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German Pages [195] Year 2017
Hans-Georg Link / Dorothea Sattler (Hg.)
Zeit der Versöhnung Wege in die Zukunft der Ökumene
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3263-9 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: André Hille, Münster
Dem Andenken an die verstorbenen Mitglieder des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises
Johannes Brosseder Frank-Lothar Hossfeldt Hans Jorissen Paul Meisenberg
Leben wir, so leben wir dem Herrn sterben wir, so sterben wir dem Herrn Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Römerbrief 14,8
Vorwort
Was gibt es 500 Jahre nach dem Beginn der Reformation heute zu bedenken, zu feiern oder auch zu betrauern? Das Ereignis der Reformation im 16. Jahrhundert ist ein äußerst vielschichtiges Phänomen. Der Abstand eines halben Jahrtausends zu den Vorgängen im Europa der beginnenden Neuzeit hat zumindest den Vorteil, die verschiedenen Ebenen der Geschehnisse deutlicher voneinander unterscheiden und zugleich sinnvoller zueinander in Beziehung setzen zu können. Es gibt gute Gründe dafür, dass die aus der Reformation hervorgegangenen Kirchen sich ihres Ursprungs erinnern, sich ihrer Geschichte vergewissern und den Kern ihrer Existenz mit Christusfesten feiernd vergegenwärtigen. Es ist nicht minder verständlich, dass für Angehörige der römisch-katholischen Kirche das tragische Ergebnis der Reformation, die Spaltung der Westkirche in Europa, vielfach im Vordergrund steht und das Auseinanderbrechen der westkirchlichen Gemeinschaft bedauert, manchmal auch betrauert wird. Hier sind auf beiden Seiten Wunden geschlagen worden, die teilweise bis heute noch nicht verheilt sind. Kulturgeschichtlich orientierte Menschen denken an den humanistischen, wissenschaftlichen und literarischen Aufschwung in der Renaissancezeit. Politiker und Parlamente erinnern an den Beginn der Neuzeit mit ihren vorsichtigen demokratischen Ansätzen. Sie betrachten den Einschnitt als so grundlegend, dass der 31. Oktober 2017 als einmaliger Feiertag in den deutschen Bundesländern begangen wird. Die Tourismusbranche hat sich wohl als erste dieses Datum zunutze gemacht und ist dabei, an 95 Reformationsstädte zu erinnern, allen voran an die Wiege der Reformation: Wittenberg. Wir Mitglieder des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises knüpfen an die erfreuliche Tatsache an, dass das 500-jährige Gedenken an den Beginn der Reformation erstmals im ökumenischen Zeitalter stattfindet. Wir tun es kritisch im Blick auf das, was damals und seitdem nicht gelungen ist, und zugleich konstruktiv mit Gesichtspunkten für eine ökumenische Zukunft der Reformation und ihrer Folgen. Angesichts einer jahrhundertelangen Entfremdungsgeschichte zwischen evangelischen und römisch-katholischen Christen, Kirchen und weltweiten Konfessionen stellen wir unsere Beiträge in diesem Buch unter das Leitwort „Versöhnung“. Diese Verheißung ist für Paulus ein Schlüsselbegriff zur
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Vorwort
Entfaltung des Heilsgeschehens zwischen Gott und Welt. „Zeit der Versöhnung“ erläutert die „Zeit der Gnade“ und den „Tag des Heils“, die Paulus der Gemeinde in Korinth (2. Korinther 6,2) als Jetztzeit verkündet. Wir hoffen, dass das Reformationsgedenken zu einer „Zeit der Versöhnung“ wird, zu einem Kairos, den Gott uns Christen schenkt und den wir nicht ungenutzt verstreichen lassen. Wir entfalten das Schlüsselwort „Versöhnung“ mit unseren Beiträgen in verschiedener Hinsicht. Standortbestimmungen aus unterschiedlichen konfessionellen Perspektiven werden vorgenommen (Christian Link, Hans-Georg Link, Dorothea Sattler). Irmgard Weth und Thomas Söding schlüsseln das Geschehen von Versöhnung aus biblischer Sicht alt- und neutestamentlich auf. Dorothea Sattler gibt eine Bestandsaufnahme, wie weit sich die beiden Konfessionen inzwischen theologisch angenähert haben und welche Differenzen noch zwischen ihnen stehen. Christian Link und Margriet Gosker nehmen exemplarische Ansätze in der Schweiz und den Niederlanden „für ein neues Miteinander in Europa“ in Blick. Wie Versöhnung gottesdienstlich gefeiert worden ist und liturgisch begangen werden kann, stellen Albert Gerhards und Hans-Georg Link vor. Der Teil „Konkretisierungen“ unterbreitet auch praktische Vorschläge dazu, wie Versöhnung zwischen Gemeinden vollzogen werden kann (Wolfgang Stoffels). Im Altenberger Ökumenischen Gesprächskreis sind uns folgende Anliegen im Blick auf das Reformationsgedenken wichtig: Heilung notvoller Erinnerungen, glaubwürdige Versöhnung zwischen Gemeinden und Kirchen und Eröffnung einer gemeinsamen Zukunft für die nach der Reformation entstandenen Konfessionskirchen. Wir möchten die Alternative zwischen Feiern und Gedenken der Reformation überwinden und einen Beitrag leisten zu einem gemeinsamen, überzeugenden Aufarbeiten und Feiern der Reformation und ihrer Auswirkungen. Der Altenberger Ökumenische Gesprächskreis hat sich in den vergangenen fünf Jahren mit der Leitfrage befasst: „Was heißt Reformation heute?“ Dazu ist er jährlich zweimal in Bad Honnef zu Tagungen zusammengekommen, bei denen seine Mitglieder und Gäste Referate zu verschiedensten Aspekten des Themas vorgetragen und diskutiert haben. Seine wichtigsten Erkenntnisse und Ergebnisse sind in diesem Buch zusammengefasst. Nach den Veröffentlichungen zum Berliner Ökumenischen Kirchentag 2003 „Eucharistische Gastfreundschaft“ und zum 2. Ökumenischen Kirchentag in München 2010 „Kirchengemeinschaft jetzt!“ legen wir mit „Zeit der Versöhnung“ unseren dritten Beitrag zur öffentlichen ökumenischen Diskussion vor. Er war ursprünglich in der Hoffnung auf den 3. Ökumenischen Kirchentag im Jahr 2017 entworfen worden. Stattdessen wird es nur zu einer wesentlich bescheideneren „Wittenberger Ökumenischen Versammlung“ vom 21. bis 28. August 2017 kommen, die im Anschluss an Luthers These 62 von 1517 unter dem Thema steht: „Vom wahren Schatz der Kirche (n). Dem Evangelium miteinander auf der Spur.“
Vorwort
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Wir widmen dieses Buch den inzwischen verstorbenen Mitgliedern unseres Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises: Johannes Brosseder, Frank-Lothar Hossfeld, Hans Jorissen und Paul Meisenberg. Sie alle haben noch an unseren Gesprächen und Beratungen zum Thema Reformation teilgenommen. Die letzten Beiträge, die unser spiritus rector Johannes Brosseder in Regensburg zur „Ökumene auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017“ formuliert hat, haben wir als sein ökumenisches Vermächtnis gern in diese Veröffentlichung aufgenommen.* Am Fest der Darstellung des Herrn Jesus Christus im Tempel, am 2. Februar 2017
Hans-Georg Link, Köln
Dorothea Sattler, Münster
*Vorgetragen auf der Bundesversammlung „Wir sind Kirche“ am 22. März 2014 in Regensburg. Zuerst veröffentlicht als Sonderdruck: „Wir sind Kirche“, Ökumene baut Brücken. Ökumene auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017, München 2014
Inhalt
Vorwort..........................................................................................................7
1 Aufbruch – Ökumene im Jahr 2017 Christian Link Umstrittene Reformation – Thesen zum Jubiläum 2017..........................15 Dorothea Sattler Ökumene im Jahr 2017 – Zehn Thesen .....................................................21 Hans-Georg Link Aufbruch zu einem „Jahr der Versöhnung“ zwischen den Konfessionen .......................................................................27
2 Grundlagen – Biblische und sytematisch-theologische Erkenntnisse Irmgard Weth Heilung der Verletzungen ist möglich! Vom Geheimnis der Versöhnung nach Genesis 32 ..................................45 Thomas Söding Versöhnte Konflikte – lebendige Gemeinschaft .......................................52 Dorothea Sattler Auf dem Weg zueinander Eine Standortbestimmung in der gegenwärtigen Ökumene .....................63
3Erinnerungen und Visionen – Ökumene in Europa und weltweit Christian Link Reformierte Ansätze für ein neues Miteinander in Europa......................81
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Inhalt
Margriet Gosker 500 Jahre Protestantismus in den Niederlanden .......................................88 Frère Timotei Der ökumenische Weg der Communauté von Taizé – Rückblick, Betrachtung und Ausblick.......................................................94 4 Konkretisierungen – Ökumenische Praxis Wolfgang Stoffels Ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort – ein bewährtes Modell ...............................................................................115 Albert Gerhards Die beiden Versöhnungshochgebete der römischkatholischen Kirche zum Heiligen Jahr 1975 .........................................123 Hans-Georg Link Meilensteine zur Heilung von Erinnerungen – Liturgien der Versöhnung ........................................................................138 5 Vermächtnis – Gedanken zur Ökumene von Johannes Brosseder Johannes Brosseder Altkirchliches Katholizitätsverständnis und seine Bedeutung für die Gegenwart .....................................................................................163 Johannes Brosseder Die Religionsgespräche von Hagenau, Worms und Regensburg 1540/41 ............................................................178 Johannes Brosseder Reformationsjubiläum oder Reformationsgedenken 2017?...................181
Anhang „Altenberger Ökumenischer Gesprächskreis“ ........................................189 Altenberger Ökumenischer Gesprächskreis Arbeitsthema: Was heißt Reformation heute? .........................................190 Autorinnen und Autoren .......................................................................... 193
1 Aufbruch – Ökumene im Jahr 2017
Christian Link
Umstrittene Reformation – Thesen zum Jubiläum 2017 I. Eine neue Sicht auf die Reformation 1. Umstritten war die Reformation seit ihren ersten Anfängen. Dennoch haben wir als evangelische Kirche Anlass, uns dankbar dieser Anfänge vor 500 Jahren, aus denen wir hervorgegangen sind, zu erinnern und dieses Jubiläum zu feiern. Wenn denn Erinnerung biblisch verstanden die kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit einschließt ebenso wie die Vergewisserung ihrer gegenwärtigen Bedeutung und die Einschätzung, welche Zukunft sie hat. Die neuere Reformationsforschung liefert dafür eine wichtige, aber nur begrenzte Hilfe. Indessen bietet das Jubiläum die Chance einer selbstverantworteten Aneignung der Vergangenheit in einer kulturell und religiös anders strukturierten Gegenwart. 2. Das Reformationsjubiläum 2017 unterscheidet sich von den Jahrhundertfeiern früherer Epochen dadurch, dass wir es im Zeichen einer rund 100jährigen Geschichte der ökumenischen Bewegung begehen. Das nötigt uns zunächst im Blick auf den historischen „Gegner“, die römischkatholische Kirche, einen Perspektivenwechsel auf. Denn das, „was uns [heute] verbindet, ist stärker als das, was uns trennt“ (Papst Johannes XXIII). 3. Die Deutsche Bischofskonferenz und die EKD haben deshalb einen Prozess unter dem programmatischen Titel „Heilung der Erinnerungen“ (healing of memories) ins Leben gerufen, der hier als „Zeit der Versöhnung“ vorgestellt werden soll. Es war Luthers zentrales Anliegen, Christus wieder in die Mitte des Christentums zu stellen. Denn wenn nicht die Kirchen im Zentrum des Jubiläums stehen, sondern der, auf den sie sich berufen und ohne den sie nichts sind, brauchten auch die katholischen Christen nicht abseits zu stehen. 4. Es war daher von Anfang an eine falsche Weichenstellung, den Weg auf dieses Jubiläum hin, personal verengt, als „Lutherdekade“ zu inszenieren und die Themenschwerpunkte fast ausschließlich an deutschen Ereignissen, Problemen und Gedenkstätten zu orientieren. Sie hat außer den Katholiken auch die Reformierten und Zwinglianer, die Baptisten und Mennoniten, die Anglikaner und Methodisten ausgeschlossen, als wäre die Reformation nur Luthers Projekt gewesen und nicht ein europäisches Ereignis. Aus dem Blick geraten sind dabei denn auch die ge-
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schichtswirksamen Reformbewegungen des späten Mittelalters, die heute zu Recht wieder große Aufmerksamkeit erfahren, seien es die Aufbrüche von Petrus Valdes in Norditalien, von John Wicliff in England oder von Jan Hus in Böhmen und Tschechien, ohne die Luther nicht der hätte werden können, der er war. 5. Zwar dürfte Luther unbestreitbar der Reformator sein, in dessen Wirksamkeit sich die Reformbemühungen seiner Zeit wie in einem Brennpunkt bündelten und neue Lebenskraft erhielten. Mit seinem theologischen Universalprogramm aber ist er gescheitert wie auf der weltgeschichtlichen Bühne sein Gegenspieler Karl V. mit seinem politischen Programm. Statt zu einer Erneuerung der gesamten Christenheit kam es mit ihrer Spaltung zur Entstehung konfessioneller Landes- und Nationalkirchen. Zur schwierigen Erbschaft der Reformation gehört der Beginn des konfessionellen Zeitalters mit seiner Diskriminierung, mehr noch: mit seiner Verfolgung und Vertreibung von Andersgläubigen und Andersdenkenden. 6. Der uns aufgenötigte Perspektivenwechsel hat noch eine zweite, sehr viel grundsätzlichere Seite. Die Forschung der letzten zehn Jahre hat sich von der Vorstellung der Reformation als einer (vollends auf Deutschland zentrierten) Epoche weitgehend verabschiedet, auch dort, wo man sie noch als einen „Systembruch“ meint würdigen zu können. Man sucht sie heute als eine über zwei Jahrhunderte (1450-1650) sich erstreckende Bewegung zu interpretieren und schreibt ihre reformtreibende Kraft namentlich bei der Herausbildung moderner Staatsgesellschaften (allerdings unter Ausblendung der theologischen Wahrheitsfrage) erst dem konfessionellen Zeitalter zu. Dabei wird vergessen, dass auch der Katholizismus seit dem 15. Jahrhundert eine Phase grundsätzlicher Erneuerung durchlaufen hat, die im Tridentinum ihren vorläufigen Abschluss fand. 7. In dieser Sicht driften die innerprotestantische, theologisch ausgerichtete Erinnerungskultur und die historische Aufarbeitung der Reformation zusehends auseinander mit der Folge, dass es zu einem Streit um die Deutungshoheit kommt. Die Würdigung eines Ereignisses aus protestantischer Perspektive ist in der Tat nicht dasselbe wie dessen Einschätzung im Kontext allgemeiner historischer Darstellung. Hier geht es in kritischer Absicht um die Abwehr problematischer Mythen- und Legendenbildung, etwa der Stilisierung Luthers zum „Heros einer neuen Zeit“, der Beanspruchung der „Freiheit eines Christenmenschen“ als Wurzelboden neuzeitlich-autonomer Freiheit oder der Vereinnahmung der Demokratie als einer „protestantischen Erfindung“. Denn nur ein von überzogenen Deutungsansprüchen gereinigtes Geschichtsbild kann den Weg zu der uns heute aufgegebenen Versöhnung der Konfessionen ebnen. Indessen hat der Blick auf die autonomen Entwicklungen der Neuzeit eine nicht unproblematische Kehrseite: Er hat zu einer Rücknahme
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des religiösen Geltungsanspruchs der Reformation geführt, deren Wirkungen bis in die säkulare Kultur der Gegenwart reichen. II. Zum Streit der Deutungen: Stärken und Schwächen der Reformation 1. Die neuere Forschung bestreitet mit Gründen, dass die berühmten 95 Thesen (das Datum des 31. Oktober 1517) schon die entscheidende reformatorische Erkenntnis eingeleitet hätte. Dennoch hat der Ablassstreit ein neues Selbstverständnis Luthers, einen klaren Begriff von der ihm zugefallenen Lebensaufgabe zur Folge gehabt, wie seine Unterschrift als Eleutherios („der Befreite“) in der Korrespondenz zwischen November 1517 und Januar 1519 und der gleichzeitig dokumentierte Namenswechsel des Reformators von Luder zu Luther belegen. 2. Wohl hat sich unter den Bedingungen einer säkularen Moderne die Sicht auf die Reformation verändert: Als ihr geschichtlich relevantes Erbe treten der konfessionelle Friede (1555) und die neuzeitliche „Aufklärung“ in den Vordergrund. Dennoch entlässt die historische Erinnerung nicht von der Aufgabe, den Anfang von Neuem zu entdecken, der ein theologischer Anfang gewesen ist und der als solcher eine umfassende kirchliche und gesellschaftliche Erneuerung zum Ziel gehabt hat. 3. Auch wenn Luther heute in den Zusammenhang eines im Spätmittelalter langfristig angelegten Umbruchs eingeordnet wird, hat er mit der „Rechtfertigung allein aus Gnaden“ und der Proklamation des „Priestertums aller Gläubigen“ der Religion eine neue Erfahrbarkeit und Legitimität verliehen. Indem er den Gottesdienst im „Alltag der Welt“ verankert, hat er der neuzeitlichen Berufsethik den Weg geebnet und weltliche Reformen in Bildung und Politik angestoßen. Auch die katholische Theologie hat im II. Vatikanum mit der Liturgiereform und der Aufwertung der Volkssprache, mit der Unterordnung des Lehramts unter die Bibel oder der von Johannes XXIII. proklamierten „Öffnung zur modernen Welt“ wichtige Impulse seiner Reformation aufgenommen. Andererseits hat er auf seinem eigensten Gebiet der Kirchenreform Entscheidungen getroffen, die seinen ursprünglichen Zielen Fesseln anlegen. Dazu gehört insbesondere die Übertragung der vakant gewordenen Bischofsposten an den jeweiligen Landesherrn, was (vollends in der späteren Ideologie von „Thron und Altar“) zu einer Instrumentalisierung der Religion für politische und gesellschaftliche Zwecke führen konnte. Auch hat sich die Einbettung innerkirchlicher Reformen in das landesherrliche Kirchenregiment – ursprünglich als Notordnung gedacht – als eine bleibende empfindliche Schwächung des Gemeindeprinzips ausgewirkt.
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4. Es gibt erkennbare Defizite und „dunkle Seiten“ der Reformation. Das anstehende Jubiläum muss ein Anlass werden, sich in theologisch argumentierender Kritik von den Reformatoren dort zu distanzieren, wo sie – wie Luther in der „Judenfrage“ oder wie die reformierte Kirche in ihrem Umgang mit „Taufgesinnten“ – durch ihr Reden und Handeln ihre eigenen Entdeckungen desavouiert haben. Luther, der in seiner hasserfüllten Schmähschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) zu Vertreibung und Verfolgung aufruft und sogar mit Vernichtungsphantasien spielt, hat die von Paulus zum Kriterium der Kirche erklärte Einheit von Juden und Christen unmöglich gemacht und zudem den öffentlichen Diskurs über die Juden jahrhundertelang vergiftet. Dennoch darf man diesen theologisch motivierten Antijudaismus nicht mit dem mörderischen Rassismus des 20. Jahrhunderts gleichsetzen und zum Vorläufer des Holocausts stilisieren. 5. Toleranz in religiösen Dingen, Gewissenfreiheit in politischen und gesellschaftlichen Fragen kann man im 16. Jahrhundert angesichts des eigenen, auch in getrennten Konfessionskirchen aufrecht erhaltenen universellen Wahrheitsanspruchs nicht erwarten. Heute wird die Reformation jedoch zu Recht nicht mehr nur über die Wirksamkeit von Luther, Zwingli oder Calvin definiert. Sie muss sich im aktuellen Kontext der weltweiten Christenheit als eine vielfältige, gegenüber dem „Fremden“ in der „anderen“ (auch in der eigenen) Kirche offene Bewegung begreifen. III. Reformation im ökumenischen Zeitalter 1. Die Reformation des 16. Jahrhunderts hat eines ihrer wichtigsten Ziele, die Einheit der Kirche zu bewahren, nicht erreicht. Sie ist unvollendet geblieben. Zwar ist nach dem II. Weltkrieg mit der rechtlichen Gleichstellung der christlichen Konfessionen ihre gesellschaftspolitische Aussöhnung in Deutschland gelungen, in die sogar das Judentum mit eingeschlossen werden konnte. Die ekklesiologische Spaltung aber, eine „Wunde am Leib Christi“ und als solche „ein Skandal“ (K. Barth), ist damit (trotz der Aufhebung früherer Lehrverurteilungen) bis heute nicht überwunden. Indem die Ökumene mit den Modellen „versöhnter Verschiedenheit“ und „konziliarer Gemeinschaft“ den Weg zu sichtbarer Einheit zu bahnen versucht, sind ihre Bemühungen eine sachgemäße Fortsetzung der Reformation. 2. Von offizieller katholischer Seite wird heute gefragt, ob die Reformation in einem sehr viel radikaleren Sinne als die Reformen des Mittelalters zu einer „Wesensveränderung“, einem „anderen Typus von Kirche“ geführt hat, indem sie sich von der sakral-eucharistischen und episkopalen Struktur verabschiedete, welche die katholische Kirche mit allen öst-
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lich und orientalisch orthodoxen Kirchen verbindet – mit der Folge, dass sich nun zwei konfessionell geprägte, unterschiedliche Verständnisse ökumenischer Einheit unversöhnt gegenüberstehen.1 Zu einer Versöhnung kann es in der Tat erst kommen, wenn wir – statt dieser statischen Konfrontation – wieder nach dem christologischen Fundament der Kirche fragen. Andernfalls müsste die protestantische Forderung gegenseitiger Anerkennung tatsächlich darauf hinaus laufen, dass an die Stelle einer theologisch begründeten Einheit nun lediglich die „Addition aller vorhandenen Kirchentümer“ tritt. 3. Soll also die Begegnung mit der Reformation nicht ins Museum, sondern zurück in die Kirchen und ihre heute wieder offenen Gesprächsforen führen, dann müssen wir sie zuerst als das wiedergewinnen, was sie im Anfang gewesen ist: als einen auf Christus zentrierten Aufbruch, der theologisch erarbeitet und verantwortet wird. Gelingen kann ein solcher Aufbruch aber nur dann, wenn er im Sinn einer „Heilung der Erinnerungen“ die Wunden der Vergangenheit benennt. Versöhnung ist ohne das Eingeständnis von Unrecht nicht möglich: Was haben Katholiken und Protestanten in 500 Jahren einander angetan?, aber auch: Was haben sie voneinander gelernt? 4. Die ökumenische Leitfrage kann daher 2017 nicht mehr lauten: Was muss die andere Kirche bringen, damit wir sie anerkennen können?, sondern: Was können wir von den anderen Kirchen lernen, damit wir gemeinsam überzeugender als „Leib Christi“ leben können? Dazu braucht es sichtbare Zeichen der Versöhnung: gemeinsame ökumenische Gottesdienste und eucharistische Gastfreundschaft als ein erster Schritt zu voller eucharistischer Gemeinschaft und dann schließlich die explizite Anerkennung der evangelischen Kirchen als Kirchen Jesu Christi. 5. Solches ökumenische Lernen muss über den Bestand protestantischer Selbstvergewisserung hinausgehen. Es genügt nicht, auf die vermeintlichen Spitzenbegriffe der Reformation „Rechtfertigung“ und „Freiheit“ zurückzugreifen, ohne zugleich im Ansatz eine ernsthafte Auseinandersetzung mit der katholischen Theologie zu wagen. Die evangelische Kirche wird sich von dieser Seite mit Recht fragen lassen müssen: Wie steht es mit dem Alten Testament und seiner Freude am Gesetz? Wie mit der Bergpredigt und ihrem Plädoyer für gute Werke? Wo bleibt der Paulus der Mystik? 6. Der früher erbittert geführte Streit um die berühmten Exklusivpartikel („allein Christus“, „allein der Glaube“ …), die schon von ihrer Gattung 1 So Kurt Kardinal Koch: Reformationsgedenken in ökumenischer Sicht, in: P. Bosse-Huber u.a. (Hgg.): 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen, Zürich-Leipzig 2014 (348-355), bes. 351ff.
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her den Andern ausschließen, ließe sich entschärfen, wenn man sie historisch einordnet, sie also mit dem verbindet, was sie erst lebensfähig macht, um sie dann in neuer Form der Moderne zu erschließen. So formuliert ein katholischer Vorschlag: „Christus mit der Kirche, die Gnade mit der Freiheit, das Wort mit dem Sakrament, die Schrift mit der Tradition, der Glaube mit der Liebe.“2 Die Ökumene hat diese Verbindungen neu entdeckt und dadurch das evangelische Charisma auch den Katholiken nahe gebracht. 7. Beide Konfessionen sind vom Abbruch biblischer Traditionen, dem Relevanzverlust von Religion und Kirche für das persönliche Leben, gleichermaßen betroffen. Die Reformation ist eine „Erfolgsgeschichte“ geworden, weil sie mit ihrer Theologie eine Antwort auf die Orientierungskrisen auch im politischen und sozialen Umbruch ihrer Zeit gefunden hat. Das Jubiläum könnte ein Anlass sein, in einer ähnlich realistischen Wahrnehmung unserer gegenwärtigen historischen Situation die elementare Frage nach Gott noch einmal neu zu stellen und aus der Quelle unseres Glaubens zu beantworten: Wird es unseren Kirchen gelingen, auch heute sinnstiftend und befreiend von Gott zu reden – in der Hoffnung, hier ein gemeinsames Fundament zu entdecken? 8. Dann würde sich die Frage, ob wir einen reformatorischen Aufbruch zu feiern oder eine Kirchenspaltung zu beklagen haben, als eine falsche Alternative erweisen. Das Reformationsjubiläum könnte vielmehr eine Ermutigung werden, die Aufgaben wahrzunehmen, die sich heute der Christenheit auf der ganzen Welt stellen: Die Erschließung der Bibel als Buch des Lebens; die Verantwortung in gemeinsamem „Zeugnis und Dienst“ für die Gesellschaft, in der wir leben; und die Friedensarbeit in den Konflikten unserer Erde und das Lob Gottes als Quelle und Ziel unseres Lebens.
2 Th. Söding: 500 Jahre Reformation – der Versuch einer Rechtfertigung, in: Der Christ in der Gegenwart 31, 2014, 354.
Dorothea Sattler
Ökumene im Jahr 2017 – Zehn Thesen These 1: Konfessionell bedeutsame Gedenkjahre werden in den Kirchen unterschiedlich gewertet Es gibt Ereignisse in der Geschichte der christlichen Konfessionen, die die eine Gemeinschaft als Grund ihrer eigenen Identität fröhlich feiert, andere Traditionen jedoch als Ursache einer weiteren Spaltung der Kirchen wahrnehmen und daher beklagen. In ökumenischer Verbundenheit gilt es zu jeder Zeit, sich miteinander über die jeweilige Perspektivität im historischen und theologischen Urteil zu verständigen. Das Jahr 2017 – 500 Jahre nach der Veröffentlichung der Thesen von Martin Luther zum Ablass – ist ein willkommener Anlass, eine solche Haltung einzuüben. Das Datum allein ist nicht von entscheidender Bedeutung; andere reformatorische Bekenntnisgemeinschaften als die lutherische erinnern an ihre Orte und Zeiten der Identitätsbildung. Wichtig ist es, einander die Geschichte der eigenen konfessionellen Selbstwerdung immer wieder neu authentisch zu erzählen, um einander verstehen zu lernen. These 2: Das Gedächtnis der Reformation ist ein Lernort für die gesamte christliche Ökumene Das gemeinsame, achtsame und wertschätzende Gedächtnis der Reformation im 16. Jahrhundert ist weltweit in den vergangenen Jahren zu einem Lernort für den alle Getauften verbindenden christlichen Glauben geworden: Gemeinsam können wir uns heute daran erfreuen, dass Martin Luther und seine reformatorischen Weggefährten – darunter auch viele Frauen – in Wittenberg, Zürich, Straßburg, Basel, Genf und an vielen weiteren Orten ihre Lebenskraft dafür eingesetzt haben, um an die biblische Botschaft von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes allen Sünderinnen und Sündern gegenüber sowie an den erlösenden Glauben an Jesus Christus zu erinnern. In der Kraft des Heiligen Geistes werden Menschen verwandelt: Aus Ängstlichen können Zuversichtliche werden; die Verzagten sollen neuen Mut schöpfen. Das christliche Evangelium ist ein tiefer Trost in Schuld und Not, in Krankheit und in immer drohender Todesnähe. Die österliche Hoffnung begründet bei allen, die in der Taufe mit Christus Jesus gestorben sind und denen ewiges Leben verheißen ist, eine unverbrüchliche Gemeinschaft, die im Zeugnis und Dienst sowie in der Liturgie sichtbar und erfahrbar wird. These 3: Freude und Leid in und nach der Reformationszeit bleiben gemeinsam im Gedächtnis Gemeinsam begehen wir in diesem Jahr das Gedächtnis an die Reformation und an ihre Folgen. Wir erinnern miteinander an die vielen Opfer all
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der blutigen Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen vom 16. Jahrhundert an bis heute. Getaufte Menschen haben einander wechselseitig getötet, weil sie ein anderes christliches Bekenntnis gelebt haben. Insbesondere die Gemeinschaften, die sich mit biblischer Begründung für die Taufe von bereits persönlich glaubenden Menschen eingesetzt haben, sind vor und nach der Reformation zu Märtyrerinnen und Märtyrern für ihre religiöse Überzeugung und ihre Lebensweise geworden. Soziale Spannungen zwischen Bauern und Fürsten haben vielen Menschen das Leben genommen. Politische Verstrickungen und Neuordnungen der Machtverhältnisse in Europa haben zu Kriegen geführt, bei denen die religiöse Motivation für andere Zielsetzungen missbraucht wurde. Humanistisch geprägte Gelehrte aller Konfessionen waren nicht frei von der Versuchung, Menschen mit einem nicht-christlichen Bekenntnis auszugrenzen und anzufeinden. Religiöse Toleranz dem Judentum und dem Islam gegenüber gab es im 16. Jahrhundert und noch lange Zeiten danach in allen christlichen Konfessionen nicht. Not und Tod so vieler Kinder, Frauen und Männer waren die Folge. These 4: Das Gedächtnis der Reformation ist ein Weg zur Mitte des christlichen Glaubens Die verbindliche Orientierung jeder kirchlichen Lehre an den Heiligen Schriften des Alten und des Neuen Testaments ist eine gemeinsame christliche Methodik, deren Konkretisierung immer wieder der kritischen Prüfung im ökumenischen Miteinander bedarf. Das Jahr 2017 ist ein für viele Menschen willkommener Anlass, miteinander über die Fundamente des christlichen Bekenntnisses nachzudenken. Christinnen und Christen bekennen sich gemeinsam zu Gott, der sich in Christus Jesus in Gestalt eines Menschenlebens als versöhnungsbereit in aller Anfeindung geoffenbart hat. Selbst mit dem, der ihn verraten hat – mit Judas – hat Jesus noch kurz vor seinem Tod Mahl gefeiert. Jesus hat eine Zeichenhandlung gestiftet, die wir im eucharistischen Gedächtnis feiern: Jesus teilt das gebrochene Brot als lebendiges Sinnbild für seinen dem Tod ausgelieferten Leib; er gibt seinen Becher mit Wein in die Runde, damit alle an seinem Leben Anteil haben. Er wäscht den Jüngern die Füße und ermahnt uns, aneinander ebenso zu handeln. Es widerspricht der Mitte des Evangeliums, wenn Kirchen, die sich auf Jesus Christus berufen, sein sakramentales Gedächtnis nicht gemeinsam feiern. Das Streben nach eucharistischer Mahlgemeinschaft ist in der Ökumene niemals preiszugeben. Viele Annäherungen konnten in ökumenischen Gesprächen im Hinblick auf das Verständnis von Abendmahl und Amt erreicht werden. Viele erwarten deren kirchenamtliche Rezeption mit heiliger Ungeduld.
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These 5: Die Fortführung der Ökumenischen Bewegung bleibt ohne Alternative Gottes lebendiger Heiliger Geist führt die Kirchen auf ihrem Weg in Zeit und Geschichte. Mit Dankbarkeit blicken wir auf die Ökumenische Bewegung, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und institutionell organisiert seit dem beginnenden 20. Jahrhundert Christinnen und Christen aller Konfessionen miteinander zum gemeinsamen Dienst in der Verkündigung des Evangeliums, zum solidarischen Engagement im diakonischen Handeln und zur Gemeinschaft in der liturgischen Feier des Glaubens geführt hat. Die Ökumenische Bewegung hat die Kirchen erkennen lassen, dass ihre Vielgestalt auch ein Reichtum ist. Das in der Taufe begründete sakramentale Band der Einheit im Glauben an Christus Jesus ist niemals zerrissen. Je auf ihre Weise haben die Kirchen sich bemüht, das eine Evangelium in ihrem lebendigen Gedächtnis zu bewahren: Die einen leben vor allem aus der Freude an der Liturgie; andere gehen auf die Straßen und treten vor Fremden für das Evangelium ein; wieder andere bereiten Suppen für die Ärmsten der Armen. Auf der Ebene der ökumenischen Hermeneutik bedeutet dies: Es gibt ein konkurrenzloses Miteinander von Sozialökumene und Dialogökumene. Not zu lindern, Gottesdienste zu feiern oder theologische Gespräche zu führen – all dies widerspricht sich nicht alternativ. Jede gute Tat führt zueinander. Begegnungen unter Christinnen und Christen aus unterschiedlichen Konfessionen verändern die Menschen. These 6: Die konfessionellen Gegebenheiten verändern sich beständig weltweit Keine Einzelpersönlichkeit kann in der weltweiten Ökumene heute im Gesamt wahrnehmen, welche Annäherungen zwischen den Konfessionen inzwischen erreicht worden sind. Die Versuchung, angesichts der oft divergierenden Interessen und Handlungsformen in der weltweiten Christenheit in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Wirklichkeiten in Resignation zu geraten, ist groß. Ihr entkommt nur, wer ein polyzentrisches Konzept der Ökumene mit hoher Achtsamkeit auf die kulturell geprägten Lebensorte favorisiert. Die weltweit vielfältigen ökumenischen Bemühungen bedürfen zugleich einer neuen Anstrengung zur Koordination. Neue Gemeinschaften – unter ihnen vor allem die lokalen pentekostalen Bewegungen, die Pfingstkirchen in ihrer Unterschiedlichkeit weltweit – stellen die etablierten Kirchen vor große Herausforderungen: Haben die etablierten Kirchen noch im Blick, dass Menschen auf Heilung an Leib und Seele durch Gottes Geist hier und heute schon hoffen? Andere Sorgen stehen im Vordergrund: An manchen Orten führen finanzielle Beschränkungen zu einem Erlahmen des ökumenischen Eifers. Die zunehmende Knappheit der Ressourcen kann auch zu neuen Formen der Zusammenarbeit führen. Kirchenräume werden füreinander geöffnet. Was gemeinsam verantwortet werden kann, darf nicht in konfessioneller Selbstbegrenzung
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geschehen. Begründungsbedürftig ist, was vor Ort nicht aus der einen christlichen Verantwortung heraus geschieht. These 7: Kontroversen gibt es nicht nur zwischen den Konfessionen In vielen Themenbereichen sind die Differenzen nicht zwischen den Konfessionen, sondern innerhalb der Konfessionen verortet. Das in jüngerer Zeit vorrangig zu beachtende Vorzeichen vor allen konzeptionellen Überlegungen in der Ökumene ist die Tatsache, dass viele Konfessionsgemeinschaften in ihrem Binnenraum, im Blick auf ihr eigenes Selbstverständnis als eine Gemeinschaft mit konfessioneller Identität, vor die große Herausforderung gestellt sind, ihre Kirchengemeinschaft zu bewahren. Zerreißproben sind miteinander zu bestehen. Die Pluralität der Standpunkte innerhalb jeder Konfession ist sehr groß. Bündnisse werden über die Konfessionen hinweg je nach dem theologischen Standort getroffen. Oft sind es Kontroversen in der Frage einer angemessenen Hermeneutik in der Schriftauslegung, die in allen Konfessionen unterschiedliche Positionierungen zur Folge haben: Gilt allein der Wortlaut der Bibel oder ist immer auch die geschichtliche Distanz zur Entstehungszeit der Texte bei der Interpretation zu beachten? Die dabei vorrangig zu Kontroversen Anlass gebenden Themen sind vor allem einzelnen Fragen im Bereich der Sexualethik und der Geschlechteranthropologie zuzurechnen: Frauen und Männer im kirchlichen Amt, gleichgeschlechtliche Partnerschaften, Zölibat. Auch bei der ethischen Beurteilung von Lebensformen zu Beginn und am Ende des menschlichen Daseins lassen sich nicht immer konfessionelle Grenzlinien ausmachen. Neben diesen ethischen Themenbereichen finden sich im binnenkonfessionellen Raum nicht selten kontroverse Ansichten über das Verständnis der Kirchenverfassungen und der amtlichen Strukturen. Innerkonfessionelle Debatten binden Kräfte. Es ist eine offene Frage, welche Auswirkungen dieses Phänomen auf die Ökumene hat. These 8: Die Ökumenische Bewegung steht vor großen sozialen und politischen Herausforderungen Nach fruchtbaren Jahrzehnten der Annäherung steht die Ökumenische Bewegung vor neuen Herausforderungen: Grundlegende Fragen des Glaubens, in denen die Kirchen gemeinsame Optionen haben, werden in das gesellschaftliche Gespräch eingebracht. Offenkundig ist das christliche Zeugnis für den Gott Jesu Christi von höherem Rang als die Frage, in welcher konkreten, amtlich-institutionalisierten Form dieses Bekenntnis über die Zeiten hinweg bewahrt werden kann. Vorrangig wichtig erscheint es zudem, gemeinsam die weltpolitischen, sozialethischen und individualethischen Herausforderungen anzunehmen, die die Gemeinschaft der Geschöpfe bedrängen. Alle Kirchen sind gefordert, sich den Fragen der Gegenwart zu stellen: Wie finden die Menschen einen sicheren Ort für die Gestaltung ihres Lebens? Wie ist es möglich, Versöhnung und Frieden
Ökumene im Jahr 2017 – Zehn Thesen
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unter den Völkern zu erreichen? Wie können die Lebensgrundlagen für alle gesichert werden? Warum gelingt es nicht, die entlohnte Arbeit gerecht zu verteilen? Wer stillt den Hunger und Durst der Bedürftigen in den Ländern, in denen es selten regnet? In welcher Weise lassen sich die Verstrickungen lösen, die viele Menschen im Blick auf ihr Leben in Beziehungen empfinden? Wer steht den Verzweifelten Tag und Nacht zur Seite? Wer tröstet die Sterbenden mit der Osterbotschaft des einen christlichen Evangeliums? These 9: Die geistliche Ökumene ist von sehr hoher Bedeutung auch in Zukunft Wahre geistliche Erfahrungen in ökumenischen Begegnungen lassen viel zu wünschen übrig – in einem guten Sinne: In ihnen wird die Trauer über die fortbestehende Trennung spürbar, und sie vermitteln eine frohstimmende Ahnung von dem großen Reichtum des konfessionell geprägten Glaubenslebens. Übrig bleibt viel: der Wunsch nach einer währenden, nicht von Trennung bedrohten, lebendigen christlichen Gemeinschaft im Hören auf Gottes Wort, im sakramentalen Gedächtnis des Todes und der Auferweckung Jesu Christi und in der Bereitschaft zum Zeugnisdienst mit Tat und Wort. Spirituelle Erfahrungen sind mit Bewusstsein erfasste Geschehnisse, in denen Menschen in der Kraft der Gegenwart des Geistes Gottes an die Tiefen ihrer Daseinsfragen herangeführt werden und eine vertrauenswürdige, gläubige Antwort erkennen und ergreifen können. Spiritualität ist der in Gottes Begleitung geschehende Weg zum Grund des je ganz eigenen Lebenslaufes, der sich in der Gemeinschaft der Mitgeschöpfe vollzieht. Dieser geistliche Weg kann eine unterschiedliche äußere Gestalt haben: stilles Hören, drängendes Flehen, ausdauerndes Singen, mutiges Handeln, zeichenhafte Gebärden, offene Gespräche. Wer jemals erfahren hat, dass andere Menschen jener Antwort, die sie selbst auf die gemeinsamen Lebensfragen gefunden haben, in glaubwürdiger und ansprechender Weise Ausdruck verleihen können, der wird sich dem Reiz des geistlichen Miteinanders nicht mehr entziehen wollen. Das Leben lässt viel zu wünschen übrig. Gemeinsam fällt es leichter, sich in die Dunkelheiten des Daseins zu begeben, den unausweichlichen Tod und die belastende Sünde zu bedenken. Nur in Gemeinschaft lässt sich das Licht des Vertrauens auf den Gott des Lebens hüten. These 10: Das Ziel der Ökumenischen Bewegung kann nicht einmütig bestimmt werden Mehr denn je ist sich die Ökumenische Bewegung bewusst, dass sie keine Einmütigkeit in ihrer Zielbestimmung hat. Ökumene ist immer auch Teil der weltweiten Kirchenpolitik und daher allein auf der Grundlage sachlicher Argumentationen nicht hinreichend zu verstehen. Persönlichkeiten mit ihren Eigenarten und divergierenden Standorten prägen die ökumenische Theologie mehr als andere Bereiche. Wer wüsste, welche
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kirchenleitenden Persönlichkeiten zukünftig die Ökumenische Bewegung gestalten? Unter dem Wort Gottes, das um der Glaubwürdigkeit des Zeugnisses für Jesus Christus zur Einheit in seiner Nachfolge mahnt (vgl. Joh 17,21), stehen alle, die sich Christinnen und Christen nennen. Gottes Geist wird daran immer wirksam erinnern. Die Kirchen sind alternativlos auf einem nicht selbst gewählten Weg zur Einheit.
Hans-Georg Link
Aufbruch zu einem „Jahr der Versöhnung“ zwischen den Konfessionen Ein Vorschlag im Namen des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises für das Jahr 2017* I. Die Chance 2017: Ein Jahr der Versöhnung 1. Annäherungen seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil Seit der Verabschiedung des Ökumenismus-Dekrets auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil vor gut 50 Jahren hat zwischen der Römischkatholischen Kirche und den Kirchen der Reformation ein kirchengeschichtlich beispielloser Annäherungsprozess begonnen. Zur Erinnerung nenne ich übersichtsartig seine wichtigsten Stationen.1 Am 30. Juli 1965 trafen sich erstmals seit der Reformationszeit mit Präses Joachim Beckmann und Kardinal Lorenz Jäger zwei hochrangige Kirchenführer zu einem öffentlichen Podiumsgespräch in Köln: „Katholiken und Protestanten angesichts des Konzils“. Vom 3. bis 5. Juni 1971 kamen erstmals Tausende evangelische und katholische Christen zum Ökumenischen Pfingsttreffen in Augsburg zusammen: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat“ (Röm 15,7). Die Plenarversammlung der internationalen Kommission des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) für Glauben und Kirchenverfassung (Faith and Order), der auch offizielle römisch-katholische Theologen/innen angehören, verabschiedete am 12. Januar 1982 bei Lima einstimmig drei Konvergenzerklärungen zu Taufe, Eucharistie und Amt. 1987, 1997 und 2007 haben drei Europäische Ökumenische Versammlungen (EÖV) in Basel, Graz und Sibiu / Hermannstadt stattgefunden. Am 31. Oktober 1999 wurde in der Augsburger Sankt Anna-Kirche von Repräsentanten des Lutherischen Weltbundes (Bischof Christian Krause, Generalsekretär Ishmael Noko) und des Vatikans (Kardinal Idris Cassidy, Bischof Walter Kasper) die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) unterzeichnet. Vertreter der Konferenz Europäischer Kirchen (KEK) und des Rates Europäischer Bischofskonferenzen (CCEE) haben am 19. April 2001 in Strasbourg die „Charta Oecumenica: Leitlinien für die wachsende Zusammenarbeit unter den Kirchen in Europa“ aus der Taufe gehoben, die am 30. Mai 2003 in Berlin von den in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen (ACK) zusammenge* Zuerst veröffentlicht in: KNA-Ökumenische Information 25, 16. Juni 2015. 1 Einzelheiten in: H.-G. Link, Unterwegs nach Emmaus. Ökumenische Erfahrungen und Ermutigungen für evangelische und katholische Gemeinden, Leipzig/Paderborn 2014, 30 ff.
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schlossenen deutschen Kirchen feierlich bestätigt wurde. Am 29. April 2007 haben 11 Mitgliedskirchen der ACK im Magdeburger Dom ihre gegenseitige Anerkennung der Taufe besiegelt. Papst Benedikt XVI. und der Ratsvorsitzende der EKD, Präses Nikolaus Schneider, haben am 23. September 2011 im Erfurter Augustinerkloster gemeinsam einen ökumenischen Gottesdienst gefeiert. Am 6. November 2013 hat die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan/Südkorea die vorerst letzte „Erklärung zur Einheit“ verabschiedet: „Gottes Gabe und Ruf zur Einheit – und unser Engagement.“ Neu ist an dieser Erklärung u. a., dass sie „unser Engagement“ eigens thematisiert: „Getreu dieser unserer gemeinsamen Berufung werden wir miteinander nach der vollen sichtbaren Einheit der einen, heiligen, katholischen und apostolischen Kirche streben, bis wir unsere Einheit an dem einen Tisch des Herrn zum Ausdruck bringen können.“2 Dieser Annäherungsprozess zwischen der Römisch-katholischen Kirche und den Kirchen der Reformation hat sich auf theologischer, spiritueller und basisbezogener Ebene vollzogen. Er hat sich nach dem Rückschlag, der zunächst durch die vatikanische Erklärung vom 6. August 2000 „Dominus Iesus“ ausgelöst wurde, noch intensiviert durch die Zunahme konziliarer Versammlungen in Berlin (2003), Stuttgart (2004), Sibiu (2007), München (2010), Frankfurt (2012) und Mainz (2014). Zweifellos hat dieser Prozess der gegenseitigen Annäherung auch in evangelischen und katholischen Gemeinden schon reiche Früchte getragen, wie die zunehmenden Gemeindepartnerschaften am Ort zu erkennen geben.3 2. Vorbereitungen auf das Reformationsgedenken 2017 Auch hier beschränke ich mich übersichtsartig auf die wichtigsten Schritte, die bisher unternommen worden sind. Die EKD hat frühzeitig damit begonnen, zur Vorbereitung auf das Jahr 2017 eine Luther- bzw. Reformationsdekade ins Leben zu rufen, die jedes Jahr einen besonderen Themenakzent setzt. Sie bringt dazu jährlich ein ansprechendes Themenheft heraus.4 Es begann mit dem Calvin-Jahr 2009 unter dem Motto „Reformation und Bekenntnis“. Im Jahr 2015 ging es um „Bild und Bibel“ (500 Jahre Lucas Cranach); im Jahr 2016 stand das Thema „Reformation und die Eine Welt“ im Vordergrund. Zum Jahr 2017 heißt es in der Ankündigung der EKD ziemlich lapidar: „Das Jahr 2017 wird mit großen Ausstellungen, internationalen Kongressen, kirchlichen Großereignissen, Meetings, Festveranstaltungen und kulturtouristischen Events
2 In: H.-G. Link u. a. (Hg.), Busan 2013. Offizieller Bericht der 10. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen, Leipzig/Paderborn 2014, 72. 3 Vgl. dazu H.-G. Link (Hg.), Ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort. Vorschläge – Modelle – Berichte, KÖB 42, Köln 2002. 4 Zu beziehen bei: Kirchenamt der EKD, Herrenhäuser Straße 12,30 419 Hannover, 0511-2796-0. Google-Stichwort: Reformationsdekade.
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die Person Luther und die Gesamtheit der Reformation in globaler Vernetzung thematisieren.“5 Inzwischen sind bemerkenswerte Publikationen zum Jahr 2017 erschienen. Als erste hatte die internationale „lutherisch/römisch-katholische Kommission für die Einheit“ schon 2013 einen Vorschlag zum gemeinsamen Reformationsgedenken vorgelegt, der in 5 ökumenische Imperative mündet: „Vom Konflikt zur Gemeinschaft“.6 Kürzlich ist von derselben Kommission unter demselben Thema ein liturgischer Entwurf für Gemeinden veröffentlicht worden. Der Rat der EKD hat im Jahr 2014 einen „Grundlagentext“ zur evangelischen Selbstvergewisserung vorgelegt anhand der 5 Allein-Stichworte: Christus, Gnade, Wort, Schrift und Glaube: „Rechtfertigung und Freiheit. 500 Jahre Reformation 2017“.7 Dabei soll es jedoch nicht sein Bewenden haben, vielmehr haben EKD und Deutsche Bischofskonferenz (DBK) inzwischen eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema „Heilung der Erinnerungen“ eingerichtet. Vor kurzem sind aus der Feder des Ökumenischen Arbeitskreises evangelischer und katholischer Theologen „Ökumenische Perspektiven“ zu „Reformation 1517 – 2017“ veröffentlicht worden, die einen eindrucksvollen Überblick über historische und systematische Perspektiven sowie zu ökumenischen Herausforderungen vermitteln. Der letzte Abschnitt der Studie spricht sich im Blick auf 2017 für ein „sowohl als auch“ von „freudigem Feiern“ und „selbstkritischer Besinnung“ aus; er sieht „hinreichend Anlass dazu, dass die evangelischen Kirchen und die Römischkatholische Kirche einander explizit als Kirchen Jesu Christi anerkennen“ und wünscht, „möglichst oft ökumenische Gottesdienste zu feiern und den Mitgliedern der anderen Kirchen dabei auch eucharistische Gastfreundschaft zu gewähren.“8 Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch den 2. Band einer auf 5 Veröffentlichungen angelegten ambitionierten Reihe „Die Reformation radikalisieren“. Das von Ulrich Duchrow und Hans G. Ulrich herausgegebene Buch trägt den Titel: „Befreiung vom Mammon“. Es will, wie die ganze Reihe, die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte „im Blick auf die globale Gefährdung von Menschheit und Erde“ beleuchten und neu interpretieren. Nach einer Einführung werden 94 Thesen unter der Überschrift formuliert: „Die Reformation radikalisieren – provoziert von Bibel und Krise.“9 Diese Reihe wird mit Sicherheit nicht die letzte Veröffentlichung zum Jahr 2017 bleiben. 5 Google-Stichwort: Reformationsdekade. 6 Vom Konflikt zur Gemeinschaft. Gemeinsames lutherisch-katholisches Reformationsgedenken im Jahr 2017 (Bericht der lutherisch/ römisch-katholischen Kommission für die Einheit), Leipzig/Paderborn 2013, 95 ff. 7 Mit einem Geleitwort des Ratsvorsitzenden Nikolaus Schneider, Gütersloh 2014. 8 V. Leppin/D. Sattler (Hg.), Dialog der Kirchen 16, Freiburg i. B./Göttingen 2014, 72 ff (Hvg. v. m.). 9 Berlin/Münster i. W. 2015, 9, 24 ff.
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Zu den Vorbereitungen auf das Reformationsgedenken gehörte auch die Begegnung von Papst Benedikt XVI. und dem damaligen Ratsvorsitzenden der EKD, Präses Schneider, am 23. September 2011 im Erfurter Augustinerkloster. Präses Schneider hat dabei in seiner Ansprache die Reformation als „Umkehr der Kirche zu Christus“ bezeichnet und im Blick auf 2017 von einem „Fest des Christusbekenntnisses“ gesprochen, „so dass wir alle in ökumenischer Verbundenheit Christus bezeugen, ‚damit die Welt glaube‘“10 Seitdem wird in der Öffentlichkeit für die ökumenische Dimension des Reformationsgedenkens immer wieder von einem gemeinsamen Christusfest gesprochen, ohne dass bisher deutlich geworden wäre, wann es von wem wie gefeiert werden soll. Immerhin haben evangelische und katholische Ökumene-Beauftragte aus Nordrhein-Westfalen (NRW) das Stichwort aufgegriffen und dazu im November 2013 „Überlegungen zur ökumenischen Dimension des Reformationsjubiläums 2017“ vorgelegt. Für die gemeinsame Mitte unseres Glaubens beziehen sie sich erfreulicherweise ausdrücklich auf die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (Z.2). Auf dieser Grundlage entfalten sie dann den „Dreiklang von einer Ökumene der Profile, Ökumene der Gaben und Ökumene der Umkehr“. Die Verfasser beziehen auch den „größeren Horizont“ des konziliaren Prozesses für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung mit ein: „Der Glaube an die Rechtfertigung des Menschen allein durch Christi Gnade verlangt nach dem Eintreten der Kirchen für Gerechtigkeit.“ (Z. 16) Die Ökumene-Referenten sprechen sich auch dafür aus, den „Weg zum Fest gemeinsam vorzubereiten“ (Z. 17), und beenden ihre Überlegungen mit dem Vorschlag: „Wir ermutigen, gemeinsame Schritte zu suchen und zu gehen, damit das Reformationsjubiläum auch ökumenisch gefeiert werden kann, und vor allem gemeinsam Zeugnis in Wort und Tat in einer Gesellschaft zu geben, die auf diese Gemeinsamkeit wartet.“ (Z. 18)11 Vergegenwärtigt man sich diese Vorbereitungen, die bis jetzt zum Gedenken, Bedenken und Feiern der Reformation unternommen worden sind, kann man schon heute 3 Tendenzen ausmachen: a) Reformation als Umkehr zu Christus: Es lassen sich zahlreiche Bemühungen erkennen, den Kern von Luthers reformatorischer Entdeckung von seinen zahllosen Überdeckungen und Überfremdungen wieder freizulegen: die in Christus geschenkte „Freiheit eines Christenmenschen“. b) Reformationsgedenken in ökumenischer Gemeinschaft: Im Unterschied zu früheren Jahrhundertjubiläen der Reformation soll 2017 nicht
10 In: Apostolische Reise Seiner Heiligkeit Papst Benedikt XVI. nach Berlin, Erfurt und Freiburg 22. bis 25. September 2011. Predigten, Ansprachen und Grußworte, VAS 189, Bonn 28.09.2011, 69 f. 11 Manuskript; Bielefeld, Detmold, Düsseldorf, im November 2013.
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die Abgrenzung von, sondern die Gemeinschaft mit römisch-katholischen und anderen Christen im Vordergrund stehen. c) Rechtfertigung in Verbindung mit Gerechtigkeit: Der Rechtfertigungsartikel, mit dem nach evangelischem Verständnis die Kirche steht und fällt, soll und muss aus seiner religiösen Isolation befreit und in seiner Gemeinschaft stiftenden, ethischen und gesellschaftskritischen Sprengkraft zur Geltung gebracht werden. 3. Vorschlag für ein „Jahr der Versöhnung“ Es ist in meinen Augen ausgesprochen erfreulich, wie viele Initiativen zum Umgang mit dem Reformationsgedenken im Jahr 2017 bereits in die Wege geleitet sind, und es werden sicherlich noch weitere dazukommen. Allerdings sehe ich bei den bisherigen Bemühungen auch deutliche Schwächen: a) Zahlreiche Überlegungen in den genannten Veröffentlichungen bewegen sich auf einer theologischen und allgemeinen Ebene, die die Umsetzung für die Gemeinde-Basis noch nicht erreicht hat. b) Manche Planungen für Feiern im Jahr 2017 auf bundesweiter, regionaler und touristischer Ebene setzen mehr auf eine öffentlichkeitswirksame einmalige Eventkultur als auf spirituelle Vertiefung. c) Eine Zielführung, worauf die zahlreichen Ereignisse im Jahr 2017 hinauslaufen sollen, ist bisher kaum erkennbar. Die Frage ist großenteils noch nicht beantwortet, wie die verschiedenen Initiativen im Jahr 2017 konkrete Gestalt annehmen sollen. Gibt es eine Leitidee, mit der die Vorbereitungen für das Reformationsgedenken gebündelt und einem gemeinsamen Ziel näher gebracht werden können? Dazu schlägt der Altenberger Ökumenische Gesprächskreis vor, das Jahr 2017 als „Jahr der Versöhnung“ zu verstehen und zu begehen. Die Schritte, die seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil aufeinander zu gegangen worden sind, und die Vorbereitungen, die für 2017 unternommen werden, können unter dieser Überschrift zusammengefasst und auf einen gemeinsamen Punkt hin zugeführt werden. Denn es steht ja außer Frage, dass es sich bei dem Jahrhundertgedenken von 2017 gleichermaßen um eine einmalige Chance wie um eine so nicht wiederkehrende Herausforderung handelt, die genutzt oder vertan werden kann. Schon heute ist deutlich, dass das Jahr 2017 nicht mehr wie frühere entsprechende Jubiläen in einer Haltung von protestantischem Triumphalismus begangen werden kann. Auch eine evangelische Selbstvergewisserung, so angebracht und notwendig sie für die reformatorischen Kirchen auch ist, reicht nicht mehr aus für ein heute angemessenes Bedenken der Reformation. Heutzutage ist ein ökumenisches, internationales
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und gesellschaftskritisches Begehen des Reformationsjubiläums 2017 angesagt! Versöhnung ist ein neutestamentlicher Schlüsselbegriff, mit dem vor allem der Apostel Paulus das Handeln und Leiden Christi zusammenfasst.12 Sie ist eine Gabe Gottes an uns und zugleich eine Aufgabe für uns. Versöhnung heißt die Botschaft von Christen an die Welt (vgl. 2. Korinther 5,17-21), die sie umso überzeugender ausrichten, je versöhnter sie selbst miteinander leben. Erfreulicherweise stehen die evangelischen und katholischen Kirchen heute nicht mehr in offener Feindschaft gegeneinander, wie im 30jährigen Krieg, oder in verdeckter, wie während des Kulturkampfes zu Bismarcks Zeit. Aber sie haben erst vor 50 Jahren den Weg zueinander angetreten, dem eine vorhergehende Entfremdungsgeschichte von über 400 Jahren gegenübersteht. Heute befinden sich die beiden „großen“ Kirchen in einem Zwischenfeld, das nicht mehr von Kirchenspaltung, aber auch noch nicht von Kirchengemeinschaft geprägt ist. Wie labil es immer noch um die Beziehung zwischen beiden Kirchen bestellt ist, wurde vor 15 Jahren deutlich, als neun Monate nach der offiziellen Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre wenige Worte der vatikanischen Erklärung Dominus Jesus („sind nicht Kirchen im eigentlichen Sinn“, Z. 17) es fertigbrachten, das vertrauensvolle Klima zwischen beiden Konfessionen in eine Vertrauenskrise zu stürzen, die bis heute noch nicht wieder ganz überwunden ist. Gerade auf diesem Hintergrund ist es umso notwendiger, im Jahr 2017 einen bewussten und gewollten Kontrapunkt zu setzen. Versöhnung kann man nicht „machen“, sie muss gewährt und geschenkt werden. Aber man kann bewusste und gezielte Schritte auf dem Weg zur gegenseitigen Versöhnung unternehmen. Deswegen verstehen wir das „Jahr der Versöhnung“ in dem Sinne, dass es ein Jahr auf dem Weg zur gegenseitigen Versöhnung sein soll, das jedoch der Heilige Geist zu einem Jahr der Versöhnung werden lassen kann. Es ist sinnvoll, angesichts des besonderen Gedenkjahrs einen bestimmten, fest umrissenen und begrenzten Zeitrahmen vorzusehen für das „Jahr der Versöhnung“. Wir schlagen den Zeitraum vom 31. Oktober 2016 bis zum 31.Oktober 2017 vor. Eine Zuspitzung der Anstrengungen braucht ebenso ihre Begrenzung. Das „Jahr der Versöhnung“ wird davor und danach seine Auswirkungen haben. Um welche Dimensionen geht es im „Jahr der Versöhnung“? Um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unseres Christseins und unserer Kirchen. Verarbeitung von Vergangenheit ist Erarbeitung von Zukunft. Soweit ich sehe, hat als erster Papst Johannes Paul II. schon vor 20 Jahren in seiner Enzyklika Ut Unum Sint (UUS, 1995) dazu aufgerufen, die 12 Vgl. dazu H.-G. Link, Hermeneutische Überlegungen zur Versöhnung, in: L. Coenen/ Klaus Haacker (Hg.), Theologisches Begriffslexikon zum Neuen Testament, neu bearbeitete Ausgabe, Bd. II, Wuppertal/Neukirchen-Vluyn 2000, 1780 ff.
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„schmerzvolle Vergangenheit und jene Wunden, die diese leider auch heute noch immer hervorruft, gemeinsam neu zu bedenken“.13 Inzwischen ist viel von „Healing wounded History“ die Rede, auch die gemeinsame Arbeitsgruppe von Deutscher Bischofskonferenz und EKD steht „unter dem Leitgedanken der Heilung der Erinnerungen“.14 Das Thema ist ebenso für jede evangelische und katholische Ortsgemeinde von Bedeutung. In unserer Zeit kommt es vor allem auf das gemeinsame Christuszeugnis in Wort und Tat an. Es gehört zu den großen Enttäuschungen, dass die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwar fordert: „Unser Konsens in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre muss sich im Leben und in der Lehre der Kirchen auswirken und bewähren“;15 dass ihr aber praktisch gar keine Auswirkungen, z. B. ein regelmäßiger Kanzeltausch, gefolgt sind. So macht man die bedeutendsten ökumenischen Übereinkünfte unglaubwürdig! Heute geht es beim gemeinsamen christlichen Zeugnis um die Annahme von Herausforderungen, die z. B. die Säkularisierung für den Gottesglauben, Migranten für christliche Gastfreundschaft und die Umweltkrise für das Bekenntnis zur Schöpfung bedeuten. Durch Heilung der Wunden der Vergangenheit und gemeinsames Christuszeugnis heute wird die Basis für eine künftige Gemeinschaft der Kirchen gelegt. Papst Franziskus spricht vom Aufbruch zu einer neuen Kirche, die von der „Freude des Evangeliums“ geprägt ist.16 Damit es im Jahr 2017 dazu kommen kann, müssen Initiativen und Schritte zur Versöhnung an der Basis unserer Gemeinden unternommen werden und Gestalt gewinnen. Viele Gemeinden sind in den vergangenen Jahren ökumenisch nicht er-, sondern entmutigt worden; heute haben sie mit Ermüdungserscheinungen und Initiativlosigkeit zu kämpfen. Das „Jahr der Versöhnung“ ist eine Chance zu neuen Ermutigungen und mutigen Erneuerungen. II. Die Gestaltung des „Jahres der Versöhnung“ in 7 Schritten Die Kehrseite der Reformation bestand bekanntlich in einer Aufspaltung der westlichen Kirche in eine evangelische und eine katholische Konfession. Daher stehen im Jahr 2017 Schritte zur Versöhnung zwischen 13 Enzyklika Ut Unum Sint von Papst Johannes Paul II. über den Einsatz für die Ökumene, VAS 121, Bonn 25. Mai 1995, Z. 2, 6 (Hvg. v. m.). 14 V. Leppin/ D. Sattler, Reformation 1517 – 2017 (s.o.. Anm. 8), 20. 15 In: F. Hauschildt u. a. (Hg.), Die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre. Dokumentation des Entstehungs- und Rezeptionsprozesses, Göttingen 2009, 284, Z. 43. 16 Apostolisches Schreiben Evangelii Gaudium des Heiligen Vaters Papst Franziskus … an die christgläubigen Laien über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute, VAS 194, Bonn 24. November 2013, 7, Z. 1.
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ihnen, die bis zum heutigen Tage die beiden so genannten „großen“ Kirchen in Deutschland bilden, an erster Stelle. In der ACK sind viele weitere Kirchen zusammengeschlossen, die aus der reformatorischen Bewegung und der Römisch-katholischen Kirche hervorgegangen sind, z.B. die Mennoniten-Vereinigung und die altkatholische Kirche. Sie gehören zum weiteren Umkreis der Betroffenen. Heute leben in Deutschland Millionen Christen aus anderen Ländern und Kontinenten, oft in Gemeinden anderer Sprache und Herkunft, außerdem zahllose Migranten in unserem Einwanderungsland. Hier sind Gastfreundschaft und Projekte zur Integration besonders gefragt. Schließlich grenzt unser mitteleuropäisches Land an 9 verschiedene Nachbarländer mit großen christlichen Bevölkerungsanteilen; da geht es um die internationale Dimension im Jahr 2017. Auf allen vier Ebenen kann und sollte das „Jahr der Versöhnung“ eine Rolle spielen. Die meisten Christen und Kirchen verbindet nach wie vor das Kirchenjahr, wenn auch manche Daten wie z. B. der Ostertermin nicht immer übereinstimmen. Da es beim „Jahr der Versöhnung“ in erster Linie um eine Zueinander-Bewegung an der Basis zwischen evangelischen und katholischen, einheimischen und ausländischen Gemeinden geht, nehme ich den gemeinsamen Rahmen des Kirchenjahres als Ausgangspunkt, um eine konkrete Ausgestaltung des „Jahres der Versöhnung“ in 7 Schritten vorzuschlagen. Das hat den Vorteil, an vorhandene gemeindliche Strukturen anknüpfen zu können, um sie ökumenisch zu weiten. Eröffnet werden kann das „Jahr der Versöhnung“ mit Veranstaltungen zum Reformationstag 2016, zu denen die evangelische Seite als Gastgeberin katholische und weitere Partner einlädt. Dabei muss die Gastgeberin die Initiative ergreifen, und zwar rechtzeitig, wenn sie in ökumenischer Gastfreundschaft das „Jahr der Versöhnung“ beginnen will. Denkbar ist auch ein „Wort des Rates der EKD“ zum 31. Oktober 2016. Der Buß- und Bettag am 16. November 2016 bietet eine weitere Gelegenheit zu ökumenischen Zusammenkünften, bei denen man der einander zugefügten Wunden der Vergangenheit sinnvoll gedenken kann. 1. Weihnachts- und Epiphaniaszeit (27. Nov. 2016 – 28. Febr. 2017) Das ökumenische Hausgebet im Advent hat besonders in BadenWürttemberg schon eine lange Tradition. Am Montagabend nach dem 3. Advent oder an einem anderen Abend laden Christen einander in ihre Häuser bzw. Wohnungen ein. Für das jeweilige Hausgebet wird ein ausführliches Faltblatt erstellt und gedruckt, das man bei den Kirchenämtern in Stuttgart und Rottenburg bestellen kann. Es ist den Gastgebern überlassen, wie sie den weiteren Abend mit Gesängen, Musik und Gebäck adventlich ausgestalten. So können sich zu Beginn des „Jahres der Versöhnung“ Christen in ihrer Nachbarschaft kennenlernen und miteinander ins Gespräch und ins Gebet kommen. Vom 18. bis 25. Januar wird seit Jahrzehnten die Gebetswoche für die Einheit der Christen begangen. Im Jahr 2017 lautet ihr Thema: „Die
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Liebe Christi drängt uns“, und der Schlüsseltext, den die deutsche Vorbereitungsgruppe dazu ausgewählt hat, ist 2. Korinther 5,17-21: die Botschaft von der Versöhnung. Damit steht am Beginn des Jahres 2017 „das Wort von der Versöhnung“ und jede Gemeinde kann dazu ihre eigenen Überlegungen anstellen, wie sie im Januar 2017 ein Wort, ein Zeichen, eine Geste der Versöhnung an ihrem jeweiligen Ort setzen will. Die Bundesversammlung der ACK könnte das Thema mit einer eigenen Botschaft zu Beginn des Jahres unterstreichen. 2. Passions- bzw. Fastenzeit (1. März bis 15. April) Traditionell wird in katholischen Gemeinden am Aschermittwoch das Aschenkreuz ausgeteilt. Man kann das auch in ökumenischer Gemeinschaft tun, wie es in der Kölner Innenstadtkirche Sankt Peter jahrelang geschehen ist. Zwei Tage später findet am Freitag, den 3. März, der Weltgebetstag statt, zu dem Frauen aller Konfessionen einladen. Aus diesem Anlass an die Frauen der Reformationszeit und die Versöhnungsarbeit von Frauen im 20. Jahrhundert wie Bertha von Suttner zu erinnern, wäre eine wertvolle Bereicherung. Am Freitag vor dem Palmsonntag findet der ökumenische Kreuzweg der Jugend statt, der jeweils unter einem besonderen Thema steht. Welches wird es 2017 sein? Die „vorösterliche Bußzeit“ ist auch der Zeitraum für besondere Fastenpredigten. Man kann sie, wie es schon an einigen Orten geschieht, auch in ökumenischer Verbundenheit halten, indem evangelische und katholische Christen dazu jeweils gemeinsam in verschiedene Kirchen eingeladen werden. Oder man kommt zu ökumenischen Gesprächsabenden in der Passionszeit zusammen. Im Jahr 2017 liegt es nahe, unter der Überschrift: „Wie wollte der Reformator Martin Luther die Kirche erneuern?“ sich in Predigten und/oder Gesprächen mit seinen reformatorischen Programmschriften von 1520 zu befassen: Von der Freiheit eines Christenmenschen; Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche; An den christlichen Adel deutscher Nation: Von des christlichen Standes Besserung. Jedenfalls gehört es 2017 dazu, Luther selbst zu lesen und zu Wort kommen zu lassen mit seiner reformatorischen Botschaft, die 1983 ökumenisch unter der Überschrift gewürdigt worden ist: „Martin Luther – Zeuge Jesu Christi.“17 3. „Heilige Woche“ von Palmsonntag bis Ostermontag (9. bis 17. April) Man kann die Passionszeit, in der wir des Leidensweges Jesu gedenken, im Jahr 2017 aber auch dazu nutzen, die Verletzungen am jeweiligen Ort aufzuarbeiten, die sich evangelische und katholische Christen bis in die jüngere Vergangenheit hinein gegenseitig zugefügt haben. Auf diesem Hintergrund ist es dann besonders sinnvoll, am Palmsonntag einen öku17 In: H. Meyer u. a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 2, Paderborn-Frankfurt/Main 1992, 444ff.
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menischen Gedenkgottesdienst miteinander zu feiern: „Umkehr von getrennten Wegen zum gemeinsamen Einzug mit dem Evangelium Jesu.“ Man kann den Gottesdienst mit einer Palmprozession aus verschiedenen Richtungen beginnen oder hin zu einem ökumenisch verbindenden Ort beenden. Die drei Tage von Gründonnerstag bis Ostern laden in besonderer Weise zu Zeichen der Versöhnung ein. Am Gründonnerstag bietet sich nach dem Vorbild von Johannes 13 eine ökumenische Agape-Feier an, die mit einer Fuß- oder Handwaschung verbunden wird. So geschieht es während der meditativen ökumenischen Tage zu Karfreitag und Ostern in Altenberg bei Köln schon seit über 20 Jahren. Am Karfreitag, an dem keine Messe gefeiert wird, können evangelische Gemeinden ihre katholischen Geschwister zur Teilnahme an ihrem Abendmahlsgottesdienst einladen. Der nachmittäglichen katholischen Karfreitagsliturgie kann man mit der Einladung zur gemeinsamen Kreuzverehrung – ohne anschließende Kommunionausteilung – einen versöhnenden Akzent geben. Bei den erwähnten Tagen in Altenberg ist es zur Regel geworden, am Vormittag des Karsamstag auf dem Friedhof zu einer Besinnung zusammenzukommen, bei der wir der Verstorbenen gedenken, Steine des Gedenkens am großen Friedhofskreuz ablegen und mit einem Segenswort einander ein Kreuz auf die Stirn zeichnen. Erfreulicherweise bürgern sich auch in evangelischen Gemeinden mehr und mehr Osternachtfeiern ein, sei es am späten Samstagabend, sei es am frühen Ostersonntagmorgen. Zumindest Lichtfeier, Wortgottesdienst und Taufgedächtnis lassen sich gemeinsam feiern, ebenso eine anschließende Agape. Noch angemessener ist es, wenn als Zeichen des neuen österlichen Lebens die Gemeinden einander zur Teilnahme an der jeweiligen Osternachtfeier einladen, die dann allerdings nicht zur selben Zeit stattfinden sollte. Zumindest aber sollten die Gemeinden am Ort sichtbare und inspirierende Osterbotschaften miteinander persönlich austauschen. Man darf schon heute auf die Osterbotschaft gespannt sein, die Papst Franziskus am 16. April 2017 von der Loggia des Petersdomes urbi et orbi verkünden wird. Der Ostermontag bietet sich für Emmauswege in Gottes guter, neu erwachender Schöpfung an. In Altenberg gehen wir seit Jahr und Tag im Anschluss an die Osternachtfeier der evangelischen Michaelsbruderschaft am frühen Ostersonntagmorgen der aufgehenden Sonne schweigend und singend entgegen und lassen beim Osterfrühstück unserer Freude freien Lauf. 4. Österliche Freudenzeit (16. April bis 3. Juni) Man kann diesem Abschnitt des Kirchenjahres mit musikalischen Ostervespern sonntags um 18:00 Uhr in verschiedenen Kirchen vor allem in Großstädten einen besonders erfreulichen Akzent verleihen: Jubilate – Kantate – Rogate. Nach meiner Erfahrung sind Kirchenmusiker oft kooperationsfreudiger als Pfarrer. Da im Jahr 2017 Ostern von Ost- und Westkirchen wieder am selben Datum gefeiert wird, lassen sich auch
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orthodoxe Gemeinden und ihre Chöre einbeziehen. Die Osterzeit eignet sich aber auch wieder für Gesprächs- oder Predigtreihen unter der Überschrift: „Voneinander lernen für das neue gemeinsame Leben in Christus“. Am 1. Mai wird im Altenberger Dom seit Jahrzehnten vom „Bund Deutscher Katholischer Jugend“ (BDKJ) das Altenberger Licht in alle Himmelsrichtungen ausgesandt, manchmal bis nach Österreich und in die Schweiz. Im Jahr 2017 kann man das mit einer gemeinsamen Botschaft des Kölner Erzbischofs und des rheinischen Präses verbinden. Vom 24. bis 28. Mai findet der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag in Berlin und am Sonntag in Wittenberg statt. Der „Dank für die Gemeinschaft von Lutherischen und Reformierten mit vielen Konfessionen der Weltökumene“ soll beim Schlussgottesdienst auf den Wittenberger Elbwiesen im Vordergrund stehen. 5. Pfingsten (3. bis 5. Juni) Das Datum des Pfingstfestes fällt im Jahr 2017 mit den Tagen des ökumenischen Pfingsttreffens in Augsburg 1971 zusammen – vor dann 46 Jahren, fast einem halben Jahrhundert. Dessen Schlussgottesdienst stand unter der damaligen und diesjährigen Jahreslosung: „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob“ (Römer 15,7). Nachdem Vigilfeiern zu Weihnachten – Christvesper! – und Ostern – Osternacht! – wieder zu liturgischen Festsäulen geworden sind, schlage ich für den Vorabend des Pfingstfestes im Jahr 2017 ebenfalls die Feier einer Pfingstvigil zum Thema vor: Komm Schöpfer Geist –Veni Creator Spiritus! In den neunziger Jahren haben wir damit während der ökumenischen Pfingsttage in Altenberg nachhaltige positive Erfahrungen gesammelt. Man kann auch von Christi Himmelfahrt bis Pfingsten die Durchführung einer ökumenischen Pfingstnovene empfehlen, für die das Renovabis-Werk jedes Jahr ein kleines liturgisches Heft zusammenstellt. Die Präsidenten des Ökumenischen Rates der Kirchen veröffentlichen in Genf zu Pfingsten ihre jährliche „Pfingstbotschaft“. Wie wäre es, sie zu Pfingsten 2017 mit gemeinsamen Pfingstbotschaften von EKD und Deutscher Bischofskonferenz oder zumindest von einzelnen Landeskirchen und Diözesen zu ergänzen? Ihr Inhalt sollte darauf hinauslaufen, den Pfingstmontag offiziell zum „Tag der ökumenischen Begegnung“ zu erklären, der ab 2017 jährlich begangen wird. So oder so bietet es sich an, am Pfingstmontag „ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort“ abzuschließen, regionale ökumenische Versammlungen zu veranstalten oder zu einem „ökumenischen Brückenweg“ einzuladen, wie es in Köln dann zum 6. Mal geschehen wird. 6. Trinitatiszeit (ab 11. Juni) Das so genannte „festlose“ Halbjahr von Trinitatis bis zum Advent eignet sich besonders dazu, Projekte, Reisen und Tagungen anzuberaumen, die einem besonderen Anliegen gewidmet sind. Hier gibt es Spielraum
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für Jugendprojekte am Ort – in der Kölner Region hat das etwa dreiwöchige ökumenische Sommercamp „HöViLand“ inzwischen einen gewissen Kultstatus erreicht. Gemeindereisen zu so genannten Reformationsstädten bieten sich im Jahr 2017 von selber an. Hier haben ebenso Gospel-Wochenenden wie Begegnungen mit ausländischen Gemeinden oder Partnerschaftstreffen ihren Ort. Wer einen längeren Pilgerweg unternehmen oder sonst etwas zur Heilung der Schöpfung beitragen will, kann es in dieser Zeit am besten tun. Ich möchte in diesem Zusammenhang auch an den „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ erinnern, zu dem die 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan 2013 eingeladen hat. Er könnte in einem ökumenischen Projekt „Eine Bleibe für Flüchtlinge unter uns“ oder in einer gemeinsamen Sammlung für Notleidende in der Diaspora, z. B. in Syrien oder Nigeria, konkrete Gestalt gewinnen. Aber auch in der festlosen Zeit gibt es Tage und Anlässe, die man gezielt für ökumenische Annäherungen nutzen kann. An Fronleichnam, 15. Juni 2017, können katholische Gemeinden überlegen, ob sie ihre evangelischen Geschwister zur Teilnahme an ihrer Prozession einladen wollen. An Peter und Paul, 29. Juni, haben wir in Köln einmal eine ökumenische Schiffstour auf dem Rhein gemacht: „Alle in einem Boot“, die bleibende Erinnerungen hinterlassen hat. Der evangelische Taufsonntag am 23. Juli eignet sich auch für gemeinsame Taufgedächtnisfeiern. Für die Woche vom 21. bis 28. August 2017 wird von der deutschen Region der Internationalen Ökumenischen Gemeinschaft (IEF) mit verschiedenen Kooperationspartnern eine Wittenberger Ökumenische Versammlung vorbereitet. Ihr Thema knüpft an Luthers These 62 von 1517 an: „Vom wahren Schatz der Kirche(n). Dem Evangelium miteinander auf der Spur“. Als Höhepunkt dieser Tagung ist am Sonntagmorgen, 27. August 2017, eine Feier der Lima-Liturgie in der Wittenberger Stadtkirche vorgesehen. Obwohl es leider nicht gelungen ist, den 3. Ökumenischen Kirchentag im Jahr 2017 durchzuführen, soll doch als kleiner Ersatz Mitte September ein gemeinsamer Tag vom Deutschen Evangelischen Kirchentag und Zentralkomitee der Katholiken veranstaltet werden. 7. Erntedankwoche (30. September bis 8. Oktober) In den ersten Oktobertagen 2017 liegen der große jüdische Versöhnungstag (30. September: Jom Kippur), das Erntedankfest (1. Oktober), der Franziskustag und Tag der deutschen Einheit (3. Oktober) und der erste Tag des (jüdischen) Laubhüttenfestes (5. Oktober) dicht beieinander. Sie haben es alle mehr oder weniger mit den Themen Versöhnung und Dankbarkeit zu tun. Insofern ist es naheliegend, in der ersten Oktoberwoche 2017 Versöhnung, Schöpfung und Erntegaben miteinander zu feiern. Ich möchte anregen, am Erntedanktag, 1. Oktober, unter dem Motto: „Die Früchte ernten“ ein großes ökumenisches Fest miteinander zu feiern, in dem Dankbarkeit und Freude über die (wieder-) gewonnene Gemeinschaft zwischen evangelischen, katholischen und weiteren Chris-
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ten am Ort gebührenden musikalischen, kulinarischen und theatralischen Ausdruck finden: „Die Freude am Herrn ist eure Stärke.“ (Nehemia 8,10). – Das „Jahr der Versöhnung“ findet seinen Abschluss mit ökumenischen Reformationsfeiern am 31. Oktober 2017. Die Bedeutung dieses Datums zeigt sich schon jetzt darin, dass es im ganzen Land als einmaliger staatlicher Feiertag begangen werden soll. Dabei sollten sich Christen die Gestaltung dieses Tages jedoch nicht von staatlichen oder kulturellen Stellen aus der Hand nehmen lassen. An der inhaltlichen Ausgestaltung der ökumenischen Feiern zum 31. Oktober 2017 wird man ablesen können, wie weit evangelische und katholische Christen dann auf dem Weg zur Versöhnung miteinander gekommen sind. Wer dann einen Meilenstein in den gegenseitigen Beziehungen feiern will, muss heute damit beginnen, sein Scherflein dazu beizutragen. – Damit diese 7 vorgeschlagenen Schritte für das Jahr 2017 nicht missverstanden werden, möchte ich abschließend betonen, dass es sich bei den genannten Konkretionen um Anregungen handelt, die zu allererst die Phantasie der Beteiligten beflügeln wollen. Es wäre völlig abwegig, alle erwähnten Vorschläge in die Tat umsetzen zu wollen; sie sollen aber verdeutlichen, wie viele Wege zur Versöhnung offenstehen. Es geht darum, am jeweiligen Ort den einen realistischen und realisierbaren Schritt in die Tat umzusetzen, also auszuwählen, statt in Aktionismus zu versinken: Qualität der Annäherung statt Quantität der Aktionen. Wenn es den Gemeinden gelänge, im Jahr 2017 im Verlauf der 7 Phasen jeweils einen Schritt aufeinander zu zu tun, wäre das Ziel des Jahres auf dem Weg zur Versöhnung erreicht. Es steht jedoch die Frage unbeantwortet im Raum, ob und wie viele Christen am Ort bereit sind, sich auf ein solches „Jahr der Versöhnung“ einzulassen. Die verschiedenen Anregungen18 lassen sich von der Selbstverpflichtung der Charta Oecumenica zum „gemeinsamen Handeln“ leiten, „auf allen Ebenen des kirchlichen Lebens gemeinsam zu handeln, wo die Voraussetzungen dafür gegeben sind und nicht Gründe des Glaubens oder größerer Zweckmäßigkeit dem entgegenstehen“.19
18 Vgl. dazu meinen „Ausblick auf das Jahr 2017: Alte konfessionelle Selbstbeweihräucherung – oder: Ein neuer ökumenischer Beginn?“, in: Unterwegs nach Emmaus (s. o. Anm. 1), 257ff. 19 In: Charta Oecumenica. Arbeitshilfe der ACK, Frankfurt 2003.
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III. Vorbereitungen für das „Jahr der Versöhnung“ 2017 Gemeindliche Initiativen Was wir vorschlagen, kann jede Gemeinde, die sich darauf einlässt, aufgreifen, sich zu eigen machen und an ihrem jeweiligen Ort verwirklichen. Damit es kein technischer, sondern ein geistlicher Prozess wird, beginnt man sinnvollerweise mit regelmäßiger Fürbitte füreinander im sonntäglichen Hauptgottesdienst. Dann ist die gottesdienstliche Gemeinde in das Anliegen gegenseitiger Versöhnung einbezogen. Der Leiter der ökumenischen Kommunität von Taizé, Frère Alois Löser, hat während der 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan im November 2013 einen noch weitergehenden Vorschlag unterbreitet: „Wagen wir einen Schritt nach vorn! Laden wir einmal im Monat, mindestens aber einmal im Vierteljahr, die Menschen unserer Stadt oder Region zu einem Abendgebet der Versöhnung ein! Bereits in einem einfachen Gebet führt uns der Heilige Geist zusammen und wir stellen fest, wie sehr wir aufeinander angewiesen sind.“20 Mit einem solchen regelmäßigen Abendgebet der Versöhnung beginnt der geistliche Weg im „Jahr der Versöhnung“. Als Zweites benötigen Gemeinden zur Vorbereitung auf das „Jahr der Versöhnung“ eine „Ökumenische Initiativgruppe: Versöhnung 2017“. Sie hat die Aufgabe, die Lage vor Ort auf ihre Stärken und Schwächen hin zu durchleuchten und anhand der vorgestellten 7 Schritte geeignete Vorschläge für das Jahr 2017 am Ort zu erarbeiten. Eine derartige Initiativgruppe braucht mindestens zwei Mitglieder, z. B. ein konfessionsverbindendes (Ehe-)Paar, das in die evangelische bzw. katholische Ortsgemeinde eingebunden ist. Die Vorschläge der Initiativgruppe müssen dann im Presbyterium (Kirchenvorstand) und Pfarrgemeinderat besprochen und beschlossen werden. Danach beginnen die praktische Schritte zur Umsetzung, die man am besten nach dem Delegationsprinzip auf möglichst viele Schultern verteilt. Von der über 400-jährigen geschichtlichen Tiefendimension des Jahres 2017 ist schon die Rede gewesen: Healing wounded History ist im Land der Reformation und der Kirchenspaltung praktisch an jedem Ort erforderlich. Meistens kommen die verdeckten und vergessenen Verwundungen wieder ans Tageslicht, wenn neue Konflikte aufbrechen, z. B. um Zeiten am Sonntagvormittag, um Kirchengebäude, um öffentlichen Einfluss usw. Daher gehört es zur glaubwürdigen Vorbereitung auf das „Jahr der Versöhnung“, an jedem Gemeindeort verletzende Erinnerungen aus jüngerer oder älterer Zeit, die einseitig oder gegenseitig zugefügt worden sind, aufzuspüren, ins Bewusstsein zu heben und mit einem Vorschlag zum versöhnenden Umgang zu verbinden. Damit sollen keines20 Vertrauen auf Gott und Versöhnung miteinander. Ansprache im Mittagsgebet am 31. Oktober, in: H.-G. Link u. a. (Hg.), Busan 2013 (s. o. Anm. 2), 142.
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wegs vernarbte Wunden wieder aufgerissen, vielmehr endgültig ausgesprochen und geheilt werden, damit sie bei einem nächsten Problemoder Konfliktfall nicht länger oder wieder hinderlich im Wege stehen und den Weg zu fortschreitender Versöhnung blockieren. „Erinnerung ist das Geheimnis der Erlösung“, sagt ein jüdisches Sprichwort. Ob diese Erinnerungs- und Heilungsarbeit von derselben Initiativgruppe oder einer anderen geleistet werden kann bzw. muss, hängt von der Vergangenheit und der Größe der jeweiligen Gemeinde ab. Kirchliche Unterstützung Im April 2015 hat der Ratsvorsitzende der EKD, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, vor der EKD-Synode in Würzburg ausführlich über theologische Inhalte und geplante Projekte des Reformationsjubiläums gesprochen. In seinem Bericht wird einerseits deutlich, wie viele Aktivitäten für 2017 bereits auf den Weg gebracht sind, andererseits droht angesichts der Vielfalt von Projekten die Übersicht über das Gesamtunternehmen 2017 verloren zu gehen. Wir Mitglieder des Altenberger Ökumenischen Gesprächskreises können nur werben und bitten, den Vorschlag für ein „Jahr der Versöhnung zwischen den Konfessionen“ soweit wie möglich in Gruppen und Gemeinden, Regionen und Verbänden und möglichst auch auf bundesweiter Ebene bekannt zu machen und in ökumenischen Gremien aufzugreifen. Wir schließen uns der Sicht von Bischof Bedford-Strohm an, der vor der EKD-Synode im Blick auf das Jahr 2017 von „einer riesengroßen Chance für uns als Kirche“ gesprochen hat: „Auch die Römisch-katholische Kirche kann es nach meiner Überzeugung als Jubiläum mitfeiern, denn auch für sie sind Erneuerungsimpulse aus der Reformation gekommen … Dass wir Gott neu entdecken, neu erfahren, neu verstehen – das könnte das Dach sein, unter dem wir der reformatorischen Botschaft 2017 neu nachsinnen … Diese Welt braucht uns als Christen gemeinsam. Sie braucht uns geistlich … Sie braucht Menschen, die Versöhnung stiften, weil sie selbst versöhnt sind und es auch spüren … An vielen Stellen zeigt sich der ökumenische Geist des Jubiläums. Unsere Absicht, das Jahr 2017 nicht konfessionell abgrenzend, sondern als Christusfest in ökumenischer Perspektive zu feiern, gewinnt konkrete Konturen … (Es geht 2017 letztlich darum), die Kraft des christlichen Glaubens zum Ausdruck zu bringen, sie selbst neu zu tanken und ihre Bedeutung für die Welt deutlich zu machen.“21 Dieser Sicht auf das Reformationsgedenken 2017 will unser Vorschlag für ein „Jahr der Versöhnung zwischen den Konfessionen“ eine konkrete Perspektive und Gestalt vermitteln. Auch wenn er keine öffentliche und offizielle Resonanz findet und nur von einigen Gemeinden aufgegriffen 21 Feiern und Gedenken. Aus dem Bericht des Ratsvorsitzenden vor der EKDSynode in Würzburg, in: KNA-ÖKI 19, 5. Mai 2015, V – VIII.
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werden sollte, so trägt er bei diesen Beteiligten doch seinen Sinn und seinen Segen in sich selbst, wie unser gemeinsamer Herr verheißen hat: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20). Damit das „Jahr der Versöhnung zwischen den Konfessionen“ 2017 zur Wirklichkeit werden kann, bedarf es außer Einsicht, Wille und Tatkraft vor allem des Gebets zu Gott bei allen Beteiligten. Als gemeinsames Bindeglied zwischen allen, die zum „Jahr der Versöhnung“ aufbrechen, schlage ich das Gebet vor, in das die „Erklärung zur Einheit“ der 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan 2013 mündet: „O Gott des Lebens, weise uns den Weg zu Gerechtigkeit und Frieden, dass leidende Menschen Hoffnung finden, dass die verletzte Welt Heilung finde und die getrennten Kirchen sichtbar eins werden, durch den einen, der für uns betete und in dem wir ein Leib sind, deinen Sohn Jesus Christus, der mit dir und dem Heiligen Geist unserer Anbetung würdig ist, ein Gott, jetzt und immerdar. Amen.“22
22 In: H.-G. Link u. a. (Hg.), Busan 2013 (s. o. Anm. 2), 73.
2 Grundlagen – Biblische und systematisch-theologische Erkenntnisse
Irmgard Weth
Heilung der Verletzungen ist möglich! Vom Geheimnis der Versöhnung nach Genesis 32 Der Beitrag von Irmgard Weth geht zurück auf eine Predigt, die sie im Rahmen jener Versöhnungsliturgie gehalten hat, die 2008 in Herrnhut am „Dreiländereck“ stattfand und die für die Beschäftigung der Internationalen Ökumenischen Gemeinschaft (IEF) mit dem Thema „Heilung unserer Erinnerungen und Verletzungen“ von besonderer Bedeutung war. Vertreter der IEF-Regionen Polen, Tschechien, Slowakei und Deutschland, aber auch England, Belgien und der Niederlande feierten diese Liturgie mit zwei Zeichenhandlungen: mit schweren „Steinen der Erinnerung“ und mit „Brot und Salz“ als Zeichen der Versöhnung, und entsprechend mit einem Schuldbekenntnis von deutscher Seite und dem biblisch-geistlichen Wort der Predigt sowie einem förmlichen Zuspruch der Versöhnung.
Wir haben die Botschaft der Steine vernommen. Sie erinnert uns an die schwere Last unserer gemeinsamen Vergangenheit. Wir tragen schwer an der Schuld, die wir auf uns geladen haben. Betroffen fragen wir uns: Wie können wir hier in Herrnhut, am Dreiländereck, von Versöhnung zwischen den Völkern, zwischen Ost und West reden, wenn diese Steine uns anklagen? „Wenn die Steine schreien“, wäre da nicht besser Schweigen angesagt? Die Botschaft der Steine – wir können und dürfen sie nicht überhören. Die Steine erinnern in Wahrheit an andere, noch viel schwerer wiegende Steine, Mahnmale aus Stein, ob im weißrussischen Chatyn oder in der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem. Vor wenigen Wochen standen wir dort im sog. „Tal der verlorenen Gemeinden“, einem gewaltigen Felslabyrinth, errichtet aus riesigen Steinquadern. Auf jedem einzelnen Stein waren auf Hebräisch und Deutsch die Namen jüdischer Gemeinden eingemeißelt. Mehr als fünftausend Namen! Jeder einzelne Stein klagte uns an. Jeder Name schien uns zu fragen: Wie könnt ihr das Ungeheuerliche vergessen, was unter euch geschehen ist? Nichts ist von diesen Gemeinden geblieben. Ihre Menschen sind ausgelöscht, ihre Gotteshäuser niedergebrannt. Der Lobgesang ist in ihnen für immer verstummt. Erschrocken fragen wir uns: Dürfen wir als Christen angesichts dieser ungeheuerlichen Schuld auf Versöhnung hoffen, wir, die wir die Stimme des „älteren Bruders“ in unserer Mitte zum Verstummen gebracht haben? Aber nun hören wir heute die unerhörte Botschaft: Ja! Versöhnung ist möglich! Und sie geschieht oft gerade dort, wo wir sie, menschlich betrachtet, am allerwenigsten erwarten dürfen. Gott selbst ist es, der zwischen Menschen Versöhnung stiftet, der unheilbare Wunden heilt und jenen Frieden schenkt, der „höher ist als alle unsere Vernunft“. Von dieser einzigartigen Versöhnung erzählt die Geschichte von „Jakobs Kampf am Jabbok“. Diese Geschichte ist für Israel von jeher von höchster Bedeutung gewesen. Spiegelt sich doch in ihr Israels eigene Erfahrung im
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Ringen mit seinen „Brudervölkern“ wider. Aber heute richtet sich diese Geschichte an uns. Sie nimmt uns gleichsam mit auf den Weg, den Jakob geführt wird. Es ist wahrhaftig kein einfacher Weg, ein Weg, der gezeichnet ist von Verletzung und Schuld. Aber es ist ein Weg, der am Ende durch die Nacht einem neuen Morgen entgegenführt. „Mitten in der Nacht stand Jakob auf und nahm seine beiden Frauen und die beiden Nebenfrauen und seine elf Söhne und brachte sie an einer seichten Stelle über den Jabbok; auch alle seine Herden brachte er über den Fluss. Nur er allein blieb zurück. Da trat ihm ein Mann entgegen und rang mit ihm bis zum Morgengrauen. Als der andere sah, dass sich Jakob nicht niederringen ließ, gab er ihm einen Schlag auf das Hüftgelenk, sodass es sich ausrenkte. Dann sagte er zu Jakob: ‚Lass mich los; es wird schon Tag!‘ Aber Jakob erwiderte: ‚Ich lasse dich nicht los, bevor du mich segnest!‘ ‚Wie heißt du?‘, fragte der andere, und als Jakob seinen Namen nannte, sagte er: ‚Du sollst von nun an nicht mehr Jakob heißen, du sollst Israel heißen! Denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gesiegt.‘ Jakob bat ihn: ‚Sag mir doch deinen Namen!‘ Aber er sagte nur: ‚Warum fragst du?‘ und segnete ihn. ‚Ich habe Gott von Angesicht gesehen‘, rief Jakob, ‚und ich lebe noch!‘ Darum nannte er den Ort Penuël. Als Jakob den Schauplatz verließ, ging die Sonne über ihm auf. Und er hinkte wegen seiner Hüfte.“1
Was für ein Drama verbirgt sich hinter diesen knappen Sätzen! Jakob ringt mit Gott. Er kämpft um den Segen Gottes. Von Anfang an ist sein Leben von diesem Kampf gezeichnet. Schon im Mutterleib stößt er sich mit seinem Bruder Esau (Gen 25,22): Jakob, der „Fersenhalter“, der schon bei seiner Geburt seinen Zwilling daran hindern will, der Erste zu sein. Listig kauft er dem älteren Bruder sein Erstgeburtsrecht ab und prellt ihn um den Segen des Vaters. Eine leidvolle Geschichte immer neuer „Vergegnung“2 entwickelt sich. Schließlich flieht Jakob vor seinem Bruder. Mehr als 20 Jahre lang hört und sieht er nichts mehr von ihm. Dann endlich kehrt er zurück, mit seinen Frauen und Kindern und all seinem Hab und Gut, das er sich in der Fremde erworben hat. Nur noch der Grenzfluss Jabbok trennt ihn von dem Land seines Bruders. Aber je näher Jakob seinem Bruder kommt, desto mehr holt ihn die Vergangenheit ein. Wie kann er verhindern, dass sich die Begegnung mit dem Bruder erneut in „Vergegnung“ verkehrt? Jakob denkt sich einen schlauen Plan aus. Er schickt seine Boten voraus. Sie sollen Esau anzeigen, dass er zur Versöhnung bereit ist („… damit ich Gnade vor deinen Augen fände“, 32,6). Als ob Versöhnung so einfach wäre! Als ob er so einfach seine Schuld vergessen machen könnte! Die Boten kehren zurück und melden Jakob: „Dein Bruder zieht dir entgegen mit 400 Mann“ (32,7). Das klingt wie eine Kriegserklärung. Jetzt erst wird Jakob bewusst, wie tief der Riss ist, der ihn von seinem Bruder trennt. Panische Angst ergreift ihn (V.8). Was soll er tun? Jakob flüchtet 1 Gen 32, 23-32, in Anlehnung an die Übertragung der Guten Nachricht, Die Bibel in heutigem Deutsch. 2 Martin Buber, Begegnung. Autobiographische Fragmente, 4/1986, 10f.
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sich ins Gebet: „Herr … , errette mich aus der Hand meines Bruders!“ (V.11). Aber auch im Gebet denkt Jakob nur an sich und seine Rettung. Er fragt nicht danach, was er seinem Bruder angetan hat. Gleichzeitig stürzt er sich in jene verräterische Geschäftigkeit, die seine eigene Angst und Ohnmacht nicht wahrhaben will. Dabei geht er ganz strategisch vor. Zum einen teilt er seinen Besitz in „zwei Lager“ (V. 8), d.h. er wappnet sich für einen möglichen Kampf. Zum andern schickt er seinem Bruder ein fettes Geschenk voraus, mehr als 500 Tiere. „Denn er dachte: Ich will ihn durch das Geschenk versöhnen“ (V. 21). Aber welche Illusion! Als ob er auf diesem Weg wiedergutmachen könnte, was er seinem Bruder angetan hat! Als ob Schuld durch Geschenke getilgt werden könnte! Dieser betende und zugleich so übereifrige Jakob! Es scheint, als wolle er krampfhaft wiedergutmachen, was durch Aktivität allein nicht gutzumachen ist. Solange es nur darum geht, aus einer prekären Situation mit heiler Haut davonzukommen, kann es zu keiner wirklich „heilenden Begegnung“ kommen. Aber genau an dieser Stelle, wo alles eigene Bemühen ins Leere läuft, setzt unser Text ein. Er erzählt von jener einzigartigen Begegnung Jakobs mit Gott, die am Ende zur Aussöhnung mit dem Bruder führt. In dieser Begegnung macht Jakob zwei wahrhaft „umstürzende“ Erfahrungen: I. Die Erfahrung der Nacht
Nur noch der Fluss trennt Jakob vom Land des Bruders. Heimlich in der Nacht bringt er seine Familie ans andere Ufer. Er selbst bleibt zurück. Noch hält er sich einen möglichen Rückzug offen. Da geschieht es, im Dunkel der Nacht: Ein Fremder fällt über ihn her. Jakob wehrt sich. Er kämpft um sein Leben Aber wer ist der andere? Ist es ein Dämon? Oder ist es ein Mensch? Im Dunkeln kann ihn Jakob nicht erkennen. Erst als es dämmert, dämmert auch Jakob, wer mit ihm gerungen hat: Gott selbst hat sich ihm in den Weg gestellt. In dieser Nacht macht Jakob eine doppelte Erfahrung: 1. Gott versperrtŵŝƌĚĞŶtĞŐ Er hindert mich daran, dass ich gedankenlos in die Begegnung mit dem Bruder hineinstolpere. Er hindert mich aber auch daran, dass ich vor dieser Begegnung ausweiche. Er versperrt mir meinen Weg nach vorn und nach hinten. Das ist die Erfahrung, die Jakob mit dem Beter des 139. Psalms teilt: „Hinten und vorn engst du mich ein, legst auf mich deine Faust. Zu sonderbar ist mir das Erkennen. Zu steil ist´s. Ich übermag´s nicht“ (V. 5 nach der Übersetzung Martin Bubers).3 Eine Nacht lang glaubt Jakob, mit dunklen Mächten zu kämpfen. Und Gott erscheint ihm 3 Die Schrift verdeutscht Bd. 4, 1986, 197.
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unerreichbar fern. Aber in der Rückschau kann er bekennen: Gerade in den dunklen Stunden war mir Gott am nächsten, unausweichlich und ganz real! 2. Gott schlägt mich und hält mich zugleich Der bekannte Maler Rembrandt hat diese Szene in einem eindrucksvollen Gemälde festgehalten. Auf dem Bild sehen wir, wie Jakob verzweifelt kämpft. Er fällt geradezu rücklings aus dem Bild heraus. So groß ist die Wucht, mit der der andere zuschlägt. Aber zugleich fängt er Jakob noch im Fallen auf und hält ihn mit seiner Hand fest. Was für eine Botschaft, die aus diesem Bild spricht: Selbst in der Nacht der Anfechtung, da Gott mir als Feind erscheint, hält er mich fest, dass ich nicht zu Fall komme. Verzweifelt und getröstet zugleich darf ich mit dem Beter des 73. Psalms bekennen: „Dennoch bleibe ich stets bei dir, denn du hältst mich …“ (V. 23). Wer so von Gottes Hand berührt wird, ist von ihm gezeichnet sein Leben lang. So „handgreiflich“ lässt sich Gott auf den Menschen ein, dass er dabei riskiert, sich selbst verletzen zu lassen. So viel lässt es sich der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs kosten, um uns zu zeigen: Du und ich – wir gehören zusammen! II. Die Erfahrung des anbrechenden Tages Was Jakob im nächtlichen Kampf erfahren hat, wird es auch dem Licht des anbrechenden Tages standhalten? Oder wird es sich in nichts auflösen wie ein düsterer Traum? Das ist offenbar Jakobs Angst: Im Licht der Realität könnte sich die Begegnung mit Gott als nächtlicher Spuk erweisen. Vergeblich wäre dann seine Todesangst, sein verzweifeltes Ringen, gewesen. Jakobs Angst ist berechtigt. Denn der, mit dem er gekämpft hat, drängt weg: „Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an“ (V.27). Aber nun ist das tödliche Schweigen gebrochen. Auf das Wort des andern hin wagt Jakob die Antwort: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ (V.27b). Jakob klammert sich buchstäblich an den andern und sein Wort. Im Licht des anbrechenden Tages erkennt er plötzlich, wer der ist, der hier zu ihm spricht: der Gott Abrahams und seines Vaters Isaak. Vom Schrecken der Nacht gezeichnet stürzt er in noch tieferes Erschrecken, in jenes Erschrecken, das sich dort einstellt, wo der heilige Gott dem Menschen begegnet. So ruft an späterer Stelle der Prophet Jesaja: „Weh mir, ich vergehe!“, als er Gottes Ruf vernimmt (Jes 6,5). So heißt es von den Hirten in Bethlehem: „Sie fürchteten sich sehr“, als sie die „Klarheit des Herrn“ umgibt (Lk 2,9). So klammert sich hier auch Jakob an seinen vermeintlichen Feind und ruft: „Ich lasse dich nicht!“ Da bleibt dem Menschen kein Fluchtweg offen, es sei denn die Flucht zu Gott selbst, zu dem richtenden und gnädigen Gott. In seinem Licht wird offenbar: Es ist Jakobs Schuld, die ihm den Weg in die Zukunft, den
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Weg zum Bruder verbaut. Seine nicht erkannte Schuld am Bruder ist Schuld vor Gott. Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs lässt nicht zu, dass er selbstgerecht dem Bruder begegnet. Um Gottes und des Bruders willen: So billig kann Gnade nicht sein! Wer so dem Heiligen begegnet wie jener Jakob, der erfährt Gottes Nähe als Gericht über sich selbst, aber zugleich auch als unverdiente Gnade. Um diese Gnade bittet Jakob, wenn er ruft: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“ Was Jakob hier erbittet, ist ja nicht diese oder jene Segensgabe, sondern die Zusage Gottes, dass er ihm gnädig sei, oder mit den Worten des Aaronitischen Segens zu sprechen: dass er sein „Angesicht über ihm leuchten“ lasse, dass er am Leben erhalte, was den Tod verdient hat. Diesen Segen erfährt Jakob in jener Morgenstunde, aber er erfährt ihn befreiend anders, als wir uns gemeinhin Gottes Segen vorstellen: 1. Gott segnet, indem er nimmt Gott nimmt Jakob seinen alten Namen. Und damit befreit er ihn von der Last seiner schuldbeladenen Geschichte, die an seinem Namen haftet: Jakob, der Betrüger, der „Fersenhalter“, der ewige Rivale seines Bruders. Den alten Namen trägt Jakob von nun an nur noch als Erinnerung an seine Vergangenheit mit sich. Aber er hat keine Macht mehr über ihn. Gott gibt ihm einen neuen Namen, der ihm, dem Todgeweihten, eine neue Zukunft eröffnet: „Israel“, das heißt: „Gott möge stark sein“ oder: „Er ist gegen Gott stark gewesen.“ Gottes Name wird gleichsam auf Jakob gelegt (vgl. dazu auch 4. Mose 6,27). Der Name bedeutet Übereignung und Beauftragung zugleich: „Israel, du sollst mein Zeuge in der Völkerwelt sein, lebendiger Zeuge meiner Gnade.“ 2. Gott segnet den Verletzten Nicht als strahlender Sieger, sondern als „Gezeichneter“ geht Jakob aus dem Kampf mit Gott hervor. Gott hat ihn empfindlich verletzt. Seine Verletzung ist das sichtbare Zeichen, dass Gott ihm real begegnet ist als der richtende und gnädige Gott, der verletzt und heilt zugleich. Sie ist die bleibende Erinnerung an jenen nächtlichen Kampf, aber noch viel mehr die Erinnerung an den Segen, den Gott auf ihn gelegt hat. „Und Jakob hinkte an seiner Hüfte“ (V.32). Als Gezeichneter, als einer, der allein aus Gottes Gnade lebt, geht Jakob nun seinem Bruder entgegen. Diese frohe Botschaft soll er fortan weiter tragen. Was für ein Bild: Ein Bote, der im Gehen behindert ist, wird zum Botschafter Gottes! „Hinkend und stolpernd trägt er die Botschaft durch die Welt. Aber weil es Gottes Botschaft ist, gelangt sie trotzdem an ihr Ziel“ (Walter Lüthi).
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3. Gott schenkt Versöhnung mit dem Bruder Nun kann Jakob dem Bruder entgegenziehen. Nicht als einer, der sich seines Segens rühmen dürfte, wohl aber als einer, an dem Gott in herausragender Weise gehandelt hat. Noch weiß Jakob nicht, was der neue Tag ihm bescheren mag. Noch ahnt er nicht, dass Gott den Bruder bereits zur Aussöhnung bereit gemacht hat. Noch sitzt ihm der Schrecken der vergangenen Nacht im Nacken. Aber über ihm „geht die Sonne auf“ (V.32), die einen neuen Tag Gottes ankündet, den Tag der Aussöhnung mit seinem Bruder. Im Licht dieses Tages werden die Verletzungen, die er seinem Bruder angetan hat und die er im Kampf mit Gott „hautnah“ gespürt hat, nicht vertuscht. Aber im Licht der Gnade Gottes wird ein Neuanfang möglich. Voll Staunen darf Jakob am Ende erkennen: „Ich habe Gott von Angesicht gesehen und doch wurde mein Leben gerettet“ (V.31). Es bleibt offen, ob und wie Jakob Gottes Angesicht geschaut hat. Aber dies steht fest: Als Jakob seinem Bruder Esau begegnet, ruft er überwältigt: „Ich sah dein Angesicht, als sähe ich Gottes Angesicht“ (33,10). Gottes Angesicht im Angesicht des „struppigen Bruders“4. Welch „seliger Tausch“. In der Nacht am Jabbok ist Gott Jakob in der Fratze eines Dämons begegnet. Im Gesicht des Bruders ist ihm das Angesicht Gottes zum Heil erschienen. Im Licht seines zugewandten Angesichts endet jene heillose Geschichte der Vergegnung, in der heilenden Begegnung, die einen neuen Anfang und eine gemeinsame Zukunft verheißt. Ausblick Wir stehen am Ende unserer Geschichte. Aber unsere eigene Geschichte ist noch lange nicht zu Ende. Wenn wir jetzt auseinandergehen, dürfen wir wissen: Wir stehen erst am Anfang unserer Geschichte, die allen sichtbaren Widerständen zum Trotz auf Versöhnung hofft und durch Gottes Gnade hoffen darf. Als Zeugen seiner Gnade dürfen wir die Botschaft seiner Versöhnung in unsere Welt hineintragen. Nicht als „Sieger“, sondern als „Gezeichnete“ von Schuld, von den Altlasten der Vergangenheit Gezeichnete, aber noch viel mehr von Gottes Gnade Gezeichnete dürfen wir einander als Schwestern und Brüder begegnen und einander zurufen: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2 Kor 5,20). Oder mit Dietrich Bonhoeffer zu sprechen: „Dass auch unser aller Weg ins Land der Verheißung durch die Nacht führt, dass auch wir ihn nur gehen als solche, die vom Kampf mit Gott, vom Kampf um … seine Gnade mit Narben seltsam gezeichnet sind, dass wir als hinkende Krieger in Gottes und des Bruders Land einziehen – das haben wir Christen mit Jakob gemein, aber auch dass wir wissen, dass die Sonne auch uns bestimmt ist …“5 Er schenke es, dass die Sonne seiner Gnade auch über unserer zerstrittenen und verwundeten Völkerfamilie aufgehe. Hören wir nicht auf, ihn darum zu bitten: 4 Gerhard von Rad, Predigten, 1976, 146. 5 Dein Reich komme, 1932, in: Beten mit der Bibel, 1957.
Vom Geheimnis der Versöhnung nach Genesis 32 „Sonne der Gerechtigkeit, gehe auf zu unsrer Zeit. Brich in deiner Kirche an, dass die Welt es sehen kann! Erbarm dich Herr! Lass uns deine Herrlichkeit sehen auch in dieser Zeit und mit unsrer kleinen Kraft suchen, was den Frieden schafft! Erbarm dich, Herr!“
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Thomas Söding
Versöhnte Konflikte – lebendige Gemeinschaft Perspektiven des paulinischen Kirchenbildes
1. Der paulinische Ansatz Ein Blick in das Neue Testament zeigt, wie groß die Konfliktfähigkeit der frühen Gemeinden war, wie breit der Korridor verschiedener Glaubenswege, wie stark aber auch der Wille zur Einigung. Die theologische Reflexion dieser Prozesse der Auseinandersetzung und Versöhnung findet sich in den Briefen des Apostels Paulus. Nach der Apostelgeschichte ist er selbst tief in die Konflikte der Urgemeinde verstrickt, zuerst als Verfolger der Kirche (Apg 9,4), dann als Antreiber der Völkermission (Apg 13-14; 15,36 - 21,17). Stephanus, einen der Sieben, hat er auf dem Gewissen (Apg 7,58; 8,1; 22,20). Beim Apostelkonzil ist er eine treibende Kraft (Apg 15,2ff.12). Keiner hat so klar wie er die Konsequenzen aus der Entscheidung gezogen, die Mission ohne die Forderung der Beschneidung heidnischer Männer zu fördern; er hat strategisch das Evangelium dort verbreitet, wo der Name Jesu Christi noch nie gehört worden war (vgl. Röm 15,20-24).1 Auf seinem Missionsweg hat er nicht nur außerordentlich viele Gemeinden gegründet, die ungewöhnlich schnell gewachsen sind.2 Als faktischer Gemeindeleiter hat er sich mit zahlreichen Disputen befassen müssen, die in den Gemeinden über theologische Grundsatzfragen und praktische Alltagsprobleme geführt worden sind. Er selbst ist hart angegangen worden, weil die Authentizität seines Apostolates in Zweifel gezogen worden ist. Mit verschiedenen Gemeinden ist es zu Zerwürfnissen gekommen, die schwer befriedet werden konnten. Paulus hat aber auch selbst ausgeteilt: Seine Gegner hat er hart attackiert, Polemik hat er nicht gescheut und scharfe Kritik geübt, auch an Petrus und an Barnabas, seinem Mentor (Gal 2,11-21). Manche sehen in ihm einen hardliner, der nur seinen eigenen Kopf hat durchsetzen wollen. Aber Paulus ist auch der Theologe einer Versöhnung, die darauf setzt, dass selbst tödliche Wunden geheilt werde können.3 Er hat darüber nachgedacht, was Versöhnung mit Gott heißen kann und wie Menschen, Gruppen und Gemeinden sich miteinander versöhnen können. Er hat aber nicht nur theoretisch über Versöhnung geschrie1 Vgl. Klaus Haacker, Paulus, der Apostel. Wie er wurde, was er war, Stuttgart 2008. 2 Vgl. Dietrich-Alexander Koch, Geschichte des Urchristentums. Ein Lehrbuch, Göttingen 2015. 3 Vgl. Robert Vorholt, Der Dienst der Versöhnung. Studien zur paulinischen Apostolatstheologie (WMANT 118), Neukirchen-Vluyn 2007.
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ben; er hat sie auch gefordert und gefördert. Er hat die Probleme nicht schöngeredet und Auseinandersetzungen nicht gescheut. Er hat vielmehr (im Rahmen seiner menschlichen Schwächen) versucht, von der großen Versöhnung mit Gott die kleinen Versöhnungen unter den Menschen abzuleiten. Die Gemeinschaft der Gläubigen ist ein Prüfstein; sie ist oft ein Stolperstein, soll aber ein Eckstein sein. 2. Die Verheißung der Versöhnung Versöhnung ist in der Antike ein Begriff der politischen Ethik. Paulus hat ihn in die Theologie eingebracht4; 2Kor 5 und Röm 5 sind die Hauptbelege. In der Politik wird eine Versöhnung angestrebt, wenn entweder ein Krieg vermieden oder ein Sieg vom Unterlegenen anerkannt werden soll. Die Versöhnung wird zwischen zwei verfeindeten Staaten, Städten oder Stämmen gestiftet. Meist wird ein neutraler Mittler gebraucht, bis es zu einer Versöhnung kommt. Immer wird ein Opfer gefeiert, weil durch den Streit die Götter beleidigt worden seien und besänftigt werden müssten. Manchmal gelingt ein Ausgleich der Interessen; meist wird aber vom Verlierer die Überlegenheit des Siegers nolens volens anerkannt. In seltenen Fällen politischer Klugheit demütigt der Starke den Schwachen nicht, sondern lässt ihn aufrecht leben. Meist sieht die Versöhnung aber so aus, dass die Schwachen sich in ihr Schicksal schicken und die Starken ihren Triumph feiern. Eine Versöhnung wird angestrebt, weil sie beiden Partnern eine gemeinsame Zukunft eröffnen kann und für alle Seiten besser sein soll als heimlicher Groll oder tiefsitzendes Ressentiment. Paulus wählt den Begriff der Versöhnung, weil er Heidenchristen in ihrer eigenen Sprache das Evangelium nahebringen kann. Er knüpft an ihre Kriegserinnerungen und ihre Friedenssehnsucht an. Er drückt die Heilsbotschaft auf eine damals sehr moderne Weise aus und bringt die politischen Untertöne der Gerechtigkeit Gottes zum Schwingen. Aber er muss den Begriff stark verändern, um ihn für die christliche Versöhnungslehre zu gewinnen, die er entscheidend selbst angestoßen hat. Der wesentliche Unterschied besteht darin, dass nicht Götter zu besänftigen sind, die selbst Teil des Kosmos sind, angewiesen auf menschliche Opfer, sondern dass Gott, der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Herr der Geschichte, selbst den Frieden stiftet. Das ist die alttestamentliche Basis, die durch den Bezug auf Jesus neu gelegt wird. Gott ist einerseits Konfliktpartei: weil er missachtet wird, wenn Menschen Sünder sind, also auf Kosten anderer Menschen leben, die gleichfalls Gottes Geschöpfe sind; andererseits ist Gott, obwohl attackiert, selbst der Mittler der Befriedung: in Christus. Nicht er wird mit den Menschen, sondern die Men4 Vgl. Cilliers Breytenbach, Versöhnung. Eine Studie zur paulinischen Soteriologie (WMANT 60), Neukirchen-Vluyn 1989.
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schen werden mit ihm versöhnt: „Gott war in Christus und hat die Welt mit sich versöhnt, da er ihnen die Sünden nicht anrechnete und unter uns das Wort der Versöhnung aufgerichtet hat“ (2Kor 5,19). Gott, dem von Menschen der Krieg erklärt worden ist, weil sie ihr eigener Gott sein wollen, ergreift die Initiative zur Versöhnung. Er stiftet sie, indem er seine ganze Macht als Schöpfer ausspielt: Er macht die Aggressoren zu neuen Menschen. Er demonstriert aber nicht seine Macht an ihnen, sondern gewinnt sie für seinen Frieden: durch das Wort der Versöhnung, das ihr Ohr und ihr Herz öffnen soll. Menschen, die dem Evangelium Glauben schenken, versöhnen sich damit, dass Gott ihr Herr ist, und finden im Glauben an Gott ihren Frieden, weil sie erkennen, dass dies für sie und für alle anderen am besten ist: Sie können sich und andere als geliebte Geschöpfe Gottes bejahen. Auch diese Versöhnung gibt es nicht ohne Opfer; denn sie ist nicht selbstverständlich, sondern eine enorme Investition. Aber das Opfer dient nicht dazu, Gott zu besänftigen; Gott selbst entrichtet es vielmehr: mit Jesus. Er versöhnt die Menschen mit Gott, indem er sich selbst hingibt. Sein Leiden stiftet den ersehnten Frieden. Nicht Gott hat das Opfer nötig, weil er sonst nicht vergeben wollte oder könnte. Vielmehr wird um der Menschen willen geopfert, weil die tödliche Macht der Sünde im Prozess der Versöhnung nicht geleugnet, sondern sichtbar gemacht wird, so dass die unschuldigen Opfer zu ihrem Recht kommen.5 Gott schafft die Versöhnung „durch“ Jesus Christus, weil er „in“ Jesus Christus war, im Irdischen, auch im Gekreuzigten. 6 Das zu verkünden, ist die Aufgabe des Apostels. Versöhnung ist eine ethische Frage, weil sie Verzeihen, Großherzigkeit, Mitleid und Friedensliebe voraussetzt; aber sie ist nicht nur eine Sache des guten Willens und der besten Praxis, weil ihr Lebensnerv die Gottesbeziehung ist. Versöhnung ist ein Geschenk Gottes, das angenommen und weitergegeben werden muss; sie ist eine Verheißung, die erfüllt werden kann; deshalb ist sie ein Auftrag, der übernommen werden soll. Später wird man von der sakramentalen Versöhnung sprechen; bei Paulus ist es angelegt, aber in die Breite und Tiefe des gesamten Kirchenlebens eingeordnet.
5 Als religiöse Revolution mit weitreichender Wirkung auf Ethos, Recht, Politik und Kultur der vom Christentum affizierten Gesellschaft interpretiert vom französischen Philosophen Alain Badiou, Saint Paul. La fondation de l’universalisme, Paris 1997; dtsch. Zürich 1997. 6 Vgl. Otfried Hofius, „Gott war in Christus“. Sprachliche und theologische Erwägungen zu der Versöhnungsaussage 2Kor 5,19a, in: Ingolf U. Dalferth (Hg.), Denkwürdiges Geheimnis. Beiträge zur Gotteslehre. FS Eberhard Jüngel zum 70. Geburtstag, Tübingen 2004, 225-236.
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3. Der kirchliche Auftrag Versöhnung ist eine Grundkategorie neutestamentlicher Theologie, die Paulus geprägt hat. Mit ihr hat er Schule gemacht (Kol 1,20; Eph 2,16). Sie betrifft unvertretbar die persönliche Gottesbeziehung, weil Schuld vergeben, Liebe erwiesen und Leben gerettet wird. Aber sie lässt sich nicht individualistisch verstehen. Denn erstens sind Menschen zwar Individuen, aber keine Monaden; sie leben in Beziehungen, die für sie prägend sind.7 Zweitens wird Sünde zwar nicht zugerechnet ohne persönliche Schuld, aber sie ist bei Paulus (wie im wirklichen Leben) eine Unheilsmacht, die sich durch alle Missetaten, durch unterlassene Hilfeleistungen und halbherzige Wiedergutmachung immer neu aufbaut: nicht als tragischer Zwang, aber als Bürde, die Menschen zu tragen haben, ohne sie beim besten Willen abwerfen zu können. Drittens heilt die verheißene Versöhnung nicht nur die Wunden in der eigenen Glaubensbiographie, sondern erneuert auch im selben Moment die Zugehörigkeit zur Glaubensgemeinschaft, so wie es auch – die Stimme der Prophetie ist klar – eine Sünde des Volkes Gottes gibt, von der die Kirche sich nicht freisprechen kann, gibt es doch nicht nur Sünden in der und an der Gemeinschaft, sondern auch kollektives Versagen, institutionelle Verirrungen, soziale Miseren. Viertens kann niemand sich das Wort der Versöhnung selbst sagen; es muss verkündet werden – im Ursprung durch Jesus, dann durch seine Apostel und weiter durch deren Nachfolger. Diese Verkündigung kann nicht nur in Worten, sondern muss auch in Gesten und Zeichen erfolgen. Sie ist im Kern eine kirchliche Notwendigkeit, eine kirchliche Praxis, ein kirchlicher Auftrag. Die Ekklesia, die Paulus anschreibt, ist Ort und Anlass, Subjekt und Objekt der Versöhnung. Sie bedarf ihrer, als ganze und in allen ihren Gliedern; es gäbe sie nicht, wenn Gott nicht Menschen mit sich versöhnt hätte, durch Menschen, die ihrerseits seine Versöhnung erfahren haben. Aus diesem Grund darf die Kirche nicht spalten, sondern muss einen, so wie sie selbst nicht gespalten sein darf, sondern eins sein muss: versöhnt mit Gott und untereinander. Von Anfang an, zeigt der Blick auf Paulus, ist dies ein Auftrag, der einerseits notwendig ist, weil die Kirche keine heile Welt ist, andererseits aber auch möglich ist, weil Gottes Wort, das Versöhnung verheißt und verwirklicht, menschliche Schwerhörigkeit und Hartherzigkeit aufweichen kann – wie die Gläubigen am eigenen Leibe erfahren haben. Paulus ist gefordert, seinen Worten Taten folgen zu lassen; er selbst muss Vergebung empfangen und gewähren. Er setzt auf Einheit – wie sie am besten im Blick des einen Leibes und der vielen Glieder (1Kor 12,12-27; Röm 12,4ff.) zum Ausdruck kommt.8 Aus die7 Vgl. Dorothea Sattler, Beziehungsdenken in der Erlösungslehre. Bedeutung und Grenzen, Freiburg i. Br. 1997. 8 Vgl. Th. Söding, Einheit der Heiligen Schrift? Zur biblischen Theologie des Kanons (QD 211), Freiburg i. Br. 2008.
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sem Grund sollen Konflikte ausgetragen, aber nicht ausgekostet werden – so wie der liebe Friede keine Friedhofsruhe, sondern ein fröhliches Treiben derer ist, die sich vom Geist Gottes bewegen lassen. 4. Konfliktfelder und Lösungsansätze In zwei Dimensionen wird die paulinische Versöhnungstheologie ekklesial konkret: zum einen in Konflikten innerhalb der Gemeinden, zum anderen in Auseinandersetzungen zwischen dem Apostel und anderen Missionaren, aber auch bestimmten Gemeinden. a) Innergemeindliche Konflikte Paulus hat einen Großteil seiner Briefe als Krisenintervention geschrieben. Die Kirche von Korinth (1Kor 1,2)9 steht am Rande einer Spaltung, weil sich Parteiungen gebildet haben, denen ihr Eigenleben wichtiger als die Gemeinschaft der Kirche ist (1Kor 1,12). Theologische Positionen prallen aufeinander, weil die Grundlagen nicht gefestigt sind; soziale Spannungen werden aufgebaut, weil selbst bei der Feier des Herrenmahles, beim gemeinsamen Essen, die Armen durch die Reichen gedemütigt werden (1Kor 11,17-34); kulturelle Differenzen werden aufgebaut, weil die einen möglichst große Abstände zur paganen Welt mit ihren vielen Göttern halten und ein Tabu aufstellen, Götzenopferfleisch, rituell geschlachtetes Fleisch, zu essen; andere hingegen machen unbesorgt mit, weil sie mit der Brille des Glaubens das Spiel der Götter durchschaut zu haben glauben (1Kor 8-10). In Fragen der Sexualmoral gibt es zwischen Libertären und Konservativen harte Widersprüche (1Kor 5-7); selbst die Auferstehungshoffnung ist strittig (1Kor 15). Im Ergebnis gibt es „Starke“ und „Schwache“, die sich voneinander abkapseln (1Kor 12,13-27). Paulus, der sich in Ephesus befindet, hat ein klares Bild der Gemeinde vor Augen. Er nimmt den Streit ernst; er diskutiert die Probleme; er hält mit seiner eigenen Meinung nicht hinter dem Berg. Aber er setzt an, indem er die gemeinsame Basis vor Augen stellt: das „Wort vom Kreuz“ (1Kor 1,18), das Bekenntnis zu Jesu Tod und Auferweckung (1Kor 15,35). Das stärkt die Einheit und relativiert die Differenzen, weil es auf den einen Gott verweist, der alles in die Versöhnung investiert hat und deshalb keine gespaltene, sondern eine einige Kirche will. Auf ethischem Gebiet klagt Paulus Verhaltensänderungen ein, in der Sexualethik nach dem Sechsten Gebot, beim Mahl des Herrn mit der Achtung der Armen. Wenn Ermahnungen hartnäckig missachtet werden, muss sogar eine befristete Exkommunikation erfolgen (1Kor 5-6). In der Auferstehungsfrage setzt Paulus auf Nachschulung (1Kor 15), im Götzenopferstreit auf Aufklärung (1Kor 8-10). Im Kern steht die Anerkennung der „Schwa9 Hintergrundinformationen liefert: Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010.
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chen“, auch wenn sie theologisch nicht Recht haben, die Stärkung der Einheit, die sich in den vielen Begabungen als lebendig erweist, die Förderung des Wachstums der Gemeinde, nach innen und außen. Ähnlich seine Strategie im Philipperbrief, wo er zum Schluss einen Streit zwischen zwei Gemeindeleiterinnen schlichtet (Phil 4,2), indem er zum einen auf das zurückkommt, was er einleitend über die Freude an der Einheit geschrieben hat (Phil 2,1-4), und zum anderen an das anknüpft, was die beiden für das Evangelium erkämpft haben (Phil 4,3).10 Im Römerbrief befriedet Paulus, obgleich der Gemeinde unbekannt, einen Streit zwischen wiederum „Starken“ und „Schwachen“, indem er seine eigene, auf Jesus zurückgehende Überzeugung, alle Speisen seien rein, nicht verschweigt (Röm 14,14), aber noch höher gewichtet, dass kein „Anstoß“ gegeben, also niemand verleitet wird, gegen sein Gewissen zu handeln, weil nicht Essen und Trinken über das Heil entscheiden, sondern das Liebesgebot gilt (Röm 14,15). Innergemeindliche Konflikte werden bei Paulus nicht vertuscht, sondern aufgedeckt. Sie werden nicht hingenommen, sondern nach Möglichkeit gelöst. Die Lösung besteht nicht in der Suche nach Kompromissen, sondern in der Konkretion der Versöhnung der Sünder mit Gott. Die Gegenwart des auferstandenen Gekreuzigten ist der entscheidende Bezugspunkt; Jesus Christus ist nicht nur eine Appellationsinstanz, sondern der Aktivposten einer Kirche, die den Glauben lebt. Die Versöhnung vertieft den Glauben und die Gemeinschaft, weil sie vergegenwärtigt, was in Jesu Tod und Auferstehung definitiv neu begonnen hat, und vorwegnimmt, was für die Zukunft verheißen wird: die Vollendung der Gemeinschaft untereinander, die in der Gemeinschaft mit Gott wurzelt. b) Apostolische Konflikte Den Zweiten Korintherbrief schreibt Paulus als Versöhnungsbrief.11 Ein solcher Brief ist notwendig geworden, weil der Erste Korintherbrief keinesfalls alle Probleme gelöst, sondern neue gemacht hat. Insbesondere sind Konflikte zwischen Paulus und der Gemeinde ausgebrochen, die mit enttäuschten Erwartungen und anderen Leitfiguren – Paulus ironisiert sie als „Super-Apostel“ – zu tun haben. Paulus hatte versucht, durch einen spontanen Zwischenbesuch die Wogen zu glätten, aber es war zum Eklat gekommen. Offenbar war Paulus so schwer beleidigt worden, dass er gemeint hatte, das Feld räumen zu müssen. Allerdings hat er die Gemeinde nicht aufgegeben, sondern er hat einen seiner Meisterschüler, Titus, als Feuerwehrmann geschickt (2Kor 2,13; 7,6.13f.; 8,6.16-24) und 10 Vgl. Samuel Vollenweider, Sich freuen auf Einheit. Ein ökumenischer Impuls aus Philippi, in: Ulrich Luz u.a. (Hg.), Exegese – ökumenisch engagiert. Der „Evangelisch-Katholische Kommentar“ in der Diskussion über 500 Jahre Reformation, Neukirchen-Vluyn – Ostfildern 2016, 99-107. 11 Vgl. Thomas Schmeller, Der zweite Brief an die Korinther I-II (EKK VIII/1-2), Neukirchen-Vluyn – Ostfildern 2010, 2015.
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einen leidenschaftlichen „Tränenbrief“ als Rechenschaftsbericht versandt (vgl. 2Kor 10-13). Beides hat seine Wirkung nicht verfehl; die Korinther sind wieder ein Herz und eine Seele mit ihrem Apostel. Aber nun ist derjenige, der wie kein anderer die anti-paulinische Stimmung in Korinth ausgedrückt hatte, ein verfemter Außenseiter. Das will Paulus ändern. Deshalb beginnt er den Versöhnungsbrief mit einer Charmeoffensive. Er will nicht, dass der Mann „betrübt“, also so depressiv wird, dass er die Hoffnung verliert. Paulus bezieht aber die Gemeinde in die Versöhnung mit ein: „Er hat nicht nur mich betrübt, sondern … euch alle. … Ich bitte euch, ihm Liebe zu erweisen. … Wenn ihr verzeiht, verzeihe auch ich; denn wenn ich etwas zu verzeihen hatte, habe ich es verziehen – um euretwillen, vor Christi Angesicht“ (2Kor 2,5-10). Die Gemeinde ist gefragt, weil sie voll in den Konflikt involviert war und nun nicht so tun kann, als hätte sie ihn mit der Brandmarkung des Protagonisten gelöst. Er schwelt, solange er ausgegrenzt bleibt. Also muss die Liebe die Beziehung wiederherstellen. Paulus macht es vor, aber er macht sich auch von der korinthischen Kirche abhängig (in der sicheren Erwartung, dass sie ihm jetzt folgt), weil er keine einsame Entscheidung treffen will, die seinen Kontrahenten wieder zum Außenseiter stempeln würde, sondern die Versöhnung so gestaltet wissen will, dass zugleich die Gemeinschaft zwischen dem Apostel und der Gemeinde neu auflebt. Anders ist der Konflikt mit den Galatern gelagert.12 Hier sind Konkurrenten aufgetaucht, die bezweifeln, dass Paulus ein echter Apostel ist, weil er in seiner Mission auf die Beschneidung heidnischer Männer verzichtet und nicht auf der Einhaltung von Reinheitsgeboten besteht, die Juden von Heiden unterscheiden. In dieser Kontroverse reagiert Paulus mit äußerster Schärfe, bis zum Anathema, das er seinen Gegnern entgegenschleudert (Gal 1,6-9), um die Gemeinde, die starke Sympathien für sie entwickelt zu haben scheint, wieder auf seine Seite zu ziehen. Er argumentiert theologisch: mit der bisherigen Erfahrung der Galater, mit der Verheißung an Abraham, mit der Logik des Glaubensbekenntnisses (Gal 3-5). Er argumentiert aber auch biographisch: mit seiner eigenen Verfolgung der Kirche, die ein Irrweg aus Übereifer war, mit seinem Austausch mit Kephas (Petrus) und mit seiner Anerkennung durch die „Säulen“ der Urgemeinde auf dem Apostelkonzil in Jerusalem (Gal 1,12 - 2,10). Paulus ist kompromisslos in der Zurückweisung seiner Gegner, weil, ihnen nachzugeben, bedeutet hätte, dass tiefe Gräben zu allen heidenchristlichen Gemeinden gezogen worden wären. Der Grund, den Paulus erkennt, ist das Christusgeschehen selbst, das auf den Glauben aus ist. Die Rechtfertigungslehre macht diesen Zusammenhang klar: „nicht aus Werken des Gesetzes“, speziell der Beschneidung, „sondern aus dem Glauben an Jesus Christus“ (Gal 2,16).
12 Vgl. Th. Söding, Streiten verbindet. Der Galaterbrief als Wegweiser der Ökumene, in: Ulrich Luz u.a. (Hg.), Exegese – ökumenisch engagiert (s. Anm. 10) 89-97.
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An zwei Stellen markiert Paulus im Galaterbrief, wie der Apostolat und die Rechtfertigungslehre als Katalysator der Versöhnung und als Kriterium der Einheit dienen. Die erste Stelle ist die Erinnerung an das Apostelkonzil (Gal 2,1-10).13 Dort wird die Sendung, die dem Außenseiter Paulus anvertraut worden ist und die ihn mit Barnabas, aber auch der ganzen Kirche von Antiochia verbindet, von Jakobus, Kephas und Johannes als gleichwertig und gleichberechtigt anerkannt. Paulus nennt auch den Grund: „weil sie die Gnade erkannten, die mir gegeben wurde“ (Gal 2,9). Die „Gnade“ ist nicht nur der Erfolg, sondern der Effekt der paulinischen Mission: die Verbindung, die Versöhnung der gläubig gewordenen Heiden mit Gott. Die Erkenntnis ist eine geistgewirkte Einsicht, die vom Geist der Versöhnung inspiriert ist. Das Ergebnis schildert Paulus in ebenso einfacher wie pathetischer Weise: „Sie gaben mir und Barnabas die rechte Hand als Zeichen der Gemeinschaft, damit wir zu den Heiden, sie aber zu den Juden gehen“ (Gal 2,9). Dass es verschiedene Wege gibt, wird nicht geleugnet, sondern ist gewollt: Die Menschen sind unterschiedlich, die für das Evangelium gewonnen werden sollen, die Charismen derer, die Mission treiben sind es auch. Die Koinonia ist so stark, dass die Unterschiede nicht nur ausgehalten, sondern aufgebaut werden, damit möglichst viele Menschen an möglichst vielen Schnittstellen mit dem Evangelium und dadurch mit Gott in Verbindung treten können. Der authentische Apostolat ist für Paulus ein entscheidendes Kriterium kirchlicher Einheit, weil er die Kirche mit Jesus Christus verbindet und Ostern vergegenwärtigt, die Auferweckung des Gekreuzigten. Die Apostolizität ist ein Kriterium und Katalysator kirchlicher Einheit, weil die Apostel das Evangelium verkünden, das Herzblut, das durch den Leib Christi strömt. Freilich zeigt der Galaterbrief auch, dass der Konsens auf dem Apostelkonzil ernste Konflikte im Apostelkreis selbst nicht verhindert hat. Paulus erwähnt im Galaterbrief den Streit, den er mit Kephas, Barnabas und allen anderen Judenchristen ausgetragen hat (Gal 2,11-14), weil die sich nach einer Intervention aus Jerusalem, hinter der Jakobus steckt, aus Angst vor den Juden, wie Paulus schreibt, aus der Tischgemeinschaft, damit aber auch aus der Eucharistiegemeinschaft mit Heiden zurückgezogen haben. Paulus knickt nicht ein, sondern sucht die Konfrontation mit Kephas von Angesicht zu Angesicht und hält ihm die Rechtfertigungslehre vor, als gemeinsame Überzeugung (Gal 2,16). Paulus schweigt sich über den Erfolg aus; aber in der schwierigen Argumentationslage mit den Galatern erweckt er den Eindruck, schlicht und ergrei13 Vgl. Karl-Wilhelm Niebuhr, Gemeinschaft der Apostel. Das „Apostelkonzil“ als Bezugspunkt und Modell konziliarer Gemeinschaft in der Kirche, in: Dagmar Heller – Johann Schneider (Hg.), Die Ökumenischen Konzilien und die Katholizität der Kirche. Das elfte Gespräch im bilateralen theologischen Dialog zwischen der Rumänischen Orthodoxen Kirche und der Evangelischen Kirche in Deutschland (ÖR.Beih. 83), Frankfurt 2009, 46-69.
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fend überzeugt zu haben. Die Rechtfertigungslehre ist ein Katalysator kirchlicher Einheit, weil sie die Versöhnung mit Gott, die im Glauben bejaht wird, als Woher und Wohin der Kirche kenntlich macht, so dass sie wachsen kann; sie ist ein Kriterium kirchlicher Einheit, weil sie die Versöhnung auf den gemeinsamen Glauben gründet. 5. Offene Fragen und ökumenisch Impulse Paulus ist ein versöhnter Versöhner14, der Gemeinden gründet, weil er auf die Fähigkeit Gottes setzt, Menschen mit sich zu versöhnen, sodass Menschen es wagen dürfen, einander ihre Schuld zu bekennen und zu vergeben, um einen neuen Anfang zu machen. Die Einheit der Kirche ist, paulinisch verstanden, eine Gemeinschaft, die durch die Teilhabe vieler am Leben des einen Gottes, an seiner Liebe und Gnade entsteht. Diese Gemeinschaft wäre ohne die Versöhnung der Sünder mit Gott nie entstanden; sie lebt fortwährend von Gottes Gnade, weil sie immer in der Versuchung schwacher Menschen steht, sogar noch den Glauben als Mittel zu gebrauchen, andere hintanzusetzen und Gott zum Popanz des eigenen Lebens aufzubauen, in dem sich das Ego spiegelt. Paulus schaut auf die innergemeindlichen Beziehungen, weil sie Nahbeziehungen des Glaubens sind; er macht die Kämpfe unter und mit Aposteln transparent, um die Leitung der Kirche durch Gott zu betonen. Er hat die Theologie der Versöhnung im Römerbrief auch auf die Juden ausgeweitet, die aus „Eifer für Gott“ (Röm 10,2) Nein zu Jesus sagen, aber von Gott gerettet werden, wiewohl es ungelöste Konflikte geben wird, solange die Zeit währt.15 Er hat auch die Welt derer, die nicht an Gott glauben, zwar von der Gemeinschaft der Gläubigen unterschieden, aber nicht als Zusammenrottung gottloser Feinde gesehen, sondern als Lebensraum von Gotteskindern, die für den Glauben bestimmt sind; deshalb muss die Versöhnung, die in der Kirche wirksam wird, über sie hinaus wirken, zuerst in der Praxis der Nächstenliebe. Paulus weiß, dass dies keineswegs regelmäßig von Erfolg gekrönt sein wird; aber desto wichtiger wird, auf Fluch mit Segen zu reagieren (Röm 12,9-21). Sowohl das Verhältnis zu den nicht an Jesus glaubenden Juden als auch zu den nicht an Gott glaubenden Heiden strahlt auf die innerkirchlichen Verhältnisse zurück, weil die jüdisch-christlichen Beziehungen außeror-
14 Jens Schröter, Der versöhnte Versöhner. Paulus als unentbehrlicher Mittler im Heilsvorgang zwischen Gott und Gemeinde nach 2 Kor 2,14 - 7,4 (TANZ 10), Tübingen 1993. 15 Vgl. Päpstliche Bibelkommission, „Das jüdische Volk und seine Heilige Schrift im Lichte der christlichen Bibel“ 24. Mai 2001 (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhles 152), Bonn 2002.
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dentlich eng sind16 und die Kirche sich nicht vor der Welt abschottet, sondern mitten in ihr für den Dienst an den Menschen öffnet, mit starken Voraussetzungen und Konsequenzen für das innerkirchliche Leben. Je tiefer die kirchliche Versöhnung greift, desto wichtiger und aussichtsreicher wird auch die Versöhnungsarbeit mit den Juden und den Heiden, weil die jüdischen Wurzeln des Christentums wachsen und die Glaubwürdigkeit der Gemeindemitglieder zunimmt. Die ekklesialen Perspektiven der paulinischen Versöhnungstheologie sind christologisch geprägt. Jesus stiftet den Frieden mit Gott (vgl. Röm 5,1), der durch den Glauben auf die ganze Kirche und durch sie auf alle Welt ausstrahlen soll. Diese Christozentrik relativiert alle kirchlichen Vermittlungen – und begründet sie. Sie relativiert sie, weil Gott in seiner Versöhnung nicht auf ein menschliches Maß reduziert ist; sie begründet sie aber auch, weil Gott durch Menschen handelt, die sich ihm im Glauben anheimgeben und dann mit anderen zu seinem Volk gehören. Paulus macht diesen Zusammenhang sichtbar, wenn er klarstellt, dass die kirchliche Koinonia auf der Anerkennung der Apostolizität beruht. Heute muss die Frage der apostolischen Sukzession geklärt werden.17 Deshalb muss ein Fragezeichen gesetzt werden, wenn die Leuenberger Konkordie ausgerechnet das Thema der Ordination ausgeklammert und in der Abendmahlstheologie nur einen negativen, nicht aber einen positiven Konsens formuliert hat.18 Paulus ist anspruchsvoller. Seine Theologie der Versöhnung zielt auf die Einheit der Kirche und versteht sie als Gemeinschaft (1Kor 10,16f.). Wie das Leib-Christi-Bild deutlich macht (1Kor 12,12-27; Röm 12,3f.), wachsen Vielfalt und Einheit in gleicher Weise. Das evangelische Konzept einer „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“ muss sich darin genauso messen wie das katholische einer „sichtbaren Einheit“.19 Verschiedenheit ist nicht dasselbe wie Vielfalt, die vom Ursprung des Wortes her auf eine Einheit verweist, die sich ausfaltet; Sichtbarkeit lässt sich nicht institutionstheoretisch engführen, sondern führt in die Weite von Riten und Aktionen, von Worten 16 Vgl. James D.G. Dunn, Neither Jew nor Greek. A contested Identity (Christianity in the Making 3), Cambridge 2015 (der allerdings die Differenzierungsprozesse sehr stark relativiert). 17 Vgl. The Apostolicity of the Church. Study Document of the Lutheran-Roman Catholic Commission on Unity, Minneapolis 2006 (deutsche Übersetzung 2009). 18 Differenziert positiver eingeschätzt von André Birmele, Zur Ekklesiologie der Leuenberger Kirchengemeinschaft, in: Peter Walter u.a. (Hrsg.), Kirche in ökumenischer Perspektive. Kardinal Walter Kasper zum 70. Geburtstag, Freiburg i. Br. 2003, 46-61. 19 Beide sind Leitbilder; vgl. Karl-Hinrich Manzke, Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Perspektiven für die ökumenische Bewegung aus evangelisch-lutherischer Sicht, in: Uwe Swarat – Th. Söding (Hg.), Heillos gespalten? Segensreich erneuert? 500 Jahre Reformation in der Vielfalt ökumenischer Perspektiven (QD 277), Freiburg i. Br. 2016, 31-43; Gerhard Feige, Sichtbare Einheit in der Fülle des Glaubens. Perspektiven für die ökumenische Bewegung aus römisch-katholischer Sicht, ebd. 44-53.
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und Zeichen. Die „Einheit“ gründet, paulinisch betrachtet, nicht in „versöhnter Verschiedenheit“, sondern umgekehrt: Die vielen Gaben setzen den einen Gott voraus, der die schenkt, und die eine Kirche, in der sie ihren Platz finden, so dass die verschiedenen Charismen stimuliert werden und besser kooperieren. Das genau ist jene Sichtbarkeit der Kirche, des Leibes Christi, ohne deren Konkretion ein ekklesiologischer Platonismus Platz griffe, der sich nicht auf Paulus berufen dürfte. Für den Apostel ist die Rechtfertigungslehre ein notwendiges, freilich kein hinreichendes Kriterium kirchlicher Einheit. Basal ist vielmehr das geteilte Evangelium, das originär von den Aposteln verkündet wird und sich deshalb in jeder Vergegenwärtigung als Fortschreibung des apostolischen Anfangs ausweisen muss: inhaltlich und formal, personal und sozial, intentional und effektiv. Das Kriterium der Kriterien ist nach dem Apostelkonzil die „Gnade“, die dem anderen gegeben worden ist (Gal 2,9). Die Konzentration auf diese Gnade, die bei den anderen wirkt, ist ein Paradigmenwechsel der Ökumene, der an der Zeit ist.
Dorothea Sattler
Auf dem Weg zueinander Eine Standortbestimmung in der gegenwärtigen Ökumene 1. Einleitende Gedanken „In via“-Erklärungen haben in der Ökumenischen Bewegung seit einigen Jahren eine hohe Bedeutung erlangt: Die bisherigen Wege miteinander werden beschrieben; der erreichte Standort wird bestimmt; Wegkreuzungen und erforderliche Entscheidungen werden offenkundig. Dabei ist es selbst unter ökumenisch gesonnenen Menschen strittig, ob es der Mühe wert ist, die bisher in den ökumenischen Dialogen erreichten Erkenntnisse zusammenzufassen. Eine Gruppe der in der Ökumene engagierten Theologinnen und Theologen spricht sich dezidiert dagegen aus, weil keine neuen Forschungserkenntnisse mit einer solchen „Fleißübung“ verbunden zu sein scheinen; drängendere Fragen stehen demnach an. Eine andere ist ohnehin skeptisch im Hinblick auf die Möglichkeit, durch Gesprächsergebnisse zur Einheit der Christenheit zu finden. Eine dritte Gruppe geht den Weg der Mitte: Nüchtern sichtet sie die Dialoge, hält daran fest, was gemeinsam besprochen ist, weiß um die Grenzen einer solchen Bemühung und sieht dennoch auch in Zukunft keinen Weg zur Einheit der Kirchen als den bewährten: weiterhin Gespräche führen und dabei die erreichten Verständigungen nicht aus dem Blick verlieren. Ich ordne mich selbst dieser dritten Gruppe zu.1 Erich Fried hat ein Gedicht mit dem Titel „Auf halbem Weg“ geschrieben.2 Ein Vers daraus lautet: „Der Weg ist einfacher als die Verzweiflung weiß und Schuld ist Schuld auch wenn sie sich selbst nicht versteht und das ist gut“ Theologinnen und Theologen, die nach all den vielen Bemühungen um die sichtbare Einheit der Kirchen noch immer an der Hoffnung festhalten, sie könnte einst Wirklichkeit werden, halten sich oft an diesem Gedanken 1 Ich verzichte in diesem Beitrag weithin auf weiterführende Literaturangaben. Entsprechende Hinweise sind zu finden in: Dorothea Sattler, Kirche(n), Paderborn 2013. 2 Erich Fried, Auf halbem Weg, in: ders., Einbruch der Wirklichkeit. Gedichte, Berlin 1991, 75.
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fest: In all der Komplexität der konfessionell geprägten theologischen Argumentationen steht der Weg offen für ein weiteres Vorankommen, wenn es ein gemeinsames Ziel gibt. Leichter wäre dieses Ziel zu erreichen, wenn alle christlichen Glaubensgemeinschaften immerzu aus dem Bewusstsein lebten und handelten, angesichts von Zwietracht und Unversöhnlichkeit schuldig zu werden an der Bitte Jesu Christi, der nach dem Zeugnis des Johannes um die Einheit derer gebetet hat, die sich auf ihn berufen (vgl. Joh 17,21)3. Die Glaubwürdigkeit des Evangeliums von der Versöhnung Gottes mit der Schöpfung leidet unter dem Streit zwischen denen, die es verkündigen. Auf verschlungenen, zuweilen zunächst abgebrochenen und dann wieder aufgenommenen, oft sehr mühsamen und beschwerlichen Pfaden hat die evangelisch – römisch-katholische Ökumene in vielen Einzelfragen Etappenziele erreicht. Zu den wichtigsten Themenbereichen gehören: das Verständnis von Schrift und Tradition, die Rechtfertigungslehre, die Sakramententheologie (mit besonderem Augenmerk auf Taufe und Eucharistie), die Ämterlehre und die Marien- und Heiligenverehrung. Zunehmend wichtig werden zudem die Bemühungen um eine Verständigung in Fragen der Individual- und Sozialethik. Viele teilen den Eindruck, dass die strittigen Einzelaspekte sich auf verbliebene Grunddifferenzen sowohl in der Anthropologie (Menschenbild) als auch in der Ekklesiologie (Kirchenverständnis) zurückführen lassen. Ich greife im Folgenden einige wichtige Themenbereiche auf und skizziere den erreichten Gesprächsstand. Bei aller Vorläufigkeit der erreichten Ergebnisse wäre es aus meiner Sicht wichtig, wenn diese zumindest nicht in Vergessenheit geraten. Künftige Generationen können unter neuen Vorzeichen auf sie zurückgreifen.
2. Ausgewählte Themenbereiche ökumenischer Dialoge Ich konzentriere mich im Fortgang – so ist es naheliegend angesichts des Jahres 2017 – auf die Konvergenzen, die in evangelisch - römischkatholischen Gesprächen erreicht werden konnten. 2.1. Schrift und Tradition Die ökumenischen Dokumente zum Thema Schriftverständnis und Schriftauslegung zeigen in eindrücklicher Weise, dass sich alle christli3 Vgl. Wolfgang Bienert (Hg.), Einheit als Gabe und Verpflichtung. Eine Studie des Deutschen Ökumenischen Studienausschusses zu Johannes 17 Vers 21, Frankfurt / Paderborn 2002.
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chen Kirchen im Dialoggeschehen als solche wiedererkannt haben, die unter Gottes Wort stehen und allein die von Gott selbst ermöglichte Offenbarung seines Wesens und Willens verkündigen möchten. Der Ausgangspunkt bei ökumenischen Äußerungen zum Schriftverständnis ist die Rede von Gottes Offenbarung. Die Einheit und Mitte der Schrift besteht in der Einheit Gottes, der in der Geschichte Israels und im Christusereignis die Mitte seines Heilswillens in Zeit und Geschichte kundgemacht hat. Auf breiter Basis besteht zudem Übereinstimmung in der positiven Wertigkeit der kirchlichen Traditionsbildung. Die Heilige Schrift ist eine Gestalt der Tradition; sie ist schriftgewordene Tradition. Ohne das gemeindliche Überlieferungsgeschehen wäre Gottes Evangelium nicht hörbar geworden. Der Prozess der Traditionsbildung in den Glaubensgemeinschaften in biblischer Zeit sowie das Ereignis der Schriftwerdung des Evangeliums werden von den christlichen Kirchen als ein von Gottes Geist gewirktes Ereignis verstanden. Unbestritten ist in den ökumenischen Gesprächen zudem, dass Gottes Wort in vielgestaltigen Menschenworten begegnet, deren geschichtliche Bedingtheiten es erfordern, (auch) mit den Mitteln der wissenschaftlichen Schriftauslegung zur Erkenntnis der Aussageintention zu gelangen. Als ein ökumenischer Grundkonsens kann gelten, dass allein die gläubige Erwartung der Wirksamkeit des Geistes Gottes die Hoffnung begründet sein lässt, in der Wahrheit zu bleiben, das heißt das Evangelium Gottes ursprungsgemäß, getreu der apostolischen Überlieferung weitersagen zu können. 2.2. Rechtfertigungslehre Der Lutherische Weltbund und die Römisch-katholische Kirche unterzeichneten am 31. Oktober 1999 gemeinsam eine Erklärung über den heute bestehenden Konsens in Grundfragen der Rechtfertigungslehre4 – jener Streitfrage, die im 16. Jahrhundert der Auslöser für die Bildung der evangelischen Konfessionsgemeinschaft war. Gemeinsam haben die Konfessionen im weltweiten Kontext erkannt, dass das Thema der Rechtfertigungslehre vielen Menschen heute schwer zugänglich ist. Die durch die theologische Sprache des Paulus geformte Rede von der „Rechtfertigung“ meint Gottes Bereitschaft, Menschen liebend anzunehmen, obwohl sie Sünder und Sünderinnen sind. Wer glaubt, wer Gottes Erbarmen vertraut, wird von ihm vor dem Tod, dem Verlust der Gottesgemeinschaft, bewahrt. Vieles spricht dafür, dass Menschen heute durchaus offen und dankbar sind für die Zusage, in aller erfahrenen Verstrickung in Gestalten des Unheils angenommen, bejaht und gewollt zu 4 Vgl. Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche (1999), in: Harding Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung. Sämtliche Berichte und Konsenstexte interkonfessioneller Gespräche auf Weltebene, Bd. 3, Frankfurt / Paderborn 2003, 419-441.
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sein. Es gelingt den Kirchen jedoch nicht gut, diese Sehnsucht der Menschen aufzugreifen und glaubwürdig zu verkündigen, dass Gottes Evangelium genau dies meint: die frohmachende Botschaft, dass Gott entschieden dazu ist, seine Geschöpfe nicht den tödlichen Folgen der Sünde zu überlassen, sie vielmehr zu retten – rein aus barmherziger Gnade, wirksam im Glauben, begründet in Jesus Christus, dem menschgewordenen Evangelium Gottes. Die noch verbliebenen konfessionellen Akzentsetzungen in der Rechtfertigungslehre betreffen die Tatsache, dass die römischkatholische Tradition den (von Gottes Gnade bewirkten, dann jedoch auch eigenen) menschlichen Möglichkeiten zum Guten tendenziell mehr zutraut als die lutherische Tradition, die die Verderbnis der menschlichen Natur durch die Sünde stärker wirksam erfährt und den Menschen eher passiv sein lässt im Versöhnungsgeschehen. 2.3. Sakramente Mit wenigen Ausnahmen (Heilsarmee und Quäker) feiern alle christlichen Glaubensgemeinschaften das Gedächtnis Jesu Christi auch in Gestalt von Sakramenten. Im ökumenischen Gespräch umstritten ist vor allem die Zahl der Sakramente: Sind es zwei oder sieben? Auch die Wirksamkeit der Sakramente ist im Gespräch: Ist eine solche allein durch den Glauben der Gemeinde oder (auch) aufgrund der amtlich vollzogenen Handlung des Vorstehers zu erwarten? Alternativfragen führen in der Ökumene in der Regel nicht weiter. Die Grundlage der ökumenischen Sakramentenlehre ist gegenwärtig die einmütige Zustimmung zu der Erkenntnis, dass es im Neuen Testament keinen Begriff gibt, der die später als Sakramente bezeichneten gottesdienstlichen Feiern zusammenfasst. Das lateinische Wort „sacramentum“ wurde stattdessen in frühen Bibelübersetzungen verwendet, wenn das in Jesus Christus offenbare „Geheimnis“ Gottes verkündigt wurde (Kol 1,27; 2,2). Dieser Textbefund festigte im ökumenischen Gespräch die Bereitschaft, gemeinsam ein Grundverständnis des „Sakramentalen“ anzunehmen: Gottes Gegenwart in geschöpflich vermittelter Gestalt. Im Menschen Jesus von Nazaret ist Gott selbst in nachhaltig eindeutiger Weise als der noch im Tod lebenstiftende Gott des Erbarmens erschienen. Alle weiteren sakramentalen Wirklichkeiten sind als Formen des Gedächtnisses Jesu Christi im Leben der Glaubensgemeinschaft zu verstehen. Sie gewinnen in dem Maße an Bedeutung, als in ihnen das erlösende Christusgeschehen vergegenwärtigt wird. Die Zahl der Sakramente wurde in der Theologiegeschichte sehr unterschiedlich bestimmt. Von früher Zeit an galt die Frage, ob das Neue Testament die Stiftung einer sakramentalen Feier durch Jesus selbst bezeugt, als ein sehr wichtiges Kriterium. Die Feier der Taufe (mit Blick auf Mt 28,19) und der Eucharistie (angesichts der Auftragsworte Jesu in der
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Abendmahlsüberlieferung) galten vom Altertum an als die bedeutendsten Sakramente. Daneben gab es immer wieder Überlegungen, die Ausübung der Schlüsselgewalt in der Feier der Buße (im Anschluss an Mt 16,19 und 18,15-18 sowie an Joh 20,22f), die Nachfolge Jesu in der Jüngergemeinschaft (mit Berufung auf Lk 10,16) und auch die Feier der Fußwaschung (mit Bezug auf Joh 13,15) als Sakramente zu zählen. Eine genaue Sichtung der christlichen Traditionen lässt erkennen, dass es jenseits der offenen Fragen in der Zählung der Sakramente ein hohes Maß an Übereinstimmung in der Gestaltung von gottesdienstlichen Feiern gibt, in denen die christliche Gemeinschaft den Grund und die Mitte ihres Glaubens in den Anfechtungen des Lebens (Sünde und Tod) feiert. 2.3.1 Taufe „Die Taufe begründet (...) ein sakramentales Band der Einheit zwischen allen, die durch sie wiedergeboren sind“ (2. Vatikanisches Konzil, Dekret über den Ökumenismus „Unitatis Redintegratio [UR], Nr. 22). In der oft zitierten Nummer 22 des Ökumenismusdekrets sind zwei der drei Absätze der Frage der Taufe gewidmet. Erst im dritten Abschnitt geht es um die Thematik Amt und Eucharistie. Vielfältig sind seit den Zeiten des 2. Vatikanischen Konzils die Bemühungen um eine neue Wertschätzung der einen Taufe in ökumenischer Hinsicht5: Taufgedächtnisfeiern sind heute zu einer gottesdienstlichen Form geworden, die bei ökumenischen Begegnungen sehr naheliegt. Die wechselseitige Anerkennung der Taufe ist ein vorrangiges Anliegen aller christlichen Konfessionen weltweit. In Krisenzeiten suchen einzelne Menschen und auch größere Gemeinschaften Zutrauen zur Gegenwart durch das Gedächtnis des sinnstiftenden Ursprungs. In der Geschichte der Feier des Taufgedächtnisses spiegelt sich mit jeweils zeitbedingten Besonderheiten die von der christlichen Glaubensgemeinschaft stets neu empfundene Herausforderung, sich des Anfangs zu vergewissern, um den Augenblick bestehen und die Zukunft gestalten zu können. In kirchlichen Reformbewegungen geschieht durch die Jahrhunderte hindurch immer wieder eine Kritik der Folgenlosigkeit der im Säuglingsalter gefeierten Taufe. Das Taufgedächtnis kann als eine Mahnung zur Ernsthaftigkeit in der ekklesialen Gestalt der Christusnachfolge betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund ist gut verständlich, dass die Ökumenische Bewegung das Nachdenken über die Bedeutung der Taufe bei der Beschreibung der bereits bestehenden Gemeinschaft der Christinnen und Christen favorisiert hat. Ökumenische Tauftheologien (etwa in den langjährigen Vorbereitungen der Lima-Papiere von Faith and Order6, 5 Vgl. Silvia Hell / Lothar Lies, Taufe und Eucharistiegemeinschaft. Ökumenische Perspektiven und Probleme, Innsbruck 2002; Martin Stuflesser / Stephan Winter, Wiedergeboren aus Wasser und Geist. Die Feiern des Christwerdens, Regensburg 2004. 6 Vgl. Taufe, Eucharistie und Amt. Konvergenzerklärung der Kommission für Glauben und Kirchenverfassung des Ökumenischen Rates der Kirchen (Lima 1982), in:
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die 1982 zum Abschluss kamen, oder in den Arbeiten von Edmund Schlink7 zur sogenannten Baptismalen Ökumene) gingen den ökumenischen Taufgedächtnisfeiern voraus und bereiteten sie vor. Zugleich förderte die Liturgische Bewegung in der reformatorischen wie in der römisch-katholischen Tradition durch ihre Neubesinnung auf die Osternachtfeier das Bewusstsein für die Relevanz des Taufgedächtnisses. Das Taufgedächtnis kann derzeit – bei aller Krisenanfälligkeit dieser Thematik – als die wohl hoffnungsvollste Perspektive der gegenwärtigen ökumenischen Bemühungen gelten. Im 2007 wurde in Magdeburg in der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen unter vielen Mitgliedskirchen eine wechselseitige Anerkennung der Taufe vereinbart. Auch jene christlichen Traditionen, die ausschließlich Glaubende taufen, haben ihre Wertschätzung der Bemühungen aller Kirchen um ein angemessenes Verständnis der Taufe in einem Grußwort zum Ausdruck gebracht. In vielen Dialogen werden die Gespräche über die Feier der Taufe fortgesetzt. 2.3.2 Eucharistie und Abendmahl In diesem Themenbereich8 ist es wichtig, zwischen Fragen des inhaltlichen Verständnisses und der Gestaltung der Feier von Eucharistie und Abendmahl sowie der Frage nach der gemeinsamen Teilhabe an der Feier zu unterscheiden: Die Frage, in welcher Weise die Feier des Herrenmahls als „Opfer“ zu verstehen ist, gilt als eine schwierige, weil sie historisch sehr belastet ist. Auch innerkonfessionell gibt es strittige Einzelfragen zu eucharistietheologischen Themen. Auf der Basis der Ausführungen des 2. Vatikanischen Konzils, in denen sich die theologische Neubesinnung der Vorjahre spiegelt, beschäftigten sich mehrere katholisch-lutherische Dialogkommissionen auf nationaler und internationaler Ebene mit dieser Fragestellung. Als gemeinsame theologische Überzeugung kann heute gelten, dass das eucharistische Opfer die sakramentale Vergegenwärtigung der liebenden Lebenshingabe Jesu Christi in der eucharistischen Mahlfeier und im Leben der Kirche ist. Historische Forschungen lassen erkennen, dass im 16. Jahrhundert weniger die von den Altgläubigen vertretene theologische Position als vielmehr missbräuchliche Praktiken und gedankliche Vergröberungen der eigentliHarding Meyer u.a. (Hg.), Dokumente wachsender Übereinstimmung, Bd. 1, Frankfurt / Paderborn 1983, 545-585; Ökumenischer Rat der Kirchen / Kommission für Glauben und Kirchenverfassung, Die Diskussion über Taufe, Eucharistie und Amt 1982-1990. Stellungnahmen, Auswirkungen, Weiterarbeit, Frankfurt / Paderborn 1990; Dagmar Heller, Die Taufe – Grundlage der Einheit oder Ausdruck der Spaltung?, in: Una Sancta 56 (2001) 35-44. 7 Vgl. Edmund Schlink, Die Lehre von der Taufe, Kassel 1969. 8 Vgl. Karl Lehmann / Wolfhart Pannenberg (Hg.), Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Rechtfertigung, Sakramente und Amt im Zeitalter der Reformation und heute, Freiburg / Göttingen 1986 (Abschnitt Abendmahl / Eucharistie).
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che Angriffspunkt der reformatorischen Kritik waren. So nährte allein schon die Häufung der „Messopfer“ in den vielen Winkelmessen unter dem Leitmotiv der Mehrung seiner sühnenden Gnadenwirkung den Verdacht, die Einmaligkeit des neutestamentlich bezeugten Opfers Jesu Christi und die Vollgenügsamkeit seiner Erlösungstat würden bestritten. Da es Martin Luther unter den theologischen Voraussetzungen seiner Zeit nicht möglich war, das Kreuzesopfer Christi und die Abendmahlsfeier im Begriff des sakramentalen Gedächtnisses miteinander zu verbinden, lehnte er um der Einzigkeit des erlösenden Opfers Christi in seiner Lebenshingabe willen die Bezeichnung der Messe als Opfer strikt ab. Nach CA 24 ist die Eucharistie zwar als Gedächtnisfeier zu verstehen, ihre Kennzeichnung als Opfer für die Erbsünde und die anderen Sünden wird jedoch zurückgewiesen, weil dadurch die Einmaligkeit des Lebensopfers Jesu Christi am Kreuz verdunkelt werde. Die Väter des Trienter Konzils stimmten mit der von reformatorischer Seite vertretenen, biblischen Auffassung von der Einmaligkeit und Vollgenügsamkeit des erlösenden Kreuzesopfers Jesu Christi überein. Sie sahen sich daher vor die Aufgabe gestellt, den Opfercharakter der Messe zu wahren, ohne die Einheit des neutestamentlichen Opfers anzutasten. Die folgenreiche und der Sache nicht dienliche Entscheidung des Konzils, die Eucharistiethematik in zwei separaten Dekreten zu behandeln, verfestigte in der Folgezeit die gedankliche Trennung zwischen der Rede von der Eucharistie als Sakrament und vom Messopfer. Zwar sind mit den Begriffen memoria, repraesentatio und applicatio wichtige Termini zur Verhältnisbestimmung von Kreuz und Abendmahl in die Konzilstexte aufgenommen, aber insgesamt bedient sich der Trienter Text einer der neutestamentlichen Sicht fremden Denk- und Redeweise vom Opfer, was insbesondere die nachtridentinischen Messopfertheorien erkennen lassen. Ein Umdenken wurde im katholischen Raum erst im Gefolge der Neubesinnung in der Ekklesiologie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts möglich. Neben der personalen Sinnbestimmung und der christologischen Prägung der Opfervorstellung erscheint es heute wichtig, auf der Grundlage der unstrittigen Überzeugung von der Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Selbstopfers Jesu Christi gemeinsam zu besprechen, wie eine Teilhabe der Getauften am Opfer Jesu Christi theologisch zu denken ist. Das Anliegen der katholischen Seite, auch von einem „Opfer der Kirche“ zu sprechen, lässt sich aufgreifen: Eingebunden in eine pneumatologische Argumentation erscheint das „Opfer der Kirche“ als geistgewirkte Teilhabe der Gemeinde an der absteigenden (katabatischen) und aufsteigenden (anabatischen) Linie des Opfers Jesu Christi. In ihm empfängt die Kirche alles vom göttlichen Vater und schenkt sich gleich ihm allen Menschen. In ihrer Menschenliebe bringt die Kirche Gott ein Opfer des Lobes dar, indem sie im Geist Gottes hineingenommen wird in die liebende und vertrauende Beziehung des Sohnes zum Vater.
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Im 16. Jahrhundert war die Frage nach dem rechten Verständnis der Gegenwart Jesu Christi im eucharistischen Mahl sehr umstritten, und dies sowohl innerreformatorisch zwischen Martin Luther und Huldrych Zwingli als auch zwischen den Anhängern des sogenannten neuen Glaubens und den altgläubigen Theologen, die Einfluss nahmen auf die Lehre des Trienter Konzils. Die differenzierte Argumentation der damaligen Kontrahenten wird im gegenwärtigen ökumenischen Gespräch eingehend untersucht. Dabei zeigt sich, dass man im Reformationszeitalter drei Lehrgestalten in der Frage der eucharistischen Präsenz des erhöhten Herrn unterscheiden kann: die lutherische, die römisch-katholische, an Thomas von Aquin orientierte, und die reformierte. Alle drei Lehrgestalten haben theologische Stärken und Schwächen; sie haben Gemeinsamkeiten und signifikante Unterschiede. Das primäre Anliegen Martin Luthers bei seiner Ablehnung des Begriffs Transsubstantiation war es, sich gegen den scheinbar von den altgläubigen Theologen erhobenen Anspruch zur Wehr zu setzen, sie verfügten über ein philosophisches Denkmodell, das die eucharistische Gegenwart Jesu Christi erklären könne. Thomas behandelt die Transsubstantiationslehre im Zusammenhang des rechten Verständnisses der eucharistischen Wandlung. Er legt dar, dass nach der Wandlung die Substanz von Brot und Wein nicht zurückbleiben, es aber dabei nicht zu einer Annihilation (Auslöschung) der Substanz von Brot und Wein komme, Brot und Wein vielmehr in die Substanz des Leibes und des Blutes verwandelt werden, wobei die Akzidentien von Brot und Wein bestehen bleiben. Dabei meint der Begriff substantia im Sinne seiner aristotelischen Bestimmung das innere, nicht mit Sinnen erfassbare Wesen, der Begriff Akzidenz die äußere, sichtbare und schmeckbare Erscheinung. Das Wesen von Brot und Wein wird verwandelt, ihre äußere Gestalt bleibt erhalten. Martin Luther leugnete weder die „reale“ Präsenz des Erhöhten in der eucharistischen Feier noch die Vorstellung von der Wandlung (mutatio) der Mahlgaben. Er erklärte die Möglichkeit der realen Präsenz Jesu Christi beim eucharistischen Mahl unter Rückgriff auf den Gedanken der Ubiquität des Gottessohnes, seine Allgegenwart im Leben der Schöpfung. Luther bevorzugte zudem das Denkmodell der Konsubstantiation, das vom Erhalt der Substanz des Brotes und des Weines auch nach ihrer Verwandlung in die Substanz des Leibes und Blutes Jesu Christi ausgeht. Luther wollte auf diese Weise dem Augenschein Rechnung tragen, nach dem die Brotgestalt und die Weingestalt auch nach der Wandlung ja fortbestehen. Luther verkannte allerdings, dass die scholastische Bestimmung des Begriffs Substanz gerade nicht die sinnlich erfahrbare, äußere Erscheinung der Dinge meinte, sondern ihr inneres Wesen, ihr eigentliches Sein. Die reformierte Tradition lehrt – im Anschluss an Huldrych Zwingli und Johannes Calvin – ebenfalls die wahre Gegenwart des erhöhten Herrn, wenn die Gemeinde Mahl feiert. Anders als die lutherische Theologie lehnt die reformierte jedoch die Vorstellung der Ubiquität des menschgewordenen Gottessohnes ab und argumentiert statt dessen auch im eucha-
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ristischen Zusammenhang pneumatologisch. Philosophische Spekulationen über die Möglichkeit der Präsenz des Erhöhten bei der Mahlfeier weisen reformierte Theologen zurück. Aufs Ganze gesehen lässt sich bei ihnen die Tendenz nachweisen, die Gegenwart Jesu Christi auf das Mahlgeschehen zu beziehen und eine Konzentration auf die Vorstellung einer „realen Präsenz“ in den gewandelten Mahlgaben als nicht zulässig zu betrachten. Im heutigen ökumenischen Gespräch wirkt sich entlastend aus, dass das Trienter Konzil das Denkmodell der Transsubstantiation zwar als „sehr geeignete / sehr treffende“ („aptissime“) Redeweise vom Zustandekommen der eucharistischen Realpräsenz bezeichnet hat (vgl. DH 1652), damit aber offenließ, ob nicht auch andere Zugänge zum Verständnis der Gegenwart Jesu Christi im eucharistischen Mahlgeschehen möglich sind – bzw. unter gewandelten Verstehensbedingungen eher als geeignet betrachtet werden müssen. Von daher ist es im Sinne des Trienter Konzils, wenn die christlichen Konfessionen heute gemeinsam nach neuen Wegen suchen und gerade in Modellen, die auf der Basis der relationalen Ontologie argumentieren, eine gemeinsame Grundlage sehen. Die in der Theologiegeschichte geschehene, bedauerliche Trennung der Frage nach der Weise der sakramentalen Gegenwart Jesu Christi in den Zeichen des Mahles von dem eigens bedachten Opfercharakter der Eucharistie wird in jüngerer Zeit problematisiert und korrigiert, da beide Aspekte zusammengehören: Der zum Sterben bereite, in seiner Lebenshingabe die Größe der Liebe Gottes offenbarende Christus Jesus wird lebendig gegenwärtig in der Feier eines Mahles, das Gemeinschaft stiftet. Das „Opfer“ ist die Lebenshingabe Jesu. Die „Gegenwart“ Jesu Christi wird erfahrbar im Mahl, das Zeichenhandlung der unverbrüchlichen Bundeswilligkeit Gottes ist. Jesus selbst hat die Mahlgaben in diesen Deutezusammenhang gestellt. Ihrem Wesen nach werden Brot und Wein verwandelt, wenn das Gedächtnis Jesu Christi geschieht: Die deutenden Worte gegenwärtigen den ursprungsgetreuen Bezugszusammenhang der von Jesus gestifteten Zeichenhandlung. Die in Gottes Geist geschehende, vergegenwärtigende Erinnerung verwandelt die Mahlgaben im Sinne Jesu. Brot und Wein bleiben als Mahlgaben erhalten, aber ihr Wesen wird ein anderes. Sie sind nun wirksame Zeichen für Jesu Sterbebereitschaft, in der die Tiefe der Liebe Gottes aufleuchtet. Niemand hat eine größere Liebe als der, der sein Leben gibt für seine Freunde (Joh 15,13). Alle Kirchen stimmen grundsätzlich dem theologischen Gedanken zu, dass bei der Teilnahme an Abendmahlsgottesdiensten oder Eucharistiefeiern neben ganz persönlichen Motivationen auch gesamtkirchliche Überlegungen zu beachten sind. Wer unversöhnt lebt, widerstreitet der Verheißung von Gottes Gemeinschaft, die in der Feier des Abendmahls und der Eucharistie dargestellt und wirksam erfahren werden soll. Solange zwischen den Kirchen noch keine Glaubensgemeinschaft erreicht ist, können daher im Regelfall sakramentale Gottesdienste nicht gemeinsam gefeiert
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werden. Alle Kirchen kennen jedoch besondere Situationen, in denen ausnahmsweise eine gemeinsame eucharistische Feier möglich ist. Dabei unterscheiden sich die Argumentationen der reformatorischen bzw. der römisch-katholischen Tradition. Die evangelischen Kirchen richten ihren Blick auf den Mahlherren Jesus Christus, der zur Feier des Gedächtnisses seines Lebens, seines Todes und seiner Auferweckung einlädt. Wer sich von ihm gerufen erfährt, darf in der Freiheit des eigenen Gewissens am Abendmahl teilhaben. Die evangelischen Kirchen vertrauen darauf, dass Gottes Heiliger Geist in den Abendmahlsgottesdiensten das Gedächtnis Jesu Christi im apostolisch begründeten Sinn gewährleistet und die ökumenisch offenen Fragen des Amtes und des Kirchenverständnisses in ihrer Bedeutung diesem gläubigen Vertrauen nachzuordnen sind. Die Römischkatholische Kirche hat bei ihren kirchenrechtlichen Regelungen für die Teilnahme von Christen anderer Kirchen an der Eucharistiefeier Situationen im Blick, in denen aus pastoraler Rücksicht ein Ausschluss nicht zu begründen wäre. Die theologischen Interpretationen, wann eine solche schwerwiegende Notwendigkeit vorliegt, sind im römisch-katholischen Raum unterschiedlich. Strengere Auslegungen begrenzen sie auf die Todesgefahr oder vergleichbare Zeiten der Abwesenheit eines amtlichen Vorstehers der eigenen Konfession, andere beziehen die Situation konfessionsverschiedener Eheleute insbesondere bei besonderen Familienfeiern in die Überlegungen ein. Weitergehende Ansätze nehmen auf die Aussage des 2. Vatikanischen Konzils Bezug, die eucharistische Feier sei nicht nur Höhepunkt im Ausdruck der bestehenden Kirchengemeinschaft, sondern auch deren Quelle (vgl. Lumen Gentium 11). Die Ökumene zwischen reformatorisch gesonnenen und weiterhin altgläubigen Christinnen und Christen begann bereits im 16. Jahrhundert. In den theologischen Ausschüssen, die die strittigen Lehrfragen besprachen, die mit der Verlesung des lutherischen Bekenntnisses auf dem Reichstag 1530 in Augsburg offenkundig waren, konnten sie sich in den zentralen theologischen Themen ökumenisch verständigen. Offen blieben einzelne Fragen, die vor allem die Gestaltung des kirchlichen und liturgischen Lebens betrafen – beispielsweise das reformatorische Anliegen, im Sinne der Stiftungshandlung Jesu Christi den Laien den eucharistischen Kelch nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig zu reichen. Könnte es heute gelingen, durch eine Veränderung der römisch-katholischen eucharistischen Praxis im Blick auf den Laienkelch den Bewusstseinswandel zu bestärken, der mit der Liturgischen Bewegung im Vorfeld des 2. Vatikanischen Konzils bereits begonnen hat? Die Abendmahlsgottesdienste und die Eucharistiefeiern während der Ökumenischen Kirchentage 2003 in Berlin und 2010 in München sollten ein Ort sein, an dem sich die inzwischen erreichte ökumenische Sensibilität als handlungsleitend erweist. Manche Anregungen sind aufgenommen worden.
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2.4. Ämterlehren Die Suche nach einer ökumenischen Verständigung im Verständnis und in der Ausübung der kirchlichen Ämter gilt als die schwierigste Aufgabe auf dem Weg zur umfassenden Einheit der christlichen Glaubensgemeinschaft.9 Umstritten sind vor allem drei Fragen: (1) Gibt es einen Unterschied zwischen dem Wesen des in der Taufe begründeten Priestertums und dem Wesen des sakramentalen Amtes einzelner berufener und ordinierter Menschen? (2) Ist die in der Geschichte der Kirche sich herausbildende dreifache Gestalt der Ämter (Diakone, Priester und Bischöfe) als eine dem Willen Gottes entsprechende Entwicklung zu verstehen, die von der Kirche immer beachtet werden muss? (3) Darf oder muss es bestimmte Einschränkungen (einzig ehelos lebende Männer) in der Zulassung von Menschen zur Übernahme eines kirchlichen Amtes geben? In diesen und auch den weiteren offenen Fragen der ökumenischen Ämterlehre (etwa Verständnis des Papstamtes, Unverzichtbarkeit synodaler Wege bei der Entscheidungsfindung, Übertragung des Amtes auf Lebenszeit oder befristet, Ordinationsformulare) zeichnen sich zwar ökumenische Annäherungen ab, angesichts der institutionell gefestigten konfessionellen Unterschiede ist jedoch noch nicht in Sicht, die wechselseitige Anerkennung der Ämter erreichen zu können. Als gemeinsame theologische Grundlinien in den drei besonders umstrittenen Fragen zeichnen sich folgende Gedanken ab: (1) Alle Getauften haben im Heiligen Geist Anteil an dem einzigartigen Priestertum Jesu Christi. Alle Christen sind berufen, in ihrem Leben durch Wort und Tat Zeugnis für Gottes Erbarmen und Lebensmacht abzulegen. Das besondere kirchliche Amt einzelner Menschen ist ein Dienst der Sammlung, der Ermutigung und der Leitung der allen Getauften von Gott geschenkten Gaben des Heiligen Geistes. (2) Die neutestamentlichen Schriften belegen bereits, dass die christlichen Gemeinden unterschiedliche amtliche Dienste kennen, die sich aufgrund der Erfordernisse vor Ort herausgebildet haben. Verantwortung in der Prüfung des schriftgemäßen sozialen Engagements der Gemeinde (Diakonat), Vorsteherdienste bei gottesdienstlichen Feiern der Gemeinde (Presbyterat) und überregionale Aufsichtsdienste (Episkopat) werden in unterschiedlicher Gestalt von dazu beauftragten Menschen oder Gremien in allen Kirchen ausgeübt. (3) Die Verpflichtung zur Ehelosigkeit von Priestern ist eine kirchliche Tradition, die gegenwärtig einzig in der römisch-katholischen Kirche noch beibehalten wird. Die neutesta9 Vgl. dazu ausführlicher: Dorothea Sattler, Zum römisch-katholischen Amtsverständnis. Ein Vortrag beim Stuttgarter Kirchentag und eine kommentierte Auswahlbibliographie, in: Una Sancta 54 (1999) 213-228; dies., Überlieferung des Apostolischen Glaubens in der kirchlichen Gemeinschaft. Zum Stand der ökumenischen Bemühungen um ein gemeinsames Verständnis der Apostolischen Sukzession in Dialogen mit römisch-katholischer Beteiligung, in: Theodor Schneider / Gunther Wenz (Hg), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge, Bd. I: Grundlagen und Grundfragen, Freiburg / Göttingen 2004, 13-37.
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mentlichen Schriften (1 Kor 7; 1 Tim 3) legen nicht auf eine einzige Lebensweise der Amtsinhaber fest. In der Frage der möglichen Zulassung von Frauen zum Amt versuchen alle Kirchen, dem von ihnen erkannten wahren Willen Gottes zu entsprechen. Während in der römischkatholischen Argumentation die Berufung auf den allein aus Männern bestehenden Kreis der von Jesus berufenen zwölf Apostel und die ungebrochene Tradition der kirchlichen Lehre in dieser Frage vorrangig erscheinen, hinderte vor allem die sich auf Paulus stützende Vorstellung einer gottgewollten Überordnung des Mannes über die Frau (nach 1 Kor 11,212 und 1 Kor 14,33b-36) die reformatorischen Kirchen daran, vor Mitte des 20. Jahrhunderts auch Frauen in das kirchliche Amt einzuführen. 2.5. Ethische Fragen Eine wichtige Motivation ökumenischen Handelns ist die Einsicht, wie wichtig es ist, gemeinsam die weltpolitischen, sozialethischen und individualethischen Herausforderungen anzunehmen, die die Gemeinschaft der Geschöpfe bedrängen. Alle Kirchen sind gefordert, sich den Fragen der Gegenwart zu stellen: Wie können die Lebensgrundlagen für alle gesichert werden? Wie ist es möglich, Versöhnung und Frieden unter den Völkern zu erreichen? Warum gelingt es nicht, die Arbeit gerecht zu verteilen? Wer stillt den Hunger und Durst der Bedürftigen? In welcher Weise lassen sich die Verstrickungen lösen, die viele Menschen im Blick auf ihr Leben in Beziehungen empfinden? Die gemeinsame Grundlage in der Suche nach Antworten auf diese Frage sind die biblischen Schriften. In ihnen begegnet Gott mit der Verheißung des Lebens in Fülle in Gemeinschaft mit ihm. Gottes Weisungen zielen die Achtung der Lebensgrundlagen aller Geschöpfe an. In seinem Gewissen erfährt der Mensch sich gefordert, diesen Weisungen zu folgen. In vielen ethischen Fragen konnten die Kirchen inzwischen einen hohen Grad an Einmütigkeit erreichen. Auf internationaler und auf nationaler Ebene sind zahlreiche Dokumente erschienen, in denen die Kirchen gemeinsam in der Öffentlichkeit Position beziehen. Der vom Ökumenischen Rat der Kirchen initiierte Konziliare Prozess zu den Fragen der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung hat in den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts zu einer vertieften Einsicht in den Wert ökumenischer Gemeinschaft geführt. Auf verschiedenen Ebenen hat dieser Prozess Fortsetzung und Erweiterung erfahren. In Deutschland gibt es eine inzwischen gefestigte Tradition, gemeinsame Stellungnahmen der Evangelischen Kirche und der Katholischen Bischofskonferenz zu ethischen Fragen zu veröffentlichen. Dabei werden zum einen Einzelthemen des Lebensschutzes an den Lebensgrenzen (zum Beispiel Embryonenschutz, vorgeburtliche Diagnostik, Organtransplantationen, Sterbehilfe), zum anderen sozialethische Fragen (zum Beispiel Arbeitslosigkeit, neue Armut, Mediengesellschaft, Fremdenfeindschaft) vor-
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rangig in den Blick genommen. In wichtigen Gremien (zum Beispiel dem nationalen deutschen Ethikrat) sprechen christliche Delegierte nicht selten mit einer Stimme. Zugleich gibt es offene oder kontrovers besprochene Fragen, die vor allem im Bereich der Familien- und Sexualethik (zum Beispiel Wiederheirat Geschiedener, Methoden der Geburtenregelung, Homosexualität) angesiedelt sind.
3. Zielvorstellungen bei der Rede von der Einheit der Kirchen In vielen Beiträgen zu Fragen der Ökumene begegnet die Rede von der Not der ökumenischen Ziellosigkeit. Die Frage, welche Gestalt die künftig auch in sichtbarer Weise eine Kirche Jesu Christi haben könnte, wird von den Konfessionsgemeinschaften in unterschiedlicher Weise beantwortet. Die reformatorische Tradition anerkennt Glaubensgemeinschaften als Kirchen, wenn in ihnen das Evangelium rein verkündigt und die Sakramente stiftungsgemäß gefeiert werden. Auf Zukunft hin können dann Kirchen, die sich wechselseitig anerkennen, gastweise Kanzel- und Abendmahlsgemeinschaft leben. Die Kirchen bilden dann eine Kirchengemeinschaft unter dem Leitbild der Einheit in versöhnter Verschiedenheit. Nach römisch-katholischer Tradition erscheint es jedoch unverzichtbar, dass die Kirche Jesu Christi auch hinsichtlich ihrer amtlich-institutionellen Seite als die eine Kirche an den unterschiedlichen Lebensorten der Menschen wiedererkannt werden kann. Territoriale Aspekte treten zu den personalen hinzu. In aller gewordenen und legitimen Pluralität der konfessionellen Prägungen soll einmal möglich sein, in den unterschiedlichen Kulturräumen nicht nur gelegentlich, sondern als Regelform alle Grundvollzüge kirchlichen Lebens (Verkündigung des Evangeliums, Feier der Liturgie und Dienst an den Armen) vor Ort gemeinsam zu gestalten. Grundsätzlich wird in der Hermeneutik ökumenischer Prozesse die Frage immer dringlicher gestellt, welche Bedeutung theologische Dialoge zukünftig noch haben werden. Kann es zu neuen Einsichten kommen? Sind die Gründe für die fortbestehenden Kontroversen nicht auf anderen Ebenen angesiedelt – solchen, die durch intellektuelle Anstrengungen nicht erreicht werden? Ist es überhaupt angesichts der Weltsituation angemessen, Zeit, Geld und Menschenkraft zu bemühen, um verbliebene kontroverse Detailfragen wieder und wieder zu besprechen? Wäre es nicht an der Zeit, auf der Grundlage der bereits erreichten Verständigungen die Kirchengemeinschaft zu erklären und gemeinsam Eucharistie und Abendmahl zu feiern? Verstehen die getauften Menschen in den Gemeinden überhaupt noch, welche Hindernisse es diesbezüglich noch geben könnte? Es ist offenkundig: Die weltweit vielfältigen ökumenischen Bemühungen bedürfen einer neuen Anstrengung zur Koordination. Nach fruchtbaren Jahrzehnten der Annäherung insbesondere im 20. Jahrhundert – getragen
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vorrangig von den Kirchen reformatorischer Tradition – steht die Ökumenische Bewegung vor neuen Herausforderungen. Nicht zuletzt die schwindende Finanzkraft der christlichen Ökumene in Europa nötigt oder besser ermutigt zu weitreichenden Reformen. Bei der Sichtung der bestehenden ökumenischen Initiativen sind mehrere Kriterien der Differenzierung möglich: Nationale Gremien unterscheiden sich von internationalen, bilaterale Gespräche von multilateralen, historisch-theologische Erkenntniswege von diakonal motivierten Projekten. An jedem Lebensort hat die Ökumene eine andere Gestalt, die maßgeblich auch durch die leitend handelnden Personen mitbestimmt wird. Die Dialogökumene muss sich rechtfertigen. Ihr gegenüber steht eine ökumenische Hermeneutik, die insbesondere die Fragen aufnimmt, die unter sozial-ethischen Prämissen zu betrachten sind. Es handelt sich dabei meines Erachtens um zwei profilierte Tätigkeiten, die im Blick auf die Gesamtheit der an der ökumenischen Bewegung beteiligten Menschen keineswegs alternativ sind, sich lediglich in einem einzigen Menschenleben mit guten Gründen nicht gleichzeitig als Optionen verwirklichen lassen. Viele Faktoren – intendierte und oder situativ vorgegebene – wirken sich bei der persönlichen Wahl des jeweiligen ökumenischen Engagements aus. Die Gleichzeitigkeit der unterschiedlichen Handlungsformen in der gemeinsamen Ausrichtung auf das eine Evangelium ist eine Stärke der Ökumene. Lehre und Dienst „einen“. Eigene Aufmerksamkeit muss aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang der Aspekt der Dringlichkeit erfahren: Es gibt Orte und Zeiten, da gilt es sofort zu handeln und nicht mehr nur zu sprechen. Auch bei Zustimmung zum bleibenden Wert (auch) der DialogÖkumene bleibt eine Frage: In der Vorbereitung auf das ökumenische Jahr 2017 ist sehr bewusst geworden, wie vielgestaltig die Rezeption der Reformation im weltweiten Kontext ist. Erscheint es angemessen, dass die Römisch-katholische Kirche weiterhin bilaterale Gespräche explizit und gesondert mit dem Lutherischen Weltbund führt, obwohl es in vielen Regionen inner-reformatorische Unionen mit der reformierten, der anglikanischen und der methodistischen Weltgemeinschaft der Christinnen und Christen gibt? Ist die Zeit der bilateralen Dialoge zu Ende? Ich meine, so sei es nicht. Dialoge haben immer auch die Bedeutung, sich in Zusammenkünften der Überzeugungen zu vergewissern, die Menschen anderer Konfessionen als für sie identitätsstiftend betrachten. Die Generation der Konzilsväter sowie der „Beobachter“ des 2. Vatikanischen Konzils hat die Dialoge begonnen. Die nächste Generation – meine – hat die Dialoge gesichtet und differenziert weitergeführt. Nun bedarf es noch immer dieser Dialoge, damit auch künftige Generationen im Sinne des 2. Vatikanischen Konzils handeln und einander „in Liebe und Demut“ von gleich zu gleich begegnen. Zu wünschen ist dabei, dass die bereits erreichten Erkenntnisse nicht in Vergessenheit geraten. Neue Herausforderungen stehen zugleich an. In der Sache: Überlegungen zur unterschiedlichen Rezeption der Werte der Moderne (Partizipation aller Getauften
Eine Standortbestimmung in der gegenwärtigen Ökumene
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an den Entscheidungsfindungsprozessen; gleiche Würde von Mann und Frau bei der Verkündigung des Evangeliums), in methodischer Hinsicht vor allem Differenzierungen in ethischen Fragen angesichts kultureller und mentalitätsgeschichtlicher Vorprägungen insbesondere in Themenaspekten der Individualmoral – beispielsweise im Bereich der Sexualethik. Es bleibt auch in Zukunft viel zu tun in den ökumenischen Dialogen. Werden wir in der Ökumene „auf halbem Weg“ stehen bleiben? Erich Fried10 gibt am Ende seines Gedichtes eine Frage mit auf die Lebensreise, die auch den christlichen Glaubensgemeinschaften zu denken geben könnte: „Und vielleicht ist der Himmel zu kalt und die Hölle zu heiß und die Geduld zu duldsam und bald kommt die Angst zu spät und der Mut“ Ich wünschte mir, der ökumenische Weg gelangte an sein Ziel: die sichtbare Einheit der Kirchen.
10 Erich Fried, Auf halbem Weg (s. Anm. 2), 75.
3 Erinnerungen und Visionen – Ökumene in Europa und weltweit
Christian Link
Reformierte Ansätze für ein neues Miteinander in Europa I. Blick auf die Schweiz Wem gehört die Reformation? Sie hat nicht mit Martin Luther begonnen und ist nicht mit ihm zu Ende gegangen. Sie gehört nicht nur den lutherischen und reformierten Kirchen, sie gehört der Ökumene, die den Geist dieser Kirchen von Anfang an geprägt hat. Denn ihr Ziel war nicht die Entstehung von Partikularkirchen, sondern die Restitution der universalen katholischen Kirche auf einem erneuerten Fundament. Das gilt ohne Abstriche auch für die Schweiz, wo die Reformation unabhängig von Wittenberg bereits Fuß gefasst hatte, und insbesondere noch einmal für die von Genf ausgegangene „zweite“ Reformation. Calvin hat unter der Kirchenspaltung schwerer gelitten als einer der anderen Reformatoren. Er war es auch, der sich, während Luthers Blick auf Deutschland gerichtet blieb, genötigt sah, über Genf und Frankreich hinaus auf Europa zu blicken: „Nichts wird lebhafter mein Wunsch sein, um nichts werde ich stärker besorgt sein, als dass ich mit allen deutschen Kirchen, die den Ruhm Christi … verkündigt haben, 1 in größter Einigkeit leben darf“.
Genf ist schon damals zu einem Zentrum der europäischen Ökumene geworden, zunächst äußerlich durch die Aufnahme evangelischer Flüchtlinge aus Frankreich, England und Schottland, Italien und den Niederlanden, weit bedeutsamer jedoch durch die Gründung der Akademie (1559), die eine große internationale Hörerschaft anzog und Ausgangspunkt einer ausgedehnten Korrespondenz mit Kirchen und Theologen auf dem ganzen Kontinent wurde. Calvin wendet sich mit seinen Briefen, Ratschlägen und Ermahnungen an nahezu alle damals bekannten Länder und Fürstenhäuser. Er schreibt an den englischen König Edward VI, beredet mit dem Erzbischof Thomas Cranmer Pläne zu einem evangelischen Konzil und steht im Briefverkehr mit Pfarrern in Polen und Litauen. „Um der Einheit der Kirche willen, wollte ich mich’s nicht verdrießen lassen, … zehn Meere, wenn’s sein muss, zu durchqueren“.2 Er nimmt an den Religionsgesprächen in Hagenau, Worms und Regensburg teil, von denen Luther sich damals nichts mehr meinte versprechen zu 1 Calvin, Correspondence des réformateurs. 2 Brief an Thomas Cranmer, in: R. Schwarz, Joh. Calvins Lebenswerk in seinen Briefen, Neukirchen 1962, II, 596.
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können. Hier wurde nach Kräften für die (wenigstens innerevangelische) Ökumene gearbeitet. Wie sieht das Bild heute aus? „Auf dem Weg zum Reformationsjubiläum“ hat der Schweizerische Evangelische Kirchenbund (SEK) gemeinsam mit der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) vom 6.-10. Oktober 2013 einen internationalen Kongress in Zürich einberufen, zu dem sich über 200 Delegierte, Repräsentanten von Kirchen in 35 verschiedenen Ländern einfanden – ein Spiegel zugleich der weltweit tief veränderten Situation. Auf der einen Seite sind die Folgen der Säkularisierung nicht zu übersehen, auf der anderen Seite steht dem ein Wachstum pfingstlerischer Gruppen, aber auch fundamentalistischer Strömungen gegenüber. Auch sind – vollends seit dem Zweiten Vaticanum – die protestantischen Kirchen und Gruppen nicht mehr Vorreiter, geschweige denn die einzigen Träger der Kirchenreform, so dass man auf katholischer Seite schon fragen konnte, ob denn die Reformation die einzige Antwort auf die Reformbedürftigkeit der Kirche (gewesen) sei.3 Vor allem aber rückt heute ein Problem in den Vordergrund, an dem frühere Jubiläen achtlos vorüber gegangen sind, die „dunklen Seiten“ der Reformation, die tiefen Schatten, welche die Spaltung der Kirche (und bald auch ihrer protestantischen Denominationen) auf Europa geworfen hat: die Intoleranz auf beiden Seiten, die Diskriminierung anders Glaubender und Denkender, die Kriege und Märtyrer-Chroniken, die die Ausbreitung des „reinen“ Evangeliums begleitet haben. Peter Opitz hat unlängst nachdrücklich darauf hingewiesen, dass die Reformatoren, ihrer Zeit und deren Maßstäben verpflichtet, „blinde Flecken“ hatten. Keiner von ihnen hat die christlich nicht zu rechtfertigende barbarische Strafjustiz des 16. Jahrhunderts in Frage gestellt, keiner das Dogma einer territorialen Einheitsreligion angezweifelt, das Dissidenten in der Regel nur die Wahl zwischen Emigration oder Märtyrertod ließ und die von der Antike geerbte Intoleranz noch verschärfte.4 Das anstehende Jubiläum (2017), an dessen Vorbereitung sich heute viele ihrer Nachfahren beteiligen, müsste ein Anlass sein, in theologisch argumentierender Kritik sich dort von den Reformatoren zu distanzieren, wo sie (wie Luther in der Judenfrage) mit ihrem Reden und Handeln ihre eigenen Entdeckungen desavouiert haben. Hier hat auch die reformierte Kirche der Schweiz angesichts ihres Umgangs mit der Täufer-Bewegung namentlich auf Seiten der Mennoniten ein Schuldkonto abzutragen. Doch wo soll der Weg zu einem neuen, besseren Miteinander in Europa beginnen, wenn nicht hier, soll diese Erblast den Blick in die Zukunft nicht länger versperren. Davon soll in diesem Beitrag die Rede sein. 3 Kurt Kardinal Koch, Reformationsgedenken in ökumenischer Sicht, in: P. BosseHuber u.a. (Hg.) 500 Jahre Reformation. Bedeutung und Herausforderung, Zürich/Leipzig 2014, 349. 4 P. Opitz, Der spezifische Beitrag der Schweizer Reformation zur reformatorischen Bewegung, ebd. (Anm.3), 98.
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Die Voraussetzungen, sich dieser Herausforderung zu stellen, scheinen in der Schweiz im ganzen etwas günstiger zu sein als anderswo. Das Projekt „Heilung der Erinnerungen“ (Healing of memories) – offiziell bisher nur bilateral zwischen der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz angelegt – hat dort jedenfalls eine schon Jahrzehnte zurückreichende Tradition. Dafür lassen sich wenigstens zwei Gründe anführen: Zum einen kommen gerade die theologischen Entdeckungen und Einsichten ihrer eigenen Tradition den Anforderungen unserer Zeit in besonderer Weise entgegen. Denn Zwingli hat hier – wirksamer noch als Calvin – die Weichen gestellt. Sein Verständnis des Evangeliums kreist nicht um den Begriff der Rechtfertigung, so dass die Frage der persönlichen, individuellen Aneignung der Gnade alle Aufmerksamkeit auf sich zieht, sie hat ihr Zentrum im Vollzug der Versöhnung, der Wiederherstellung der gestörten Gemeinschaft der Menschen mit Gott, die zwangsläufig auch zu einer „versöhnten“ Gemeinschaft der Menschen untereinander führen muss. Dem „Leutpriester“ (Volkspfarrer) geht es nicht um das eigene Seelenheil, sondern um das der ihm anvertrauten Gemeinde. Zum andern haben gerade deshalb die Initiatoren des Zürcher Kongresses die „Zeichen der Zeit“ besser begriffen und programmatisch erklärt: „Heute wird die Reformation nicht mehr nur über die Wirksamkeit von Luther oder von Zwingli und Calvin in der Schweiz definiert … Sie muss vielmehr als vielfältige und europäische Bewegung verstanden“ und deshalb „im aktuellen Kontext der weltweiten Christenheit neu betrachtet“ werden – mit der Konsequenz: Es kann sich „nicht bloß darum handeln, sich 2017 das Geschehen der Vergangenheit in Erinnerung zu rufen … Wir wollen diese damaligen Entdeckungen für die Christen von heute neu interpretieren.“5 Hinzu kommt ein weiterer Unterschied: Der Grundriss der reformierten Theologie wird nicht durch die Begriffe Gesetz und Evangelium aufgespannt, schon gar nicht in der scharfen lutherischen Antithetik. Die maßgeblichen Größen, die ihr besonderes Profil ausmachen, sind vielmehr die von vornherein auf eine Gemeinschaft zielenden Kategorien „Erwählung“ und „Bund“. Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger hat sie als Manifestationen der göttlichen Liebe begriffen. Die Konsequenzen zeigen sich etwa in der Feier des Abendmahls. Zwingli hat – damals eine Revolution der traditionellen Sakramentsfrömmigkeit – den Ritus des Brotbrechens eingeführt. Denn, so argumentiert er, wenn jeder dem Nächsten das Brot bricht, kann es geschehen, dass zerstrittene Nachbarn sich mit einander versöhnen. Den Abendmahlsausschluss hat er (gegen Calvin) entschieden abgelehnt. Auch die Ehegerichte in Bern und Basel oder das Konsistorium in Genf wollten nicht Schuld gegeneinander aufrechnen, sondern einander im Konflikt fremd gewordene Menschen in der christlichen Gemeinde wieder zusammenführen. Versöhnung ist freilich nur möglich, wo Schuld eingestanden und Recht wiederhergestellt wird – eine Erfahrung, die in der Schweiz tiefe Spuren 5 Ebd. (Anm.3), Einleitung, 10.
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hinterlassen hat. Hier waren es, wie erwähnt, die „Taufgesinnten“, in Sonderheit die Mennoniten, die deren geschichtliches und theologisches Erbe bis heute maßgeblich vertreten, die über Jahrhunderte unter Verfolgung, Repression und Diskriminierung zu leiden hatten. Ihre charaktervollsten Vertreter, in Zürich Felix Manz, mit Konrad Grebel der Gründer des Schweizer Täufertums, in Bern Hans Seckler, Hans Treyer und Heini Seiler, wurden ertränkt. In Bern sind bis 1571 etwa dreißig Hinrichtungen bezeugt, noch ab 1635 sterben in Zürich über zwanzig ihrer Anhänger in Gefängnissen an Misshandlungen und Folter. Andere (man schätzt ihre Zahl auf 300) müssen 1711 nach Konfiszierung ihrer Güter rheinabwärts fliehen. Was dieses Schicksal so einzigartig macht, ist der Umstand, dass es ihnen von Menschen widerfuhr, die mit ihnen die Herkunft aus der Zwinglischen Reformation und das Ziel einer umfassenden kirchlichen und gesellschaftlichen Erneuerung teilten. Es ist der Schweiz, wie dieses Beispiel zeigt, nicht erst seit heute gelungen, ihr reformatorisches Erbe zeitgenössischen Christen zu interpretieren und mit dem von Zwingli freigesetzten Potential der Versöhnung einen Prozess in Gang zu setzen, der von dem bloßen „Duldungsgesetz“ der Helvetischen Verfassung (1799) zu einem intensiven wechselseitigen Austausch und in dessen Folge zu einem neuen geistlichen und dann auch zivilen Miteinander geführt hat. Die ersten offiziellen Kontakte gehen auf die Mennonitische Weltkonferenz in Basel (1925) zurück, auf der die reformierte Seite ihr Bedauern über die vergangenen Verfolgungen zum Ausdruck brachte. Sie wurden nach dem II. Weltkrieg – besonders auf lokaler Ebene – verstärkt aufgenommen, so dass im Rahmen der Fünften Weltkonferenz (1952) bereits im Zürcher Großmünster mit Vertretern der Landeskirche und der Fakultät eine Gedenkfeier für Felix Manz und Konrad Grebel stattfinden konnte.6 Begegnungen zwischen den historischen Friedenskirchen und den Schweizer Volkskirchen (Puidoux-Konferenzen 1955-1962), namentlich das Zusammenwirken des Mennoniten John H. Yoder mit dem reformierten Pfarrer Jean Lasserre, gelten bis heute als ein wichtiger Schritt der Versöhnung, so dass der Berner Synodalrat 1975 die Mennoniten-Gemeinde als „eine Freikirche anerkannte, deren Glaubensbekenntnis und Ziele in allen Hauptpunkten mit den Grundsätzen unserer Kirche vereinbar sind“.7 Der Gottesdienst aus Anlass einer Ausstellung zum 450jährigen Jubiläum der Täufer-Disputation (1538) nimmt die Stichworte der Versöhnung und Vergebung auf: „Dieser Gottesdienst ist ein Zeichen der Treue Gottes, ein Zeichen, dass Versöhnung
in dieser Welt eine Wirklichkeit ist … Schritt für Schritt sind Kirche und Mennoniten einander näher gekommen. … Was es heute unter uns braucht, ist bewusste Versöhnung. Sie ist längst im Gang.“ 6 Ph. Bühler u.a. (Hgg.), Christus ist unser Friede. Schweizer Dialog zwischen Mennoniten und Reformierten 2006-2009, SEK Bern, 2009, 25. 7 Ebd. 27.
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Abgeschlossen ist sie deshalb noch nicht. Der Zürcher Kirchenrat ist zum 500. Geburtstag Heinrich Bullingers, des Verfassers der Zweiten Confessio helvetica (1566), noch einen entscheidenden Schritt weitergegangen und hat sich in aller Form von der in diesem Bekenntnis ausgesprochenen Verurteilung der Wiedertäufer (Art. XX) distanziert: „Die Verfolgung war ein Verrat am Evangelium, unsere Väter haben sich geirrt. Das Urteil im Zweiten Helvetischen Bekenntnis gilt nicht mehr. Wir wollen das Verbindende entdecken und bestärken. Wir anerkennen die Gläubigen der täuferischen Tra8 dition als Schwestern und Brüder.“
Er hat eine dogmatische Hürde niedergerissen und damit den Weg zu einem bilateralen Dialog geebnet, der vom Kirchenbund und der Konferenz der Mennoniten in der Schweiz (KMS) am 2. Juni 2005 beschlossen und seitdem mit Lehrgesprächen über das unterschiedliche Tauf- und Kirchenverständnis beschritten wird. In einem gemeinsam formulierten Gebet um „Versöhnung und Einheit der Christen“, mit dem die Gemeinden diesen Prozess begleiten sollen, heißt es: „Sein (Christi) Wort beruft alle zur Freiheit der Kinder Gottes. Die vor uns glaubten, folgten dem Ruf. Sie fanden zur Gnade, die Gott gewährt Ohne Zutun von Menschenwerk und -macht. Durch Missverständnis und Streit zerbrach ihre Einheit. Mächtige missbrauchten die Macht, verfolgten und töteten Geschwister im Glauben. Hochmut ließ die einen auf die anderen herabsehen. In Wahrheit und Milde schauen wir auf Last und Verheißung unserer Geschichte, 9 sprechen einander los von alter Schuld.“
Der 2006 offiziell eröffnete Dialog-Prozess, aus dessen Akten ich das hier entworfene Bild erstellt habe, hat am 1. Adventssonntag 2009 mit einem festlichen Gottesdienst in der Berner Friedenskirche und der Verabschiedung des Dokuments „Christus ist unser Friede“ seinen Abschluss gefunden. Nach einer Prüfung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede war die Gesprächskommission zu der Überzeugung gekommen, beide Kirchen – Reformierte und Mennoniten – „stünden heute einer Kirchengemeinschaft nahe“.10 In nationalen Rahmen ist der Dialog offiziell nicht weitergeführt worden. Wohl aber haben der Schweizer Evangelische Kirchenbund und die EKD – ein historisches Novum – die Mennoniten offiziell zur Vorbereitung des Reformationsjubiläums (Zürcher Kongress 2013) eingeladen. Einer ihrer Sprecher, Hanspeter Jecker, hat bei dieser Gelegenheit die Erwar8 Zitiert ebd. 88. 9 Der Text ist 2009 im Dialog entstanden, zit. ebd. 97. 10 Ebd. 89.
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tungen und Chancen formuliert, die sich aus der Teilnahme des „radikalen“ täuferischen Flügels für das Jubiläum ergeben könnten. Er erinnert an die „Freiwilligkeit des Glaubens und der Kirchenmitgliedschaft“ als Zeichen der „Nicht-Selbstverständlichkeit des Christseins“ und an die damit gebotene „kritische Distanz zu Staat und Obrigkeit“, die die Bereitschaft einschließt, „ausgeübtes Unrecht“, für viele Menschen ein „Haupthindernis“ des Glaubens, „zu benennen und zu bekennen“. Er mahnt „radikalere und nachhaltigere Formen des Friedensstiftens“ an, betont die „Rolle des Heiligen Geistes […] in allem Werden und Wachsen und in allem Scheitern und Neuanfangen“, und weist wohl mit Recht darauf hin, dass diese Themen für viele Christinnen und Christen in der südlichen Hemisphäre – namentlich für den „neueren Evangelikalismus und die Pfingstbewegungen“, die in diesem Erbe ihre „theologischen und kirchlichen“ Wurzeln sehen – „wahrscheinlich bedeutsamer sein könnten als die bekannten klassischen Fragen der Reformation (Rechtfertigung, freier Wille, Sakramente etc.).“ Nur wenn diese „Stolpersteine“, ein trauriges Manifest der „innerchristlichen Zersplitterung und Uneinigkeit“, nicht übergangen und übersehen werden, sei die Gefahr gebannt, dass das erklärte Ziel des Jubiläums, die „Wiederentdeckung des Evangeliums“, am Ende verfehlt werden könnte.11 Warum, so stellt sich zuletzt die Frage, ist ein ähnlicher Prozess mit der katholischen Kirche der Schweiz bisher nicht zustande gekommen? Es ist eine alte Erfahrung, dass sich zwischen Wollen und Können mitunter ein Abgrund auftut, über den eine Seite nicht meint hinwegkommen zu können. Die Katholiken waren auf dem Zürcher Kongress 2013 durch den Präsidenten des Päpstlichen Rates für die Einheit der Christen, den Schweizer Kardinal Kurt Koch, und die Theologin Johanna Rahner hochrangig vertreten. Deren Beiträge offenbarten ein Dilemma, das zunächst auf römischer Seite aufgelöst werden müsste. Rahner, in diesem Punkt einig mit Koch, geht davon aus, dass der „eigentlich trennende Charakter der Reformation“ den ekklesiologischen Konsequenzen dieser „neuen“ Theologie zuzuschreiben sei. Das vierfache „Allein“ (aus Glaube, aus Gnade …) hätte die Grundlagen der mittelalterlichen Kirche sprengen müssen. Zugleich kann sie sich jedoch der These Otto H. Peschs anschließen, dass „diese je unterschiedlichen Denkformen als komplementäre Verstehens-Modelle zu deuten“ seien. Mit dieser „konfessionell geöffneten Perspektive“ gewinnt sie die Möglichkeit einer veränderten Wahrnehmung der Reformation und kann die Frage zulassen, ob es am Ende nicht doch ein „Heimatrecht des theologischen Anliegens der Reformation in der katholischen Kirche“ geben könnte.12
11 H. Jecker, Gedanken zum Internationalen Kongress zum Reformationsjubiläum, in: P. Bosse-Huber u.a. (Anm.3), 378f. 12 J. Rahner, Reform oder Reformation? Die Konzilien von Trient, Vaticanum I. und II. 11 Thesen, ebd. a.a.O. (Anm. 3), 314. 315 und 318.
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Gegenüber dieser gesprächsoffenen, nachdenklichen Position besteht Koch auf der „sakramental-eucharistischen und episkopalen Grundstruktur der Kirche“, welche die Katholiken mit allen orthodoxen Kirchen teilen. Über das Ziel einer Kirchenreform sei die Reformation des 16. Jahrhunderts weit hinausgegangen und habe „in einem viel radikaleren Sinne zu einer Wesensveränderung“, einem ganz „anderen Typus von Kirche“ geführt.13 Man hat „bewusst auf andere Weise Kirche sein wollen“, hat, wie bereits Walter Kasper erklärte, ein „neues Paradigma“ geschaffen, das sich „durch eine bleibende Grunddifferenz ‚protestantisch‘ vom Katholischen abgrenzt“. Ist das die realistischere Position? In dieser Wahrnehmung stünden sich tatsächlich zwei unterschiedlich profilierte, konfessionell geprägte Verständnisse ökumenischer Einheit „unversöhnt gegenüber“, und man begreift – so gesehen – sogar, dass die protestantische Forderung gegenseitiger Anerkennung am Ende dann „bloß noch“ auf eine „Addition aller vorhandenen Kirchentümer“ hinauslaufen müsste14, aber sicher nicht auf eine theologisch begründbare Einheit. So überrascht es nicht, dass sich, wie ein Protokoll vermerkt, im Kreis der Kongressteilnehmer „keine allzu großen Erwartungen“ auf den Beitrag des Kardinals richteten. Wo aber liegt das Problem? Offenbar darin, dass in diesem Plädoyer für den Gedanken der Versöhnung kein Raum bleibt, ihm vielmehr explizit eine Absage erteilt wird. Denn Versöhnung ist theologisch ohne Christus nicht denkbar. Die hier isoliert beschworene sakramentale Basis ist zu schmal, um ihr Geltung zu verschaffen, es sei denn, man würde im gleichen Atemzug betonen, dass hier nicht die Kirche, sondern Christus der Einladende ist, dessen Präsenz allein eine versöhnte Gemeinschaft schaffen kann, wenn man also mit Paulus gleichsam hinter das Sakrament auf das christologische Fundament der Kirche zurückgeht. Es ist tief bedauerlich, dass – vielleicht nicht nur durch diese römische Absage ausgelöst – sich bis heute (2016: auch im Internet) kein Hinweis darauf finden lässt, dass der Schweizer Evangelische Kirchenbund sich in seinen Jubiläumsvorbereitungen auf das Thema der Versöhnung auch an dieser Front einzulassen gedenkt.
13 K. Kardinal Koch (Anm. 3), 351. 14 Ebd. 353.
Margriet Gosker
500 Jahre Protestantismus in den Niederlanden Vielfalt ist ein Wort, das im Protestantismus gut passt. Zur gleichen Zeit wird die Forderung nach Einheit immer stärker 1. Äpfel, Birnen und Taufwasser Am 19. Juni 1530 schrieb Martin Luther seinem Sohn Hans einen Brief. Er solle viel beten, gut und fleißig lernen und immer sein Bestes tun, dann würde er zugelassen in einen schönen Garten mit leckeren Äpfeln und Birnen.1 Am 25. Januar 1546 schrieb Luther seiner Frau Käthe einen Brief, um ihr zu erklären, warum er nicht rechtzeitig in Eisleben angekommen war. Unterwegs war die Reisegesellschaft – so Luther – einer großen Wiedertäuferin begegnet: der Saale. Der Fluss war voller Wasserwellen und großer Eisschollen, denn es war mitten im Winter, so dass kein Durchkommen war. Luther wusste nicht, dass die Saale so viel Wasser hatte und sich deswegen nicht überbrücken ließ, auch nicht durch schwere Steine. Luther kam einfach nicht rüber.2 Zwei charakteristische Briefe des Mannes, der am 31. Oktober 1517 eine kulturgeschichtliche Bewegung auslöste, die Kirche und Gesellschaft in eine Aufregung versetzte, die wir Reformation nennen. Immer noch werden Apfelbäume mit Luther verbunden, weil er gesagt haben soll, er würde noch heute einen Apfelbaum pflanzen, selbst wenn er wüsste, dass morgen die Welt unterginge. Deswegen der große Luthergarten in Wittenberg, wo man auch Melanchthonbirnen findet.3 Der Baum der protestantischen Kirche in den Niederlanden ist im Jahr 2010 von Pfarrerin Susanne Freytag, der damaligen Präsidentin der EvangelischLutherischen Synode, gepflanzt worden. Nach dem ersten Begießen des Baums sprach sie sie über die Notwendigkeit des Wassers für alles, was wächst und lebt, sowohl physisch wie psychisch.4 Wasser spielte auch für Luther selbst eine große Rolle: das Wasser der Taufe. Durch die Taufe werden Menschen Mitglied der Kirche und haben Teil am Leib Christi. Ich fand es eindrucksvoll zu lesen, dass Luther es wagte, das Wasser 1 M. Luther, Aan Hansje Luther, 19. Juni 1530, in: Door het geloof alleen. Bloemlezing uit zijn werken, vertaald en ingeleid door W.J. Kooiman, Utrecht 1955, 296-298; (W.A. Br. 5,377). 2 M. Luther, Aan Käthe, zijn vrouw, uit Halle, 25 jan. 1546, in: Door het geloof alleen. Bloemlezing uit zijn werken, vertaald en ingeleid door W.J. Kooiman, Utrecht 1955, 312-313 (W.A.Br 11, 269). 3 http://www.luthergarten.de; http://www.ahnu-bad-schoenborn.de/docs/2009/Melanchthon_Birne.pdf 4 Elk Kwartaal, uitgegeven door de Evangelisch-Lutherse Synode, 10 (2010) 3, 24 http://www.elg-stadskanaal.nl/download/ELK1003.pdf.
500 Jahre Protestantismus in den Niederlanden
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der Saale einfach Taufwasser zu nennen. Wüst, aber prächtig, der Fluss. So wie Luther selbst wüst und rüde war, aber ein Prachtkerl, der sich nicht von schweren Steinen aufhalten ließ. Er brach durch mit seiner monumentalen Vision, die bekanntlich auch viele Schattenseiten hatte.5 2. Was macht man in den Niederlanden? Im Jahr 2017 feiern wir auch in den Niederlanden 500 Jahre Protestantismus. Unsere deutschen Nachbarn haben schon viele Aktivitäten entwickelt und wichtige Dokumente veröffentlicht, die auch bei uns besprochen worden sind.6 Es gibt Pilgerwege entlang der großen Lutherstädte, es gibt Bücher, Konzerte und Ausstellungen und sogar ein Luther-PopOratorium.7 In den Niederlanden kommt alles ein wenig langsamer und später, obwohl „Refo500“ schon viel organisiert hat, auch auf internationaler Ebene.8 Zwar haben wir kein Pop-Oratorium, aber jeder ist einge-
5 November 2015 EKD, Erklärung zum Thema „Martin Luther und die Juden – Notwendige Erinnerung zum Reformations-Jubiläum“. Pfarrerin Trinette Verhoeven, die heutige Präsidentin der Evangelisch-Lutherischen Synode in den Niederlanden, publizierte einen Webartikel über Luthers verderbliche Ansichten über die Juden. Was Luther über die Juden und ihre vermeintlichen Lügen schrieb, sei absolut falsch. http://www.protestantsekerk.nl/actueel/Nieuws/nieuwsoverzicht/Paginas/Luthersschaduwzijde.aspx. 6 From Conflict to Communion. Lutheran-Catholic Common Commemoration of the Reformation in 2017, Report of the Lutheran-Roman Catholic Commission on Unity, Leipzig, 2013, 80. Rechtfertigung und Freiheit, 500 Jahre Reformation 2017. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), im Auftrag des Rates der Kirche in Deutschland, herausgegeben vom Kirchenamt der EKD, 4. Auflage, 2015. Der zweite Text ist stark kritisiert worden. Man sagte, der Text sei zu wenig aussagekräftig und hätte zu wenig gesellschaftliche Relevanz. K. Butting, Trost Ohne Gerechtigkeit, in: Junge Kirche 76 (2015) 1, 1-4. U. Duchrow, Die Reformation Radikalisieren, in: Junge Kirche 76 (2015) 1, 42-44. Kardinal W. Kasper war unangenehm überrascht, weil die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ nicht genügend im Text erwähnt wurde. H. Bedford-Strohm, lutherischer Bischof in Bayern, war anderer Meinung, sowie der römisch-katholische Theologe M. Striet. Bischof G. Feige sprach über eine verpasste Chance. P. Neuner hätte es gern gesehen, dass ein römisch-katholischer Theologe hätte mitlesen können. Das hätte seiner Meinung nach einige Fremdaussprachen verhindern können. W. Thönissen, Direktor des Ökumenischen Instituts Paderborn, sprach über eine Annullierung aller ökumenischen Gespräche der letzten 10 Jahre. Seiner Meinung nach versucht der Text nicht die zentralen Ansichten der Reformatoren auf historische Gründe zu rekonstruieren und für den heutigen Tag verständlich zu machen, sondern sie für eine protestantische Orientierung zu instrumentalisieren. http://www.oecumene.nl/documentatie/oecumene-op-maandag/787-gerommel-in-deduitse-oecumene. 7 http://www.Luther-Oratorium.de/. 8 http://www.refo500.nl/en/news/6.
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Margriet Gosker
laden, Mitglied eines großen spontanen Reformations-Chors zu werden.9 So wie Martin Junge, der Generalsekretär des Lutherischen Weltbundes schon sagte, ist der Protestantismus keine einheitliche Bewegung.10 Er hat einen mehrfarbigen Charakter und stellt sich in vielen verschiedenen Kontexten dar. Eine gewisse Angst vor Uniformität ist uns als Protestanten nicht fremd. Vielfalt ist ein Wort, das sicherlich zum Protestantismus gut passt. Und zur gleichen Zeit wird die Forderung nach Einheit immer stärker.11 Wir möchten das Reformationsjubiläum feiern und seiner gedenken. Wir schauen dabei nicht nur in die Vergangenheit zurück, sondern wollen auch die Aktualität des Protestantismus im ökumenischen Kontext in unserem Land feiern. Gerade bei der ökumenischen Zusammenarbeit wächst immer auch das Bewusstsein der eigenen Identität. Wir wollen die eigene Kraft und die Relevanz des lebendigen Protestantismus zeigen, für unsere Zeitgenossen, für die Zukunft, und wir hoffen, dadurch auch unsere ökumenischen Beziehungen wesentlich zu stärken und schärfer zu sehen, was uns als Christen aller Denominationen zusammen verbindet.12 Sonst wäre die glaubwürdige Verkündigung des Evangeliums beschädigt. Wir müssen als christliche Kirchen zusammen glauben, beten und arbeiten in einer fröhlichen ökumenischen Gesinnung. Es ist unsere Berufung, dass wir als Christen zusammen ökumenisch gedenken und feiern, denn es gibt viel mehr, was uns vereint, als was uns von einander trennt, wie schon Papst Johannes XXIII. gesagt hat.13 Es ist wirklich wunderbar, dass Papst Franziskus nach Schweden kommt, damit er beim Reformationsjubiläum mit dabei ist. Ebenso schön ist es, dass die Protestantische Kirche in den Niederlanden und die römisch-katholische Bischofskonferenz in unserem Land am 31. Oktober 2017 zusammen eine Aussage machen werden. Daran wird jetzt gearbeitet und das freut mich sehr.
9 Auf dem Programm steht das klassische Repertoire: Eine feste Burg, das Genfer Psalter, eine (neu komponierte) Reformationskantate, etc. http://www.refo500.nl/news/view/1559/zing-mee-met-het-grootreformatiekoor.html. 10 Martin Junge, To the LWF member churches, 14 October 2015. 11 'Wij kiezen voor eenheid', Dertien geestelijke leiders onderschrijven het Manifest van eenheid, Aalten 2009. 12 Zitat: “the animosity of confessional oppositions harms Christian credibility.” From Conflict to Communion. Lutheran-Catholic Common Commemoration of the Reformation in 2017. Report of the Lutheran - Roman Catholic Commission on Unity, Leipzig, 2013, 15. 13 From Conflict to Communion, p. 8.
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3. Kann man das Reformationsjubiläum eigentlich feiern? Weder Luther noch Calvin wollten die Trennung. Es ist so gelaufen, wie es gelaufen ist. Leider, muss man sagen. Wir können tatsächlich die Trennung der Kirchen nicht feiern. Wenn wir die Kirche als Leib Christi betrachten (1 Kor. 12), dann wissen wir genau, dass Brüche einen Körper verletzen und weh tun. Diese Schmerzen können wir bedauern, aber nicht feiern. Und wenn wir doch feiern, dann bestimmt anders als bei früheren Jahrhundertfeiern der Reformation, weil wir in einer anderen Situation und in einem anderem Kontext leben. Das heißt, dass wir uns auch anders erinnern. „Erinnerung macht die Vergangenheit gegenwärtig. Während die Vergangenheit selbst unveränderlich ist, ist die Präsenz der Vergangenheit in der Gegenwart veränderlich. Mit Blick auf 2017 geht es nicht darum, eine andere Geschichte zu erzählen, sondern darum, diese Geschichte anders zu erzählen“.14 Die Jahrhundertfeier der Reformation wurde 1617 am Vorabend des dreißigjährigen Krieges gefeiert, ein schrecklicher Krieg, mit zahlreichen Opfern. Religionskriege sorgen immer dafür, dass man einander verketzert und die eigene Identität nachdrücklich hervorhebt. Ein Jahrhundert später – 1717 – wurde ein Pfennig geprägt: „Gott vermehr zu seiner Ehr Doktor Luthers reine Lehr!“ 1817 (nach der Französischen Revolution und dem Sturz Napoleons) wurde Luther als deutscher Nationalheld dargestellt und 1917 (inmitten des ersten Weltkriegs) wurde er zusammen mit Bismarck und Hindenburg auf den Schild gehoben – als starker Mann und Vater des deutschen Kaiserreichs.
Wir feiern und gedenken 2017 zum ersten Mal in einer ökumenischen Ära, einer Zeit der Globalisierung und der Säkularisierung. Da gibt es bestimmt eine ganz andere Atmosphäre, und zwar eine Atmosphäre der Bescheidenheit, die uns aber auch neue Chancen bietet. 2017 ist definitiv eine Chance zu feiern, dass durch Gottes Gnade und dank der ökumenischen Bewegung des 20. Jahrhunderts die christlichen Kirchen einander
14 From Conflict to Communion, §16.
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Margriet Gosker
wieder näher gekommen sind, obwohl es die entscheidenden Schritte in Richtung der Einheit noch nicht gegeben hat. Im Jubiläumsjahr 2016 – 2017 sehe ich Chancen, den Reichtum und den Wert des Protestantismus neu zu etablieren. 4. Städte der Reformation Auch in den Niederlanden gibt es Städte der Reformation. „Refo500“ hat sowohl Dordrecht als auch Gouda zur Stadt der Reformation ausgerufen. Die GEKE (Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa) hat Gennep als erste niederländische Stadt der Reformation bezeichnet, etwas ganz Besonderes, weil diese Kleinstadt in einem stark römisch-katholisch geprägten Teil unseres Landes liegt. Gennep hat eine charakteristische Geschichte von Respekt und Toleranz.15 Die Städte Kampen, Woerden und Franeker werden hoffentlich bald folgen. An dem europäischen Stationenweg der EKD sind wir auch beteiligt.16 Reformationsgeschichten gehen durch ganz Europa auf Reisen. Die Städte Deventer (Devotio Moderna, Geert Grote) und Dordrecht (Stadt der berühmten Dordrechter Synode) machen da mit. Ab November 2016 geht es los. Anfang April 2017 kommt dieses Fahrzeug (Geschichtenmobil) in unser Land, um lokale Beziehungen zur Geschichte der Reformation aufzudecken. Und dann geht es weiter nach Mitteldeutschland und mündet in Wittenberg in die Weltausstellung. 5. Estafette entlang der zwölf Provinzen Der feierliche Start des Jubiläumsjahres findet am 31. Oktober 2016 in Amsterdam statt. Jede Provinz in den Niederlanden hat in der Estafette ein eigenes Thema bekommen, das damals aktuell war und es auch heute noch ist. Sola Scriptura ist selbstverständlich ein Thema, womit wir uns aufs Neue beschäftigen. Einmal war es eine spezifisch protestantische Thematik, jetzt aber nicht mehr. Die damaligen spezifisch reformatorischen Themen sind wohl alle ökumenisch überarbeitet worden und aufs Neue dargestellt: Von der Freiheit eines Christenmenschen, Glaubenserneuerung, Semper Reformanda, die eigene individuelle Verantwortung, amazing grace, Pflicht und Berufung, Protestantische Kirchenmusik, Protestantische Spiritualität, Protestantische Querköpfe, und so weiter. Die alte Frage nach der Rechtfertigung aus Glauben allein führte
15 M. Gosker und M. Hoogkamp, Gereformeerden in Gennep waren geen scherpslijpers in: Christelijk Weekblad 63 (2015) 22, 4-5. 16 https://r2017.org/europaeischer-stationenweg/.
500 Jahre Protestantismus in den Niederlanden
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1999 zur „Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre“.17 Über „Simul Justus et Peccator“ existierte bereits im 16. Jahrhundert wesentliche Konvergenz.18 „Soli Deo Gloria“ war nicht nur das Leitwort von Calvin, es war auch das Motto des Ignatius von Loyola.19 Das Amt aller Gläubigen bekam eine neue Perspektive in Vaticanum II, weil nicht nur der Lima-Amtstext mit dem Volk Gottes unterwegs begann, sondern auch die Dogmatische Konstitution Lumen Gentium (1964).20 Was wird nun tatsächlich gefeiert im Jubiläumsjahr 2016–2017? Ich würde sagen: Wir feiern zusammen das Fest des einen Glaubens, den wir geschenkt bekommen haben und der uns alle zusammenbindet in Jesus Christus unserem Herrn. Wir feiern dieses Fest in tiefer Dankbarkeit gegenüber unserem Schöpfer und wir tragen die gute Nachricht des Evangeliums weiter in der Kraft des Heiligen Geistes.
17 http://www.vatican.va/roman_curia/pontifical_councils/chrstuni/documents/rc_pc _chrstuni_doc_31101999_cath-luth-joint-declaration_en.html. 18 Even in the sixteenth century, there was a significant convergence between Lutheran and Catholic positions concerning the need for God's mercy and humans' inability to attain salvation by their own efforts. The Council of Trente clearly taught that the sinner cannot be justified either by law or by human effort (From conflict to communion §119). 19 G. C. Berkouwer, Geloof en rechtvaardiging, Kampen 1949, 55. 20 From Conflict to Communion, §26 en 28. M. Gosker, Het ambt in de oecumenische discussie, de betekenis van de Lima-Ambtstekst voor de voortgang van de oecumene en de doorwerking in de Nederlandse SoW-Kerken, Delft 2000, 88.
Frère Timotei
Der ökumenische Weg der Communauté von Taizé – Rückblick, Betrachtung und Ausblick Ich möchte meinen Vortrag in vier Teile gliedern. In einem ersten Teil möchte ich Personen nennen und Entwicklungen schildern, die den Weg unserer Communauté geprägt haben. Im zweiten Teil möchte ich einige Aspekte dieses Weges näher betrachten, im dritten Reaktionen und Parallelen aufzeigen, und zum Schluss einen kurzen Ausblick versuchen. I. Rückblick: Begegnungen und Entwicklungen 1. Die Großmutter – Marie-Louise Marsauche-Delachaux Frère Roger erzählt in seinen Schriften von unterschiedlichsten Begegnungen. Einmal fragt er einen Priester, von dessen treuem Einsatz für gefangene Frauen er beeindruckt war, ob er eine Großmutter oder Mutter habe, die für ihn bete. Er schließt die Anekdote mit dem Satz: „Es gibt Mütter, die im Leben ihrer Söhne einen unauslöschlichen Eindruck hinterlassen und eine nicht wegzudenkende Stütze sind“1. Wir können davon ausgehen, dass er dabei durchaus auch an seine Familie dachte. Insofern möchte ich zuerst seine Großmutter und seine Mutter nennen. Die Erinnerung an seine Großmutter mütterlicherseits hat Frère Roger entscheidend geprägt. Auf sie verweist er auch, wenn er später seinen eigenen Weg in einer vielzitierten Formulierung2 zusammenfasst. Nachdem ihr Mann 1912 verstorben war, kam sie einige Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs als alte Frau in die Schweiz, um im Elternhaus Frère Rogers mit der Familie zu leben.3 Sie hatte während des Kriegs nördlich von Paris Menschen beherbergt und sich erst im letzten Moment überzeugen lassen, die Gegend zu verlassen.4 Nach dem Krieg sagte sie, wenigstens die Christen, die im Krieg einander bekämpft hatten, müssten etwas zu Versöhnung und Frieden beitragen. Als Zeichen der Versöhnung ging sie, die evangelische Pfarrersfrau, in einer katholischen Kirche beten. Frère Roger schreibt: „Die Tatsache, dass meine Großmutter Menschen aufnahm, die damals schwer zu leiden hatten, und dass sie in sich selbst diesen Schritt der Versöhnung vollzog, hat mich für mein ganzes Leben geprägt.“5 1 Frère Roger: „Gott kann nur lieben“, Herder, Freiburg, 2002, 35. 2 Siehe unten, II. Teil. 3 Laplane, Sabine : „Frère Roger de Taizé – Avec presque rien...“, Les Éditions du Cerf, Paris, 2015, 17f. 4 Frère Roger: Gott kann nur lieben, 62f. 5 Frère Roger, „Die Liebe wählen“, Herder, Freiburg, 2013, 23f.
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2. Die Mutter – Amélie Schutz-Marsauche Auch an seine Mutter erinnert Frère Roger gerne. Er beschreibt sie als eine Mutter, die nie Strenge an den Tag legte. Sie habe dies aus ihrer eigenen Familie gelernt, in der man niemanden lächerlich machen und über niemanden ein hartes Urteil fällen wollte.6 Für Frère Roger war die Quelle dieser Haltung das Verzeihen. Er schreibt: „Das Verzeihen kann unser Herz ändern: Strenges Auftreten, hartes Urteilen verschwinden und lassen unbegrenzter Güte Raum. Und auf einmal liegt uns mehr daran zu verstehen als verstanden zu werden.“7 Mit dieser Haltung war Frère Roger auch in der Kirche und der Ökumene unterwegs. Niemanden verurteilen und den anderen verstehen zu wollen, hat es ihm ermöglicht, für ganz unterschiedliche Menschen offen zu sein. Es hat aber vielleicht auch dazu beigetragen, dass manche Missverständnisse sich nicht haben beilegen lassen. Für ihn war die Evangeliums-gemäße Haltung jedoch eindeutig: „Was nützt es bei jedem Missverständnis herauszufinden, wer recht und wer unrecht gehabt hat. Deine Absichten werden vielleicht entstellt. Verzeih, wenn man dich um Christi willen verleumdet. Du wirst frei sein, unvergleichlich frei. (...) Du verzeihst, nicht um den andern zu ändern, sondern einfach um Christus nachzufolgen.“8 Was diese Haltung Frère Roger auch an inneren Kämpfen gekostet hat, lässt sich gelegentlich aus Anmerkungen in seinen Tagebüchern erahnen.9 Er lässt sich jedoch davon nicht beirren und schreibt, dass die Berufung zur Einheit bis dahin führen könne, dass man für diejenigen betet und diejenigen segnet, die einen verachten, weil sie durch konfessionelle Grenzen von einem getrennt sind. Segnen, sagt er in dem Kontext, heißt gut über den anderen reden, zuerst das Gute im anderen sehen, und im Geheimnis des Herzens den Segen Gottes auf ihn herabrufen.10 Gut über den anderen reden gehörte für Frère Roger zu seiner Art und Weise, den ökumenischen Weg zu gehen, gelernt hat er dies wohl zuallererst von seiner Mutter. 3. Johannes XXIII. Der Mann, den Frère Roger selbst ausdrücklich als Wendepunkt in der Geschichte der Communauté bezeichnet hat, ist Johannes XXIII. Er habe ihn wie einen Vater geliebt.11 Er erzählt vom ersten Kontakt mit ihm 1958, erinnert dankbar an die Offenheit des Papstes für die ökumenische 6 Frère Roger: Die Liebe wählen, S. 14f.; Ders.: Gott kann nur lieben, 49; Ders.: „Eine Ahnung von Freude“, Freiburg, 2006, 26f. 7 Ders.: Gott kann nur lieben, 51. 8 Frère Roger: „Die Quellen von Taizé“, Presses de Taizé, Taizé, 1995, 33/34. 9 Z.B. Frère Roger: Lutte et Contemplation, Ateliers et Presses de Taizé, Taizé, 2015, 268. 10 Frère Roger: Écrits fondateurs, Ateliers et Presses de Taizé, Taizé, 2011, 107. 11 Ders.: Die Liebe wählen, S. 76f.; vgl. Auch Ders.: Gott kann nur lieben, 72f.; und: Eine Ahnung von Glück, 83f.
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Berufung und die Einladung zum Konzil. Seit der ersten Begegnung fühlt er sich verstanden, geliebt. Er schreibt: „Es war für uns wie ein neuer Aufbruch“.12 Vielleicht hörte er auch wie ein Echo der Haltung seiner Großmutter und Mutter, wenn der Papst zur Eröffnung des Konzils sagte: „Wir werden keinen historischen Prozess aufrollen, wir werden nicht untersuchen, wer Unrecht hatte und wer im Recht war. Die Verantwortung ist geteilt. Wir werden einfach sagen: Versöhnen wir uns!“13 Als entscheidenden Punkt für den Weg der Communauté benennt Frère Roger jedoch die letzte Audienz kurz vor dem Tod Johannes’ XXIII.14 Während des Gesprächs beschrieb der Papst die Kirche als bestehend aus „konzentrischen Kreisen, die immer größer werden“, und unterstreicht die Worte mit großen Gesten. Frère Roger zieht daraus die Gewissheit, in den Augen des Papstes zur Kirche zu gehören: „Mit seinen Worten hat er uns gleichsam in die Wirklichkeit der Kirche eingegliedert.“15 Für Frère Roger war dies zeit seines Lebens eine Quelle von Ermutigung und Freude. In der Rückschau konnte er sagen, dass Johannes XXIII. geholfen hatte, „den Schleier, der für [die Brüder] über dem Geheimnis der Kirche lag, ein Stück weit zu heben“.16 Auch einen neuen Blick auf den Dienst des „universalen Hirten“ als einen Dienst der Versöhnung habe er möglich gemacht. In Zeilen, die Frère Roger im hohen Alter schrieb, verbindet er die Erinnerung an Johannes XXIII. mit der Fragestellung, ob nicht für das Vorwärtsgehen des ökumenischen Weges ein universelles Dienstamt unabdingbar sei.17 4. Johannes Paul II. Während Frère Roger seine Dankbarkeit für Johannes XXIII. wie die Liebe zu einem Vater beschreiben konnte, war Johannes Paul II. ein Mann seiner Generation, beziehungsweise ein paar Jahre jünger als Frère Roger. Die beiden waren sich schon begegnet, lange bevor Karol Wojtyła Papst wurde, beim II. Vatikanischen Konzil, in Polen und in Taizé. Wenn man von heute auf die beiden Männer zurückschaut, kommt man nicht umhin, mindestens zwei Gemeinsamkeiten festzustellen: die Reisen auf die verschiedenen Kontinente und die Aufmerksamkeit für die Jugendlichen. In dieser Darstellung des ökumenischen Weges der Communauté erwähne ich Johannes Paul II. jedoch vor allem aufgrund seines Besuchs in Taizé 1986. Das Gelände in der Nähe der Kirche war vorbereitet für die 12 Frère Roger: A la joie je t'invite, Ateliers et Presses de Taizé, Taizé, 2012, 218/219. 13 Ders.: Gott kann nur lieben, 72; Ahnung von Glück, 85. 14 Vgl auch: Laplane, Sabine, 271f. 15 Frère Roger: Die Liebe wählen, 76f. 16 Ebd. 17 Ders.: A la joie je t'invite, 220.
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Hubschrauberlandung, doch dann war der Nebel so dicht, dass der Papst mit dem Auto kam. Der Besuch des Papstes bedeutete für Frère Roger, über die vertrauensvollen Beziehungen mit den aufeinander folgenden Päpsten hinaus, eine ausdrückliche Anerkennung der Communauté und ihres Dienstes für die Jugendlichen. Er fügte den Text der Ansprache des Papstes der Regel, beziehungsweise den Quellen von Taizé, als festen Bestandteil bei.18 Wollte man nur annähernd der Vielfalt der Personen gerecht werden, von denen Frère Roger erzählt und über die er sich dankbar äußert, müsste man noch viele weitere nennen. Im Folgenden möchte ich jedoch Entwicklungen benennen, die den ökumenischen Weg der Communauté bestimmt haben: 5. Gemeinsamer Empfang der Eucharistie In Bezug auf die Eucharistie schreibt Frère Roger 1965: „Allein die Eucharistie, gleichzeitig Quelle und Erfüllung der Einheit, kann uns die übernatürliche Kraft verleihen und uns in die Lage versetzen, auf der Erde unsere Einheit unter Getauften zu verwirklichen.“19 Nach der Ankündigung des II. Vatikanischen Konzils ist die Erwartungshaltung Frère Rogers sehr groß. Nachdem er die Einladung erhalten hat, als Gast des Einheitssekretariates an den Versammlungen teilzunehmen, träumt er davon – im wörtlichen Sinn –, dass beim Konzil die Frage gestellt wird, ob von nun an die Möglichkeit bestünde, nichtrömische Christen, die an die Realpräsenz glauben, zur Eucharistie zuzulassen.20 Gleichzeitig berichtet er seinen Brüdern, wie seine hugenottische Seele jedes Mal einen Sprung macht und jubelt, wenn jemand während der Versammlungen nach größerer Aufmerksamkeit für die Schrift verlangt.21 Die Frage nach möglicher eucharistischer Gemeinschaft stellte Frère Roger auch Paul VI. bei seiner ersten Audienz im Oktober 1963.22 Bis zum Ende des Konzils hatte sich die Stimmung so weit fortentwickelt, dass Kardinal Bea im November 1965 vorschlug, beim Papst nachzufragen, und dass dieser den Brüdern eucharistische Gastfreundschaft gewähren würde. Frère Roger lehnte jedoch eine Lösung, die auf Taizé beschränkt bliebe, spontan und ohne Zögern ab.23 Bewegung kam in die Frage erst wieder Anfang der 70er Jahre. Die Groupe des Dombes, ein Arbeitskreis evangelischer und katholischer Theologen, veröffentlichte 1972 ein Studiendokument zur Abendmahlslehre, und das römische Einheitssekretariat eine Instruktion, die dem 18 Vgl. Laplane, Sabine, 435. 19 Frère Roger: Dynamique du provisoire, Ateliers et Presses de Taizé, Taizé, 2014, 72. 20 Laplane, Sabine, 260. 21 Ebd., 262. 22 Ebd., 281. 23 Ebd., 298.
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Ortsbischof ermöglichte, unter vorsichtiger Abwägung anderen Christen den Zugang zur Eucharistie zu gewähren. Im Vorfeld der Profess des ersten katholischen Bruders in der Communauté fuhren also Frère Roger und einige weitere Brüder gemeinsam mit zwei oder drei befreundeten Ehepaaren zum Ortsbischof nach Autun, wo sie in der Messe das Glaubensbekenntnis von Nizäa sprachen und vom Bischof die Kommunion empfingen. Nach etwas Zögern, auch bedingt durch anfängliche Skepsis des Einheitsrates in Rom, empfingen dann im April 1973 alle Brüder die Kommunion bei einem Gottesdienst in Taizé.24 Dies war der Beginn der Praxis, die sich bis heute fortsetzt. 6. Anerkennung des Dienstamts des Bischofs von Rom Wie wichtig Frère Roger die Anerkennung durch Johannes XXIII. und Johannes Paul II. war, ist schon zur Sprache gekommen. Schon in den ersten Jahren des gemeinsamen Lebens in Taizé suchte er Kontakt nach Rom. Die erste Begegnung kam 1949 mit Pius XII. zustande.25 Hochrangige Vertreter der evangelischen Kirchen Frankreichs standen den Kontakten der Brüder nach Rom oft eher skeptisch gegenüber, einerseits aus Sorge, ob die Communauté wirklich auf dem Boden der reformatorischen Tradition stehe und ihren kirchlichen Organen gegenüber loyal sei, andererseits aus der Sorge, ob Taizé eine Art parallele Diplomatie führen würde und von Rom als der vorrangige evangelische Gesprächspartner angesehen würde. Da Frère Roger andererseits sehr auf seine Eigenständigkeit und die Unabhängigkeit seiner Initiativen bedacht war, führte das immer wieder zu Spannungen und auch Missverständnissen.26 Seine Gedanken zum Dienstamt des Papstes veröffentlichte Frère Roger ein erstes Mal 1965. Er schreibt, die Autorität in der Kirche habe zur Aufgabe, die Einheit hervorzubringen. Wer eine Autoritätsfunktion empfangen habe, sei zuerst Diener. Auch im Mikrokosmos einer christlichen Gemeinschaft habe er die Aufgabe, zu einen, wo nötig zu mahnen und allen den Geist der Barmherzigkeit in Erinnerung zu rufen, ohne den keine christliche Gemeinschaft bestehen kann. Er schließt: „Wenn die Kirche an der Spitze jeder Gemeinschaft nach einem Menschen verlangt, der die Einheit hervorruft, der zusammenführt, was immer wieder auseinander läuft, muss sie dann nicht auch einen Hirten der Hirten und der Gemeinschaften akzeptieren, der unablässig zur Einheit ruft?“27
Anfang der 70er Jahre, auch um die Frage des gemeinsamen Eucharistieempfangs der Brüder vorzubereiten, redete Frère Roger immer wieder
24 Ebd., 375f. 25 Ebd., 172. 26 Z.B. Laplane, Sabine, S. 187; 208ff.; 238. 27 Frère Roger: Dynamique du provisoire, 2014, 56/57.
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öffentlich über die Rolle des „universalen Hirten“28. Ihren Niederschlag fanden die verschiedenen Redebeiträge 1973 in einigen Seiten des Buchs „Lutte et Contemplation“ (Kampf und Kontemplation), in dem Frère Roger die Frage der Notwendigkeit eines pastoralen Einheitsdienstes auf universeller Ebene stellt, um die Ökumene vor einer Blockade zu bewahren.29 Schon 1969, als die ersten Katholiken der Communauté beigetreten waren, hatten die Brüder beim jährlichen Bruderrat festgestellt, dass „die Anwesenheit katholischer Brüder in der Communauté sie veranlasste, in unserem Leben immer mehr die Einheit vorwegzunehmen und uns – so schrieben sie damals – »in Gemeinschaft mit dem zu halten, der das Amt des Dieners der Diener Gottes innehat.“30
Dies hielt Frère Roger jedoch nicht davon ab, den Papst dazu einzuladen, die Gestalt des Amtes zu vereinfachen und glaubensstärkende Gesten von ihm zu erwarten, wie beispielsweise die eucharistische Gastfreundschaft für alle, die an die Realpräsenz Christi in der Eucharistie glauben.31 Eher symbolischer Art ist das Band, das ab 1971 besteht, durch einen „Vertreter des Priors von Taizé beim Heiligen Stuhl“. Frère Roger erwähnt es noch in seinem letzten Buch 200532. Konkret sind es aber die jährlichen Besuche des Priors selbst, die den Kontakt gewährleisten. Ab dem Zeitpunkt, wo katholische Brüder durch die Profess endgültig zur Communauté gehören, verlässt diese die evangelischen Institutionen und definiert sich als ökumenische Gemeinschaft, ohne konfessionelle Zugehörigkeit.33 Dies entspricht der Handlungsfreiheit, die Frère Roger für die Initiativen der Communauté als unabdingbar verteidigt hat. Gleichzeitig war es für ihn entscheidend und verwandte er viel Zeit darauf, mit den Verantwortlichen der unterschiedlichen Kirchen in Kontakt zu stehen, über eigene Initiativen zu informieren, und diese auch im Ernstfall auszusetzen, wenn ihm klar wurde, dass diese von institutioneller Seite nicht akzeptiert würden. Für Frère Roger war immer klar, dass man die Einheit nicht außerhalb oder gegen die Kirchen suchen könnte. Er schreibt: „Wer die Liebe verletzt, baut die Kirche Gottes nicht auf.“34 Er spricht davon, in die Solidarität unter allen Getauften und mit den Institutionen der Kirche einzuwilligen, um Sauerteig zu sein und zur Reform der Institutionen beizutragen.35 28 Laplane, Sabine, 358f. 29 Frère Roger: Lutte et Contemplation, Ateliers et Presses de Taizé, Taizé, 2015, 227ff. 30 Frère Alois: Pilger des Vertrauens, Herder, Freiburg, 2013, 155/156; vgl. auch: Laplane, Sabine, S. 340/341 und: Lutte et Contemplation, 2015, 141 n. 46. 31 Laplane, Sabine, 359/360. 32 Frère Roger: Eine Ahnung von Glück, S. 87; vgl. auch: Laplane, Sabine, 360f. 33 Laplane, Sabine, 377; und: Écrits fondateurs, 119. 34 Frère Roger: Écrits fondateurs, 124. 35 Ders.: Dynamique du provisoire, 2014,53.
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Ich möchte nun zeigen, wie der Empfang der Jugendlichen und das Leben in den Fraternitäten, für Frère Roger mit dem Engagement für die Einheit zusammenhängen. 7. Der Empfang von Jugendlichen Für Frère Roger war die Suche nach sichtbarer Einheit aller Christen nie Selbstzweck. Es ging ihm nicht darum, dass man sich gemeinsam besser fühlt oder stärker ist, sondern es ging ihm darum, wahrhaftig zu sein und einen Ort der Gemeinschaft für alle Menschen zu schaffen.36 Schon gegen Ende des Konzils beginnt er die Gefahr abzusehen, dass die ökumenische Aufbruchsstimmung abflaut, ohne zu konkreten Ergebnissen geführt zu haben. 1965 schreibt er, die Ökumene sei beschränkt geblieben. Er schlägt drei Gesten vor, drei Wege der Einheit, um der Ökumene zu einer ganz neuen Dimension zu verhelfen: den Bruch zwischen Generationen vermeiden; denjenigen begegnen, die nicht glauben können; und: der Welt der Armen nahe sein.37 Als Konsequenz dieser Überzeugung entwickelt sich in Taizé der Empfang der Jugendlichen. Frère Roger sieht einen Zusammenhang zwischen der Einheit und der missionarischen Berufung. Die Einheit sei Vorbedingung der Pastoral.38 Schon als Student hatte Frère Roger Jugendtreffen organisiert. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre kommen erstmals in Taizé größere Zahlen von Jugendlichen zusammen. Die 70er Jahre sind geprägt von der Dynamik rund um ein „Konzil der Jugend“. Der Kontakt mit den Jugendlichen stellt für Frère Roger eine Verpflichtung im Sinne des Einsatzes für die Einheit dar. Er schreibt: „Früher drohten Schismen. Heute ist es die Gleichgültigkeit der Jugendlichen.“39 Und: „Das Wichtige ist heute, den Bruch zwischen den Generationen zu vermeiden. Wie könnten wir sonst im Geist der Katholizität leben?“40 Darin liegt der Anfangsimpuls der bis heute bestehenden Jugendtreffen. Im Rückblick kann Frère Roger 2001 sogar sagen: „ ... blieben die Jugendlichen nicht so nachhaltig den Kirchen fern – es wäre unserer Communauté nicht eingefallen, Jugendliche aufzunehmen ... “.41 Zum anderen erhofft er sich Ende der 60er Jahre von den Jugendlichen neue Impulse für die Kirchen und die Suche nach sichtbarer Einheit. Immer wieder schreibt er, dass die neuen Generationen von konfessionellen Selbstrechtfertigungen genug haben, und sich kaum interessieren werden für eine ökumenische Bewegung, die nur eine zusätzliche Institution neben den schon bestehenden Institutionen darstellt.42 36 Ders.: Lutte et Contemplation, 2015, 206. 37 Ders.:Dynamique du provisoire, 2014, 13-17. 38 Frère Roger: Dynamique du provisoire, 2014, 32. 39 Ebd., 27. 40 Ders.: Lutte et Contemplation, 2015,13. 41 Ders.: Gott kann nur lieben, 70/71. 42 Z.B. Ders.: Dynamique du provisoire, 2014, 24/25.
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Im Geist des Protests, der die Jugendlichen der in die Geschichtsbücher eingegangenen 68er-Generation charakterisierte, sah Frère Roger ein Zeichen der Zeit. Er sagt, es sei nicht selbstverständlich, in der Gewalt, mit der sie sich ausdrücken, ein Wort Gottes zu vernehmen, aber er sieht sich und seine Generation in der Verantwortung den Protest zu analysieren.43 In einem Interview sagt er 1968: „Noch nie haben wir in Taizé so viele Jugendliche empfangen. Wir stoßen bei ihnen immer wieder auf das gleiche Bedürfnis, Kritik zu äußern, aber gleichzeitig sind wir beschenkt worden durch ihre Freundschaft und ihr Verständnis. Ich habe die Überzeugung: Mit ihnen gehen wir auf eine Kirche zu, die eine Gemeinschaft des Teilens sein wird. Wenn die Stunde gekommen ist, wird die Kirche ihrer universellen Berufung gerecht werden. Die Jugendlichen bereiten sich darauf vor.“44 Er machte sich in seinen Büchern zum Echo der Forderungen der Jugendlichen nach Reform und Einheit. Er stellte die rhetorische Frage, ob der Heilige Geist wirklich nur durch die älteren Leute, zu denen er sich selbst rechnet, oder nicht auch durch die jungen Generationen zum Volk Gottes spricht.45 8. Das Leben in Fraternitäten Neben dem Empfang der Jugendlichen bewegt Frère Roger die Frage, wie man der Welt der Armen nahe sein kann. Wie schon gesagt, ist für ihn die Einheit kein Selbstzweck. Wenn die Kirche, die von Natur aus universell ist, ihre innere Einheit, die Einheit aller Getauften sucht, könne sie nicht dabei stehen bleiben. Es gehe vielmehr darum, zu einer universellen Geschwisterlichkeit aller Menschen zu gelangen und ihnen das Licht und die Liebe des Vaters der Menschheitsfamilie mitzuteilen.46 Er sieht in der Existenz der Welt der Armen auf der südlichen Erdhalbkugel einen Aufruf Gottes an die Christen des Westens, der ihnen helfen könne, sich nicht in ihren Gesellschaften des Überflusses zu verschließen, sondern herauszugehen aus dem Prozess der Selbstbezogenheit, der alle altgewordenen Gesellschaften charakterisiere.47 Er findet in dieser Zeit zwei Wege, die Verbindung zwischen den verschiedenen Weltteilen zu intensivieren. Zum einen in einer Solidaritätskollekte, „Operation Hoffnung“ genannt, die Landwirtschaftskooperativen unterstützt und Bibeln druckt. Zum anderen in der Entsendung von Brüdern in Fraternitäten in anderen Erdteilen. Schon in den 50er Jahren waren Brüder von Taizé aus in eine nahe gelegene Stadt gegangen, um 43 Ders.: Lutte et Contemplation, 2015, 13. 44 Ders.: Lutte et Contemplation, 2015, 12. 45 Ders.: Dynamique du provisoire, 2014, 16. 46 Frère Roger: Dynamique du provisoire, 2014, 128. 47 Ebd., 43.
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den Lebensbedingungen der Arbeiter nahe zu sein.48 Nun brachen Brüder vermehrt in andere Kontinente auf. Dies ergab sich für Frère Roger direkt aus der ökumenischen Berufung. 1969 sagt er in einem Interview: „Als ich jung war, machten die Christen in meiner Umgebung auf mich den Eindruck, nur unter sich glücklich zu sein. In Taizé hatten wir immer die Sorge, uns nicht einzuschließen. Wir dachten, dass es nicht möglich sei, unserer ökumenischen Berufung gerecht zu werden, wenn wir alle am gleichen Ort bleiben.“49 Ultimativ geht es ihm darum, einen neuen Beziehungsstil zwischen Norden und Süden zu suchen. Er sucht nach einem Teilen, das nicht auf einer Einbahnstraße stattfindet. Um in Gegenseitigkeit zu leben, brauche es Gesten, damit der Süden kein Produkt des Nordens sei, auch kein spirituelles Produkt des Nordens. Er schlägt vor, im Süden das Genie des Willkommenheißens und des ungetrübten Vertrauens aus dem Evangelium zu suchen, deren Wert in den Konsumgesellschaften nicht mehr anerkannt wird. Die Komplementarität der Kulturen sei unser aller Zukunft.50 Immer wieder macht er sich auch selbst zu Reisen in andere Erdteile auf und setzt sich dafür ein, dass Jugendliche von anderen Kontinenten nach Taizé kommen können. Mit der Zeit gibt es auch Brüder, die aus anderen Kulturen kommen. Die kulturellen Differenzen liegen oft tiefer, als es die konfessionellen Unterschiede von Brüdern aus dem gleichen Land je sein könnten. Diese Erfahrung erweitert die ökumenische Frage über die Frage nach den konfessionellen Unterschieden hinaus. So sind für Frère Roger der Empfang der Jugendlichen und das Leben in den Fraternitäten direkt aus der Suche nach Einheit hervorgegangen. Und er verband damit die Hoffnung auf neue Impulse für die Ökumene.
48 Ders.: Die Liebe wählen, 48. 49 Ders.: Lutte et Contemplation, 2015, 18. 50 Lutte et Contemplation, 2015, 22/23.
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II. Betrachtung: Identität, Vorwegnahme, Austausch Im zweiten Teil möchte ich nun näher betrachten, wie Frère Roger seinen persönlichen Weg und Frère Alois den Weg unserer Communauté zusammenfassend beschreiben. Beim europäischen Treffen in Rom 1980 beschrieb Frère Roger bei seiner Ansprache im Petersdom zum ersten Mal unter Verweis auf das Lebenszeugnis seiner Großmutter seinen Weg in den Worten, die er dann immer wieder aufgegriffen hat: „nach ihr fand ich meine Identität als Christ darin, in mir den Glauben meiner Ursprünge mit dem Geheimnis des Glaubens der katholischen Kirche zu versöhnen, ohne mit irgendjemandem zu brechen.“51 Ich möchte mich einen Moment mit dem Begriff Identität aufhalten. Ich sehe mich nicht in der Lage, einen Überblick über die Zugänge der unterschiedlichen Wissenschaften zum Begriff der Identität zu geben. Aber schon ein Blick ins Lexikon für Theologie und Kirche zeigt, dass die Frage in den letzten Jahrzehnten immer mehr Raum eingenommen hat. Genügte in der 2. Auflage von 1960 noch eine knappe Spalte, um das Stichwort unter rein philosophischen Gesichtspunkten abzuhandeln, nimmt das gleiche Stichwort in der dritten Auflage 1996 schon zweieinhalb Seiten, das heißt den fünffachen Raum, ein und wird unter philosophischen, theologisch-ethischen, praktisch-theologischen und spirituellen Aspekten betrachtet. Wir sind uns heute bewusst, dass ein Mensch, zumindest in der westlichen Welt der Moderne, seine Identität nicht mehr einfach nur übernimmt. Wir definieren uns nicht ausschließlich durch unsere Zugehörigkeit zu einer Nation, einer Religion, einer sozialen Klasse oder einem bestimmten Stand in der Gesellschaft. Das mögen durchaus Faktoren oder Bausteine unserer Identität sein, aber unsere Identität selbst ist uns fraglich geworden. Die Idee einer narrativen Identität, die unter anderem auf Paul Ricœur zurückgeht, geht davon aus, dass wir in der Selbsterzählung, in der Erzählung unseres eigenen Lebens durch Ordnung, Gewichtung, Auslassung, Hervorhebung, etc. selbst Sinn und damit unsere Identität konstruieren. Identität ist daher nichts fest Erworbenes und kann „noch dazu lebensweltlich und situativ unterschiedlich ausfallen.“ Sie muss immer wieder durch Erzählung neu konstruiert werden.52
51 Frère Roger: Gott kann nur lieben, S. 71; Eine Ahnung von Glück, 83; Die Liebe wählen, S. 25; vgl. auch: Laplane, Sabine, 425. 52 Vgl. für einen Überblick den Kolloquiumsbeitrag von Wolfgang Kraus, „Identität als Narration“, http://web.fu-berlin.de/postmoderne psych/berichte3/kraus.htm, (abgerufen 16.1.2016).
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Die evangelische Theologin Beate Bengard hat 2015 eine Studie zur ökumenischen Hermeneutik Paul Ricœurs veröffentlicht53 und verbindet unter anderem seine Ideen von einer narrativen Identität explizit mit ökumenischen Fragestellungen. Die Grundthese des Konzepts der narrativen Identität sei – so Beate Bengard –, „dass ein Mensch oder eine Gemeinschaft für sich und für andere wiedererkennbar wird anhand der Geschichte, die er oder sie über sich selbst erzählt ... Eine solche Identität ... ist in ständiger Bildung, Umformung und auch Auflösung begriffen.“54 Vielleicht haben sich manche von Ihnen zu Beginn gefragt, warum ich all diese Geschichten von Frère Rogers Mutter und Großmutter und von Johannes XXIII. erzählt habe, aber bei Ricœur – immer nach Beate Bengard – wird deutlich, dass es genau diese narrative, das heißt eine erzählende Identität ist, „dieses ,Gemisch von Phantasiegebilde und lebendiger Erfahrung‘, die es ermöglicht, den flüchtigen Charakter des realen Lebens rückblickend zu organisieren und ihm eine Form zu geben, die das Geschehene trotz seiner Brüche und Unwägbarkeiten als notwendig und sinnvoll zu erkennen gibt“.55 So integriert die Erzählung die Vergangenheit, ist aber auch nach vorne offen. Noch einmal Beate Bengard: „Die narrative Identität hat auch eine prospektive Ausrichtung, denn die Relektüre der eigenen Geschichte und der darin unerfüllt gebliebenen Erwartungen wird für das Selbst zu einer Quelle der Gegenwart.“56 Das genannte Zitat Frère Rogers über seine Identität, die er gefunden hat, kann uns also daran erinnern, dass Identität Veränderungen unterworfen und nie etwas Abgeschlossenes, sondern etwas „Prospektives“, etwas nach vorne offenes ist. Frère Rogers Zitat kann uns aber auch an die Notwendigkeit der Begegnung mit dem Anderen erinnern. Auch dafür finden wir ein Echo bei Paul Ricœur. Laut Beate Bengard setzt Ricœur ein Dialogkonzept und eine Weltvorstellung voraus, „die nicht auf Wollen, Besitzen und Besiegen von Identitäten abzielen. Stattdessen wird [...] das Paradigma des Empfangens, der Rezeption und damit des unausgesetzten Dialogs mit dem, was anders ist, stark gemacht.“57 Die Ideen einer prospektiven, in die Zukunft offenen Identität und eines Paradigmas des Empfangens finden wir wieder, wenn Frère Alois über den ökumenischen Weg der Communauté als einen Weg des Vorwegnehmens der Einheit und eines Austauschs der Gaben spricht. 53 Bengard, Beate, Rezeption und Anerkennung – Die ökumenische Hermeneutik von Paul Ricœur im Spiegel aktueller Dialogprozesse in Frankreich, Göttingen, 2015. 54 Ebd., 94. 55 Ebd. 56 Ebd., 96. 57 Ebd., 123.
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Frère Roger hatte in den 70er Jahren eine Zeit lang darüber nachgedacht, ob es in den Kirchen nicht zu einer Ausdrucksform einer „doppelten Zugehörigkeit“ kommen könnte, hat diesen Ausdruck dann aber wieder fallen lassen, als er in den verschiedenen Konfessionen nur Widerstände hervorrief.58 Im Anschluss an Frère Roger59 spricht Frère Alois davon, dass Frère Roger eine Gemeinschaft gegründet habe, die die Einheit vorwegnimmt, die in Christus schon besteht.60 Frère Alois schreibt: „So gründete [Frère Roger], ohne seine Herkunft zu verleugnen, eine Gemeinschaft von Brüdern, deren Wurzeln über den Protestantismus hinaus in der ungeteilten Kirche liegen und die als solche bereits eine unauflösliche Verbindung zur katholischen und orthodoxen Tradition darstellt. [Er] war überzeugt, dass durch eine solche Gemeinschaft die Einheit des Leibes Christi sichtbar werden kann, die wir nicht nur als Ziel vor Augen haben, sondern die in Gott schon besteht. Die Kirche ist gespalten, obwohl sie in ihrem Innersten ungeteilt ist. Im Herzen Gottes ist sie eine Kirche. Wir müssen also Orte schaffen, an denen diese Einheit sichtbar und konkret erfahrbar wird.“61 Diese Orte, an denen die Einheit vorweggenommen und erfahrbar wird, machen dann Dialog und Empfangen, einen „Austausch von Gaben“ möglich. Schon die Gemeinschaft mit Gott vollzieht sich für Frère Alois im Austausch: Gott nimmt unsere menschliche Zerbrechlichkeit an und schenkt uns im Gegenzug den Heiligen Geist, sein eigenes Leben.62 Die Ökumene ist nicht zuerst die Bemühung, die verschiedenen Traditionen in Einklang zu bringen, sondern das Bestreben, in Gemeinschaft mit Gott und mit den Anderen zu leben. Dies setzt eine Läuterung unseres Glaubens voraus, um den jeweils Anderen als Bruder und Schwester im Glauben zu erkennen.63 Auf dieser Grundlage ist es dann möglich, sich von den Gaben der Anderen bereichern zu lassen64 und Orte zu schaffen, an denen die von Gott gestiftete Versöhnung und die in ihm bestehende Einheit sichtbar werden. Dass die Einheit in Gott schon besteht, heißt nicht, dass wir unsererseits wissen können, wie sie aussieht. Auf einer theologischen Tagung in Kiew 2012 verweist Frère Alois auf das Beispiel Johannes des Täufers. Eigentlich könne man nichts bezeugen, was man nicht selbst gehört und gesehen hat, aber Johannes legte Zeugnis schon ab, bevor er Christus kannte. Maria bezeuge den menschgewordenen Christus, Johannes be-
58 Unter anderem: Lutte et Contemplation, 2015, S. 269; vgl. auch Laplane, Sabine, 367/368. 59 Frère Roger: Écrits fondateurs, 119. 60 Ders.: Pilger des Vertrauens, S. 181ff., auch: 154. 61 Ebd., 153. 62 Ebd., 146. 63 Ebd., 149/150. 64 Ebd., 142.
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wahre in der Kirche die eschatologische Dimension auf, die Dimension des Wartens auf Christus, der noch kommen muss.65 Aus seinem Beispiel kann Frère Alois daher ableiten: „Die ungeteilte Kirche ist zwar noch verborgen – wir erwarten sie am jüngsten Tag –, doch wir sind gleichzeitig dazu aufgerufen, sie durch Zeichen sichtbar werden zu lassen.“ Und er zitiert den orthodoxen Metropoliten Johannes Zizioulas: „Die Kirche hat ihre Identität nicht aus dem, was sie ist, sondern aus dem, was sie einmal sein wird.“66 Laut Frère Roger und Frère Alois geht es also auf dem ökumenischen Weg darum, offen zu sein für eine Identität, die in der Zukunft Gottes ihren Ursprung nimmt, dafür schon heute konkret und sichtbar Zeugnis abzulegen, und Gelegenheiten zu schaffen, bei denen die getrennten Christen mit ihren spezifischen Gaben einander gegenseitig bereichern können. III. Zusammenschau: Reaktionen und Parallelen Im dritten Teil möchte ich nun den Worten von Frère Roger und von Frère Alois noch die Worte zweier Kirchenvertreter und zweier Theologen zur Seite stellen. 1. Zwei Kirchenvertreter – Treue zur Herkunft und Offenheit für den anderen Schon früh musste sich Frère Roger des Verdachts erwehren, heimlich zum Katholizismus übergetreten zu sein. 1957 beruhigte Frère Roger einen katholischen Bischof, der über entsprechende Gerüchte beunruhigt war, mit den Worten: „Das geht schon so lange herum“67. Nachdem Frère Roger 2005 bei der Beerdigung Johannes Pauls II. vor den Fernsehkameras der ganzen Welt die Kommunion von Kardinal Ratzinger empfangen hatte, ließ eine französische Tageszeitung die Gerüchte wieder aufleben. Neben einem Interview, in dem Frère Alois dementierte68, gab Kardinal Kasper, damals in seiner Funktion als Präsident des Einheitsrats, ein Interview im Osservatore Romano.69 Kardinal Kasper erinnerte an den Satz Frère Rogers über die Identität, die er dadurch gefunden habe, dass er den Glauben seiner Ursprünge mit dem Geheimnis des Glaubens der katholischen Kirche versöhnt habe, ohne mit irgendjemandem zu brechen. Er schreibt: „Frère Roger wollte tatsächlich niemals mit ,irgendjemandem‘ brechen, aus Motiven, die wesentlich mit seinem Verlangen nach Einheit und mit der ökumenischen 65 Ebd., 182, 184. 66 Ebd., S. 185. 67 Laplane, Sabine, 211. 68 http://www.taize.fr/de_article3885.html (abgerufen 11.1.2016). 69 http://www.taize.fr/de_article8674.html (abgerufen 11.1.2016).
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Berufung der Communauté de Taizé verbunden waren. Aus diesem Grund zog er vor, Begriffe wie ,Übertritt‘ oder ,formeller‘ Beitritt nicht zur Bezeichnung seiner Gemeinschaft mit der Katholischen Kirche zu verwenden. In seinem Bewusstsein war er in das Geheimnis des katholischen Glaubens eingetreten als jemand, der weiter wächst, ohne ,aufgeben‘ oder mit dem ,brechen‘ zu müssen, was er vorher empfangen und gelebt hatte.“ Inzwischen im Ruhestand, stellte Kardinal Kasper im Sommer 2015 bei einem theologischen Symposium zum Beitrag Frère Rogers zum theologischen Denken die Frage, inwieweit dieser Weg auch für andere Christenmenschen gangbar sei. Kasper gibt eine abwägende Antwort. Wenn ich ihn richtig verstehe, sagt er einerseits, dass das Charisma von Gründern religiöser Gemeinschaften kein rein privates Charisma und dass die Reise Frère Rogers schon zum Weg für viele andere geworden sei. Gleichzeitig weist er jedoch auch darauf hin, dass solch ein persönlicher Weg nicht kopiert werden könne und jede und jeder einzelne zu einer Gewissensentscheidung auf seinem und ihrem ganz persönlichen Weg kommen müsse.70 Er schließt mit einigen Worten über Barmherzigkeit: „Barmherzigkeit ist der Ausdruck von Gottes Identität und Treue zu sich selbst, daher hebt sie die Identität der Kirche nicht auf, sondern ist vielmehr das Siegel ihrer Identität. Nur eine barmherzige Kirche, die nicht exklusiv ist und niemanden ausschließt, ist eine Kirche, die mit sich selbst identisch ist. … Wie Papst Franziskus möchte [Frère Roger] eine offene und willkommen-heißende Kirche, die keine Person guten Willens ausschließt. Jeder ist willkommen, ohne mit irgendjemandem zu brechen.“ Auch Laurent Schlumberger, der Vorsitzende der Vereinigten Evangelische Kirche von Frankreich, der bei den Gedenkfeiern im Sommer 2015 in Taizé auch den reformierten Weltbund repräsentierte, nahm implizit darauf Bezug, dass Frère Roger durch die Erweiterung seiner Identität seine Herkunft nicht verneint hat. In einem schönen Spiel mit dem Wort „partir“, das im Französischen sowohl „verlassen“ als auch „von etwas ausgehen“ bedeuten kann, sprach er davon, dass Frère Roger von der reformierten Kirche ausgegangen sei. Nicht in dem Sinn, dass er sie verlassen hätte, sondern dass sie sein Ausgangspunkt gewesen sei für ein Abenteuer, das der universellen Kirche zu Gute komme. Er brachte die Dankbarkeit dafür zum Ausdruck, dass Frère Roger die Verpflichtung zur Katholizität ins Herz seiner Herkunftsfamilie getragen habe. Zur Katholizität als Erweiterung über geographische Grenzen oder konfessionelle Enge hinaus, Erweiterung hinein in die Stille, und Erweiterung zum Aufbau der Einheit.71 Den Aufbau der Einheit vor Gott, die innere Kohärenz und Einfachheit des Menschen, als Gegenteil seiner Gespalten-, Geteilt- oder Doppelheit, 70 http://www.taize.fr/de_article19618.html (abgerufen: 11.1.2016). 71 http://www.taize.fr/fr_article19436.html (abgerufen: 11.1.2016).
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sieht Laurent Schlumberger auch als das Kernanliegen der monastischen Berufung. In einem Beitrag über die Möglichkeit, gleichzeitig evangelisch und Mönch zu sein, sieht er keinen Gegensatz zwischen den Kernanliegen der Reformation und einem vom Verdienstcharakter der Gelübde befreiten Mönchtum. Ja, er spricht sogar von einer analogen Radikalität, in der der Mönch sein ganzes Leben vor Gott stellen will und in der die Reformatoren den Christenmenschen aufrufen, sein ganzes Leben mitten in der Welt vor Gott zu stellen.72 Am Ende erinnert er daran, wie universitäre evangelische Theologen von der monastischen Spiritualität geprägt waren. Zum einen natürlich Dietrich Bonhoeffer. Er zitiert aber auch einen Kenner Karl Barths, Henry Mottu, der sich – etwas erstaunlich – fragt, ob das wirkliche Erbe Barths nicht im gemeinschaftlichen, liturgischen und monastischen Leben liege. Für Walter Kasper und Laurent Schlumberger besteht also kein Gegensatz zwischen Frère Rogers Weg der Erweiterung seiner Identität und seiner Verwurzelung in seiner evangelischen Herkunftstradition. Wenn sich daher 1959 ein Journalist von Le Monde bei einem Besuch in Taizé überrascht zeigt von einem Willen, allem, was die katholische Kirche betrifft, einschließlich ihrer unnachgiebigsten Vertreter, Sympathie entgegenzubringen73, hat das folglich – darin stimmen Walter Kasper und Laurent Schlumberger überein – nichts damit zu tun, dass Frère Roger früher oder später heimlich katholisch geworden sei, sondern dass er die katholische Kirche aus ihrem Inneren heraus verstehen wollte. So erklärt er sich Visser't Hooft, dem Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, der den Kontakten der Brüder mit Rom durchaus skeptisch gegenüberstand. Frère Roger sagte ihm, er wolle sich eines Urteils enthalten, das von außen kommt und von weit und oben herabfällt. Er wolle die Grundlagen, Intentionen und die innere Logik erfassen, um dann das evangelische Gewissensurteil auszudrücken, das auch auf gesunden Grundlagen beruht.74 In diesem Sinn hat er sich auch nie enthalten, den Päpsten seine Erwartungen, Enttäuschungen oder Hoffnungen auszudrücken75. Ich denke, Frère Roger hat sich, dem Beispiel seiner Mutter und Großmutter folgend, eine Haltung angeeignet, die darin besteht, beim Anderen zuerst das Gute zu sehen. Dass dies nicht immer verstanden werden würde, war ihm wohl bewusst. 1962 sagt er zu seinen Brüdern: „Da wir für uns behalten, was wir Anstößiges vom anderen kennen, weil wir uns des Protests enthalten, sagt man uns: Sentimentalökumene.“76
72 http://www.taize.fr/IMG/pdf/schlumberger_en.pdf (abgerufen: 11.1.2016). 73 Laplane, Sabine, 224. 74 Laplane, Sabine, 220. 75 Laplane, Sabine, z.B. S.172, 186, 222; auch: Dynamique du provisoire, 2014, 236/237! 76 Laplane, Sabine, 253.
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2. Zwei Theologen – Bereicherung und Verzicht In der von ihm eingenommenen Haltung liegt jedoch keine Naivität, sondern ein Anspruch des Evangeliums. Folgerichtig lassen sich, selbst wenn Frère Roger sich persönlich kaum am akademischen theologischen Betrieb beteiligt hat, auch dort Paralleln finden. Der deutsche evangelische Theologe Edmund Schlink hat die Haltung und den Anspruch, den Anderen verstehen und das Gute in seinen Anliegen erkennen zu wollen, in seinen eigenen Worten ausgedrückt. Er unterscheidet zwischen den zwei Aufgaben der Erkenntnis der Einheit inmitten der gespaltenen Christenheit und der erst dann möglichen Darstellung der erkannten Einheit in der Herstellung der Kirchengemeinschaft.77 Um zur Erkenntnis der Einheit zu gelangen, fordert er Buße im Hinblick auf die eigene, aber Hoffnung im Hinblick auf die anderen christlichen Gemeinschaften. Er schreibt: „Als solche, die Buße tun, sollten wir uns den anderen christlichen Gemeinschaften
in Liebe und Hoffnung zuwenden. [...] Unter diesem Maßstab [der apostolischen Überlieferung in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit] ist nicht primär zu fragen, was bei den anderen fehlt, sondern nach dem, was dort an Christuszeugnissen und Geistesgaben lebendig ist und bei uns fehlt, was dort in der Mitte geschieht, aber bei uns vielleicht nur ein Randphänomen ist. Statt uns abzugrenzen, sollten wir in solchen Fällen uns öffnen, vom anderen lernen und empfangen.“78
Er sieht darin eine kopernikanische Wende, nicht zuerst nach den „Elementen“ der eigenen Kirche bei den anderen christlichen Gemeinschaften zu fragen und nicht die eigene Gemeinschaft zum Maßstab für die Beurteilung der anderen Kirchen zu machen. Noch einmal in seinen Worten: „Wir haben nicht die anderen mit uns zu vergleichen, sondern wir haben uns mit ihnen zusammen mit dem apostolischen Christuszeugnis zu vergleichen und werden nur so, von Christus her, die eigene und die fremde Wirklichkeit erkennen.“79
Von Christus her uns und die Anderen neu erkennen, das kommt dem nahe, was vorhin über eine Identität gesagt wurde, die in die Zukunft offen ist. Im gemeinsamen Hören auf Christus haben wir vom Anderen etwas zu lernen und zu empfangen. Haben wir aber vielleicht auch etwas aufzugeben? Karl Barth schreibt in der Kirchlichen Dogmatik über die Einheit der Kirche, dass das wirkliche Hören auf die Gegenwart Christi zu einer Krisis des kirchlichen Sonderbewusstseins führen müsse, vergleichbar mit der Feuerprobe in 1. Korinther 3. Zugegeben: Für ihn hört jeder erst 77 Schlink, Edmund, Ökumenische Dogmatik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, 2005, 684. 78 Ebd., 695. 79 Ebd., 696.
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einmal auf Christus von seinem eigenen Ort aus und auf seine eigene Art und Weise, aber wenn ich Barth richtig verstehe, wird er dadurch auch geöffnet werden für die Existenz des Anderen und dafür sich von ihm etwas sagen zu lassen.80 Und ja, jeder hat dann auch etwas aufzugeben. In Barths eigenen unnachahmlichen Worten: „Unberührt, unverändert, unerneuert, zu reinem Verharren ermächtigt, wird keine Sonderkirche aus dieser Feuerprobe hervorgehen: irgendetwas von Holz und Heu und Stroh wird dabei notwendig geopfert werden müssen. Es ist aber auch – immer im Blick auf die Verheißung des Herrn – nicht nur wahrscheinlich, sondern sicher, dass irgend etwas von Gold, Silber und Edelsteinen sich überall erhalten und bewähren wird. Wird das dann an einem Ort Bleibende dem am anderen Ort Bleibenden, auch wenn seine Gestalt hier und dort noch immer nicht einfach dieselbe sein sollte, nicht doch so nahe und ähnlich sein, dass man sich faktisch auf beiden Seiten auch positiv auf dem Weg zur Einheit befindet und sich auch gegenseitig als auf diesem Weg befindlich erkennen wird? Man verschließe sich dann nur die Augen nicht davor! Und vor allem: man höre dann nur nicht auf, sich auf diesem Weg weiter zu bewegen!“81
Das schließt für mich den Bogen zu Johannes dem Täufer, den ich vorhin erwähnte, als demjenigen, der Zeugnis ablegt, von etwas, das noch kommen muss. Er bewahrt in der Kirche die Dimension des Wartens auf, er ist aber auch derjenige, der sagt: „Schon ist die Axt an die Wurzel der Bäume gelegt; jeder Baum, der keine gute Frucht hervorbringt, wird umgehauen und ins Feuer geworfen ... Er [der nach mir kommt] wird euch mit dem Heiligen Geist und mit Feuer taufen. Schon hält er die Schaufel in der Hand; er wird die Spreu vom Weizen trennen und den Weizen in seine Scheune bringen; die Spreu aber wird er in nie erlöschendem Feuer verbrennen.“ (Mt 3,10-12) Johannes der Täufer bewahrt in der Kirche die Dimension des Wartens und den Ruf zur Umkehr, den Ruf, schon heute aus der nahegekommenen Zukunft Gottes zu leben, im Heute Gottes und das Heute als Provisorium. Frère Roger spricht in den folgenden Zeilen zur Communauté, aber wäre dies nicht auch eine Haltung für die Kirchen und für jeden Einzelnen? Er schreibt: „Was in Taizé unsere Besonderheit ausmacht, muss vielleicht eines Tages verschwinden ... Die größte Bedrohung wäre uns selbst zu genügen ... Gibt es Versöhnung ohne Verzicht auf beiden Seiten? Am Tag der sichtbaren Einheit wird doch ein Teil von uns sterben müssen.“
Und er verweist aufs Weizenkorn, das sterben muss.82 Frère Roger denkt dabei an Äußerlichkeiten, wie liturgische Formen, vielleicht aber eben 80 Barth, Karl: Kirchliche Dogmatik IV/1, Evangelischer Verlag AG. Zollikon, Zürich, 1953, 761ff. 81 Ebd., 765. 82 Écrits fondateurs, S. 129/130; vgl. auch: Dynamique du provisoire, 2014, 80.
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auch an innere Haltungen, wie die Selbstgenügsamkeit. Das Wesentliche des gemeinsamen Engagements bleibt ganz im Sinne von Karl Barths Bild des Golds und der Edelsteine bestehen. Gemeinsam mit Edmund Schlink und Karl Barth können wir also feststellen, dass der immer neuen Entfaltung der eigenen Identität in Begegnung und Auseinandersetzung mit dem Anderen sowohl ein Moment des Empfangens als auch ein Moment des Verzichts zu eigen ist. IV. Ausblick Zum Schluss, was ist es dann, das bei all der Offenheit für die Zukunft das Wesentliche und die Kontinuität der Communauté und ihres ökumenischen Weges ausmacht? Frère Roger sagte den Brüdern beim Bruderrat 1969: „Unsere Spezifizität als Gemeinschaft ist unsere Einheit. Was wir sagen oder tun, sagen oder tun auch andere. Aber das gelebte Gleichnis der Einheit ist die Berufung, die unsere Communauté gemäß ihres eigenen Charismas verwirklicht. Unsere Spezifizität ist es, [unter uns] die Einheit zu leben, um die Kirche und alle Menschen dazu aufzurufen.“83 Immer wieder sagt er, um andere zur Einheit zu rufen, gehe es zuerst darum, täglich untereinander die Einheit zu verwirklichen.84 Doch es gibt einen zweiten Aspekt: „Wir wollen die Versöhnung der Christen leben, die so wesentlich zum Evangelium gehört, und gleichzeitig Menschen nahe sein, die Schweres durchmachen. Andernfalls würden wir nur um uns selbst kreisen.“85 Die Grundhaltung dabei ist, den Anderen, wer er auch sei, verstehen zu wollen. Und „Verstehen heißt hier nicht mehr nur die Positionen des Gegenübers von Grund auf kennen, sondern danach streben, die Beweggründe, die Entfaltungen und Schlussfolgerungen zu lieben. Die Position des Nächsten in ihrer Entwicklung im Lauf der Kirchengeschichte zu lieben. Versuchen, in sein Gebet einzutreten, in sein Nachdenken, erkennen, warum dieser Nächste anders denkt und anders betet als ich.“86 Frère Roger hatte nie Angst, dabei seine eigene Identität zu verlieren. Beate Bengard, die in ihrer Studie auch auf Taizé eingeht, hat Recht, wenn sie schreibt, dass wir uns in Taizé auf eine Dynamik einlassen wollen, die einen Verzicht auf Bekanntes und eine Auseinandersetzung mit dem Neuen fordert, dass die Freude am Identitätsgewinn größer ist als die Angst vor dem Identitätsverlust.87
83 Frère Roger: Lutte et Contemplation, 2015, 94/95. 84 Frère Roger: Écrits fondateurs, S. 121; Lutte et Contemplation, 2015, 192. 85 Ders.: Die Liebe wählen, 45. 86 Ders.: Vivre l'aujourd'hui de Dieu, Ateliers et Presses de Taizé, Taizé, 2013, 63. 87 Bengard, Beate, 310.
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Unser alltägliches Leben als Gemeinschaft von Brüdern jeden Alters, aus verschiedenen Konfessionen und unterschiedlichen Kulturen, bestärkt uns, unseren Weg in dieser Haltung immer weiter zu gehen. Auch die Erfahrungen mit unseren Gästen, den Jugendlichen, den Erwachsenen, die sie begleiten, oder wie bei den Gedenkfeiern 2015, mit den Verantwortungsträgern aus den verschiedenen Kirchen, ermutigen uns dazu. Sie geben uns auch den Mut, andere auf den Weg der Versöhnung einzuladen, den Frère Roger vorgelebt hat, der jedem einzelnen offen steht und uns allen Herausforderung sein kann, alle Selbstgenügsamkeit und Selbstgerechtigkeit, alle Abgrenzungstendenzen und Identitätsherausstellungen hinter uns zu lassen. In diesem Sinn hat Frère Alois in den letzten Jahren immer wieder dazu eingeladen, dass die Christen sich schon heute unter ein Dach begeben, auch bevor alle theologischen Formulierungen geklärt sind. Er stellt immer wieder die Frage, ob in der Kirchengeschichte das Leben nicht stets den Texten vorausgegangen sei. Zusammen unter einem Dach zu beten, ist aus unserer Sicht überall heute schon eine Möglichkeit, die Einheit zumindest kurzzeitig aufscheinen zu lassen, voneinander zu lernen, die eigene Identität und die der anderen neu zu erkennen und sie gemeinsam von Christus her zu empfangen. Dies lässt auch durchscheinen, dass für Frère Roger die Quelle all seiner Haltungen im Gebet lag. Ich habe versäumt, dies deutlicher herauszustellen. Ich bitte darum mir dieses Versäumnis nachzusehen, und danke für Ihre Aufmerksamkeit.
4 Konkretisierungen – Ökumenische Praxis
Wolfgang Stoffels
Ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort – ein bewährtes Modell I. Der gemeinsame Gottesdienst als Schlüsselereignis Eine katholische, eine evangelische und vielleicht auch eine freikirchliche Gemeinde am selben Ort vereinbaren eine Partnerschaft miteinander. Warum? Vorläufer sind die Bundesschlüsse, mit denen in Großbritannien evangelische Kirchengemeinden unterschiedlicher Konfession seit den 1980er Jahren gemeinsam auf gesellschaftliche Herausforderungen vor Ort geantwortet haben. Hier ging und geht es vorrangig um Kooperation, um eine gemeinsame soziale Projektarbeit. Das ist eine gute angelsächsische Tradition – auch in der Ökumene. In Deutschland akzentuieren wir anders. Unser ökumenisches Schlüsselthema ist der Gottesdienst, der gemeinsame Gottesdienst. Nicht von ungefähr reiben wir uns an den Fragen wechselseitiger eucharistischer Gastfreundschaft wund. Wir wollen Zusammenarbeit, gewiss; vor allem aber und zuerst wollen wir geistliches Zusammenleben. Seit der Una-Sancta-Bewegung im Dritten Reich und in der Nachkriegszeit ist das so. 1. Die Dynamik gottesdienstlicher Erfahrungen Ein ökumenischer Gottesdienst ist weit mehr als eine Kooperationsveranstaltung. Hier wird die eine Kirche Christi aus verschiedenen Kirchen hörend, betend und singend durch das eine Wort Gottes versammelt, damit unter diesem Wort gemeinsames geistliches Leben keimt, wächst und aufblüht. Ein ökumenischer Gottesdienst ist spirituelles Ursprungsgeschehen. Er kann überraschende Entwicklungen freisetzen. Was kann in gemeinsamen Gottesdiensten alles geistlich wachsen! Keimendes, sprießendes geistliches Leben füllt nicht mehr nur den Raum eingespielter, anerkannter Kirchlichkeit und Ökumene, es schafft selber neuen Raum, neue Spielräume. Taizé ist ein solcher dynamischer gemeinsamer Lebensort, ebenso die gelebte Nachbarschaft zweier Gemeinden. Da kommen eingespielte Grenzziehungen, Identitäten und Profile ins Wanken. Ökumene bekommt etwas Vorwärtsdrängendes. Soll eine Partnerschaft diese Dynamik fördern, sie sogar verbindlich machen? „Oben“ bei den Kirchenleitungen, kann dies geradezu Ängste wecken: eine „wilde“ Ökumene. Diese anfänglichen Ängste haben sich inzwischen verloren. Eine geprüfte und genehmigte Partnerschaftsvereinbarung befriedet durchaus das häufig angespannte Verhältnis zwischen Hierarchie und Basis. Sie schafft in der Vertikalen Klarheit und Vertrauen. Aber sie bleibt in der Horizontalen auch das andere: nämlich Verpflichtung, unbeirrt weiter nach vorne zu drängen, immer mehr geistlich
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verantwortbare Einheit zu realisieren und ganze Gemeinden dabei mitzunehmen – und in großer Beharrlichkeit und Geduld auch die Kirchenleitungen. 2. Face-to-face-Ökumene Doch stehen nicht katholisch-evangelische Gemeindepartnerschaften unter einem großen Vorbehalt: „Ihr seid nicht Kirche im eigentlichen Sinne.“ Dieses römische Votum aus dem Jahre 2000 hat vor Ort verstört. Mit guten Gründen. Wir feiern ökumenische Gottesdienste. Was geschieht da? Feiert da eine Kirche im eigentlichen Sinne mit einer Kirche im uneigentlichen Sinne zusammen? Wie blicken wir uns da im Angesicht des dreieinigen Gottes einander in die Augen? Wie hören wir da aufeinander? Doch wohl als Brüder und Schwestern, als Bruder- und Schwestergemeinde und -kirche. Wir nehmen uns an, wie Christus uns angenommen hat. Wir erkennen einander an. In jedem gemeinsamen Gottesdienst leben und feiern wir diese gegenseitige Annahme und Anerkennung – und mag in der großen Ökumene der Anerkennungsstreit zwischen den Kirchen weiterhin noch so toben. Heute wird von evangelischer Seite gerne eine Ökumene „auf gleicher Augenhöhe“ angemahnt. „Auf gleicher Augenhöhe“ – das heißt doch: Wir beäugen uns, wir vergleichen uns, wir schätzen uns ein, wir profilieren uns in Konkurrenz zueinander, unsere Blicke werden zum Tribunal. Es ist die Sprache der Distanz, die Sprache der Angst. Wir sind voreinander auf der Hut. Wir gucken uns von der Seite an, eben im Profil, und gucken uns nicht mehr in die Augen. Vor Ort realisieren wir etwas ganz anderes. Wir realisieren eine face-to-face Ökumene. Wir beäugen uns nicht, messen nicht die Augenhöhen, sondern blicken uns in die Augen, blicken in des Anderen Gesicht mit seinen unverwechselbaren Gesichtszügen und Konturen, offen, unverstellt, angstfrei, erwartungsvoll. Was können wir einander geben, was können wir voneinander lernen, welchen Segen empfange ich von der andern Kirche und Gemeinde? So feiern wir unsere gemeinsamen Gottesdienste – und irgendwann ist es dann nicht nur die gemeinsame Kanzel und die gemeinsame Kniebank, sondern endlich der gemeinsame Tisch, an dem ungeteilter Segen uns vereinigt. 3. Ökumene des Vertrauens Wie urteilen wir jetzt übereinander? Der Hexenverteidiger Friedrich Spee hat 1631 ein Epoche machendes Buch geschrieben. Sein Titel: „Cautio criminalis“. Wir brauchen eine ökumenische cautio criminalis, „eine Vorsicht, eine Behutsamkeit im Verdächtigen, Beschuldigen, Verurteilen“, eine Vorsicht im Urteil übereinander. Unser eigenes Urteil darf die andere Kirche nicht ausgrenzen, sondern muss uns ihr öffnen, haben sich doch die Kirchen gemeinsam auf den Weg aufeinander zu gemacht, und dies (wie das Ökumenismusdekret des Zweiten Vatikanum sagt)
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„unter Einwirkung der Gnade des Heiligen Geistes“. Vielleicht ist der Heilige Geist mit der andern Kirche ja schon weiter, als wir es wahrnehmen, und unser Urteil trifft schon längst nicht mehr die geistliche Wirklichkeit der anderen Kirche. Nicht mit den Augen des Verdachtes, der alles Mögliche in den Partner hineinprojiziert, sondern mit den Augen des Vertrauens blicken wir uns an, des Vertrauens in die Führung des Heiligen Geistes. Vertrauen! Wir geben dem Partner zu verstehen: „Du andere Kirche, auch du bist Kirche, nur bist du anders Kirche.“ Vorsicht im Urteil übereinander, Vertrauen – auch bei den Motiven einer Partnerschaftsvereinbarung! Eine Partnerschaftsvereinbarung kann auch zum Instrument des Misstrauens werden. Welche Maßnahmen ergreifen wir, wenn ein Partner ausschert, oder wenn ein künftiger Pharao nichts mehr von Josef weiß, wenn der neue Pfarrer oder Kaplan in der Zählung der Vatikanischen Konzilien bei Nr. 1 stehen geblieben ist oder der Antichrist mal wieder in Rom residiert? Ich kenne eine Partnerschaftsvereinbarung, der ein Annex beigefügt ist, eine Geschäftsordnung. Bei „nachhaltiger Behinderung der ökumenischen Zusammenarbeit“ werden da Ausschlüsse angedroht. So nicht! Eine Partnerschaftsvereinbarung ist für alle weitere gemeinsame Zukunft ein Dokument des Vertrauens. Sie bindet – in aller Freiheit und Freiwilligkeit, aber sie kann nichts erzwingen. Halten wir fest! Zum einen: Wo der gemeinsam erlebte Gottesdienst immer wieder neu zur unerschöpflichen Quelle von Ökumene wird, da kann es gar nicht ausbleiben, dass Ökumene dringend und drängend wird. Ganz von selbst wird sie sich an Widerständen abarbeiten müssen. Sie wird zu einer streitbaren Ökumene. Zum anderen: Im gemeinsam gefeierten Gottesdienst begegnen sich die Kirchen ohne Wenn und Aber als Kirche Jesu Christi. Sie nehmen einander an und erkennen einander an. Sie vertrauen einander, weil sie sich gemeinsam der Führung des Heiligen Geistes anvertrauen. Schließlich: Cautio criminalis! Im Urteil übereinander sind sie behutsam, dafür umso lernbereiter. „Du andere Kirche, auch du bist Kirche, nur bist du anders Kirche.“ Das ist die Basisformel für jede Gemeindepartnerschaft. II. Praktische und theologische Gründe Warum – aus welchen praktischen und theologischen Gründen – sollte die gewachsene Nachbarschaft vor Ort die Gestalt einer vereinbarten Partnerschaft bekommen? Wenigstens vier Gründe seien genannt. 1. Eine Partnerschaftsvereinbarung entlastet. Es muss nicht jedes Jahr alles von neuem ausgehandelt werden, sondern das Vereinbarte wird einfach fortgeschrieben. Wir werden damit zugleich frei für Innovationen. Viele Gemeinden haben diese Erfahrung bereits gemacht. Die Vereinbarungen haben ökumenische Wachstumsschübe ausgelöst.
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2. Eine Vereinbarung sichert das Erreichte – im Blick auf Störfaktoren von außen und innen, im Blick auf Stimmungsschwankungen in den Gemeinden, im Blick auf die nachwachsenden Generationen, im Blick auf die allgegenwärtigen Umstrukturierungen im Gefüge der Gemeinden. Eine Vereinbarung stabilisiert das Erreichte und schafft auf höherem Niveau eine Basis, auf der man Ökumene weiterbauen kann. Sichert? Stabilisiert? Papier ist geduldig, Endstation Archiv. Es muss Menschen geben, die eine Vereinbarung immer wieder neu mit Leben füllen, Ereignisse, die sie immer wieder präsent machen und präsent halten, Jubiläen zum Beispiel. Jede nachwachsende Generation, auch Theologengeneration, fragt neu und anders. Und doch: Eine Vereinbarung schafft in all diesen Wechseln Verlässlichkeit, den roten Faden. Es gibt eben in beiden Gemeinden Menschen, die halten durch, und darum kann man sich an sie halten. Unsere Gemeinden werden z. Z. von irritierenden Umbrüchen geradezu heimgesucht: Bildung von Großgemeinden in beiden Kirchen, verbunden mit dem Verlust von Pfarrstellen; Kirchengebäude werden geschlossen, Gottesdienststätten verschwinden von der Stadt- und Landkarte. Für den Einzelnen, für die einzelne Gruppe verlieren die Gemeinden ihre Heimat gebende Überschaubarkeit. Machen wir uns nichts vor: Hier werden Gemeindeglieder und Gruppen entwurzelt. Auch gewachsene Ökumene wird entwurzelt. Ökumene im Nahbereich, verpflichtende Nachbarschaftsökumene – zehrt sie nicht aus? Degeneriert nicht die Partnerschaft zur Nischenpartnerschaft? Welche Bedeutung hat die lokal bedeutsame Partnerschaft für die neue Großgemeinde? Die Nachhaltigkeit unserer Vereinbarungen ist zur echten Frage geworden, mancherorts zur Überlebensfrage. 3. Eine Partnerschaftsvereinbarung soll nicht nur einzelne Personen und einzelne Gruppen binden, sondern ganze Gemeinden. Das ist geradezu die Pointe vereinbarter Partnerschaft, der Qualitätssprung gegenüber früherer Beliebigkeit. Darum sollte eine Vereinbarung zuvor in allen Kreisen und Einrichtungen diskutiert und am Ende in einem gemeinsamen Festgottesdienst von den anwesenden Gemeindegliedern mit unterschrieben werden. Jetzt aber in den Großgemeinden? Machen sie sich die gewachsenen Partnerschaften verbindlich zu Eigen? Es ist kein Geheimnis: Nicht nur in der Vertikalen – zwischen oben und unten – gibt es unterschiedliche ökumenische Geschwindigkeiten, sondern auch vor Ort. In den Großgemeinden muss eine verbindliche Ökumene der Nähe manchmal ganz neu erstritten werden. Sie hat es schwer, vielleicht sogar schwerer als früher. Denn sie bewegt sich nicht nur in der Grauzone undurchschaubar gewordener Ungeordnetheit. Die Großgemeinden sind viel zu sehr mit sich selber und ihren gefräßigen Problemen beschäftigt. Tut uns doch bitte nicht auch noch die Ökumene an! Ökumene, die durch die Partnerschaftsvereinbarung zur
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Dimension des ganzen Gemeindelebens werden sollte, droht wieder zu einem bloßen Segment, zu einem bloßen Teilbereich zu werden. Wir sind schon froh, wenn wir eingespielte ökumenische Veranstaltungen weiterführen können – in der Hoffnung auf bessere Zeiten, wenn die Großgemeinden zu sich gefunden haben. 4. Dass der Abschluss einer Partnerschaft ein Ereignis mit öffentlicher Wirkung ist, mit Signalfunktion nach innen und außen, das dem öffentlichen Ärgernis der Trennung das öffentliche Gegenzeichen von Einheit entgegensetzt – viele Gemeinden haben es so erlebt, vor allem, wenn sie in die öffentliche Inszenierung dieses Ereignisses Sorgfalt, Phantasie und Esprit gelegt haben. Sie haben jetzt ein ökumenisches Image, von der Mehrheit, auch von der nichtkirchlichen Mehrheit begrüßt. Und erstaunlich: Dieses Image hält sich beharrlicher, als die mannigfachen kirchlichen Einbrüche und Rückzüge der letzten Jahre es rechtfertigen. Dieses ökumenische Image erzeugt einen Erwartungsdruck. Wir können jetzt nicht einfach die Ökumene reduzieren. III. Kernpunkte Mit der Erarbeitung einer Partnerschaftsvereinbarung haben wir die Chance, dem Miteinander am Ort eine Struktur, eine Konzeption zu geben. Es genügt nicht, die zufällig gewachsenen Gemeinsamkeiten zwischen zwei Gemeinden zu addieren und die Addition verbindlich zu machen. Die Ökumene am Ort sollte – endlich – ein konzeptionelles Gerüst erhalten. Vor Ort sind wir nicht die Kuschelökumene, die sich verpflichtend daran erfreut, wie sehr wir uns mögen, und die in ihren eigenen Aktionismus verpflichtend verliebt ist. Vor Ort haben wir klare Aufgaben und feste Ziele. In einer Zeit, in der beide Kirchen ihre Selbstreduktion verantwortlich gestalten müssen, müssen wir auch in der Gemeindeökumene nach den Prioritäten fragen, müssen wir zwischen dem Unverzichtbaren, Dringlichen und Wünschbaren unterscheiden. Tun wir das nicht, dann pflegen wir am Ende nur noch unser eigenes ökumenisches Milieu, und was wir tun, verliert sich in Beliebigkeit. Muten wir uns die Anstrengung konzeptioneller Arbeit zu! Eine Partnerschaft bekommt dann Format und Substanz. Neben aller Beziehungsarbeit ist die Konzeption das Pfund, mit dem wir in unseren Großgemeinden wuchern können, das uns Gewicht und Stimme gibt. Wer eine Konzeption hat, ist in der Offensive. Eine einheitliche Konzeption für alle Gemeinden ist dabei nicht erforderlich. Wir brauchen die Vielfalt von Konzeptionen, so vielfältig, wie die Gemeinden vielfältig sind. Aber es gibt – neben und in den sehr unterschiedlichen gemeinsamen Projekten – auch Essentials. Sieben seien genannt:
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1. Ökumenische Gottesdienste als Mitte, angefangen bei den Kindern, Kindertagesstätten, Schulen, über die Jugendlichen hin zu den Erwachsenen; daneben die anderen Formen geistlichen Zusammenlebens. 2. Begegnungen: Begegnungen zwischen den Arbeitsfeldern, zwischen Gruppen und Kreisen, die zu Partnergruppen, Partnerkreisen werden; Beziehungsarbeit. 3. Gemeinsames Bibelgespräch. 4. Bildungsarbeit: Ökumene braucht Bildung. Wir wollen nicht nur fühlen, wir müssen auch wissen, wer der andere ist. Wir müssen sehr viel mehr voneinander wissen. Wir brauchen gerade vor Ort eine nachdenkliche Ökumene, die auch über ihre eigenen Gründe immer wieder nachdenkt. Ohne diese Nachdenklichkeit wäre sie schierer Aktionismus. 5. Ökumene der Herzen. Wollen wir die Einheit der Kirchen stark machen, dann müssen wir nicht nur die Köpfe, sondern auch die Herzen erreichen. Wir müssen den Leuten Ökumene lieb machen – und in der Seelsorge die schon geschenkte Einheit spürbar machen. Ökumene am Ort ist seelsorgliche Ökumene. Wie, wenn nicht in gemeinsamer pastoraler Sorge um die ihr anvertrauten Menschen, kann Ökumene überhaupt glaubwürdig werden? Da ruht aller Streit um das eigene Profil und um die gegenseitige Anerkennung. 6. Die Öffentlichkeit braucht unser gemeinsames Zeugnis: nicht nur gemeinsame Open-Air-Gottesdienste oder immer wieder auch gemeinsame Öffentlichkeitsarbeit, sondern unsere gemeinsame Stimme, wenn Flüchtlingsheime brennen. Auf aktuelle Herausforderungen in unserem gesellschaftlichen Umfeld antworten wir gemeinsam – mit Wort und Tat. Die englischen Gemeinden mit ihren örtlichen Bundesschlüssen machen es uns vor. 7. In der großen Ökumene ist in den letzten Jahrzehnten ein Wort zum theologischen Schlüsselwort geworden: Die Kirche Christi ist koinonia, communio, Gemeinschaft. Was meint überhaupt Gemeinschaft? Vor Ort können und sollen wir das immer wieder neu ausloten in einer Nähe und Vitalität, die den anderen ökumenischen Ebenen, die weithin Sachebenen sind, fehlt. Vor Ort teilen wir miteinander Leben, geistlich und leiblich. Wir leben im Austausch untereinander, wir lassen die andere Gemeinde teilnehmen an unserem Leben, wir haben vieles miteinander gemeinsam, wir haben geistliche Gütergemeinschaft. So beschreibt die Apostelgeschichte die pfingstliche Urgemeinde in Jerusalem.
Ökumenische Gemeindepartnerschaften am Ort
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IV. Flankierende Maßnahmen Zur Zeit herrscht die berechtigte Sorge, die lokalen Nachbarschaften, zu verbindlichen Partnerschaften verdichtet, könnten innerhalb der Großgemeinden, die alle Kräfte beanspruchen, so auszehren, dass sie auf Dauer verschwinden. Damit das nicht eintritt, brauchen wir flankierende Maßnahmen. 1. Innerhalb der Großgemeinden brennt das ökumenische Feuer mancherorts ja nur sehr schwach, wenn es denn überhaupt brennt. Manche verwechseln immer noch „ökumenisch“ mit „ökonomisch“. Innerhalb einer Region, eines Kirchenkreises, eines Dekanats sollten darum gemeinsam ökumenische Standards erarbeitet werden, auf die sich alle katholischen und evangelischen Gemeinden verpflichten. Nicht alle Gemeinden können Partnerschaften eingehen, aber auf solche gemeinsamen Standards können sie sich verbindlich einigen. Es wäre eine wirksame Stütze der lokalen Partnerschaften. 2. Wenn wirklich zu befürchten ist, dass in den Großgemeinden Nachbarschaftsökumene sich zur Nischenökumene zurückentwickelt, dann sollte es auf jeden Fall innerhalb einer Region, eines Kirchenkreises, eines Dekanats ökumenische Leuchttürme geben, Kirchen, Gemeindezentren, in denen das ökumenische Leben nur so sprudelt: neben den konfessionellen Citykirchen, Jugendkirchen, Diakoniekirchen, Kulturkirchen, Profilkirchen, auch weithin sichtbare gemeinsame katholischevangelische Lebensorte der Begegnung und des gemeinsamen Lebens, auch des gemeinsamen gottesdienstlichen Lebens. V. Impulse Sechs Impulse für die Ökumene vor Ort möchte ich zusammenfassend geben: 1. „Ihr seid nicht Gemeinde im eigentlichen Sinn.“ Ein solches Urteil darf es vor Ort nicht geben. Cautio criminalis, Behutsamkeit und Vorsicht im Urteil übereinander! 2. Vor Ort hat die gemeinsame pastorale Sorge um Christen und Nichtchristen den Vorrang vor allem Streit um ekklesiale Identität und Anerkennung. 3. Die Gemeinden sind der bevorzugte Ort, eine ökumenische Kultur der Nähe zu pflegen und zu stärken. „Nehmt einander an, wie Christus uns angenommen hat!“ (Römer 15,7)
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4. Katholische und evangelische Gemeinden vor Ort sind mehr als eine Arbeitsgemeinschaft. Sie sind geistliche Lebensgemeinschaft, die sich untereinander austauscht und ergänzt, einander teilgibt und gemeinsames Leben miteinander teilt. 5. Wird Ökumene am Ort in dieser Urteilsoffenheit, seelsorglichen Empathie, Lebensnähe und Gütergemeinschaft gelebt, hat sie alle Verheißung, zur Stätte immer tieferer Begegnung zu werden: Im Gesicht der andern, andersartigen Kirche blickt mich Christus an, in ihrer Stimme höre ich seine Stimme – und in ihrem Mahl empfange ich sein Mahl. 6. Die Ökumene am Ort braucht institutionelle Stützen: Innerhalb eines Kirchenkreises, einer Stadt, einer Region sind für die Gemeinden gemeinsame ökumenische Standards zu entwickeln und verbindlich zu machen. Bestimmte Kirchen einer Region sollten zu ökumenischen „Leuchttürmen“ werden: zu Lebensorten, in denen das Volk Gottes aus den verschiedenen Kirchen eine gemeinsame Herberge findet. Wo möglich, sollte gute ökumenische Nachbarschaft zu verbindlich vereinbarter Partnerschaft verdichtet werden.
Albert Gerhards
Die beiden Versöhnungshochgebete der römischkatholischen Kirche zum Heiligen Jahr 1975 Das Jahrzehnt nach der Verabschiedung der Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils am 4. Dezember 1963 war geprägt durch eine rege Produktion liturgischer Texte, darunter auch neuer Eucharistischer Hochgebete. So wies das 1970 erstmals edierte neue Missale Romanum neben dem althergebrachten Römischen Messkanon drei neue Eucharistische Hochgebete auf. Infolgedessen wurde gefordert, darüber hinaus weitere Hochgebete entweder für die gesamte Kirche oder für Teilkirchen zuzulassen. Anfang der siebziger Jahre wurden Hochgebete für Messfeiern mit Kindern geschaffen, denen sich zwei Hochgebete zum Thema Versöhnung zugesellten. Diese waren für die Feier des Heiligen Jahres 1975 gedacht. Erzbischof Annibale Bugnini, verantwortlicher Sekretär der Gottesdienstkongregation, beschreibt in seiner autobiographischen Monographie „Die Liturgiereform“ das zähe Ringen um die Erlaubnis dieser zusätzlichen Eucharistiegebete. Das Bestreben, der Unterschiedlichkeit der liturgischen Versammlungen und Anlässe weltweit Rechnung zu tragen, wurde von der Glaubenskongregation torpediert. So schrieb sie am 7. März 1974: „Da ein großes, die Glaubenslehre betreffendes Durcheinander in Sachen Liturgie herrscht, drückt dieses Heilige Dikasterium seine große Sorge aus angesichts der Vermehrung der Eucharistischen Hochgebete, die Vorspiel und Ermunterung zu anderen Gesuchen dieser Art sein wird, denen man sich dann schwerlich entziehen kann.“ 1 Trotz dieser kurialen Widerstände konnten schließlich doch drei Kinderhochgebete und zwei Versöhnungshochgebete zugelassen und an die Bischofskonferenzen zur Übersetzung versandt werden, wobei von den beiden Versöhnungshochgebeten nur eines ausgewählt werden sollte.2 Sie durften erst ad experimentum für drei Jahre verwendet werden, wobei die Zulassung um weitere drei Jahre ausgedehnt und schließlich ohne Beschränkung verlängert wurde. Jedoch war mit der Zulassung neuer Hochgebete die Arbeit der Kongregation und damit die schöpferische Phase der Liturgiereform beendet. Die Beschränkung auf eines der beiden Versöhnungshochgebete wurde zwar bald wieder aufgehoben, doch machten die Bischöfe im deutschsprachigen Raum keinen Gebrauch von der Möglichkeit, beide Texte zu approbieren. Man konzentrierte sich auf das zweite Hochgebet, das auf 1 Annibale Bugnini, Die Liturgiereform 1948-1975. Zeugnis und Testament, Freiburg-Basel-Wien 1988, 511. 2 Vgl. ebd. 514.
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einen in deutscher Sprache verfassten Grundtext zurückgeht, während das erste aus dem französischsprachigen Sprachraum stammt. Heinrich Rennings, der das zweite Versöhnungshochgebete verfasst hatte,3 kommentierte den Text in dem von ihm und Andreas Heinz im Jahr 1992 herausgegebenen, Balthasar Fischer gewidmeten Sammelband „Gratias agamus, Studien zum eucharistischen Hochgebet.“4 In demselben Band legte Irmgard Pahl eine Übersetzung und einen Kommentar zum ersten Versöhnungshochgebet vor.5 Die Autorin und der Autor plädieren gleichermaßen dafür, nicht nur das bislang unbeachtete erste Hochgebet im deutschen Sprachraum zu verwenden, sondern überdies beide Hochgebete definitiv in das deutsche Messbuch zu übernehmen. Im Folgenden werden beide Hochgebete kommentiert, zunächst das zweite, da es das bisher einzige in der römisch-katholischen Kirche im deutschen Sprachgebiet zugelassene ist. Text des 2. Versöhnungshochgebetes PRÄFATION EINLEITUNG-DIALOG Priester: Der Herr sei mit euch. Antwort: Und mit deinem Geist Priester: Erhebet die Herzen Antwort: Wir haben sie beim Herrn Priester: Lasset uns danken dem Herrn, unserm Gott Antwort: Das ist würdig und recht Wir danken dir, Gott, allmächtiger Vater, und preisen dich für dein Wirken in dieser Welt durch unseren Herrn Jesus Christus: Denn inmitten einer Menschheit, die gespalten und zerrissen ist, erfahren wir, daß du Bereitschaft zur Versöhnung schenkst. Dein Geist bewegt die Herzen, wenn Feinde wieder miteinander sprechen. Gegner sich die Hände reichen und Völker einen Weg zueinander suchen. Dein Werk ist es wenn der Wille zum Frieden den Streit beendet, Verzeihung den Haß überwindet und Rache der Vergebung weicht. Darum können wir nicht aufhören, dir zu danken und dich zu preisen. 3 Vgl. Martin Klöckener, Ein Leben im Dienst der Liturgie. Zum Gedenken an Heinrich Rennings († 3.10.1994) mit der Bibliographie seiner Schriften ab dem Jahre 1986, in: LJ 445.1995,66. 4 Heinrich Rennings, Votivhochgebet Versöhnung II, in: Andreas Heinz/ Heinrich Rennings (Hg.), Gratias Agamus. Studien zum eucharistischen Hochgebet, FreiburgBasel-Wien 1992, 407-426. 5 Irmgard Pahl, Das erste Versöhnungshochgebet, in: Gratias agamus (s. Anm. 4), 355-368.
Die beiden Versöhnungshochgebete zum Heiligen Jahr 1975 Wir stimmen ein in den Lobgesang der Chöre des Himmels, die ohne Ende rufen: SANCTUS Heilig, heilig, heilig Gott, Herr aller Mächte und Gewalten. Erfüllt sind Himmel und Erde von deiner Herrlichkeit. Hosanna in der Höhe. Hochgelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe. POST-SANCTUS Herr aller Mächte und Gewalten, gepriesen bist du in deinem Sohn Jesus Christus, der in deinem Namen gekommen ist. Er ist dein rettendes Wort für uns Menschen. Er ist die Hand, die du den Sündern entgegenstreckst. Er ist der Weg, auf dem dein Friede zu uns kommt. Gott, unser Vater, als wir Menschen uns von dir abgewandt hatten, hast du uns durch deinen Sohn zurückgeholt. Du hast ihn in den Tod gegeben, damit wir zu dir und zueinander finden. EPIKLESE I Darum feiern wir die Versöhnung, die Christus uns erwirkt hat, und bitten dich: Heilige diese Gaben durch deinen Geist, da wir nun den Auftrag deines Sohnes erfüllen. EINSETZUNGSBERICHT Denn bevor er sein Leben hingab, um uns zu befreien, nahm er beim Mahl das Brot in seine Hände, dankte dir, brach es, reichte es seinen Jüngern und sprach: Nehmet und esset alle davon: Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Ebenso nahm er nach dem Mahl den Kelch, dankte wiederum, reichte ihn seinen Jüngern und sprach: Nehmet und trinket alle daraus: Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes, mein Blut, das für euch und für alle vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Tut dies zu meinem Gedächtnis. AKKLAMATION Priester: Geheimnis des Glaubens: Antwort: Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.
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ANAMNESE – DARBRINGUNG Herr, unser Gott, Dein Sohn hat uns dieses Vermächtnis seiner Liebe anvertraut. In der Gedächtnisfeier seines Todes und seiner Auferstehung bringen wir dar, was du uns gegeben hast: das Opfer der Versöhnung. EPIKLESE II Wir bitten dich, nimm auch uns an in deinem Sohn und schenke uns in diesem Mahl den Geist, den er verheißen hat den Geist der Einheit, der wegnimmt, was trennt (INTERZESSIONEN) und der uns zusammenhält in der Gemeinschaft mit unserem Papst N., unserem Bischof N., mit allen Bischöfen und mit deinem ganzen Volk. Mach deine Kirche zum Zeichen der Einheit unter den Menschen und zum Werkzeug deines Friedens. Wie du uns hier am Tisch deines Sohnes versammelt hast, in Gemeinschaft mit der seligen Jungfrau und Gottesmutter Maria und allen Heiligen, so sammle die Menschen aller Rassen und Sprachen, aller Schichten und Gruppen zum Gastmahl der ewigen Versöhnung in der neuen Welt deines immerwährenden Friedens durch unseren Herrn Jesus Christus. DOXOLOGIE Durch ihn und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit. Antwort: AMEN.
Rennings überschreibt das Hochgebet mit „Das Lied vom Versöhnung schenkenden Gott“ und teilt es in zwei Strophen ein: die Präfation mit dem Sanctus und alles, was darauf folgt. Das Besondere der Präfation besteht darin, dass nicht wie sonst üblich Gottes Heilswirken in der Vergangenheit zur Sprache kommt, sondern Gottes gegenwärtiges Wirken in der Welt. Anders als die eher weltabgewandte klassische römische Liturgie dies tut, wird der Zustand dieser Welt realistisch beschrieben. Als Rennings seinen Kommentar schrieb, war zwar die Ost-West-Spannung gerade überwunden, doch weist dieser Text gerade aus heutiger Perspektive eine neue Aktualität auf. Bemerkenswert daran ist schon die sprachliche Struktur, die das Thema Versöhnung in zwei Strophen rhythmisch entfaltet: dein Geist bewegt die Herzen … , dein Werk ist es, … Rennings resümiert: „Wer den Text aufmerksam liest, wird keine Spuren einer gesellschaftlichen Utopie finden. Es wird nirgends behauptet, die versöhnte Welt sei schon jetzt Realität oder ließe sich durch den Menschen schaffen. Vielmehr erscheint es
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als ein Glaubensbekenntnis: Wann immer und wo immer Suche – und es gibt sie – um Versöhnung zu entdecken ist, sehen die Christen den dreifaltigen Gott am Werk. Weil sie davon überzeugt sind, können sie nicht schweigen, sondern stimmen ein in die unaufhörliche Danksagung und Preisung des dreimalheiligen Gottes durch alle Vollendeten.“6 Nach diesem trinitarischen Auftakt in der Präfation ist der auf das Sanctus folgende Abschnitt christologisch zentriert. Hier geht es um die Christus-Anamnese, in dem Gottes Versöhnungshandeln Geschichte geworden ist. Deutlich wird in dem Text, dass Versöhnung nicht ein menschlicher Akt ist, sondern von Gott selber bewirkt wird, der die Menschen durch seinen Sohn zurückholt. Dadurch erst wird Versöhnung der Menschen untereinander möglich. In diesem Sinne können die Christen die Versöhnung feiern, wovon am Ende des Abschnitts die Rede ist, der nun mit einer knappen Heiligungsbitte (Epiklese) in die Abendmahlsworte überleitet. Zu Beginn der Abendmahlsworte ist nicht nur vom Leiden und Sterben Christi die Rede, sondern vom Ziel des Opfers Jesu, nämlich von der Befreiung der Menschen. Im Kelchwort wird die Lobpreisung spezifiziert als Lobpreis des Erbarmens Gottes, ein im von Papst Franziskus ausgerufenen Jahr der Barmherzigkeit 2016 durchaus aktueller Gedanke. Die an die Einsetzungsworte und die Akklamation anschließende sog. spezielle Anamnese mit der Darbringungsaussage ist ebenfalls sehr knapp gefasst. Sie macht deutlich, dass das, was die Kirche anbieten kann, nichts anderes ist, als was sie selbst von Gott empfangen hat: das Vermächtnis seiner Liebe. Die folgende sog. Kommunionsepiklese greift den Gedanken der Annahme auf und leitet ihn über in die Bitte um den Geist, der Einheit und Versöhnung schenkt. In diesen Gedanken der Einheit wird auch die Bitte für die Kirche eingeschlossen. Die Kirche soll zum Zeichen der Einheit und zum Werkzeug des Friedens Gottes in der Welt werden. Damit wird der Blick über die Kommunikanten, ja über die Kirchengemeinschaft hinaus auf die ganze Menschheit gerichtet. Dies wird noch einmal konkretisiert im letzten Abschnitt vor der Schlussdoxologie, der alle Menschen ohne Unterschied einbezieht und deren Heil in einen eschatologischen Kontext stellt. Der italienische Theologe Enrico Mazza merkte 1984 zu diesem Hochgebet an: „Gewöhnlich ist man mit nachlassender Aufmerksamkeit und Teilnahme am Hochgebet zugegen. Es handelt sich um einen der Punkte mit geringerer Teilnahme. Das zweite Versöhnungshochgebet ist ein Glücksfall, der eine Ausnahme von dieser Regel bildet. In der Versammlung stellt man eine greifbare Steigerung der Aufmerksamkeit fest, eine neue Spannung, wenn die Worte dieses Gebets die Anwesenden zu berühren und ihr Interesse zu wecken beginnen.“7 Auch nach über 406 Rennings (s. Anm. 4) 413 f. 7 Enrico Mazza, Le odierne preghiere eucaristiche, 1/ Struttura, Teologia, Fonti, Bologna 1984, 237.
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jährigem Gebrauch hat dieser Text nichts an Kraft verloren. Er überzeugt einerseits nicht zuletzt aufgrund seiner gedanklichen und sprachlichen Prägnanz, andererseits ist das hier zugrunde gelegte Thema und die Art und Weise, wie es zur Sprache kommt, von einer bestürzenden Aktualität. Das Gebet eignet sich zudem für eine homiletische Erschließung (vgl. die Beispiele von 1981 im Anhang). Aufgrund der Weite der Perspektive kann dieses Hochgebet durchaus auch als ein ökumenisches Gebet verstanden werden. Die alt-katholische Kirche hat es in modifizierter Form (z.B. ohne die Darbringungsformel in der Anamnese und selbstverständlich ohne Nennung des Papstes) in ihr Eucharistiebuch übernommen, leider jedoch unter Verzicht auf die zugehörige wertvolle Präfation.8 Votivhochgebet Versöhnung I Das erste der beiden Hochgebete wurde in viele landesssprachliche Liturgien übernommen, nicht aber in die des deutschen Sprachraums. Im Folgenden ist der lateinische Text mit der in einigen Punkten abweichenden Übersetzung von Irmgard Pahl aus dem Jahr 1992 abgedruckt.9 Text des 1. Versöhnungshochgebetes WƌĞdžĞƵĐŚĂƌŝƐƚŝĐĂ/ ƉƌŽŵŝƐƐŝƐĚĞƌĞĐŽŶĐŝůŝĂƚŝŽŶĞ ϭsĞƌĞĚŝŐŶƵŵĞƚŝƵƐƚƵŵĞƐƚ͕ ϮŽŵŝŶĞ͕ƐĂŶĐƚĞWĞƚĞƌ͕ ϯŶŽƐƚŝďŝŐƌĂƚŝĂƐĂŐĞƌĞ͘ ϰYƵŝĂĚĂďƵŶĚĂŶƚŝŽƌĞŵǀŝƚĂŵŶŽƐ ƉƌŽǀŽĐĂƌĞŶŽŶĚĞƐŝŶŝƐ ϱĞƚ͕ĐƵŵƐŝƐĞƵƐďŽŶŝƚĂƚŝƐĞƚŵŝƐĞƌŝĐŽƌͲ ĚŝĂĞ͕ ϲǀĞŶŝĂŵŽĨĨĞƌĞƉĞƌƐĞǀĞƌƐ ϳĂĐƉĞĐĐĂƚŽƌĞƐŝŶǀŝƚĂƐ ϴƵƚƐĞƚƵĂĞƐŽůƵŵŝŶĚƵůŐĞŶƚŝĂĞĨŝĚĞŶƚĞƐ ĐŽŵŵŝƚƚĂŶƚ͘ ϵEĞƋƵĞĂǀĞƌƐƵƐĂŶŽďŝƐ͕
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8 Eucharistiegebet XVII, in: Die Feier der Eucharistie im Katholischen Bistum der Alt-Katholiken in Deutschland. Für den gottesdienstlichen Gebrauch erarbeitet durch die Liturgische Kommission und herausgegeben durch Bischof und Synodalvertretung, Bonn 2006, 352-355. 9 Pahl (s. Anm. 5) 362-365.
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