbinden, kam in ihm musterhaft zum Ausdruck.«29 1989/90 wird in der Fachhistoriographie demnach als strukturelle Zäsur interpretiert 30, die für den Zusammenbruch des Kommunismus, das Ende des Kalten Krieges, die deutsche Vereinigung und das Zusammenwachsen Europas steht.31 Der Blick mag sich bis heute angesichts der kommunistischen Regime in Nordkorea, Kuba und China und auch des Jugoslawien-Kriegs, der ein Land »im Schatten des Jahres 1989 ver-
Regionale und vergleichende Perspektiven, hg. v. dies., Paderborn 1996, S. 1-31; HARDTWIG, Wolfgang: Einleitung: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit. In: Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918-1939, hg. v. ders., Göttingen 2005, 7-22, hier S. 8f.; TENFELDE, Klaus: 1914-1990 – Einheit der Epoche, in: APuZ 40, 1991, S. 3-11. 28 | Dies führte gerade in der zeithistorischen Forschung zu häufig ausgesprochen kleinteiligen Studien; vgl. beispielsweise TURNER, Henry Ashby: Hitler’s Thirty Days to Power. January 1933, Reading 1996. Dies wurde auch als Möglichkeit begriffen, klassische historische Erzählformen und die damit verbundenen Zeitvorstelllungen zu überwinden: Vgl. z.B.: GUMBRECHT, Hans Ulrich: In 1926. Living at the Edge of Time. Cambridge 1997. Vgl. zu dieser Entwicklung GRAF, Zeit und Zeitkonzeptionen, S. 102. 29 | SABROW, Zäsuren in der Zeitgeschichte. S. 124. 30 | JARAUSCH, Der Umbruch 1989/90, S. 529. 31 | TENFELDE, Klaus: 1914-1989 – Einheit der Epoche; SCHWARZ, Hans-Peter: Die neueste Zeitgeschichte. »Geschichte schreiben während sie noch qualmt«, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1/2003, S. 5-28.
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schwinden ließ«32, relativiert haben; vom »Ende der Geschichte«33 spricht heute niemand mehr. Der vermeintliche Sieg der liberalen Demokratie und das Verschwinden der Ideologien hat sich weder bewahrheitet noch zu den paradiesischen Zuständen geführt, die 1989 prophezeit wurden – der Epocheneinschnitt war nicht allumfassend, und welche Zeit damals wirklich an ihr Ende kam, ist nach wie vor umstritten.34 Auch hinsichtlich der engeren deutschen Nationalgeschichte lässt sich die Reichweite der Zäsur in Frage stellen, könnte man doch argumentieren, dass 1989 »lediglich einen politischen und herrschaftsgeschichtlichen Einschnitt [markiert], der überdies nur einen Bruchteil der größer werdenden Bundesrepublik betraf.«35 Diese Einschränkungen haben jedoch wenig Einfluss auf die grundsätzliche Bewertung von ›1989‹ als einen tiefgreifenden und dabei vor allem positiven Einschnitt: Die Betonung liegt auf dem »annus mirabilis« und nicht auf den je nach Perspektive folgenden »anni miserabiles«.36 So 32 | SPASKOVSKA, Ljubica: Annus mirabilis, annus miserabilis. The Yugoslav 1989 – A Micro-history, www.1989historyeu/upload/1244770980.pdf [letzter Zugriff 07/2013], Übersetzung CL. 33 | Francis Fukuyama löste mit seiner These vom »Ende der Geschichte« Anfang der 1990er Jahre eine breit geführte Kontroverse aus, die von einer Debatte um den Westen als Werte- und Kulturgemeinschaft begleitet wurde. Sie steht im Zusammenhang mit seiner Arbeit an einer neuen Weltordnungsstrategie nach dem Ende des Kalten Krieges und besagt, grob zusammengefasst, dass nach dem Zusammenbruch der UdSSR und ihrer Satellitenstaaten sich nun die Prinzipien des Liberalismus, verstanden als Marktwirtschaft und Demokratie, weltweit und endgültig durchsetzen würden, da sowohl der Faschismus als auch der Sozialismus, die beiden einzigen historischen Alternativen zum Liberalismus, jegliche Anziehungskraft verloren hätten, vgl. FUKUYAMA, Francis: The End of History and the Last Man. New York 1992. 34 | Angesichts von ›1989‹ werden je unterschiedliche Deutungsachsen durch das 20. Jahrhundert geschlagen, die vom Bedürfnis sprechen, es angesichts dieser Zäsur zu bilanzieren und neu zu verstehen. Vgl. DINER, Dan: Das Jahrhundert verstehen: eine universalhistorische Deutung. München 1999; JÄCKEL, Eberhard: Das deutsche Jahrhundert: eine historische Bilanz. Stuttgart 1996; TENFELDE, Klaus: 1914-1990. Einheit der Epoche. 35 | SABROW, Zäsuren in der Zeitgeschichte, S. 124. 36 | Vgl. BEREND, Ivan T.: Annus mirabilis: Anni miserabiles? Debate on the Transition of Eastern Europe, in: Debates in Society, Culture, and Science, 2/1994, S. 109-128; vgl. auch THER, Philipp: 1989 – eine verhandelte Revolution.
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schreibt Timothy Garton Ash auch zwanzig Jahre später noch: »Nineteen eighty-nine was the biggest year in world history since 1945.«37
3 V ITALE Z EITORDNUNGEN Dieses »größte Jahr der Weltgeschichte seit 1945« schlägt sich auch in den Autobiographien nieder und wird dort auf unterschiedliche Art und Weise und mit verschiedenen Zielsetzungen funktionalisiert. Offensichtlich bedeutet es für die Autobiographen eine Umbrucherfahrung. Vom Beobachtungspunkt leben sie in einer Welt nach ›1989‹: Nicht nur das Label »Nachwendeautobiographie« suggeriert, dass die sogenannte Wende die Zäsur schlechthin für die Autoren ist, ohne die es gar keine Autobiographie gäbe; im übrigen spielen auch die Titel der Erinnerungen fast ausnahmslos auf den spürbaren Bruch des Zeitkontinuums an.38 Äußerlich wird die Zäsur ›1989‹ fraglos anerkannt – dieser Befund jedoch sollte genauere Betrachtung auf der Ebene der narrativen Strukturen finden, denn ihm steht eine Beobachtung entgegen, für die Michaela Holdenried den Begriff der »vitalen Zeitordnung« geprägt hat: Er beschreibt die autobiographische Vernachlässigung einer chronologischen Ordnung der Geschichte zugunsten einer individuellen, an das eigene Leben gebundenen Zeitordnung der Erinnerung.39 Das Phänomen selbst wurde aber lange zuvor bereits von Henri Bergson und Wilhelm Dilthey beschrieben, die zwischen verschiedenen Zeitwahrnehmungen und -erzählungen unterschieden.40 Nach Holdenried stellt es eher die Ausnahme 37 | ASH, Timothy Garton: 1989 changed the world. But where now for Europe? In: The Guardian, 21.04.2010, www.guardian.co.uk/commentisfree/2009/nov/ 04/1989-changed-the-world-europe [letzter Zugriff 07/2013]. 38 | KLEIN, Drinnen und Draußen; HÖRZ, Lebenswenden. Vom Werden und Wirken eines Philosophen vor, in und nach der DDR; JACOBEIT, Von West nach Ost – und zurück; MITTENZWEI, Zwielicht. Auf der Suche nach dem Sinn einer vergangenen Zeit. 39 | HOLDENRIED, Autobiographie, S. 46. 40 | Bergson unterscheidet dabei zwischen der eindeutig symbolisierbaren und zählbaren Zeit und einer tieferen, vom individuellen Bewusstsein geprägten Zeit. Vgl. BERGSON, Henri: Zeit und Freiheit. Eine Abhandlung über die unmittelbaren Bewußtseinstatsachen, Hamburg 1994, S. 77ff.; DILTHEY, Der Aufbau der geschichtlichen Welt.
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dar, wenn die persönliche Zeitrechnung von Autobiographen mit der offiziellen der Gesellschaft übereinstimmt, was sich besonders deutlich am Beispiel historischer Umbrüche zeigen lasse: oft finde sich in Erinnerungen nur ein ferner Widerhall von gesellschaftlich weitgehend festgelegten Zäsuren des 20. Jahrhunderts.41 Angesichts der Analyse des Kapitels I dieser Arbeit, in denen mit ›1933‹ und ›1945‹ zwei weitere ›objektive‹ bzw. anerkannte Zäsuren eine zentrale Rolle spielten, plädiert diese Arbeit dafür, den Begriff noch zusätzlich zu differenzieren. Ausgangspunkt ist dabei die These, dass es (mindestens) zwei weitere Varianten der »vitalen Zeitordnung« gibt: Es bietet sich an, dafür die Bezeichnungen ›weltgeschichtliche‹ und ›subkutane‹ Zeitordnung zu verwenden. Sie sollen an den Beispielen 1933 und 1945 erklärt werden. Die ›weltgeschichtliche‹ Zeitordnung bedeutet das spiegelverkehrte Phänomen dessen, was Holdenried beschrieben hat: Das hieße, dass Individuen kollektive Zäsuren empathisch beteuern, ihre Erzählhaltung und die temporalen Strukturen jedoch nicht davon zeugen, dass von den Brüchen individuell tatsächlich die Kontingenzerfahrung ausgeht, die ihnen zugesprochen wird, sondern ganz andere Periodisierungslinien nahelegen, und damit eine ›subkutane‹ Zeitordnung offenlegen. In diesem Fall wird der Weltgeschichte Dominanz über die Lebensgeschichte eingeräumt, wobei die Motive für diese Synchronisierung zu analysieren wären. Diese Formen der »vitalen Zeitordnung« haben sich bereits in Bezug auf das Jahr 1933 gezeigt: Die Autobiographen wurden in den Jahren 1921 bis 1935 geboren – dennoch setzen beinahe alle mit dem Politikwechsel 1933 und der Implementierung des nationalsozialistischen Systems eine deutliche Zäsur in ihren Lebenserinnerungen. Dabei nutzen sie vermittelte Perspektiven, um die Zäsur zu bejahen und für ihre Narrative nutz41 | Dieses Phänomen zeigte sich in Kap. II/4 beispielsweise bereits im Hinblick auf den 17. Juni 1953 oder auch den Mauerbau – beides Erinnerungsorte des Kalten Krieges – und wurde in diesem Zusammenhang »Überblendung« von Zäsuren genannt. Ein weiteres Beispiel in den Autobiographien ist die Ausbürgerung Wolfgang Biermanns 1976: Sie wird entweder nicht erwähnt (HÖRZ, Lebenswenden; MEHLS, Unzumutbar; JACOBEIT, Von West nach Ost) oder in einem Nebensatz als »Biermann-Affäre« abgehandelt, zu der man sich aber nicht positioniert (MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 304; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 188; KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 138).
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bar machen zu können. Mit der Bestätigung einer Zäsur, die sie individuell nicht erlebt haben, treten sie aus der Unmittelbarkeitsfiktion der Autobiographien etwas heraus. Beispielhaft sei nur Hörz genannt, der das Jahr 1933 folgendermaßen beschreibt: »In meinem Geburtsjahr 1933 fand die Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten in Deutschland statt, die zu meinem Geburtsdatum am 12. August schon mit Blut und Terror, mit Ermächtigungsgesetz und Ausschaltung möglicher Gegner gefestigt war.«42 Überschrieben ist das Kapitel mit »Wendemarken«, und eingeleitet wird obiger Bericht von der Feststellung, »solche Wenden« hätten sein »bisheriges Leben wesentlich geprägt«43. Eine Zäsursetzung, der sogar Prägekraft zugeschrieben wird – gleichwohl eine, die noch vor seiner Geburt stattfindet. Obwohl die Zäsur nicht oder nicht bewusst erlebt wurde, wird sie als Strukturierungselement genutzt und verliert als Bezugspunkt auch im Laufe der Erzählung nicht an Bedeutung. Darin zeigt sich die eben benannte Variante der ›weltgeschichtlichen‹ Zeitordnung: Die Autoren bestätigen eine kollektive Zäsur, weil sie sich in diesem Fall besser in das Narrativ einfügt, das man für die individuelle Lebenserzählung gewählt hat. Verdeutlicht wird an dieser Stelle aber auch, dass die Art, wie Zäsuren funktionalisiert werden, Auswirkungen auf die Zukunftsrhetorik hat. ›1933‹ wird schließlich erst retrospektiv als Anfangspunkt erzählt: zwar führt das Jahr unmittelbar zum Schrecken der nationalsozialistischen Herrschaft und zum Krieg, damit ist für die Autobiographen allerdings auch der Beginn der politischen Konversion angelegt. So ist es nur folgerichtig, dass die Erinnerungen in den Kriegsjahren unzählbare Zukunftsbezüge aufweisen, die von einem optimistischen Tenor getragen sind. Pätzold etwa schreibt auch von der in schlimmsten Kriegszeiten immerwährenden Hoffnung, »irgendwo müsse dieser Krieg doch für uns enden«44 und geht davon aus, dass dann bessere Zeiten anbrechen; Jacobeit berichtet von den Gesprächen mit den anderen Funkern über »den Ausgang des Krieges und über das, was danach kommen könnte«, von optimistischen »Anschauungen über […] Zukunft«45, die er in ihnen habe finden können.
42 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 22. 43 | Ebd. 44 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 35. 45 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 49.
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Diese Form der Zeitordnung zeigte sich auch anhand der Übernahme der Zäsur von 1945: In Kapitel I wurde das Kriegsende als entscheidender Umbruch in allen Autobiographien herausgearbeitet – oder vielmehr das entscheidende Gewicht, das die Autoren dem Kriegsende in ihren Erzählungen beimessen, beimessen müssen, um es als Wendepunkt in den Konversionserzählungen fruchtbar machen zu können. Betrachtet man die Frage nach dem Kriegsende aber nicht nur unter diesem Funktionalisierungsaspekt, verändert sich das Bild: So schreibt Werner Mittenzwei über die Zeit nach der deutschen Kapitulation 1945: »Was sich im Frühjahr 1945 vollzog, kam keinem befreiten Aufatmen gleich.«46 Für ihn ist der Krieg mit der Kapitulation noch nicht zu Ende, denn »es war noch immer Gefahr in Verzug.«47 Mit Blick auf die anderen Texte lässt sich diese Aussage verallgemeinern. Erst das »befreite Aufatmen«, das anhaltende Gefühl von Sicherheit wird zum privatgeschichtlichen Kriegsende: Geschichten erzählen von Familienzusammenführungen oder der eigenen sicheren Heimkehr aus dem Krieg. Individuell kann der Krieg so möglicherweise bereits 1944 enden oder auch erst 1947, für manche niemals,48 während er für andere gar nicht erst begonnen49 oder nur wenige Monate gedauert hat.50 Es lassen sich demnach Einschnitte feststellen, die quer zu den gesellschaftlich festgelegten Periodisierungslinien liegen, von den Autoren jedoch – und das ist der Unterschied zur »vitalen Zeitordnung« – nicht als Zäsuren anerkannt werden, legen sie das Gewicht doch auf die Synchronisierung mit den ›objektiven‹ Umbrüchen. Diese unterschiedlichen Datierungen und Gewichtungen werden dabei keinesfalls als Widerspruch empfunden.51 Im Falle von Mehls steht sogar die Trauer über den Ausgang des Krieges neben der Geschichte vom Glück über die Möglich-
46 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 18. 47 | Ebd. 48 | Vor allem bei PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, lesen sich die ständigen Bezugnahmen auf den 2. Weltkrieg immer wieder so, als sei dieser noch nicht vorüber. 49 | Vgl. MEHLS, Unzumutbar. 50 | Vgl. MIT TENZWEI, Zwielicht. 51 | Vgl. zu diesem Phänomen auch das Kapitel »Versionen eines autobiographischen Gedächtnisses« in: WELZER, Harald: Das kommunikative Gedächtnis: eine Theorie der Erinnerung. München 2002, S. 207-221.
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keit eines »neuen Anfangs«52, ohne dass er sich an der Unvereinbarkeit dieser Narrative zu stören scheint. Der Krieg endet demnach nicht nur zu unterschiedlichen Zeiten, der Mai 1945 bedeutete zudem individuell möglicherweise nicht den großen Umbruch, der ihm in Sinne einer Abgleichung mit dem kollektiven Kriegsende dann aber doch zugeschrieben wird; gleichwohl wird diese Übernahme individuell bedeutsam, ist sie doch für die Funktionalisierung als Wendepunkt in der Konversionserzählung notwendig. Mithilfe verschiedener Strategien organisieren die Autoren ihre Erinnerungen um die Zäsur 1945, die für Brucherfahrung wie Neubeginn gleichermaßen steht und eine Art narratives Scharnier in den Lebenserzählungen bildet. Gleichwohl öffnet sich der Raum für Hoffnung im Zusammenhang mit den privatgeschichtlichen Erzählungen, die von anderen Umbrüchen zeugen; sie führen zu einer optimistischen Zukunftserwartung, die sich in unzähligen Varianten der Formel eines ›neuen, besseren Lebens‹, das man erwartete, widerspiegelt.53
4 ›1989‹ UND DIE Z UKUNF T Beide Beispiele, ›1933‹ wie ›1945‹, weisen auf zweierlei hin: Zum einen erschöpft sich die »vitale Zeitordnung« in den Autobiographien nicht darin, bestimmte Zäsuren des 20. Jahrhunderts einfach auszulassen, sondern stellt sich wesentlich vielschichtiger dar. Darüber hinaus deutet sich an dieser Stelle ein Zusammenhang dieser Zeitordnungen mit den jeweiligen Zukunftsmodifikationen an. Diese Befunde unterstreichen, dass die augenfällige Übernahme der ›Wendezäsur‹ einer genaueren Analyse bedarf. Anhand sowohl der ›weltgeschichtlichen‹ als auch der ›subkutanen‹ Zeitordnung werden im Folgenden die einzelnen Quellen daraufhin untersucht, zu welchem Zeitpunkt die Zukunft welche konkrete Gestalt annimmt.
4.1 Die Welt stürzt ein Alle Autobiographen verhalten sich deutlich zur Zäsur der Jahre 1989/90: In Kapitel II hat sich gezeigt, in welchem Ausmaß sie die Legitimation des untergegangen Staates verteidigen und folgerichtig bedauern, dass er der 52 | MEHLS, Unzumutbar, S. 21. 53 | Vgl. ausführlich Kap.I/4.
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Vergangenheit angehört. Im Hinblick auf die Verflechtung der Biographien mit dem verlorenen Staat lässt sich der Einschnitt, den die ›Wende‹ bedeutet, auch nicht in Frage stellen, er hob »die Gültigkeit der bisherigen Ordnung der Dinge auf«.54 Das bedeutet gerade für die Protagonisten eine besondere Herausforderung, gingen sie doch mit der »Gültigkeit« des Systems weitgehend konform – und müssen nun eine Möglichkeit finden, ihr Selbstbild auch über die Zäsur hinaus zu retten. Oberflächlich betrachtet, erzählen alle Texte den Systemzusammenbruch als einen extremen und negativen Einschnitt: So spricht Hörz von einer »Lebenswende«55, was für sich genommen allerdings noch nicht sehr aussagekräftig ist, denn gemäß seiner Definition qualifizieren sich auch eher marginale Ereignisse als solche: Lebenswenden sind »neue soziale Erfahrungen prinzipieller und familiärer Art, als auch Orts- und Arbeitsstellenwechsel, einschließlich des Übergangs zur Altersrente als der Zeit unbezahlter ehrenamtlicher Arbeit für die Wissenschaft. Solche Wenden haben mein bisheriges Leben wesentlich geprägt.«56 Gleichwohl ist ›1989‹ eine markantere Lebenswende als die anderen, die er »verkraften« musste, bedeutete sie doch die »Zerstörung der DDR-Identität, mental und emotional.«57 Die mentale Zerstörung bezieht sich dabei auf den Umgang mit der Wissenschaft der DDR, die emotionale zielt vor allem auf den Umgang mit ihm persönlich. Die Lebenswende wird an dieser Stelle zum Ende eines Krieges, den man verloren hat. Mit dieser Interpretation des Jahres 1989 steht Hörz nicht allein da: Auch Jacobeit sieht mit den Geschehnissen einen Kampf zu Ende gehen, in dem es, »wie […] in allen Kriegen […] Sieger und Besiegte [gab]«.58 Den Terminus der »friedlichen Revolution« lehnt er als »hochstilisiertes Ende« ab, er passe nicht zu seiner Kriegs-Metaphorik: Es sei ein Sieg der BRD, mit der ostdeutsche Bevölkerung als »eindeutiger Verlierer«59. Pätzold verwendet ebenfalls Kriegsbilder: »Je weiter [das letzte Jahr der DDR, CL] fortschritt, umso mehr verwandelte der [ostdeutsche Staat, CL] sich in
54 | SABROW, Zäsuren in der Zeitgeschichte, S. 125. 55 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 27. 56 | Ebd., S. 22. 57 | Ebd., S. 32. 58 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 263. 59 | Ebd.
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eine Ruine. Die an seiner Spitze standen […] bereiten die geschichtlichen Kapitulationsurkunden vor.«60 Alle Autoren beschreiben die Wendezeit als eine Zeit großer Verunsicherung, geprägt von »Turbulenzen«61 und »Wirren«62 . Mehls spricht vom »Sturz ins Chaos«63, von »tiefe[r] Verwirrung«64, von der »ungeheure[n] Dramatik« dieser Zeit: »Jeden Tag schienen erneut Welten einzustürzen. Die Ereignisse überschlugen sich. Es raubte einem fast den Atem.«65 Den Begriff der ›Wende‹ empfindet er als »verharmlosend«, schließlich vollzogen sich damals »so tiefgreifende Veränderungen«, dass diese Etikettierung zu klein erscheine.66 Mittenzwei beschreibt seinen Gemütszustand damals als »bedrängt« und »verängstigt«67 und unterstreicht den Zäsurencharakter des Jahres, indem er Geschehnisse sehr häufig mit der zeitlichen Markierung »nach der Wende« einleitet.68 Die sogenannte Wiedervereinigung malt er in düsteren Farben: »System«, »Weltanschauung« und »Gesinnung« sollten abgewickelt werden.69 Auch Klein spricht von einer »wirkliche[n] Wende« 70, die er nicht gewollt 71 und deren Ereignisse er »überaus besorgt« 72 betrachtet habe. In allen Texten wird die Zäsur äußerlich deutlich anerkannt und vernichtend bewertet. Die Erzählungen sprechen – in völligem Kontrast zum offiziellen Diskurs – von Zerstörung, von Ruinen, von verlorenem Krieg. 60 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 341. 61 | Ebd., S. 272; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 163. 62 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 10; HÖRZ, Lebenswenden, S. 373; MEHLS, Unzumutbar, S. 113. 63 | MEHLS, Unzumutbar, S. 304. 64 | Ebd., S. 299. 65 | Ebd., S. 304. 66 | Ebd., S. 302. 67 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 479. 68 | So findet sich der Bezug »vor der Wende« lediglich drei Mal, »nach der Wende« hingegen nahezu 40 Mal. Mehls und Jacobeit lassen diese Einteilung vermissen, Klein bezieht sich einige Male (zehn Mal) auf »nach der Wende«, Hörz noch etwas weniger (sechs Mal) und Pätzold ein einziges Mal. 69 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 448. 70 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 342. 71 | Ebd., S. 343. 72 | Ebd., S. 339.
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Sie sprechen aber auch von Verunsicherung und Ängsten, von Verwirrung, Chaos und innerer Bedrängnis, kurz: Sie synchronisieren das eigene Leben mit den Ereignissen von 1989 – der äußere Bruch korreliert in der Erzählung mit einer ›inneren‹, einer individuellen Brucherfahrung. Diese Konstruktion erstaunt auch im Hinblick auf die bisherigen Ergebnisse dieser Arbeit nicht. Die Analyse der Texte zeigt dabei, dass die individuelle Brucherfahrung mit der Schilderung einer ganz bestimmten Erfahrung korreliert, die von den Autoren in diesem Zusammenhang immer wieder bemüht wird: Sie sprechen von der Hoffnung bzw. vom Verlust ihrer Hoffnung, der in den Erinnerungen zu dem Punkt wird, an dem sie den Umbruch verorten – ein Befund, der zum nächsten Teil dieses Kapitels überleitet. Hier sollen diese Hoffnungen näher in den Blick genommen werden und die Fragen, worauf sie gerichtet und wodurch konkret sie enttäuscht wurden – und welche Auswirkungen das auf die Zukunftsbezüge in den Erinnerungen hat.
4.2 Vom Scheitern der Hoffnungen Hoffnung ist die auf die Erfüllung zukünftiger Zustände gerichtete Erwartung. Im Gegensatz zu diesem utopischen steht der dystopische Erwartungshorizont,73 der sich in den Erinnerungen offensichtlich mit dem Untergang des Staates schließt. Alle Autoren deklarieren das Ende ihrer Hoffnung im Zusammenhang mit der Zäsur 1989. Dieser Zeitpunkt steht im Zentrum der folgenden Überlegungen. Konkret wird analysiert, worauf sich die Erwartungen der Autoren bezogen, wodurch sie enttäuscht wurden und welche Auswirkungen dies auf den jeweiligen Zukunftshorizont hatte. Alle Erinnerungen datieren ihre Enttäuschung auf den Moment, als ihnen klar wurde, dass die DDR verschwinden und nicht reformiert werden würde, als demnach auf die Weiterexistenz eines reformierten Sozialismus, einer Art ›besseren DDR‹ nicht mehr zu hoffen war. Wann genau dieser Glauben aber aufgegeben wurde, ist zumindest auf den ersten Blick nicht dingfest zu machen, denn die Erinnerungen legen den Punkt des endgültigen Hoffnungsverlustes einerseits auf die Jahre unmittelbar vor dem Mauerfall, andererseits synchronisieren sie ihn mit den Geschehnis73 | RUCHT, Dieter: Modernisierung und neue soziale Bewegungen. Frankfurt a.M. 1994.
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sen der Wendezeit. So schreibt Hörz, seine Hoffnung habe immer in der Möglichkeit einer reformierten DDR bestanden, auf die er gewartet haben möchte, seit Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU wurde: »Die Änderungen, die seit 1985 erhofft wurden, traten ein – völlig anders als vorgesehen.« 74 Anders bedeutet, dass die »Zerstörer« 75 die Oberhand gewannen. Auch Mehls spricht davon, »voller Hoffnung« gewesen zu sein, solange er davon ausgegangen sei, dass die Mehrzahl der DDR-Bürger nicht »den Sozialismus als Gesellschaftsordnung an sich in Frage stellten« 76 – und Mittenzwei schließt sich an: Auch für ihn sei erst dann ein Ende erreicht gewesen, als von »einer Erneuerung der DDR […] keine Rede mehr [war]; übrig blieb nur der Haß auf das Vergangene.« 77 Er spricht vom »Winter der Enttäuschung«, in dem »die Leute […] ihre frühere Einsicht abzustreifen [schienen] wie eine nicht mehr zeitgemäße Kleidung.« 78 Die Phase, in der das Szenario einer reformierten DDR noch realistisch erschien, wird von den Autoren in Euphorieepisoden vermittelt – so schreibt beispielsweise Klein, er sei »wie elektrisiert« 79 gewesen aufgrund der Möglichkeiten, die sich scheinbar auftaten; Mittenzwei spricht von der »überschäumende[n] Freude«80, die alle ergriffen habe. Hierin ähneln sie den Erzählungen von Oppositionellen, die den gleichen Zeitraum als getragen von Auf bruchshoffnung schildern.81 Im Unterschied aber zu den untersuchten Autobiographien kam es für die Oppositionellen damals zu einem immensen biographischen Bedeutungszuwachs, einer punktuellen Verschmelzung von Selbstverständnis und historischer Entwicklung, von Erfahrung und Erwartung.82 Davon kann im hiesigen Sample keine 74 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 307. 75 | Ebd., S. 26. 76 | MEHLS, Unzumutbar, S. 299. 77 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 437. 78 | Ebd. 79 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 316. 80 | Ebd., S. 431. 81 | Vgl. LEISTNER, Alexander: Sozialfiguren des Protests und deren Bedeutung für die Entstehung und Stabilisierung sozialer Bewegungen: Das Beispiel der unabhängigen DDR-Friedensbewegung. In: Forum Qualitative Sozialforschung/Forum: Qualitative Social Research, 2/2011, Art. 14, http://nbn-resolving.de/urn: nbn:de:0114-fqs1102147, 83 Absätze, hier Absatz 71, [letzter Zugriff 07/2013]. 82 | Ebd., Absatz 82.
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Rede sein; vor allem aber kippt die Euphorie der Autobiographen wesentlich früher. Bereits die Maueröffnung wird von pessimistischen Tönen begleitet,83 die Vereinigung beschreiben sie als Erfahrung der Resonanzlosigkeit des eigenen Anliegens und berichten, ihre Erwartungen und ihre Zukunftshoffnungen seien an diesem Punkt gescheitert. Parallel dazu läuft die Erzählung von einer wesentlich früheren Enttäuschung, die zur Überlegung führt, ob es sich bei der klaren Synchronisation der Biographien mit ›1989‹ um Beispiele für die ›weltgeschichtliche‹ Zeitordnung handelt. So betont Klein, dass er in der Wendezeit nicht wirklich an Reformen geglaubt habe. Er unterschrieb zwar den Appell »Für unser Land« im November 1989, in dem auf der Eigenständigkeit der DDR beharrt wurde, gibt jedoch an, dies sei eher »ein Akt trotzigen Wunschdenkens als realistischer Zukunftserwartung [gewesen], wie mir dabei ziemlich klar war.« 84 Auch Mehls erzählt, er habe »keine Illusionen über das [entwickelt], was sich dann tatsächlich mit der Herstellung der Einheit Deutschlands in diesem Lande tat« 85 und sei vom Mauerfall »keinesfalls überrascht« 86 worden. Pätzold berichtet, zu Beginn der Ära Gorbatschow optimistisch gestimmt gewesen zu sein: »Die schönsten Hoffnungen keimten.«87 Auch er habe sich einen reformierten Sozialismus erwartet, dann aber gesehen, dass sich Gorbatschow auf »den Kampf gegen die Trunksucht kaprizierte«, womit er gezeigt habe, dass er »für ein systematisches Vorgehen bei diesem Umbau kein Konzept besaß.«88 Pätzolds Hoffnungen seien deshalb lange vor dem Mauerfall enttäuscht worden; die turbulenten Ereignisse der Vorwendezeit erzählt er folgerichtig betont abgeklärt: »Ich arbeitete 1988/1989 nicht anders als zuvor.«89 Er spricht davon, bereits die Gorbatschow unterstellte Konzeptlosigkeit als Ende der Hoffnung auf einen reformierten Sozialismus gesehen zu haben. Jacobeit verdeutlicht in einer Nebenbemerkung, dass auch 83 | »Es war die wirkliche Wende – hin zu einem neuen Ziel, das nur wenige der Enthusiasten vom 4. November im Sinne gehabt hatten« (KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 342). 84 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 343. 85 | MEHLS, Unzumutbar, S. 307. 86 | Ebd., S. 304. 87 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 226. 88 | Ebd. 89 | Ebd., S. 231.
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er sich Reformen erwünscht hatte: Gorbatschow nennt er im Gegensatz zu Pätzold einen »Hoffnungsträger«90 – eine singuläre Bezeichnung in seiner Autobiographie und auch eine singuläre Bedeutung, die er ihm zuschreibt: »Wir hatten jedenfalls zu Hause ein großes GorbatschowPoster […], das einzige und erstmalige Porträt eines Staatsmannes, das es je im Hause Jacobeit gegeben hat.«91 Als sein Weg scheitert, »wohl auch scheitern mußte«, als schließlich die Mauer fällt, möchte Jacobeit – der an dieser Stelle im Wir-Kollektiv mit seiner Frau schreibt – davon gleichwohl nicht überrascht worden sein: »Als dann am 9. November 1989 die Mauer fiel, war das für uns eher eine erwartete Konsequenz des Geschehens der letzten Tage und Wochen, als die Sensation, wie sie die meisten empfanden.«92 Mit dieser Vordatierung heben die Autobiographen sich von einem Großteil ihrer Mitmenschen ab; im Gegensatz zur breiten Masse wurden sie nicht von den Ereignissen überrannt, sondern waren dank ihres Weitblicks lange darauf vorbereitet. Die Welt mochte untergehen – die lebensgeschichtliche Souveränität bleibt trotzdem in Händen der Autoren. Die Erinnerungen unterscheiden sich demnach nicht nur untereinander hinsichtlich der Zeitpunkte, an denen ihre Hoffnungen auf eine Reformierbarkeit der DDR enttäuscht wurden, auch in den einzelnen Texten finden sich hierfür variierende Datierungen. Vor allem aber ist der Tenor der Texte lange vor der Erzählung von den Vorwendejahren und ›1989‹ deutlichem Wandel unterworfen. Ging die Hinwendung zum Staatssozialismus bei allen Autoren einher mit einem durchdringenden Zukunftsoptimismus, der eng verknüpft ist mit der sozialistischen Utopie, so schwindet er im Laufe der Erinnerungen. Die emphatische Hoffnung auf gute Zeiten, die sich in auffallend häufig verwendeten Vertretern der Lexemverbände ›Fortschritt‹ und ›Zukunft‹ niederschlagen, nimmt sukzessive und keinesfalls einschnittartig ab. Dieser Umschwung findet bei allen Autoren statt. Eine biographische Erklärung könnte diesbezüglich sein, dass die Autoren irgendwann alle einen beruflichen Status erreicht haben, der sie in der Gegenwart leben lässt: Sie sind etabliert, die Zeit des Suchens und des Aufbaus ist sowohl in beruflicher wie auch privater Hinsicht vorbei – die Autoren sind in der Zukunft angekommen. Doch diese Interpretation greift zu kurz, da die Auto90 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 223. 91 | Ebd. 92 | Ebd., S. 225.
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biographen diesen Zeitraum nicht als Ankunftserzählung schildern. Der Tenor der Erinnerungen wirkt nicht gelassen, sondern pessimistisch; man ist nicht in der Zukunft angekommen, sondern sie scheint verschwunden – und das zu einem Zeitpunkt, als das Ende der DDR noch in weiter Ferne lag. Sollte es tatsächlich einen früheren Wendepunkt in den Erzählungen geben, der überindividuellen Entwicklungen geschuldet ist und Einfluss auf den Zukunftsoptimismus der Autoren hatte, so muss er sich identifizieren lassen. Um eine alternative Zäsur zu ›1989‹ anhand des Verlustes der Zukunft ausfindig zu machen, soll die Entwicklung der ›Hoffnung‹ in der Chronologie der Autobiographien nachvollzogen werden, die möglicherweise Hinweise auf eine den Autobiographien inhärente ›subkutane‹ Zeitordnung gibt.
5 V OM E NDE UND A NFANG DER Z UKUNF T Für das Aufblühen der Hoffnung, das eng mit der Staatsgründung der DDR verbunden wird, ist charakteristisch, dass die Autobiographen ihre biographische Vorwärtsentwicklung mit dem Auf bau des neuen Staates synchronisieren; ein Phänomen, das Christa Wolf schon 1963 schilderte: »Meine Generation (die Dreißig-, Fünfundreißigjährigen) ist in einer vielleicht einmaligen Lage: Ihr Aufstieg ins Leben, in die Welt der Erwachsenen, ist gebunden an den gleichzeitigen Aufstieg der neuen Gesellschaft.«93 Alle Autoren teilen das Jugenderlebnis ›gesellschaftlicher Auf bruch‹, an denen sich ihre weiteren Erfahrungen orientieren,94 und nicht nur das: Sie setzen ihren persönlichen Auf bruch und den Auf bruch des Staates immer wieder miteinander gleich; beide stehen für »Erneuerung, Reinheit, Mut, Kompromisslosigkeit, für Zukunftsperspektive.«95 93 | WOLF, Christa: Wo liegt unsere »terra incognita«? In: Forum 7/1963, S. 30-32. 94 | »Es ist weitgehend entscheidend für die Formierung des Bewusstseins, welche Erlebnisse als ›erste Eindrücke‹ ›Jugenderlebnisse‹ sich niederschlagen. […] Die ersten Eindrücke haben die Tendenz, sich als natürliches Weltbild festzusetzen.« MANNHEIM, Karl: Das Problem der Generationen. In: Ders.: Wissenssoziologie. Auswahl aus dem Werk, hg. v. Kurt H. Wolff, Berlin 1964, S. 509-565, hier 531. 95 | DAHLKE, Birgit: »Ich bin so alt wie die Republik!« Die 60er Jahre: Aufbruch einer Generation, in: Aufbruch in die Zukunft. Die 1960er Jahre zwischen Planungseuphorie und kulturellem Wandel. DDR, CSSR und Bundesrepublik Deutsch-
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So spricht Mittenzwei vom Staat, der seinen Weg findet, und erzählt parallel dazu, wie er zum Staat findet: »Was mich vor allem zu sozialistischen Positionen drängte, war der Einfluß der Literatur. Sie hat mich auf diesen Weg geleitet und mich selber in Bewegung [Hervorhebung CL] gebracht.«96 Die Literatur, somit auch sein Beruf, ist das Bindeglied zwischen Mittenzwei und dem sozialistischen Staat, der ihn umgibt – auf diese Wechselwirkung legt Mittenzwei immer wieder großen Wert.97 Der Aufbau des Sozialismus und seine literarische Verarbeitung98 lassen auch Mittenzwei einen Schritt vorwärts gehen. Das gleiche Narrativ – die Parallelisierung vom Auf bau des Staates mit dem persönlichen Vorankommen – findet sich auch bei den übrigen Autoren – mit Ausnahme von Jacobeit, der zu dieser Zeit noch in der Bundesrepublik lebt. Aber auch er spricht von Hoffnung und Optimismus, sobald er in die DDR übergesiedelt ist. Darin liegt insgesamt ein Fortschrittsglaube, der exemplarisch steht für die Zeit, in der die Autoren ihre individuelle ›Auf baugeschichte‹ erleben, demnach die 1960er Jahre. Neben dem Antifaschismus als unveränderlichem Pfeiler des »Grundkonsenses zwischen Herrschern und Beherrschten in der DDR« 99 [vgl. Kapitel I/4.3], stand ebenso unveränderlich land im Vergleich, hg. v. Heinz Gerhard Haupt und Jörg Requate, Weilerswist 2004, S. 329-344, hier S. 329. Der Begriff der Jugend erfährt in der DDR, wie bereits an einer früheren Schwelle der Modernisierung (um 1900), eine umfassende gesellschaftliche Aufwertung. Die Zukunftsorientierung der modernen Gesellschaft hatte das einst Defizitäre der Jugend, ihre Erfahrungslosigkeit, entschieden aufgewertet. 96 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 62. 97 | »Daß man eine neue Zeit erhoffte, in der auch die Arbeiter eine Zukunft haben, erfuhr ich nach und nach erst aus der Literatur« (ebd., S. 32). 98 | Zu Beginn der 1960er Jahre nahm das Thema Aufbruch einen zentralen Platz in der DDR-Literatur ein. Vgl. GANSEL, Carsten: Von der Einpassung über den Protest zum Ausbruch. Jugendkonfigurationen in der Literatur der DDR vor und nach 1968, in: Der Geist der Unruhe. 1968 im Vergleich. Wissenschaft – Literatur – Medien, hg. v. Rainer Rosenberg, Inge Münz-Koenen und Petra Boden, Berlin 2000, S. 267-290. Bei allem Aufbruchspathos zeigte sich aber auch, dass die Jungen keinen ›Vatermord‹ begehen wollten. Der moralische Kredit des Antifaschismus verhinderte den radikalen Generationenbruch. 99 | SABROW, Martin: Zukunftspathos als Legitimationsressource. Zu Charakter und Wandel des Fortschrittsparadigmas in der DDR, in: Aufbruch in die Zukunft, S. 165-184, hier S. 166.
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der »gesellschaftliche Fortschritt«100. Hoffnung und Erwartung bedeuten zu diesem Zeitpunkt die Entmachtung der Vergangenheit, vor allem aber beruhen sie auf der Gewissheit, alles meistern zu können: »Auf dem Wege der sozialistischen Entwicklung werden wir alle bei uns vorhandenen Schwierigkeiten überwinden können«, lässt Ulbricht auf der II. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 verlauten,101 und dieser grenzenlose Optimismus bildet auch die Grundierung der autobiographischen Schilderungen dieser Zeit. Die Zukunftsvision ist keine utopische, sondern eine durchweg berechenbare,102 kein »imaginärer Un-Ort einer erträumten Gegenwelt, sondern die in Zahlen und Daten angebbare Schrittlänge des sozialistischen Wegs in die Welt von morgen«103 – die in den Autobiographien freilich zunehmend aus dem Tritt gerät. In chronologischer Folge beleuchtet die folgende Analyse, wie sich die politischen Veränderungen in der DDR von den späten 1950er bis in die 1980er Jahre auf das ›Zukunftserleben‹ der Autobiographen auswirken.
5.1 Erste Erschütterungen Die Zukunftsbezüge in allen Autobiographien weisen erstaunlich lange keinerlei Brüche auf. Zwar finden sich in manchen Erinnerungen Äußerungen, die den 17. Juni 1953 als Ereignis beschreiben, das sie »zum Nachdenken gebracht habe«104, die optimistischen Zukunftserwartungen verändern sich in diesem Zusammenhang aber nicht. Eine erste Erschütterung der Zukunftsgewissheit bringt erst die fünfstündige Geheimrede, die nach dem Tode Stalins auf dem KPdSU-Parteitag im Februar 1956 von seinem Nachfolger Nikita Chruschtchow gehalten wurde. Er verurteilte 100 | Vgl. ebd. und außerdem: LANGEWIESCHE, Dieter: Fortschritt als sozialistische Hoffnung, in: Sozialismus und Kommunismus im Wandel, hg. v. Klaus Schönhoven u. Dietrich Staritz, Köln 1993, S. 39-55; DOKUMENTATIONSZENTRUM ALLTAGSKULTUR DER DDR e.V. (Hg.): Fortschritt, Norm und Eigensinn. Erkundungen im Alltag der DDR, Berlin 1999. 101 | Protokoll der Verhandlungen der II. Parteikonferenz, zitiert nach SABROW, Zukunftspathos, S. 173. 102 | Ausführlicher zur Zeitlosigkeit des Utopiebegriffs: SCHWENDTER, Rolf: Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. Berlin 1994. 103 | SABROW, Sozialismus als Sinnwelt, S. 20. 104 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 258; vgl. ausführlich Kap. II./4.1.
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darin Stalins Herrschaftsmethoden, insbesondere die ›Säuberungen‹ der 1930er Jahre an kommunistischen Parteimitgliedern, sowie den Personenkult. Damit sollte die Partei auf eine Entstalinisierung vorbereitet und eine vorsichtige Reformpolitik eingeleitet werden.105 Der Text fand auf verschiedenen Wegen rasche und weltweite Verbreitung: Versuchte man auf der SED-Parteikonferenz in der letzten Märzwoche 1956 noch, seinen Inhalt nur am Rande zu verhandeln, so war es wenige Monate später mit jeglicher Geheimhaltung vorbei – im Juni erschien er in der New York Times,106 außerdem strahlten ihn Sendungen von Radio Free Europe, The Voice of America und BBC aus.107 Über einen dieser Wege nahmen auch alle Autobiographen den Inhalt der Rede zur Kenntnis und inszenieren mit diesen Erzählungen auch ihre damalige Nähe ›zum System‹. Pätzold etwa berichtet, er habe sich den Text nicht selbst beschafft, sondern ihn von Karl Schirdewan108 im Rahmen eines Parteitages vorgelesen bekommen. Eine Rolle spielt Chruschtschows Rede in allen Erinnerungen. Den größten Raum erhält sie bei Fritz Klein, der ein ganzes Kapitel nach dem XX. Parteitag benennt. Er gibt an, er habe sich eine deutsche Übersetzung des New York TimesArtikels »an einem Zeitungskiosk in West-Berlin«109 gekauft. Wiederholt spricht er von der »Hoffnung«110, die bei allen »kritischen Anhängern der auf die sowjetische Politik orientierten sozialistischen Bewegung«111 ausgelöst worden sei. Der Parteitag habe »Bewegung in die erstarrte Welt«
105 | Vgl. hierzu: WET TIG, Gerhard (Hg.): Sowjetische Deutschland-Politik 1953 bis 1958. Korrekturen an Stalins Erbe, Chruschtschows Aufstieg und der Weg zum Berlin-Ultimatum, München 2011, S. 43ff. 106 | Damals beschuldigte Chruschtschow sie der Fälschung, in seinen Memoiren bekannte er sich allerdings zur ›Geheimrede‹: TALBOTT, Strobe (Hg.): Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, Hamburg 1992, S. 329. 107 | Vgl. FOITZIG, Jan: Entstalinisierungskrise in Ostmitteleuropa 1953-1956. Vom 17. Juni bis zum ungarischen Volksaufstand. Politische, militärische, soziale und nationale Dimensionen, Paderborn 2001, S. 19. 108 | Karl Schirdewan war damals Leiter der neugegründeten Abteilung »Leitende Organe der Partei und der Massenorganisationen« des ZK der SED. 109 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 185. 110 | Ebd., S. 172, S. 184. 111 | Ebd., S. 184.
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gebracht – allerdings hätten die Hoffnungen sich bald zerschlagen, als offensichtlich wurde, dass sie in der DDR zu keinerlei Reformen führten.112 Mehls spricht beinahe wortgleich von den »Hoffnungen«, die der Parteitag ausgelöst habe und die sich dann »als reine Illusion« erwiesen hätten.113 Ihre Erfüllung hätte in der »Weiterentwicklung und Vertiefung der sozialistischen Demokratie«114 bestanden, sprich in Reformen. Doch obwohl sie nicht erfolgten, obwohl er das als tiefe Enttäuschung beschreibt, bewertet er den XX. Parteitag grundsätzlich positiv, habe er doch »die Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstkorrektur«115 gezeigt. Auch Hörz berichtet, der Parteitag und die folgende Stalinismuskritik sei ein »tiefer Einschnitt« gewesen, allerdings in das »philosophische Leben der DDR und anderer Länder.«116 Unter politischen Gesichtspunkten hätte ihn der Parteitag nicht interessiert und auch keinen Anlass geboten, ideologische Konsequenzen zu ziehen. Diese hält er deshalb auch bei Robert Havemann117 nicht für überzeugend: »Das Umschwenken von einem ergebenen Stalinisten zu einem kämpferischen Antistalinisten, von einem Saulus zum Paulus […] konnte ich […] nicht ernst nehmen.«118 Konversionen hin zur ›falschen‹ Überzeugung sind demnach nicht glaubhaft. In Jacobeits Erinnerungen bedeuten die »Darlegungen Chruschtschows« das jähe Ende der »Zeit einer großen Euphorie«, der »offenen positiven Stimmung und Atmosphäre«;119 außerdem führten sie zur »bald folgende[n] Gegenreaktion der SED-Führung« sowie zum »ungarischen 112 | Ebd., S. 172. 113 | MEHLS, Unzumutbar, S. 72. 114 | Ebd. 115 | Ebd., S. 75. 116 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 255. 117 | Robert Havemann (1910-1982) leitete als Professor das PhysikalischeChemische Institut der HUB; ausgelöst durch den XX. Parteitag wurde er zum bekanntesten Systemkritiker der DDR, die sich nicht nur auf die Gängelung der Wissenschaft bezog, sondern auch auf die prinzipiellen politischen Verhältnisse. 1964 wurde er aus der SED ausgeschlossen und erhielt die fristlose Entlassung aus der HUB; fürderhin war er Überwachung, teilweise auch Hausarrest ausgesetzt; vgl. VOLLNHALS, Clemens: Der Fall Havemann. Ein Lehrstück politischer Justiz, Berlin 2000, S. 15ff. 118 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 189. 119 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 90.
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Aufstand«, die Hoffnungen auf Reformen zunichte machten.120 Auch Mittenzwei erzählt vom »Schock«, den der Parteitag ausgelöst habe, von den »tiefen Spuren«, die er hinterließ.121 Deutlich bewertet er Ulbrichts Reaktion: »Wie Stalin säuberte er zuerst die eigenen Reihen und schlug der SED tiefe Wunden. Den sozialistischen Intellektuellen wurde bei ihren ersten Reformversuchen eine Niederlage zugefügt, von der sie sich auch in den Jahren nicht erholten, in denen sich Reformen als machbar erwiesen.«122 An anderer Stelle schildert Mittenzwei den XX. Parteitag wiederum als Auf bruch, als »rituelle Wandlung« 123 mit dem sein »eigener Weg zu Marx [begann]«.124 Damals seien »bestimmte Gewohnheiten aus der Stalinzeit aus dem Parteileben [verschwunden], obwohl Walter Ulbricht alles versuchte, die SED in alter Weise im Griff zu behalten.« 125 Pätzold zeigt sich tief erschüttert vom »Wissen«126, das er von Schirdewan erhält, distanziert sich aber davon, indem er es von seiner Lebenswelt fernhält – »in der DDR waren keine Toten auszugraben« – und vor allem auf die Sowjetunion beschränkt: »Wie konnte die sowjetische Gesellschaft sich mit dieser Vergangenheit auseinandersetzen?«127 Ihn beschäftigt in erster Linie die ›Gegenseite‹, das heißt die BRD, die nun »Munition gegen die sozialistischen Staaten und gegen die mit ihnen solidarische oder sympathisierende Kräfte im eigenen Lande«128 gesammelt habe. Gleichwohl sieht er, dass die »notwendigen Demokratisierungen« 129 nicht vollzogen worden seien, folgt aber der Parteileitung in ihrem Bestreben, »die Eskalation der Vertrauenskrise zu verhindern und Entwicklungen zu vermeiden, wie sie sich in Polen und namentlich in Ungarn vollzogen hatten.«130 Sein Blick bleibt vorwärtsgewandt, er ist überzeugt, dass »über
120 | Ebd., S. 272. 121 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 210. 122 | Ebd., S. 149. 123 | Ebd., S. 132. 124 | Ebd., S. 133. 125 | Ebd., S. 132. 126 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 116. 127 | Ebd., S. 119. 128 | Ebd., S. 117. 129 | Ebd., S. 121. 130 | Ebd., S. 120.
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das große Thema das letzte Wort nicht gesprochen war und praktische Schlußfolgerungen noch gefunden werden müßten.«131 Dieses Narrativ findet sich in jeder Autobiographie, die bei allen Unterschieden doch eine ähnliche Geschichte erzählen: Dabei werden die Enthüllungen Chruschtschows und die konkreten Folgen, die sie für die DDR hatten, als tiefer und negativer Einschnitt beschrieben, als »tiefe Krise in [der] politischen Entwicklung«132, die umso dramatischer ausfiel, als man sich vorerst eine Verbesserung des politischen Klimas erhofft hatte. Im gleichen Maße, in dem die Autoren ihre Enttäuschung über diese verpasste Gelegenheit formulieren, betonen sie jedoch auch, weiterhin davon ausgegangen zu sein, dass es vorwärts gehe, dass sie dennoch ungebrochen an den Sozialismus und seine Richtigkeit geglaubt hätten – und dies mit gutem Grund. So schreibt Klein davon, auch nach 1956 auf den »weiteren Ausbau der sozialistischen Gesellschaft«133 gezählt zu haben, und Mehls betont, dass »auf dem Wege zur Lösung dieser gewaltigen Menschheitsaufgabe [die eine Veränderung des Menschen selbst zum Ziel hat, CL] nach meiner Überzeugung nicht wenig erreicht worden« war und die DDR »prinzipiell richtige Prämissen gesetzt« habe.134 Dazu passend sind die Erinnerungen weiterhin getragen von grundsätzlich optimistischen, zukunftszugewandten Plänen und Überlegungen, die sich allerdings (einzige Ausnahme ist Pätzold) in zunehmendem Maße auf das wissenschaftliche Fortkommen beziehen. Die Hoffnungen und Erwartungen ändern sich im Hinblick auf das Ziel, an das sie geknüpft werden, nicht aber in ihrer Intensität: Die Erfüllung bestimmter Forschungsvorhaben steht nun am Zukunftshorizont, die staatssozialistische Idee verblasst daneben. Hörz etwa schreibt, er habe einfach »in der Wissenschaft bleiben und philosophische Probleme der Naturwissenschaften weiter bearbeiten«135 wollen, und auch Jacobeits Zukunftszugewandheit bezieht sich auf seine wissenschaftlichen Pläne. In diesem Bereich habe er weiterhin »Narrenfreiheit«136 genossen, seine Erwartungen richtet er ausschließlich auf die Realisierung von Forschungsprojekten. Ganz in 131 | Ebd., S. 121. 132 | MEHLS, Unzumutbar, S. 74. 133 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 213. 134 | MEHLS, Unzumutbar, S. 76. 135 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 284. 136 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 91.
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diesem Sinne schließt sich an Mittenzweis vernichtende Darstellung von Ulbrichts Säuberungsaktionen die optimistische Beschreibung seiner Projekte an, er spricht von seiner unverminderten »Lust auf Theater.«137 Möglich ist diese Konzentration auf die wissenschaftlichen Projekte, denen in der Darstellung im Folgenden mehr Raum in den Erinnerungen gegeben wird, weil sie zunehmend vom ›Großprojekt Sozialismus‹ abgekoppelt werden. Wurde das eigene wissenschaftliche Fortkommen anfänglich eng mit dem Auf bau des Staates verzahnt, stehen nach Ulbrichts Reaktionen auf die Rede Chruschtschows einzelne Forschungsprojekte im Vordergrund, die ohne politische Bezugnahmen dargestellt werden, allerdings doch über sich hinausweisen und von einer deutlichen Zukunftsgewissheit sprechen: Die Autoren glauben an ihre Forschung, die sie als Beitrag für ein besseres Morgen sehen – die sozialistische Utopie ist noch erkennbar, allerdings nicht mehr an den Staat gebunden.
5.2 ›1961‹ und ›1968‹: »Katalysator für erneutes Nachdenken« 138 Wenige Jahre später unternimmt der sozialistische Staat, so die Autoren, eine gewaltige Kraftanstrengung, um sich zu schützen: Er lässt die Grenzen schließen. Dass der Mauerbau als Einschnitt, gleichwohl aber positiver Natur geschildert wird, wurde in Kapitel II/4.2 detailliert herausgearbeitet; er habe Hoffnungen ausgelöst, dass nun Reformen möglich seien, da das Regime künftig weder Bevölkerungsschwund noch Einmischungen aus dem Westen mehr zu befürchten habe. Diese Hoffnungen finden sich auch noch im Nachklang des Mauerbaus, die Autobiographen beschwören weiterhin die »neue Zeit«139 – bei allen kritischen Tönen, die sich oft als »Skepsis«140 umschrieben finden. Sie nehmen mit dem Jahr 1968 deutlich zu, der ›Prager Frühling‹141 erscheint als weitere Zäsur. Er sei zwar ein »Schock«142 gewesen, dabei aber, wie die Zäsuren 1956 und 137 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 162. 138 | Ebd., S. 258. 139 | Ebd., S. 132; MEHLS, Unzumutbar, S. 278; HÖRZ, Lebenswenden, S. 520. 140 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 255; MEHLS, Unzumutbar, S. 300; JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 260. 141 | Vgl. zur Realgeschichte Anmerkung 170/Kap. II. 142 | MEHLS, Unzumutbar, S. 171, S. 172.
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1961, eher »Katalysator für ein erneutes Nachdenken«143 und nicht Anlass gewesen, Hoffnungen aufzugeben. Mehls, Mittenzwei und Klein legen dies ausführlich dar; dabei stellen sie sich als kritisch, bewusst, abwägend und gleichzeitig hoffnungsvoll dar. Hier exemplarisch die Stimme von Mehls: Was die Sicht auf den Sozialismus betraf. gab es für mich, so erstaunlich sich das auch an dieser Stelle wieder anhören mag, wenig Anlaß, von vielfach durchdachten grundsätzlichen Positionen abzurücken. Entwicklungen in den 60er Jahren hatten meine Hoffnungen gestärkt, daß ungeachtet der vielen schmerzlichen Alltagserfahrungen mit den politischen Strukturen dieser Gesellschaft, an denen man sich immer wieder wund rieb, eine entwicklungs- und veränderungsfähige Alternative aus den sozialen Revolutionen unseres Jahrhunderts sich zu entwickeln begonnen hatte, die nicht leichtfertig zur Disposition gestellt werden dürfte.144
Auch Mittenzwei ist es wichtig, seine Position als Ergebnis sorgfältiger Abwägungen darzustellen.145 Klein, der davon schreibt, die Forderungen in Prag hätten »die Hoffnung vieler Linker in sozialistischen wie kapitalistischen Ländern auf den Punkt«146 gebracht, möchte ihre Zerschlagung ebenfalls als Ansporn empfunden haben, klingt dabei aber vor allem resignativ: Endgültig die Hoffnung auf einen besseren, menschlicheren Sozialismus aufzugeben, war ich aber weiterhin nicht bereit. Hatte nicht der »Prager Frühling« viele eindrucksvolle Zeichen gesetzt, Ideen geboren und Pläne für eine bessere Zukunft entworfen, die doch nicht für alle Zeiten ausgelöscht sein mußten? War es denn gänzlich ausgeschlossen, daß, was jetzt unterdrückt worden war, das so offensichtlich Vernünftige und Notwendige, unter günstigeren Umständen in dieser Zeit des ständigen Wandels wiederbelebt werden könnte? Die so deutlichen Gebrechen der neuen Gesellschaft, die Unfähigkeit ihrer Vormacht zu wirklicher Erneuerung, hoben die Gebrechen der alten Gesellschaft nicht auf, schafften die Gründe nicht aus der Welt, aus denen man meinte, gegen sie leben und arbeiten zu sollen. Es blieb ein Rest von Hoffnung.147 143 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 258. 144 | MEHLS, Unzumutbar, S. 174. 145 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 258ff. 146 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 255. 147 | Ebd., S. 255.
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Bei allen dreien wird die Schwierigkeit offensichtlich, die Geschehnisse von 1968 als Antrieb zu erzählen, als Auslöser, erneut Hoffnung zu schöpfen und keinesfalls als Ereignis, das Hoffnungen begrub. Der ›Prager Frühling‹ ist schlecht integrierbar in die fortgesetzte Geschichte vom Glauben an den Sozialismus. Jacobeit und Pätzold lösen dieses Problem, indem sie ihn zur Gänze überschreiben, es findet sich keine einzige Bezugnahme auf das Ereignis – ein klassisches Beispiel für eine »vitale Zeitordnung«. Hörz wiederum gibt fast pflichtschuldig zu Protokoll, er und seine Kollegen seien nach dem Einmarsch »etwas bedrückt«148 gewesen. Die Autoren beharren demnach entweder darauf, weiterhin an Verbesserung geglaubt zu haben oder äußern sich nicht zu den Ereignissen – dem entgegen steht jedoch eine deutliche Veränderung der Zukunftshorizonte. Die Erzählungen zeigen sich alle zunehmend verhaltener, der Zukunftshorizont trübt sich merklich ein. Konkret heißt das, dass die Texte kaum noch Zukunftsbezüge aufweisen: Die Rede ist nicht mehr vom Morgen. Auch wenn die Autoren betonen, sie hätten die Hoffnung noch lange nicht aufgegeben, so wird es zunehmend schwieriger, diese Hoffnung in ihren Texten zu finden. Die wenigen Male, an denen die Texte nach vorne weisen, beschränken sich auf eigene wissenschaftliche Projekte; aber selbst in diesem Zusammenhang mehren sich die Frustrationen, die bei Mittenzwei ganz explizit benannt werden: Zu keiner Zeit fand ich die Lage auf meinem Fachgebiet so aussichtslos, so entmutigend wie Ende der sechziger Jahre. Alles schien von offiziellen Vorstellungen besetzt zu sein. Für keine andere Konzeption war mehr Platz, selbst wenn diese auf das gleiche Ziel hinsteuerte. So hoffnungslos habe ich mich vorher nie gefühlt.149
Damit rücken die Veränderungen, die auf dem Gebiet der Gesellschaftswissenschaften im Gange waren, in das Blickfeld. Sie wurden damals vermehrt staatlichen Planvorgaben ausgesetzt, was die Erinnerungen auch durchaus thematisieren, dabei aber nicht grundsätzlich an der Erzählung von der ›freien Wissenschaft‹ rütteln. So schreibt Pätzold vom Umschwung, der sich in Bezug auf die Intellektuellen vollzog:
148 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 140. 149 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 259.
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Auch Bedenken, die vordem aus Kreisen der Intelligenz gegen Maßnahmen von Partei- oder Regierungsstellen geltend gemacht und ernst genommen wurden, verloren an Gewicht. Der Einfluß der wissenschaftlichen Elite auf gesellschaftliche Entscheidungen ging zurück. Wortmeldungen von Wissenschaftlergruppen gab es, im Unterschied zu solchen aus Kreisen der Schriftsteller und Künstler, nur noch selten.150
Den Wissenschaftlern wird laut Pätzold eine weniger gewichtige Rolle zugeschrieben, sie verlieren an Macht. Diese Einschätzung trifft sich nicht nur mit den anderen Autobiographen,151 sondern auch mit der damaligen Realität: In den späten 1960er Jahren änderten sich bestimmte Charakteristika des Fortschrittsglaubens. Bisher herrschte das Primat eines auf Machbarkeit und Planbarkeit ausgerichteten Denkens vor, das auf Vorstellungen von immerwährendem ökonomischen Erfolg und technischem Fortschritt basierte.152 In den konvergenztheoretischen Annahmen steckten Mut zur Prognose und ein streng zukunftsgerichtetes Denken.153 Die Nennung konkreter Zeitpunkte war Ausdruck dieser Zukunftsgewissheit, was sich in einem Ausruf Ulbrichts auf dem V. Parteitag 1958 zeigt: »Wir schlagen der Arbeiterklasse und der ganzen werktätigen Bevölkerung der Deutschen Demokratischen Republik vor, durch gemeinsame
150 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 144. 151 | »Mit dem Pragmatiker Honecker, der 1971 an die Spitze der SED rückte, trat an die Stelle der überheblichen Meinung, die Theorie wird von uns mitgemacht, immer mehr die Auffassung, die Philosophie kann zwar entwickelt werden, aber sie darf die politische Macht nicht in Frage stellen. An die Stelle der direkten Überheblichkeit gegenüber der Philosophie trat die Ignoranz der politischen Führung als indirekte. Zwar versuchte Hager auf Beratungen der Gesellschaftswissenschaftler Philosophisches zu Widersprüchen, zur wissenschaftlich-technischen Revolution, zum Humanismus zu thematisieren. Doch die Philosophen folgten halbherzig. Jede philosophische Kritik am ›realen Sozialismus‹, wenn sie das System in Frage stellte, wurde repressiv verfolgt.« (HÖRZ, Lebenswenden, S. 290/91). 152 | SCHULZ, Tobias: »Sozialistische Wissenschaft«. Die Berliner Humboldt-Universität (1960-1975), Köln 2010, S. 94. 153 | HAUPT, Heinz Gerhard/REQUATE, Jörg: Einleitung, in: Aufbruch in die Zukunft, S. 7-28, hier S. 9ff.
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größere Anstrengungen in den nächsten drei Jahren die ökonomische Hauptaufgabe bis 1961 zu lösen.«154 Dieses stalinistische Fortschrittskonzept bestand im unverrückbaren Glauben an eine absolut berechenbare Zukunft – und war nun einem schleichenden Wandel unterzogen. Zukunftspotentiale spielten auch in der Wissenschaft eine immer geringere Rolle,155 der Fortschrittsglaube wurde seines utopischen Gehalts mehr und mehr entleert.156 Konkrete Zeitpunkte für das Erreichen bestimmter Ziele wurden nicht mehr genannt; der Fortschrittsbegriff wurde zunehmend in defensiver Haltung gebraucht, was sich auch in der Wandlung bestimmter Parolen zeigte: Aus Ulbrichts »Einholen und Überholen« (1958) war elf Jahre später »Überholen, ohne einzuholen« geworden.157 Rainer Gries spricht für die Folgezeit von der »gestorbenen Zukunft«158 – womit wir wieder bei den Autobiographien sind, denen die Zukunftserwartungen in dieser Zeit ebenfalls zerrinnen.
154 | Protokoll der Verhandlungen des V. Parteitages der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, 10. bis 16. Juli 1958 in der Werner-Seelenbinder-Halle zu Berlin, zitiert nach SABROW, Zukunftspathos, S. 175. 155 | Vgl. hierzu MEUSCHEL, Sigrid: Legitimation und Parteiherrschaft in der DDR: zum Paradox von Stabilität und Revolution in der DDR 1945-1989, Frankfurt a.M. 1992, S. 26f. 156 | GRIES Rainer: »…und der Zukunft zugewandt« Oder: Wie der DDR das Jahr 2000 abhanden kam, in: Der Tag X in der Geschichte. Erwartungen und Enttäuschungen seit tausend Jahren, hg. v. Enno Bünz, Rainer Gries u. Frank Möller, Stuttgart 1997, S. 309-378, hier S. 322. 157 | Vgl. hierzu: GRIES, Rainer: Virtuelle Zeithorizonte. Deutsch-deutsche Geschichtsbilder und Zukunftsvisionen Ende der fünfziger Jahre, in: »Die Heimat hat sich schön gemacht…« 1959: Fallstudien zur deutsch-deutschen Propagandageschichte, hg. v. Monika Gibas u. Dirk Schindelbeck, Leipzig 1994, S. 9-28. Die Veränderungen im Fortschrittkonzept zeigen sich auch im Abstieg der vormals euphorisch betriebenen und einflussreichen Kybernetik, die nach anfänglicher Ablehnung als »bürgerlich« zu einem universellen Lösungsinstrument für vielerlei Probleme avancierte, bis sie Ende der 1960er Jahre in Ungnade fiel; vgl.: DIT TMANN, Frank/SEISING, Rudolf (Hg.): Kybernetik steckt den Osten an. Aufstieg und Fall einer interdisziplinären Wissenschaft in der DDR, Berlin 2007. 158 | GRIES, »…und der Zukunft zugewandt«, S. 325.
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5.3 Von Ulbricht zu Honecker: Der Verlust der Zukunft Die beschriebene Veränderung begann unter Ulbricht und verstärkte sich deutlich nach dem Politikwechsel zu Honecker 1971, der in allen Erinnerungen letztendlich negativ bewertet wird: Löste er zu Beginn Hoffnungen auf Reformen aus, wurden diese bald enttäuscht; an diesem Punkt erscheint in allen Autobiographien die Hoffnungslosigkeit, die sich bisher nur indirekt den Zukunftsbezügen entnehmen ließ, erstmals explizit, noch dazu sind die entsprechenden Aussagen nahezu deckungsgleich. Bisher hatten die Protagonisten darauf beharrt, weiterhin an ein besseres Morgen geglaubt zu haben, wenngleich den Texten die Zukunft mehr und mehr abhanden kam. Das ändert sich nun. Alle Protagonisten bis auf Jacobeit159 äußern sich ausführlich zum Regierungswechsel. So erzählt Mittenzwei von einer in politischer Hinsicht hoffnungslosen Zeit: Zwar seien die letzten Jahre unter Ulbricht »lähmend«160 gewesen, der Wechsel zu Honecker jedoch brachte erst recht »keinen Aufbruch, keine Hoffnung.«161 Diese hätte er sich von einem »produktiven Pessimismus« versprochen, Honecker aber verbreitete »gläubige[n] Optimismus«, der »immer mehr in Gegensatz zur tatsächlichen Lage geriet.«162 Sowohl Ulbricht als auch Honecker hätten seinen Blick in die Zukunft getrübt, aber den »wesentlichen Punkt« für die »erloschenen Hoffnungen« sieht er in der »ausgebliebene[n] Schubkraft der neuen Eigentumsverhältnisse«.163 Auch Pätzold kritisiert für diesen Zeitraum die Diskrepanz zwischen Sprache und Lebensrealität: »In der DDR bekam inzwischen nahezu jeder Schritt vorwärts sprachlich höhere Weihen.«164 Dies schreibt er Honecker und dem politischen Wechsel zu, der sich durch ihn vollzog: »Was immer sich gegen jenen [Ulbricht, CL] sagen
159 | Er erwähnt Honecker nur ein einziges Mal in seinen Erinnerungen und auch da erhält er lediglich Objektfunktion: »Er [Gorbatschow, CL] stand, wie ich mich an die Fernsehbilder erinnere, neben Honecker auf der Tribüne […]« (JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 224). 160 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 304. 161 | Ebd., S. 305. 162 | Ebd., S. 420. 163 | Ebd. 164 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 179.
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läßt, nichts ist ihm so anzukreiden als die Wahl dieses seines schließlich gegen ihn revoltierenden Kronprinzen.«165 Klein überschreibt die Jahre 1968-1985 mit »Skepsis«,166 die Zeit davor stand in seinen Erinnerungen unter dem Stern des »Aufstiegs«.167 Was den Politikwechsel angeht, so nennt er vor allem die Auswirkungen der internationalen Aufwertung, die die DDR in diesen Jahren erfuhr: »Im Herbst 1974 […] war die DDR von mehr als hundert Staaten der Erde diplomatisch anerkannt.«168 Dies habe dazu geführt, dass man in diesen Jahren die Existenz des Staates »als einen Zustand, an dem sich so bald nichts ändern werde«, hinnahm: »Man begann sich auf Dauer einzurichten.«169 Klein erzählt damit von einer Situation, in der man sich im Jetzt befand und den Blick nicht mehr nach vorn wandte, was allerdings Resignation und nicht Zufriedenstellung bedeutet. Der Tenor seiner Erinnerungen ändert sich deutlich, die einstige Selbstbeschreibung als Historiker, der »seine ganze Hoffnung auf eine sozialistisch organisierte Gesellschaft setzte«,170 passt nun nicht mehr in die Erzählung. Auch Mehls will die Haltung der neuen Parteiführung als »entscheidenden Wendepunkt« angesehen haben: »Alle Konstruktionen, mit denen man sich selbst einzureden versuchte, daß es mit dieser Führung vielleicht doch noch möglich sei, eine wirkliche Wende hin zu einem Sozialismus zu erreichen, der diesen Namen verdient, brachen zusammen.«171 Mehls erzählt immer wieder von den »Hoffnungen«172, die der Machtwechsel ausgelöst habe, die sich allerdings bald als »Illusion«173 erwiesen hätten: »Die politische Führung der DDR [war] offensichtlich bestrebt […], die Uhren gegen den Geist der Zeit laufen zu lassen.«174 Ganz folgerichtig hätten sie sich zu »Befürchtungen«175 entwickelt, deren Eintreffen, »die 165 | Ebd., S. 185. 166 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 257. 167 | Ebd., S. 197. 168 | Ebd., S. 258. 169 | Ebd., S. 259. 170 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 229. 171 | MEHLS, Unzumutbar, S. 205. 172 | Ebd., S. 204, S. 207f. 173 | Ebd., S. 113, S. 204. 174 | Ebd., S. 201. 175 | Ebd., S. 201, S. 218.
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Verschärfung des politischen Klimas in der DDR, nicht zuletzt auf den Gebieten von Kultur, Kunst und Wissenschaft«, ihn »nicht mehr besonders erschüttert« hätte:176 Die Hoffnungen waren ihm ohnehin schon lange zuvor abhanden gekommen. In der Folge schwinden nicht nur die Zukunftsbezüge, die Hoffnungen und Erwartungen deutlich, die Texte kreisen dabei auch immer stärker um ihre damaligen Forschungskontexte und -arbeiten. Durch die deutliche Trennung von den anfänglich einheitlich zusammenhängenden Systemen ›Staat‹ und ›Wissenschaft‹, die die Protagonisten im Laufe ihrer Erinnerungen vollziehen, haben sie sich einen Rückzugsraum erschrieben, den sie nun nutzen: In allen Autobiographien ließe sich die Zeit nach dem Wechsel an der Staatsspitze bis in die späten 1980er Jahre auch mit ›Rückzug in die Arbeit‹ betiteln. Dieses Narrativ von der geistigen Emigration und die dazugehörige Entwicklung der Zukunftsbezüge sollen nun genauere Betrachtung finden.
5.4 Rückzug in die Wissenschaft – eine »wunderbare Zeit« 177? Die Erinnerungen erzählen die Jahre nach Honeckers Regierungsantritt als geprägt von Forschungsinteressen, vom Alltag in den jeweiligen Institutionen, der immer wieder einen Ausbruch aus der ansonsten resignativen Stimmung darstellt: »Hier konnte ich mich ohne jede Vorsicht über die heikelsten politischen Fragen austauschen, Ideen und Projekte diskutieren und probieren, hier erhielt ich Kritik und Zuspruch, so daß es mir nicht schwerfällt zu sagen, es war eine wunderbare Zeit.«178 Eine »wunderbare Zeit« – gleichwohl offenbart sich, dass die Zukunft auch in diesem Zusammenhang schwindet, nicht zuletzt wegen bestimmter Entwicklungen im Wissenschaftsbetrieb. Darauf kommen die Protagonisten immer wieder zurück, wenn sie die Ausgestaltung des Universitäts- und Wissenschaftssystems bis zur Mitte der 1970er Jahre bewerten. Im Gegensatz zu den naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen179 176 | Ebd., S. 207. 177 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 306. 178 | Ebd., S. 306. 179 | Die naturwissenschaftlich-technischen Disziplinen konnten nach der Überregulierung der Reformzeit innerhalb spezifischer Grenzen und staatlicher Planvorgaben wieder relativ frei ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit nachgehen. Jedoch
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sahen sich die gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen im Verlauf der 1970er Jahre einer verstärkten Einpassung in den wissenschaftlichen Planungsapparat ausgesetzt. Auch für diesen Bereich wurden nun zentrale Forschungspläne und Themenvorgaben erstellt.180 Diese staatliche Lenkung wird in den Autobiographien – jedenfalls vordergründig – nicht rundheraus abgelehnt, die Sprache ist davon, »Kaderschmieden«181 zu bilden und »Kräfte zu mobilisieren.«182 Gerade Pätzold verteidigt die stärkeren inhaltlichen Vorgaben, die klaren Ziele des Studiums, die in ihrer Verbindlichkeit »wie in anderen Staaten auch«183 festgelegt wurden: »Erwartet wurde, daß sie eine sozialistisch gesinnte, dem Staat verbundene Intelligenz heranbildeten und junge Leute in praktische Berufe entließen, die ideenreich und hingebungsvoll zur Entwicklung einer neuen Gesellschaft beitragen konnten.«184 Im Gegensatz zu den anderen Erinnerungstexten findet sich bei Pätzold keine negative Bewertung der Entwicklung der DDR zu diesem Zeitpunkt, dies allerdings um den Preis, dass er die 1970er Jahre in seinen Erinnerungen nahezu überblendet. Gerade zehn Seiten gesteht er diesem Jahrzehnt zu, in denen er sich hauptsächlich mit der Hochschulreform beschäftigt – dann wendet auch er sich seinen Forschungsvorhaben zu, deren Schilderung er rund 30 Seiten einräumt. Klein spricht einerseits vom »größeren und freieren Raum«, den DDRHistoriker auf internationalem Parkett nun erhielten, vom »Glück«, das Ulbrichts Abgang für die Geschichtswissenschaft bedeutete, andererseits aber von Forschungsvorgaben, die er erhielt und die ihn nicht optimistisch stimmten: »Zweifel an dem Willen, wirklich neue Wege zu beschreiten, weckte allerdings die Formulierung des Auftrags in einer so ganz und gar altem Denken verhafteten Sprache.«185 Der »Auftrag« kam von
litten Wissenschaftler dieser kostenintensiven Bereiche seit den frühen 1970er Jahren unter den finanziellen und materiellen Einschränkungen; vgl. SCHULZ, »Sozialistische Wissenschaft«, S. 302. 180 | Ebd., S. 303. 181 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 182. 182 | Ebd., S. 179. 183 | Ebd., S. 182. 184 | Ebd., S. 183. 185 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 259.
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Werner Lamberz186 aus dem Politbüro und betraf den Wunsch, fürderhin die Mehrzahl der Bürger besser mit »populärwissenschaftlicher Aufklärungsarbeit«187 zu erreichen. In diesem Zusammenhang spricht Klein ein letztes Mal von einer »gewissen Zuversicht«, die allerdings rasch verpufft sei: »Leider ging die Aktion ins Leere.«188 Er, der davon erzählt, sich in dieser Zeit auf Dauer eingerichtet zu haben – was ja auch heißt, dass man nicht beständig vorausschaut –, zieht sich in den Erinnerungen ganz auf seine Forschung zurück, die er seitenlang darlegt. Darin gleicht er Jacobeit, dessen Erinnerungen sich nach Honeckers Machtantritt konsequent auf die Geschichte seines Faches konzentrieren: »Die Beschäftigung mit Kultur und Lebensweise des Proletariats [wurde wichtiger].« 189 Mittenzwei, der zwar von der »wunderbaren Zeit« schwärmt, schlug gleichwohl Einladungen zu Tagungen in den Westen aus, weil er gewusst habe, »daß der persönliche Vorteil mit wissenschaftlichen Einbußen erkauft werden mußte.«190 Vor allem aber wendet er, der Professor für Literaturtheorie, sich »in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre« von seinem Forschungsgebiet ab: »Weg vom Theoretischen, hin zum Biographischen.«191 Was er im Folgenden veröffentlichte, verrät auch etwas über Zukunfts- und Hoffnungslosigkeit, beschäftigte er sich doch mit »Tradition«192 und »Erbe«193 unter verschiedenen, auch den angekündigten biographischen, Gesichtspunkten.194 Mittenzwei erklärt, ihn habe an autobiographischen Darstellungen dieser Jahre gestört, dass der Held stets seine Erfüllung fand, »wenn er sich in Übereinstimmung mit dem ›gesetzmäßigen‹ Verlauf der Geschichte gebracht hatte. Auf diese Weise ging das Rätselhafte im individuellen Leben verloren. Der Mensch hatte nur einen Wert, wenn er sich in den Dienst der progressiven Kräfte stellte.«195 186 | Werner Lamberz (1929-1978) war Mitglied des Politbüros des ZK der SED und dort zuständig für »Agitation und Propaganda«. 187 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 293. 188 | Ebd., S. 294. 189 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 158. 190 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 294. 191 | Ebd., S. 315. 192 | Ebd., S. 286, S. 354. 193 | Ebd., S. 354, S. 355. 194 | Vgl. MIT TENZWEI, Werner: Brechts Verhältnis zur Tradition. Berlin 1972. 195 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 320.
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Er hingegen habe ihm auch dann einen Wert zumessen wollen, wenn er sich nicht der Zukunft verschreibt, wenn er keinen stringenten Weg geht – damit entzog er sich den Forschungsvorgaben und dem Musterlebenslauf des Vorwärtsstrebenden.196 Dieser Schritt befreit ihn von der Zukunft, die er in politischer und auch wissenschaftlicher Hinsicht in diesen Jahren als Belastung, als »Lähmung«197 beschreibt. Von dieser Auswirkung berichtet auch Hörz, der eine wachsende Ignoranz gegenüber seinem Fach konstatiert und das Bild einer zunehmenden fachlichen Repression zeichnet. Dabei bezieht er sich konkret auf das Abwenden von der wissenschaftlich-technischen Revolution in diesen Jahren: Mit der Annahme des Parteiprogramms 1976 war die Messlatte für philosophische Äußerungen zur gesellschaftlichen Entwicklung gegeben. Wer damit übereinstimmte, konnte über Spezialfragen arbeiten wie er wollte, wenn nicht die eigenen Kollegen ihn disziplinierten. Wer sich dagegen in Wort und Schrift äußerte, musste mit der neostalinistischen Linie der Intoleranz, der Restriktionen und Repressionen rechnen.198
Er erzählt vom Verlust der Hoffnung, dem Verlust einer Perspektive: »Der Übergang von der Utopie zur Wissenschaft« sei nicht gelungen, sei auch »nicht machtpolitisch zu regeln, sondern erfordert kritische Gesell196 | In diesen Zusammenhang ist auch das Gutachten einzuordnen, das er zu Jürgen Kuczynskis 1983 veröffentlichter Schrift »Probleme der Autobiographie« verfasste. Hierin hielt er die »allzu große Vorsicht der Marxisten bei der Erfassung des Persönlichen, der intimen Charakterentwicklung« für »eine auffällige Schwäche unserer biographischen Literatur. Gerade weil wir Marxisten eine große Erfahrung im Umgang mit dem Gesellschaftlichen einbringen, können wir uns auch dem sogenannten Persönlichen und Intimen stärker zuwenden und vielleicht einen ganz neuen Gebrauch davon machen.« Bundesarchiv Berlin, DR-1, Gutachten Werner Mittenzwei vom 10. Juli 1981. Die Druckgenehmigungsakten der HV Verlage und Buchhandel im Bundesarchiv sind online ebenso zugänglich: http://startext. net-build.de:8080/barch/MidosaSEARCH/dr1_druck/index.htm. Vgl. hierzu auch: LOKATIS, Siegfried: Angeknabberte Tabus: das Genre der Autobiographie und die Zensur in der DDR, in: Autobiographische Aufarbeitung, S. 139-148, hier S. 143. 197 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 304. 198 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 291.
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schaftsanalyse, differenzierte humane Visionen und Realisierungsprogramme.«199 Vor allem aber beschreibt er seine Forschung, deren akribische Darstellung für diese Jahre nahezu 50 Seiten einnimmt. Mehls, bis 1979 Direktor für internationale Beziehungen, wendet sich erst der Wissenschaft zu, als der Wechsel zu Honecker schon lange vollzogen ist. In der Funktion, die er zuvor ausübte, bezeichnet er sich als »gescheitert«, weil er es nicht geschafft habe, zu erreichen, »daß, gewissermaßen unter der Hand, wissenschaftliche Erfordernisse ihren Rang behielten.«200 Sein »Wirken« in dieser Hinsicht sei immer schwieriger und letztendlich unmöglich geworden; sein Verhältnis zur Parteiführung beschreibt er in diesen Jahren als »verdorben und zerbrochen«,201 für den Sozialismus habe er keine Hoffnung mehr gehabt. Dabei reiben sich zwei Erzählstränge, die kaum miteinander in Einklang zu bringen sind: das Narrativ vom verstoßenen Mitglied der Universitätsleitung, das mit der Partei hadert und nun »trotz aller Risiken den Einstieg in eine wissenschaftliche Tätigkeit«202 wagt, und die parallel laufende Erzählung, in der von Unwägbarkeiten wenig zu sehen ist: Die Aspirantur B wird ihm umgehend bewilligt, bald nimmt Mehls »die damals perspektivreich eingeschätzte Verankerung eines eigenständigen Lehr- und Forschungsgebietes ›Geschichte des sozialistischen Weltsystems‹« ins Visier.203 Gleichwohl wird die sozialistische Utopie nicht mehr bemüht, Zukunftsbezüge sind in seinen Erinnerungen kaum noch zu finden. Klingen verhalten optimistische Töne an, ist der Bezugspunkt nun immer die eigene Forschungsarbeit: »Die wissenschaftliche Ausbeute – und um die ging es ja eigentlich – war vollauf zufriedenstellend.«204 Trotz aller Kritik bietet das Wissenschafts- und Universitätssystem in den Erinnerungen einen Rückzugsraum. Möglich ist dies, weil die Protagonisten diese Kritik zwar äußern, sich in ihren Erinnerungen aber vor allem auf die jeweiligen Forschungen konzentrieren. Dabei verändern die wissenschaftlichen Arbeiten in dieser Zeit erneut ihren Charakter: Waren 199 | Ebd., S. 293. 200 | MEHLS, Unzumutbar, S. 207. 201 | Ebd., S. 206. 202 | Ebd., S. 216; auch im Folgenden betont er noch häufig das »Risiko«, das seine damalige Entscheidung dargestellt habe, vgl. S. 216ff. 203 | Ebd., S. 216. 204 | Ebd., S. 221.
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sie zu Beginn noch Beitrag für ein besseres Morgen im größtmöglichen Sinn der sozialistischen Utopie, wurden sie im Laufe der 1960er Jahre immerhin zum Beitrag, der ihr eigenes Fach in die Zukunft führen sollte. Nun aber werden sie zur schlichten Arbeit im Rahmen der persönlichen Interessen, die keine Einbettung in größere Kontexte mehr erfahren. Dabei fallen die Beschreibungen der jeweiligen Tätigkeiten bei allen Autobiographen immer kleinteiliger aus, es geht nicht mehr um das große Ganze, die optimistische Gewissheit eines kontinuierlichen Fortschritts ist verschwunden und mit ihr die Zukunft. So hatte Mehls beispielsweise seine Forschung zu Beginn noch gleichermaßen vage wie pathetisch mit der »Befreiung der Menschheit«205 verknüpft. Über die späten 1970er Jahre berichtet er nun, seine Tage seien »voll ausgefüllt durch Archivstudien und meinen Polnisch-Intensivkurs [gewesen], der mich an drei Tagen der Woche für je 3 Stunden forderte.«206 Die Wissenschaft ist noch immer bloßes Mittel; der Zweck aber hat sich von der höchsten Ebene des politischen Systems zurückgezogen in die Niederungen ureigener Privatinteressen. Hoffnung und Zukunft verschwinden demnach nicht erst mit dem endgültigen Zusammenbruch der DDR 1989/90 – wie man erwarten könnte und wie die Autobiographen erzählen –, sondern bereits deutlich früher: Die Erinnerungen weisen bereits für das Ende der 1960er Jahre deutlich abnehmende Zukunftsbezüge auf, im Laufe der 1970er Jahre sind sie dann kaum noch zu finden. Dies betrifft sowohl optimistische wie auch pessimistische Zukunftsaneignungen: Nicht nur die Hoffnung kommt abhanden, auch mögliche Zukunftsängste werden nicht formuliert. Dies zeugt von einem Einschnitt, der quer zu den gesellschaftlich festgelegten Periodisierungslinien liegt und für eine ›subkutane‹ Zeitordnung spricht, die noch dazu in allen Autobiographien übereinstimmt. Der Verlust der Zukunft breitet sich von einer Sphäre zur nächsten aus: Betrifft er zunächst vor allem den Glauben an den Staat, weitet er sich dann auf den Glauben an die sozialistische Utopie aus, den die Autoren sukzessiv verlieren. Dazu tragen zwei Entwicklungen bei. Einerseits wird ein politischer Umschwung im Fortschrittsdenken sichtbar, der eine sozusagen von oben gelenkte Zukunft sterben lässt. Andererseits führen die innenpolitischen 205 | Ebd., S. 40, S. 52, S. 61. 206 | Ebd., S. 219.
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Entwicklungen unter Honecker zu einer resignativen Grundstimmung, zum Gefühl, dass keine Änderungen zu erwarten seien: Die vergleichsweise ruhigen mittleren Jahrzehnte der DDR, die 1960er und 1970er Jahre, erscheinen im Rückblick »als historische Etappe, in der nicht nur die Ursachen des ökonomischen Zusammenbruchs zu entdecken sind, sondern auch die Wurzeln der DDR-Müdigkeit und Zermürbung.«207 Die Hoffnung, die Zukunft, sterben dabei nicht explizit, aber implizit, und sie führen zunächst auch noch eine halblebige Existenz weiter, in der für den Glauben an die Parteiführung, oder an die sozialistische Utopie allerdings kein Platz mehr ist. Die Hoffnung jedoch schwindet noch nicht ganz; die wenigen Male, die sie noch durchschimmert, tut sie dies in neuer Bezugnahme: Nun ist es nicht mehr der Sozialismus, der die Hoffnung bringt, sondern das eigene wissenschaftliche Schaffen. Um sich einen Rest von Zukunftszugewandtheit bewahren zu können, beschränken die Autoren sich in ihren Erinnerungen auf die eigene Leistung, das eigene Fach, das sie vom sozialistischen Überbau abkoppeln: Die Autoren beschäftigen sich mit der Wissenschaft und äußern sich in den Erinnerungen kaum noch zum Land, in dem sie leben. Sie erzählen in diesen Jahren nicht mehr von großen Hoffnungen, aber auch nicht unablässig von Enttäuschungen: Ihre Erinnerungen handeln von der Gegenwart, von aktuellen Forschungsüberlegungen, von Kooperationen und auch vermehrt von persönlichen Beziehungen, insbesondere der Familie. Obwohl die Protagonisten sich in ihrer Analyse der damaligen Situation deutlich voneinander unterscheiden, betrifft diese Entwicklung sie alle: Die einen sehen mehr Freiraum für die Forschung, die anderen weniger. Sie alle aber ziehen sich in ihren Erinnerungen in diesen Bereich zurück, was nur möglich ist, weil sie ihn im Laufe ihrer Erinnerungen vom System losgelöst haben. Diese Fokusverschiebung findet – eine Ausnahme ist nur Mehls’ Autobiographie – nicht explizit statt: Keiner der Autoren schreibt von der Zukunft, die ihm in diesen Jahren verlorenging und von der daraus resultierenden Hinwendung zur Wissenschaft. Die Enttäuschung, die der ›Prager Frühling‹ oder der Wechsel von Ulbricht zu Honecker mit sich 207 | GIESEKE, Jens: Bevölkerungsstimmungen in der geschlossenen Gesellschaft. MfS-Berichte an die DDR-Führung in den 1960er- und 1970er-Jahren, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, 2/2008, S. 236257, hier: S. 237.
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brachten, wird zwar formuliert, doch eine grundsätzliche Abwendung vom Sozialismus vollzieht keiner der Autoren. Die Einschnitte werden vielmehr als Katalysator für das Schöpfen neuer Hoffnungen beschrieben: Je heftiger Kritik formuliert wird, umso vehementer fällt das nachfolgende ›und dennoch‹ aus. Gleichwohl findet eine Abwendung statt, die sich auf das quasi naturgegebene Fortschreiten des Sozialismus bezieht, indem die Bezugnahmen nach und nach aus den Texten verschwinden. Ab Mitte der 1970er Jahre ist der Zukunftshorizont in den Autobiographien geschlossen.
5.5 Zurück in die Zukunft Die Analyse der autobiographischen Zukunftsbezüge lässt die Erzählungen über die ›Wende‹ 1989/90 als Punkt, an dem die Hoffnungen endgültig schwanden, in neuem Licht erscheinen. Zweifellos bedeutet der Zusammenbruch der DDR für die Protagonisten eine Zäsur, die Erfahrung von Kontingenz oder, wie Mehls es ausdrückt, die »Umwertung vieler Werte«208. Diese Zäsur hat ebenso zweifellos Auswirkungen auf die Zukunftshorizonte der Protagonisten – allerdings gestalten diese und die dahinterstehenden Zeitordnungen sich komplexer, als die expliziten Aussagen der Autoren es darstellen. Die Autoren beteuern ›1989‹ als Zäsurerfahrung und bestehen gleichzeitig darauf, dass es sich beim Systemzusammenbrauch nicht um einen abrupten Wandel, sondern um etwas lange Vorhergesehenes gehandelt habe. Sie setzen den Zeitpunkt, da of208 | MEHLS, Unzumutbar, S. 32. Mehls zitiert damit einen zentralen Begriff der Philosophie Friedrich Nietzsches: Dieser konstatiert in der modernen Welt einen Niedergang der Kultur, der sich auch in einem Werteverlust ausdrücke. Um ihm zu entgegnen, sei eine »Umwerthung aller Werthe« von Nöten, die nicht die Schaffung neuer, sondern eine Rückbesinnung auf alte Werte bedeute: Maßstab soll nun der Wille zur Macht sein, der eine Loslösung von der Moral voraussetzt. Vgl.: SOMMER, Andreas: Umwerthung der Werthe, in: Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hg. v. Henning Ottmann, Weimar 2000, S. 345-346. Rezipiert wurde dieser Gedanke zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem in konservativen und antidemokratischen Kreisen. So bezog Carl Schmitt sich mit der »Umwertung aller Werte« auf die Wahl der Nationalsozialisten an die Macht im Jahr 1933 – insofern lässt Mehls Verwendung sich auch als angedeutete Parallelisierung der BRD mit dem Nationalsozialismus lesen.
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fensichtlich wurde, dass der Staatssozialismus keine Fortsetzung finden würde, gleich mit dem Zusammenbruch der Hoffnungen und datieren diesen Punkt auf die Wendezeit. Trotzdem beharren sie darauf, dass ihnen schon deutlich zuvor bewusst gewesen sei, wie unwahrscheinlich Reformen der DDR seien, was auch als Strategie der ›Enttäuschungsverweigerung‹ zu verstehen ist: Sie legen die Zäsur des Systemzusammenbruchs chronologisch nach vorne und betonen, vom historischen Lauf der Dinge nicht überrascht worden zu sein; das Scheitern des »Experiments Sozialismus«209 war ihnen schon lange vor dem manifesten Scheitern bewusst. Diese Erzählung ermöglicht, die Enttäuschung narrativ zu minimieren – vor allem aber gewinnen die Autoren so lebensgeschichtliche Souveränität, indem sie abstreiten, überraschte Opfer der Geschehnisse gewesen zu sein. Einerseits synchronisieren sie ihre Biographien mit der Weltgeschichte, andererseits beanspruchen sie für sich, der Weltgeschichte einen Schritt voraus gewesen zu sein. Während die Autobiographen reklamieren, mit dem endgültigen Scheitern des Staates 1989 und der Vereinigung 1990, die sie als Okkupation ansehen, tatsächlich allerletzte Hoffnungen verloren zu haben, macht die Textanalyse sichtbar, dass die Bezugnahme auf den Staat bereits lange zuvor keine Zukunftsperspektive mehr bot. Vielmehr wurden gerade der Staat und die sozialistische Utopie im Laufe der Erinnerungen zum Hindernis, eine solche Perspektive zu entwickeln – und dieses Hindernis existiert mit dem Zusammenbruch des Staates nicht mehr. Von diesem Befund ausgehend kann gefolgert werden, dass das endgültige Verschwinden des Systems für die Autobiographen nicht nur ein Ende, sondern auch einen Anfang bedeutet. Tatsächlich zeigen die Autobiographien, dass das als endgültig attributierte Ende der Hoffnungen nicht von langer Dauer ist. Kaum ist ihr Verschwinden ausgesprochen und beklagt, kehren sie sukzessive in die Erinnerungen zurück. Die Einstellungen und Haltungen der Protagonisten werden wieder von Optimismus getragen, was nicht nur angesichts der Verwobenheit der individuellen Biographien mit dem alten System erstaunt, sondern auch angesichts des Beharrens darauf, ›1989‹ als negativen Endpunkt zu inszenieren. Die Autoren schreiben sich zurück in die Zukunft. 209 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 364; MEHLS, Unzumutbar, S. 302 u.v.m.; MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 260 u.v.m.; PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 236; HÖRZ, Lebenswenden, S. 11 u.v.m.
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Das Aufblühen der Hoffnungen wird dadurch möglich, dass die Gründe für das Scheitern des Staates letztendlich nicht der eigenen mangelhaften Umsetzung zugeschrieben, sondern in der Umgebung gesucht werden – und daher auch nicht zu einer endgültigen Desillusionierung führen. Die Autoren nutzen unterschiedliche, teils auch mehrere, narrative Strategien, um ihre Enttäuschungen so zu bewältigen, dass sie von der Richtigkeit der eigenen Ideen und letztendlich überzeugt bleiben, das eigene Tun als notwendig bewerten und so wieder Hoffnungen nach dem Ende der Hoffnung formulieren können.210 Die direkte Nachwendezeit betrachtend, ist in den Erinnerungen von einer Zukunft nicht zu sprechen, zum Tragen kommt vor allem eine deutliche Ernüchterung, die Klein auf einen Punkt bringt, der auf alle Protagonisten zutrifft: »Diese Wende hatte ich nicht gewollt.«211 Das eigene Engagement, die eigene Position im untergegangen Staat werden dabei jedoch nicht in Frage gestellt, vielmehr dient die Ernüchterung der Revision und Relativierung des eigenen Erwartungshorizontes vor dem Hintergrund gemachter Erfahrungen. Relativierende Überlegungen dieser Art finden sich in allen Erinnerungen, insbesondere aber bei Mehls und Hörz. So schreibt Mehls davon, er habe »den Totengräbern der DDR zu viel Spielraum gelassen«212 und sich nicht bewusst gemacht, wie viel Schaden sie anrichten, womit er sich recht unkonkret auf »die anderen«213 in der Partei bezieht; Hörz wiederum betont, dass es sich bei der »Durchsetzung eines restriktiven und repressiven Modells des Sozialismus nach sowjetischem Muster in der DDR« um einen »historischen Prozess« gehandelt habe, für den er, aber nicht alle Menschen bereit waren.214 Im Anschluss an diese kurze Ernüchterungsphase lässt sich in allen Autobiographien am deutlichsten die Strategie eines pragmatischen Aktivismus identifizieren: Dabei transformieren die Autoren die vormals allumfassende Ideologie in kleinere Projekte und Aufgaben, in einzelne Schritte. Die Zielreichweite nimmt damit ganz unterschiedliche Gestalt an, was ihnen ermöglicht, Quellen des Scheiterns schon im Vorfeld zu 210 | Ich danke Alexander Leistner, Universität Leipzig, für die Diskussion der im Folgenden vorgestellten Strategien; seine Hinweise haben mir sehr geholfen. 211 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 343. 212 | MEHLS, Unzumutbar, S. 254. 213 | Ebd., S. 255. 214 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 522.
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minimieren und dabei zugleich mobilisierend zu wirken. So erinnern Klein und Jacobeit für diese Zeit unzählige Vorhaben, in deren Licht auch der ›Wende‹ Gutes abgewonnen werden kann und die gleichzeitig eine Rückwendung in die Vergangenheit darstellen: »Die Wende hat es immerhin ermöglicht, den Zugang zu Archiven zu öffnen, die vordem nicht zu benutzen waren.«215 Gleichzeitig macht Jacobeit deutlich, dass es ihm auch um die gesamtdeutsche Anerkennung seiner beruflichen Vergangenheit und Gegenwart geht; folgerichtig macht ihm Hoffnung, als er nach der ›Wende‹ bei einem renommierten westdeutschen Historiker eingeladen ist. »Viel wissenschaftliche Prominenz« sei an diesem Abend zugegen gewesen, »gute Gespräche« geführt worden, die das Gefühl genährt hätten, zur wissenschaftlichen Prominenz zu gehören, und deshalb »Hoffnung auf die Zukunft« machten.216 Seinen Zukunftswunsch lässt er den Gastgeber formulieren: »[…] daß nicht alles, was in der DDR geleistet worden sei, untergehen dürfe. Irgendwie bezogen wir das auch mit auf uns und fuhren mit guten Gedanken zurück nach Birkenwerder.«217 Mittenzwei sieht sich demgegenüber in seiner Arbeit zwar zunehmend auf sich »selber zurückgeworfen«218 – allerdings führt dies nicht zu Resignation, sondern vielmehr zu produktiver Umtriebigkeit. Der Zusammenbruch des Staates und die folgende Abwicklung des Wissenschaftssystems sind für ihn Anreiz zu forschen: »Das politische Klima der neunziger Jahre zwang mich zu dem Projekt, das mich nunmehr beschäftigte.«219 Zudem stattet ihn sein Forscherdasein mit der nötigen Konstitution für die Bewältigung des Systemumbruchs aus: »Als Wissenschaftler war ich gewohnt, nach Fehlschlägen neue Lösungen zu suchen.«220 Die Motivation und der Charakter der Forschertätigkeit ändern sich an dieser Stelle erneut: Hatte sie in den Erinnerungen lange als Möglichkeit gedient, sich in einen apolitischen Raum zurückzuziehen, wird sie nun wieder zu einer genuin politischen Tätigkeit. Klein beginnt die Geschehnisse rasch zu historisieren und möchte zum »tieferen Verständnis der jüngst erlebten Wende durch ihre Einbettung in die letzten hundert 215 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 272. 216 | Ebd., S. 225. 217 | Ebd., S. 226. 218 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 490. 219 | Ebd., S. 488. 220 | Ebd., S. 423.
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Jahre deutscher Geschichte«221 beitragen. Auch Pätzold sieht ein Ziel darin, die ›Wende‹ in einen größeren Zusammenhang einzuordnen und sie damit letztlich wieder zu verkleinern: Wie hatte dieser Führer samt seinen Unterführern Millionen hinter sich und unter das Hakenkreuz gebracht? Wie war es möglich, Massen wahnhaft gegen ihre eigenen Grundinteressen in Bewegung zu setzen? Zu der Frage hatte ich mich […] bereits 1982 in Referaten in Jena und Halle geäußert. Nun […] ließen sich Beobachtungen und Erfahrungen in die Überlegung einbeziehen, die aus dem Jahre 1989/90 stammten. Sie vermittelten erneut eine Lektion darüber, wann Massen sich in Bewegung setzen, was sie antreibt und die Ergebnisse ihrer Aktionen bestimmt. Das Thema hatte mich mit Studenten in Seminaren mehrfach und da mit Bezug auf die Geschehnisse der Jahre 1918 und 1933 beschäftigt. 222
Hörz erklärt die »Umbruchsituation«223 zu »philosophisch sehr interessante[n] Zeiten«224, macht sie damit ebenso zum Gegenstand wissenschaftlicher Beobachtung und begibt sich damit in eine aktive Rolle: »Diese Prozesse wollte ich als Philosoph verstehen.«225 Auch Mehls möchte in der Zukunft dazu beitragen, ein komplexeres Bild von der DDR zu vermitteln, um ein Verschwinden der »simplen Sprüche der Geschichtsvereinfacher«226 zu erreichen. Hierzu beizutragen, belebt seine Hoffnungen, wobei er sich dabei als Wissenschaftler darstellt, den die »internationale Dimension«227 und »Fragen nach der Dimension und historischen Tragweite«228 des Systemzusammenbruchs umtreiben. Diesen Überlegungen nachzugehen, empfände er als ausgesprochen »befriedigend«229 und sähe darin »neue Möglichkeiten, sich gerade den im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehenden Problemen der jüngsten Geschichte sozialisti-
221 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 344. 222 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 284. 223 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 308. 224 | Ebd., S. 31. 225 | Ebd., S. 32. 226 | MEHLS, Unzumutbar, S. 316. 227 | Ebd., S. 305. 228 | Ebd., S. 304. 229 | Ebd., S. 313.
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scher Länder zuzuwenden.«230 Auch bei ihm klingen deutlich optimistischere Töne als vor dem Mauerfall an – und vor allem ein Plan, ein Ziel, nachdem noch kurz zuvor die Rede war vom »Trümmerhaufen […], der unter sich die vielen Hoffnungen und den von vielen geteilten Glauben an die Möglichkeit eines anderen Weges der Menschheit gründlich verschüttete.«231 Dies leitet über zu einer weiteren Erzählstrategie, die sich insbesondere bei Mehls und bei Hörz findet: die Untergangserwartung. Mehls’ Streben etwa gilt weiterhin nicht weniger als der »Suche nach einem gangbaren Weg der Menschheit aus der drohenden Katastrophe«.232 Hörz wiederum spricht voller Selbstbewusstsein davon, »den Untergang der Menschheit«233, den er am Horizont sieht, auch fürderhin mit seinem Engagement vermeiden wollen, denn er ist überzeugt, »dass die Auseinandersetzung um eine humane Zukunftsgestaltung mit der ›Wende‹ keineswegs zu Ende ist. Doch es waren nur andere Formen zu finden, um sie zu thematisieren.«234 Der Erwartungshorizont wird damit zum Katastrophenhorizont einer in ihrem Überleben gefährdeten Zivilisation, in den sich unterschiedlichste politische Themen ebenso bruchlos integrieren lassen wie die verschiedenen Systemerfahrungen. Die Bezugsprobleme werden in Kombination mit der Dramatisierung globaler Ungleichheiten zu einer apokalyptischen Weltsicht verdichtet, die das rettende Engagement letztlich alternativlos erscheinen lässt. Dieser negativ fixierte Erwartungshorizont tritt an die Stelle eines einstmals reformsozialistischen Erwartungshorizontes und ermöglicht die auf Dauer gestellte Empörung angesichts der auf Dauer gestellten Untergangsszenarien. Deutlicher als diese Strategien tritt aber eine Erzählung in allen Autobiographien auf, die in besonderem Maße das Formulieren neuer – bzw. alter – Hoffnungen ermöglicht und darüber hinaus sogar die Rückkehr einer Utopie erlaubt. Dabei handelt es sich um eine ›Erfüllungserwartung‹, deren Leitgedanke ist, dass das Leben besser, lebenswerter ist, wenn die Autoren nicht von ihren Träumen lassen, die irgendwann schon ihr Ziel erreichen werden. Der ›utopische‹ Verzicht auf die unbedingte Realisie230 | Ebd., S. 314. 231 | Ebd., S. 305. 232 | Ebd., S. 78. 233 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 311. 234 | Ebd., S. 176.
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rung der eigenen Erwartungen ermöglicht das Festhalten an einem umfassenden und tiefgreifenden Veränderungsbegehren. Zugleich wird die Erfüllungsunterstellung – ein anderes Wort dafür wäre Zuversicht – ins Überzeitliche, Jenseitige ausgedehnt, und diesseitige Enttäuschungserfahrungen absorbiert werden. So macht Pätzold deutlich, dass die Wiedervereinigung für ihn zwar der Endpunkt der DDR, allerdings nicht der Endpunkt seines Glaubens an einen anderen Weg sei. Nach wie vor halte er »eine andere Welt nicht nur für möglich«, sondern wolle »entschlossen und erfolgreich« für sie eintreten: »Neigungen zur Resignation besitze ich nicht.«235 Auch Klein betont unmissverständlich, dass er diese Zäsur nicht gewollt habe, spricht sich dabei aber ebenfalls gegen »Resignation« und »Pessimismus« aus.236 Rasch und unvermutet hellt sich sein Erwartungshorizont wieder auf, indem Klein seine Bereitschaft erklärt, die ›Wende‹ »als einen unbezweifelbaren Fortschritt zu akzeptieren.«237 Dieser Fortschritt bezieht sich auf den Glauben, dass zwar die DDR, damit aber nicht der Sozialismus per se gescheitert sei: »Ich bin tief überzeugt von der Lebenskraft der sozialistischen Idee des Auf baus einer gerechten Gesellschaft der Freien und Gleichen und von der Fähigkeit des Sozialismus, wieder echte Fortschritte in dieser Richtung zu machen.«238 Auch Hörz spricht nun vom »Neubeginn«, der Not tue, um »neue aktuelle realisierbare Ideale zu entwickeln, um das Utopiedefizit zu überwinden.«239 Grundsätzlich sähe er die Zukunft wieder als »offen« und »gestaltbar, denn es gibt relative Ziele des Geschehens, die, zu Zielstellungen gereift, Erfolge bei der Gestaltung der Zukunft bringen können.«240 Mittenzwei erzählt, der Systemzusammenbruch habe ihm geholfen, Visionen für eine Zeit »fernerhin« zu entwickeln, für eine Zukunft, in der er wieder »einer Sache dienen kann.«241 Der endgültige Zusammenbruch ihres Landes wird demnach zur Voraussetzung für die Wiederkehr der Utopie, die seit den 1970er Jahren verschüttet war. Die Erfahrung eines Rückschlags kann, so zeigt sich hier, 235 | PÄTZOLD, Die Geschichte kennt kein Pardon, S. 301. 236 | KLEIN, Drinnen und Draußen, S. 10. 237 | Ebd., S. 343. 238 | Ebd., S. 10. 239 | HÖRZ, Lebenswenden, S. 291, S. 310. 240 | Ebd., S. 524. 241 | MIT TENZWEI, Zwielicht, S. 491.
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sogar die Gewissheit stärken, jetzt erst recht am Projekt ›dranzubleiben‹. Dabei fällt auf, dass die Protagonisten häufig zwei Zukünfte unterscheiden. Die näherliegende deckt sich mit dem geschichtspolitischen Impetus der Autobiographien, für sie erwartet man sich folgerichtig nichts Gutes – die weiter entfernte jedoch erlaubt die eben beschriebene Rückkehr zur Utopie. So spricht Hörz von einer sich theoretisch begründenden »optimistischen Sicht für die fernere Zukunft« und gleichzeitig vom »Pessimismus«, der sich allerdings auf die nähere Zukunft bezöge, auf »die Umstände«, die gerade herrschten, auf die »Kläffer«, die »anbellen« gegen die gemeinsame Leistung »für die Wissenschaft und Humanes.«242 Für die fernere Zukunft, die er »gestalten« möchte, habe er jedoch eine »humanistische Vision«, die darin bestünde, »eine Assoziation freier Individuen mit sozialer Gerechtigkeit und ökologisch verträglichem Verhalten zu erreichen.«243 An ihr hält er fest, glaube er doch an »das immerwährende Streben der Menschen, menschenfeindliche Bedingungen zu beseitigen.«244 Auch Jacobeit ist bei allen »berechtigten Hoffnungen«245 latent pessimistisch, was sich aber vor allem auf das konkrete wissenschaftliche Ankommen im wiedervereinigten Deutschland bezieht. Für die ferne Zukunft ist Jacobeits Erwartungshorizont freundlicher; mit Marc Bloch stellt er das Wort »verstehen« in den Mittelpunkt aller seiner historischen Bemühungen: »Das Wort ist mit vielen Schwierigkeiten verbunden, berechtigt aber auch zu großen Hoffnungen.«246 Diese Unterscheidung in zwei Zukünfte klingt in allen Autobiographien an – nicht so explizit wie bei Hörz, aber doch erkennbar. Die Gegenwart und die unmittelbare Zukunft werden in eher düsteren Farben gemalt; je konkreter die formulierten Ziele und Wünsche sind, umso schlechter sieht es aus. Erst die fernere Zukunft erlaubt Utopien, die dieser Konkretheit nicht bedürfen. Bis auf die unmittelbare Nachwendezeit bleibt der Zukunftshorizont in den Autobiographien nicht verschlossen, sondern ist vielmehr deutlich klarer als vor dem Zusammenbruch des Staates zu sehen. Die Autoren bringen für die Bewältigung ihrer Enttäuschungen verschiedene Strate242 | Ebd., S. 36. 243 | Ebd., S. 533. 244 | Ebd., S. 523. 245 | JACOBEIT, Von West nach Ost, S. 232. 246 | Ebd., S. 293.
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gien zum Einsatz – außerdem verändern sie immer wieder den Blickwinkel: Sie legen ihre Forschung nicht mehr kleinteilig an, sondern schauen nun aus großer Höhe auf die Geschehnisse, ordnen sie in den historischen Gesamtverlauf des 20. Jahrhunderts ein – damit relativieren sie sie und distanzieren sich mit dieser wissenschaftlichen Perspektive zugleich. Der Wunsch nach einem reformierten Sozialismus in der DDR hat sich nicht erfüllt, was endgültig mit dem Zusammenbruch des Staates 1989 feststeht. Diese Endgültigkeit wird zur Voraussetzung, die sozialistische bzw. überhaupt eine gesellschaftliche Utopie aufleben zu lassen.247 Bedeutete der Staat lange ein Hindernis für die Entwicklung einer Zukunftsperspektive, löst sein Scheitern ihre Rückkehr aus. Die Gegenwart bildet in den Autobiographien noch lange nicht den Endpunkt der historischen Entwicklung. Sie ist vielmehr eine Zwischenzeit auf dem Weg zur Erfüllung der Geschichte.248 Das Verschwinden der DDR ermöglicht den Autoren das Schöpfen neuer Hoffnungen, das Formulieren von Erwartungen: Sie sind zurückgekehrt in die Zukunft.
6 ›1989‹ ALS U MSCHL AGPL AT Z VON Z UKUNF TSORIENTIERUNGEN : F A ZIT Der Ausgangspunkt dieses Kapitels war die Analyse der autobiographischen Zukunftsbezüge und ihrer Funktionalisierungen im Zusammenhang mit ›1989‹, sowie die damit zusammenhängende Frage nach der Übernahme gesellschaftlich ›festgelegter‹ Zäsuren bzw. unterschiedlichen Typen der »vitalen Zeitordnung«. Eine Überlegung war dabei, ob dieser Umbruch eine »Urerfahrung des Zeitlichen« bedeutet, ob Zukunftsvorstellungen demnach tatsächlich Veränderungen unterworfen werden und an welchem Punkt dies geschieht.
247 | Vgl. hierzu die Zeitdiagnose des Philosophen Boris Buden, die sich mit dem Geist der »Retroutopie« nach 1989 beschäftigt; insbesondere das Kapitel »Zukunft: Utopie nach dem Ende der Utopie« in BUDEN, Boris: Zonen des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus, Frankfurt a.M. 2009, S. 164-200. 248 | Zu den Schwierigkeiten sozialistischer Prognostik: HÖLSCHER, Lucian: Weltgericht oder Revolution. Protestantische und sozialistische Zukunftsvorstellungen im deutschen Kaiserreich, Stuttgart 1989, S. 327-377.
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Dabei stellte sich heraus, dass ›1989‹ deutliche Auswirkungen im Bezug auf die Modifikationen der Zukunft hat, die allerdings im Widerspruch zu den Aussagen der Protagonisten stehen. So erzählen die Autobiographen den Untergang der DDR als Endpunkt jeglicher Hoffnungen, wohingegen die narrative Analyse der Zukunftsbezüge zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Gerade der tatsächliche Zusammenbruch des Staatssozialismus eröffnet einen Zukunftshorizont, der sich schon lange vor der Wendezeit geschlossen hatte – auch an dieser Stelle decken sich die expliziten Aussagen der Autobiographen nicht mit der Veränderung der Zukunftsbezüge in ihren Erinnerungen. Sie zeugen für eine andere Phase von einem deutlichen Umschwung, der gleichwohl in der individuellen Zeitrechnung nicht als solcher wahrgenommen wurde. Diese Phase deutet sich Ende der 1960er Jahre mit dem langsamen Verschwinden der Zukunftsperspektive an und dominiert mit Ende der 1970er Jahre alle Erinnerungstexte. Den Autobiographien liegt damit eine ›subkutane‹ Zeitordnung zugrunde, die sich über sich verändernde Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen lässt, und eng an Erwartungen, Befürchtungen und Hoffnungen gebunden ist. Erstaunlicherweise stimmt diese Zeitordnung in allen Autobiographen überein; offensichtlich kennen nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive optimistische und pessimistische Lebensphasen, die ihre Zukunftshorizonte und damit auch ihre Narrative beeinflussen.249 Die Entwicklung in dieser Zeit lässt sich ursächlich an verschiedene Veränderungen knüpfen; in erster Linie ist ein politischer Umschwung im Fortschrittsdenken dafür verantwortlich, dass der Glaube an eine von oben geplante und gelenkte Zukunft abstirbt. Andererseits führen die innenpolitischen Entwicklungen unter Honecker zu einer resignativen Grundstimmung. Beides wird nicht nur im konkreten Verlust der Zukunftsbezüge, der Hoffnungen und Erwartungen, greif bar, sondern auch in einer Veränderung, die die Beschreibung der Forschung betrifft: Verbanden die Protagonisten sie anfänglich deutlich mit dem Aufbau des Staates, zu dessen Gelingen sie beitragen sollte, lösen sie sie zunehmend aus dieser Verbindung, so dass ausschließlich der Bezug zur sozialistischen Utopie bleibt. In einem nächsten Entwicklungsschritt schwindet auch die Utopie, die Forschung wird nicht mehr auf ein Morgen bezogen, sondern verwan249 | Vgl. hierzu Rüdiger Graf, der dies für die Zeit der Weimarer Republik zeigt; GRAF, Die Zukunft der Weimarer Republik, S. 83.
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delt sich in die kleinteilige Befriedigung eigener Forschungsinteressen, die ansonsten keinem höheren Zweck mehr dienen. Die Chancen, die Gestalt der Zukunft zu beeinflussen, werden in dieser Zeit offensichtlich als kaum existent eingeschätzt. Letztlich verschwindet jeglicher Zukunftsbezug, sei er optimistischer oder pessimistischer Natur. Damit bestätigt sich, dass in diesen Jahren die Wurzeln eines weitverbreiteten Überdrusses an der DDR zu finden sind, der in engem Zusammenhang mit der kontinuierlichen Zurücknahme heilsgeschichtlicher Versprechungen in diesen Jahren steht. Der Erwartungshorizont in der DDR verkürzte sich immer mehr, bis er schließlich ganz in sich zusammenfällt. Die Zukunft stirbt. Dennoch lassen die Protagonisten den Endpunkt ihrer Hoffnung explizit mit dem tatsächlichen Ende des Systems zusammenfallen und synchronisieren damit Lebens- und Weltgeschichte. Diese deutliche Übernahme – eine ›weltgeschichtliche‹ Zeitordnung – zeigte sich auch für die Zäsuren der Jahre 1933 und 1945, für die sich gleichwohl parallel unendlich viele alternative Datierungen – also ›subkutane‹ Zeitordnungen – extrapolieren lassen. Die Autoren versuchen demnach fortlaufend, ihre einstigen Erwartungen und daraus folgende Narrative mit den tatsächlichen Erfahrungen abzugleichen.250 Dabei werden die geläufigen Zäsuren in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auf die eigene Biographie bezogen. Dieser Befund macht offensichtlich, wie die Autobiographen im Akt der Deutung die Vorstellung von Zäsuren in der Geschichte ihrerseits immer wieder hervorbringen. Nicht nur ›1945‹, das als narratives Scharnier in den Erzählungen herausgearbeitet wurde, sondern auch ›1989‹ strukturieren dabei den Zugriff auf die eigene Lebensgeschichte und gleichermaßen den auf die Geschichte der eigenen Zeit – sie sind demnach »Nahtstellen zwischen Menschenalter und Zeitalter.«251 Die deutliche Bestätigung des Umbruchs von ›1989‹ spricht dabei auch von den »politischen und kulturellen Bindungskräften«252 des vergangenen Systems, in deren Logik die Zäsur ganz selbstverständlich als ausgesprochen negatives Ereignis verortet wird. Diese Macht von Erzählgewohnheiten ist aber nicht ausschließlich mit besagten Bindungskräften 250 | Vgl. hierzu die Befunde Depkats zur temporalen Struktur von Politikerautobiograhien; DEPKAT, Lebenswenden, S. 504. 251 | ESCH, Zeitalter und Menschenalter, S. 18. 252 | SABROW, Sozialismus als Sinnwelt, S. 13.
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erklärbar, sondern auch dem Streben nach einer erzählbaren Geschichte geschuldet. Gerade für die untersuchten Protagonisten ist angesichts ihrer Biographie eine schlüssige Narration, die ›1989‹ nicht als negativen Endpunkt erzählt, als Erzählung vom guten Leben im Realsozialismus kaum konstruierbar. Es dominiert deshalb die offizielle Zäsur die Lebensgeschichte, obwohl letztere auch von ganz anderen Umbrüchen erzählt. Gleichzeitig lässt sich gerade anhand der Modulation der Zukunftsbezüge nach ›1989‹ ableiten, dass der Systemzusammenbruch für die Autoren durchaus eine »Urerfahrung des Zeitlichen« darstellt, einen »gesprengten Erfahrungsraum«253. Für alle Protagonisten ändert sich nach der ›Wende‹ der Blick nach vorne grundlegend – allerdings ganz anders, als sie selbst erzählen. Die Hoffnung, die seit den 1970er Jahren kaum noch vorhanden war, bekommt in den Erinnerungen nach der ›Wende‹ Auftrieb: ›1989‹ führt in der Konsequenz zur Öffnung der Zukunftshorizonte, die nahezu zwei Jahrzehnte weitgehend verschlossen waren. Zwar werden in der Erzählung der unmittelbaren Nachwendezeit Ablehnungen des optimistischen Glaubens geäußert, die sich aber immer nur auf die unmittelbare und sehr konkrete Zukunft beziehen und keine pessimistischen Zukunftsaneignungen folgen lassen. Offensichtlich wird dies auch in einer erneuten Veränderung der Erzählungen von der eigenen Forschung. Dabei zeugt der Bezugspunkt ›Wissenschaft‹ auch vom Bestreben, gerade angesichts erfahrener Zäsuren Kontinuität zu konstruieren. Die bisherige Kleinteiligkeit wird nun wieder abgelöst durch den Blick auf das große Ganze, der die wissenschaftliche Arbeit nicht nur in größere Kontexte stellt, sondern ihr auch eindeutige Auswirkungen zuschreibt. Sie ist nicht mehr Selbstzweck: Wo einst der Glaube an den Fortschritt stand, hat nun die Sehnsucht nach dem Verständnis der Vergangenheit Einzug gehalten, die allerdings vor allem zur Gestaltung einer besseren Zukunft beitragen soll. ›1989‹ öffnet demnach auch in dieser Hinsicht einen Erwartungshorizont und ermöglicht schließlich sogar eine Rückbesinnung auf unentfaltete Potentiale der Vergangenheit. Erst das Ende der DDR bringt die Rückkehr zur sozialistischen Utopie. Die Zeit wird erneut als Übergangszeit auf dem Weg in eine als ideal antizipierte Zukunft verstanden. ›1989‹ wird so zur »Begebenheit«, die der Menschheit »die Zukunft als Aufgabe moralischen Sollens«254 vorgibt. 253 | KOSELLECK, Vergangene Zukunft, S. 361. 254 | Ebd., S. 268.
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IV Résumé Erzählungen vom guten Leben
Anlässlich des zwanzigjährigen Jubiläums der ›Wiedervereinigung‹ fand in Berlin das Geschichtsforum statt, das unter der Überschrift »1989 | 2009 – Europa zwischen Teilung und Auf bruch« zu einer breitangelegten Auseinandersetzung mit der Zeitenwende von 1989 einlud. Eine zugehörige Podiumsdiskussion widmete sich den Erzählungen vom Kommunismus. Einer der Gäste war Jens Bisky, der 2004 eine Autobiographie über seine Jugend in der DDR veröffentlicht hatte. Danach gefragt, ob es eigentlich einen Grund gäbe, sich überhaupt mit den unzähligen Nachwende-Erinnerungen zu beschäftigen, antwortete Bisky: »Wenn man Dinge verstehen will, muss man sie etwas komplizierter machen, und das tun Autobiographien.«1 Dieser Komplexität der Erinnerung wurde in der vorliegenden Arbeit nachgegangen – Ziel war es nicht, die Erinnerung an die DDR in möglichst reduzierter Form zu kondensieren, sondern ganz im Gegenteil das vielschichtige Neben-, Gegen- und manchmal auch Durcheinander der Erinnerungstexte für eine komplexere Darstellung der DDR und ihrer Hinterlassenschaften zu erschließen. Im Mittelpunkt standen die narrativen Sinnstiftungsprozesse von Geisteswissenschaftler-Autobiographien, die sämtlich in einem speziellen Kontext entstanden sind: Geschrieben wurden sie, nachdem mit dem Zusammenbruch der DDR das Land untergegangen war, das den beruflichen und privaten Lebenswegen der Protagonisten 40 Jahre lang eine Heimat gegeben hatte. Damit stehen die Quellentexte im Zusammen-
1 | Jens Bisky im Interview im Rahmen des Geschichtsforums »1989 | 2009 – Europa zwischen Teilung und Aufbruch«, www.friedlicherevolution.de/index.php? id=49&tx_comarevolution_pi4[contribid]=211 [letzter Zugriff 08/2012].
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hang mit einer Zäsurerfahrung, deren Auswirkung auf Wandel und Stabilität kultureller Sinnsysteme näherer Betrachtung unterzogen wurde. Eine Arbeit, die Sinnstiftungen analysiert und Erzählmuster untersucht, läuft leicht Gefahr, die Unterschiedlichkeit ihrer Quellen zu nivellieren – etwa indem sie, gestützt auf die gedächtnistheoretische Forschung, von ›Erinnerungsgemeinschaften‹ spricht, in denen das Individuum aufzugehen scheint. Dieser Gefahr einer vorbehaltlosen Vergemeinschaftung wurde in der vorliegenden Arbeit dadurch begegnet, dass die Autoren als ›Akteure‹ mit ›Eigensinn‹ ernst genommen wurden. Freilich sind auch unter Berücksichtigung formeller und inhaltlicher Besonderheiten sowie vordergründig isolierter und individueller Charakteristika in allen Texten eindeutige Parallelen aufgetreten, die als tieferliegende narrative Strukturen interpretiert werden können. Ausgegangen wurde dabei von einer performativen Leistung der Autobiographien bei der Konstruktion von Identität und der Frage, welche Rolle den Erfahrungen von Wandel und Umbruch dabei zukommt. Zunächst galt der Blick den Erzählungen vom Anfang. Den Weg in das sozialistische System hinein beschreiben die Autoren mit den Mitteln der Konversionserzählung, die ihnen eine griffige narrative Struktur an die Hand gibt: Davor – Dazwischen – Danach. Das negative ›Davor‹ liegt jeweils in der Zeit des Nationalsozialismus, das ›Dazwischen‹ beschreibt mehr oder weniger ausführlich die Wirrungen der unmittelbaren Nachkriegszeit, das positive ›Danach‹ findet schließlich im Staatsozialismus ein Zuhause, das endlich ein neues, besseres Leben ermöglicht. Alle Protagonisten nutzen dieses präformierte Erzählmuster, das der antifaschistischen Gründungserzählung der DDR entlehnt ist. Verbleibende Unterschiede in den Narrativen erklären sich aus den politischen Positionierungen der jeweiligen Elternhäuser. Je näher die Familie dem Nationalsozialismus verbunden war, umso deutlicher wird die Zäsur gesetzt und umso inbrünstiger wird die Konversionserzählung beteuert. Davon unbeschadet beharren jedoch alle Protagonisten auf einer Kontinuität im Wandel: Das eigene Ich ist letztlich unbeschadet durch die Stürme der Zeiten gekommen. Die in der Zeit des Nationalsozialismus durchweg noch sehr jungen Autoren geben an, eigentlich schon immer Zweifel am Nationalsozialismus gehabt zu haben, Hoffnungen auf Alternativen seien nie ganz erloschen: Der Wandel beschränkt sich auf das System, die höchstpersönlichen Identitäten jedoch haben das ›Danach‹ unversehrt erreicht.
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Verblüffend an diesem Erzählmuster ist vor allem seine weitgehende Korrespondenz mit der Gründungsgeschichte der DDR. Die Bindungskräfte des sozialistischen Sinnsystems erweisen sich als so mächtig, dass sogar ein Skript, das individualbiographisch nicht passend ist, der Lebensgeschichte als Strukturierungselement dient. Die Autobiographie wird mit der Erzählung des Staates synchronisiert, die Lebensgeschichte so mit einem von einer Sinnstiftungsgemeinschaft vorgegeben Identitätsschema in Übereinstimmung gebracht. Dieses Schema ist seinerseits zwar situativ entstanden, weist aber trotzdem eine gewisse Zeitfestigkeit auf, wenn die untersuchten Erinnerungstexte auch dann noch an ihren früher erprobten Sichtweisen festhalten, als diese sich nach der ›Wende‹ von 1989 plötzlich in einer unerwarteten Konkurrenz zu neuen biographischen Mustervorstellungen wiederfinden. Das eingeübte Muster stellt sich in den Augen der Autobiographen gegenüber den neuen gesellschaftlichen Umständen letztlich als überlegen heraus. Ganz umstandslos fällt die Adaption des übernommenen Skripts freilich nicht aus. Vielmehr modifizieren alle Autoren im Laufe ihrer Erinnerungen die Gestalt des ›Danach‹. Zunächst erzählen sie die Geschichte einer überaus erfolgreichen Politisierung: Die Hinwendung zum besseren Leben enthält zugleich ein empathisches Bekenntnis zum sozialistischen Staat und dessen Entwurf der sozialistischen Persönlichkeit. Der weitere Gang der Erinnerungen jedoch berichtet von einer allmählichen Befreiung aus dem Gründungsnarrativ des ›ersten sozialistischen Staats auf deutschem Boden‹. An seine Stelle tritt eine neue Quelle, aus der künftig die Essenz der eigenen Identität geschöpft wird: die Wissenschaft. Die Konversion führt nicht mehr in ein staatlich gelenktes ›Danach‹, sondern wird zur Ankunft im mehr und mehr politik- wie staatsfernen Reich der Wissenschaft umgedeutet. Die Autobiographen geben die Konversionsstruktur selbst dadurch jedoch nicht auf. Auch der Dienst in Forschung und Lehre bleibt eng mit dem ›Davor‹ verknüpft und beinhaltet – wie das Bekenntnis zum Staat – noch immer eine klare Entscheidung für ein besseres Leben. Überraschenderweise ist auch hier das Nebeneinander von Konversion und Konstanz zu beobachten: Das Ich behält seine Kontinuität, weil bereits in frühester Kindheit Anzeichen für Ernst und Sorgfalt des Wissenschaftlers hervorgetreten seien. Der ›geborene Wissenschaftler‹ findet nun zu seiner vorbestimmten Berufung. Zugleich allerdings hat die Wissenschaft mit dem Staat und dessen Glaubenssystem nichts mehr zu tun.
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Sie streitet gegen das nationalsozialistische ›Davor‹ – sie streitet aber nicht (mehr) notgedrungen für das sozialistische ›Danach‹, sondern versucht vielmehr, dem Allmachtsanspruch von Staat und Partei Freiräume für die eigene Arbeit abzutrotzen. ›Wissenschaft‹ wird zum Refugium einer reinen Weltbeschreibung, die unabhängig von jedem politischen System existieren kann und auch in der DDR keine Einschränkungen hinnehmen musste, die über die administrativen Gängelungen hinausgegangen wären, die jeder Wissenschaftsbetrieb kennt. Das Bekenntnis zum Sozialismus verwandelt sich in das Bekenntnis zur Wahrheitssuche. Allerdings offenbaren sich dabei die Schwierigkeiten, die den Autobiographen der Umstand bereitet, dass sie ihre Erinnerungen erst nach 1989 niederschreiben. Die Konversionserzählung bekommt durch die ›Wende‹ eine erhebliche Bürde aufgelastet, muss sie doch nun – rückblickend – das gesamte Leben in der DDR rechtfertigen und nicht mehr, wie zu Gründungszeiten der DDR, lediglich einen vermeintlichen westdeutschen Imperialismus abwehren. Auch hier wird die individuelle Geschichte durch den antifaschistischen Gründungsmythos ergänzt, der retrospektiv nun ein entschiedenes ›trotz allem‹ in sich trägt: Der Verweis auf das unbestritten schrecklichere ›Davor‹ des Nationalsozialismus soll die Legitimität des eigenen Lebens bewahren. So fungiert die Zäsur 1945 als das wesentliche narrative Scharnier, von dem ausgehend alle Autoren ihre Erinnerungen organisieren. Da der Schreibzeitpunkt den Bezug auf das ›Danach‹ erschwert, nutzen die Protagonisten ihr Berufsfeld für die notwendigen Distanzierungen. Das wissenschaftliche Ethos wird zum Bezugsrahmen ihres Lebens. Diese Wendung erlaubt den Autoren, auch nach 1989 an ihrem ›Skript‹ festzuhalten: Die Konversionsstruktur stiftet in besonderem Maße Kohärenz, lässt sich doch die gesamte Lebenserfahrung anhand dieses Musters interpretieren. Die Protagonisten bleiben dieselben, weil sie sich geändert haben. Ausgangspunkt des zweiten Kapitels der Arbeit, den Erzählungen von der besseren Hälfte, war der Schreibzeitpunkt der Autobiographien und der Anlass, den die Autoren formulieren: Sie greifen erst zur Feder, als die Debatten im wiedervereinigten Deutschland bereits einige Jahre ausgefochten und ihre Leben dabei vehement in Frage gestellt werden. Dem entnehmen alle Autoren eine nachhaltige Motivation, ihre eigenen Erinnerungen überhaupt erst aufzuschreiben – nun soll die eigene Lebensgeschichte endlich ›richtig‹ erzählt werden. Dies erklärt auch, warum die
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Protagonisten ihre autobiographischen Projekte nicht bereits unmittelbar nach der Wende oder der beruflichen Exklusion in Angriff nehmen. Vielmehr beginnen sie die Arbeit an ihren Erinnerungen erst dann, als sich nach heftigen Debatten Mitte der 1990er Jahre so etwas wie eine ›Meistererzählung‹ herauskristallisiert. Die Erinnerung an die DDR ist zu dieser Zeit weniger historisch orientiert denn (partei)politisch geprägt; im Wunsch nach Aufarbeitung und Wiedergutmachung dominiert vor allem die Polarität von Tätern und Opfern die öffentlichen Diskussionen. Die DDR selbst wird dabei ganz überwiegend negativ dargestellt, ihr Charakter als Diktatur und die allgegenwärtige Überwachung durch die Staatssicherheit betont. Für die Autoren ist sie jedoch noch immer ein präsentes, wenngleich nicht unkompliziertes Bezugssystem. Indem sie es in ihren Erinnerungen schildern, möchten sie an einer Erzählwelt partizipieren, die ihr Leben in den Blick nimmt, ohne dass sie selbst sich darin wiederfinden könnten. Für die Autoren ist es im Karlssonschen Sinne existentiell, eine alternative, sinnstiftende Geschichte zu etablieren, in die sich das eigene Leben positiv einfügen lässt. Bei der ›Richtigstellung‹ des dominanten Diskurses zur DDR ließen sich in allen Texten ähnliche Erzählmuster herausarbeiten; Geschichte wird in durchaus vergleichbarer Weise in Gebrauch genommen. Die Grundmotivation ist dabei ein moralischer Anspruch: Die Autoren nehmen die Erzählung von der Vergangenheit als falsch wahr – manches werde verschwiegen, manches verzerrt, manches überwertet, manches skandalisiert. Angesichts dieser Missstände fühlen sie sich zum Aufschrei geradezu verpflichtet: Die herrschenden Tabus sind zu brechen, die blinden Flecken der Mehrheit zu beleuchten. Die autobiographischen Wahrheiten sollen die Fehltritte der herrschenden Ansicht korrigieren und die DDR insgesamt in ein freundlicheres Licht rücken. In diesem Kampf zwischen Fakten und Fiktionen verwenden die Autoren regelmäßig ideologische und politisch-pädagogische Argumentationsfiguren, die ganz im Zeichen des Kalten Krieges stehen und sich oft eng an offizielle Deutungsmuster der DDR-Staatsmacht anlehnen. Noch immer erscheint die DDR als die ›bessere Hälfte‹; auch das Wissenschaftssystem schneidet im Vergleich zur BRD jedenfalls nicht schlechter ab. Vermeintliche Eingriffe in seine Freiheit werden einerseits marginalisiert, andererseits mit Verweis auf ihre systemübergreifende ›Üblichkeit‹ pariert.
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Um dies zu belegen, nutzen die Autoren häufig eine Art wissenschaftlicher Geschichtsschreibung, die sich allerdings mehr als Gestus denn als echte Wissenschaftsleistung entpuppt. Vor allem ist es der geschulte Blick der Experten – vorliegend also der Autoren selbst –, der Objektivität und Verifizierbarkeit der Erkenntnisse sichern soll. So verweisen sie zwar alle auf genutzte Quellen, schreiben fußnotenaffin und berichten von Archivbesuchen im Zusammenhang mit der Niederschrift – allerdings stellt sich der gesamte wissenschaftliche Apparat als einziger Verweis auf das Ich heraus: Die Quellen entpuppen sich als alte Tagebücher und Notizen der Autobiographen, zitiert wird aus Gesprächen mit Freunden oder der Familie. In der Selbstsicht der Protagonisten schützt dieses Verfahren gleichwohl vor jedwedem etwaigen Zweifel an ihren Erinnerungen. Auffallend ist, dass die Protagonisten so zielstrebig vom Modus des Zeitzeugen in den des Wissenschaftlers wechseln. Dieser Eindruck wird noch dadurch verstärkt, dass alle Texte erst einige Jahre nach der ›Wende‹ von 1989 entstanden sind. Das wissenschaftliche Selbstverständnis der Protagonisten bleibt ungebrochen, obwohl das Bezugssystem nicht mehr existiert und das eigene Arbeitsumfeld abgewickelt wurde. Im dritten Teil der Arbeit, den Erzählungen von der verschwundenen Zukunft, stand die Analyse der autobiographischen Zukunftsbezüge und ihrer Funktionalisierungen im Zusammenhang mit ›1989‹ im Vordergrund. Damit hing die Frage zusammen, inwiefern die Autoren gesellschaftlich ›festgelegte‹ Zäsuren auch für ihre eigene Lebensgeschichte anerkennen oder ob sie stattdessen eine »vitale Zeitordnung« im Anschluss an Michaela Holdenried verwenden. Festgestellt wurde, dass im Laufe der Lebenserinnerungen die Zukunftsmodifikationen erheblichen Veränderungen unterworfen sind, die ›1989‹ zu kulminieren scheinen. Allerdings stehen die Aussagen der Protagonisten dazu in diametralem Widerspruch. Sie alle erzählen den Untergang der DDR als Endpunkt jeglicher Hoffnungen, wohingegen die narrative Analyse der Zukunftsbezüge zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Erst der Zusammenbruch des Staatssozialismus eröffnet einen Zukunftshorizont, der sich eigentlich schon lange zuvor geschlossen hatte. Von heilsgeschichtlich anmutenden Versprechungen war nämlich bereits seit den großen politischen Enttäuschungen der 1960er und 1970er Jahre immer seltener die Rede. Diese Ernüchterung schlägt bis auf die wissenschaftliche Tätigkeit der Autoren durch. Sie löst sich seit dieser Zeit kontinuierlich vom Staat ab und gibt den Dienst an einem besseren Morgen zugunsten der Befriedigung
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persönlicher Forscherinteressen auf. Der Erwartungshorizont in der DDR verkürzt sich in den letzten Jahren ihrer Existenz immer weiter, bis er schließlich ganz in sich zusammenfällt. Die Zukunft stirbt – und kehrt erst zurück, als auch die Gegenwart gestorben ist. Erst das Scheitern der DDR – und das ist ein zentrales Ergebnis dieser Arbeit – erlaubt die Rückkehr zur sozialistischen Utopie. Man glaubt an etwas, weil es unmöglich geworden ist; hierin deutet sich auch eine marxistische Dialektik an. Diese individuelle Periodisierung wird als solche von den Autoren allerdings nicht wahrgenommen. Für diese Form der »vitalen Zeitordnung« hat die Arbeit den Begriff der ›subkutanen‹ Zeitordnung vorgeschlagen. Sie lässt sich über changierende Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erfassen und ist erstaunlicherweise in allen Texten dieselbe. Offensichtlich kennen nicht nur Individuen, sondern auch Kollektive optimistische und pessimistische Phasen, die ihre Zukunftshorizonte und damit auch ihre Narrative beeinflussen. Die Protagonisten verlegen auf einer expliziten Ebene ausnahmslos den Endpunkt ihrer Hoffnung auf das Ende des Systems und synchronisieren damit Lebens- und Weltgeschichte. An der Übernahme dieser Zeitordnung, die in der Analyse ›weltgeschichtlich‹ genannt wurde, lässt sich gut studieren, wie die Autoren fortlaufend versuchen, ihre einstigen Erwartungen und daraus folgende Narrative mit den tatsächlichen Erfahrungen abzugleichen. Auch wenn die lebensgeschichtlichen Entwicklungen von äußeren Zäsuren unberührt geblieben sind, werden diese nahezu pflichtschuldig in die eigene Biographie eingebaut. Dieser Befund macht deutlich, wie die Autobiographen im Akt der Deutung die Vorstellung von historischen Brüchen ihrerseits immer wieder hervorbringen. Die Zäsuren werden – ganz im Sinne Arnold Eschs – zu »Nahtstellen zwischen Menschenalter und Zeitalter.«2 ›1989‹ erhält (ebenso wie 1945) im Erinnerungsraum der Autobiographen deshalb eine entscheidende Bedeutung. Obwohl der Untergang des Sozialismus keine Hoffnungen mehr beseitigt, die nicht schon seit den 1970er Jahren beerdigt gewesen wären, fungiert ›1989‹ als negativer Bezugspunkt, der die Erzählung vom guten Leben im Realsozialismus weiter plausibel machen kann. Die Zäsur belässt der Vergangenheit ihren bewährten Sinn. Der Zukunft aber erschließt ›1989‹ ganz neue Sinnressourcen; die Zukunft ist wieder offen. Selbst die Wissenschaft profitiert 2 | ESCH, Zeitalter und Menschenalter, S. 18.
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davon: Standen in den letzten Jahrzehnten der DDR vor allem persönliche Vorlieben im Mittelpunkt der Forscherarbeit, kehrt nun auch der lange verloren geglaubte höhere Zweck wieder zurück. Wo einst ein unbegrenzter Fortschrittsglaube stand, hat nun die Sehnsucht nach dem Verständnis und der Entfaltung vergangener Potentiale Einzug gehalten, die vor allem zur Gestaltung einer besseren Zukunft beitragen sollen. Die Gegenwart wird erneut als Übergangszeit auf dem Weg in eine als ideal antizipierte Zukunft verstanden. Dieser gewundene Weg vom Anbruch des besseren Lebens in den Jahren unmittelbar nach Kriegsende über die langen Jahrzehnte der Ernüchterung bis zur Rückkehr der Zukunftsvisionen im vereinigten Deutschland sowie das Studium der narrativen Muster erlauben einige Folgerungen für den Umgang mit Autobiographien als Quellen sowie mit Erinnerungen an die DDR. Sie werden abschließend kurz skizziert. Dem Wesen der Autobiographie entspricht es, dass ihr Autor beim Verfassen einen bestimmten Adressatenkreis vor Augen hat, der sich allerdings im Entstehungsprozess der Texte – auch mehrfach – ändern kann. Durch den Wandel der Systemstruktur, den die Autoren durchlebten, bedarf das Selbst einer Anpassung an neue soziale Gruppen, denen es nun gegenübersteht. Die Einheit ihres Lebenslaufs hat für die Autoren jedoch einen unverzichtbaren sozialen Stellenwert; auch die alten Bezugspunkte werden deshalb nicht einfach aufgegeben und auch die alten sozialen Gruppen gehören zum Kreis der imaginierten Leser. Autobiographien wenden sich daher immer zugleich an Vergangenheit und Gegenwart. Dies erklärt, warum die hier in den Blick genommenen Protagonisten ›1989‹ ausnahmslos als negativen Endpunkt beschreiben, obwohl die ›Wende‹ in ihren Erinnerungen subkutan positiv besetzt ist. Die Zäsur, die der Umbruch für sie zweifellos bedeutet, schafft neue Zukunftshorizonte, die individuell allerdings nicht einholbar und damit auch nicht formulierbar sind. In der Quellenanalyse zeigt sich dies etwa an der Freimütigkeit, mit der die Autoren Bekenntnisse zu historischen Zäsuren abgeben, ohne dass diese in ihren Lebensläufen nennenswerte Spuren hinterlassen hätten. Unter der Oberfläche der Autobiographien verbergen sich häufig Ordnungsmuster, Strukturierungsleistungen, Periodisierungslinien, die unterschwellig enorme Bindungskräfte entfalten, jedoch kaum einmal expliziert werden. Man kann deshalb nicht einfach von der Übernahme oder Überblendung einer Zäsur sprechen. Vielmehr scheint das Individu-
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um im Verhältnis zur Gesellschaft ein Kohärenzbedürfnis zu haben, das es vorteilhaft erscheinen lässt, auch die eigene Lebenserzählung danach auszurichten, was die Kollektivgeschichte antreibt. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass das gelebte Leben sich in den seltensten Fällen an historiographischen Darstellungsformen orientiert haben dürfte. Dieses Kohärenzbedürfnis wirkt jedoch nicht nur nach außen. Auch mit sich selbst muss das Individuum im Reinen bleiben. Autobiographische Texte geben dabei Formen vor und weisen oft eine Stringenz auf, die lebensgeschichtlich kaum plausibel ist. Im Rückblick erscheint auch die beliebige Aneinanderreihung zufälliger Entscheidungen wie der notwendige Weg in die Gegenwart. Den historischen Ereignissen wird damit häufig eine Art teleologischer Zug implantiert, der dem Autor die Einsicht ersparen soll, dass auch der eigene Lebenslauf letztlich von Kontingenz durchdrungen bleibt. Es liegt auf der Hand, dass eine derartige Kohärenz häufig nur um den Preis einer bruchstückhaften oder sogar latent widersprüchlichen Darstellung zu haben ist. Besonders augenfällig wurde dies bei der identitätsstiftenden Rolle, die alle Protagonisten der Wissenschaft zugewiesen haben: Sie erscheint zunächst als Arbeit an einer höheren Wahrheit, die gegen die nationalsozialistische Vergangenheit und für den sozialistischen Staat streitet. Im Laufe der Lebenserinnerungen verkümmert der pathosgeladene Dienst am großen Ganzen, das Eintreten für die reine Wahrheit, zur kleinlichen Pflege privater Forschungsinteressen, in denen es nicht zuletzt darum geht, gegen den sozialistischen Staat Freiräume zu erkämpfen. Und schließlich, als die Protagonisten in der Gegenwart angekommen sind, kehrt die Wissenschaft wieder zu den unverzichtbaren Fundamentalfragen dieser Welt zurück – was nunmehr freilich den Einsatz für eine staaten- und damit geschichtslos gewordene sozialistische Utopie und gegen das kapitalistisch vereinigte Deutschland bedeutet. Die Kohärenz des Bezeichneten beschränkt sich so vor allem auf eine Kohärenz des Bezeichnenden. Die essentielle Bedeutung der Wissenschaft für das Leben der Autoren weist auf eine Besonderheit hin, die vermutlich kein Spezifikum sozialistischer Wissenschaftler-Autobiographien darstellt: Das fachliche Selbstverständnis, privilegierten Zugang zur ›Wahrheit‹ zu haben, prägt auch die Selbstsicht der Autobiographen. Habitus und Rhetorik des abgeklärten Beobachters ersetzen disziplinäre Regeln, Standards, Methoden und Theorien, der Quellenkanon verblasst hinter mehr oder weniger beliebig ausgewählten Zeugnissen individueller Erinnerung. Der Zeitzeu-
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ge erhebt sich selbst kraft Profession zum Kronzeugen; seine Privatgeschichte ist die neue Meistererzählung. Im Falle der DDR-Wissenschaftler ist diese implizite Aufwertung der eigenen Erinnerung besonders bemerkenswert. Die Autoren nutzen für ihre Abrechnung mit dem bundesrepublikanischen System eine Form, deren wesentliche Bestandteile erst durch den Systemwechsel möglich wurden. Die Möglichkeiten des Sagbaren, die immer an Autobiographien mitschreiben, haben sich nach 1989 in einer Weise verändert, dass die sozialistische Persönlichkeit wohl erstmals in ihrer Geschichte daran denken konnte, sich selbst als Individuum zu exponieren. Zwar gab es in der DDR durchaus eine Tradition autobiographischen Schreibens, sie unterlag allerdings einem strengen Reglement, das nicht nur ihren Inhalt betraf, sondern auch die Festlegung einbezog, wer am Maßstab einer Idealbiographie überhaupt ›biographiewürdig‹ sei. Aber auch diese Biographien waren weniger als Zeugnisse individueller Charakteristika angelegt, sondern sollten vor allem darlegen, welchen Beitrag der Einzelne für das Kollektiv leisten könne. Erst nach 1989 weiteten sich die Möglichkeiten des Sagbaren enorm aus. Seither scheuen unzählige Menschen weder Mühen noch Kosten,3 um die individuelle Biographiewürdigkeit ihres Lebens mit der Veröffentlichung ihrer Erinnerungen unter Beweis zu stellen – und kommen doch erneut über das Kollektiv nicht hinaus, indem sie nunmehr unter dem Stichwort der ›Nachwende-Autobiographien‹ behandelt werden. Diese kaum zu beziffernde Zahl von autobiographischen Erinnerungen an die DDR, von höchstpersönlichen Richtigstellungen, individuellen Korrekturen, subjektiven Wahrheiten und trotzigen Gegengeschichten löst gemischte Gefühle aus. Es ist verführerisch, zu den vorgetragenen Enthüllungen über die ›wahre DDR‹, wie sie gerade in Kapitel II dieser Arbeit analysiert wurden, von vornherein auf spöttische Distanz zu gehen. Eine Gefahr, die durch den oft elitären, mitunter larmoyanten und nicht selten anmaßenden Ton der Autobiographien erheblich verstärkt wird. Auch daran mag es liegen, dass die private Beschäftigung mit der ostdeutschen Vergangenheit oft wenig Chancen hat, in der wissenschaftlichen Analyse dem Etikett der ›Verlierergeschichte‹ zu entgehen4 – die ewiggestrigen Hunde bellen, die historiographische Karawane zieht wei3 | Ein Großteil der Nachwende-Autobiographien ist im Selbstverlag erschienen. 4 | Vgl. Anmerkung 109/Einleitung.
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ter. In einen wissenschaftlichen Auftrag umgemünzt, bedeuten ›Aufarbeitung‹ und ›Bewältigung‹ dann: den als Verlierern ausgemachten Geschichtsakteuren immer wieder aufs Neue vor Augen zu führen, dass sie tatsächlich zu den Verlierern gehören. Es gibt zahlreiche Gründe, dieser Verführung zu widerstehen. Man muss dafür nicht Reinhart Kosellecks Ansicht teilen, »daß die besseren Historien, die es gibt, im allgemeinen von den Besiegten und nicht von den Siegern stammen«.5 Autobiographisches Schreiben ist immer soziales Handeln zwischen mehreren Akteuren und Akteursgruppen und als solches ein durchaus riskantes Unterfangen. Neben das Bild, das der Autor von sich selbst hat, und jenes, das er für die Welt von sich entwirft, »tritt als Drittes das Bild, welches diese sich von dem Entwurf macht. Auf dieses Bild verliert der Autor den Einfluss, wenn er seinen Text aus der Hand gibt; und je weniger er hiermit rechnet, desto mehr kann das Eigenleben, welches es führt, ihm als fremdes gegenübertreten.«6 Autobiographien sind deshalb in jeder Hinsicht von einem Überschuss an Bedeutungen gekennzeichnet, der zwar kaum einmal gebändigt werden kann, dafür aber andererseits vor voreiligen Schlussfolgerungen und statischen Betrachtungen bewahrt. Mehrheitsgeschichten laufen immer Gefahr, die Beschäftigung mit der Vergangenheit zum Ritus werden zu lassen. Die Masse der Autobiographien bildet eine Art ›Gegenarchiv‹ zur vorherrschenden Ansicht, in dem auch die historischen Primärerfahrungen konserviert bleiben, die sich in die allgemeine Erinnerungskultur nicht bruchlos einfügen lassen. Solche ›Gegen-Quellen‹ sind für eine lebendige Geschichtsschreibung von herausragender Bedeutung. Gerade weil es wohl keine historiographische Darstellungsform gibt, die den komplexen Erinnerungswelten historischer Akteure in ihrer Gesamtheit gerecht wird, gewinnt die Archivierung persönlicher Geschichten in besonderem Maße an Bedeutung. Wichtiger freilich ist der Hinweis, dass der Umgang mit Autobiographien auch eine eminent machtpolitische Dimension aufweist. Er5 | KOSELLECK, Reinhart: Erfahrungswandel und Methodenwechsel. Bochumer Transkription 1985, abgedruckt in: Zeitschrift für Ideengeschichte, hg. v. Marcel Lepper u. Stephan Schlak, H. VI/1, 2012, S. 5-10, hier S. 7. 6 | FISCHER, Thomas: Spuren der Strafrechtswissenschaft. Eine Leseempfehlung, in: Festschrift für Ruth Rissing-van Saan, hg. v. ders.u. Klaus Bernsmann, Frankfurt a.M. 2011, S. 143-180, hier S. 179.
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innerungsgemeinschaften bilden sich immer über bestimmte Narrative vergangener Wirklichkeit. Damit aber hängt auch die kollektive Identität einer Gesellschaft entscheidend davon ab, wie Geschichte tradiert wird; die »imaginierte Gemeinschaft« 7 ist immer auch eine ›erzählte Gemeinschaft‹. Wie der dafür relevante Quellenbestand definiert wird, hat deshalb unmittelbaren Einfluss auf die Identität der Gesellschaft überhaupt. In gesellschaftspolitischer Hinsicht jedoch wird man sich eine kategoriale Exklusion bestimmter Erinnerungsnarrative dauerhaft nicht leisten können; historische ›Meistererzählungen‹ dürften künftig weiterhin sinkende Konjunktur haben. Es ist nicht zuletzt deshalb notwendig, die Autobiographien auch auf einer ganz essentiellen Ebene ernst zu nehmen. Die äußeren Brüche und Umstürze, denen sich die Autoren im Laufe ihres Lebens ausgesetzt sahen, zwangen sie immer wieder zu besonderen Anpassungsleistungen. Ihre Erinnerungen lesen sich deshalb oft als angestrengte, aber letztlich unmögliche Versuche, erzählte Zeit und Erzählzeit zur Deckung zu bringen und dabei eine überzeugende Geschichte von einem guten und sinnbringenden Leben zu konstruieren. Die Autobiographen bemühen sich, den öffentlichen Diskurs zur DDR-Geschichte in ihrem Sinne zu verändern, um auf diese Weise ihre Identität aufrechtzuerhalten. Nicht nur die hiesigen Autoren formulieren als Schreibmotivation durchweg den Wunsch, als diffamierend empfundene Fehltritte der gängigen Geschichtserzählung zu korrigieren und damit ihre moralische Integrität zurückzuerlangen; dieses Ziel findet sich in nahezu jeder Nachwende-Autobiographie. Die Privaterinnerungen an die DDR können deshalb auch als Integrationsstrategie in das vereinigte Deutschland verstanden werden. ›1989‹ wäre dann weniger das Ende als der Anfang einer Geschichte. Den Autoren beschert der Zusammenbruch des Sozialismus zwar die Notwendigkeit, sich ihre Vergangenheit neu erarbeiten zu müssen. Damit aber erhalten sie zum ersten Mal seit Jahrzehnten die Möglichkeit, sich auch die Zukunft neu erarbeiten zu können. Dieser ambivalente Befund unterstreicht, dass die DDR im heutigen Deutschland vielfältiger und differenzierter nachwirkt, als es die großflächigen Erzählungen ostdeutscher Geschichte wiederzugeben vermögen. Die Berücksichtigung von Autobiographien stellt diese Zerrissenheit fast zwangsläufig in den 7 | Vgl. ANDERSON, Benedict: Imagined communities: reflections on the origin and spread of nationalism. London 2006.
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Mittelpunkt – das Mehrdeutige, Widersprüchliche, Fragile, Subjektive, Kontingente, das einer stärker am Individuum als an der Institution ausgerichteten Geschichtsschreibung anhaftet, zwingt dazu, jeden sich abzeichnenden Konsens einer ›großen Erzählung‹ immer wieder neu zu überprüfen. Die Dinge werden dadurch, und damit schließt sich der Kreis, zweifellos komplizierter. Aber die Geschichte wird gerade dadurch vollständiger und damit vielleicht auch ein bisschen ›wahrer‹.
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Abkürzungsverzeichnis
ABF ANTIFA AdW BBAW BBC CIA DAW FDJ GF HJ IM HUB KPdSU MfS ML ND NSDStB NVA PH RGW SA SBK SBZ SED SMAD SPK ZfG ZK
Arbeiter-und-Bauern-Fakultät Antifaschistische Aufklärung Akademie der Wissenschaften der DDR Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften British Broadcasting Corporation Central Intelligence Agency Deutsche Akademie der Wissenschaften Freie Deutsche Jugend Gesellschaftswissenschaftliche Fakultät Hitler-Jugend Inoffizieller Mitarbeiter Humboldt-Universität zu Berlin Kommunistische Partei der Sowjetunion Ministerium für Staatssicherheit Marxismus-Leninismus Neues Deutschland Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund Nationale Volksarmee Pädagogische Hochschule Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe Sturmabteilung Struktur- und Berufungskommission Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetische Militäradministration in Deutschland Staatliche Plankommission Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zentralkomitee
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moderner Lebensgeschichten, hg. v. Stefan Zahlmann u. Sylka Scholz, Gießen 2005, S. 7-31. ZIMMERMANN, Verena: Den neuen Menschen schaffen. Köln 2004.
Anhang N ACHWENDE -A UTOBIOGR APHIEN1 ADAM, Theo: Ein Sängerleben in Begegnungen und Verwandlungen. Berlin 1996. AMPLER, Klaus: Schweiß. Mein Leben für den Radsport. Autobiographie, Gotha 2005. ANDERSON, Sascha: Sascha Anderson. Köln 2002. ARDENNE, Manfred von: Erinnerungen fortgeschrieben. Ein Forscherleben im Jahrhundert des Wandels der Wissenschaften und politischen Systeme, Düsseldorf 1997. ARDENNE, Manfred von: Die Erinnerungen. München 1990. ARDENNE, Manfred von: Sechzig Jahre für Forschung und Technik. Berlin 1987. ARDENNE, Manfred von: Ein glückliches Leben für Forschung und Technik. Berlin 1972. ARP, Agnès/LEO, Annette: Mein Land verschwand so schnell … 16 Lebensgeschichten und die Wende, Weimar 2009. AXEN, Hermann: Ich war ein Diener der Partei. Autobiographische Gespräche, Berlin 1996. BARBE, Angelika: Lebensläufe – hüben und drüben. Opladen 1993. BEHREND, Hanna: Die Überleberin. Jahrzehnte in Atlantis, Wien 2008. 1 | Die aufgeführten Autobiographien wurden im Zusammenhang der Arbeit auf ihre Schreibmotivation hin untersucht (vgl. Anmerkung 50/Einleitung). Berücksichtigt wurden Erinnerungstexte, die nach 1989 und bis zum Jahr 2009 erschienen und sich mit einem Leben in der DDR beschäftigen. Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. In diesem Zusammenhang sei Frank Hoffmann und Silke Flegel vom Institut für Deutschlandsforschung der Ruhr-Universität Bochum gedankt, die mir ihre Literaturliste zu Nachwendeautobiographien zur Verfügung stellten.
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BENSER, Günter: DDR – gedenkt ihrer mit Nachsicht. Berlin 2000. BERGER, Siegfried: »Ich nehme das Urteil nicht an! Ein Berliner Streikführer des 17. Juni vor dem sowjetischen Militärtribunal, Berlin 1998. BERGHOFER, Wolfgang: Meine Dresdner Jahre. Berlin 2001. BERGMANN-POHL, Sabine: Abschied ohne Tränen. Rückblick auf das Jahr der Einheit, Berlin 1991. BEYER, Frank: Wenn der Wind sich dreht. Meine Filme, mein Leben, München 2001. BISKY, Jens: Geboren am 13. August. Der Sozialismus und ich, Berlin 2004. BISKY, Lothar: So viele Träume. Mein Leben, Berlin 2005. BÖCKL, Manfred: Hasenbrote. Erinnerungen aus dem einen und dem anderen Deutschland. Autobiographischer Roman, München 1994. BOOM, Pierre: Der fremde Vater. Der Sohn des Kanzlerspions Guillaume erinnert sich, Berlin 2004. BRAMKE, Werner: Freiräume und Grenzen eines Historikers im DDRSystem. Leipzig 1998. BREZAN, Jurij: Mein Stück Zeit. Berlin 2000. BRIE, André: Ich tauche nicht ab. Selbstzeugnisse und Reflexionen, Berlin 1996. BRIE, Horst: Erinnerungen eines linken Weltbürgers. Berlin 2006. BROCKMANN, Fritz: Rück-Sichten. Bilder und Erinnerungen des Kunsterziehers und Malers Fritz Brockmann, Schwerin 1994. BRÜNING, Elfriede: Und außerdem war es mein Leben. Aufzeichnungen einer Schriftstellerin, Berlin 1994. BRUYN, Günter de: Vierzig Jahre. Ein Lebensbericht, Frankfurt a.M. 1996. BRUYN, Günter de: Zwischenbilanz. Eine Jugend in Berlin, Frankfurt a.M. 1992. BUDDENBÖHMER, Ingeborg: Die an meinem Feuer sitzen. Familienerinnerungen vom Biedermeier bis zum Fall der Mauer, Berlin 1998. BÜRGER, Annekathrin/DECKER, Kerstin: Der Rest, der bleibt. Erinnerungen an ein unvollkommenes Leben, München 2007. CIBULKA, Hanns: Am Brückenwehr. Zwischen Kindheit und Wende, Leipzig 1994. CZECHOWSKI, Heinz: Die Pole der Erinnerung. Autobiographie, Düsseldorf 2006. CZEPUCK, Harri: Meine Wendezeiten. Erinnerungen – Erwägungen – Erwartungen, Berlin 1999.
Nachwende-Autobiographien
DELL, Susanne: Es geht alles seinen sozialistischen Gang. Erinnerungen an den DDR-Alltag, Norderstedt 2005. DIECKMANN, Christoph: Rückwärts immer. Erinnerungen an den Frieden, in: ders.: Rückwärts immer. Deutsches Erinnern. Erzählungen und Reportagen, Berlin 2005, S. 7-140. DOERNBERG, Stefan: Fronteinsatz. Erinnerungen eines Rotarmisten, Historikers und Botschafters, Berlin 2004. DOMRÖSE, Angelica/DECKER, Kerstin: Ich fang mich selbst ein. Mein Leben, Bergisch-Gladbach 2003. DRAEXLER-JUST, Heide: Sprecherlaubnis. Ein Tagebuch aus der DDR, Berlin 2005. DRECHSLER, Heike: Absprung. Autobiographie, Berlin 2001. DRESCHER, Horst: Maler-Bilder. Werkstattbesuche und Erinnerungen, Berlin 1990. DÜSTERDICK, Gerhard: Ich stand auf beiden Seiten des Flusses. Lebenswege 1931-2001, Erfurt 2001. DULLIN-GRUND, Iris: Geschichte einer Architektin. Hamburg 2004. EBERLEIN, Werner: Geboren am 9. November. Erinnerungen, Berlin 2000. EBERLEIN, Werner: Ansichten, Einsichten, Aussichten. Berlin 1994. EICHNER, Klaus/SCHRAMM, Gotthold (Hg.): Kundschafter im Westen. Spitzenquellen der DDR-Aufklärung erinnern sich, Berlin 2003. ELTGEN, Hans: Ohne Chance. Erinnerungen eines HVA-Offiziers, Berlin 1995. ENDER, Klaus: Die nackten Tatsachen des Klaus Ender. Ein Leben zwischen Ost und West. Autobiographie, Forchheim 2004. ENDLER, Adolf: Nebbich. Eine deutsche Karriere, Göttingen 2005. EPPELMANN, Rainer: Fremd im eigenen Haus. Mein Leben im anderen Deutschland, Köln 1993. ESCHER, Peter: Ein Fall für mich. Berlin 2007. ESCHWEGE, Helmut: Fremd unter meinesgleichen. Erinnerungen eines Dresdner Juden, Berlin 1991. EWALD, Manfred: Ich war der Sport. Wahrheiten und Legenden aus dem Wunderland der Sieger, Berlin 1994. FELDMANN, Klaus: Das waren die Nachrichten. Erinnerungen, Berlin 2006. FELDMANN, Klaus: Nachrichten aus Adlershof. Berlin 1996.
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FLEISCHER, Hans: Geboren am 7. Oktober 1949. Ein halbes Leben in einem Drittel Deutschland, Frankfurt a.M. 1993. FRENZEL, Paul: Vierzig verlorene Jahre. Erinnerungen an die Diktaturen des nationalen und des realen Sozialismus, Stuttgart 1993. FRIES, Fritz Rudolf: Im Jahr des Hahns. Tagebücher, Leipzig 1996. FUCHS, Ruth: »Gott schütze unser Vaterland!« Erlebnisse einer Volkskammerabgeordneten, Berlin 1990. GANDER, Hartwig: Die zweite Chance oder: mein Leben mit dem dritten Herzen. Berlin 1998. GEBAUER, Karl: Doppelagent. Erinnerungen, Berlin 1999. GEBERT, Anke: Im Schatten der Mauer. Erinnerungen, Geschichten und Bilder vom Mauerbau bis zum Mauerfall, München 1999. GEISSEL, Ludwig: Unterhändler der Menschlichkeit. Erinnerungen, Stuttgart 1991. GERLACH, Manfred: Mitverantwortlich. Als Liberaler im SED-Staat, Berlin 1991. GESCHONNEK, Erwin: Meine unruhigen Jahre. Lebenserinnerungen, Berlin 1995. GIORDANO, Ralph: Die Partei hat immer recht. Ein Erlebnisbericht über den Stalinismus auf deutschem Boden, Freiburg i.Br. 1990. GÖRLICH, Günter: Keine Anzeige in der Zeitung. Erinnerungen, Berlin 1999. GOTTSCHALK, Jürgen: Druckstellen. Die Zerstörung einer KünstlerBiographie durch die Stasi, Leipzig 2006. GRAUL, Elisabeth: Die Farce. Ein Stück Autobiographie, Magdeburg 1996. GRIMM, Thomas: Was von den Träumen blieb. Eine Bilanz der sozialistischen Utopie, Berlin 1993. GRUNERT, Horst: Für Honecker auf glattem Parkett. Erinnerungen eines DDR-Diplomaten, Berlin 1995. GÜLKE, Peter: Fluchtpunkt Musik. Reflexionen eines Dirigenten zwischen Ost und West, Kassel 1994. GYSI, Gregor: Das war’s. Noch lange nicht. Autobiographische Notizen, Düsseldorf 1995. HAASE, Jürgen: Hindernislauf. Meine Studienjahre in der Ex-DDR, Berlin 1991. HACKER, Adeline: Unauslöschbare Erinnerungen. Ein Leben in den Wirren des 20. Jahrhunderts, Berlin 1997.
Nachwende-Autobiographien
HÄDICKE, Sabine: Lehrjahre. Erinnerungen an den sozialistischen Schulalltag, Jena 2000. HAGEN, Eva-Maria: Eva jenseits vom Paradies. Berlin 2005. HAGER, Kurt: Erinnerungen. Leipzig 1996. HAHN, Reinhardt O.: Ausgedient. Ein Stasi-Major erzählt, Leipzig 1990. HAHNEMANN, Helga: »Mensch, wo sind wir bloß hinjeraten!« Frankfurt a.M. 1993. HARICH, Wolfgang: Ahnenpaß. Versuch einer Autobiographie, Berlin 1999. HASEMANN, Erich: Soldat der DDR. Erinnerungen aus über dreissigjähriger Dienstzeit in den bewaffneten Organen der DDR, Berlin 1997. HECHT, Arno: Enttäuschte Hoffnungen. Autobiographische Berichte abgewickelter Wissenschaftler aus dem Osten Deutschlands, Berlin 2008. HENSEL, Jana: Zonenkinder. Reinbek 2002. HERMLIN, Stephan: In den Kämpfen dieser Zeit. Berlin 1995. HEROLD, Claus: Als katholischer Seelsorger in der DDR. Madgeburg 1998. HERTZSCH, Klaus-Peter: Sag meinen Kindern, dass sie weiterziehn. Stuttgart 2005. HERZBERG, Guntolf/MEIER, Klaus (Hg.): Karrieremuster. Wissenschaftlerporträts, Berlin 1992. HILDEBRANDT, Annette: Don’t worry. Aus dem Leben eines Mauerkindes. Erinnerungen, Halle/Saale 2000. HIRSCH, Rudolf: Aus einer verlorenen Welt. Berlin 2002. HOFFMANN, Siegfried: Bücher – meine Wegbegleiter. Erinnerungen eines Leipziger Verlegers, Taucha 1998. HOFFMANN, Theodor: Das letzte Kommando. Ein Minister erinnert sich, Berlin 1993. HONECKER; Erich: Moabiter Notizen. Berlin 1994. HÜNERBEIN, Wolfgang: Mit 16 im »Roten Ochsen«. Magdeburg 2000. HUHN, Klaus: Spurt durchs Leben. Versuch einer lückenfüllenden Bilanz, Berlin 2003. JABLONSKI, Marietta: »Verhören bis zum Geständnis«. Der Operativ-Vorgang »Optima«, Magdeburg 1997. JACOB, Fredi: Mein Tagebuch – Der vierzigjährige Traum. Magdeburg 1999. JAHN, Walter: »Du bist wie Gift«. Erinnerungen eines Vaters, Thüringen 1996. JANKA, Walter: Bis zur Verhaftung. Erinnerungen eines deutschen Verlegers, Berlin 1993.
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Nachwende-Autobiographien
KÜHN, Viola: Der Traum vom Glück. Eine Dokumentation, Schwerin 2007. KUNERT, Günter: Erwachsenenspiele. Erinnerungen, München 1997. KUNZE, Reiner: Deckname »Lyrik«. Eine Dokumentation, Frankfurt a.M. 1990. KUO, Xing-Hu: Ein Chinese in Bautzen II. 2675 Nächte im Würgegriff der Stasi, Böblingen 1990. KUSCHE, Lothar: Aus dem Leben eines Scheintoten. Zerstreute Erinnerungen, Berlin 1997. LANGE, Bernd-Lutz: Mauer, Jeans und Prager Frühling. Leipzig 2003. LEICH, Werner: Wechselnde Horizonte. Mein Leben in vier politischen Systemen, Wuppertal 1992. LEMKE, Dietrich: Handel & Wandel. Lebenserinnerungen eines DDRAußenhändlers 1952-1995, Zeuthen 2004. LENGSFELD, Vera: Von nun an ging’s bergauf… Mein Weg zur Freiheit, München 2002. LIEBSCHER, Manfred: Im Paradies der Erinnerungen… Autobiographie, Berlin 2002. LOEST, Erich: Prozesskosten. Bericht, Göttingen 2007. LOEST, Erich: Die Stasi war mein Eckermann oder: mein Leben mit der Wanze. Göttingen 1991. LOEST, Erich: Der Zorn des Schafes. Aus meinem Tagewerk, Leipzig 1990. LUDWIG, Rolf: Nüchtern betrachtet. Erinnerungen eines Volksschauspielers, Berlin 1995. LUFT, Christa: Zwischen Wende und Ende. Eindrücke, Erlebnisse und Erfahrungen eines Mitglieds der Modrow-Regierung. Berlin 1991. MAIER, Erika (Hg.): Einfach leben. Hüben wie drüben. Zwölf Doppelbiographien, Berlin 2007. MALCHOW, Birgit (Hg.): Der Letzte macht das Licht aus. Wie DDR-Diplomaten das Jahr 1990 im Ausland erlebten, Berlin 1999. MARTI, Kurt: Erinnerungen an die DDR und einige ihrer Christen. Zürich 1994. MASKE, Henry: Nur wer aufgibt, hat verloren. München 2006. MATYASIK, Egon: Grenzfall. Erinnerungen eines Betroffenen, Hof 1993. MECHTENBERG, Theo: 30 Jahre Zielperson des MfS. Eine Fallstudie zu Aufklärung und Simulation der Stasi, Magdeburg 2001. MENDE, Josef: Die Wende als Lebenserfahrung. Erinnerungen eines gebürtigen Schlesiers an ein Leben zwischen den Ideologien, Berlin 2001.
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MEYER, Hans Joachim: Wege und Mauern. Leipzig 1993. MIERAU, Fritz: Mein russisches Jahrhundert. Autobiographie, Hamburg 2002. MINETTI, Hans-Peter: Erinnerungen. Berlin 1996. MITIC, Gojko/WOLF, Alex: Erinnerungen. Frankfurt a.M. 1996. MITTAG, Günter: Um jeden Preis. Im Spannungsfeld zweier Systeme, Berlin 1991. MÖBIUS, Regine: Panzer gegen die Freiheit. Zeitzeugen des 17. Juni 1953 berichten, Leipzig 2003. MODROW, Hans: Von Schwerin bis Strasbourg. Erinnerungen an ein halbes Jahrhundert Parlamentsarbeit, Berlin 2001. MODROW, Hans: Die Perestroika. Wie ich sie sehe. Persönliche Erinnerungen und Analysen eines Jahrzehnts, das die Welt veränderte, Berlin 1998. MODROW, Hans: Ich wollte ein neues Deutschland. Berlin 1998. MODROW, Hans: Auf bruch und Ende. Hamburg 1991. MÜLLER, Gerhard: Mein Sohn aber ist so frei… Erinnerungen besonders an das Jahr 1989, Dessau 2001. MÜLLER, Heiner: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen, Köln 1992. MÜLLER, Helmut: Wendejahre 1949-1989. Berlin 1999. MÜLLER, Herbert W.: Schule im Aufruhr. Erinnerungen eines DDRLandschullehrers, Berlin 1999. MÜLLER-STAHL, Armin: Unterwegs nach Hause. Erinnerungen, Düsseldorf 1997. MÜNNICH, Arno: Hippokratische Begegnungen mit Ulbricht, Heym und Pschyrembl. Erinnerungen eines Arztes, Berlin 2001. NAGEL, Dietrich W.: Atomingenieur in Ostdeutschland. Autobiographie, Berlin 2004. NEUGEBAUER, Fritz: Gott, der Mensch und das System. Erinnerungen eines Landpfarrers an die DDR-Zeit, Holzgerlingen 1999. NEUMANN, Alfred: Poltergeist im Politbüro. Siegfried Prokop im Gespräch mit Alfred Neumann. Frankfurt/O. 1996. NEUNER, Gerhart: Zwischen Wissenschaft und Politik. Ein Rückblick aus lebensgeschichtlicher Perspektive, Köln 1996. NITZ, Jürgen: Unterhändler zwischen Berlin und Bonn. Nach dem Häber-Prozeß: Zur Geschichte der deutsch-deutschen Geheimdiplomatie in den 80er Jahren, Berlin 2001.
Nachwende-Autobiographien
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Nachwende-Autobiographien
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Dank
Ich danke meinen »Doktoreltern« Martin Sabrow und Dorothee Wierling, die den Fortgang dieser Arbeit über Jahre mit großem Engagement und konstruktiver Kritik begleiteten. Im April 2013 wurde sie am Institut für Geschichtswissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation verteidigt und liegt nun in leicht überarbeiteter Fassung vor. Der Alfred Freiherr von Oppenheim-Stiftung danke ich für das großzügige Doktorandenstipendium, in dessen Rahmen die Dissertation nahezu beendet wurde. Das Abschlussstipendium der Gerda-Henkel-Stiftung ermöglichte mir die vollständige Fertigstellung. Von der institutionellen Anbindung als Doktorandin am Zentrum für Zeithistorische Forschung profitierte ich stark und möchte allen Kolleginnen und Kollegen dort für den kontinuierlichen Austausch über meine Arbeit danken, ebenso den neuen Kolleginnen und Kollegen am Lehrstuhl für Zeitgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Ich danke all jenen Freundinnen und Freunden sowie Kolleginnen und Kollegen, die Aspekte der Arbeit mit mir diskutierten und/oder Teile des Manuskripts in den unterschiedlichsten Stadien gelesen sowie kommentiert haben: Lars Breuer, Volker Depkat, Astrid Erll, Lena Hipp, Sebastian Richter, Katja Stopka, Tatjana Tönsmeyer und vor allem Julia Weitbrecht. Belinda Bindig und Andreas Lahusen danke ich für das akribische Lektorat der Arbeit, mit dem sie sich um Stil und Form sehr verdient gemacht haben. Schließlich gilt mein herzlicher Dank Benjamin Lahusen, Achim Saupe und Fredrik Persson für auch über die Jahre stetiges, ermutigendes Interesse an der Arbeit und die kritische wie genaue Lektüre des gesamten Manuskripts; ohne sie hätte ich vieles nicht gesehen. Berlin, im Juli 2013
Christiane Lahusen
Histoire Torben Fischer, Matthias N. Lorenz (Hg.) Lexikon der »Vergangenheitsbewältigung« in Deutschland Debatten- und Diskursgeschichte des Nationalsozialismus nach 1945 (3., überarbeitete und erweiterte Auflage) Januar 2014, 398 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2366-6
Alexa Geisthövel, Bodo Mrozek (Hg.) Popgeschichte Band 1: Konzepte und Methoden April 2014, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2528-8
Bernd Hüppauf Was ist Krieg? Zur Grundlegung einer Kulturgeschichte des Kriegs September 2013, 568 Seiten, kart., 29,90 €, ISBN 978-3-8376-2180-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Nora Kreuzenbeck Hoffnung auf Freiheit Über die Migration von African Americans nach Haiti, 1850-1865 Februar 2014, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2435-9
Bodo Mrozek, Alexa Geisthövel, Jürgen Danyel (Hg.) Popgeschichte Band 2: Zeithistorische Fallstudien 1958-1988 April 2014, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2529-5
Ute Rösler Die Titanic und die Deutschen Mediale Repräsentation und gesellschaftliche Wirkung eines Mythos September 2013, 326 Seiten, kart., 32,99 €, ISBN 978-3-8376-2324-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Histoire Morvarid Dehnavi Das politisierte Geschlecht Biographische Wege zum Studentinnenprotest von ›1968‹ und zur Neuen Frauenbewegung Mai 2013, 410 Seiten, kart., 34,90 €, ISBN 978-3-8376-2410-6
Alexa Geisthövel Intelligenz und Rasse Franz Boas’ psychologischer Antirassismus zwischen Amerika und Deutschland, 1920-1942 November 2013, 330 Seiten, kart., 35,99 €, ISBN 978-3-8376-2560-8
Nora Hilgert Unterhaltung, aber sicher! Populäre Repräsentationen von Recht und Ordnung in den Fernsehkrimis »Stahlnetz« und »Blaulicht«, 1958/59-1968 September 2013, 466 Seiten, kart., zahlr. Abb., 44,80 €, ISBN 978-3-8376-2228-7
Günal Incesu Ankara – Bonn – Brüssel Die deutsch-türkischen Beziehungen und die Beitrittsbemühungen der Türkei in die Europäische Gemeinschaft, 1959-1987 Januar 2014, ca. 330 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2500-4
Oliver Kühschelm, Franz X. Eder, Hannes Siegrist (Hg.) Konsum und Nation Zur Geschichte nationalisierender Inszenierungen in der Produktkommunikation 2012, 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1954-6
Peter Stachel, Martina Thomsen (Hg.) Zwischen Exotik und Vertrautem Zum Tourismus in der Habsburgermonarchie und ihren Nachfolgestaaten Januar 2014, ca. 280 Seiten, kart., ca. 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2097-9
Jutta Stalfort Die Erfindung der Gefühle Eine Studie über den historischen Wandel menschlicher Emotionalität (1750-1850) Juli 2013, 460 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-2327-7
Cécile Stephanie Stehrenberger Francos Tänzerinnen auf Auslandstournee Folklore, Nation und Geschlecht im »Colonial Encounter« Mai 2013, 344 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2284-3
Martin Knoll Die Natur der menschlichen Welt Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit
Swen Steinberg, Winfried Müller (Hg.) Wirtschaft und Gemeinschaft Konfessionelle und neureligiöse Gemeinsinnsmodelle im 19. und 20. Jahrhundert
Mai 2013, 464 Seiten, kart., zahlr. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2356-7
Februar 2014, ca. 400 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2406-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de