Wege in die Zukunft: Lebenssituationen Jugendlicher am Ende der Neuen Mittelschule [1 ed.] 9783737011457, 9783847111450


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Wege in die Zukunft: Lebenssituationen Jugendlicher am Ende der Neuen Mittelschule [1 ed.]
 9783737011457, 9783847111450

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Jörg Flecker / Veronika Wöhrer / Irene Rieder (Hg.)

Wege in die Zukunft Lebenssituationen Jugendlicher am Ende der Neuen Mittelschule

Mit 13 Abbildungen

V& R unipress Vienna University Press

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. Verçffentlichungen der Vienna University Press erscheinen bei V& R unipress. Das Forschungsprojekt »Wege in die Zukunft« wird unterstþtzt aus Mitteln der Arbeiterkammer Wien (AK Wien), des Bundesministeriums fþr Arbeit, Familie und Jugend (BMAFJ), des Bundesministeriums fþr Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) und des Wiener ArbeitnehmerInnen Fçrderungsfonds (WAFF). Es wird durchgefþhrt mit organisatorischer Unterstþtzung durch die Bildungsdirektion fþr Wien. Diese Publikation wurde gefçrdert von der Kulturabteilung der Stadt Wien.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Adobe Stock Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-1145-7

Inhalt

Irene Rieder Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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I. Grundlagen Jörg Flecker / Ulrike Zartler 1. Reproduktion von Ungleichheit und Handlungsfähigkeit im Lebensverlauf Jugendlicher : Thematische und theoretische Rahmung der Untersuchung »Wege in die Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan 2. Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser 3. Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Ressourcen und Perspektiven am Übergang Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni 4. Heterogenität am Ende der NMS: Unterschiedliche Ausgangspositionen Jugendlicher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Franz Astleithner / Susanne Vogl / Barbara Mataloni 5. Was auch immer du willst – Bildungsaspirationen von Schüler_innen in NMS in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Ulrike Zartler / Susanne Vogl / Veronika Wöhrer 6. Familien als Ressource? Perspektiven Jugendlicher auf die Rollen ihrer Eltern bei Bildungs- und Berufsentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . 147

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Inhalt

Andre Schmidt / Jörg Flecker 7. Zum Umgang mit Berufspraktika – Die Begegnung von NMS-Schüler_innen mit der Arbeitswelt aus einer Agency-Perspektive . . 171

III. Bedeutsame Ereignisse und ihre biografische Verarbeitung Barbara Mataloni / Susanne Vogl / Franz Astleithner 8. (Kritische) Ereignisse im Leben Jugendlicher in Wien: Evidenz aus der Onlineumfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Melanie Mahringer / Veronika Wöhrer 9. »Das Große, was mich beschäftigt, ist noch immer mein Vater.« Der Tod von Familienmitgliedern als critical moment im Leben von Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Vera Dafert / Ulrike Zartler 10. »Und jetzt ist unser Leben wie ein Neuanfang!« Strategien Jugendlicher im Umgang mit elterlicher Trennung . . . . . . . . . . . . . 249 Ana Mijic´ / Maria Pohn-Lauggas / Christoph Reinprecht 11. »Ich bin ja aus Bosnien …« Ausschluss- und Anerkennungserfahrungen einer postmigrantischen Jugendlichen in Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277

IV. Schlussfolgerungen und Ausblick Jörg Flecker / Veronika Wöhrer / Irene Rieder 12. Jugendliche am Ende der NMS: Heterogenität, soziale Ungleichheit und Agency . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Autor_innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Irene Rieder

Vorwort

Das Institut für Soziologie der Universität Wien startete im Jahr 2016 die Längsschnittstudie »Wege in die Zukunft«, mit der die Vergesellschaftung von Jugendlichen, die in Wien eine Neue Mittelschule (NMS) besuchten, aus einer ganzheitlichen Perspektive analysiert wird. Das Projekt nimmt verschiedene, miteinander verbundene Bereiche der Lebensphase Jugend in den Blick: Bildungssystem und Berufsausbildung, Erwerbsarbeit und Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik, familiäre Beziehungen und soziale Verflechtungen sowie Identitätsbildungsprozesse und jugendkulturelle Dynamiken. Die spezifischen Prozesse und die Qualität der Vergesellschaftung von Jugendlichen soll anhand von vier Dimensionen erforscht werden: (1) Reproduktion sozialer Ungleichheit, (2) institutionelle Arrangements, (3) Autonomie und Aneignung sowie (4) Zugehörigkeit und Anerkennung. Methodisch wird in der auf mindestens fünf Jahre angelegten Längsschnittstudie in einem komplexen Mixed-Methods Design ein qualitatives mit einem quantitativen Panel kombiniert. In der letzten Klasse der NMS wurden Jugendliche im Alter von 14 oder 15 Jahren für die Untersuchung gewonnen, die in ihrem weiteren Lebensverlauf begleitet werden. Die Besonderheit der Studie liegt in ihrer Konzeption. Das Vorhaben wurde als Eigenprojekt des Instituts für Soziologie entworfen. Die Projektplanung und -koordination übernimmt eine Steuerungsgruppe aus am Institut tätigen Wissenschaftler_innen.1 Ein wichtiges Anliegen des Projekts ist zudem, Studierende aktiv in das Projekt zu integrieren (z. B. in Form von regelmäßigen Lehrveranstaltungen mit Bezug zum Projekt). Aus dieser organisatorischen Innovation ergibt sich auch die spezifische Stärke dieses Eigenprojekts: Es beteiligen sich Expert_innen aus verschiedensten Arbeitsbereichen, und das Wissen, die Er-

1 Aktuell setzt sich die Steuerungsgruppe aus folgenden Personen zusammen: Franz Astleithner, Andrea Jesser, Yuri Kazepov, Barbara Mataloni, Ana Mijic´, Camilo Molina, Michael Parzer, Teresa Petrik, Maria Pohn-Lauggas, Christoph Reinprecht, Irene Rieder, Maria Schlechter, Andre Schmidt, Susanne Vogl, Veronika Wöhrer, Ulrike Zartler. Die Leitung des Projekts hat Jörg Flecker inne.

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Irene Rieder

fahrungen und die methodologischen Zugänge aus verschiedenen Forschungsschwerpunkten können gebündelt werden. Demgemäß ist auch die Entstehung des vorliegenden Sammelbands zu verstehen: als Kooperation mehrerer Wissenschaftler_innen mit unterschiedlichen Forschungs- und Methodenschwerpunkten des Instituts für Soziologie. In diesem Sammelband werden Ergebnisse aus der ersten Welle der Längsschnittstudie präsentiert. Der Band stellt somit einen Querschnitt der untersuchten Lebensphase Jugend dar und nimmt dabei einen bestimmten Aspekt in den Blick: den Übergang nach der NMS, d. h. nach der Sekundarstufe 1. Dabei wird – dem Eigenprojekt entsprechend – auf inhaltliche Breite gesetzt und es werden eine Vielzahl an Themenbereichen in Zusammenhang mit dem Übergang nach der NMS vorgestellt. Aufbauend auf grundlegenden Überlegungen zur Reproduktion von Ungleichheit, zur Handlungsfähigkeit von Jugendlichen, zum österreichischen Bildungssystem und zum methodischen Vorgehen (Abschnitt I) wird zum einen auf Ressourcen und Perspektiven am Übergang eingegangen (Abschnitt II) und dabei im Speziellen auf die unterschiedlichen Ausgangspositionen von Schüler_innen der NMS, ihre Bildungsaspirationen, ihre Perspektiven auf die Rolle ihrer Eltern bei Bildungs- und Berufsentscheidungen sowie ihren Umgang mit den Berufspraktischen Tagen fokussiert. Zum anderen werden in diesem Band bedeutsame Ereignisse und ihre biografische Verarbeitung in den Blick genommen (Abschnitt III). Dabei werden (kritische) Ereignisse im Leben Jugendlicher in Wien aufgezeigt, der Umgang Jugendlicher mit dem Tod von Familienangehörigen und mit elterlicher Trennung dargestellt sowie Ausschluss- und Anerkennungserfahrungen einer postmigrantischen Jugendlichen portraitiert. Daran schließen sich Schlussfolgerungen zu den zentralen Themen des Bandes – Heterogenität, soziale Ungleichheit, Agency – an (Abschnitt IV). Der Band richtet sich an Sozialwissenschaftler_innen, Doktorand_innen und Studierende mit Interesse an Forschungen zu den Themen Jugend und Bildung, soziale Ungleichheit, Migration, Arbeit und Familie. Zugleich ist das Buch für Praktiker_innen im Bildungswesen und in der Bildungspolitik, in der Arbeitsmarktpolitik und in der Jugendarbeit geschrieben.

Vorwort

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Dank Verschiedene Kooperationspartner_innen unterstützen das Projekt, denen wir hier unseren Dank aussprechen möchten: die Bildungsdirektion für Wien (ehemals Stadtschulrat), der Wiener ArbeitnehmerInnen Förderungsfonds (WAFF), die Arbeiterkammer Wien (AK Wien), das Bundesministerium für Arbeit, Familie und Jugend (BMAFJ) und das Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF). Wir danken zudem der Kulturabteilung der Stadt Wien, die die vorliegende Publikation gefördert hat. Ein großer Dank geht an die im Projekt beteiligten Schulen, die Direktor_innen und Lehrer_innen, die uns in unserem Vorhaben tatkräftig unterstützt haben. Den Schüler_innen, die wir auf ihrem »Weg in die Zukunft« begleiten dürfen, gebührt besonderer Dank. Ohne sie wäre weder das Projekt noch der vorliegende Sammelband möglich gewesen.

I. Grundlagen

Jörg Flecker / Ulrike Zartler

1.

Reproduktion von Ungleichheit und Handlungsfähigkeit im Lebensverlauf Jugendlicher: Thematische und theoretische Rahmung der Untersuchung »Wege in die Zukunft«

1.1. Einleitung Dem Projekt »Wege in die Zukunft« liegt die Annahme zugrunde, dass die Reproduktion sozialer Strukturen, die Tendenzen der Inklusion und Exklusion sowie der kulturelle Wandel sich anhand von Jugend und Adoleszenz besonders deutlich zeigen lassen. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Selektionswirkung des Bildungssystems und die Bedeutung von Bildungstiteln für die Zuweisung zu gesellschaftlichen Positionen. Die Übergänge innerhalb des Bildungssystems sowie der Übergang vom Bildungssystem in den Beruf sind in besonderem Maße mit Auswahlprüfungen verbunden und erfordern oft frühzeitige Entscheidungen mit langfristigen Auswirkungen auf den Lebensverlauf. Untersucht man also die Herausforderung, einen Platz in der Gesellschaft zu finden oder zu entwickeln, und die damit in Zusammenhang stehenden Bewältigungsstrategien, lässt sich viel über aktuelle gesellschaftliche Strukturen und Dynamiken lernen. Bei dieser Untersuchung handelt es sich nicht um eine spezialisierte Studie, die etwa ausschließlich in die Bildungs- oder Übergangsforschung einzuordnen wäre. Vielmehr kommt eine ganzheitliche Perspektive zum Tragen, die es ermöglicht, das Zusammenwirken und die Widersprüche verschiedener gesellschaftlicher Sphären – von der Familie über das Bildungssystem und die Jugendkultur bis zum Arbeitsmarkt – im Leben und im Lebensverlauf einzelner Personen zu analysieren. Wir gehen dabei einerseits von einem starken Einfluss von Klassenlage, Geschlecht und Ethnizität bzw. Migrationsgeschichte auf diese Phase im Lebensverlauf aus und versuchen daher, die jungen Menschen innerhalb von Strukturen sozialer Ungleichheit zu verorten. Andererseits verstehen wir die Jugendlichen als kompetente, gesellschaftskritische Akteur_innen und möchten daher auch die Handlungsspielräume von Jugendlichen sowie ihre lebensweltlichen Relevanzen ausfindig machen. Dieses Kapitel dient dazu, den thematischen und theoretischen Rahmen der Studie abzustecken und die ihren Teiluntersuchungen gemeinsamen Fragestel-

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lungen aufzuzeigen. Es enthält grundlegende und das gesamte Projekt betreffende Überlegungen und Klärungen, während in den einzelnen Beiträgen im Hauptteil des Bandes die empirischen Ergebnisse und dabei weitere spezifische Perspektiven und theoretische Zugänge vorgestellt werden. An dieser Stelle legen wir den Fokus insbesondere auf gesellschaftliche Integration und die Reproduktion sozialer Ungleichheit, gehen auf die Frage der Handlungsfähigkeit ein und stellen die Lebensphase Jugend vor dem Hintergrund von Entstandardisierungs- und Individualisierungsprozessen dar.

1.2. Der objektive Möglichkeitsraum Die Lebenssituation und der weitere Lebensverlauf von Kindern und jungen Menschen hängen wesentlich davon ab, in welche Familie sie hineingeboren wurden. Wenn wir diesen Aspekt in den Vordergrund stellen, können wir uns auf die Theorie Pierre Bourdieus stützen, die in der Ungleichheits- und Bildungsforschung eine zentrale Rolle spielt. Jugendliche beginnen ihren Lebensverlauf demnach an einer bestimmten sozialen Position, die sich aus dem Ort ihrer Familie im sozialen Raum ergibt und durch ein bestimmtes Ausmaß an bzw. eine bestimmte Zusammensetzung von Ressourcen in Form ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapitals bestimmt ist (Bourdieu 1983). Die Eltern nehmen gesellschaftlich privilegierte oder nicht-privilegierte Positionen ein, und die unterschiedliche Ausstattung mit Kapital bewirkt auch, dass für die Jugendlichen nicht jeder Lebensverlauf gleich möglich und nicht jede spätere Position gleichermaßen erreichbar ist. »Nicht alle Startpositionen (führen) mit derselben Wahrscheinlichkeit zu allen Endpositionen« (Bourdieu 1987: 189). Damit ist der objektive Möglichkeitsraum umrissen, wie er beispielsweise in den Schlagworten der »Vererbung von Bildung« (siehe beispielsweise Hartmann 2009) und »Institutionellen Diskriminierung« (Gomolla und Radtke 2009) zum Ausdruck kommt, und sich in Übergängen vom Bildungs- ins Erwerbssystem fortsetzt. Man kann den Zusammenhang zwischen Jugend und sozialer Ungleichheit noch grundlegender betrachten und die Frage stellen, in welchen Klassenlagen es überhaupt so etwas wie »Jugend« gibt. Bourdieu (1993) betont, dass er »Jugend« für keinen adäquaten soziologischen Begriff hält, dass dies »nur ein Wort« sei. Damit ist nicht gemeint, dass diese Lebensphase je nach sozialer Position etwas Unterschiedliches zum Inhalt hat, sondern dass es Jugend im Sinne eines Moratoriums, einer »vorübergehenden Verantwortungslosigkeit« zwar für privilegierte Klassenlagen, nicht aber in nicht-privilegierten Klassen gibt. Paul Lazarsfeld (1931), der sich im Österreich der 1920er Jahre mit Fragen von Jugend und Beruf befasst hat, bezeichnet diesen Umstand als die höchst problematische »Früharbeit« der proletarischen jungen Menschen. Sie führe zu einem Verlust an

Reproduktion von Ungleichheit und Handlungsfähigkeit

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Pubertät, zu einer »Verflachung der Phantasietätigkeit« (Lazarsfeld 1931: 67). Aus einer sozialpsychologischen Sicht beschreibt er den Mangel an »Jugend« so: »Jeder Mensch resigniert einmal; aber die Jahre zwischen dem Allmachtsbewusstsein der Pubertät und dem Moment der Resignation macht seine eigentliche Lebensgeschichte aus und für den Großteil der Menschen, die schon mit 14 Jahren in die Arbeit kommen, fallen die beiden Momente erschreckend nahe zusammen« (Lazarsfeld 1931: 69).

Das Bildungssystem steht im Fokus der Bourdieu’schen Theorie sozialer Ungleichheit, weil es die Klassenunterschiede gerade durch sein Prinzip der formalen Gleichheit fortschreibt: »Damit die am meisten Begünstigten begünstigt und die am meisten Benachteiligten benachteiligt werden, ist es notwendig und hinreichend, dass die Schule beim vermittelten Unterrichtsstoff, bei den Vermittlungsmethoden und -techniken und bei den Beurteilungskriterien die kulturelle Ungleichheit der Kinder der verschiedenen Klassen ignoriert. Anders gesagt, indem das Schulsystem alle Schüler, wie ungleich sie auch in Wirklichkeit sein mögen, in ihren Rechten wie Pflichten gleich behandelt, sanktioniert es faktisch die ursprüngliche Ungleichheit gegenüber der Kultur« (Bourdieu 2018: 23).

Gomolla und Radtke (2009: 275) zeigen in Bezug auf »Migrantenkinder«, dass Diskriminierung im Bildungssystem sowohl durch die »Ungleichbehandlung Gleicher« als auch durch die »Gleichbehandlung Ungleicher« erfolgen kann. Sie unterscheiden dabei »direkte Diskriminierung«, bei der formelle Erlasse und explizite Regeln eine gezielte Unterscheidung und Ungleichbehandlung erlauben (dies geschieht oftmals in fördernder Absicht, deren diskriminierende Nebeneffekte besser untersucht und bedacht werden müssten), und »indirekte Diskriminierung«, bei der formelle wie informelle Handlungsmuster und explizite wie implizite Regeln der Gleichbehandlung bei Selektionen und Promotionen auf alle gleich angewandt werden und dabei für bestimmte Gruppen diskriminierende Wirkung haben können (vgl. Gomolla und Radtke 2009: 275). Sie arbeiten diese Diskriminierungen an den Schnittstellen Schuleintritt bzw. Schulreife, Sonderschul-Aufnahmeverfahren und Übertritt in die Sekundarstufe bzw. Gymnasialempfehlungen heraus. Zugleich trägt das Schulsystem zur Legitimierung der Ungleichheit bei, indem es gesellschaftlich bedingte Unterschiede als individuelle Begabungsunterschiede erscheinen lässt und so die Reproduktion von Ungleichheit dem Anschein nach mit Chancengleichheit und dem Leistungsprinzip in Einklang bringt. Der im Titel unseres Projekts genannte Begriff »Zukunft« bezieht sich in einer ersten Bedeutung auf die unterschiedlich wahrscheinlichen »Endpunkte« des Lebensverlaufs und zuvor noch auf die dafür sehr wichtigen Bildungsabschlüsse.

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Insgesamt sind für die Frage, wie sich soziale Ungleichheit über Generationen reproduziert, die Bildungskarrieren, die Übergänge im Bildungssystem und der Eintritt ins Berufsleben von Jugendlichen von großem Interesse. Denn die Selektion durch das Bildungssystem und an den Übergängen im Lebenslauf erweist sich als entscheidend für die Zuweisung von sozialen Positionen. Die für einzelne Klassenlagen typischen Verläufe lassen sich zum einen auf die unterschiedlichen Ausstattungen mit Ressourcen zurückführen. Zum anderen wird an den unterschiedlichen sozialen Positionen auch ein je verschiedener Habitus ausgebildet, der sich in der subjektiven Wahrnehmung und Bewertung von Zielen und Möglichkeiten ausdrückt. Das Denkbare und Undenkbare, das Erwünschte und Unerwünschte, das als erreichbar oder unerreichbar Wahrgenommene umgrenzen einen subjektiven Möglichkeitsraum, welcher die Bildungschancen und die Berufswahl beeinflusst. Nach Bourdieu (2012) wirken die mentalen Barrieren des Habitus also auf die Wahrnehmung von Möglichkeiten ein, die jemand in seinem Leben nutzen kann. Dieser subjektive Möglichkeitsraum ist wandelbar und verändert sich mit den Erfahrungen, die im Laufe des Lebens gemacht werden. Dabei kommt es sowohl zur Verengung als auch zur Erweiterung des subjektiven Möglichkeitsraums. Auch in privilegierten Positionen können erhebliche Einschränkungen der Optionen gegeben sein, wenn etwa für Jugendliche aus Ärzte- oder Juristenfamilien ein Studium vorgezeichnet und eine Handwerkslehre wenig denkbar ist. Doch für Jugendliche aus nicht-privilegierten Positionen kann es zu relativ raschen und sukzessiven Verengungen kommen, worauf schon Paul Lazarsfeld (1931) hinwies: »Die durchschnittliche psychologische Wirkung der Armut liegt für die Betroffenen darin, dass ihnen im Verlauf ihres Lebens so oft und so lange Möglichkeiten der persönlichen Entwicklung beschnitten werden, bis schließlich Menschen herangewachsen sind, deren seelische Umwelt nur einen sehr kleinen Teil der wirklichen Umwelt umfasst und die mit vielem anderem auch die Möglichkeiten des Aufstiegs für sich und ihre Nachkommen aus dem Kreis des ›erlebnismäßigen Wissens‹ mehr und mehr verloren haben« (Lazarsfeld 1931: 51).

Für Bourdieu sind solche Prozesse zentral für die Erklärung der Stabilität sozialer Ungleichheit, wenn er die Wahrnehmung von Möglichkeiten durch NichtPrivilegierte wie folgt beschreibt: So »tendieren die Beherrschten zunächst einmal dahin, sich das zuzuschreiben, was ihnen qua Distribution ohnehin zugewiesen ist, das abzuwehren, was ihnen ohnehin verwehrt ist (›Das ist nichts für uns‹), sich damit abzugeben, was ihnen aufgezwungen wird, ihre Hoffnungen auf das Maß ihrer Chancen zurechtzustutzen, sich so zu definieren, wie die herrschende Ordnung sie definiert, (…) sich mit dem zu bescheiden, was ihnen ohnehin zukommt« (Bourdieu 1987: 735).

Reproduktion von Ungleichheit und Handlungsfähigkeit

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Auf diesen Überlegungen aufbauend ist in der neueren Forschung von habituellen Selbstausschließungen die Rede. Gerade an den Übergängen der Jugendphase können Prozesse der »Selbstexklusion« wirksam werden, insofern die Jugendlichen lernen, ihre Aspirationen auf das zu beschränken, was auf Basis ihrer sozialen Position erreichbar scheint, und Misserfolge nicht auf strukturelle Bedingungen, sondern auf ihre eigene Leistung zurückzuführen. Inwiefern ein solcher Effekt eintritt, ist eine empirische Frage. Skrobanek und Jobst (2010) zeigten am Beispiel von Jugendlichen türkischer Herkunft in Deutschland, dass Selbstexklusion eher bei jenen auftritt, die relativ erfolgreich im Erreichen von Bildungstiteln sind und sich weniger diskriminiert fühlen. Dagegen reagieren diejenigen, die sich stärker abgewertet und diskriminiert fühlen, eher mit kultureller Differenzierung und entwickeln eine herkunftsspezifische Jugendkultur. Auch das aus der Migrationsforschung bekannte Phänomen der höheren Bildungs- und Berufsaspirationen migrantischer Familien für ihre Kinder (Becker und Gresch 2016) spricht gegen die Annahme einer einheitlichen Ausprägung des subjektiven Möglichkeitsraums nach Klassenlage und einer Anpassung an die objektiven Bedingungen durch Selbstexklusion. Die heutige Situation ist sicherlich eine andere als jene in den 1920er Jahren. Tiefgreifende Prozesse des sozialen Wandels in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg haben zur Herausbildung einer »Lohnarbeitsgesellschaft« (Castel 2000) mit einem hohen Grad an gesellschaftlicher Integration der Arbeitenden geführt; der Ausbau des Sozialstaates verstärkte Prozesse der Individualisierung; der Strukturwandel sozialer Ungleichheit ließ horizontale gegenüber vertikalen Unterschieden stärker hervortreten. Schließlich ist auch an die Auswirkungen der Massenmedien und insbesondere der elektronischen Medien auf die Phantasien und die subjektiven Möglichkeitsräume junger Menschen zu denken. Dennoch wird auch in der gegenwärtigen Forschung festgestellt, dass die Bildungs- und Berufsaspirationen junger Menschen von ihrer Positionierung im sozialen Raum abhängig – wenn auch nicht determiniert – sind (Bittlingmayer und Bauer 2007; Riegel et al. 2018; Altreiter 2019).

1.3. Inklusion und Exklusion, Integration und Desintegration Junge Menschen stehen vor der Notwendigkeit, einen Platz in der Gesellschaft zu finden oder einen solchen kreativ für sich zu schaffen. Bei der Bearbeitung der Frage nach den dafür gegebenen Möglichkeiten ist zunächst zu berücksichtigen, wie eine solche Inklusion eigentlich erfolgt. Gerade ein ganzheitlicher Zugang zur Lebenssituation und zum Lebensverlauf junger Menschen, wie er für die Untersuchung »Wege in die Zukunft« gewählt wurde, bietet dabei die Chance, die

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unterschiedlichen Lebenssphären in ein Gesamtbild einzuordnen und miteinander in Beziehung zu setzen. Für die Analyse der sozialen Frage der Gegenwartsgesellschaft hat Martin Kronauer (2010a) das Begriffspaar »Inklusion« und »Exklusion« vorgeschlagen. Er begründet dies damit, dass die bisher relativ sicheren Standards der gesellschaftlichen Zugehörigkeit und Teilhabe, »die für alle Bürger des politischen Gemeinwesens Gültigkeit haben sollen, außer Kraft gesetzt zu werden [drohen]. Diese Erosion von Standards zeigt sich in Abstufungen mittlerweile bereits in den gesellschaftlichen Mittellagen. An den unterprivilegierten ›Rändern‹ der Sozialstruktur spitzt sie sich bis zur sozialen Ausgrenzung zu« (Kronauer 2010b: 24).

Von sozialer Exklusion sei dann zu sprechen, wenn »der Zugang zu grundlegenden gesellschaftlichen Funktionen versperrt bleibt oder nur um den Preis sozialer Missachtung gewährt wird« und wenn alle Aspekte des Lebens von dauerhaften Ausgrenzungen gekennzeichnet sind (Kronauer 2010b: 26). Ausgrenzung bedeutet im Hinblick auf die politische Partizipation Macht- und Chancenlosigkeit, im Hinblick auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, keinen anerkannten Ort in der Gesellschaft zu haben, und hinsichtlich der sozialen Netze soziale Isolation. Inklusion und Exklusion sind Prozesskategorien, bei deren Verwendung auch die Institutionen und Akteur_innen mitgedacht sind, die einschließen oder ausgrenzen, ob diese zum Bildungssystem, zu Arbeitsmarkteinrichtungen, zu Unternehmen, zu Freundeskreisen oder zu Familien gehören. Im Anschluss an Castel (2000) betont Kronauer zudem Übergänge und misst der Zone der »sozialen Verwundbarkeit« im Hinblick auf Ausgrenzungsprozesse eine zentrale Bedeutung zu, insofern sich dort entscheidet, ob sich die sozialen Destabilisierungen »zur Exklusion verschärfen oder ob Übergänge in die ›Zone der Integration‹ gelingen« (Kronauer 2010a: 259). Robert Castel (2000) betont die Dekonstruktion der Lohnarbeit als Indiz für die »Wiederkehr der sozialen Frage« im 20. Jahrhundert. Diese wird am Anwachsen der »Zone der Verwundbarkeit« erkennbar, in der prekäre Arbeit und fragile Unterstützung durch die nächste Umgebung zusammentreffen. Diese Zone schiebt sich zwischen die »Zone der Integration« und die Randzonen der »Fürsorge« und »Ausgrenzung«. Castel (2000) spannt die »Zonen« mittels zweier Dimensionen auf: erstens die Achse der Integration über Erwerbsarbeit mit ihren Ausprägungen der stabilen Beschäftigung, der prekären Beschäftigung und des Ausschlusses aus Arbeit und zweitens die Achse der Dichte der sozialen Beziehungen mit ihren Ausprägungen der Integration in Beziehungsnetzwerke der Familie und der Gemeinschaft, des Brüchigwerdens der Beziehungen und der sozialen Isolation.

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Verschiebungen zwischen den verschiedenen Zonen lassen auf Veränderungen im Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt schließen, auch deshalb, weil die Zonen aufeinander einwirken und prekäre Arbeit Rückwirkungen auf den stabilen Kern der Arbeitsgesellschaft in Form einer »Destabilisierung des Stabilen« hat (Castel und Dörre 2009). Selbst in die Kernbereiche der Arbeitsgesellschaft wie den öffentlichen Dienst oder die Großunternehmen der Industrie, die im 20. Jahrhundert für ein großes Angebot an Ausbildungsplätzen, für sichere Beschäftigung und existenzsichernde Einkommen auch für Niedrigqualifizierte standen, haben durch Auslagerung, Flexibilisierung, Liberalisierung und Privatisierung prekäre Arbeitsformen breit Einzug gehalten (Flecker et al. 2014). Zunehmend prekäre Beschäftigung und der Bedeutungsverlust des Normalarbeitsverhältnisses deuten auf einen »Platzmangel in der Sozialstruktur« (Castel 2000) hin, also auf einen Mangel an Positionen, mit denen gesellschaftliche Nützlichkeit und öffentliche Anerkennung verbunden sind. Das ist keineswegs so zu verstehen, dass es im Verhältnis zu den Positionen zu viele Menschen gäbe. Vielmehr geht es um Distanzierung und Ausschließung, um soziale Abstände und »die Benachteiligung, Behinderung und Stigmatisierung von sozialen Gruppen« (Reinprecht 2008: 15). Der »Platzmangel« ergibt sich auch aus fehlender Anerkennung, die sich in Abwertung, Diskriminierungserfahrungen und der Stigmatisierung klassenbedingter, geschlechtlicher, ethnischer, religiöser oder sexueller Identitäten äußern kann. »Keinen gesellschaftlich anerkannten Ort einnehmen zu können, bedeutet für Jugendliche, die davon betroffen sind, Erfahrungen des Zurückbleibens, der Missachtung und des Scheiterns. Sie überschatten die beiden zentralen Aspekte, die die Jugendphase kennzeichnen: die Vorbereitung auf und den Einstieg in das Berufsleben sowie die eigene Identitätsfindung« (Kronauer 2010a: 159).

Die eben kurz angesprochenen Fragen der Inklusion und Exklusion behandelt Wilhelm Heitmeyer unter dem Gesichtspunkt der Integration und Desintegration der Gesellschaft und wirft die Frage auf, »was moderne Gesellschaften in ihrer sozialen und ethnisch-kulturellen Vielgestaltigkeit, in ihren Differenzen und Ungleichheiten noch zusammenhält« (Heitmeyer 1997: 25). Desintegration zeigt sich für Heitmeyer an der Rückkehr ethnisch-kultureller Konflikte und von Gewalt sowie an brüchigen Verständigungsprozessen über Werte und Normen. Auf Desintegration deutet auch die weiter aufgehende Schere zwischen Optionen der Lebensführung und des Konsums einerseits und den Realisierungschancen andererseits hin. Schließlich sind in diesem Zusammenhang die soziale Polarisierung und die prekäre Integration in Teilsysteme der Gesellschaft zu nennen. Wie die öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten der letzten Jahre deutlich zeigen, scheinen die damit aufgeworfenen Fragen nach der Integration der Gesellschaft noch drängender geworden zu sein. Marktförmige Vergesell-

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schaftung und uneingeschränkte Machtausübung durch Kapitaleigner_innen, so stellt Heitmeyer (1997) mit Bezug auf Habermas fest, können nicht die Grundlage einer integrierten und humanen Gesellschaft sein. Daher werde nach der Tragfähigkeit von Integrationsmedien gesucht, die gegen die Entwicklung eines Kapitalismus sprechen, »der Desintegrationsprozesse bisher ungekannten Ausmaßes in den modernen westlichen Gesellschaften auslösen, die Integrationsfrage radikalisieren und die Gewaltthematik entlang unterschiedlicher sozialer oder ethnisch-kultureller Konfliktlinien dauerhaft auf die Tagesordnung setzen werde« (Heitmeyer 1997: 48f.). Aus den Überlegungen von Kronauer (2010b) und Heitmeyer (1997; 2018) lassen sich die zentralen Dimensionen ableiten, die für Fragen der Integration und Inklusion relevant sind. So geht es erstens um die Formen des Zusammenlebens, um Zugehörigkeiten und Beziehungsnetzwerke der Familie und der Gemeinschaft. Dies lässt sich im Hinblick auf Jugendliche als Qualität der Familienbeziehungen, Umbrüche in Familienstrukturen und Inklusion in Gruppen von Gleichaltrigen fassen. Zweitens ist die funktionale Integration bzw. die Inklusion in die gesellschaftliche Arbeitsteilung in Form der Beteiligung am Bildungssystem, erfolgreichen Schulübergängen und ersten Erfahrungen mit Erwerbsarbeit relevant. Schließlich geht es in der Dimension der kommunikativinteraktiven Sozialintegration und des Status als Bürger_innen um Fragen der Anerkennung und der Beteiligungsmöglichkeiten an Diskursen über Identitäten, Bewertungen und gesellschaftlichen Problemlagen. In Migrationsgesellschaften stellen sich Fragen der sozialen Ungleichheit sowie der Inklusion und Exklusion in komplexer Weise. So führt Transnationalisierung zu einem geänderten und vielfältigeren Bezugsrahmen für die Bestimmung sozialer Ungleichheit (Pries 2008). Andererseits ist in diesem Zusammenhang von »ethnischer Unterschichtung« die Rede, wenn Migrant_innen mit Bezug auf ethnisch-kulturelle Aspekte marginalisiert werden und entsprechend die unteren Positionen in der Gesellschaft einnehmen (Hoffmann-Nowotny 1973; Reinprecht und Weiss 2012). Auf dem Arbeitsmarkt sind verschiedene Formen der Diskriminierung am Werk, wenn es um die Zuweisung von Migrant_innen zu Arbeitsplätzen geht (Gächter 2004). Die Verwendung der Begriffe »Inklusion« und »Exklusion« im Zusammenhang mit Migration lenkt den Blick auf Inklusionsbedingungen und insbesondere auf Diskurse, Institutionen und Akteure der Ein- und Ausgrenzung (AtaÅ und Rosenberger 2013). Die breite thematische Ausrichtung entlang der genannten Dimensionen sozialer Ungleichheit kommt in der ersten Welle der Längsschnittuntersuchung (siehe Kapitel 3) und damit in diesem Band bereits zum Tragen, indem sowohl auf Schule, Übergänge und Wahrnehmung von Erwerbsarbeit als auch auf Familie und Freundschaft eingegangen wird. Dennoch ist die erste Welle unserer Untersuchung besonders durch die Situation am Ende der Neuen Mittelschule

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(NMS) geprägt. Der Besuch einer solchen Schule und der bevorstehende Übergang in eine weiterführende Schule oder eine Berufsausbildung sind für das Leben der Jugendlichen in dieser Phase von besonderer Relevanz. Insofern spielen auch Ansätze der Übergangsforschung und der Analysen von Bildungsentscheidungen und Berufswahl hier eine wichtige Rolle. Auf die Frage der Handlungsfähigkeit in diesem Zusammenhang wollen wir im Folgenden eingehen.

1.4. Handlungsfähigkeit und biografisches Handeln Wenn wir annehmen, dass das Leben und die Lebenschancen junger Menschen von gesellschaftlichen Strukturen geprägt und von ermöglichenden und einschränkenden Bedingungen abhängig sind, bedeutet das nicht, dass wir Jugendliche als passiv und als bloß »dahindriftend« sehen. Vielmehr berücksichtigen wir, dass sie ihre Lebensbedingungen interpretieren, Lebensorientierungen entwickeln, Gelegenheiten ergreifen, sich anpassen oder Widerstand leisten. Im theoretischen Zugriff sollten junge Menschen daher als in unterschiedlichem Ausmaß kreative soziale Akteur_innen konzipiert werden. Zunächst sind Form und Umfang der Handlungsfähigkeit junger Menschen zwar durch ihre Klassenlage, ihr Geschlecht und ihre spezifische Position in der Migrationsgesellschaft beeinflusst. Die Akteur_innen können aber über die in ihrem Herkunftsmilieu gewonnenen Dispositionen hinausgehen und ihre Handlungsfähigkeiten erweitern. Zur Vermeidung einer Defizitperspektive gilt es daher, die Sichtweisen der jungen Menschen einzunehmen. Gerade im Hinblick auf die Migrationsgesellschaft kann dadurch deutlich werden, »dass soziale Praxen, die aus der hegemonialen Perspektive desintegrative oder defizitäre Momente darstellen, ein innovatives Potenzial entfalten, das für die betroffenen Lebensgeschichten konstitutiv ist« (Yıldız 2014: 79). Die besondere Notwendigkeit, Handlungsfähigkeit und biografisches Handeln zu betonen, lässt sich auch mit gesellschaftlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begründen, welche die Möglichkeiten erweiterten und die Anforderungen verstärkten, das eigene Leben aktiv zu gestalten. Damit sind nicht in erster Linie Wahlfreiheiten, sondern zunächst Anforderungen und Zwänge zu handeln und sich zu entscheiden gemeint. So fordern entstandardisierte Übergänge und biografische Dilemmata, die aus widersprüchlichen Anforderungen aus verschiedenen Lebensbereichen oder auch aus der Reduktion von Möglichkeiten resultieren, individuelle Bewältigungsstrategien (Walther 2009: 128). Zudem werden die strukturell verfügbaren Ressourcen, die institutionellen Anforderungen und die normativen Rahmenbedingungen des Handelns sub-

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jektiv angeeignet. Junge Menschen entwickeln dabei eine »Lebensorientierung«, also eine »subjektive Art, das Leben und die darin enthaltenen Möglichkeiten zu sehen« (Hürtgen und Voswinkel 2012: 349). Um ein empirisches Beispiel heranzuziehen: Eine Studie über geschlechtsspezifische Aspekte der Lebenslagen von Migrant_innen zeigt, dass die Bildungssituation von Mädchen mit anderen Erstsprachen als Deutsch günstiger ist als die der männlichen Jugendlichen (Weiss 2013). Dies trifft entgegen kulturalistischen Annahmen auch auf türkischsprachige Mädchen zu, was Weiss (2013: 152) damit erklärt, dass »Mädchen und junge Frauen die Migration als Chance wahrnehmen und bewusst ergreifen«. Um in Ergänzung zu den strukturellen Bedingungen des Lebensverlaufs und der Reproduktion sozialer Ungleichheit die individuellen, möglicherweise abweichenden Entscheidungen und das aktive biografische Handeln in den Blick zu bekommen, wird in der Lebensverlaufsforschung der Begriff »Agency« verwendet. Der Bedeutungsgehalt des Begriffs changiert zwischen aktivem Handeln, Handlungsvermögen und Handlungsfähigkeiten. Im Zusammenhang mit dem Lebensverlauf und mit Übergängen geht es insbesondere um die Fähigkeit, Lebenspläne zu formulieren und zu verfolgen (Hitlin und Elder 2006) bzw. Entscheidungen zu treffen, zwischen Möglichkeiten zu wählen und dabei in einer autonomen Weise zu handeln (Walther et al. 2006: 65). Die Zukunft spielt durch die Berücksichtigung von »projektivem Handeln« (Emirbayer und Mische 1998) eine wichtige Rolle, bei dem Akteur_innen eine Vorstellung von sich in der Zukunft entwickeln, während sie Pläne formulieren und Entscheidungen treffen. Von Autonomie und Handlungsfreiheit kann in solchen Zusammenhängen kaum die Rede sein. Im Unterschied zur psychologischen Bestimmung als Persönlichkeitsmerkmal wird Agency in der Soziologie in der Regel auch nicht als vorgegebene Eigenschaft von Personen verstanden. Vielmehr geht es darum, wie Akteur_innen »ihre jeweilige Handlungsfähigkeit in Abhängigkeit von ihrer Situierung in sozialen Strukturen bzw. sozialen Beziehungen hervorbringen« (Scherr 2013: 234). Diese Spannung zwischen Disposition einer Person und Situiertheit wird im Konzept des subjektiven Möglichkeitsraums von Holzkamp (1983) zum Ausdruck gebracht: Auf der »personalen« Seite geht es um die biografischen Erfahrungen, Fähigkeiten und Potenziale einer Person, auf der »situationalen« Seite um die Möglichkeiten und Einschränkungen aus den äußeren Lebensbedingungen und dem sozialen Kontext (Holzkamp 1983, zit. nach Gilli8ron et al. 2018: 30). »Die jeweiligen Möglichkeiten, zu handeln und das Leben zu gestalten, hängen daher nicht nur vom gesellschaftlichen Rahmen (und von den damit zur Verfügung stehenden objektiven Möglichkeiten und Begrenzungen) ab, sondern auch von der jeweiligen Interpretation dieser Verhältnisse aus der jeweiligen Position und damit verbundenen Perspektive des handelnden Subjekts« (Gilli8ron et al. 2018: 30f.).

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Mit der Betonung von Handlungsfähigkeit (Agency) reden wir keinem naiven oder allzu emphatischen Begriff von aktivem biografischem Handeln das Wort. Aktives Handeln und Initiative muss auch nicht zum »Erfolg« im Sinne eines vorgegebenen Weges oder gesellschaftlichen Aufstiegs führen. So hat Paul Willis (1977) in »Learning to Labour« gezeigt, wie männliche Jugendliche aus der Arbeiterklasse Englands ihre Gegenschulkultur als Form des Widerstands wahrnehmen und sich mit der männlichen Arbeiterkultur außerhalb der Schule identifizieren, womit sie, von außen betrachtet, an ihrer eigenen Verurteilung mitwirken und aktiv den ihnen vorbestimmten Weg in die Hilfsarbeit einschlagen. Zur gleichen Situation in seinem Leben, als der weitere Besuch des Gymnasiums auf der Kippe stand, merkte Didier Eribon (2016: 161) an: »Widerstand hätte meine Niederlage bedeutet, Unterwerfung war meine Rettung.« Eine solche Entscheidung kann mangels Optionen und Perspektiven auch beinhalten, dass junge Männer in die Rolle der »harten Jungs« gedrängt werden, wenn sie »aus der Not eine Tugend, d. h. aus schulischem Scheitern soziale Delinquenz« machen, wie es Bourdieu (2010: 70) am Beispiel zweier Jugendlicher in einer französischen Banlieue beschrieben hat. Zu ähnlichen Ergebnissen führte auch die Untersuchung von McDowell (2014) über männliche muslimische Jugendliche aus der Arbeiterklasse in England. Auf dem Arbeitsmarkt stehen für diese Jugendlichen primär niedrig bezahlte Dienstleistungsarbeit im Handel und im Gastgewerbe und anderen persönlichen Dienstleistungen zur Verfügung. An diesen Arbeitsplätzen sind allerdings Formen der Unterordnung, Einfühlungsvermögen und Freundlichkeit gefordert, die als weiblich konnotiert sind und den Männlichkeitsvorstellungen der Jugendlichen widersprechen. Aufgrund ihrer Klasse, ihres sozialen Geschlechts und ihrer Verkörperung von Männlichkeit vom Arbeitsmarkt ausgeschlossen, verstärken sie gerade jene aggressive Männlichkeit, die auf den Straßen wertgeschätzt wird. Doch neben der Ausbildung einer »Protestmännlichkeit« und Widerstandsaktivitäten ist auch Rückzug in Form von »radical privatism« zu finden (McDowell 2014). Wenn also Agency junger Menschen betont und eine handlungstheoretische Perspektive in Ergänzung zu jener an gesellschaftlichen Strukturen orientierten für unerlässlich gehalten wird, so nicht so sehr, weil wir von einer erhöhten Optionenvielfalt und von gestiegenen Freiheiten im biografischen Handeln ausgehen. Man kann es auch umgekehrt sehen: Dem Bedeutungsverlust institutionalisierter Lebensverläufe und Übergangswege, der hohen Jugendarbeitslosigkeit, der Prekarisierung der Erwerbsarbeit und einem abweisenden Wohnungsmarkt, also dem Verlust von Optionen, ist es geschuldet, dass aktives Bewältigungshandeln der Jugendlichen stärker gefordert ist und sich häufiger nichtlineare Übergänge ins Erwachsenenalter ergeben. Inwiefern es jungen Menschen gelingt, die Herausforderungen für sich zufriedenstellend zu bewäl-

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tigen, hängt nicht nur von den ihnen aktuell zur Verfügung stehenden Ressourcen, sondern auch von dem für sie Vorstellbaren, vom Gefühl der Berechtigung ihrer Wünsche und Ansprüche sowie ihren Werthaltungen und damit von ihrer familiären Sozialisation und dem darin strukturierten Habitus ab, auch wenn sich Letzterer in Ermächtigungsprozessen weiterentwickeln kann. Dagegen hatte Heinz (2000) in Kritik an Ecarius (1996) betont, »der Habitus als verinnerlichte Handlungsanweisung kann nicht mehr ausreichen, um die Biographie mit den sozialen Verhältnissen anschlußfähig zu machen«, und dies damit begründet, dass sich »verbindliche Lebenslauforientierungen und biographische Entwicklungsprogramme« auflösen und »sich gleichzeitig die biographischen Optionen vervielfältigen« und deshalb »Subjektivität und Selbstreflexivität der Akteure an Bedeutung« gewinnen (Heinz 2000: 173). Die geänderten Bedingungen bedeuten aber noch nicht, dass alle gleichermaßen über die geforderten Fähigkeiten verfügen. Ob und in welchem Ausmaß es zu aktivem biografischem Handeln kommt, wer in welcher Form dazu in der Lage ist, bleibt also von gesellschaftlichen Ungleichheitsstrukturen abhängig und entsprechend eine empirische Frage.

1.5. Lebensverlaufsmuster und Übergänge Die angesprochenen Veränderungen in den Anforderungen an junge Menschen sind Gegenstand der Lebensverlaufsforschung. Traditionell wurde der Lebensverlauf konzipiert als linear fortlaufende, institutionalisierte Abfolge bestimmter Lebensphasen und – jeweils zwischen den Phasen gelagerten – Übergängen, welche mittels tradierter Riten (van Gennep 1986) den Übergang zwischen zwei Phasen strukturierten und die damit verbundenen Unsicherheiten reduzierten. Diese traditionelle Vorstellung von Übergängen vergleichen Walther und Stauber (2007: 23) mit einer Schleuse, mit deren Hilfe Schiffe zur Überbrückung von Höhenunterschieden in einem Flusslauf in eine Wasserkammer gelotst werden. Durch Zuführung von Wasser (im Sinne von Ressourcen wie Bildung, Arbeitsplatz, Ausbildungsplatz etc.) werden sie auf ein höheres Niveau befördert. Zum Bild der Schleuse gehört die Rolle des Schleusenwärters, das sind Personen oder Institutionen, welche die Individuen bestimmten Übergängen zuweisen (z. B. primäre Sozialisationsinstanzen, Professionist_innen in Bildungsinstitutionen, sozialstaatliche Maßnahmen). Diese haben ein diagnostisches Instrumentarium entwickelt, um Anspruchs- und Zugangsberechtigungen feststellen zu können (z. B. Aufsteigen in die nächsthöhere Schulklasse, Erhalt eines Lehrplatzes, Zugang zum Arbeitsmarkt). Analog zur Schleuse nach oben gibt es aber auch Übergänge nach unten, z. B. wenn Jugendliche aufgrund individueller Defizite oder aus strukturellen Gründen für nicht »ausbildungsreif« befunden werden

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oder keine ihrer Ausbildung und ihrem Entwicklungsstand entsprechenden gesellschaftlichen Positionen zur Verfügung stehen. Heute haben im Zuge gesellschaftlicher Entstandardisierungs- und Individualisierungsprozesse die Dauer und die Anzahl von Übergängen, die mit ihnen verbundenen Unsicherheiten und Ungewissheiten ebenso zugenommen wie die erforderliche aktive Mitwirkung der Subjekte beim Übergang von einer Lebensphase in eine andere. Es gibt keine allgemeine zeitliche Abfolge, keinen linearen Weg, kein einheitliches Tempo – weder für Lebensverläufe noch für Übergänge (Holstein und Gubrium 2000). Olk (1985) spricht daher von einer »Entstrukturierung der Jugendphase«, und Walther und Stauber (2007: 38) ergänzen ihr Bild des Übergangs als Schleuse folgendermaßen: »Aus dem ruhig fließenden Fluss des Normallebenslaufs, dessen Gefälle durch Schleusen überbrückt wurde, ist ein unruhiges Gewässer voller Stromschnellen und Untiefen geworden; aus den Passagieren auf dem Linienboot in der Schleuse mehr oder weniger geübte WildwasserfahrerInnen mit unterschiedlich tauglichem Material.«

Die Jugendphase ist zunehmend geprägt von nicht synchronisierten, fragmentierten, teilweise ambivalenten Teil-Übergängen und damit verbundenen TeilSelbständigkeiten: Jugendliche haben unterschiedliche Positionen mit unterschiedlichem Status inne und müssen die Spannungen aushalten, die sich daraus ergeben. Typisch ist beispielsweise, dass Jugendliche im Bereich der Konsumbeteiligung und der politischen Partizipation schon sehr früh eigenverantwortlich handeln, im Bereich der Familienrollen und der Erwerbstätigkeit aber erst sehr spät (Hurrelmann und Quenzel 2016). Hinzu kommt, dass Übergänge zunehmend reversibel sind: Ein einmal erreichter Status ist nicht zwingend von Dauer, was unter dem Begriff »Yoyo-Übergänge« diskutiert wird (Pohl et al. 2011; Stauber et al. 2007; Walther und Stauber 2000). Jugendliche erleben das sogenannte »Planungsparadox« (Stauber und Walther 2006), ein immer weniger planbares Leben individuell planen und gleichzeitig flexibel bleiben zu müssen. Dieses ist verknüpft mit einem Machbarkeitsparadox bzw. Machbarkeitsmythos, nach dem es möglich sei, die Regie über die eigene Biografie zu erhalten, wenn man sich nur ausreichend bemüht und sich mit ausreichenden Kompetenzen und Ressourcen ausstattet. Eine zentrale Herausforderung ist es, mehrere Anforderungen in den verschiedenen Teilübergangsbereichen, welche unterschiedlichen Logiken folgen und einander mitunter sogar widersprechen, gleichzeitig zu bewältigen. Dazu entwickeln Jugendliche unterschiedliche Handlungsstrategien, die Walther (2000) folgendermaßen zusammenfasst: Wählen, Optionen offenhalten, Vereinbarkeit sowie Selbstinszenierung. »Wählen« meint dabei den Glauben an das Recht zu entscheiden sowie die Aufrechterhaltung des Selbstbildes, Gestalter_innen des Lebensverlaufs zu sein. Für viele ist das »Offenhalten von Optionen« die einzig

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realistische Möglichkeit, weshalb sie sich nicht voll und ganz auf formal festgelegte Wege einlassen. Mit »Vereinbarkeit« ist gemeint, dass Bewältigungsstrategien in einer Lebenssphäre, wie etwa der Erwerbsarbeit, mit anderen Anforderungen des Lebens abgestimmt werden und deshalb in Bezug auf eine einzelne Sphäre nicht unbedingt als rational erscheinen. Bewältigungsstrategien müssen »Selbstinszenierungen« ermöglichen, damit Jugendliche sich mit ihrem Lebensplan identifizieren und mit der Entwicklung eines Lebensstils experimentieren können. Zu berücksichtigen ist, dass Jugendliche in ihren Übergangsbiografien zentrale Leistungen erbringen, komplexe Anforderungen bewältigen und ihren Alltag entsprechend gestalten – obwohl sie immer weniger auf tradierte Orientierungshilfen und Lebensverlaufsmuster zurückgreifen können. Die Orientierung findet mitunter an individuell bedeutsamen Momenten und Wendepunkten im Leben statt. Solche sogenannten Turning Points sind ein Schlüsselkonzept der Lebensverlaufsforschung. Sie können Transitionsprozesse strukturieren oder unterbrechen, sie konstituieren subjektive Bewertungen von Kontinuitäten und Diskontinuitäten während des Lebensverlaufs und sind verbunden mit »a substantial change in the direction of one’s life« (Elder et al. 2006: 8). Das Konzept der Turning Points wurde auch in Zusammenhang mit Jugendlichen verwendet, beispielsweise im Rahmen der Längsschnittstudie »Inventing Adulthoods« (Henderson et al. 2007; Thomson und Holland 2015), welche in Anlehnung an Giddens’ (1991) Konzept der »fateful moments« »critical moments« eruiert, welche die Identitätskonstruktionen und Selbstkonzepte Jugendlicher mitkonstituieren. Die Ergebnisse zeigen, dass die critical moments unterprivilegierter Jugendlicher häufiger mit Krankheiten (meist von Elternteilen oder Familienangehörigen) zu tun haben, während Mittelklasse-Jugendliche eher von critical moments berichten, die Agency und Freiheit im Fokus haben (z. B. Mobilitätsgewinne durch das Bestehen der Führerscheinprüfung). In diesem Zusammenhang ist es zentral, nicht nur die critical moments zu analysieren, sondern auch die Veränderung von Strategien und Ressourcen im Zeitverlauf.

1.6. Zum Aufbau des Bandes Die Jugendlichen, die in diesem Sammelband in den Blick genommen werden, gehen zum Zeitpunkt der Befragung in die Abschlussklassen einer NMS in Wien und befinden sich folglich in der von Walther und Stauber (2007) konstatierten »Schleuse«, wo sie sich als »Wildwasserfahrer_innen« mit den »Stromschnellen und Untiefen« auseinandersetzen müssen. Diese besondere »Schleuse« des Übergangs von der Schule in das Berufsleben oder in eine weiterführende Schule

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ist eingebettet in ein spezifisches Bildungssystem, das im nächsten Kapitel näher beleuchtet wird. Yuri Kazepov, Ralph Chan und Ruggero Cefalo nehmen eine vergleichende Perspektive ein und verorten das österreichische Bildungssystem im Allgemeinen und die (Wiener) NMS im Besonderen in einem größeren Kontext, erläutern Spezifika des österreichischen und Wiener Bildungssystems und zeigen so auf, unter welchen Rahmenbedingungen und institutionellen Strukturen die untersuchten Jugendlichen ihre »Wege in die Zukunft« antreten. Datengrundlage der Fragestellungen, die in diesem Sammelband behandelt werden, sind die erste quantitative und die erste qualitative Welle des Forschungsprojekts »Wege in die Zukunft – Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien«, das am Institut für Soziologie der Universität Wien seit 2017 durchgeführt wird. Die methodische Vorgehensweise dieser Untersuchung – ein komplexes Mixed-Methods-Design – wird, ebenso wie die Zielgruppe der Jugendlichen und das spezifische Forschungsfeld Schule, von Susanne Vogl, Veronika Wöhrer und Andrea Jesser im 3. Kapitel dieses Bandes dargestellt. Daran anschließend werden die Forschungsergebnisse – thematisch in zwei Abschnitte unterteilt – präsentiert. Der erste Abschnitt ist den »Ressourcen und Perspektiven am Übergang« gewidmet. Im ersten Kapitel dieses Abschnitts zeigen Susanne Vogl, Franz Astleithner und Barbara Mataloni die unerwartete Vielfalt der Population der Schüler_innen der NMS auf. Oft in Abgrenzung von den Schüler_innen an Gymnasien definiert, ist diese Gruppe alles andere als homogen. Die Berücksichtigung der Heterogenität im Hinblick auf Bildung und Beruf der Eltern, Herkunftsland, Bildungsaspirationen und vieles mehr ist Voraussetzung für Anerkennung und seriöse Diskussion. Im nächsten Kapitel gehen Franz Astleithner, Susanne Vogl und Barbara Mataloni im Detail auf die Zukunftsvorstellungen und Bildungsaspirationen der Schüler_innen der Abschlussklassen der NMS ein. Dabei werden insbesondere die Unterschiede im Hinblick auf das Bildungsniveau der Eltern und Migrationsgeschichten der Familie herausgearbeitet. Im dritten Kapitel dieses Abschnitts präsentieren Ulrike Zartler, Susanne Vogl und Veronika Wöhrer eine Typologie elterlicher Unterstützung bei Übergangsentscheidungen. Sie leuchten damit die Rolle der Familie als Ressource oder Hindernis für das biografische Handeln der Jugendlichen aus. Im fünften und letzten Kapitel dieses Abschnitts fokussieren Andre Schmidt und Jörg Flecker auf das Praktikum, die »Berufspraktischen Tage«, während der 4. Klasse der NMS. Die Wahrnehmung dieser Situation durch die Jugendlichen und die von diesen entwickelten Aktivitäten und Initiativen lassen das Praktikum zu einem anschaulichen Beispiel für Handlungsfähigkeit am Übergangsgeschehen werden.

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Der zweite Abschnitt des Bandes, in dem Ergebnisse der Studie dargestellt werden, trägt den Titel »Bedeutsame Ereignisse und ihre biographische Verarbeitung«. Im ersten Kapitel analysieren Barbara Mataloni, Franz Astleithner und Susanne Vogl auf Basis der Fragebogenerhebung bedeutsame Ereignisse im Leben der untersuchten jungen Menschen sowie deren Wohlbefinden und Kontrollüberzeugungen, insbesondere unter dem Gesichtspunkt sozialer Ungleichheit. Das nächste Kapitel befasst sich auf der Grundlage der qualitativen Daten mit kritischen Ereignissen: Veronika Wöhrer und Melanie Mahringer analysieren die Erzählungen von sechs Jugendlichen über den Tod naher Angehöriger mit dem Konzept der critical moments und fokussieren dabei vor allem auf Ressourcen, die wesentlich für dessen Verarbeitung sind. Im dritten Kapitel dieses Abschnitts beschreiben Vera Dafert und Ulrike Zartler, wie Jugendliche mit der Trennung ihrer Eltern umgehen, und verdichten die Ergebnisse zu typischen Strategien im Umgang Jugendlicher mit diesem kritischen Ereignis. Im vierten und letzten Kapitel dieses Abschnitts präsentieren Ana Mijic, Maria Pohn-Lauggas und Christoph Reinprecht Ergebnisse aus der Auswertung eines qualitativen Interviews, die mit Berechnungen aus dem quantitativen Datensatz verbunden werden. Dabei zeigen sich Ausschluss- und Anerkennungserfahrungen, die mit Herkunft, Sprache und Ethnizität verbunden sind. Im Schlusskapitel (12. Kapitel) fassen Jörg Flecker, Veronika Wöhrer und Irene Rieder die präsentierten Forschungsergebnisse zusammen, diskutieren sie, setzen sie in Beziehung zum aktuellen Wissensstand aus der Fachliteratur und binden sie an die Kernforschungsfragen der Längsschnittstudie »Wege in die Zukunft« zurück.

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Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

2.1. Einleitung Die Übergänge von jungen Menschen ins Erwachsenenleben werden von einer Vielzahl von Dimensionen beeinflusst und in der vergleichenden Forschung auf verschiedenste Weise thematisiert. In der Jugendforschung wird häufig der Frage nachgegangen, wie die Interaktion zwischen den verschiedenen Dimensionen die schulischen Entscheidungen junger Menschen beeinflusst. Konkret geht es darum, in welcher Weise die individuellen opportunity structures1 (Roberts 2009) einschränkend wirken oder Möglichkeiten schaffen. Die Dimensionen dieser Strukturen sind divers und reichen von den Arbeitsmarktbedingungen bis zu soziodemografischen Trends – einschließlich Migrations- und Familienstrukturen –, aber auch das Wohlfahrtssystem wird dazugezählt. Des Weiteren spielen das Bildungs- und Berufsbildungssystem sowie andere institutionelle Maßnahmen eine zentrale Rolle und beeinflussen ebenso die schulischen Übergänge (Raffe 2014). Um Unterschiede verstehen und Kontexte vergleichen zu können, haben Wissenschaftler_innen Typologien von Übergangssystemen (oder -regimen) erstellt und die dafür relevanten Merkmale identifiziert und erarbeitet. In diesem Beitrag werden ältere vergleichende Analysen und jüngste empirische Ergebnisse zur Rolle des Bildungssystems im Übergang ins Erwachsenenalter dargestellt. Insbesondere fokussieren wir dabei den Übergang von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen oder ins Erwerbsleben. Dabei wird ein vergleichender Überblick auf europäischer Ebene mit Fokus auf die österreichischen Besonderheiten bei der Gestaltung dieses Übergangs erstellt. Das Kapitel gliedert sich in drei Teile. Im ersten Teil beschäftigen wir uns mit dem dynamischen Verhältnis von Strukturen und Handlungsfähigkeit in 1 Opportunity structures werden durch die Wechselbeziehungen zwischen familiärer Herkunft, Bildung, Arbeitsmarktinstitutionen und Personalauswahlverfahren (employers’ recruitment practices) der Arbeitgeber_innen gebildet. Die Interaktion der verschiedenen Faktoren können Möglichkeiten eröffnen, aber auch beschränken. Opportunity structures tragen dazu bei, dass sich die Karrierewege junger Menschen unterschiedlich gestalten (Roberts 2009).

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Übergangsprozessen und werden aufzeigen, wie sie die Lebensverläufe von jungen Menschen beeinflussen. Um die relevanten analytischen Dimensionen herausarbeiten zu können, die bei diesen Übergängen zu berücksichtigen sind, werden wir im zweiten Teil verschiedene Typologien diskutieren und dabei das österreichische System genauer betrachten. Typologien zielen darauf ab, das komplexe systematische Zusammenwirken mehrerer analytischer Dimensionen zu erklären. Die Interaktion zwischen den Dimensionen schafft unterschiedliche opportunity structures, innerhalb derer junge Menschen Entscheidungen treffen und ihr Leben entwickeln. Der dritte Teil beruht auf aktuellen empirischen Erkenntnissen aus mehreren europäischen Projekten.2 Wir werden uns auf die Merkmale des österreichischen Übergangssystems von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen bzw. ins Erwerbsleben konzentrieren. Speziell werden wir die Rolle der NMS und die Besonderheiten der Wiener Mittelschulen im Kontext des österreichischen Bildungssystems ansehen. Hierbei verwenden wir das Konzept der opportunity structures, um die Makro- und Mesoanalyseebenen mit den Lebensverläufen auf Mikroebene und den individuellen Entscheidungen innerhalb der Übergänge von jungen Menschen zu verknüpfen. Insbesondere möchten wir darauf aufmerksam machen, dass – basierend auf dem Opportunity-structure-Ansatz – strukturelle Zwänge und Möglichkeiten, die als critical juncture im Lebensverlauf zu verstehen sind, die zukünftigen Wege beeinflussen können. Das ist auch die Erfahrung der Schüler_innen, die an der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«3 teilnahmen, die sich damals selbst im Übergang von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen bzw. ins Erwerbsleben befanden.

2.2. Struktur und Handlung in Übergangsprozessen In heutigen postindustriellen Gesellschaften ist der Übergang in das Erwachsenenalter von Unsicherheiten, fortschreitender De-Standardisierung und von gesellschaftlich aufgestellten Behauptungen gekennzeichnet, die darauf abzielen, diese Unsicherheiten zu beseitigen (siehe Kapitel 1; vgl. Blossfeld und Hofäcker 2014). Das Bildungssystem spielt hierbei eine zentrale Rolle bei den Übergängen ins Erwachsenenalter (Wolbers 2014), da es unter anderem junge Menschen mit dem

2 GOETE – Governance of Educational Trajectories in Europe (http://goete.eu) und YOUNG_ ADULLLT – Policies Supporting Young People in their Life Course. A Comparative Perspective of Lifelong Learning and Inclusion in Education and Work in Europe (http://www.youngadulllt.eu). 3 https://wegeindiezukunft.at.

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

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Arbeitsmarkt verbindet. Der Übergang von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen bzw. jener ins Erwerbsleben stellen einen critical juncture im Lebensverlauf dar. Der critical juncture kann, im Zusammenhang mit strukturierenden Dimensionen wie familiären Hintergrund und sozioökonomischer Lage, ein Risiko wie auch eine Chance für Jugendliche bedeuten. Die Interaktion zwischen den Dimensionen beeinflusst die opportunity structure, innerhalb derer Jugendliche reflexiv ihre Entscheidungen treffen (Roberts 2009; Lehmann 2014). Dabei können die im Bildungs- und Ausbildungssystem erworbenen Qualifikationen von Bedeutung sein. Entscheiden sich die Jugendlichen nach der Pflichtschule dazu, eine Lehre zu absolvieren, bietet die Zertifizierung der erworbenen Qualifikationen den Arbeitgeber_innen eine wichtige Entscheidungsstütze bei der Einstellung Mitarbeiter_innen. Zusätzlich bilden diese Zertifizierungen oft die Basis für Karrierefortschritt und berufliche Entwicklung (Kramarz und Skans 2014). Deswegen werden junge Menschen ohne Qualifikationen oft als Außenseiter_innen und als vulnerabel am Arbeitsmarkt (Lindbeck und Snower 2001) wahrgenommen. Dazu kommt noch, dass Junge Berufseinsteiger_innen zunehmend in flexibleren Positionen beschäftigt sind, und somit einkommensschwachen und prekären Abreitsverhätnissen ausgesetzt werden (Piopiumik und Ryan 2012). Sie haben es schwerer, eine stabile Beschäftigung zu bekommen. Dies wirkt sich langfristig negativ auf die Biografien und auch auf die zukünftigen Pensionsauszahlungen aus. Entscheidend ist, dass die unterschiedlichen institutionellen Arrangements am Übergang nach der Pflichtschule zu unterschiedlicher Arbeitsmarktintegration von jungen Einsteiger_innen führen. In den Auswirkungen der Wirtschaftskrise von 2008 spiegeln sich von Land zu Land verschiedene institutionelle und strukturelle Entwicklungen wider (Popiunik und Ryan 2012; De Lange et al. 2014). Auch die verschiedenen Übergangssysteme von Schule zu Arbeitsmarkt tragen dazu bei, nationale (Raffe 2008; Blossfeld et al. 2014) oder sogar subnationale Besonderheiten zu reproduzieren, die territoriale Differenzen in den opportunity structures für Jugendliche verstärken (Scandurra et al. 2018). Jugendforscher_innen betonen, dass die zunehmende Zersplitterung der Übergänge dazu führt, dass Jugendliche sich weniger auf kollektive und institutionalisierte Lösungen verlassen können (siehe Kapitel 1). Biografien entwickeln sich vermehrt zu Terrains von Umbrüchen, welche nicht nur durch Handlungen, sondern auch durch strukturelle Faktoren bestimmt werden. Die individuelle opportunity structure (Lehmann 2014) wird durch die spezifischen institutionellen Rahmenbedingungen geformt. Dadurch entstehen jene Möglichkeiten oder Einschränkungen, die für die Entscheidungen der Jugendlichen prägend sind. Um die subjektiven und biografischen Sichtweisen der Jugendlichen zu verstehen, muss auch das Zusammenspiel zwischen Struktur und Handlungen in Übergängen untersucht werden (Walther 2006). Wir vertreten

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Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

daher einen analytischen Ansatz, der akteursbezogene und strukturell-institutionelle Perspektiven kombiniert: Makroprozesse wie Globalisierung, Tertiärisierung und die Veränderung der Familienstruktur werden gefiltert durch nationale und lokale Institutionen auf der Mesoebene, die wiederum mit der Reflexivität und den Handlungen junger Menschen auf der individuellen bzw. Mikroebene interagieren. Infolgedessen erzeugen solche Dynamiken in den Übergängen von Jugendlichen unterschiedliche nationale und lokale Muster, die nach verschiedenen analytischen und empirischen Ansätzen untersucht und klassifiziert werden können.

2.3. Zwischen Risiko und Möglichkeit: Übergangsregime von Jugendlichen In den 1980er und 1990er Jahren durchlief die Forschung zum schulischen Übergängen von Jugendlichen einen »comparative turn« (Raffe 2014). Die vergleichende Forschung half nicht nur, Unterschiede zwischen den Ländern aufzuzeigen und Muster zu identifizieren, sondern lieferte auch mögliche Interpretationen über die Rolle der unterschiedlichen strukturellen Dimensionen in den Übergangsprozessen. Des Weiteren trug sie zum besseren Verständnis der Ergebnisse und der länderübergreifenden Unterschiede der Arbeitsmarktintegration junger Menschen bei. Ein vergleichender Ansatz erlaubt es, die zunehmende Differenzierung von Übergängen, ihre reduzierte Vorhersagbarkeit und Linearität zu betrachten. Zusätzlich kann der Vergleich zeigen, wie Trends durch unterschiedliche Faktoren in den einzelnen Ländern vermittelt werden. Pastore (2015) stellte fest, dass die meisten Wissenschaftler_innen, die vergleichende Forschung betreiben, dazu neigen, verschiedene Länder in Übergangsregimen zu gruppieren. Die Definition dieser Regime umfasst die gesamten Merkmale der institutionellen und strukturellen Arrangements eines Landes, die sowohl die Übergangsprozesse als auch die Auswirkungen auf dem Arbeitsmarkt betreffen (Smyth et al. 2001). Im Folgenden konzentrieren wir uns auf einige Dimensionen, die wir als besonders relevant erachten, um die Hauptmerkmale der Übergänge von Jugendlichen in ganz Europa aufzuzeigen. Wir tun dies, indem wir drei zentrale Typologien besprechen: erstens die Übergänge von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen oder ins Erwerbsleben (Allmendinger 1989), zweitens Übergänge innerhalb der verschiedenen skill formation systems (Busemeyer und Trampusch 2012) und drittens Übergänge innerhalb der Systeme von Wohlfahrtsstaaten (Walther 2017). Diese Übersicht bietet eine analytische Karte der Beziehungen, die berücksichtigt werden sollte, um die Landschaft der verschiedenen Übergangsregime und ihre

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

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daraus resultierenden Ergebnisse zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist es unser Ziel, einen Rahmen zu schaffen, um den österreichischen Kontext und die Rolle der NMS (und der Wiener Mittelschule) innerhalb des Bildungssystems besser einzuordnen. Indem Typologien Komplexität reduzieren, helfen sie dabei verschiedene Kontexte besser zu verstehen. In unserem Fall beleuchten sie die jeweiligen Möglichkeiten und Einschränkungen junger Schüler_innen in Österreich und speziell in Wien, wobei wir einen analytischen Rahmen anlegen, um die »Wege in die Zukunft« von jungen Menschen zu verstehen. Diese werden wir in den nächsten Unterkapiteln beschrieben.

2.3.1. Der Übergang nach der Pflichtschule Allmendinger (1989) entwickelte in ihrer einflussreichen Arbeit einen analytischen Rahmen zur Analyse des Übergangsprozesses auf der Grundlage von zwei Dimensionen: (a) stratification oder Stratifizierung der Bildungschancen ist »the proportion of a cohort that attains the maximum number of school years provided by the education system, coupled with the degree of differentiation within given educational levels (tracking)« (Allmendinger 1989: 233); und (b) standardization oder Standardisierung des Bildungsangebots, welches »the degree to which the quality of education meets the same standards worldwide« (ebd.) umfasst. Im Zusammenhang mit den oben genannten Dimensionen (stratification und standardization) erstellte sie einen Analyserahmen, in dem man die Bildungssysteme mit den Arbeitsmarktergebnissen verknüpfen kann. Allmendingers Ansicht nach ermöglicht ein hoher Standardisierungsgrad den Arbeitgeber_innen, sich auf Informationen aus Bildungs- und Berufszeugnissen zu stützen, während sich stratifizierte Systeme auf ausdifferenzierte Berufsstrukturen verlassen. Stratifizierung in diesem Zusammenhang heißt, dass die Arbeitgeber_innen stark auf die unterschiedlichen Qualifikationen angewiesen sind, welche die Jugendlichen im Bildungssystem erworben haben. Infolgedessen führt ein hohes Maß an Standardisierung und Schichtung zu einer guten Übereinstimmung (match) mit reibungslosen Übergängen und weniger Arbeits(platz)veränderung. In nicht standardisierten und nicht stratifizierten Systemen ist mit einer höheren Anzahl von Übergängen in die Beschäftigung zu rechnen. Bildungsstratifizierung spielt auch eine Rolle bei den Übergängen in weiterführende Schulen. Hierdurch bilden sich differenzierte Bildungsmöglichkeiten aus, in welche Jugendliche geleitet werden. Die Trennung oder Selektion von Schüler_innen nach ihren Fähigkeiten oder ihren zukünftigen Weiterbildungsplänen wird üblicherweise als Tracking bezeichnet (Shavit und Müller 2000). Bei früh selektiven Systemen (early-tracking systems) erfolgt die erste Wahl direkt nach der Primarstufe. In der Literatur wird

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Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

das Tracking als Gegenentwurf zur Gesamtschule angesehen (Benadusi und Giancola 2014). Tracking kann eine horizontale Stratifizierung auf verschiedenen Wegen bedeuten, die sich auf die Lehrpläne, die Qualität der Lehrkräfte, die Lernfähigkeit der Schüler_innen und den sozialen Mix der Schulen bezieht. Der Grad der Rigidität der Tracks wird jedoch manchmal durch die Möglichkeit gemindert, dass man von einem Track zu einem anderen übertreten kann. Aus Sicht des Arbeitsmarktes könnte argumentiert werden, dass das Tracking eine funktionale Antwort auf die Nachfrage der Arbeitgeber_innen nach Arbeitnehmer_innen mit spezifischen Fähigkeiten ist (Bol und Van de Werfhorst 2013). In früh selektiven Systemen wird der Übergang von Schüler_innen in den einen oder anderen Weg in der Regel stark vom sozialen und familiären Hintergrund beeinflusst und führt daher bei bestimmten Personengruppen zu geringer sozialer Mobilität und zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten (Krause und Schüller 2014). Folglich beeinflusst das Tracking in den Übergängen auch die zukünftigen Bildungs- und Arbeitsmarktchancen (Van de Werfhorst und Mijs 2010). Befürworter_innen von sogenannten De-Tracking-Reformen sprechen sich daher gegen eine Differenzierung aus. Dies gründet auf dem Argument, dass die wirtschaftliche Entwicklung und der technologische Wandel eher allgemeine und umfassendere Bildungslehrpläne erfordern als spezifische Fähigkeiten (Lundvall und Lorenz 2012). Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass ein geringerer Grad an formaler Schichtung nicht notwendigerweise zu mehr Chancengleichheit führt. Länder, die das Tracking erst nach dem Pflichtschulabschluss einführten, etablierten häufig andere Formen der Differenzierung, die sich auf Arbeitsmarktchancen auswirkten und Bildungsungleichheiten reproduzierten. Beispielsweise findet die Differenzierung dann durch informelle horizontale Stratifizierung zwischen Gesamtschulen oder auf der Ebene der tertiären Bildung statt (Benadusi und Giancola 2014). Aufbauend auf der Arbeit von Allmendinger betrachteten mehrere Wissenschaftler_innen (Hannan et al. 1996; Müller und Shavit 1998) die Stärke der Verbindungen zwischen Bildung und Beschäftigung. Sie ergänzten die Dimensionen »Standardisierung« und »Stratifizierung«, um eine Typologie zu entwickeln, die auf der Struktur des Arbeitsmarktes und den Strategien der Arbeitgeber_innen zur Besetzung von offenen Stellen basiert. Dabei wird zwischen zwei verschiedenen Arbeitsmarkttypen unterschieden: – Occupational labour markets, in denen der Zugang zu Arbeitsplätzen stark reguliert ist und auf denen formale Zeugnisse sowie standardisierte Qualifikationsprofile eine wichtige Rolle spielen. – Internal labour markets, in denen der Zugang zu Arbeitsplätzen stark nach den Strategien der Unternehmen segmentiert ist. Hier wird weniger auf formale Qualifikationen als auf interne Rekrutierung, persönliche Berufserfah-

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

39

rung von Bewerber_innen und informelle Berufsbildungsmöglichkeiten von Arbeitgeber_innen geachtet. In den internal labour markets wird das berufliche matching auf die Beziehung zwischen dem Unternehmen und dem Arbeitsangebot verlagert, während in den occupational labour markets das matching durch den Erwerb von speziellen Fähigkeiten bereits in der Schulbildung entwickelt wird. In Ländern mit internal labour markets, z. B. England oder den USA, legt die Sekundarstufe II einen stärkeren Schwerpunkt auf die Allgemeinbildung mit einem geringen Grad an formeller Standardisierung und Stratifizierung. Im Gegensatz dazu liefern standardisierte Schulsysteme mit occupational labour markets, z. B. Österreich, Deutschland und die skandinavischen Länder, die erforderlichen Zertifikate für den Zugang zu bestimmten Berufen. Die formale berufliche Aus- und Weiterbildung (VET – Vocational Education and Training) spielt hier eine zentrale Rolle. Trotz der Gemeinsamkeiten weisen diese Länder auch Unterschiede im Stratifizierungsgrad im gesamten Bildungssystem sowie in der Organisation auf. Österreich beispielsweise zeichnet sich durch ein standardisiertes und stratifiziertes Bildungssystem aus, das eine enge Verknüpfung mit einem beruflichen Arbeitsmarkt ermöglicht. In der Regel verlassen sich die Arbeitgeber_innen in hohem Maße auf die Informationen von Bildungs- und Berufszeugnissen; das heißt zugleich, dass im Zuge des Schulbesuchs erworbene formale Zeugnisse für den Eintritt in den Arbeitsmarkt von entscheidender Bedeutung sind. Darüber hinaus ist die Berufsstruktur des Landes eng mit den verschiedenen Tracks des Bildungssystems verbunden. Österreich wird zu den früh selektiven Ländern gezählt, da der erste Übergang der Schüler_innen in die verschiedenen Tracks im Alter von zehn Jahren erfolgt, während der OECD-Durchschnitt bei 14 Jahren liegt. Nusche et al. (2016) stellten fest, dass das österreichische Schulsystem jedoch im Allgemeinen flexibler ist als andere früh selektive Länder, wie zum Beispiel Deutschland. Insbesondere wird diese Flexibilität auf die Vielfalt an Bildungsmöglichkeiten der Sekundarstufe II in Österreich zurückgeführt. Nach dem Abschluss der Sekundarstufe II können verschiedene postsekundäre und tertiäre Bildungsinstitutionen besucht werden oder junge Menschen können direkt ins Erwerbsleben einsteigen.

2.3.2. Übergänge in skill formation systems Die Möglichkeit einer beruflichen Aus- und Weiterbildung (VET) ist für den Übergang von der Schule ins Erwerbsleben von Relevanz. Es wird als wichtige Komponente gesehen, die Bildung und Arbeitsmarkt verbindet und institutionalisiert. Im Rahmen von skill formation systems werden diese untersucht.

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Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

Busemeyer und Trampusch (2012) erstellten eine Typologie der skills formation systems, basierend auf dem Wechselspiel zwischen dem Einfluss von Unternehmen und dem öffentlichen Engagement für das Qualifikationssystem (insbesondere für die berufliche Ausbildung im Sekundarbereich II). Diese Typologie kann sich in Bezug auf spezifische Aktivitäten, wie die Bereitstellung, die Finanzierung und die Kontrolle der Berufsbildung, sowie hinsichtlich der Rollen bestimmter Akteure wie Staat oder Sozialpartner unterscheiden. Die Regime der skill formation systems können auch variieren in Bezug auf die Beziehung zwischen Berufsbildung und dem allgemeinen Bildungssystem. Dementsprechend unterscheiden die Autoren vier Arten von skill formations systems in westlichen Ländern: a) In collective regimes (z. B. Österreich, Deutschland, Schweiz) hat die Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Verbänden und Staat in Bezug auf die Vermittlung von beruflichen Fähigkeiten und auch bei der Finanzierung einer Lehrstelle eine lange Tradition. Arbeitgeber_innen und Gewerkschaften beteiligen sich gemeinsam an der Gestaltung der beruflichen Aus- und Weiterbildung. In diesem Regime haben Bildungszertifikate eine starke Signalwirkung. Die Bundes- oder Landesregierungen übernehmen in der Regel die Kosten für Berufsschulen und die Arbeitgeber_innen zahlen die Löhne, die Ausbilder_innen und die Lernmaterialien für den Arbeitsplatz. b) In liberal regimes (z. B. die Vereinigten Staaten) werden die beruflichen Fähigkeiten hauptsächlich durch Ausbildung am Arbeitsplatz vermittelt. In diesen Ländern ist die öffentliche Finanzierung für die berufliche Aus- und Weiterbildung vergleichsweise niedrig bis mittel und das Engagement der öffentlichen Hand ist im Allgemeinen gering. Die Kompetenzen werden hauptsächlich in der Allgemeinbildung und/oder durch die Märkte bereitgestellt. Fähigkeiten werden durch Schulungen am Arbeitsplatz in Unternehmen ergänzt. Die berufliche Aus- und Weiterbildung sowie Schulabschlüsse der Sekundarstufe II haben einen schwachen Signaleffekt. c) In statist regimes (z. B. Frankreich, Schweden) ist der Staat der Hauptakteur, der die beruflichen Fähigkeiten durch Ausbildungen vermittelt. Deshalb besteht in diesen Ländern eine hohe Teilnahmequote an Maßnahmen der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Diese werden im allgemeinen Schulunterricht integriert, wodurch sich auch ihr sozialer Wert erhöht. Des Weiteren ist die Erwachsenenbildung staatlich finanziert und institutionalisiert. Die Signaleffekte von Bildungsnachweisen sind geringer als im collective regime, aber stärker als im liberal und im segmentalist regime. d) Im segmentalist regime (z. B. Japan) ist die skills formation in der beruflichen Aus- und Weiterbildung eng mit großen Unternehmen und der Regierung verbunden. Diese Länder zeichnen sich durch ein geringes öffentliches Engagement in Bezug auf die Bereitstellung von Möglichkeiten zum Erwerb

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

41

beruflicher Fähigkeiten und Ausbildungen aus, da das Bildungssystem hauptsächlich Allgemeinbildung lehrt und daher Zertifikate eine geringe Signalwirkung haben. Große Unternehmen sind jedoch stark in die Ausbildung ihrer Mitarbeiter_innen eingebunden. Die skills formation und die Ausbildung von Fachkräften finden in der Firma statt, sobald der Einzelne/ die Einzelne die Schule verlassen hat. Große Unternehmen kombinieren in der Regel Rotationsprogramme zwischen Arbeit im Unternehmen und außerbetrieblichen Schulungskursen, die in internen Schulungszentren und Berufsschulen stattfinden. Aus Sicht der Übergangsforschung beleuchten die Typologien der skills formation und der educational governance, wie berufliche Bildung und die Verknüpfungen zum Arbeitsmarkt von regulatorischen Strukturen mit unterschiedlichen Kontrollgraden durch Lehrmeister_innen und Verwaltung gestaltet werden. Bezogen auf den österreichischen Kontext bedeutet dies: Aufgrund des hohen Engagements des Staates und der Privatunternehmen bei der Finanzierung, Bereitstellung und Verwaltung der beruflichen Bildung wird Österreich in der Regel zu den collective skill formation regimes gezählt. Der Staat und die Arbeitgeber_innen bestimmen über die berufliche Bildung. Wie Lassnigg (2011) betont, charakterisiert sich die österreichische Berufsausbildung durch ein gemischtes System, das aus dualer und aus schulbasierter Ausbildung besteht. Dabei ist der Übergang in die Sekundarstufe II im Alter von 14 Jahren eine critical juncture für die Karrieren der Jugendlichen, da hier der Weg nach der Pflichtschule geebnet und der Zugang zum Arbeitsmarkt bestimmt wird. Es sind verschiedene Wege für die jungen Menschen möglich: Sie können eine allgemeinbildende höhere Schule besuchen oder sich für eine Berufsausbildung entscheiden, indem sie eine Lehre machen oder sich an einer berufsbildenden mittleren Schule (BMS) oder an einer berufsbildenden höheren Schule (BHS) anmelden (für das bessere Verständnis siehe Abschnitte 2.5 und 2.6). Traditionell stellt die Lehre den Hauptweg in die Erwerbstätigkeit dar. Im Vergleich dazu ist die BHS eine selektive Schule, die hochangesehene berufliche Qualifikationen in Kombination mit allgemeinem Zugang zur Universität anbietet. Der Übergang an die BHS wird daher als eine Besonderheit des österreichischen Berufsbildungssystems (Lassnigg 2011) betrachtet. Die BHS bietet einen Weg zu höherer Bildung und sozialer Mobilität im Bildungssystem, der sonst primär durch eine selektive Tracking-Struktur gekennzeichnet ist. Diese institutionelle Differenzierung der Weiterbildungsmöglichkeiten hat wichtige Konsequenzen für die Übergänge junger Menschen, da sich ihre Optionen erheblich ändern, je nachdem, ob sie sich für den dualen oder den schulischen Berufsweg entscheiden. Alles in allem bleibt jedoch die österreichische Lehre auf traditionelle Unternehmenspraktiken beschränkt, sodass in-

42

Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

novative und für den Strukturwandel förderliche Ausbildungen den vollzeitberufsbildenden Schulen überlassen werden (Lassnig 2016). Dies liegt unter anderem daran, dass in Österreich kleinere Unternehmen dominieren (Culpepper 2007). Über 50 % aller Lehrlinge werden in den Branchen »Handwerk« und »Handel« ausgebildet (vgl. Oberwimmer et al. 2019). Darüber hinaus bieten auch 60 % der Ausbildungsbetriebe in Österreich eine Ausbildung am Arbeitsplatz an, ohne besondere Investitionen in den Ausbildungsprozess tätigen zu müssen (Bliem et al. 2016). In den meisten Fällen werden Lehrlinge mehr oder weniger persönlich, auf individueller Basis unterstützt und durch ein arbeitsorientiertes Programm didaktisch unterrichtet.

2.3.3. Handlungsmacht von Jugendlichen in Übergangsregimen Opportunity structures prägen nicht nur die Handlungsmacht, sondern auch die Entscheidungsfähigkeit junger Menschen (siehe Kapitel 1). Walther (2017) erarbeitete eine Typologie der Lebensverlaufsregime, indem er die Überschneidung zwischen institutionellen Faktoren und kulturellen Mustern analysiert, um zu verstehen, wie diese die Übergänge junger Menschen beeinflussen. Zu den institutionellen Faktoren werden Regelungen der Wohlfahrtssysteme und des Bildungssystems gezählt, während die kulturellen Muster sich auf vorherrschende Vorstellungen von Jugendlichen und deren Benachteiligung sowie auf Erzählungen junger Menschen über ihre Übergangserfahrungen beziehen. Die entwickelten Regime sind ähnlich den oben erörterten Klassifizierungen, dennoch enthalten sie aufschlussreiche Informationen in Bezug auf die Wahrnehmung von Jugendlichen und die Erfahrungen hinsichtlich der Unterstützung, die sie durch bildungspolitische Interventionen erhalten haben: a) Dem employment-centred transition regime werden Länder wie Österreich, Deutschland, Frankreich und die Niederlande zugeordnet. In diesen Ländern ist das Schulsystem durch Selektion(en) gekennzeichnet, welche die beruflichen Karrieren von jungen Menschen auf Basis der verschiedenen Tracks vorgeben. Die Karriereverläufe werden darüber hinaus durch die soziale Position determiniert. Die Berufsausbildung spielt hierbei eine zentrale Rolle und ist relativ standardisiert: Sie kann entweder schulisch, firmenintern oder gemischt sein, wodurch ein stark reguliertes Beschäftigungssystem erreicht wird. Die Arbeitsmärkte sind in hochstandardisierte und geschützte Kernbereiche gegenüber prekäre Peripherien unterteilt. YoYo-Übergänge in diesem Regime entstehen, wenn sich die jungen Menschen zwischen ihren eingeschränkten Möglichkeiten und den starken Anforderungen inklusive sozialer Implikationen von standardisierten Verläufen entscheiden und bewegen müssen. Beispielsweise geschieht dies

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

43

im Fall des early-tracking im Bildungssystem. Die Teilnahme an Berufsbildungsprogrammen ist die wichtigste institutionelle Maßnahme, welche die Jugendarbeitslosigkeit und NEET-Raten vergleichsweise niedrig hält (in Österreich von 7,4 % im Jahr 2008 auf 6,5 % im Jahr 2017 reduziert, siehe Tabelle 1). Des Weiteren bietet die Maßnahme den jungen Menschen Möglichkeiten für einen leichteren Übergang (Solga et al. 2014). Diese positiven Erfahrungen und Wahrnehmungen junger Menschen scheinen denen des liberalen Regimes ähnlich zu sein.4 b) Zum Typus des universalistic transition regime werden die nordeuropäischen Länder, wie Schweden und Dänemark, gezählt. Ihr Schulsystem ist geprägt durch die Gesamtschule. Nationale Rahmenbedingungen setzen Standards in der allgemeinen und beruflichen Bildung, während die Arbeitgeber_innen bei der Spezifizierung und der Durchführung von Schulungen von zentraler Bedeutung sind. Die Bereitstellung von Arbeitsvermittlungsdiensten und aktiven Maßnahmen, beispielsweise mittels Berufsberatung, und die Unterstützung bei der Wahl der Ausbildungsoptionen begünstigen Yo-Yo Übergänge. Diese umfassende Unterstützung und Bereitstellung von Maßnahmen von Seiten des Staates werden in diesen Ländern als etwas ›Normales‹, als das Recht von (jungen) Menschen gesehen. c) Liberal transition regimes sind vorrangig die angelsächsischen Länder (in Europa das Vereinigte Königreich und weniger akzentuiert Irland). In den meisten Teilen des Vereinigten Königreichs ist der Schulunterricht bis zum Alter von 16 Jahren weitgehend gesamtschulisch organisiert, während in Irland differenzierte schulische Möglichkeiten bestehen. Der Arbeitsmarkt zeichnet sich durch ein hohes Maß an Flexibilität aus, während das Qualifikationsniveau der Arbeitskräfte eher gering ist. Im Kontext des liberal transition regimes ergeben sich Yo-Yo-Übergänge aus der Flexibilität von Bildung und der Beschäftigung sowie aus den Risiken bei Übergängen. Generell schätzen junge Menschen die angebotene Unterstützung als ambivalent ein, da sie oft mit stigmatisierenden Erfahrungen verbunden ist. d) Zum sub-protective transition regime werden südeuropäische Länder wie Italien, Spanien und Portugal gezählt. Der niedrige Prozentsatz der Standardarbeitsregelungen und die hohe Rate ungeschützter Lebensbedingun4 Fruchtbare Erkenntnisse zu diesem Punkt stammen aus den anderen Kapiteln des Buches, in denen sie eingehend analysiert werden (vgl. Kapitel 5 über Bildungsansprüche, Kapitel 6 über die Familie als Ressource, Kapitel 7 über die Funktion der Berufspraktischen Tage, Kapitel 8 über biografisch bedeutsame Ereignisse, Kapitel 9 über kritische Momente, Kapitel 10 über Strategien im Umgang mit elterlicher Trennung und Kapitel 11 über Anerkennungserfahrungen).

59.0

77.8

85.4

Total (20–64) ISCED 0–22

Total (20–64) ISCED 3–42

Total (20–64) ISCED 5–82

3.9

Langzeit (15–29)4

12.1

16.9

NEETs (15–24)1

Schulabbrecher _innen5

Bildungsrate

26.3

Jugendliche (15–24)3

Arbeitslosenrate

52.0

2008

10.6

10.3

4.2

19.2

85.1

78.1

63.6

50.7

2017

12.8

4.3

0.4

12.9

88.4

81.7

62.5

66.4

2008

8.8

7.0

1.1

13.3

85.4

78.9

60.2

56.3

2017

10.2

7.4

1.3

11.9

83.5

76.1

52.0

54.4

2008

7.4

6.5

1.4

10.5

84.8

75.7

53.9

50.6

2017

Österreich

Dänemark

England

Jugendliche (15–24)

Beschäftigungsrate

Wohlfahrtsstaaten

ChristlichDemokratisch

SozialDemokratisch

Liberal

19.6

16.6

7.5

40.0

78.5

69.2

52.1

24.2

2008

14.0

20.0

14.2

51.8

78.2

65.4

51.0

17.1

2017

Italien

Rudimentär

5.0

9.0

3.3

27.3

83.7

69.9

42.3

27.3

2008

5.0

9.5

2.2

22.5

86.8

74.9

40.8

29.6

2017

Polen

Postsozialistisch

14.7

10.9

3.9

24.0

83.8

71.7

56.4

37.4

2008

10.6

10.9

4.2

20.1

84.0

72.6

54.9

34.7

2017

EU-28

Tabelle 1: Wohlfahrtssysteme in Europa. Indikatoren für soziodemographische, sozioökonomische und soziale Ausgaben für ausgewählte europäische Länder, 2008–2017

44 Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

44.4

28.7

ISCED 3–41

Hochschulabschluss7

474

Sozialausgaben9

543

0.01

38.8

41.2

6.7

73

0.35

26.3

40.8

5.6

2008

83

0.53

32.4

41.2

5.1

2017

80

0.36

15.0

60.4

4.4

2008

95

0.45

29.7

51.0

4.0

2017

430

0.22

12.7

39.5

4.7

2008

470

0.17

16.5

42.6

4.7

2017

Italien

Rudimentär

60

0.09

16.5

63.8

4.2

2008

88

0.01

26.3

59.8

3.8

2017

Polen

Postsozialistisch

3399

n.a.

21.2

46.6

n.a.

2008

3912

n.a.

27.9

46.1

n.a.

2017

EU-28

n.a. = nicht angeführt 1 Quelle: Eurostat (2019). 2 Quelle: Eurostat (2018). 3 Erstes Jahr : 2009. Quelle: Eurostat (2018). 4 Erstes Jahr : 2009. Quelle: Eurostat (2019). 5 Early leavers from education and training, age group 18–24 in %. Quelle: Eurostat (2019). 6 Erstes Jahr : 2013. Letztes Jahr : 2017, for UK and Italy : 2016. Quelle: Eurostat (2019). 7 Population by educational attainment level (Tertiary education [ISCED 5–8]), sex and age in %. Quelle: Eurostat (2019). 8 Annual public expenditure for Training as a percentage of GDP in %. Letztes Jahr : 2016, Italien 2015. Quelle: OECD Statistics (2019). 9 Letztes Jahr : 2016. Ca. Mio. in Euro. Quelle: Eurostat (2019).

0.03

ALMP %8

Ausgaben

6.4

2017

Österreich

Dänemark

England

2008

ChristlichDemokratisch

SozialDemokratisch

Liberal

Schüler_innen in Sekundarstufe II6

Wohlfahrtsstaaten

(Fortsetzung)

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

45

46

Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

gen haben zu einem »dualistischen« Wohlfahrtssystem geführt, bei dem Familie und informelle Arbeit eine wichtige Schutzrolle spielen. Die Schule ist bis zum Ende der Schulpflicht gesamtschulisch organisiert. Die Berufsausbildung ist schwach entwickelt, wird größtenteils von den Berufsschulen angeboten, und die Beteiligung von Unternehmen ist sehr gering. Die Arbeitsmarktsegmentierung trägt zu einer hohen Jugendarbeitslosigkeit bei. Yo-Yo-Übergänge entwickeln sich in einem sozialen Vakuum von widersprüchlichen Werten, die stark vom Ausmaß der Familienunterstützung abhängen. Jugendliche berichten, dass sie fast keine staatliche Unterstützung bekommen. e) Postsozialistische Länder werden nicht als Teil eines gemeinsamen Regimes verstanden, da sie aufgrund der Dynamik der Transformation große Unterschiede zwischen den betrachteten Dimensionen aufweisen.

2.3.4. Überblick verschiedener Typologien Im Folgenden werden die vorgestellten Typologien und Dimensionen, welche die individuelle opportunity structure formen und besonders die jungen Menschen in Übergangssituationen beeinflussen, zusammengefasst dargestellt. Sie weisen auf die unterschiedlichen Regulierungsstrukturen der Bildungsinstitutionen und Arbeitsmärkte hin. Des Weiteren zeigen sie verschiedene Konfigurationen und Koordinationsprobleme zwischen Akteur_innen auf, die an der skill formation beteiligt sind. Tabelle 2 zeigt Komplementaritäten zwischen den Übergängen und dem Wohlfahrtsstaat sowie unterschiedliche kulturelle Muster und die Handlungsmacht von Jugendlichen. Diese Dimensionen interagieren und bilden spezifische opportunity structures, innerhalb derer die Auswahl und das Handeln junger Menschen im Übergang Gestalt annehmen. Tabelle 2: Überblick über Typologien bei Übergängen von Schule zu Schule bzw. zu Beruf Typologie Dimensionen Bildungssysteme - Standardisierung und - Stratifizierung Arbeitsmarkt(Tracking) folgen

Übergangsregimetypen - Enge Verbindung (AT) - Lockere Verbindung - Zwischenpositionen

Struktur der Arbeitsmärkte

- Occupational labour Hannan markets (AT) et al. - Internal labour markets (1996); Müller und Shavit (1998)

- Arbeitsmarktvorschriften - Unternehmensverfahren

Referenzen Allmendinger (1989)

47

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

(Fortsetzung) Typologie

Dimensionen

Übergangsregimetypen

Referenzen

Skill formation systems

- Grad der Firmenbeteiligung in Ausund Weiterbildung - Öffentliches Engagement in Aus- und Weiterbildung

-

Collective Regime (AT) Liberal regime Segmentalist regime Statist regime

Busemeyer und Trampusch (2012)

Wohlfahrtsregime und die Übergänge

-

-

Skandinavien Continental (AT) Anglo-Saxon South European Former socialist countries

Vogel (2002); Pastore (2015)

Lebensverlaufsregimes

- Struktur der Fürsorge, des Arbeitsmarkts und des Bildungssystems - Fokussierung auf Maßnahmen des Übergangs - Konzepte von Jugend(lichen) - Übergangserfahrungen

Arbeitsmarkt Wohlfahrtsstaat Familienordnung Indikatoren zum Übergang von der Schule ins Erwerbleben (Bewältigungsstrategien)

- Universalistic transition regime - Liberal transition regime - Employmentcentered transition regime (AT) - Subprotective transition regime

Walther (2006; 2017)

Quelle: Eigene Ausarbeitung

2.4. Was kennzeichnet das österreichische Bildungssystem? Das österreichische Bildungssystem ist weitgehend standardisiert und stratifiziert. So erfolgt die erste Selektion bereits im Alter von 10 Jahren am Ende der Primarstufe. Die zweite Selektion findet am Ende der Pflichtschulzeit statt, die in Österreich neun Jahre beträgt (vom 6. bis zum 15. Lebensjahr, erste bis neunte Klasse). Die zweite Selektion ist wesentlich bedeutsamer im Lebensverlauf von Jugendlichen, weil sie in der Phase »Übergang in weiterführende Schulen bzw. in die Erwerbsarbeit« stattfindet. Diese Übergänge werden im Folgenden näher dargestellt.

2.4.1. Bildungswege nach der Primarstufe Im vierten Schuljahr der Primarstufe müssen sich Schüler_innen und Eltern entscheiden, welchen Bildungsweg die Schüler_innen gehen. Eltern können ihre Kinder für die kommenden vier Jahre (Sekundarstufe I) entweder in eine all-

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Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

gemeinbildende höhere Schule (AHS-Unterstufe) oder in eine NMS einschreiben. Eine Grundvoraussetzung, damit ein_e Schüler_in keine Aufnahmeprüfung für die AHS-Unterstufe machen muss und sich einfach einschreiben kann, sind sehr gute Noten in Deutsch und in Mathematik der vierten Klasse Volksschule. Sollte dies nicht der Fall sein, müssen die Schüler_innen die NMS besuchen. Während das Ziel der AHS-Unterstufe die Vermittlung einer umfassenden und vertieften Allgemeinbildung ist (und den ersten Teil auf dem Weg zur AHSOberstufe mit Matura darstellt), ist die Aufgabe der NMS, die Schüler_innen je nach Interesse, Neigung und Fähigkeit für den Übertritt in eine weiterführende mittlere oder höhere Schule zu befähigen sowie auf das Berufsleben vorzubereiten (Bildungsministerium 2018). Historisch betrachtet ist die NMS die Nachfolge der ehemaligen Hauptschule (HS, siehe 3.3.).

2.4.2. Bildungswege nach der Sekundarstufe I Das neunte Schuljahr kann an einer Polytechnischen Schule (PTS) absolviert werden, welche die Orientierung und Vorbereitung auf eine Lehre und Berufsausbildung forciert. In Österreich kann die Lehrlingsausbildung auf zwei verschiedene Arten stattfinden: betrieblich oder/und schulisch. Das Charakteristische an der Lehrlingsausbildung in Österreich ist die »duale Berufsausbildung«, die auch als »duales System« bezeichnet wird (Lassnigg 2011). Hierbei wird die betriebliche praktische Ausbildung der Lehrlinge durch den obligatorischen Besuch einer Berufsschule ergänzt, in der das theoretische Fundament der Ausbildung gelehrt wird. Das österreichische Bildungssystem bietet aber auch andere weiterführende Schulen in der Sekundarstufe II an: die allgemeinbildende höhere Schule/AHS-Oberstufe, die berufsbildende mittlere Schule/ BMS (z. B. Handelsschule/HAS) oder berufsbildende höhere Schulen/BHS (z. B. Handelsakademie/HAK oder höhere technische Lehranstalt/HTL). Die Unterschiede zwischen den Schultypen liegen in der Länge der Ausbildung, der Studienberechtigung und der unterschiedlichen Ausrichtung der Curricula: In der AHS-Oberstufe werden den Schüler_innen verstärkt vertiefende Kenntnisse in Allgemeinbildung, in Sprachen und Naturwissenschaften beigebracht; es wird jedoch keine Berufsausbildung angeboten. Sie führt zur Matura, d. h. der Studienberechtigung für Universitäten und Fachhochschulen. BMS und BHS sind Schulen, die Allgemeinbildung mit Berufsvorbereitung verbinden. In der BMS werden den Schüler_innen fachliche Kenntnisse vermittelt, die sie unmittelbar zur Ausübung eines Berufs qualifizieren. Der Schulbesuch dauert zumeist drei Jahre. BHS bieten hingegen eine höhere allgemeine und berufliche Ausbildung an, die es den Schüler_innen ermöglicht, einen höheren Beruf auszuüben. Sie dauern fünf Schuljahre und führen zur Matura. Der Zugang zu allen Schultypen

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

49

der Sekundarstufe II (AHS-Oberstufe, BMS, BHS) wird auf der Grundlage der Noten des Abschlusszeugnisses der Sekundarstufe I (Abschlusszeugnis der AHS-Unterstufe oder der NMS) geregelt. Wer diese sehr guten Noten (AHS; BHS) oder guten Noten (BMS) nicht erreicht hat, muss eine Aufnahmeprüfung machen oder die Polytechnische Schule besuchen. Im aktuellen Nationalen Bildungsbericht (2019) weisen Oberwimmer et al. darauf hin, dass 44 % der NMS- bzw. HS- Schüler_innen in eine AHS-Oberstufe (9 %) oder in eine BHS (35 %) wechseln. In eine BMS wechseln 18 % der ehemaligen HS- oder NMS Schüler_innen. Das österreichische Bildungssystem wird daher aufgrund der ausdifferenzierten Möglichkeiten in der Sekundarstufe II im Vergleich zu anderen Bildungssystemen als flexibler angesehen (siehe auch 2.1., vgl. Nuche et al. 2016). In Abbildung 1 werden die verschiedenen Ausbildungsstufen, Schultypen und mögliche Schullaufbahnen zusammenfassend dargestellt. Diese verschiedenen Schultypen und Übergangsregelungen verweisen darauf hin, dass die formale Bildung vergleichsweise eng mit dem Arbeitsmarkt verknüpft ist. Der Schwerpunkt des österreichischen Bildungssystems liegt auf dem Erlernen von Fähigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt benötigt werden. In bildungswissenschaftlichen Debatten (Steiner 2016; OECD 2017; Oberwimmer et al. 2019) wird beschrieben, dass im österreichischen Bildungssystem aufgrund seiner selektiven Struktur die Barrieren für Kinder aus bildungsbenachteiligten Schichten vergleichsweise hoch und ihre soziale Mobilität gering ist. Weiters zeigen internationale Vergleiche (vgl. Abschnitte 2.1. bis 2.3.), dass die soziale Ungleichheit und die Bildungschancen in Österreich aufgrund dieser stratifizierten Struktur des Bildungssystems stärker ist als in anderen Ländern ausfallen (Eder et al. 2015; OECD 2017). Die Bildungskarrieren werden unter anderem aufgrund bestimmter Bildungswege vorherbestimmt. Zwei Faktoren, die dabei eine Rolle spielen, sind der sozioökonomische Hintergrund (insbesondere der formale Bildungsabschluss) und der soziale Status der Eltern (siehe Kapitel 4 und 5), die im Vergleich zu anderen Ländern (z. B. den nordischen Ländern) einen stärkeren Einfluss haben (OECD 2018). Weiters verstärkt die frühe Selektion die soziale Ungleichheit, obwohl das Bildungsniveau der Bevölkerung in den letzten Jahrzehnten insgesamt gestiegen ist. Die frühe Selektion hat einen starken Einfluss auf das Lernen und die Leistung der Schüler_innen, wie im »Statistics Brief: Vererbung von Bildungschancen« (Statistik Austria 2018) dargestellt. Im österreichischen System wird jedoch versucht, mit einer aktiven Arbeitsmarktpolitik (z. B. überbetriebliche Lehre und verpflichtende Ausbildung bis zum Alter von 18 Jahren) die schwächsten Gruppen (vgl. Lassnigg 2011) von Jugendlichen zu erreichen. Die hier beschriebenen Merkmale bilden die Grundlage für die Entscheidungen junger Menschen, auf die in anderen Kapiteln des Buches (siehe Kapi-

6

1 7

2 12

7 13

8

Abbildung 1: Bildungssystem Österreich Quelle: www.bildungssystem.at, OeAD-GmbH / Euroguidance Österreich 14

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Inklusive Bildung

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Semester

2

Berufliche Erstqualifikation

WEITERBILDUNG AUF MASTER-EBENE

3

4

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6

7

Universität

Fachhochschule

Pädagogische Hochschule

Lehrgänge anUniversitäten, Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen

Kolleg Tages- / Abendform (4 bzw. 6 Semester)

Werkmeister-, Bauhandwerkerund Meisterschule

Aufbaulehrgang (4 bzw. 6 Semester)

Schule für Berufstätige (6 bzw. 8 Semester)

1

Postsekundar- und Tertiärstufe

Allgemeiner Hochschulzugang

Erwachsenenbildung /Weiterbildung allgemein, beruflich, kulturell, politisch, wissenschaftlich

Zweiter Bildungsweg

Ausbildungen fürGesundheitsberufe

Gesundheits- und Krankenpflegeschule

Allgemein bildende höhere Schule (AHS), Oberstufe

BHS Berufsbildende höhere Schule

BMS Berufsbildende mittlere Schule

Berufsschule PTS2 und Lehre (DualeAusbildung)

BVJ1 Integrative Berufsausbildung

9

Sekundarstufe II

a Zulassung zu weiterführenden Studien nach Entscheid im Einzelfall

Allgemein bildende höhere Schule (AHS), Unterstufe

Neue Mittelschule (NMS)

11

6

Bachelor Höhere Berufsqualifikation

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Berufsvorbereitungsjahr Polytechnische Schule

a

10

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Dr. / PhD ISCED =International Standard Classification of Education 2011

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1

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Mag. / Dipl.-Ing. / MA

Lehrabschlussprüfung (LAP) Diplomprüfung Abschlussprüfung Reifeprüfung Reife-u. Diplomprüfung

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Sekundarstufe I

STUDIENBERECHTIGUNGSPRÜFUNG

Legende des Bildungssystems

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BERUFSREIFEPRÜFUNG

Allgemeine Schulpflicht

Volksschule

Vorschule

Kindergarten

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3

Primarstufe

Sonderpädagogik / Inklusive Bildung

Alter

Schulstufe

50 Yuri Kazepov / Ruggero Cefalo / Ralph Chan

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

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tel 5, 6 und 7) eingegangen wird. Die allgemeinen Charakteristika, die in den vorangegangenen Abschnitten vorgestellt wurden, durchlaufen derzeit bedeutende Veränderungen, welche die opportunity structures der Jugendlichen beeinflussen und den Übergang von Pflichtschule zu weiterführenden Schulen bzw. ins Erwerbsleben in den critical junctures formen. Im Folgenden konzentrieren wir uns auf die jüngsten bildungspolitischen Veränderungen und die charakteristischen institutionellen Merkmale des österreichischen Übergangsregimes.

2.5. Rezente Reformen des österreichischen Bildungssystems: Die NMS und das Ausbildungspflichtgesetz Der Schultyp der NMS wurde im September 2012 in das österreichische Bildungssystem eingeführt und ersetzt seit 2015 die frühere Hauptschule (HS).5 Man verfolgte mit der Einführung NMS die Idee, allen Schüler_innen gleiche Chancen beim Zugang zu guter Bildung (z. B. auch hinsichtlich interdisziplinärer Fähigkeiten) zu bieten. Eine der Neuerungen der NMS im Vergleich zur HS war die Förderung des autonomen, individuellen Lernens, indem die Schüler_innen ihren eigenen Lernprozess steuern und gestalten können. Der Unterricht soll an die individuellen Stärken und Schwächen der Schüler_innen in Bezug auf die Unterrichts- und Lerngeschwindigkeit angepasst werden. Mit einem stärkeren Fokus auf Bildungs- und Berufsorientierung sollten die Schüler_innen bereit sein, am Ende der NMS eine Entscheidung über ihre berufliche Zukunft aufgrund ihrer individuellen Talente zu treffen. Ein weiterer Unterschied zur früheren HS besteht darin, dass in den NMS alle Schüler_innen in den Hauptfächern (Deutsch, Englisch und Mathematik) gemeinsam unterrichtet werden, d. h., die Schüler_innen sind nicht mehr in verschiedene Leistungsgruppen6 unterteilt. Konzepte der inklusiven Pädagogik – wie heterogene Mehrstufenklassen oder Teamunterricht – werden angewandt, d. h., zwei Lehrer_innen unterrichten in 5 »Kooperative Mittelschule« (KMS) war ein anderer Schultyp vor der NMS, der ein sehr ähnliches Ziel hatte und bei dem versucht wurde, AHS und Hauptschule/HS besser miteinander zu verknüpfen, beispielsweise durch eine stärkere Zusammenarbeit der Lehrer_innen beider Schulformen, kleinere Klassen usw. Die KMS beschränkte sich jedoch auf jene Schulstandorte, die dies umsetzen wollten, d. h., sie war nicht umfassend (und wurde vor einigen Jahren eingestellt). 6 In der HS wurden die Schüler_innen während ihrer Schulzeit in allen Hauptfächern ihren Noten entsprechend in eine der drei Leistungsgruppen aufgeteilt. Die erste kann als die beste Leistungsgruppe betrachtet werden (d. h. 1. L.-Gr. ! »höchste« Anforderung an Schüler_innen, 3. L.-Gr. ! »niedrigste« Anforderung an Schüler_innen). Wenn die Klassenstufe eines Schülers oder einer Schülerin während des Schuljahres einen bestimmten Orientierungswert (Notengrad) über- oder unterschritt, wurde er/sie je nach seinen oder ihren Leistungen höher oder niedriger eingestuft.

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den Hauptfächern gemeinsam in der Klasse. Es bestehen aber regionale Unterschiede. Den neuesten Ergebnissen des aktuellen nationalen Bildungsberichts (2019) nach unterscheidet sich Wien hinsichtlich der Schulstruktur und der Charakteristika (d. h. Zusammensetzung der Schüler_innenpopulation) von anderen Regionen und Bundesländern Österreichs. Während Wien eine voll ausgebaute Schulstruktur (breites Angebot von AHS und NMS Schulen) hat, zeichnet sich in ländlichen Gegenden ein anderes Bild. Den Ergebnissen nach findet sich außerhalb Wiens für 43 % der Schüler_innen in ihrer Wohngemeinde keine AHS. Bei der Verteilung der Schüler_innen kann man ebenso markante Unterschiede feststellen. In Wien ist der Anteil der Schüler_innen, die eine AHSUnterstufe besuchen, mit 50 % mit Abstand am höchsten; der österreichische Durchschnitt liegt bei ca. 35 %. Die Jugendlichen in den anderen Bundesländern besuchen in der Sekundarstufe II eher eine NMS. Weitere Informationen hinsichtlich der sozio-demographischen Zusammensetzung der Schüler_innen der NMS werden in Kapitel 4 erläutert. In Wien wurde zudem im Jahr 2009 der Schulversuch der sogenannten »Wiener Mittelschule (WMS)«7 gestartet. Die Idee der WMS war es, die Stärken der NMS und der AHS zu vereinen (Strobl 2019). Das betrifft aber nur wenige Standorte: Laut dem aktuellen Wiener Schulführer (Bildungsdirektion Wien 2019) gibt es in Wien 19 WMS und im Vergleich 122 NMS. Zwei wesentliche Charakteristika der WMS sind der ganztägige Unterricht und die individuelle Förderung mittels verschiedener institutioneller Hilfeleistungen durch ein Unterstützungssystem von zusätzlichen Expert_innen (z. B. Berufsberater_innen, Sonderpädagog_innen, Sozialarbeiter_innen usw.). Kritische Stimmen8 behaupten, dass sowohl die »neue« NMS als auch die WMS tatsächlich das Gleiche sei wie die »alte« HS. Die bestehenden Ungleichheiten bleiben gleich oder hätten sich sogar noch verstärkt. Der Bericht von Eder et al. (2015) zeigt, dass die Änderung von HS auf NMS keine relative Verbesserung der Situation von Schüler_innen mit niedrigem sozioökonomischen Hintergrund gebracht hat. Im Vergleich zu den Zahlen aus der Zeit der HS wechselten von NMS nur 1,7 % mehr Schüler_innen nach der 8. Schulstufe in eine AHS-Oberstufe. Dies bedeutet, dass kein wesentlicher Beitrag zur Verringerung der Ungleichheiten in den NMS identifiziert werden kann (ebd.).

7 Ihr Ziel ist es, eine optimale individuelle und leistungsorientierte Unterstützung durch verschiedene Kurse zu ermöglichen, die nicht im Lehrplan enthalten sind (z. B. Einsatz von Native Speakers für Sprachkurse, Wahlkurse und Arbeiten mit Europass), ergänzt durch Schulungen (d. h. obligatorische Ausbildungskurse), die im Normalunterricht integriert sind. Die WMS kann sowohl an NMS- als auch an AHS-Standorten ausgeführt werden. 8 Bayrhammer (2012) und Neuhauser (2015) sowie verschiedene kritische Medienberichte aus den österreichischen Zeitungen »Der Standard« (2015) oder »Die Presse« (2016).

Die verschiedenen Wege nach der Pflichtschule. Österreich im Vergleich

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Eine kürzlich durchgeführte Reform war die Einführung der Ausbildungspflicht bis zum Alter von 18 Jahren (Ausbildungspflichtgesetz9). Seit Mitte 2017 müssen Erziehungsberechtigte dafür Sorge tragen, dass Jugendliche nach Abschluss der Pflichtschulzeit eine Aus- oder Schulbildung abschließen. Dies gilt bis zum Abschluss einer mindestens zweijährigen Ausbildung oder dem Erreichen des 18. Lebensjahres. Dieses Gesetz bietet einen normativen Rahmen, um die Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für alle Jugendlichen in der Übergangsphase zu verbessern und ihnen die verschiedenen möglichen Wege offenzulegen, z. B. Weiterbildung, Berufsausbildung, vorbereitende Maßnahmen für den Abschluss von Weiterbildungsmaßnahmen, Arbeitsmarktprogramme.

2.6. Schlussfolgerung Junge Menschen im Übergang bauen ihre Biografien auf, indem sie individuelle Entscheidungen innerhalb jenes Rahmens treffen, der von institutionalisierten Strukturen vorgegeben wird. Durch die Interaktion zwischen Struktur und Handlung entstehen opportunity structures, die kontextspezifisch sind und je nach Ort und Zeitrahmen variieren. In diesem Kapitel wurden einige relevante Dimensionen identifiziert, indem auf unterschiedliche Typologien von Übergangsregimes Bezug genommen wurde. Wir haben Österreich in diese Typologien eingebettet und die nationalen Besonderheiten bei Übergängen von der Pflichtschule zu weiterführenden Schulen bzw. ins Erwerbsleben herausgearbeitet. Auf diese Weise tragen wir dazu bei, die kontextabhängigen Rahmenbedingungen zu verstehen und zu erklären, innerhalb derer junge Menschen ihre Wege in die Zukunft entwickeln. Anders formuliert: Die individuellen opportunity structures entstehen durch die Interaktion zwischen den verschiedenen Dimensionen, welche die Zukunftsvisionen, die Erwartungen und die Vorstellungen von jungen Menschen prägen und formen. Das österreichische Bildungssystem charakterisiert sich durch eine enge Verzahnung mit dem Arbeitsmarkt. Erworbene Ausbildungszeugnisse und Qualifikationen spielen dabei eine wichtige Rolle und erleichtern den Übergang zur Beschäftigung. Die Bildungswege sind standardisiert und differenziert, da die Schüler_innen schon früh in verschiedene Schulen selektiert werden. Dies führt zu einem hohen matching mit dem Arbeitsmarkt und niedrigen Jugendarbeitslosigkeitsraten. Gleichzeitig werden dadurch aber auch Ungleichheiten reproduziert, da die Tracks durch wenig Flexibilität gekennzeichnet sind. In anderen Ländern führt dies dazu, dass die Chancen für junge Menschen im 9 https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen& Gesetzesnum mer=20009604.

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Übergang behindert werden, beispielsweise beim Zugang zur Hochschulbildung. In diesem Punkt ist Österreich flexibler als andere Länder und setzt bei der Erstellung von Zertifikaten und Kompetenzen stark auf die berufliche Bildung. Dies ist vor allem auf die vielfältigen Möglichkeiten in der Sekundarstufe II zurückzuführen: Jugendliche können sich für eine Berufsausbildung entscheiden, indem sie eine Lehre oder schulbasierte Kurse in einer BMS machen. Außerdem besteht die Möglichkeit, eine weiterführende höhere Schule (AHSOberstufe, BHS) zu besuchen. In der Sekundarstufe I weist das Bildungssystem jedoch traditionell eine hohe Selektivität auf. In den NMS und der WMS wurden, um der frühen Selektion entgegenzusteuern, De-Tracking-Elemente eingeführt. Pädagogische Konzepte – wie Einführung einer neuen Lernkultur – wurden umgesetzt, um auf individuelle Bedürfnisse der Schüler_innen einzugehen. Der Lehrplan wurde geändert, wodurch die Potenziale und Talente der Schüler_innen stärker in den Mittelpunkt gerückt wurden. Die Änderungen waren jedoch wenig erfolgreich. Soziale Ungleichheiten werden weiterhin reproduziert. Bis heute hängen die soziale Mobilität und die Bildungschancen junger Menschen von ihrem sozialen Hintergrund ab (Oberwimmer et al. 2019). Bildungspolitische Änderungen nehmen aber Einfluss auf die Wahrnehmungen, Entscheidungen und Biografien von Jugendlichen in den Übergängen und machen sie daher zu einem relevanten Thema für soziologische Untersuchungen.

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

3.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

In der Studie »Wege in die Zukunft« werden Jugendliche aus Wien über fünf Jahre begleitet. Die erste Erhebungswelle sowohl des qualitativen wie auch des quantitativen Längsschnittes wurde in NMS-Abschlussklassen in Wien durchgeführt. In der ersten Erhebungswelle waren die befragten Jugendlichen aufgrund unterschiedlicher Schul-, Lebens- und Migrationsgeschichten zwischen 13 und 16 Jahre alt. Sie standen zum Zeitpunkt der Erstbefragung unmittelbar vor der Entscheidung: Welchen Weg sollen/können/werden sie nach der NMS gehen? Das Längsschnittdesign ermöglicht viel unmittelbarer als retrospektive Befragungen, zu erfassen, wie sich das Leben der Jugendlichen in dieser wichtigen Lebensphase entfaltet und wie sie dieses in mehreren, aufeinanderfolgenden Momenten aktiv gestalten und verändern. In diesem Kapitel stellen wir die methodische Grundlegung der ersten Welle des Projekts vor, vom Gesamtdesign über die Zielgruppe hin zu den Datenerhebungen im qualitativen und quantitativen Strang.

3.1. Mixed-Methods-Design Für die Datenerhebung wurde ein komplexes Mixed Methods-Design konzipiert, bei dem sich qualitative und quantitative Stränge aufeinander beziehen und sich gegenseitig informieren (siehe Abbildung 1). Durch das sequentielle Design können aus unterschiedlichen methodischen Zugängen Erkenntnisse gewonnen werden, die sowohl die Breite als auch die Tiefe der Erfahrungen von Jugendlichen zugänglich machen. Ziel der Methodenverschränkung ist nicht die gegenseitige Validierung, sondern vielmehr das Gewinnen komplementärer Informationen und Aussagen. Die Forschungsfragen sind so komplex, dass nur die Kombination qualitativer und quantitativer Methoden eine entsprechend holistische Perspektive ermöglicht (expansion). Unterschiedliche Verfahren können gegenseitig Schwachstellen ausgleichen und blinde Flecken erhellen (com-

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

plementarity) (Greene et al. 1989). Durch die sequentielle Aufeinanderfolge der Methoden dienen außerdem die Ergebnisse aus einem Strang der Entwicklung oder Schärfung von Fragen im je anderen (development).

2016 2017

1. Welle: Übergang nach NMS

2018

2. Welle: Familie

1. Welle: Übergang nach NMS

2019

3. Welle: Stadt

2. Welle: Familie

2020

4. Welle

2021

5. Welle: Ungleichheit

2022

e Orie

erungen

3. Welle: Stadt 4. Welle

e Orie

erungen

5. Welle: Ungleichheit

Abbildung 1: Schematische Darstellung des Mixed-Methods-Designs Quelle: Eigene Ausarbeitung

Im Frühling 2016 startete das Projekt mit einer explorativen Pilot-Phase: Im Rahmen eines Forschungsseminars am Institut für Soziologie der Universität Wien wurden 21 narrativ-biographische Interviews in einer 4. Klasse einer NMS im 10. Wiener Gemeindebezirk durchgeführt und ausgewertet.1 Daran anschließend wurde im Herbst 2016 die erste qualitative Erhebungswelle des Panels mit Schulspaziergängen, Beobachtungen und 107 qualitativen Interviews umgesetzt. Rund ein Jahr später, Anfang des Jahres 2018, fand die erste quantitative Erhebungswelle mit einer standardisierten Online-Befragung mit knapp 3.000 Schüler_innen der 8. Schulstufe NMS statt. Damit baut das qualitative Panel2 auf die 8. Schulstufe an NMS in Wien im Schuljahr 2016/17 auf, das quantitative Panel3 auf die 8. Schulstufe im Schuljahr 2017/18. Prinzipiell finden in beiden Strängen des Panels die Hauptbefragungen jeweils in jährlichem Abstand statt. In diesem Sammelband werden Ergebnisse der jeweils ersten Welle vorgestellt, also zwei Querschnittsuntersuchungen, die in den folgenden Jahren als 1 Pohn-Lauggas, Maria (2016): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien. Qualitatives Panel, Pilotstudie. Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 2 Flecker, Jörg, Jesser, Andrea und Wöhrer, Veronika (2016/2017): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien, Qualitatives Panel, Wave 1, Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien. 3 Flecker, Jörg, Vogl, Susanne und Astleithner, Franz (2018): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien, Quantitatives Panel, Wave 1, Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

61

Basis für den Längsschnitt dienen. Die Konzeption und Planung der beiden ersten Wellen wurden jeweils von zwei bis drei Wissenschaftler_innen aus der Steuerungsgruppe übernommen und in enger Kooperation mit der gesamten Steuerungsgruppe betrieben. Die praktische Gestaltung der Datenerhebung war mit Lehrveranstaltungen am Institut für Soziologie verknüpft. Bei der Durchführung waren somit neben den Wissenschaftler_innen der Steuerungsgruppe auch Studierende beteiligt. Auf diese Weise trug das Projekt zu einer stärkeren Verschränkung von Forschung und Lehre bei und ermöglichte insbesondere Masterstudierenden der Soziologie Erfahrungen in der konkreten Forschungspraxis.

3.2. Die Zielgruppe 3.2.1. Jugendliche als Befragte Methoden der Sozialforschung – insbesondere Interviewformen – wurden für Erwachsene konzipiert (Kvale 2009; Vogl 2015a und 2015b) und können nicht in jedem Fall auch auf Jugendliche angewandt werden. Befragungen von Jugendlichen haben Ähnlichkeiten zu Befragungen von Erwachsenen, weisen aber auch Unterschiede auf. Manche Probleme sind größer (z. B. Sprachverständnis), andere reduziert (z. B. Reihenfolgeeffekte, vgl. Fuchs 2004) oder anders gelagert (z. B. soziale Erwünschtheit, vgl. Scott 2000). Durch eine defizitorientierte Perspektive, in der Jugendliche als »zukünftige Erwachsene« (adults-to-be) gesehen werden, können aber leicht Stärken übersehen und entsprechend nicht genutzt werden. Jugendliche sind eine besondere Zielgruppe, bei der es nicht nur entwicklungsbezogene Aspekte zu berücksichtigen gilt, sondern beispielsweise auch (fehlende) Erfahrung mit Befragungssituationen (in der Regel sind das für die Jugendlichen Prüfungssituationen) und die Stellung in der Hierarchie gesellschaftlicher Wissensbestände sowie das spezifische Generationen- und Autoritätsverhältnis zwischen erwachsenen Forscher_innen und jugendlichen Interviewten. Die Entwicklung einer eigenen Identität erfordert von Jugendlichen immer wieder die Abgrenzung von Erwachsenen. Auch deswegen kann eine Kommunikation »auf Augenhöhe« zwischen Jugendlichen und Forschenden besonders schwierig sein. »Mit Jugendlichen muss man richtig kommunizieren, sonst lassen sie einen stehen, wörtlich oder im übertragenen Sinn. Kommunikation mit Jugendlichen ist möglicherweise die lehrreichste, ehrlichste und dynamischste Kommunikation, die es gibt. Wer richtig mit Jugendlichen kommuniziert, ist beeindruckt von dem, was sie zu bieten hat« (Delfos 2007: 13).

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Zu beachten ist die Kontextabhängigkeit der Fähigkeiten von Jugendlichen. Kompetenzen entwickeln sich zunächst in vertrauten und wohl bekannten Themengebieten, erst später können die gleichen Fähigkeiten auf neue Bereiche oder in neuen Kontexten angewendet werden. Außerdem können die Fähigkeiten innerhalb einer Altersstufe stark schwanken, sodass individuelle Unterschiede teilweise in derselben Altersgruppe größer sein können als altersübergreifende Unterschiede (Vogl 2015a). Generell ist im Vergleich zu Erwachsenen eher von einer kürzeren Aufmerksamkeitsspanne und einem wörtlichen Sprachverständnis im Gegensatz zu eher unspezifischem Sprachgebrauch auszugehen. Aufgrund (sub-)kultureller Unterschiede kann auch eine Bedeutungsäquivalenz zwischen Jugendlichen und Erwachsenen nicht fraglos unterstellt werden (Vogl 2015b) und selbst profundes pretesting kann den Brückenschlag über die kulturellen Unterschiede nicht selbstverständlich schaffen (Fuhs 2000). Dadurch wird Anpassungsfähigkeit und Flexibilität in den Methoden und Techniken erforderlich. Die spezifische gesellschaftliche Position von Jugendlichen zusammen mit den Entwicklungsbedingungen erfordert ein angepasstes Vorgehen (Romer et al. 1997; Vogl 2013).

3.2.2. Ethische und rechtliche Aspekte Im Mittelpunkt sozialwissenschaftlicher Untersuchungen stehen Menschen; die erhobenen Daten beinhalten daher in vielen Fällen sensible Informationen über befragte Personen, aber auch über deren persönliches Umfeld. Schon im Rahmen der Primärerhebung ergeben sich oftmals Herausforderungen, wie mit der Vertraulichkeit, die den Befragten zugesichert wurde, am besten umzugehen ist. Die Situation verkompliziert sich, wenn es darum geht, Daten anderen Studierenden und Forschenden zur Verfügung zu stellen. Wir berücksichtigten dies mit zwei Maßnahmen: Wir pseudonymisierten alle Personen und Wohnadressen in Memos, Protokollen und Transkripten. Zu diesem Zweck wurden Listen mit Pseudonymen für die Schulklassen und Lehrpersonen sowie für jede_n Jugenliche_n und die von ihm_ihr genannten Personen erstellt, die über die Wellen hinweg weiterverwendet werden und so Kontinuität im Längsschnitt ermöglichen. Da es sich in den ersten Erhebungswellen um minderjährige Jugendliche handelte, war vor der Teilnahme die Einwilligung mindestens eines bzw. einer Erziehungsberechtigten notwendig. Daher wurden für Forschungsteilnehmer_innen und deren Erziehungsberechtigte Informationsblätter zu Forschungsinteressen, Forschungsdesign und Datenschutz und eine Einverständniserklärung aufgesetzt, um eine informierte Einwilligung zur Teilnahme am

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

63

Projekt bestmöglich sicherzustellen. Dabei wurde immer besonderer Wert darauf gelegt, Nachfragen zu ermutigen und Unklarheiten auszuräumen. Forschungsethisch ebenfalls relevant ist der Umgang mit belastenden Themen, die vor allem in den qualitativen Interviews auftauchen (können). Aus diesem Grund wurde im Rahmen der Lehrveranstaltungen, im Zuge derer die qualitative Erhebungswelle durchgeführt wurde, besonderer Wert darauf gelegt, genug Zeit für Reflexionsprozesse einzuplanen, in denen solche Themen angesprochen werden konnten. Zusätzlich gab es nach den Interviews eine externe Forschungssupervision, in der die Interviews nachbesprochen wurden. Außerdem wurden alle beteiligten Interviewer_innen für heikle Themen sensibilisiert und hatten bei den Interviews verschiedene Prospekte von Beratungseinrichtungen dabei, die bei Bedarf an die Jugendlichen weitergegeben werden konnten. Im quantitativen Panel stellte sich die Situation etwas anders dar. Einerseits gingen die standardisierten Fragen nicht derart in die Tiefe und waren weniger persönlich als in qualitativen Interviews, andererseits gab es auch keine Interviewer_innen, sondern nur die selbstreflexive Auseinandersetzung der Jugendlichen mit den Fragen und Antwortmöglichkeiten. Schließlich galt es auch mitzudenken, dass das Projekt auf das Leben der Interviewten wirken kann, sei es, dass Berührungspunkte zum universitären Kontext hergestellt wurden, die Bildungsvorstellungen beeinflussen können, oder dass die Jugendlichen durch Folgeinterviews in die Situation gebracht werden, sich mit ihrem Leben reflexiv auseinanderzusetzen, was insbesondere bei schwierigen biographischen Verläufen heikel sein kann. In Anbetracht dieser Befunde werden im Zuge der Erhebung kontinuierlich (potentiell) forschungsethisch relevante Themen reflektiert und der Umgang damit diskutiert und abgewogen.

3.3. Das qualitative Panel 3.3.1. Datenerhebungen in der ersten Welle Durch den qualitativen Zugang sind wir in der Lage, uns an individuell bedeutsamen Momenten und Wendepunkten im Leben der befragten Jugendlichen zu orientieren und ihren subjektiven Sinnzuschreibungen Raum zu geben. Die Datenerhebung erfolgte in Zusammenarbeit mit fünf NMS aus dem 6., 10., 16., 20. und 22. Wiener Gemeindebezirk. Bei der Auswahl der Schulen verfolgten wir einen »most different cases«-Ansatz, bei dem sich die fünf beteiligten Schulen in Bezug auf die sozioökonomischen Merkmale der Schüler_innen bzw. deren Eltern möglichst unterschieden. Die konkrete Schulaus-

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

wahl wurde in Absprache mit dem Stadtschulrat für Wien (SSR)4 getroffen. In einem nächsten Schritt wurde in jeder Schule von den Direktor_innen eine vierte Klasse ausgewählt. Die Datenerhebung startete mit Schulspaziergängen und wurde durch teilnehmende Beobachtungen des Unterrichts ergänzt. Den Kern der qualitativen Erhebung der ersten Welle bildeten Interviews mit 107 Jugendlichen aus den vierten Klassen der NMS im Februar und März 2017.

3.3.2. Schulspaziergänge Im Oktober 2016 wurde das Projekt von Mitgliedern der Steuerungsgruppe und an der Untersuchung beteiligten Master-Studierenden in den beteiligten fünf Schulklassen vorgestellt. Anschließend wurden die Schüler_innen gebeten, sich in Kleingruppen aufzuteilen und die Studierenden durch die Schule zu führen (je ein_e Erwachsene_r und vier bis sechs Jugendliche). Bei diesem Schulspaziergang (Wöhrer 2018) wurden die Jugendlichen als Expert_innen ihrer Schulumgebung adressiert, die Erwachsenen waren die Zuhörenden. Die Schulspaziergänge verfolgten mehrere Ziele: Zum einen sollte das Interesse der Jugendlichen an der Studie geweckt und ein gutes Diskussions- und Forschungsklima etabliert werden. Dieser Zugang erwies sich als attraktiv für die beteiligten Schüler_innen, da – obwohl als freiwillige Aufgabe gedacht – praktisch alle Schüler_innen begeistert mitmachten. Zweitens sollten die Mitglieder der Steuerungsgruppe und die beteiligten Master-Studierenden die Jugendlichen in einer vergleichsweise lockeren Gesprächsatmosphäre kennenlernen, um sich auf Jugendliche dieses Alters einstellen zu können und eventuell auch schon spätere Interviewpartner_innen kennenzulernen. Auch dies schien gut gelungen, da einige Studierende in der nachfolgenden Lehrveranstaltungseinheit erzählten, dass sie überrascht waren, wie »jung« 14-Jährige seien, welche Interessen sie geäußert hätten oder dass sie ganz andere soziale Medien verwenden würden als die Studierenden. Drittens ermöglichte der Schulspaziergang als Erhebungsmethode, mehr über die Schule zu erfahren (z. B. Muster und Vorlieben der Jugendlichen, Gestaltungsspielräume, Schulregeln und Strukturen) und die Schule aus Perspektive der Jugendlichen kennenzulernen. Die Beobachtungen wurden in Memos dokumentiert.

4 Der Stadtschulrat für Wien ist die Behörde, die die gesamte Schulverwaltung in Wien organisiert. Sie wurde Anfang 2019 in »Bildungsdirektion für Wien« umbenannt.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

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3.3.3. Teilnehmende Beobachtungen Im November 2016 wurden von den Studierenden in Zweier-Teams teilnehmende Beobachtungen (insgesamt ca. 30) in den ausgewählten Schulklassen während einer Schulstunde und in der Pause gemacht. Die Studierenden stellten sich zu Beginn der Unterrichtsstunde kurz vor und suchten sich dann einen Platz in der Klasse, von wo aus sie das Geschehen im Blick hatten (zumeist in den hinteren Bankreihen). Sie waren angehalten, ihre Beobachtungen an bestimmten Beobachtungsfokussen zu orientieren. Dazu zählten u. a. Interaktionen zwischen Schüler_innen, zwischen Schüler_innen und Lehrer_innen oder nonverbale Kommunikation und Gruppenbildung bzw. Gruppendynamik. In den Pausen, aber teils auch in den Unterrichtsstunden selbst, insbesondere in sogenannten »Freiarbeitsstunden«5, wurden die Studierenden von den Schüler_innen in Gespräche verwickelt. Zu den Beobachtungen wurden detaillierte Protokolle erstellt. Auch diese Erhebung verfolgte mehrere Zielsetzungen: Einerseits sollten die Studierenden weiter für das Forschungsfeld sensibilisiert sowie die ersten Kontakte zu den Schüler_innen aus dem Schulspaziergang vertieft werden. Andererseits wurden in den Beobachtungsprotokollen Dynamiken zwischen Lehrenden und Jugendlichen erkennbar, die vor allem für Forschungsfragen zur Rolle der Schule und der Lehrpersonen in den Übergangsentscheidungen vielversprechende Daten lieferten. Während und nach den Schulspaziergängen und den teilnehmenden Beobachtungen konnten sich Schüler_innen in Listen eintragen, wenn sie an einem Interview teilnehmen wollten. Wenn Erziehungsberechtigte und Schüler_innen in die Teilnahme einwilligten, konnten die Jugendlichen an der Befragung teilnehmen.

3.3.4. Qualitative Interviews Im Februar und März 2017 fand schließlich die erste Interviewwelle statt. Das Interview startete mit einer autobiografisch orientierten Erzählaufforderung, in deren Anschluss die Interviewpartner_innen Zeit und Raum hatten, das eigene 5 In Freiarbeitsstunden können die Schüler_innen zu bestimmten Themen bzw. zu allen unterrichteten Fächern weitgehend selbstbestimmt arbeiten. Freiarbeit folgt dem Prinzip der »vorbereiteten Umgebung«, d. h., in der Klasse sind anregende Lernmaterialien zu den Unterrichtsfächern vorhanden, die von den Lehrer_innen zur Verfügung gestellt werden. Den organisatorischen Rahmen bilden Wochenpläne, in denen festgelegt wird, wie lange die Schüler_innen zur Erarbeitung der gestellten Aufgaben Zeit haben und welche Materialien dafür zur Verfügung stehen.

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Leben aus dem Stegreif zu erzählen. Das narrative Interview geht auf Fritz Schütze (1983) zurück und zielt darauf ab, Interviewpartner_innen größtmöglichen Spielraum zu geben, um eigene Erzählungen zu generieren und diese entsprechend ihrem individuellen Relevanzsystem zu entfalten. Das Erzählpotenzial der Haupterzählung wird mithilfe narrativer Nachfragen im Rahmen eines immanenten Nachfrageteils ausgeschöpft (Schütze 1983: 285). Das Interview schloss mit einem exmanenten Nachfrageteil basierend auf einem vorab formulierten Leitfaden, der sich in dieser Erhebung in zwei Abschnitte gliederte: in einem ersten, allgemeinen Nachfrageteil wurden die Themen Familie, Kindheit, Freund_innen, Schule, Freizeit, Zukunftsvorstellungen, Vorbilder (sofern nicht im Gesprächsverlauf enthalten) nachgefragt, um die Vergleichbarkeit mit Folgeinterviews im Panel herzustellen. Neben aktuellen Lebensumständen wurden auch retrospektiv Erzählungen über die Kindheit und den bisherigen Lebensverlauf der Jugendlichen erhoben. In einem zweiten, spezifischen Nachfrageteil ging es um Schule und den bevorstehenden Übergang nach der 4. Klasse NMS – das Schwerpunktthema der ersten Erhebungswelle. Die im Rahmen der Pilot-Phase erhobenen Interviews wurden als Ausgangsbasis für die Entwicklung der exmanenten Nachfrageteile herangezogen. Zum Abschluss des Interviews erstellten die Jugendlichen eine Netzwerkkarte, in die wichtige Personen eingetragen werden konnten, und füllten einen Kurzfragebogen gemeinsam mit den Interviewer_innen aus, um grundlegende demografische und sozialstatistische Daten zu erheben. Die Interviews dauerten zwischen 43 und 248 Minuten, wobei der Durchschnitt bei etwa eineinhalb Stunden lag. Die Erzählbereitschaft und -kompetenz war dabei individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt.

3.3.5. Die Befragten Auf Basis des Kurzfragebogens können die sozio-demographischen Merkmale der 107 Befragten genauer beschrieben werden: Die Befragten waren zwischen 13 und 16 Jahre alt, die Hälfte war 14 Jahre alt (48 %). An der Erhebung beteiligten sich 67 Jungen und 40 Mädchen. Fast drei Viertel der befragten Jugendlichen wurden in Österreich geboren (siehe Tabelle 1). Knapp jede_r fünfte Befragte stammte aus einem anderen europäischen Land und jede_r Zehnte wurde außerhalb Europas geboren.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

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Tabelle 1: Geburtsland der Befragten (nach Häufigkeit gereiht)

Österreich

Häufigkeit 75

Prozent 70 %

Serbien

9

8%

Bulgarien

3

3%

Türkei

3

3%

Syrien

2

2%

Rumänien

2

2%

Afghanistan

2

2%

Deutschland

2

2%

Bangladesch

1

1%

Israel

1

1%

Mazedonien

1

1%

Moldawien

1

1%

Polen

1

1%

Somalia

1

1%

Thailand

1

1%

Ukraine

1

1%

Zimbabwe

1

1%

GESAMT

107

100 %

Differenziert man die Herkunft weiter, so waren etwa 10 % (11 Schüler_innen) in Österreich geboren und hatten in Österreich geborene Eltern. Bei einem Viertel wurde ein Elternteil im Ausland geboren. Rund ein Drittel der Befragten war selbst in Österreich geboren, aber beide Eltern im Ausland: Das ist die sogenannte 2. Generation. Bei der 1. Generation sind die Kinder selbst im Ausland geboren. Unter unseren Befragten traf das ebenfalls auf knapp ein Drittel zu (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: »Migrationshintergrund« der Befragten Kein »Migrationshintergrund«

Häufigkeit 11

Prozent 10 %

1. Generation

32

30 %

2. Generation

37

35 %

Ein Elternteil nicht in Österreich geboren

27

25 %

Gesamt

107

100 %

68

Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Die Umgangssprache mit Mutter und Vater war häufig – aber nicht in allen Fällen – identisch. Ein Drittel der Befragten sprach mit Mutter und Vater Deutsch (siehe Tabelle 3). Die zweit- und dritthäufigsten genannten Umgangssprachen waren Serbisch und Türkisch. Mit den Geschwistern sprach dagegen die Hälfte Deutsch (55 %; 53) und mit den Freunden drei Viertel (76 %; 82). Tabelle 3: Erste Umgangssprache mit Mutter und Vater* Mutter Häufigkeit

Prozent

Vater Häufigkeit

Prozent

Deutsch

32

31 %

33

31 %

Serbisch

17

16 %

18

17 %

Türkisch

17

16 %

16

15 %

Arabisch

6

6%

7

7%

Bosnisch

5

5%

5

5%

Rumänisch

5

5%

4

4%

Albanisch

3

3%

4

4%

Sonstige

19

18 %

19

18 %

GESAMT (gültig)

104

100 %

105

100 %

* Dargestellt sind nur Sprachen, die von mehr als zwei Personen genannt wurden.

Rund ein Drittel der Jugendlichen gehörte der islamischen Religionsgemeinschaft an (33 %; 35), 29 einer orthodoxen Kirche (31 %) und 10 (12 %) hatten ein römisch-katholisches Glaubensbekenntnis. Zur Herkunftsfamilie der Befragten ergab sich folgendes Bild: Die meisten Eltern hatten einen Hauptschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss (31 % der Mütter, 43 % der Väter). Einen Hochschulabschluss hatten 20 % der Mütter und 15 % der Väter (siehe Tabelle 4). Die Angaben zum Bildungsabschluss und dem Ausmaß der Berufstätigkeit wiesen viele fehlende Werte auf, d. h. die Jugendlichen konnten oder wollten dazu keine Angaben machen – außerdem ist die Übertragbarkeit von im Ausland erworbenen Bildungstiteln ohnehin schwierig. Basierend auf den Angaben jener 41 Jugendlichen, die sich zum Beschäftigungsausmaß geäußert haben, zeigte sich, dass 44 % (18) der Mütter Vollzeit erwerbstätig und 32 % (13) arbeitslos waren. Die Frage nach dem Beruf zeigte, dass 24 % (22) der Mütter Hausfrauen waren. Die Väter arbeiteten dagegen in über der Hälfte der Fälle Vollzeit (53 %; 20), ein Drittel war arbeitslos (34 %; 13).

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Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

Tabelle 4: Höchster Schulabschluss der Eltern Mutter

Vater

Häufigkeit

Prozent

Häufigkeit

Prozent

Hauptschule

26

21 %

35

43 %

Lehrabschluss

16

19 %

16

20 %

Matura

17

20 %

12

15 %

Hochschulabschluss

13

15 %

8

10 %

Volksschule

9

11 %

8

10 %

Handelsschule

1

1%

-

-

Sonstiges

2

2%

2

2%

GESAMT (gültig)

84

100 %

81

100 %

Fehlende

23

-

26

-

GESAMT

107

-

107

-

Die finanzielle Situation der Familien wurde von den Befragten eher positiv eingeschätzt. Auf einer Skala von 1 bis 5, wobei 1 für »wohlhabend« steht und 5 für »das Geld reicht am Monatsende nicht für das Essen«, schätzten rund die Hälfte der Befragten die finanzielle Situation mit »2« ein. 60% 48%

50% 40%

37%

30% 20% 10%

9%

5%

0% 1 »Wohl habend«

2

3

4

1% 5 »Rei cht nicht fürs Es sen«

Abbildung 2: Einschätzung der finanziellen Situation durch die Befragten (N=106)

Fast alle Befragten (92 %; 97) hatten Geschwister ; im Durchschnitt hatten die Befragten zwei Geschwister. Am häufigsten war ein weiteres Geschwisterkind vorhanden (37 %; 39), zwei weitere Geschwisterkinder gab es bei einem Viertel

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

der Befragten (25 %, 26). Dabei lebten die meisten Befragten in einer Kernfamilie (56 %; 60), aber auch ein Viertel in Ein-Eltern-Familien (21 %; 22) und 14 % in einer (einfachen oder komplexen) Stieffamilie6.

3.3.6. Die Interviewer_innen Die empirische Erhebung erfolgte zu einem großen Teil im Rahmen des Forschungslabors7 »Just another brick in the wall? Lebensrealitäten und Zukunftsperspektiven junger Menschen am Ende der Pflichtschule« im MasterStudienplan Soziologie im Studienjahr 2016/17. Die Interviews wurden von Studierenden, aber auch Wissenschaftler_innen geführt, d. h. die Interviewenden brachten unterschiedliche Vorerfahrungen in qualitativer Forschung mit. Forschen mit Jugendlichen ist darüber hinaus eine besondere Herausforderung. Im Vorfeld der Interviews wurden die Interviewenden daher im Zuge eines intensiven Interviewtrainings für die Gespräche mit den Jugendlichen geschult. Die Erfahrungen der Pilotstudie waren für eine Sensibilisierung für die Interviewführung eine wichtige Unterstützung, z. B. konnten auf Basis der protokollierten Erfahrungen die Interviewführung im Kontext Schule, der Umgang mit potentiell schwierigen Themen wie Gewalt, Alkohol und Drogen oder auch der Umgang mit schwierigen emotionalen Situationen (Krieg, Flucht, Mobbing, belastende familiäre Verhältnisse) besprochen werden. Insgesamt waren an den Erhebungen der ersten Welle des qualitativen Panels 73 Personen beteiligt, 36 davon als Interviewende und 37 als Beobachtende. Die Interviews wurden durchgängig von zwei Interviewer_innen geführt – eine Person übernahm die Gesprächsleitung (Eingangsfrage und Nachfragen), die zweite Person beobachtete. Die Anwesenheit von zwei Personen war einerseits eine Auflage des Stadtschulrates und hatte andererseits den Vorteil, das Gespräch aus zwei Perspektiven wahrnehmen und dokumentieren zu können. Ein Nachteil dieser spezifischen Interviewsituation war, dass die durch das Altersgefälle ohnehin vorhandene Asymmetrie zwischen Jugendlichen und Interviewer_innen durch die zusätzliche beobachtende Person verstärkt wurde. Bedenkt man, dass die Interviewsituation an sich für die Jugendlichen schon ungewohnt war und Verunsicherung hervorgerufen haben könnte, so ist durchaus 6 Als eine einfache Stieffamilie wird eine Familie mit Stiefelternteil und mindestens einem Stiefkind bezeichnet, eine komplexe Steiffamilie ist eine, in der das neue Paar auch eigene Kinder hat, sodass leibliche und Stiefkinder gemeinsam in einem Haushalt leben. 7 Forschungslabore zeichnen sich durch ihre einjährige Dauer und die Durchführung eines konkreten Forschungsvorhabens aus. Sie sind häufig in ein am Institut für Soziologie laufendes Forschungsprojekt eingebettet, um Studierenden die Möglichkeit zu geben, fundierte Einblicke in Forschungsprozesse und -abläufe zu gewinnen.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

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vorstellbar, dass sich die Anwesenheit einer interviewenden und einer beobachtenden Person nachteilig auf die Erzählbereitschaft und die im Interview thematisierten Inhalte ausgewirkt haben könnte. Die Studierenden sowie auch die an der Erhebung beteiligten Wissenschaftler_innen konnten diesen Eindruck in den Reflexions- und Nachbereitungsphasen nach den Interviews in den meisten Fällen jedoch nicht bestätigen. Sowohl Interviewer_innen als auch Beobachter_innen verfassten ein ausführliches Interviewmemo, um die Daten für Auswertung bestmöglich zu kontextualisieren.

3.3.7. Artefakte zu Berufspraktischen Tagen Eine für die Übergangsphase nicht unwesentliche Maßnahme stellen die sogenannten »Berufspraktischen Tage« dar. Dies sind vier bis fünf Wochentage, die von den Schüler_innen der 4. Klasse NMS in einem Betrieb verbracht werden sollen. Ziel ist es, dass die Jugendlichen mögliche Berufe und Ausbildungsorte auch praktisch kennenlernen.8 Die Berufspraktischen Tage waren nicht nur ein Thema im exmanenten Nachfrageteil der Interviews und immer wieder Gegenstand der Gespräche, die bei den Teilnehmenden Beobachtungen dokumentiert wurden, sondern sie wurden auch in einigen der teilnehmenden Schulen von den Schüler_innen selbst dokumentiert. Wir durften von den Schüler_innen dreier Schulen mit ihrem Einverständnis Aufsätze und Tagebucheintragungen zu ihren Erfahrungen bei den Berufspraktischen Tagen sammeln und archivieren.

3.3.8. Expert_inneninterviews Im Herbst 2017 wurden mit Studierenden eines Forschungspraktikums, die zum Teil schon als Beobachter_innen bei Interviews anwesend waren und daher die Schulen und einzelne Jugendliche kannten, Expert_inneninterviews mit Lehrenden an allen beteiligten Schulen durchgeführt. Insgesamt wurden 17 Gespräche geführt, 13 davon mit (Klassen-)Lehrerinnen, vier mit (Klassen-)Lehrern, darunter ein Direktor. Der Leitfaden für diese Interviews enthielt die Themen »Haltung zur eigenen Arbeit«, »Zusammensetzung und Dynamiken in den Schulklassen«, »Arbeitsalltag von Lehrer_innen«, »Beziehung Lehrer_innen – Schüler_innen«, »Familien der Schüler_innen«, »Übergang nach der NMS«. In den Interviews wurde nicht nach den zuvor interviewten Jugendlichen gefragt. 8 Näheres zu den Berufspraktischen Tagen findet sich beispielsweise auf https://www.wko.at/ service/arbeitsrecht-sozialrecht/Berufspraktische_Tage.html [30. 08. 2018].

72

Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Es ging also nicht um einzelne Schüler_innen, sondern Ziel dieser Interviews war vielmehr, eine andere Perspektive auf die Übergangsphase zu erheben. Da viele der interviewten Jugendlichen Lehrende als wichtige Informationsquellen und oft auch als wesentlichen Einfluss bei der Entscheidung, welche Schule oder Ausbildung sie verfolgen werden, erlebten, schien es naheliegend, Erfahrungen, Einstellungen und Einschätzungen der Lehrenden zu sammeln. Insgesamt wurden in der ersten Welle des qualitativen Panels 22 Protokolle von Schulspaziergängen, 36 Gedächtnisprotokolle von teilnehmenden Beobachtungen in der Schule, 107 narrativ-biographische Interviews mit ebenso vielen Netzwerkkarten und Sozialstatistikfragebögen, die jeweils mit zwei Memos dokumentiert wurden, 17 Expert_inneninterviews mit Lehrenden und 52 Tagebücher bzw. Aufsätze über die Berufspraktischen Tage erhoben.

3.4. Datenmanagement und Sekundärnutzung Da das gesamte empirische Datenmaterial Studierenden und Forscher_innen am Institut für Soziologie als Ressource für Sekundärforschungen zur Verfügung stehen soll, war es von Anfang an wichtig, großes Augenmerk auf Fragen der Datenaufbereitung, der Datendokumentation und der Datenqualität zu legen. Eine Herausforderung dabei war die Beteiligung zahlreicher verschiedener Personen an der Datenerhebung, die zu sehr unterschiedlichen Herangehensweisen führte, Erfahrenes zu verschriftlichen. Um fehlenden Informationen vorzubeugen, eine möglichst dichte Beschreibung der Datenkontexte und eine übersichtliche Darstellung der wichtigsten Eckdaten zu garantieren sowie eine langfristige Nutzung der Datenformate zu gewährleisten, wurden bereits vor der Datenerhebungsphase verschiedene Vorlagen und Richtlinien erstellt, die von allen an der Datenerhebung beteiligten Personen verwendet wurden. Etwa gab es Leitfäden und Vorlagen für die Transkription und Anonymisierung sowie für das Erstellen von Memos und Protokollen. Die unterschiedlichen Protokoll-Vorlagen (z. B. Interviewmemos, Beobachtungsprotokoll, Schulspaziergangsmemo) enthielten einen einheitlichen Dokumentenkopf, in dem Rahmendaten zur Interviewperson und/oder zum Forschungssetting angeführt wurden. Außerdem enthielten die Dokumente in Form von Leitfragen zur Kontextdokumentation Vorgaben darüber, welche Informationen jedenfalls zu dokumentieren waren und auf welche Art und Weise dies erfolgen musste. Für die elektronische Erfassung und Speicherung der Daten wurden bestimmte nicht-proprietäre Formate festgelegt. Außerdem wurden gleich zu Beginn eine Ordnerstruktur sowie Benennungskonventionen etabliert, die eine größtmögliche Übersichtlichkeit und Transparenz schaffen und auch Forscher_innen, die nicht an einer Erhe-

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

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bungswelle beteiligt waren, eine leichte Navigation im Datensatz ermöglichen sollen. Dies erwies sich als wichtiger Schritt, denn die Datenkomplexität und das Datenvolumen nahmen im Verlauf der Forschung stark zu. Nach Abschluss der verschiedenen Erhebungsschritte wurden Übersichtsdateien erstellt, etwa eine Liste, die alle sozial-demografischen Daten der Interviewpartner_innen erfasst, sowie eine Liste an Schlagworten für jedes Interview. Auf Basis dieser Datei ist es relativ leicht möglich, einen Überblick über die in den Interviews thematisierten Inhalte zu bekommen und für spezialisierte Fragestellungen Sub-Samples auszuwählen. Ähnliche Übersichten wurden auch für das weitere Datenmaterial erstellt. Am Ende der Datenerhebung stand eine umfangreiche Qualitätskontrolle. In einem ersten Schritt wurde festgestellt, ob alle Daten und Dokumentationen in elektronischer Form vorhanden waren. In einem zweiten Schritt wurden die Daten auf Vollständigkeit und inhaltliche Güte überprüft (Vollständigkeit des Dokumentenkopfes, Richtigkeit und Durchgängigkeit der Anonymisierung und Pseudonymisierung, Qualität der Transkription) und gegebenenfalls überarbeitet. Die Qualitätskontrolle erfolgte nach dem Vieraugen-Prinzip und wurde ebenfalls dokumentiert.

3.5. Das quantitative Panel Inhaltlich gibt es im standardisierten Strang einen in jeder Welle gleichbleibenden Kern und jährlich wechselnde Module. Im Vordergrund stehen individuelle Erfahrungen und Lebenskontexte von Jugendlichen, wie junge Menschen in das Bildungssystem, den Arbeitsmarkt und in soziale Beziehungsnetzwerke integriert werden und welche Zukunftsvorstellungen sie haben. Damit geraten Übergänge im Ausbildungs- und Erwerbssystem, familiäre Beziehungen und soziale Verflechtungen sowie jugendkulturelle Zuordnungen in den Blick. Wichtige Rahmenbedingungen dafür sind auf individueller Ebene z. B. Lernmotivation, Kontrollüberzeugung, kulturelles und soziales Kapital, der sozioökonomische Status der Familie, soziale Beziehungen und familiale Unterstützung.

3.5.1. Datenerhebung in der ersten Welle Im quantitativen Panel fand die Befragung mittels Online-Fragebogen, d. h. ohne Interviewer_innen, im Rahmen einer Unterrichtsstunde statt. Nach der Piloterhebung und der ersten qualitativen Welle startete im Frühjahr 2017 die Vorbereitung für das quantitative Panel. Im Forschungslabor »Wege in die Zukunft:

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Erste Welle eines quantitativen Panels mit Jugendlichen« wurden auf Basis bestehender Literatur relevante theoretische Grundlagen erarbeitet, Hypothesen gebildet und diese entsprechend operationalisiert, sodass mit Sommer 2017 ein erster Fragebogenentwurf vorhanden war. Dabei wurden auch Ergebnisse und Erfahrungen der qualitativen Interviews berücksichtigt: Die Leiter_innen der Welle waren ebenfalls an der qualitativen Erhebung beteiligt und die Studierenden lasen sich in Transkripte der qualitativen Interviews ein. Der Fragebogen wurde im Herbst 2017 durch Expert_innen-Pretests, kognitive Pretests (think aloud und probing) mit knapp 20 Jugendlichen und einem Standard-Pretest an fünf Schulen mit knapp 90 Befragten sehr sorgfältig optimiert. Formulierungen, Filterführungen sowie Fragebogenlänge wurden getestet und überarbeitet, um der Aufmerksamkeitsspanne, der Lesegeschwindigkeit und dem (jugendspezifischen) Sprachverständnis Rechnung zu tragen. Eine Online-Befragung ist im Vergleich zu anderen Umfragevarianten am kostengünstigsten und die üblicherweise mit dieser Erhebungsmethode verbundenen Probleme bei der Stichprobenziehung bzw. bezüglich Repräsentativität können umgangen werden, da in der ersten Welle eine Vollerhebung angestrebt wurde. Die Grundgesamtheit bilden alle Jugendlichen im Abschlussjahrgang 2017/18 an NMS in Wien. Das heißt, es wurden alle 117 NMS in Wien kontaktiert und alle 351 Klassen mit insgesamt über 7.500 Schüler_innen eingeladen, an der Online-Befragung teilzunehmen. Im Vorfeld wurden alle NMS in Wien über den Stadtschulrat angeschrieben und um Unterstützung bei der Umfrage gebeten. Die Schulen erhielten an die Direktion und die betreffenden Klassenvorstände gerichtete Informationsschreiben mit den Zugangslinks und -codes zur Online-Umfrage sowie Informationsblätter für die Jugendlichen und Einverständniserklärungen für die Erziehungsberechtigten. Allen Interessierten wurde die Möglichkeit gegeben, eine Demoversion der Umfrage anzusehen. Die Feldphase für die Onlineerhebung fand vom 9.1. bis 9. 3. 2018 statt. Die Erhebung selbst wurde dann im Rahmen des Unterrichts in einem IT-Raum an der Schule durchgeführt. Die Online-Umfrage war zeitlich im Rahmen einer Schulstunde zu bewältigen (der Mittelwert lag bei 29 Minuten). Um trotz der Länge des Fragebogens die Motivation der Jugendlichen aufrechtzuerhalten, gab es zwischen einzelnen Frageblöcken kurze animierte Sequenzen, die sich zum einen auf die Inhalte der Fragen bezogen und zum anderen ein durchgehendes Thema, einen »roten Faden« hatten. Abbildung 3 gibt einen Einblick, wie die Umfrage aussah.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

Abbildung 3: Ansicht der Online-Umfrage

Themenschwerpunkte der ersten Welle waren: – Bildungsaspirationen und Berufswünsche – Zukunft (Erwartungen, Vorstellungen, Ängste) – Unterstützung – Wohlbefinden und belastende Lebensumstände – Kontrollüberzeugung – Schule, Bildung, Fähigkeiten – Leben und Wohnen – Migration, Sprachen – Familie und herkunftsbezogene Kapitalien

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Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Während der Erhebungsphase wurde intensives Feldmonitoring betrieben und laufend die Datenqualität sowie die Rücklaufstatistiken kontrolliert. Schulen wurden zunächst per E-Mail und später telefonisch an die Umfrage erinnert bzw. bei Bedarf weitere Informationen zur Verfügung gestellt.

3.5.2. Rücklaufstatistik und Samplebeschreibung Von insgesamt 117 NMS in Wien haben sich 99 an der Befragung beteiligt. Davon haben 53 Schulen mit allen ihren 4. Klassen teilgenommen, 46 mit einem Teil der 4. Klassen. 18 Schulen haben nicht teilgenommen. Auf Klassenebene bedeutet das, dass von den insgesamt 351 Klassen der achten Schulstufe an NMS in Wien 236 an der Online-Befragung teilgenommen haben. Mit rund 3.000 ausgefüllten Fragebögen konnten wir eine rund 40 %ige Teilnahmerate auf Schüler_innenEbene erzielen. Mit anderen Worten, zu Ausfällen kam es auf Schul- und Klassenebene, aber auch durch Eltern, die nicht in die Teilnahme ihrer Kinder einwilligten bzw. durch Verweigerungen der Jugendlichen selbst. Der Stadtschulrat für Wien hat uns einige Verteilungen von sozio-demographischen Variablen der Grundgesamtheit (alle 8. Schulstufen an NMS in Wien im Schuljahr 2017/18) zur Verfügung gestellt, um zu prüfen, ob die Nichtteilnahmen zu systematischen Verzerrungen führten. Vergleiche unserer realisierten Stichprobe mit der Grundgesamtheit folgen weiter unten. Die befragten Jugendlichen waren zwischen 13 und 16 Jahren alt, die Hälfte war 14 Jahre alt (siehe Tabelle 5). Tabelle 5: Alter der befragten Schüler_innen 13 Jahre

Häufigkeit 1.064

Prozent 37 %

14 Jahre

1.370

48 %

15 Jahre

376

13 %

16 Jahre

41

1%

Total

2.850

100 %

Mit rund 38 % gehörten die meisten Befragten dem Islam an, rund 28 % haben ein römisch-katholisches Glaubensbekenntnis und 18 % waren orthodox (siehe Tabelle 6).

77

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

Tabelle 6: Religionszugehörigkeit der befragten Schüler_innen Römisch-katholisch

Häufigkeit 772

Prozent 28 %

Evangelisch/protestantisch

90

3%

Orthodox (serbisch, griechisch, russisch)

499

18 %

Islam

1.051

38 %

Andere

146

5%

Ich gehöre keiner Religionsgemeinschaft an.

228

8%

Gesamt

2.786

100 %

Zur Familiensituation der Befragten lässt sich folgendes sagen: Der Großteil der Befragten (94 %; 2.738) hatte Geschwister, wobei 5 % ein Geschwisterkind hatten, 32 % hatten zwei Geschwister und 27 % hatten drei Geschwister. 19 % (552) der Befragten haben angegeben, dass sie schon eine Scheidung oder Trennung der Eltern erlebt haben. 2 % lebten mit ihrer Stiefmutter zusammen (71), 8 % mit ihrem Stiefvater (232) und bei 3 % (96) der Befragten gab es Stiefgeschwister im Haushalt. Hinsichtlich der Geschlechterverteilung zeigte sich sowohl in der Grundgesamtheit als auch unter den Befragten eine leichte Überzahl an männlichen Jugendlichen (siehe Tabelle 7). Tabelle 7: Verteilung der Geschlechter Schüler_innen der 8. Schulstufe an NMS in Wien und im Projekt »Wege in die Zukunft« Schulstatistik Männlich

4.295

54 %

Wege in die Zukunft 1.481 53 %

Weiblich

3.725

46 %

1.329

47 %

13

0%

Kann oder möchte mich nicht zuordnen.

Der Großteil der Befragten wurde in Österreich geboren, in unserer Studie ist der Anteil mit 74 % (2.105) etwas höher als in der Grundgesamtheit (68 %; 5.450), dafür ist der Anteil an Jugendlichen, die in Afghanistan, Iran, Irak oder Syrien geboren sind, etwa zwei Prozentpunkte niedriger (siehe Tabelle 8). Das könnte teilweise auf schlechtere Deutschkenntnisse zurückzuführen sein, die eine Teilnahme an der Umfrage erschwerten oder verhinderten, oder auch auf eine Vorselektion in der Schule, z. B. wenn Lehrer_innen manche Schüler_innen aufgefordert oder anderen angeraten haben, teilzunehmen, oder Schüler_innen für längere Zeit oder häufiger nicht in der Schule waren.

78

Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

Tabelle 8: Geburtsland der Schüler_innen der 8. Schulstufe an NMS in Wien und im Projekt »Wege in die Zukunft«

Österreich

Schulstatistik 68 % 5.450

Wege in die Zukunft 74 % 2.105

Deutschland

1%

48

1%

28

Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen

3%

207

3%

71

Ehemaliges Jugoslawien

6%

503

6%

174

Türkei

2%

150

2%

58

Bulgarien, Rumänien, Moldawien

3%

206

2%

63

Afghanistan, Iran, Irak

4%

340

3%

72

Syrien

5%

418

3%

91

Sonstige

9%

695

7%

188

Die Schulstatistik beinhaltet keine Informationen über das Geburtsland der Eltern oder Großeltern. In unserer Umfrage haben wir dies jedoch erfragt, und zwar sehr differenziert bis hin zum Geburtsland aller Großeltern. Damit ist auf Basis dieser Erhebung eine Differenzierung bis in die 3. Generation möglich.9 Es zeigt sich, dass rund 16 % der Befragten keinen Migrationshintergrund hatten, d. h., dass sowohl sie selbst als auch alle Eltern und Großeltern in Österreich geboren wurden. Ein Viertel der Jugendlichen wurde selbst nicht in Österreich geboren (26 %; 709). Gut die Hälfte unserer Befragten (53 %; 1.196) gehörte der zweiten Generation an, eines oder beide Elternteile waren im Ausland geboren. Ein sehr kleiner Anteil zählte zur dritten Generation (5 %; 17), d. h. mindestens ein Großelternteil wurde im Ausland geboren, die Eltern und die Befragten selbst aber in Österreich (siehe Tabelle 9). Tabelle 9: Migrationshintergrund der Teilnehmenden der quantitativen Befragung Kein Migrationshintergrund

Häufigkeit 353

Prozent 16 %

1. Generation

575

26 %

2. Generation (beide Elternteile im Ausland geb.)

872

39 %

2,5. Generation (ein Elternteil im Ausland geb.)

324

15 %

3. Generation (mind. ein Großelternteil ist im Ausland geb.)

107

5%

Bei einer genaueren Analyse der Umgangssprachen zeigt sich in unserer Studie, dass gut die Hälfte der Jugendlichen mit Mutter und Vater vor allem Deutsch 9 Bei einer so differenzierten Betrachtung liegen selbstverständlich die Anteile der Befragten ohne Migrationshintergrund sehr niedrig.

79

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

sprach (siehe Tabelle 10), die zweithäufigste Sprache mit rund 10 % Türkisch war, gefolgt von Serbisch/Kroatisch mit rund 7 %. Mit den Freund_innen dagegen wurde fast ausschließlich auf Deutsch gesprochen: 93 % gaben Deutsch als erste Umgangssprache mit den Freund_innen an (2.637). Die Daten aus der Schulstatistik sind weniger differenziert. Sie spiegeln nur die »Erstsprache« allgemein wider und zeigen ein ganz anderes Bild: Hier hat nur ein Viertel der Schüler_innen Deutsch als Erstsprache (26 %; 2.068). Diese Diskrepanz ist vermutlich auf Unterschiede in der Erhebung zurückzuführen. Die Daten der Schulstatistik basieren auf Angaben zur Erstsprache, im Projekt »Wege in die Zukunft« wurde nach der Umgangssprache mit Mutter, Vater und Freund_innen gefragt. Daher sind die Werte nur bedingt vergleichbar. Tabelle 10: Erst- und Umgangssprachen der Schüler_innen der 8. Schulstufe an NMS in Wien und im Projekt »Wege in die Zukunft« Schulstatistik

Wege in die Zukunft Mutter Vater

Deutsch

26 %

2.068

56 %

1.576

58 %

1.585

93 %

2.637

Türkisch

19 %

1.485

10 %

289

10 %

271

2%

60

Serbisch, Kroatisch

16 %

1.245

8%

237

7%

197

1%

29

Andere

40 %

3.222

26 %

734

24 %

659

25 %

114

Freunde

3.5.3. Umgang mit Ausfällen Auch wenn sich anhand der uns zur Verfügung stehenden Variablen aus der Grundgesamtheit im Vergleich zu den entsprechenden Verteilungen in unserer Stichprobe keine großen Unterschiede ergeben haben, haben wir mit Unterstützung von GESIS Mannheim Gewichte entwickelt. Dafür wurde als Erstes eine Single-Imputation unter der Verwendung des Paketes »mice« unter R (Version 3.4.1) mit 30 Iterationen durchgeführt. Dann wurde der Datensatz auf die einzelnen Verteilungen der Variablen Schulstandort, Geschlecht, Wohnbezirk und Geburtsland der Befragten angepasst. Die Gewichtung selbst wurde anhand eines iterativen Randsummenverfahrens (Iterative Proportional Fitting (IPF)) durchgeführt (vgl. Lohr 2009: 344). Bis zur vollständigen Konvertierung der Gewichte wurden 13 Iterationen benötigt. Eine Trimmung der Gewichte wurde nicht vorgenommen. Es wurden 2.580 Fälle gewichtet, im Mittelwert betragen die Gewichte 2,8 mit einer Range von 16,5. Das Minimum war 0,8 und das Maximum 17,3.

80

Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

3.6. Forschen im Setting Schule Die Erhebungen der ersten Welle der qualitativen und der quantitativen Längsschnittstudie wurden in Schulen durchgeführt. Aus diesem Grund ist es wichtig, die Schule – als einen physischen Ort sowie als soziale Institution – als wesentlichen Bestandteil der Datenerhebung zu betrachten und zu reflektieren. Die Schule prägte die Untersuchung in vielfacher Hinsicht. Die Bereitschaft der Direktionen, mit den Wissenschaftler_innen zu kooperieren und die der Lehrpersonen, Unterrichtszeit für das Projekt zur Verfügung zu stellen, war eine wesentliche Voraussetzung, um die Studie überhaupt durchführen zu können. Weiters übernahmen die Lehrer_innen die Organisation der Befragung bzw. der Interviews vor Ort. Sie strukturierten damit ganz konkret die Rahmenbedingungen der Erhebung: Welche_r Schüler_in wird von wem in welchem Raum interviewt? Oder : Wann werden wo die Fragebögen ausgefüllt? Wie wird die Befragung angekündigt? Welche Regeln werden dafür von den Lehrenden ausgesprochen? Darüber hinaus beeinflussten auch die konkreten Interaktionen zwischen Lehrer_innen, Forscher_innen und Schüler_innen die Datenerhebung, beispielsweise Bemerkungen und Kommentare der Lehrer_innen über die Studie, ihre Anweisung an die Schüler_innen vor und während der Feldphasen etc. (vgl. Vogl 2015b). Schließlich waren es auch die der Institution Schule inhärenten Regeln und Normen, welche die Interviewsituation und damit auch das, was die Schüler_innen von sich erzählten bzw. preisgaben, beeinflussten. David Tyack und William Tobin (1994) halten fest, dass Schulen immer eine gewisse »grammar of schooling« zugrunde liegt. Sie nennen dafür folgende Beispiele: »standardized organizational practices in dividing time and space, classifying students and allocating them to classrooms, and splintering knowledge into ›subjects‹.« (Tyack und Tobin 1994: 454). Aber auch andere Aspekte, etwa die Rollenzuschreibung von Lehrpersonen als »Wissende« und Schüler_innen als »Lernende«, sind kaum zu relativieren. Schüler_innen sind also gewohnt, dass die Schule ein hierarchisch strukturierter Ort ist, an dem ihre Aussagen tendenziell weniger wert sind als jene der Erwachsenen (vgl. Feichter 2015; Wöhrer et al. 2017). Sie wissen, dass das, was sie sagen, kritisch geprüft, beurteilt und benotet wird. Demensprechend können auch schulfremde erwachsene Personen rasch den Status von »Mehr-Wissenden«, aber auch von Beurteilenden und Sanktionierenden erhalten und eine Interviewsituation in der Schule kann leicht mit einer Prüfungssituation assoziiert werden. Das Statusund Autoritätsgefälle zwischen Forscher_innen und Jugendlichen kann also im Schulsetting verstärkt wirken (Vogl 2015b). Für minderjährige Schüler_innen sind Erwachsene zudem Aufsichtspersonen, sie tragen also Verantwortung und haben auch daher eine strukturierende Funktion.

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

81

Ein weiteres Konzept, das dazu beiträgt, den Einfluss der Schule auf die Datenerhebung zu verstehen, ist der von Jürgen Zinnecker (1975) geprägte Begriff des »heimlichen Lehrplans«. Er weist darauf hin, dass nicht nur der Lehrplan und bewusst vermittelte pädagogische Konzepte weitergegeben werden, sondern auch Strukturen, Regeln, unbewusst transportierte Normen, Wertungen etc., die die alltäglichen Interaktionen in der Schule begleiten. In einer von Wellgraf (2012) durchgeführten ethnographischen Studie an Berliner Hauptschulen zeigt sich beispielsweise, dass Disziplinierung ein wichtiger Aspekt des Lernens in der Hauptschule ist. Hier geht es also nicht nur – und oft nicht einmal vorrangig – um die Vermittlung des Unterrichtsstoffs, sondern darum, Disziplin, Pünktlichkeit, Umgangsregeln, Höflichkeit etc. zu lernen. Die Schüler_innen lernen Normen, Regeln und Strukturen und sie lernen, dass diese im gesamten Schulgebäude und auch außerhalb der Schulstunden gelten. Vor diesem Hintergrund ist auch unsere Datenerhebung in den Kontext Schule einzubetten, obwohl sie mit Bewertung und Disziplinierung nichts zu tun haben sollte und die Interviewer_innen im qualitativen Strang auch angehalten wurden, dies den Interviewten noch einmal zu verdeutlichen. Wir können den Einfluss, den die Schule als Institution auf die Datenerhebung hat, nicht verringern, aber die genaue Dokumentation ermöglichte es, ihn in der Datenanalyse adäquat zu berücksichtigen.

3.7. Ausblick auf die weiteren Wellen Längsschnittstudien zeichnen sich durch die besondere Herausforderung aus, dass die Teilnahmebereitschaft über mehrere Erhebungen aufrechterhalten werden muss. In den ersten Wellen wurden möglichst viele Kontaktinformationen gesammelt, um in den nachfolgenden Wellen verschiedene Kanäle (z. B. postalisch, telefonisch, E-Mail, Social Media) für die Einladung nutzen zu können. Zudem wird zwischen den Wellen Kontaktpflege unternommen, z. B. durch Geburtstagsgrüße und Hinweise auf aktuelle Ergebnisse und Veröffentlichungen auf der Projekt-Homepage. Außerdem wurden ab der zweiten Welle Anreize zur Teilnahme über Gutscheine und Verlosungen gesetzt. Die ersten Wellen werden sicher die größten Teilnehmerzahlen haben, gleichzeitig werden für die Folgewellen einige Besonderheiten wegfallen, beispielsweise des Schulsettings. In den Folgewellen werden die Jugendlichen außerhalb des Schulsettings befragt – mit Vorteilen bezüglich möglicher Kontexteffekte, aber Nachteilen bezüglich Organisation, Teilnahmemotivation und Kontaktmöglichkeiten. Durch das veränderte Setting wird es auch keine Beobachter_innen mehr bei den qualitativen Interviews geben. Methodische Zugänge werden auf Basis der Erfahrungen und aufgrund veränderter Themenschwerpunkte leicht verändert. Neben inhaltlichen Ergebnissen, wie denen, die in

82

Susanne Vogl / Veronika Wöhrer / Andrea Jesser

diesem Band vorgestellt werden, werden auch Beiträge zur methodischen Weiterentwicklung möglich.

3.8. Literatur Delfos, Martine F. (2007): Wie meinst du das? Gesprächsführung mit Jugendlichen. 13–18 Jahre, Weinheim, Basel: Beltz. Feichter, Helene (2015): Schülerinnen und Schüler erforschen Schule. Möglichkeiten und Grenzen, Wiesbaden: Springer Fachmedien. Fuchs, Marek (2004): Kinder und Jugendliche als Befragte. Feldexperimente zum Antwortverhalten Minderjähriger, in: ZUMA-Nachrichten, Nr. 54, S. 60–88. Fuhs, Burkhard (2000): Qualitative Interviews mit Kindern: Überlegungen zu einer schwierigen Methode, in: Friederike Heinzel (Hrsg.), Methoden der Kindheitsforschung: Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive, Weinheim: Juventa, S. 87–103. Greene, Jennifer C., Caracelli, Valerie J. und Graham, Wendy F. (1989): Toward a Conceptual Framework for Mixed-Method Evaluation Designs, in: Educational Evaluation and Policy Analysis, 11.3, S. 255–274. Kvale, Steinar (2009): Doing interviews, Los Angeles: Sage. Lohr, Sharon L. (2009): Sampling: Design and Analysis, Boston: Brooks/Cole. Romer, Daniel, Hornik, Robert, Stanton, Bonita, Black, Maureen, Li, Xiaoming, Ricardo, Izabel und Susan Feigelman (1997): »Talking« Computers: A Reliable and Private Method to Conduct Interviews on Sensitive Topics with Children, in: The Journal of Sex Research, 34, 1, S. 3–9. Schütze, Fritz (1983): Biographieforschung und narratives Interview, in: Neue Praxis, 13, 3, S. 283–293. Scott, Jaqueline (2000): Children as Respondents: The Challenge for Quantitative Methods, in: Pia Christensen und Allison James (Hrsg.), Research with Children. Perspectives and Practice, London: Falmer Press, S. 98–119. Thomson, Rachel, Holland, Janet, McGrellis, Sheena, Bell, Robert, Henderson, Sheila und Sharpe, Sue (2004): Inventing adulthoods: a biographical approach to understanding youth citizenship, in: The Sociological Review, 52, 2, S. 218–239. Tyack, David und Tobin, William (1994): The »Grammar« of Schooling: Why Has It Been So Hard to Change?, in: American Educational Research Journal, 31, 3, S. 453–479. Vogl, Susanne (2013): Telephone versus Face-to-Face Interviews: Mode Effect on SemiStructured Interviews with Children, in: Sociological Methodology, 43, S. 133–177. Vogl, Susanne (2015a): Children’s verbal, interactive and cognitive skills and implications for interviews, in: Quality & Quantity, 49, 1, S. 319–338. Vogl, Susanne (2015b): Interviews mit Kindern führen. Eine praxisorientierte Einführung, Weinheim: Beltz Juventa. Wellgraf, Stefan (2012): Hauptschüler. Zur gesellschaftlichen Produktion von Verachtung, Bielefeld: transcript. Wöhrer, Veronika (2018): Der Schulspaziergang, in: Veronika Wöhrer, Teresa Wintersteller, Karin Schneider, Doris Harrasser und Doris Arztmann (Hrsg.), Sozialwissen-

Das Forschungsdesign der ersten Welle des Projekts »Wege in die Zukunft«

83

schaftlich Forschen mit Kindern und Jugendlichen. Ein Handbuch für begleitende Erwachsene, Weinheim: Beltz Juventa, S. 100–105. Wöhrer, Veronika, Doris Arztmann, Teresa Wintersteller, Doris Harrasser und Karin Schneider (2017): Partizipative Aktionsforschung mit Kindern und Jugendlichen. Von Schulsprachen, Liebesorten und anderen Forschungsdingen, Wiesbaden: Springer VS. Zinnecker, Jürgen (1975): Der heimliche Lehrplan. Untersuchungen zum Schulunterricht, Weinheim: Beltz.

II. Ressourcen und Perspektiven am Übergang

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

4.

Heterogenität am Ende der NMS: Unterschiedliche Ausgangspositionen Jugendlicher

4.1. Einleitung Im öffentlichen und medialen Diskurs dominiert die Vorstellung der Schüler_innen an NMS in Wien als homogene und benachteiligte oder sozial schwache Gruppe. In diesem »Schubladendenken« werden den Schüler_innen pauschal eine ganze Reihe von Attributen zugeschrieben, darunter fehlende oder mangelhafte Deutschkenntnisse, geringe ökonomische Ressourcen und »Migrationshintergrund«. Darüber hinaus überwiegt eine auf Defizite fokussierende Beschreibung, die maßgeblich zur Verfestigung des Bildes von NMS-Schüler_innen als abgehängte und exkludierte »Problemgruppe« beiträgt. Verstärkt wird dieses Bild schließlich durch die Gegenüberstellung von NMSund AHS-Schüler_innen: Tatsächlich unterscheiden sich Wiener AHS-Schüler_innen in vielerlei Hinsicht von NMS-Schüler_innen. So lag der Anteil an Schüler_innen mit nicht-deutscher Muttersprache im Jahr 2016 an NMS in Wien in der 8. Schulstufe bei 71 % und bei 36 % an AHS (Statistik Austria 2016). Ein Ungleichgewicht zeigt sich entsprechend auch in Hinblick auf die Staatsbürgerschaft: Der Anteil der Jugendlichen mit nicht-österreichischer Staatsbürgerschaft lag bei HS/NMS1 im Jahr 2016 in der 8. Schulstufe bei 39 %, an AHS dagegen bei 15 %. Der Vergleich legt nahe, dass viele Jugendliche trotz österreichischer Staatsbürgerschaft eine andere Muttersprache als Deutsch haben.2 Außerdem ist an den AHS in Wien der Anteil der Mädchen höher als an HS/NMS (Statistik Austria 2016). Und auch in Hinblick auf die Zusammensetzung nach sozialer Herkunft zeigen sich zwischen AHS- und NMS-Schüler_innenschaft Differenzen.3 1 Da Hauptschulen (HS) sukzessive in NMS überführt wurden, wird in der aktuellsten Schulstatistik von Statistik Austria aus dem Jahr 2016 die HS zusammen mit der NMS ausgewiesen. Für unsere Erhebung im Jahr 2018 gibt es de facto keine HS mehr. 2 Gleichzeitig muss bedacht werden, dass man von einer nicht-deutschen Muttersprache nicht unbedingt auf mangelnde oder unzureichende Deutschkenntnisse schließen kann. 3 Zwar sind Daten zum Sozialstatus der Schüler_innen nicht öffentlich zugänglich, sie werden aber im Rahmen der Bildungsstandserhebung im Auftrag des Bundesinstituts für Bildungs-

88

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

Die sozioökonomische Segregation unter diesen Schultypen (AHS vs. HS/NMS) (vgl. Jenkins et al. 2008) ist nicht nur Gegenstand zahlreicher wissenschaftlicher Studien (Biederman et al. 2015; Bruneforth et al. 2012), sondern auch politischer Debatten (Stichwort »Gesamtschule«, »gemeinsame Schule«).4 Ni cht-Deutsch

100%

Deutsch

2731

80% 60%

5865

40% 4804 20%

2344

0% HS/NMS

AHS

Abbildung 1: Muttersprache nach Schultypen in der 8. Schulstufe in Wien (2016) Quelle: Statistik Austria (2016): Schulstatistik

100% 80%

Inländer

Ausländer 1103

3213

60% 6432

40% 4996 20% 0%

HS/NMS

AHS

Abbildung 2: Staatsbürgerschaft nach Schultyp in der 8. Schulstufe in Wien (2016) Quelle: Statistik Austria (2016): Schulstatistik

forschung (Bifie) gesammelt. Im nationalen Bildungsbericht 2015 (Biedermann et al. 2015) findet sich eine Analyse zu Kompositionseffekten, bei denen AHS und HS/NMS verglichen werden. Dabei zeigt sich, dass Schüler_innen aus sozial besser gestellten Klassen sowohl in der AHS als auch in der HS/NMS bessere Mathematikleistungen erzielen (S. 155). Der Sozialstatus wird aber nicht explizit zwischen AHS und HS/NMS verglichen, sondern nur die Effektstärken des Kompositionseffekts auf die Mathematikleistung. 4 Siehe Solga und Wagner (2016) für die ähnliche Situation im deutschen Schulsystem.

89

Heterogenität am Ende der NMS

100%

männlich

weiblich

90% 80%

3680

70%

3901

60% 50% 40% 30%

4529

20%

3634

10% 0%

HS/NMS

AHS Unterstufe

Abbildung 3: Geschlecht in den Schultypen in der 8. Schulstufe in Wien (2016) Quelle: Statistik Austria (2016): Schulstatistik

Ungeachtet dieser Unterschiede zwischen Schüler_innen von AHS und NMS ist die häufig unterstellte Homogenität der Gruppe der NMS-Schüler_innen irreführend und auch problematisch – und das in dreierlei Hinsicht. Erstens täuscht die Wahrnehmung als homogene Gruppe über große Unterschiede in mehrfacher Hinsicht hinweg: Sowohl in Hinblick auf die soziale Herkunft, vor allem aber in Bezug auf die pauschalisierende Kategorie »Migrationshintergrund« zeigt sich eine Diversität sozialer Lagen und ethnischer Zugehörigkeiten. Zweitens ist nicht ausgeschlossen, dass die gesellschaftliche Wahrnehmung von NMS-Schüler_innen als homogene »Problemgruppe« zu Stigmatisierung und in weiterer Folge zu struktureller Benachteiligung führt: Allein die Tatsache, Schüler_in in einer dieser »abgehängten Bildungsinstitutionen« (Bos et al. 2010) zu sein, kann diskriminierende Effekte nach sich ziehen. Während insbesondere Jugendliche aus bildungsprivilegierten Elternhäusern mit entsprechender Ressourcenausstattung diese potenzielle Benachteiligung kompensieren können, sind Jugendliche, denen diese Ressourcen nicht zur Verfügung stehen, besonders betroffen: Sie sitzen sozusagen auf den »schlechten Plätzen« in der »zweiten Klasse«: Ihre vergleichsweise schlechteren Startpositionen werden durch die Schule per se nicht ausgeglichen, sondern – ganz im Gegenteil – sogar noch verfestigt. Die pauschale Wahrnehmung verdeckt den Blick auf die komplexen und vielschichtigen Strukturen gesellschaftlicher Benachteiligung, die sich aus unterschiedlicher Ressourcenausstattung entlang von sozialer Herkunft, »Migrationshintergrund«5 und Geschlecht 5 Eine Problematisierung des Begriffs folgt auf den nächsten Seiten.

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Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

ergeben können und maßgeblich zur Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheiten beitragen. Erwähnenswert ist darüber hinaus noch ein dritter Aspekt: Die Vorstellung einer homogenen und benachteiligten Schüler_innenschaft in NMS läuft Gefahr, zu einer Selffulfilling Prophecy zu werden: Aus zahlreichen Studien wissen wir, dass Eltern aus privilegierten Milieus ihre Kinder gerade aufgrund dieser Wahrnehmung tunlichst nicht in NMS schicken, sondern lieber in HS bzw. in Gymnasien, wo die Schüler_innen »unter sich bleiben«. Diese, dem Statuserhalt (und/oder -aufstieg) geschuldeten Abschottungsstrategien tragen maßgeblich zur Reproduktion sozialer Ungleichheit bei (Burzan und Berger 2010; Koppetsch 2013; Schimank et al. 2014; Reckwitz 2017; Schöneck und Ritter 2018). Zu den zentralen Aufgaben sozialwissenschaftlicher Analyse gehört das Aufspüren sowie die Erklärung insbesondere jener Exklusionsrisiken, die aus dem Zusammenspiel multipler Diskriminierungen resultieren. Dieser Beitrag verfolgt daher zwei Ziele: Erstens soll die Zusammensetzung der NMS-Schüler_innenschaft genauer unter die Lupe genommen werden, d. h. wir gehen der Homogenitätsannahme auf den Grund. Dazu wollen wir die »Schublade« öffnen und die Diversität dieser Gruppe in Hinblick auf soziale Herkunft (vor allem Bildungsstand der Eltern, die Stellung der Eltern im Beruf), »Migrationshintergrund« und Geschlecht darstellen. Zweitens möchten wir die unterschiedlichen Ausgangspositionen der NMS-Schüler_innen vor der Übergangsentscheidung nachzeichnen. Dafür betrachten wir sowohl subjektive Voraussetzungen (Orientierungen, Einstellungen, Zukunftsvorstellungen und -ängste) als auch soziales Kapital (Unterstützung der Eltern, Einfluss der Peers) und untersuchen, ob es diesbezüglich Unterschiede unter den identifizierten sozialen Gruppen gibt. Dabei orientieren wir uns an den Befunden der Ungleichheitsund Bildungsforschung, wonach insbesondere soziale Herkunft und in weiterer Folge auch »Migrationshintergrund« und Geschlecht einen maßgeblichen Einfluss auf die Bildungs-, Arbeitsmarkt- und Lebenschancen haben. Die leitenden Fragen sind zusammengefasst: Wie ist die NMS-Schüler_innenschaft zusammengesetzt? Gibt es Unterschiede in der Startposition für den Übergang entlang der Dimensionen soziale Herkunft, Geschlecht und »Migrationshintergrund«? Der Beitrag ist in fünf Abschnitte gegliedert: Im ersten Abschnitt werden die Charakteristika der Strukturkategorien soziale Herkunft, »Migrationshintergrund« und Geschlecht sowie deren Bedeutung in Hinblick auf die Ausprägung von strukturellen Benachteiligungen als Bezugsrahmen dargestellt. Darauf folgt eine Erläuterung des methodischen Vorgehens, bevor im dritten Abschnitt die Verteilung der einzelnen Strukturkategorien illustriert wird. Der vierte Abschnitt widmet sich den mit diesen Strukturkategorien in Verbindung stehenden unterschiedlichen Ausgangspositionen der untersuchten Jugendlichen. Zum

Heterogenität am Ende der NMS

91

Schluss wird ein Ausblick auf die Implikationen für zukünftige Forschungen im Rahmen dieses Projekts gegeben.

4.2. Theoretische Grundlagen Im soziologischen Verständnis liegt soziale Ungleichheit dann vor, »wenn Menschen (immer verstanden als Zugehörige sozialer Kategorien) einen ungleichen Zugang zu sozialen Positionen haben und diese sozialen Positionen systematisch mit vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen verbunden sind« (Solga et al. 2009: 15). Diese ungleichen Zugänge werden vor allem dort sichtbar, wo es um begehrte und knappe Ressourcen geht: Einkommen, materieller Wohlstand, Macht und Prestige stellen die zentralen Dimensionen sozialer Ungleichheit dar ; weitere Vor- und Nachteile ungleicher Verteilung von Ressourcen zeigen sich in Arbeits- und Beschäftigungsverhältnissen, am Wohnungsmarkt, in den Gesundheitsbedingungen sowie im Bereich der Bildung (siehe dazu Solga et al. 2009; Hradil 2008). Entscheidend für den Zugang zu bestimmten sozialen Positionen und den damit verbundenen vorteilhaften oder nachteiligen Handlungs- und Lebensbedingungen sind Merkmale, die Zugehörigkeiten zu bestimmten sozialen Gruppen definieren und damit ihren Träger_innen eine bestimmte gesellschaftliche Position zuweisen (siehe Solga et al. 2009). Für unsere Untersuchung greifen wir soziale Herkunft, »Migrationshintergrund« und Geschlecht heraus, weil diese in den hier untersuchten Prozessen sozialer Inklusion und Exklusion besonders relevant sind. Die Primärsozialisation im Elternhaus erweist sich als maßgeblicher Faktor, der die weitere Bildungs- und Berufslaufbahn entscheidend prägt: Entgegen der Vorstellung einer freien Wahl oder meritokratisch legitimierter Lebensverläufe zeigen zahlreiche empirische Befunde, dass sowohl der Bildungsstand der Eltern als auch deren Beruf und Einkommen einen großen Einfluss auf Berufs- und Bildungskarrieren hat (Bacher 2009; Bourdieu und Passeron 1971; Bourdieu 1987; Solga et al. 2016; Willis 1977; siehe Kapitel 5). In Österreich zeigen sich starke Effekte der sozialen Herkunft im Übergang von der Volksschule in die jeweilige Schulform der Sekundarstufe I, aber auch im Übergang in die Sekundarstufe II, wenn auch etwas abgeschwächt (Bruneforth et al. 2012; siehe auch Kapitel 2), d. h. dass soziale Gruppen höhere Schulen trotz formal gleicher Leistung mit einer unterschiedlichen Wahrscheinlichkeit besuchen. Auch in Hinblick auf die Kategorie »Migrationshintergrund« zeigen zahlreiche Studien Auswirkungen im Zugang zu Bildung (siehe Kapitel 2 und 5). Problematisch erweist sich allerdings die Kategorie »Migrationshintergrund« selbst,

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Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

und das aus mehreren Gründen: Erstens gibt es unzählige Varianten, »Migrationshintergrund« zu messen, was die Vergleichbarkeit von Ergebnissen erschwert (siehe dazu u. a. Maehler et al. 2016). Zweitens suggeriert dieser Begriff eine homogene Gruppe, was gerade in der Gegenüberstellung von »Menschen mit und ohne Migrationshintergrund« höchst problematisch ist, zumal sich hinter dem Attribut »Migrationshintergrund« eine hoch diverse Gruppe verbirgt, die die pauschale Kategorie als höchst fragwürdig erscheinen lässt. Drittens wird gerade von vielen Migrant_innen zweiter und dritter Generation der Begriff »Migrationshintergrund« abgelehnt, nicht zuletzt, weil ihnen dieser Begriff eine Zugehörigkeit zum Geburtsland abspricht (Treibel 2015). Im Kontext der Bildungsforschung wird es problematisch, wenn »Migrationshintergrund« bzw. die ethnische Zugehörigkeit als das hauptsächliche Merkmal für die Erklärung von geringeren Schulleistungen herangezogen wird, während andere Faktoren (z. B. soziale Herkunft) ausgeblendet bleiben – und damit einer »Ethnisierung von geringer Bildung« Vorschub geleistet wird (Ram&rez-Rodriguez und Dohmen 2010). Der Kritik am Begriff »Migrationshintergrund« kann freilich entgegengehalten werden, dass dessen Verwendung dann Sinn macht, wenn sich aufgrund dieses Kriteriums eine soziale Benachteiligung, z. B. im Zugang zu wesentlichen Teilbereichen der Gesellschaft, nachweisen lässt. In Hinblick auf unsere Untersuchung soll die Kategorie daher solange mitgedacht werden, solange sich damit ungleichheitsrelevante Unterschiede zeigen lassen. Zu bedenken gilt allerdings stets, dass die pauschalisierende Kategorie »Migrationshintergrund« der internen Vielfalt sowohl in Hinblick auf Herkunftsländer als auch hinsichtlich des jeweiligen rechtlichen Status der darunter subsumierten Personen nicht gerecht wird. Eine detaillierte Analyse nach all diesen Kriterien würde aber den Rahmen dieses Beitrags sprengen. In Hinblick auf die Strukturkategorie »Geschlecht« zeigt sich, dass Mädchen von der Bildungsexpansion profitiert haben, während Jungen tendenziell als »neue« Bildungsverlierer gelten (siehe dazu Diefenbach 2010). Empirische Studien zeigen, dass Mädchen eher ins Gymnasium gehen als Jungen, dass sie öfter eine Empfehlung für höhere Schulen erhalten als Jungen, dass die Wiederholungsquote bei Jungen höher ist als bei Mädchen sowie Mädchen – abgesehen von Mathematik und naturwissenschaftlichen Fächern – in der Benotung besser abschneiden als Jungen (ebd. 2010). Das zeigt sich auch in Befunden für Österreich: Mädchen besuchen eher maturaführende Schulen als Jungen, was mit der höheren Bildungsaspiration der Mädchen erklärt wird (Bruneforth et al. 2012). Das heißt aber nicht, dass die Bildungserfolge den Frauen auch entsprechende Arbeitsmarktpositionen bringen, wie die hartnäckige Segregation und der Gender Pay Gap zeigen. Bisherige Studien zeigen also, dass Bildungsentscheidungen und -erfolg durch verschiedene Faktoren beeinflusst werden – jenseits von individueller

Heterogenität am Ende der NMS

93

Leistung. Wir konzentrieren uns hier auf soziale Herkunft, »Migrationshintergrund« und Geschlecht und stellen in einem ersten Schritt die jeweilige Verteilung unter den Schüler_innen der achten Jahrgangsstufe an NMS in Wien dar. Anschließend betrachten wir die individuellen Einstellungen und Zugang zu sozialem Kapital und eventuelle Unterschiede zwischen sozialen Gruppen.

4.3. Methodisches Vorgehen Als Basis für die im Folgenden dargestellten Ergebnisse dienen Varianzanalysen des gewichteten Datensatzes der ersten Welle des quantitativen Panels »Wege in die Zukunft«6 (siehe Kapitel 3). Mit anderen Worten: Personen, die eine gleiche Ausprägung eines Strukturmerkmals wie z. B. Geschlecht aufweisen, werden als Gruppe verstanden. Diese Gruppen werden dann hinsichtlich ihres Mittelwerts in verschiedenen Merkmalen verglichen. Als Strukturkategorien und damit Gruppierungsvariablen in den Varianzanalysen definierten wir : – Geschlecht: Neben den Ausprägungen männlich und weiblich wurde auch eine Kategorie »kann/will mich nicht zuordnen« angeboten. Aufgrund der geringen Fallzahl wird diese Kategorie in den folgenden Analysen jedoch nicht berücksichtigt. – »Migrationshintergrund«: Erfragt wurden das Geburtsland der Befragten sowie das Geburtsland der Eltern und Großeltern. Auf diese Weise kann man sehr detailliert den »Migrationshintergrund« darstellen, sowohl in Form von »Migrationsgeneration« als auch Herkunftsländern. Bei der Gruppierung der Herkunftsländer orientieren wir uns an den Kategorien, die die Bildungsdirektion Wien (ehemals Stadtschulrat für Wien) verwendet, um Vergleichbarkeit zu gewährleisten. – Soziale Herkunft, mit einem Fokus auf kulturelles und ökonomisches Kapital: – Als kulturelles Kapital bezeichnet Bourdieu (1983; 1987) vor allem Bildung. Für den Bildungshintergrund der Eltern wurde nach dem höchsten Bildungsabschluss von Mutter und Vater gefragt. – Beruf der Eltern: Der Beruf von Mutter und Vater wurde offen erfragt und anschließend anhand der ISCO-08-Kodierung gruppiert. Darauf aufbauend kann das ISEI-Anforderungsniveau angegeben werden. Hier gibt es vier Ausprägungen: »1: einfache, routinemäßige, manuelle Aufgaben«; »2: Bedienung und Reparatur von Maschinen; Handhabung, Ordnen und Aufbe6 Flecker, Jörg, Vogl, Susanne, Astleithner, Franz (2018): Wege in die Zukunft. Eine Längsschnittstudie über die Vergesellschaftung junger Menschen in Wien, Quantitatives Panel, Wave 1, Forschungsprojekt des Instituts für Soziologie, Universität Wien.

94

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

wahren von Informationen«; »3: komplexe technische und praktische Aufgaben« und »4: komplexe Problemlösungen und Entscheidungsfindungen«. Da diese Unterscheidung stärker mit Status bzw. Ansehen verbunden ist, wird im Folgenden auf diese ISEI-Variable zurückgegriffen statt auf die Berufshauptgruppen nach der ISCO-Kodierung (z. B. Züll 2015). – Ökonomisches Kapital: Diese Kategorie ist sehr schwer über Auskünfte von Jugendlichen abzudecken. Wir haben es über die Frage nach der subjektiven Einschätzung »Wie steht es bei euch zuhause mit dem Geld?« getan. Antwortmöglichkeiten waren auf einer sechsstufigen Skala mit beschrifteten Endpunkten: »1 Wir haben zu wenig Geld, manchmal reicht es nicht für die Lebensmittel« und »6 Wir sind reich, Geld spielt keine Rolle«. Die Jugendlichen sollten sich dann auf einem Balken einordnen. Die auf Basis dieser Strukturkategorien gebildeten Gruppen wurden hinsichtlich unterschiedlicher Variablen, die als besonders relevant für die Gestaltung des bevorstehenden Übergangs gelten, verglichen. Der leitende Gedanke bei der Auswahl dieser Variablen war, dass sie die Ausgangslage für den Wechsel nach der NMS gut charakterisieren, weil sie (a) Ressourcen am Übergang charakterisieren, nämlich Informationsquellen und -stand, Involviertheit der Eltern in Schulangelegenheiten, Unterstützungsquellen bei schwierigen Lernsituationen und Einstellung der Peers zu Bildung und Schule, aber auch (b) Einstellungen und Erwartungen abdecken, wie eine Berufsorientierung, Einstellung zu Bildung, Erwartungen und Ängste. Ein Hinweis zur Darstellung: In der Tabellenüberschrift wird die ungewichtete Fallzahl angegeben, um eine Einschätzung der tatsächlichen Fallzahl zu ermöglichen. In den Tabellen selbst werden die gewichteten Ergebnisse dargestellt und auch die Varianzanalysen wurden mit den gewichteten Daten durchgeführt.7

4.4. Ergebnisse 4.4.1. Zusammensetzung der NMS-Schüler_innenschaft 4.4.1.1. Soziale Herkunft Um der Frage der Homogenität bzw. Heterogenität der NMS-Schüler_innenschaft nachzugehen, betrachteten wir zunächst den Bildungsstand der Eltern. 7 Um die Zusammenhänge nicht zu überschätzen, werden Gewichte mit einem Mittelwert von 1 verwendet. Die zugrundeliegende Fallzahl beträgt 2.850.

95

Heterogenität am Ende der NMS

Entgegen mancher Erwartungen bezüglich der Eltern von NMS-Schüler_innen hatten jeweils rund 18 % der Mütter und Väter der Jugendlichen studiert und weitere 20 % der Mütter und 16 % der Väter hatten Matura. Rund ein Viertel der Mütter und fast ein Drittel der Väter wiesen eine Lehre als höchsten Bildungsabschluss auf; einen Pflichtschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss hatten ein Viertel der Mütter und knapp ein Viertel der Väter. Das Bild ist also recht heterogen. Aus der Familienforschung und Sozialpsychologie wissen wir, dass es eine Tendenz zu sozialer Homogamie gibt. Für unsere Zielgruppe würde das heißen, dass der höchste Bildungsabschluss der Eltern ähnlich ist. Damit kann eine »doppelte Benachteiligung« einhergehen. Verkreuzt man den Bildungsabschluss der Eltern, zeigt sich genau diese Koinzidenz, d. h. z. B., dass Männer mit Studium eher mit Frauen mit Studium Kinder haben, sogenannte Statusinkonsistenz ist dagegen eher selten (siehe Tabelle 1; Rho= 0,60***).

Bildung Mutter

Tabelle 1: Höchster Bildungsabschluss von Mutter und Vater (N = 1.638)

Studium (Universität / Fachhochschule)

Bildung Vater Gesamt Studium Matura Lehre PflichtKein (Universität / schulSchulFachhochabschluss abschluss schule) 18 % 11 % 3% 3% 1% 1%

Matura

3%

8%

Lehre

2%

3%

Pflichtschulabschluss

2%

2%

Kein Schulabschluss

0%

1%

18 %

16 %

Gesamt

5%

2%

1%

20 %

17 %

2%

1%

24 %

6%

14 %

1%

25 %

2%

3%

7%

13 %

33 %

23 %

10 %

100 %

Bezüglich der Stellung der Eltern im Beruf zeigte sich, dass der Anteil der erwerbstätigen Väter erwartungsgemäß höher war als der der Mütter : Von den Müttern arbeiteten 65 % außer Haus, von den Vätern 83 %. Jugendliche, deren Mutter erwerbslos war, bezeichneten in 64 % die Mutter als Hausfrau, wenn der Vater erwerbslos war, wurde dieser dagegen nur in 8 % der Fälle als Hausmann identifiziert. Die ISCO-08-Kodierung der Berufe der Eltern zeigt, dass die meisten Mütter Dienstleistungsberufe (32 %) oder technische Berufe ausübten (26 %; siehe Tabelle 2). Die meisten Väter waren dagegen in Handwerksberufen tätig (33 %)

96

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

und erst an zweiter Stelle im Dienstleistungssektor (18 %). Wie bei der Bildung besteht auch bei den Berufshauptgruppen ein Zusammenhang zwischen den Berufen der Eltern, wenngleich der Zusammenhang deutlich schwächer ist. Tabelle 2: ISCO-Berufshauptgruppen der Eltern

Führungskräfte

Berufshauptgruppe Mutter (N= 1.296) 5%

Berufshauptgruppe Vater (N= 1.512) 10 %

Akademische Berufe

11 %

6%

Techniker_innen und gleichrangige nicht- 26 % technische Berufe

10 %

Bürokräfte und verwandte Berufe

5%

3%

Dienstleistungsberufe, Verkäufer_innen

32 %

18 %

Fachkräfte in Land- und Forstwirtschaft

0%

1%

Handwerks- und verwandte Berufe

2%

33 %

Bediener_innen von Anlagen und Maschinen und Montageberufe

0%

14 %

Hilfsarbeitskräfte

18 %

6%

Gesamt

100 %

100 %

Ein weiterer Indikator für den sozialen Status ist die auf der ISCO-Kodierung basierende ISEI-Skala, in der das Anforderungsniveau der ISCO-Berufshauptgruppen der Eltern klassifiziert wird (Züll 2015; siehe Tabelle 2). Je höher der Wert auf der ISEI-Skala, desto höher ist das Prestige, das mit einem Beruf verbunden ist, weil auch die zu verrichtenden Aufgaben komplexer sind. Die meisten Mütter und Väter der NMS-Schüler_innen hatten einen Beruf mit dem Anforderungsniveau 2, der die Bedienung und Reparatur von Maschinen sowie dem Ordnen und Aufbewahren von Informationen entspricht. Das heißt, sie hatten tendenziell eher einen Beruf, der mit relativ niedrigem Prestige verbunden ist. Interessant ist aber, dass bei den Vätern fast zwei Drittel mit ihrem Beruf in das Anforderungsniveau 2 fielen, wohingegen es bei den Müttern eine größere Streuung zwischen den Niveaus 1 (einfache, routinemäßige, manuelle Aufgaben) bis 3 (komplexe technische und praktische Aufgaben) gab, wenn auch mit knapp 40 % auch hier das Niveau 2 am häufigsten vertreten war. Vergleicht man die Anforderungsniveaus beider Eltern der einzelnen Befragten, so zeigt sich auch hier wiederum eine Korrelation, die aber deutlich weniger stark ist als bei den Bildungsabschlüssen (Rho= 0,30***, siehe Tabelle 3).

97

Heterogenität am Ende der NMS

Tabelle 3: Anforderungsniveau der ISCO-Berufshauptgruppen Mutter in Beziehung zum Anforderungsniveau der ISCO-Berufshauptgruppen Vater (N= 935) Anforderungsniveau der ISCO-Berufhauptgruppen Vater

Anforderungsniveau der ISCO Berufshauptgruppen Mutter

1: Einfache, routinemäßigen, manuelle Aufgaben

Gesamt

2: Bedienung und Reparatur von Maschinen; Handhabung, Ordnen und Aufbewahren von Informationen 14 %

3: Komplexe technische und praktische Aufgaben 1%

4: Komplexe Problemlösungen und Entscheidungsfindungen 18 % 1%

2: Bedienung 3 % und Reparatur von Maschinen; Handhabung, Ordnen und Aufbewahren von Informationen

27 %

4%

5%

39 %

3: Komplexe technische und praktische Aufgaben

15 %

6%

4%

26 %

8%

2%

7%

17 %

65 %

13 %

17 %

100 %

1: Einfache, routinemäßigen, manuelle Aufgaben

2%

1%

4: Komplexe 0 % Problemlösungen und Entscheidungsfindungen

Gesamt

6%

Ein weiterer Indikator für die soziale Herkunft der Jugendlichen ist das ökonomische Kapital. Hierfür haben wir danach gefragt, wie die Jugendlichen auf einer sechsstufigen Skala die finanzielle Situation der Familie einschätzen. Bei den Antworten zeigte sich eine klare Tendenz zur Mitte: Rund die Hälfte der Befragten ordnete sich in Kategorie 4 ein. Die Verteilung ist nur ganz leicht rechtssteil, d. h. mit einer Neigung zu eher höherer Einschätzung der finanzi-

98

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

ellen Situation (siehe Abbildung 4). Darüber hinaus ist es sehr schwierig, konkrete Informationen über die finanzielle Situation der Haushalte zu erlangen, weil Jugendliche zumeist keinen genauen Einblick in die Finanzen ihrer Eltern haben. 50%

47%

40% 30%

24% 19%

20% 10% 0%

1% 1 Wir haben zu wenig Geld, manchmal reicht es nicht für die Lebensmi!el.

5%

4% 2

3

4

5

6 Wir sind reich, Geld spielt keine Rolle.

Abbildung 4: Einschätzung der finanziellen Situation der Familie durch die Jugendlichen (N=2.743)

Bei der finanziellen Situation zeigt sich zwar kein heterogenes Bild, aber auch nicht die oft attestierte Benachteiligung der NMS-Schüler_innen. 4.4.1.2. »Migrationshintergrund« und Bildungsstand Der »Migrationshintergrund« ist ebenfalls eine wichtige Determinante sozialer Ungleichheit. Vergleichbar mit den Werten zur Staatsbürgerschaft der NMSSchüler_innen aus der Schulstatistik liegt auch bei »Wege in die Zukunft« der Anteil der Befragten ohne »Migrationshintergrund« bei gut einem Drittel (siehe Tabelle 4 sowie Kapitel 3). Zwei Drittel der Befragten sind in Österreich geboren, berücksichtigt man aber auch das Geburtsland der Eltern und Großeltern und differenziert anschließend in 1., 2. und 3. Generation von Migration, zeigt sich, dass nur bei einem Drittel der Befragten alle Großeltern in Österreich geboren wurden. Wenn Befragte nicht in Österreich geboren wurden, war der Anteil aus Ländern des ehemaligen Jugoslawiens vergleichsweise hoch (6 %) und dann folgten »neue« Migrationsländer wie Syrien, Afghanistan, Iran, Irak (zusammen knapp 10 % aller Befragten). Betrachtet man das Geburtsland der Eltern, gestaltet sich

99

Heterogenität am Ende der NMS

die Verteilung deutlich anders, denn bei den Eltern betrug der Anteil der Mütter und Väter, die in Österreich geboren wurden, nur rund 28 % (siehe Tabelle 5 und Tabelle 6). Historisch nachvollziehbar lag der Anteil der Elterngeneration, die im Gebiet des ehemaligen Jugoslawiens geboren wurden, deutlich höher, nämlich bei rund einem Viertel, gleiches gilt für die Türkei. Die Anteile von Syrien, Afghanistan, Iran und Irak waren dagegen in der Eltern- und Befragtengeneration sehr ähnlich. Das verweist darauf, dass es sich bei diesen Herkunftsländern vor allem um Befragte der 1. Generation handelte. Auch beim Geburtsland zeigte sich Konsistenz unter den Eltern der Befragten: Der Zusammenhang ist bei einer Verkreuzung der beiden Variablen sehr stark (k = 0,72***). Die Elternpaare waren demnach nicht nur in Hinblick auf Bildung und Berufsstatus, sondern meist auch ethnisch homogen zusammengesetzt. Tabelle 4: Geburtsland der Befragten gruppiert (N= 2.850)*

Österreich Andere

68 % 9%

Ehemaliges Jugoslawien

6%

Syrien

5%

Afghanistan, Iran, Irak

4%

Bulgarien, Rumänien, Moldawien

3%

Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen

3%

Türkei

2%

Deutschland

1%

* Die Gruppierung folgt den Kategorien der Bildungsdirektion Wien. Tabelle 5: Geburtsland der Mutter (N = 2.782)

Österreich Ehemaliges Jugoslawien

20 %

Andere

18 %

Türkei

13 %

Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen

6%

Afghanistan, Iran, Irak

5%

Syrien

5%

Bulgarien, Rumänien, Moldawien

4%

Deutschland

1%

28 %

100

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

Tabelle 6: Geburtsland des Vaters (N = 2.708)

Österreich Ehemaliges Jugoslawien

21 %

Andere

17 %

Türkei

16 %

Afghanistan, Iran, Irak

5%

Syrien

5%

Tschechien, Slowakei, Ungarn, Polen

3%

Bulgarien, Rumänien, Moldawien

3%

Deutschland

1%

29 %

Neben dem Geburtsland dürfte sicher die Sprachkompetenz ein wichtiger Faktor für eventuelle Benachteiligung sein. Bereits in Kapitel 3 wurde auf die Umgangssprachen eingegangen: Mit Freund_innen sprachen fast alle Befragten vorwiegend auf Deutsch (92 %), mit der Mutter und dem Vater waren es gut die Hälfte (56 %). Wie auch die hohe Korrelation vom Geburtsland der Eltern erahnen lässt, fand sich auch bei der Sprache ein hoher Zusammenhang zwischen der hauptsächlichen Umgangssprache mit Mutter und der mit dem Vater (CC = 0,6***). In 23 % (612) der Fälle wurde weder mit der Mutter noch mit dem Vater Deutsch gesprochen.8 4.4.1.3. Intersektionalität: Interaktion verschiedener Ungleichheitskategorien Der Intersektionalitätsforschung verdanken wir die Erkenntnis, dass Strukturkategorien nicht isoliert betrachtet werden sollen, sondern in ihrem Ineinandergreifen und in ihrer Verflechtung: Damit kann sichtbar gemacht werden, wie sich ungleichheitsrelevante Effekte bestimmter Kategorien in Kombination und im Wechselspiel mit anderen Kategorien relativieren oder verstärken können (Crenshaw 1989; Klinger 2005; Degele und Winker 2009; Gottsburger und Gross 2012). Diesem Gedanken folgend, möchten wir knapp die Zusammenhänge unter diesen eben vorgestellten Strukturkategorien untersuchen. Vergleicht man den »Migrationshintergrund« der Befragten und die Bildung der Eltern, so zeigte sich bei Vätern und Müttern ein sehr ähnliches Ergebnis: Befragte ohne »Migrationshintergrund« hatten am häufigsten Eltern, die einen Lehrabschluss als höchsten Bildungsabschluss vorzuweisen haben (siehe Tabelle 7 und Tabelle 8). Der hohe Anteil an Eltern mit Lehrabschluss in der Gruppe der »einheimischen« Jugendlichen verweist auf einen Selektionseffekt im Bil8 Berücksichtigt wurden hier bis zu drei genannte Umgangssprachen für Mutter und Vater.

101

Heterogenität am Ende der NMS

dungssystem, der dazu führt, dass (»einheimische«) Akademiker_innenkinder eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit haben, an eine AHS als in eine NMS zu gehen.9 In der ersten Generation war die Verteilung weniger eindeutig: in dieser Gruppe hatten die Väter zu gleichen Anteilen – nämlich rund ein Viertel – entweder ein abgeschlossenes Studium oder einen Lehrabschluss; die Mütter hatten zu je einem Viertel entweder studiert oder Pflichtschulabschluss. Insgesamt war in dieser Gruppe mit Befragten der ersten »Migrationsgeneration« der Anteil an Eltern mit Studienabschluss am höchsten, aber auch der mit Eltern ohne Schulabschluss.10 Niedrige Bildung der Eltern geht also nicht unbedingt mit »Migrationshintergrund« der befragten NMS-Schüler_innen einher, vielmehr gibt es eine »Zweiteilung« in Jugendliche der ersten Generation mit hohem oder mit geringem Bildungsabschluss der Eltern. Die insgesamt niedrigsten Bildungsabschlüsse hatten Eltern, die selbst im Ausland geboren wurden. In der zweiten »Migrationsgeneration«, bei der beide Eltern im Ausland geboren wurden, war dagegen der Anteil beider Elternteile mit Pflichtschulabschluss mit rund einem Drittel am höchsten.

Höchster Bildungsabschluss des Vaters

Tabelle 7: Bildungsstand des Vaters und »Migrationshintergrund« der Befragten (N = 1.689)

Gesamt

Gesamt

Studium

»Migrationshintergrund« der Befragten 2. GeneKein »Migra- 1. Gene- 2. Generation tionshinter- ration ration grund« (ein Eltern- (beide teil im Eltern im Ausland Ausland geb.) geb.) 22 % 25 % 17 % 13 %

Matura

21 %

17 %

16 %

13 %

16 %

Lehre

48 %

23 %

39 %

29 %

32 %

Pflichtschulabschluss

8%

19 %

21

34 %

23 %

Kein Schulabschluss

1%

16 %

7%

11 %

10 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

19 %

9 Gleichzeitig ist zu vermuten, dass die Akademiker_innenkinder mit »Migrationshintergrund« in der nächsten Generation zu den Bildungsaufsteiger_innen zählen. 10 Schwierigkeiten bei der Übertragbarkeit von Bildungsabschlüssen können hier ein zusätzlicher Erklärungsgrund sein.

102

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

Tabelle 8: Bildungsstand der Mutter und »Migrationshintergrund« der Befragten (N = 1.841)

Höchster Bildungsabschluss der Mutter

»Migrationshintergrund« der Befragten

Gesamt

Gesamt

24 %

2. Generation (ein Elternteil im Ausland geb.) 12 %

2. Generation (beide Eltern im Ausland geb.) 14 %

18 %

25 %

20 %

19 %

20 %

21 %

Lehre

42 %

13 %

35 %

17 %

23 %

Pflichtschulabschluss

14 %

24 %

25 %

31 %

25 %

Kein Schulabschluss

2%

19 %

9%

17 %

14 %

100 %

100 %

100 %

100 %

100 %

Kein »Migrationshintergrund«

1. Generation

Studium

18 %

Matura

Beim Anforderungsniveau der Berufe der Eltern zeigten sich vernachlässigbare Zusammenhänge mit dem »Migrationshintergrund« der Befragten: Personen mit dem Anforderungsniveau 1 waren in den meisten Fällen selbst migriert (damit waren die Befragten in der 2. Generation). Eine ähnliche Situation zeigte sich in finanzieller Hinsicht: Sie war tendenziell schlechter, wenn die Eltern migriert waren, die Stärke des Zusammenhangs war aber vernachlässigbar. Das heißt, dass es weder beim Berufsprestige noch bei der finanziellen Situation statistisch relevante Zusammenhänge mit dem »Migrationshintergrund« der Befragten gibt.

4.4.2. Einstellungen und Ressourcen vor dem Ende der NMS Bislang haben wir Heterogenität unter den Jugendlichen an NMS in Wien dargestellt, die leitende Frage in den folgenden Abschnitten ist, wie sich diese Heterogenität am Übergang auswirkt. Da die Datenerhebung noch vor dem eigentlichen Übergang stattfand, können wir Aussagen über Ausgangspositionen für den Übergang machen und vergleichen diese unter den bereits eingeführten sozialen Gruppen. Unterschieden wird nach Geschlecht, »Migrationshintergrund« und sozialer Herkunft. Um die Ausgangsposition der NMS-Schüler_innen näher zu charakterisieren, betrachten wir nun zum einen Einstellungen und Erwartungen und zum anderen Ressourcen, denn beide Aspekte prägen den Übergang entscheidend.

103

Heterogenität am Ende der NMS

4.4.2.1. Ressourcen für den Übergang Als Indikatoren für Ressourcen stehen Informationsquelle und Wissen über die Möglichkeiten nach der NMS zur Verfügung, die Involviertheit der Eltern in Schulangelegenheiten sowie allgemein soziale Ressourcen. Gefragt danach, mit wem sie über das nächste Jahr nach der NMS gesprochen haben, standen die Familie, Verwandte und Bekannte mit über zwei Dritteln an erster Stelle. Knapp die Hälfte der Befragten informierte sich bei Lehrer_innen und über das Internet. Freund_innen rangierten auf Platz 4 mit rund 44 % der Befragten. Auch der Tag der offenen Tür an weiterführenden Schulen wurde von mehr als einem Drittel genutzt (siehe Tabelle 9). Tabelle 9: Wo haben sich die Befragten über Möglichkeiten nach der NMS informiert? (Mehrfachnennungen möglich) Familie, Verwandte oder Bekannte

65 %

Lehrer_innen

50 %

Internet

50 %

Freund_innen

44 %

Tag der offenen Tür an einer Schule

38 %

Jugendcoaching

19 %

Broschüren (z. B. vom AMS)

12 %

Talentecheck der Wirtschaftskammer

11 %

Beratungslehrer_innen

9%

Berufsinformationsmesse

7%

Berufsinformationszentren des AMS

6%

Beratungsstellen

3%

Ausbildungsbetriebe

2%

Koordinierungsstelle »Ausbildung bis 18«

1%

Vergleicht man nun die Nutzung dieser Informationsquellen hinsichtlich des Bildungsstandes der Eltern, so fällt auf, dass Broschüren (z. B. vom AMS) und der Tag der offenen Tür anscheinend mehr Jugendliche mit höher gebildeten Eltern ansprechen. Hinsichtlich der anderen Informationsquellen ließen sich keine mit dem Bildungstand der Eltern korrelierten Unterschiede feststellen. Schaut man sich die Anzahl der den Jugendlichen bekannten Schultypen an, ergeben sich ebenfalls aufschlussreiche Informationen. Im Mittel wurden knapp sieben bekannte Schulen angeklickt, Befragtengruppen unterscheiden sich hier jedoch: Zum einen scheinen Mädchen besser informiert zu sein als Jungen, denn auf die Frage, von welchen Schulen sie schon gehört hätten, gaben Mädchen im

104

Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

Durchschnitt eine Schule mehr als die Jungen an. Auch wo bzw. bei wem sie sich informieren, unterschied sich signifikant: Mädchen sprachen mit Freund_innen, Familie, Beratungslehrer_innen und Lehrer_innen im Durchschnitt häufiger als Jungen und sie informierten sich auch mehr über das Internet, Broschüren, Beratungsstellen, Tag der offenen Tür, Berufsinformationsmessen und beim AMS. Lediglich Jugendcoaching nahmen mehr Jungen in Anspruch als Mädchen. Das könnte auf eine schwierigere Ausgangssituation, d. h. einen weniger linearen Bildungsweg bei den Jungen hindeuten, da Jugendcoaching zwar auf Freiwilligkeit basiert, aber in problematischeren Fällen bzw. bei familiären Problemen, Sucht oder Lernschwierigkeiten empfohlen wird. Ziel des Jugendcoachings ist, Jugendliche persönlich und sozial zu stabilisieren und frühe Ausbildungsabbrüche zu verhindern. Zum anderen unterscheiden sich Migrant_innen der ersten Generation signifikant von allen anderen Gruppen: Diese Gruppe hat im Durchschnitt weniger Informationen über das Bildungssystem, sprich: Sie haben von weniger der genannten Schultypen gehört.

8

7,8

7,6

8,3

7,1 6,4

6

4

2

0

kein Migra"onshintergrund

1. Genera"on

2. Genera"on (beide Eltern im Ausland geb.)

2,5 Genera"on (ein 3. Genera"on (mind. Elternteil im Ausland ein, Großelternteile im geb.) Ausland geb.)

Abbildung 5: Von wie vielen Schultypen haben die Befragten schon gehört (max. 13)

Bei den Informationsquellen über die Möglichkeiten nach der NMS fällt vor allem die erste »Migrationsgeneration« auf, da die Anteile der Jugendlichen, die sich bei Familie und Bekannten informieren, deutlich niedriger war als in den anderen Gruppen. Die vermutlich häufig fehlende Kenntnis der Kinder der ersten Generation und ihrer Eltern über das Bildungssystem wurde durch Beratungslehrer_innen und Jugendcoaching versucht zu kompensieren, denn hier informierten sich vergleichsweise viele Jugendliche der ersten Migrationsgeneration (siehe Tabelle 10). Das Internet und Broschüren, aber auch Tag der offenen

105

Heterogenität am Ende der NMS

Tür schienen dagegen für diese Gruppe weniger relevant zu sein – Grund könnten Sprachbarrieren sein. Tabelle 10: Informationsquellen für Möglichkeiten nach der NMS (N = 2.777)*

Freund_innen

»Migrationshintergrund« der Befragten 1. 2. Gene2. 3. GeneKein Gene- ration »Migra- Gene- ration ration (max. tionsration (ein (beide drei hinterElterngrund« teil im Eltern GroßAusland im eltern geb.) Ausim Ausland land geb.) geb.) 34,6 % 44,9 % 41,9 % 48,1 % 50,0 %

Gesamt 3. Generation (alle Großeltern im Ausland geb.) 44,0 %

43,9 %

Familie und Bekannte

67,3 %

59,3 % 69,0 %

68,4 %

69,5 %

76,0 %

65,5 %

Beratungslehrer_innen

9,0 %

10,3 % 7,7 %

6,2 %

9,4 %

8,0 %

8,3 %

Lehrer_innen

46,2 %

51,7 % 49,3 %

51,2 %

44,8 %

52,0 %

50,0 %

Internet

56,6 %

43,2 % 53,8 %

49,8 %

53,1 %

62,5 %

49,8 %

Broschüren (z. B. AMS)

15,8 %

9,5 %

13,6 %

10,9 %

22,9 %

12,0 %

12,1 %

Beratungsstellen

3,5 %

2,9 %

2,2 %

2,2 %

3,1 %

0,0 %

2,7 %

Jugendcoaching

12,7 %

31,3 % 12,6 %

14,7 %

12,5 %

12,5 %

19,1 %

Tag der offenen Tür

47,2 %

29,9 % 39,4 %

38,3 %

56,3 %

60,0 %

38,2 %

Berufsinformationsmesse

11,2 %

4,9 %

8,9 %

5,2 %

15,6 %

4,2 %

7,1 %

Berufsinformationszentren des AMS

4,3 %

6,4 %

8,4 %

4,7 %

6,3 %

12,0 %

5,8 %

* Es gab dichotome (ja/nein) Antwortmöglichkeiten. Die dargestellten Prozentanteile beziehen sich auf die »Ja«-Antworten für die jeweilige Gruppe in Bezug auf eine Informationsquelle. Die Tabelle ist daher zeilenweise zu lesen.

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Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

Die Anzahl der bekannten Schultypen war praktisch unabhängig von der Bildung der Eltern (für die Bildungsabschlüsse von Mutter und Vater war die erklärte Varianz kleiner als 1 %). Wie gerade erwähnt, können Eltern eine wichtige Ressource in Hinblick auf die Bildungs- und Berufsorientierung sein (siehe Kapitel 6). Daher lohnt es sich, ihr Engagement beispielsweise in der Beteiligung der Eltern an Schulveranstaltungen näher zu betrachten: Die Eltern von knapp einem Fünftel der Jugendlichen gingen immer zu Schulveranstaltungen, während die Eltern von 15 % der Befragten nie hingingen. Jugendlichen gingen die Eltern immer zu Schulveranstaltungen, bei 15 % nie (siehe Tabelle 11). Über die Schule sprachen die Befragten in über 80 % der Fälle »oft« oder »manchmal« mit ihren Eltern, nur 3 % »nie«. Mädchen gaben dabei an, dass ihre Eltern häufiger einbezogen waren als Jungen: Sowohl der Besuch von Schulveranstaltungen durch Eltern als auch das Sprechen mit den Eltern über die Schule waren bei Mädchen signifikant häufiger als bei Jungen. Tabelle 11: Beteiligung der Eltern am Schulgeschehen Wie häufig gehen die Eltern zu Schulveranstaltungen? Wie häufig sprechen die Befragten mit den Eltern über Schule?

Immer 19 %

Oft 21 %

Manchmal 24 %

Selten 21 %

Nie 15 %

-

52 %

31 %

14 %

3%

Erwartungsgemäß hing das Engagement der Eltern im Hinblick auf die Schule mit ihrem Bildungsstand zusammen. Schaut man genauer hin, unterscheiden sich hier die Schüler_innen, deren Mütter oder deren Väter keinen Bildungsabschluss haben, von allen anderen Befragten. Das heißt, dass sich die Häufigkeit der Besuche von Schulveranstaltungen der Eltern ohne Bildungsabschluss signifikant von jener der Eltern mit einem Bildungsabschluss – egal welcher Höhe – unterscheidet. Der Effekt des Bildungsabschlusses der Mutter war hier stärker als der des Vaters, was vermutlich damit zusammenhängt, dass häufiger die Mütter zu Schulveranstaltungen gehen als die Väter. Beim Sprechen über die Schule hatte der Bildungsabschluss der Mutter keinen Einfluss auf die Häufigkeit, beim Vater jedoch schon: Mit einem Vater ohne Bildungsabschluss sprachen die Kinder seltener über die Schule, als wenn der Vater einen Bildungsabschluss hatte – und zwar auch hier unabhängig von der Höhe. Dies könnte damit zusammenhängen, dass der Vater quasi nicht als kompetenter Ansprechpartner bezüglich Schulangelegenheiten wahrgenommen wird, die Mutter eher, oder dass Schulangelegenheiten prinzipiell eher in die Domäne der Mutter fallen.

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Heterogenität am Ende der NMS

Im Sinne von allgemeinem Sozialkapital wurde im Rahmen der Online-Befragung auch danach gefragt, ob es für verschiedene Situationen Personen gibt, die man um Hilfe bitten kann. Konkret wurde nach Unterstützung bei der Arbeitsplatzsuche, bei Geldsorgen, beim Lernen, bei Ärger in der Schule oder in der Familie gefragt. Für die meisten Situationen kannten jeweils über 80 % der Jugendlichen mindestens eine Person, die ihnen helfen könnte. Lediglich bei Ärger in der Familie sahen rund ein Drittel der Jugendlichen keine Möglichkeit der Unterstützung (siehe Tabelle 12). Tabelle 12: Kennst du jemanden, der …?* … der dir bei der Suche nach einem Arbeitsplatz helfen kann? … von dem du dir Geld leihen kannst?

84 % 83 %

… der dir beim Lernen helfen kann?

85 %

… der dir hilft, wenn du Ärger in der Schule hast?

85 %

… der dir hilft, wenn du Ärger mit der Familie hast?

69 %

* Dargestellt sind die Werte der Befragten, die mit »ja« geantwortet haben.

Unterscheidet man nach der Bildung des Vaters und der Mutter, zeigten sich bei allen Items (unterschiedlich stark ausgeprägte) umgekehrte U-Verteilungen mit signifikanten Unterschieden: Hatte der Vater oder die Mutter studiert oder keinen Abschluss, waren am wenigsten Ressourcen vorhanden. Vor allem Kinder von Eltern ohne Schulabschluss gaben im Durchschnitt am häufigsten an, niemanden bei den genannten Problemen um Hilfe bitten zu können. Unter dem Blickwinkel der sozialen Ungleichheit bedeutet dies, dass Kinder von Eltern mit einem »mittleren« Bildungsabschluss häufiger angeben, soziale Ressourcen im Sinne von Unterstützung bei Problemen zu haben als die Gruppe mit Studium oder keinem Schulabschluss der Eltern. Tabelle 13: Soziales Kapital unterschieden nach Bildungsstand der Eltern*

Kennst du jemanden …

PflichtKein schulSchulStudium Matura Lehre abschluss abschluss Bildung Mutter

… der dir bei der Suche nach einem 80 % Arbeitsplatz helfen kann?

83 %

91 %

84 %

83 %

… von dem du dir Geld leihen kannst?

83 %

85 %

86 %

85 %

79 %

… der dir beim Lernen helfen kann? 84 %

88 %

88 %

85 %

78 %

… der dir hilft, wenn du Ärger in der Schule hast?

88 %

88 %

85 %

78 %

85 %

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Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

(Fortsetzung) Kein PflichtSchulschulKennst du jemanden … Studium Matura Lehre abschluss abschluss … der dir hilft, wenn du Ärger mit 72 % 70 % 75 % 69 % 66 % der Familie hast? Bildung Vater … der dir bei der Suche nach einem 81 % Arbeitsplatz helfen kann?

81 %

88 %

87 %

80 %

… von dem du dir Geld leihen kannst?

82 %

83 %

87 %

84 %

77 %

… der dir beim Lernen helfen kann? 89 %

91 %

86 %

85 %

77 %

… der dir hilft, wenn du Ärger in der Schule hast?

83 %

88 %

88 %

84 %

79 %

… der dir hilft, wenn du Ärger mit 71 % der Familie hast?

75 %

73 %

68 %

63 %

* Dargestellt sind die Anteile der Personen, die mit »ja« geantwortet haben. Die Tabelle ist daher zeilenweise zu interpretieren.

Im Umkehrschluss und im Sinne der multiplen Benachteiligung kann man auch errechnen, wie viele Jugendliche für alle oder keine der genannten Situationen eine Ansprechperson hatten. Gut die Hälfte konnte in allen Fällen auf soziale Ressourcen zurückgreifen. Knapp 2 % hatten für keinen der vier Fälle soziale Unterstützung. Hier zeigte sich dann auch der eben genannte Einfluss der Bildung: Wenn die Eltern eine Lehre als höchsten Bildungsabschluss hatten, schienen die sozialen Ressourcen am höchsten: In dieser Gruppe wurde am häufigsten angegeben, dass für alle genannten Probleme eine Ansprechperson vorhanden sei. Vergleicht man Mädchen und Jungen, zeigt sich ein signifikanter Unterschied darin, dass Jungen bei Geldsorgen, Ärger in der Schule oder in der Familie eher jemanden kannten, der ihnen helfen könnte, als Mädchen. Auch insgesamt haben Jungen bei allen fünf Items häufiger als Mädchen angegeben, dass sie jemanden kennen. Unterschieden nach »Migrationshintergrund« ist es die erste Generation, die vergleichsweise am häufigsten durchgängig angibt, niemanden zu haben, der bei den genannten Problemen helfen könnte, wobei der Unterschied zwischen der ersten Generation und der zweiten Generation (mit beiden Eltern im Ausland geboren) nicht signifikant ist, d. h. in diesen beiden Gruppen greifen ähnliche Ungleichheitsstrukturen im Hinblick auf das soziale Kapital.

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Heterogenität am Ende der NMS

Tabelle 14: Soziales Kapital unterschieden nach »Migrationshintergrund« der Befragten*

Kennst du jemanden … … der dir bei der Suche nach einem Arbeitsplatz helfen kann?

»Migrationshintergrund« der Befragten 2. Gene- 2. Gene- 3. Gene1. Kein ration ration »Migra- Gene- ration (max. (beide ration (ein tionsEltern im drei ElternhinterAusland Großteil im grund« Ausland geb.) eltern geb.) im Ausland geb.)

3. Generation (alle Großeltern im Ausland geb.)

91 %

76 %

89 %

86 %

96 %

80 %

… von dem du dir Geld leihen kannst?

86 %

74 %

88 %

86 %

93 %

75 %

… der dir beim Lernen helfen kann?

89 %

81 %

86 %

87 %

94 %

84 %

… der dir hilft, wenn du Ärger in der Schule hast?

90 %

79 %

85 %

86 %

96 %

76 %

… der dir hilft, wenn du 78 % Ärger mit der Familie hast?

63 %

71 %

68 %

83 %

68 %

* Dargestellt sind die Anteile der Personen, die mit »ja« geantwortet haben. Die Tabelle ist daher zeilenweise zu interpretieren.

4.4.2.2. Einstellungen und Erwartungen Gefragt danach, was ihnen bei der Wahl eines Berufs wichtig ist, ist der Spaß an der Arbeit 84 % der Jugendlichen sehr wichtig, ein sicherer Arbeitsplatz knapp 80 %, und 64 % sehen ausreichend Zeit für Freund_innen und Familie als sehr wichtiges Kriterium bei der Berufswahl an. Die Bezahlung ist rund 60 % der Jugendlichen sehr wichtig. Arbeiten im Büro (21 %), Umgang mit Technik (19 %) und der Wunsch der Eltern (19 %) sind den Jugendlichen dagegen vergleichsweise unwichtig. Tabelle 15: Wichtigkeit verschiedener Kriterien für die Berufswahl

Spaß an der Arbeit

Sehr wichtig 84 %

Eher wichtig 13 %

Eher unwichtig 2%

Sehr unwichtig 1%

Sicherer Arbeitsplatz

80 %

17 %

3%

1%

Zeit für Freund_innen und Familie

64 %

30 %

6%

1%

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Susanne Vogl / Michael Parzer / Franz Astleithner / Barbara Mataloni

(Fortsetzung) Sehr wichtig

Eher wichtig

Eher unwichtig

Sehr unwichtig

Bezahlung

59 %

35 %

5%

1%

Anderen zu helfen

50 %

35 %

13 %

3%

Arbeit, bei der man immer etwas Neues lernt

50 %

36 %

11 %

2%

Umgang mit Technik

25 %

27 %

28 %

19 %

Arbeit mit körperlicher Bewegung

25 %

41 %

27 %

7%

Arbeit in einem Büro

17 %

29 %

33 %

21 %

Was meine Eltern wollen

16 %

33 %

32 %

19 %

In Hinblick auf Geschlechtsunterschiede zeigen sich einige interessante Differenzen: Der Wunsch nach einer Arbeit im Büro und auch der Wunsch nach einer Arbeitsstelle, in der man etwas Neues lernt, unterschieden sich unter den Geschlechtern nicht, aber Mädchen waren die Bezahlung, die Arbeitsplatzsicherheit, die körperliche Bewegung und vor allem der Umgang mit Technik, aber auch der Wunsch der Eltern weniger wichtig als Jungen. Dagegen gaben Mädchen signifikant häufiger an, anderen helfen zu wollen, aber auch ausreichend Zeit für Freund_innen und Familie zu haben, und dass die Arbeit Spaß machen sollte. Bezüglich des Bildungsstands der Eltern gab es ebenfalls Unterschiede, allerdings nur für den Bildungsabschluss der Mutter : Je höher der Bildungsabschluss der Mutter, desto weniger wichtig war das Kriterium »was meine Eltern wollen« (3 % Varianzerklärung). Ansonsten ergaben sich zwar signifikante, aber praktisch nicht relevante Unterschiede der Wichtigkeit dieser Kriterien und dem Bildungsstand von Mutter und Vater. Interessant war noch die Gruppe an Befragten, deren Väter keinen Schulabschluss haben. Diese Kinder scheinen – unabhängig vom Inhalt der Frage – eine höhere Wichtigkeit der Kriterien angeklickt zu haben als die anderen Gruppen. Man könnte hinter diesem Antworteffekt vermuten, dass ein eher diffuses Bild zu Berufsvorstellungen bestand – es ist eventuell weniger wichtig, was für einen Job man hat, als dass man einen guten Job hat. In abgeschwächter Form fand sich diese Tendenz auch bei Müttern ohne Bildungsabschluss. Berücksichtigt man den »Migrationshintergrund«, ergaben sich in allen genannten Kriterien Unterschiede zwischen den Jugendlichen ohne und jenen mit »Migrationshintergrund« (unabhängig von der Generation), wobei der Unterschied zwischen erster Generation und den Jugendlichen ohne »Migrationshintergrund« in der Regel am größten war. Besonders groß waren die Unterschiede bei Arbeiten im Büro und dem Wunsch der Eltern: Beide Aspekte waren

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Heterogenität am Ende der NMS

Kindern der ersten Generation wichtiger als Jugendlichen ohne »Migrationshintergrund«. Spaß an der Arbeit war dagegen den »einheimischen« Jugendlichen wichtiger. Letztere schienen eher Wert auf »Selbstverwirklichung« zu legen, Migrant_innen eher auf Sicherheit und Konformität. Die Einstellung zu bzw. der subjektive Wert von Bildung ist ein wichtiger Faktor für Erfolg im Bildungssystem. Der Wert der Bildung wurde insgesamt von den NMS-Schüler_innen eher hoch angesehen: Mehr als drei Viertel stimmten der Aussage zu, dass man mit einer guten Bildung bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt hat. Die Schule als Zeitverschwendung sahen nur knapp 6 %, Mädchen insgesamt seltener als Jungen. Trotzdem war das Interesse am Unterricht eher durchwachsen (siehe Tabelle 16). Tabelle 16: Einstellung zu Bildung/Wert von Bildung

Mit einer guten Bildung habe ich bessere Chancen eine Arbeit zu bekommen.

Stimmt Stimmt Stimmt Stimmt eher eher nicht nicht 77 % 18 % 3% 1%

Die Schule ist Zeitverschwendung.

6%

9%

27 %

58 %

Der Unterricht interessiert mich.

29 %

49 %

15 %

8%

Der Bildungsstand der Mutter (nicht der des Vaters) wirkte sich auf die Einstellung zu Bildung der Jugendlichen aus: Chancen am Arbeitsmarkt wurden als besser eingeschätzt, wenn die Mutter einen Bildungsabschluss hatte – egal welcher Höhe. Entgegen unserem Alltagsverständnis bestand mehr Interesse am Unterricht, wenn die Mutter keinen Bildungsabschluss hatte. Bei der Einschätzung, ob Schule Zeitverschwendung sei, fand sich kein signifikanter Unterschied.11 Auch der »Migrationshintergrund« beeinflusste das Interesse am Unterricht: Das war in der ersten Generation höher als bei allen anderen Gruppen. Fazit: Sowohl Kinder mit »Migrationshintergrund« als auch Kinder mit Müttern ohne Bildungsabschluss fanden den Unterricht interessanter. Aus der Forschung ist bekannt, dass auch die Freund_innen einen Einfluss auf den Schulerfolg und die Einstellung zu Bildung haben. Daher haben wir gefragt, wie die Jugendlichen die Einstellung der Freund_innen beurteilen. Wobei einschränkend angemerkt wird, dass es sich hierbei um eine Fremdauskunft handelt, die in der Regel weniger zuverlässig ist. Dennoch ist diese Einschätzung für die Jugendlichen selbst handlungsrelevant. Auch hier zeigte sich ein vielschichtiges Bild: Den Angaben der Jugendlichen zufolge wollten im Prinzip die 11 Das könnte aber auch ein Messproblem sein, weil die Frage praktisch negativ formuliert ist: Um zu sagen, dass die Schule keine Zeitverschwendung ist, muss man »stimmt nicht« anklicken.

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meisten oder wenigstens manche ihrer Freund_innen mit ihren Lehrer_innen gut auskommen und bemühten sich auch in der Schule. Trotzdem würden auch einige die Schule langweilig finden (siehe Tabelle 17). Freund_innen, denen die Schule egal war, gab es selten, jeweils weit unter 10 % gaben an, keine Freund_innen zu haben, die nicht mit den Lehrer_innen gut auskommen, sich nicht bemühen oder die Schule langweilig finden. Tabelle 17: Einstellung der Freund_innen zu Bildung Alle

Die Manche Keine meisten Wie viele deiner Freund_innen finden es wichtig, mit 14 % 47 % 33 % 7% den Lehrer_innen gut auszukommen? Wie viele deiner Freund_innen bemühen sich in der 9 % Schule? Wie viele deiner Freund_innen finden Schule langweilig?

48 %

39 %

3%

17 % 37 %

42 %

5%

Der Bildungsstand der Eltern stand in keinem Zusammenhang mit der von den Befragten angegebenen Einstellung der Freund_innen zur Schule. Geschlechterunterschiede gab es hier keine. Für Freund_innen von Kindern der ersten Generation zeigte sich eine leicht positivere Einstellung zur Schule als bei den Freund_innen der zweiten Generation oder bei den »einheimischen« Jugendlichen. Die Freund_innen von Kindern der ersten Generation bemühten sich im Vergleich zu den Freund_innen von Jugendlichen ohne »Migrationshintergrund« demnach anscheinend häufiger, mit den Lehrer_innen gut auszukommen. Einen Einfluss auf die Bildungsverläufe haben nicht nur die Einstellungen der Jugendlichen und ihrer Freunde zu Bildung, sondern natürlich auch die Lehrer_innen. Etwa zwei Drittel der Befragten gaben an, dass die Lehrer_innen den Besuch einer weiterführenden Schule befürworten: 41 % stimmen der Aussage »Meine Lehrer_innen wollen, dass ich eine weiterführende Schule mache« zu und 27 % stimmten eher zu, 18 % stimmten nicht zu. Mädchen gaben häufiger an, dass die Lehrer_innen wollten, dass sie eine weiterführende Schule absolvierten. Mit der Höhe des Bildungsabschlusses des Vaters und der Mutter stieg ebenfalls die Anzahl der Jugendlichen, die glaubten, dass sie laut ihrer Lehrer_innen auf eine weiterführende Schule gehen sollten. Der »Migrationshintergrund« beeinflusste dagegen die wahrgenommene Empfehlung der Lehrer_innen nicht. Insgesamt gilt: Die Bildung der Eltern beeinflusste – wie theoretisch zu erwarten – die Einstellung der Jugendlichen zu Bildung, zum einen strukturell, indem mit einem höheren Bildungsabschluss der Eltern die Lehrer_innen eher

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Heterogenität am Ende der NMS

eine weiterführende Schule empfahlen, zum anderen aber auch durch die Einstellungen: Die Arbeitsmarktchancen durch gute Bildung wurden mit einem höheren Bildungsabschluss der Eltern positiver eingeschätzt. 4.4.2.3. Zukunftsvorstellungen In fünf Fragen haben wir auch die Zukunftsvorstellungen der Jugendlichen erfasst. Mit einer vierstufigen Zustimmungsskala haben wir gefragt, ob sie denken, dass sie ihren Wunschberuf erreichen werden, ob sie sobald wie möglich Geld verdienen möchten, ob sie Hausmann/Hausfrau werden möchten, ob sie sich Kinderbetreuung und Hausarbeit gleichermaßen mit dem Partner/der Partnerin aufteilen wollen und ob sie später in Österreich leben möchten. Den Wunschberuf zu erreichen hielten 60 % für realistisch und stimmten voll zu, und weitere 35 % stimmten eher zu. Insgesamt waren die Jugendlichen diesbezüglich also optimistisch und es gab keine Geschlechterunterschiede und keine Unterschiede auf Basis des »Migrationshintergrunds« oder des Bildungshintergrundes der Eltern. Tabelle 18: Zukunftsvorstellungen und -wünsche Stimmt Stimmt eher 59 %

35 %

Stimmt Stimmt eher nicht nicht 5% 2%

Ich möchte sobald wie möglich Geld verdienen. 42 %

36 %

18 %

3%

Ich möchte später Hausfrau oder Hausmann sein.

4%

19 %

75 %

Ich möchte mir Kinderbetreuung und Haushalt 36 % mit meinem Partner oder meiner Partnerin gleich aufteilen.

32 %

14 %

18 %

Ich möchte später in Österreich leben.

27 %

12 %

7%

Ich werde meinen Wunschberuf erreichen.

3%

54 %

Die Jugendlichen wollten häufig sobald wie möglich Geld verdienen (42 % stimmten zu und 36 % stimmten eher zu), Hausmann oder Hausfrau zu sein war dementsprechend für die überwiegende Mehrheit kein Ziel. Was die gleiche Aufteilung von Kinderbetreuung und Hausarbeit unter den Partner_innen betrifft, stimmten insgesamt zwei Drittel voll oder eher zu. Mädchen war es nicht so wichtig möglichst schnell Geld zu verdienen, dafür wollten sie häufiger Hausfrau sein, ihnen war aber trotzdem die gleiche Aufteilung von Haushalt und Kinderbetreuung mit dem Partner wichtiger als den Jungen. Wenn der Vater oder die Mutter keinen Schulabschluss hatte, wollten die Jugendlichen vergleichsweise schneller Geld verdienen – eventuell weil sie sich

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eine Ausbildung auch nicht leisten konnten. Eine gleiche Aufgabenverteilung war ihnen weniger wichtig, wenn der Vater keinen Abschluss hatte. Der ersten und zweiten Generation (mit einem Elternteil im Ausland geboren) war die gleiche Arbeitsteilung in der Partnerschaft weniger wichtig als den »einheimischen« Jugendlichen. Österreich als zukünftiger Wohnort war für gut die Hälfte das Ziel, rund 20 % wollten aber in Zukunft eher nicht oder sicher nicht hier leben (siehe Tabelle 18). Tendenziell wollten Mädchen etwas seltener in Zukunft in Österreich leben als Jungen. Kinder mit Eltern ohne Schulabschluss wollten häufiger in Österreich bleiben, Kinder der ersten Generation dagegen vergleichsweise seltener. 4.4.2.4. Zukunftsängste Trotz des eben dargestellten Optimismus, den Wunschberuf erreichen zu können, zeigte die Frage nach Zukunftsängsten, dass sich die NMS-Schüler_innen sehr wohl Sorgen machen, keine Arbeit finden zu können: 18 % machten sich »immer« und 30 % »oft« darüber Sorgen (siehe Tabelle 19). An zweiter Stelle der Zukunftssorgen rangiert »zu wenig Geld zu haben«: Hier gaben 15 % an, sich »immer« darüber zu sorgen, und 27 % »oft«. Weniger Bedenken hatten die Jugendlichen hinsichtlich »Problemen mit der Polizei« oder »keine Freund_innen zu haben«. Tabelle 19: Wie häufig machen sich die Jugendlichen sorgen darüber, …? … keine Arbeit finden zu können

Immer 18 %

Oft 30 %

Selten 33 %

Nie 19 %

… keine Freund_innen haben

10 %

15 %

25 %

50 %

… Probleme mit der Polizei zu haben

6%

7%

20 %

68 %

… zu wenig Geld zu haben

15 %

27 %

38 %

21 %

… schwer krank zu sein

12 %

16 %

37 %

34 %

Vergleicht man die Geschlechter, so waren die Mädchen bei allen Items besorgter als die Jungen, außer hinsichtlich Problemen mit der Polizei. Probleme mit der Polizei zu bekommen war für Jungen häufiger eine Sorge. Die Angst, keine Arbeit finden zu können, sank mit steigendem Bildungsstand der Eltern.

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4.5. Zusammenfassung und Ausblick Entgegen der landläufigen Meinung handelt es sich bei NMS-Schüler_innen in Wien um eine heterogene Gruppe. Beispielsweise hatte etwa jeder fünfte Vater und jede fünfte Mutter der Befragten ein abgeschlossenes Studium. Zwei Drittel der Väter und gut ein Drittel der Mütter hatten einen Beruf, bei dem es um das Bedienen und die Reparatur von Maschinen oder das Handhaben und Aufbewahren von Informationen geht (ISEI-Anforderungsniveau 2), rund 17 % hatten einen Beruf, der komplexe Problemlösung und Entscheidungsfindung beinhaltet (ISEI-Anforderungsniveau 4). Das bedeutet: Weder sind die Eltern alle formal niedrig gebildet, noch führen sie nur einfache Tätigkeiten aus. Die Charakterisierung der NMS-Schüler_innenschaft als Problemgruppe trifft aber auch auf die Sprachkompetenz nicht in dem Ausmaß zu, wie häufig suggeriert wird: Auch wenn fast die Hälfte der Jugendlichen eine andere Muttersprache als Deutsch mit den Eltern hatte, so sprachen doch fast alle (über 90 %) mit ihren Freund_innen üblicherweise Deutsch. In diesem Beitrag wurden die Ausgangslange vor dem Übergang nach der NMS anhand von Geschlecht, Bildungsstand der Eltern und »Migrationshintergrund« verglichen. Geschlechtsunterschiede zeigten sich in vielfältiger Weise: Mädchen nutzten mehr Informationsquellen und verfügten über mehr Information über den bevorstehenden Übergang als Jungen. Mädchen berichteten über ihre Eltern, dass diese stärker ins Schulgeschehen involviert sind, und Mädchen hatten andere Kriterien für die Berufswahl als Jungen: Ihnen war es wichtiger anderen zu helfen, ausreichend Zeit für Familie und Freund_innen sowie Spaß an der Arbeit zu haben. Jungen waren dagegen Bezahlung, Arbeitsplatzsicherheit, Umgang mit Technik und Bewegung wichtiger, aber auch der Wunsch der Eltern. Auch die Zukunftsvorstellungen unterschieden sich, denn Mädchen war es nicht so wichtig möglichst schnell Geld zu verdienen, sie wollten häufiger Hausfrau werden, ihnen war aber trotzdem die gleiche Aufteilung von Haushalt und Kinderbetreuung mit dem Partner wichtiger als den Jungen. Gleichzeitig waren Mädchen prinzipiell besorgter um die Zukunft – abgesehen von Problemen mit der Polizei: Diese Sorge hatten vor allem Jungen. Der Bildungsstand der Eltern hatte ebenfalls in einigen Aspekten einen signifikanten Einfluss. So sprachen beispielsweise Broschüren (z. B. vom AMS) und der Tag der offenen Tür anscheinend eher Jugendliche mit höher gebildeten Eltern an. Darüber hinaus zeigte sich die Gruppe der Jugendlichen, deren Eltern keinen Schulabschluss haben, vielfältig benachteiligt: Die Beteiligung am Schulgeschehen war seltener, wenn die Eltern keinen Bildungsabschluss hatten; wenn der Vater keinen Schulabschluss hatte, sprachen die Kinder seltener mit ihm über die Schule, und auch bei Problemen waren es die Kinder mit Eltern ohne Schulabschluss, die im Durchschnitt am häufigsten antworteten, nie-

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manden bei den von uns genannten Problemen um Hilfe bitten zu können. Wenn der Vater oder die Mutter keinen Schulabschluss hatte, wollten die Jugendlichen vergleichsweise schneller Geld verdienen. Die Bildung der Eltern beeinflusste auch die Einstellung zur Bildung. Zum einen strukturell, indem Kinder von Eltern mit höheren Bildungsabschluss eher für eine weiterführende Schule empfohlen wurden als Kinder von Eltern mit niedriger Bildung (wobei dafür unterschiedliche Faktoren, z. B. auch Schulnoten, verantwortlich sind), zum anderen aber auch durch die Einstellungen: Die Arbeitsmarktchancen durch gute Bildung wurden mit einem höheren Bildungsabschluss der Eltern positiver eingeschätzt. Beim Bildungsabschluss der Eltern stach in vielerlei Hinsicht die Gruppe derer hervor, deren Eltern keinen Schulabschluss hatten; hinsichtlich des »Migrationshintergrunds« war es die erste Generation: Diese Jugendlichen waren schlechter über das Bildungssystem informiert, konnten Eltern und Freund_innen weniger als Ressource für bildungsbezogene Informationen nutzen und hatten auch ansonsten häufiger niemanden, der bei Problemen helfen könnte. Bezogen auf Kriterien der Berufswahl war auffallend, dass Jugendliche, die selbst migriert waren, mehr Wert auf eine Arbeitsstelle in einem Büro und den Wunsch der Eltern legten als Jugendlichen ohne »Migrationshintergrund«. Spaß an der Arbeit war dagegen den »einheimischen« Jugendlichen wichtiger. Insgesamt zeigte sich ein sehr komplexes Gemenge von Unterschieden. Die hier zugrunde gelegten Strukturkategorien haben einen vielfältigen Einfluss auf die Voraussetzungen für den Übergang und die Vorstellungen über das weitere Leben. Die NMS-Schüler_innenschaft ist deutlich heterogener als gewöhnlich angenommen. Gerade um die gesellschaftlich bedingte Determination von Möglichkeitsräumen sowie die vielfältigen Mechanismen der Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit zu verstehen, ist es wichtig, dieser Heterogenität Rechnung zu tragen. Insbesondere die Untersuchung unterschiedlicher Ausgangspositionen am Ende der NMS kann dazu beitragen, den Blick für Exklusionsrisiken, die aus dem Zusammenspiel von sozialer Herkunft, Geschlecht und »Migrationshintergrund« im Kontext Schule entstehen, zu schärfen.

4.6. Literatur Bacher, Johann (2009): Soziale Ungleichheit, Schullaufbahn und Testleistungen, in: Birgit Suchan´, Christina Wallner-Paschon und Claudia Schreiner (Hrsg.), PIRLS 2006. Die Lesekompetenz am Ende der Volksschule – Österreichischer Expertenbericht, Graz: Leykam, S. 79–101.

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5.

Was auch immer du willst – Bildungsaspirationen von Schüler_innen in NMS in Wien

5.1. Einleitung In der Wissensgesellschaft sind schulische und berufliche Ausbildungen zum einen entscheidend für die Chancen am Arbeitsmarkt, zum anderen aber auch für die Integration in die Gesellschaft generell. Bildungsaspirationen, also das, was von den Jugendlichen als erstrebenswert erachtet wird, hat deshalb weitreichende individuelle und gesellschaftliche Implikationen. Welche Ziele Jugendliche anstreben und ob diese erreicht werden, hängt allerdings maßgeblich von ihrer (Bildungs-)Herkunft ab. Unterschiedliche Bildungsaspirationen und unterschiedlich verteilte Chancen, diese umzusetzen, sind daher ein bedeutender Aspekt in der Reproduktion und Strukturierung sozialer Ungleichheit. Die Aspirationen spiegeln nämlich nicht nur den Möglichkeitsraum wider, den Jugendliche für sich erkennen, sondern hängen auch mit den tatsächlich realisierten Bildungsergebnissen zusammen (Beal und Crockett 2010; Feliciano und Lanuza 2016). Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum Bildungsaspirationen ein so großes wissenschaftliches und politisches Interesse zukommt. In diesem Beitrag untersuchen wir, in welchem Zusammenhang verschiedene sozialstatistische Merkmale (Geschlecht, Bildungsstand der Eltern oder »Migrationshintergrund«1) mit der Höhe der Bildungsaspirationen von Schüler_innen in NMS in Wien stehen, einer Gruppe, über die wir bisher diesbezüglich wenig wissen. Bereits am Übergang nach der Volkschule zeigen sich für verschiedene Gruppen sozial strukturierte Übertrittswahrscheinlichkeiten in AHS und NMS. Jugendliche aus höherer sozialer Herkunft wählen eher eine AHS. Nur 29 % der Unterschiede in der Schulwahl lassen sich an diesem Übergang durch Leis1 Wir sind uns der problematischen Aspekte des Begriffs »Migrationshintergrund« bewusst. Aufgrund der weit verbreiteten Verwendung in der quantitativen Bildungsforschung und weil eine weitere Differenzierung der Herkunft für diesen Beitrag den Rahmen sprengen würde, behalten wir ihn unter Vorbehalt bei. Um dieses Unbehagen auszudrücken, wird der Begriff durchgehend unter Anführungszeichen gesetzt.

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tungsunterschiede erklären (Bruneforth et al. 2012). Zudem ist Anteil von Jugendlichen mit »Migrationshintergrund« in NMS in Wien höher als in AHSUnterstufen. Im Schuljahr 2017/2018 hatten an NMS in Wien rund 75 % nicht Deutsch als Umgangssprache. In AHS betrug der Wert rund 40 % (Statistik Austria 2018). Wir können also nicht davon ausgehen, dass wir Ergebnisse aus anderen Studien ohne weiteres auf unsere Population übertragen können. Gerade in der öffentlichen Debatte wird die Pauschalkategorie »Migrationshintergrund« häufig als Differenzkriterium hinsichtlich schlechter schulischer Leistung und problembehafteter Arbeitsmarkteinmündungen betrachtet. Und ein erster Blick in die Statistik scheint die Relevanz des Merkmals auch zu bestätigen. Im Durchschnitt von 2006 bis 2011 waren 8,6 % der Jugendlichen in Österreich (16–24 Jahre) weder in Ausbildung noch in Beschäftigung (Bacher et al. 2013), bei Jugendlichen mit »Migrationshintergrund« betrug der Wert 20 % (Bacher et al. 2013). Auch hinsichtlich frühen Bildungsabbruchs scheint Migration mit größerer Gefährdung einherzugehen. Jugendliche, die nicht in Österreich geborgen wurden, haben ein etwa drei Mal so hohes Risiko von frühem Bildungsabbruchwie jene mit Geburtsland Österreich (Steiner et al. 2016). Die Relevanz des Merkmals Migration verliert allerdings häufig an Erklärungskraft, wenn man die Bildungshintergründe der Jugendlichen berücksichtigt (z. B. Moser et al. 2016 für frühen Bildungsabbruch). Hinsichtlich der Bildungsaspirationen, die ja einen Einfluss auf spätere Bildungsabschlüsse haben, zeigt sich in verschieden Studien, dass Migrant_innen überdurchschnittlich hohe Bildungsaspirationen (Becker und Gresch 2016) haben und zwar auch unter Kontrolle der sozialen Position. Allerdings können sie ihre (hohen) Aspirationen seltener in entsprechende Bildungstitel umsetzen als Jugendliche ohne »Migrationshintergrund« (Hill und Torres 2010). Über die Höhe von und Einflüsse auf die Bildungsaspirationen von Jugendlichen in NMS in Wien wissen wir bisher aber wenig. Die Forschungsfrage für diesen Beitrag lautet daher, ob die Bildungsaspirationen, die Vorstellungen von dem, was als wünschenswert betrachtet wird, am Ende der NMS von der sozialen Herkunft und dem »Migrationshintergrund« abhängen? Daran anknüpfend kann geklärt werden, ob auch an dieser spezifischen Schwelle Bildungsaspirationen (noch) ein Faktor in der Reproduktion von sozialer Ungleichheit sind. Im nächsten Abschnitt werden der theoretische Bezugsrahmen zur Reproduktion sozialer Ungleichheit durch Bildungsaspirationen und der Forschungsstand diskutiert. Die Operationalisierung und die Methodik werden in Abschnitt drei beschrieben. In Abschnitt vier werden die Ergebnisse vorgestellt, welche abschließend diskutiert und zusammengefasst werden (Abschnitt fünf).

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5.2. Theoretische Einbettung und Stand der Forschung Unter Bildungsaspirationen werden die angestrebten Bildungsziele, also welchen höchsten Bildungsabschluss die Jugendlichen erreichen wollen, verstanden. Je nachdem, ob in der Formulierung dieser Ziele die Rahmenbedingungen und die persönlichen Umsetzungschancen Berücksichtigung finden oder ob sie sich auf die Wünsche, unabhängig von den tatsächlichen Möglichkeiten, beziehen, werden idealistische und realistische Bildungsaspirationen unterschieden. Die realistischen Bildungsaspirationen sind daher tendenziell niedriger als die idealistischen (vgl. Becker und Gresch 2016). Die in Kapitel 1 beschriebenen hauptsächlich auf Bourdieu aufbauenden Theorien zum Möglichkeitsraum von Jugendlichen bilden auch für diesen Beitrag den theoretischen Hintergrund dafür, wie Bildungsaspirationen entstehen. In einem Zusammenspiel aus individuellen Vorlieben bzw. Wünschen und sozialer Position werden unterschiedliche Bildungs- und Berufslaufbahnen als möglich und wünschenswert betrachtet und nachgelagert auch eingeschlagen bzw. erreicht. Die Verteilung dieser Wünsche und Ressourcen ist in einer Gesellschaft keinesfalls zufällig, wie Bourdieu in seinem Buch »Die feinen Unterschiede« (1987) zeigte, sondern wird von der jeweiligen sozialen Position geprägt (siehe Kapitel 1). Wünsche und Vorlieben sind demnach als Teil eines (familiären) Habitus zu betrachten, der strukturiert, was überhaupt als Möglichkeit gesehen wird. Bildungsaspirationen (Bittlingmayer und Bauer 2007) oder Berufsaspirationen, etwa Vorlieben für frühen Eintritt ins Arbeitsleben (Altreiter 2019; Willis 1977), sind also sozial vorstrukturiert. Der Habitus »filtert den Horizont des Vorstellbaren, die Legitimität der Wünsche, die Akzeptanz der Grundüberzeugungen und die Angemessenheit der Verhaltensweisen, die darüber entscheiden, inwieweit der Habitus sozial anschlussfähig ist« (Ecarius und Wahl 2009: 14). Für die Umsetzung der jeweiligen Aspirationen sind wiederum gewisse Ressourcen notwendig und determinieren die Erfolgswahrscheinlichkeiten. Ökonomisches, soziales und kulturelles Kapital ermöglichen erst, im Habitus verankerte Ziele auch zu erreichen (Bourdieu 2005). Hinsichtlich des Erfolges im Bildungssystem sind vor allem die Variationen des kulturellen Kapitals von besonderer Bedeutung (Ecarius und Wahl 2009; Scherger und Savage 2010). Aus einer anderen theoretischen Perspektive etablierte Boudon (1974) hinsichtlich der Reproduktion sozialer Ungleichheit eine bis heute sehr gebräuchliche und wichtige Unterscheidung in einen primären Effekt und einen sekundären Effekt der sozialen Herkunft. Der primäre Effekt bezieht sich darauf, welchen Einfluss der familiäre Sozialstatus auf die intellektuellen Fähigkeiten bzw. die Schulleistung hat. Der sekundäre Effekt bewirkt, dass unabhängig von den primären Effekten in unterschiedlichen Gruppen unterschiedliche Ziele angestrebt werden. Die soziale Positionierung wird somit ein Ergebnis bil-

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dungs-, ausbildungs- und arbeitsbezogener Interessen, die sich aus der Herkunft und der Verfügbarkeit kulturellen Kapitals ergeben. Bildungsaspirationen werden somit zu einem Teil der sekundären Effekte der Herkunft. So ist davon auszugehen, dass gruppenspezifische Einstellungen gegenüber Bildung bzw. beruflichen Zielen auschlaggebend sind für unterschiedliche gesellschaftliche Positionierungen. Für die quantitative Forschung zu Bildungsaspirationen sind zudem noch auf dem Wisconsin-Modell aufbauende Rational-Choice-Zugänge nennenswert. Das Wisconsin-Modell des intergenerationalen Statuserhalts (Sewell et al. 1969) stellt eine Erweiterung des Blau-Duncan-Modells um sozialpsychologische Aspekte dar. Die Bildungsaspirationen werden demnach von den kognitiven Leistungen, aber auch vom sozialen Kontext beeinflusst. Auch in dieser theoretischen Schule findet sich die Annahme, dass die Stellung in der Gesellschaft die eigenen Einstellungen gegenüber Bildung prägt. Neben den Eltern würden auch signifikante Andere die Aspirationen beeinflussen, wobei auch diese meistens wieder statushomogen sind. Rational-choice/action-Zugänge versuchen Bildungsentscheidungen durch eine Abwägung aus Kosten und Nutzen zu modellieren. Dabei gehen unterschiedliche Entscheidungen mit unterschiedlichen Bildungsrenditen einher. Bespielhaft für diese Zugänge wären etwa Breen und Goldthorpe (1997) oder Erikson und Jonsson (1996) zu nennen. Je nach Herkunft werden die Chancen und Renditen verschiedener Bildungswege unterschiedlich eingeschätzt, weshalb es möglich wird, die Reproduktion von sozialer Ungleichheit zu erklären. Wir wissen, dass Geschlecht und Klassenlage einen Einfluss auf die Bildungsentscheidungen haben (Altreiter 2019; Breen et al. 2009; Mahl et al. 2014) ebenso wie der »Migrationshintergrund« (Acar 2018; Bacher 2010; Becker und Gresch 2016; Diehl et al. 2016; Imdorf 2005; Weiss 2013).2 Jugendliche aus weniger privilegierter Herkunft streben auch unter Berücksichtigung des Schulerfolges z. B. seltener eine akademische Ausbildung an als Kinder privilegierter Familien (Jackson 2013). Es konnte in vielen Studien ein Zusammenhang zwischen dem familiären Status und den Aspirationen nachgewiesen werden (z. B. Buchmann und Dalton 2002; Salikutluk 2016; Zimmermann 2018). Becker und Lauterbach (2016) fassen zusammen, dass in niedrigeren sozialen Schichten die primären Effekte der Herkunft größere Bedeutung haben, während in den oberen sozialen Schichten vor allem die sekundären Effekte relevant sind. Für Jugendliche mit »Migrationshintergrund« scheint dieser Zusammenhang aller2 In diesem Beitrag wird hauptsächlich auf die europäische Forschung, im Speziellen aus Deutschland, Bezug genommen, da aufgrund des dualen Ausbildungssystems in beiden Länder Ergebnisse am ehesten auf den österreichischen Kontext übertragen werden können. Für den US-amerikanischen Raum seien beispielsweise Kao und Tienda (1998) zu nennen.

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dings keine universelle Gültigkeit zu haben, wie etwa Jonsson und Rudolphi (2011) für Schweden zeigen. Ähnliche Ergebnisse finden sich in Deutschland. Es zeigt sich, dass hinsichtlich primärer Effekte »Migrant[_innen]enkinder aus der Arbeiter[_innen]klasse und Familien mit niedrigem Bildungshintergrund deutlich schlechter abschneiden als die entsprechenden einheimischen Kinder. […] Dagegen konnten beim Vergleich sozialer Klassen keine sekundären Effekte für Migrant[_innen]enkinder gefunden werden, wohingegen die Bildungsentscheidungen einheimischer Familien stark durch sekundäre Effekte beeinflusst sind« (Relikowski et al. 2010: 164).

Das liegt unter anderem daran, dass die Bildungsaspirationen von Kindern mit »Migrationshintergrund« tendenziell höher sind als von Kindern ohne »Migrationshintergrund«, wie Studien aus unterschiedlichen Ländern zeigen (Bauer und Kain 2007; Becker und Gresch 2016; Gil-Hern#ndez und Gracia 2018; Granato 2014; Kao und Tienda 1998; Schönherr et al. 2014; Skrobanek 2007). Allerdings unterscheiden sich die Effekte für unterschiedliche Herkunftsregionen (Gil-Hern#ndez und Gracia 2018; Teney et al. 2013). Teney et al. (2013) finden in Belgien z. B. lediglich für vier von zehn untersuchte Herkunftsregionen (Sub-Sahara, Nord Afrika, Marokko und die Türkei) Evidenz für höhere migrantische Bildungsaspirationen. In verschiedenen Untersuchungen zeigt sich, dass auch die elterlichen Bildungsaspirationen einen vergleichsweise großen Einfluss auf die Bildungserwartungen der Jugendlichen haben (Buchmann und Dalton 2002; Relikowski et al. 2012; Salikutluk 2016). Aber auch hier macht das Herkunftsland einen großen Unterschied. So zeigt Becker (2010) mit den PISA-Daten für Deutschland, dass etwa elterliche Bildungsaspirationen bei Schüler_innen mit türkischer Herkunft deutlich höher sind als bei deutscher oder russischer Herkunft. Welche theoretischen Erklärungen können wir für die hohen Bildungsaspirationen finden? Becker und Gresch (2016) fassen sechs Erklärungsansätze für höhere Bildungsaspirationen bei Personen mit »Migrationshintergrund« zusammen. 1) Die These vom Zuwanderungsoptimismus geht davon aus, dass Zuwander_innen eine speziell selektierte Gruppe sind, die versucht haben, durch die Migration ihre gesellschaftliche Stellung zu verbessern, und demensprechend höhere idealistische Bildungsziele haben bzw. diese Ziele auch an die nächsten Generationen weitergeben (z. B. Kao und Tienda 1995). 2) Migrant_innen hätten Informationsdefizite, würden etwa weniger über die Bildungssysteme und ihre Anforderungen wissen als Einheimische und deshalb unrealistisch hohe Bildungsziele anstreben (vgl. Kao und Tienda 1998). Beispielsweise könnte fehlendes Wissen darüber, dass im dualen Ausbildungssystem auch ohne Universitätsabschluss vergleichsweise prestigeträchtige Berufe erlangt werden können, zu hohen Bildungsaspirationen beitragen (vgl. Hunkler

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und Tjaden 2018). 3) Die These vom variierenden Bezugsrahmen geht davon aus, dass Migrant_innen ihre Situation anders einschätzen als Einheimische. Probleme im Einwanderungsland werden als Folge der Migration und somit als vorübergehend betrachtet. Schlechtere Schulleistungen werden dann etwa als Konsequenz der Benachteiligung durch fehlende Sprachkenntnis angesehen und fließen dementsprechend anders in die Bewertung der aktuellen Situation ein, als dies bei Personen ohne »Migrationshintergrund« geschehe. Schlechtere schulische Leistungen der Kinder würden dann den Schwierigkeiten der Migration zugeschrieben. Ein anderer Aspekt bezieht sich auf das Schulsystem, welches im Vergleich zum Herkunftsland als durchlässiger empfunden werden kann (Ogbu 1987). 4) Die These von wahrgenommener bzw. antizipierter Diskriminierung zielt stärker auf die tatsächlichen Erfahrungen im Ankunftsland ab. Aufgrund persönlicher Diskriminierung würden Eltern mit »Migrationshintergrund« auf höhere Bildung setzen, um die Chancen ihrer Kinder zu erhöhen. So wäre stärkere Diskriminierung in niedriger qualifizierten Berufsfeldern dafür verantwortlich, dass die Jugendlichen verstärkt in höhere Bildung investieren. 5) Theorien zu ethnischen Netzwerken und sozialem Kapital gehen hingegen von spezifischen Gruppeneigenschaften aus. Zentral für diesen Erklärungsansatz ist, dass Jugendliche aus unterschiedlichen Netzwerken auf unterschiedliche Ressourcen zurückgreifen können, die die schlechtere Ausgangslage wettmachen können. Voraussetzung dafür ist allerdings das Vorhandensein entsprechender bildungsbezogener Werte in der Community. 6) Aufbauend auf die Theorie des Statuserhaltmotives (Breen und Goldthorpe 1997) würden Eltern wollen, dass Kinder mindestens den eigenen Status erreichen. Bei Immigrant_innen wäre der Referenzpunkt der berufliche Status, den die Eltern im Herkunftsland hatten. Wenn es sich bei den Migrant_innen um eine im Herkunftsland hinsichtlich des beruflichen Status positiv selektierte Gruppe handelt, könnte das zur Erklärung der höhen Bildungsaspirationen beitragen. Wenden wir uns nun kurz der Erklärungskraft einzelner theoretischer Ansätze zu. Hinsichtlich Zuwanderungsoptimismus bezüglich der elterlichen Erwartungen finden verschiedene Studien für den deutschen Kontext signifikante Effekte (Hunkler und Tjaden 2018; Kristen und Dollmann 2010; Relikowski et al. 2012; Salikutluk 2016 und 2013). Bezüglich der Informationsdefizitthese berichten Relikowski (2012), dass Eltern mit »Migrationshintergrund« weniger über das deutsche Bildungssystem wissen und dass sie die Leistungen der Kinder überschätzen (auch Gresch 2012). Salikutluk (2016) findet hingegen keine Evidenz für die Informationsdefizitthese. Soweit uns bekannt, gibt es wenige Studien, die den Einfluss der wahrgenommenen Diskriminierung auf die Höhe der Bildungsaspirationen bestätigen. Zwar seien vor allem männliche Migranten in der Berufsausbildung stärker von Diskriminierung betroffen (Diehl et al. 2009),

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allerdings finden Hunkler et al. (2018) für leistungsschwache Migrant_innen sogar einen schwachen gegenteiligen Effekt. Einig ist sich die Forschung dahingehend, dass Migrant_innen im Durchschnitt ihre vergleichsweise hohen Bildungsaspirationen eher selten in entsprechende Bildungstitel und Platzierungen am Arbeitsmarkt umsetzen können (Becker 2010). Dieses Phänomen wird mit der Bezeichnung »Aspiration-Achievement-Paradox« zu fassen versucht (Hill und Torres 2010: 95; Salikutluk 2013). Für Österreich gibt es vergleichsweise wenige Publikationen, die sich mit Bildungsaspirationen von Jugendlichen und Migration beschäftigen. Aber auch hier zeigen sich für die Grundgesamtheit ähnliche Zusammenhänge. So lässt sich auch für den Übergang in die Sekundarstufe II ein relativ starker sekundärer Effekt des »Migrationshintergrundes« feststellen. Kinder im Ausland geborener Eltern wechseln bei gleichen Leistungen eher auf maturaführende Schulen (sekundärer Effekt). Allerdings wird dieser Effekt durch die schlechteren Leistungen (primärer Effekt) mehr als wettgemacht, sodass insgesamt ein leicht negativer Zusammenhang zwischen »Migrationshintergrund« und Wahl von maturaführenden Schulen besteht (Bruneforth et al. 2012). Auch wenn man nur Schüler_innen in Hauptschulen (Vorgänger der NMS, siehe Kapitel 2) in ganz Österreich betrachtet, zeigt sich ein ähnlicher Zusammenhang. Die Migrationserfahrung würde in Familien mit »Migrationshintergrund« häufig als Chance für sozialen Aufstieg gesehen. So wollten 59 % der Hauptschüler_innen 2013/ 2014 im darauffolgenden Jahr mindestens eine maturaführende Schule absolvieren (Schönherr et al. 2014). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Jugendliche mit »Migrationshintergrund« en gros höhere Bildungsaspirationen haben. Sie schlagen bei vergleichbarem sozialem Familienhintergrund und bei vergleichbaren schulischen Leistungen eher einen anspruchsvollen Bildungsweg ein (Becker und Gresch 2016). Da es für Österreich unseres Wissens keine umfangreiche wissenschaftliche Aufarbeitung des Themas Bildungsaspirationen von Schüler_innen in NMS gibt, wollen wir eine grundlegende deskriptive Analyse (Zusammenhänge) vorlegen. In den folgenden Auswertungen wird das Zusammenspiel von sozialer Herkunft und Migration in Bezug auf die Bildungsaspirationen detailliert analysiert.

5.3. Methoden Um zu untersuchen, welche sozialen und herkunftsbezogenen Variablen in Zusammenhang mit den Bildungsaspirationen stehen, werden Kreuztabellen aus idealistischen Bildungsaspirationen, »Migrationshintergrund«, Bildungs-

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hintergrund und Geschlecht dargestellt und anschließend die Höhe der elterlichen Bildungsaspirationen diskutiert. Darüber hinaus wird dargestellt, wer idealistische Bildungsaspirationen eher in entsprechende Schulanmeldungen ummünzen kann bzw. bei wem eine Diskrepanz zwischen langfristigen, idealistischen Bildungsaspirationen und realistischen Bildungsaspirationen besteht. Dafür wird der gewichtete Datensatz »Wege in die Zukunft« verwendet, um ein repräsentatives Abbild der NMS-Schüler_innen in Wien zu erhalten (siehe Kapitel 3). Um die Aussagekraft der jeweiligen Verteilungen einschätzen zu können, wird jeweils auch die ungewichtete Fallzahl, auf der die entsprechende Verteilung beruht, ausgewiesen. Als Maß für die Stärke des Zusammenhangs wurde Cramer-V für die Zusammenhänge der ungewichteten Daten berechnet (Signifikanz-Levels: ***< 0,001, **