Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung: Zugleich ein Beitrag zum ultima ratio-Prinzip [1 ed.] 9783428506446, 9783428106448

Dietmar Höffner liefert mit diesem Werk einen Beitrag zur Entkriminalisierungsdiskussion des Strafrechts. Er untersucht

113 14 19MB

German Pages 196 Year 2003

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Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung: Zugleich ein Beitrag zum ultima ratio-Prinzip [1 ed.]
 9783428506446, 9783428106448

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DIETMAR HÖFFNER

Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (t) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg

Herausgegeben von Dr. Dr. h. c. (Breslau) Friedrich-Christian Schroeder ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 150

Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortung des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung Zugleich ein Beitrag zum ultima ratio-Prinzip

Von

Dietmar Höffner

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Felix Herzog, Berlin

Die Juristische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin hat diese Arbeit im Jahre 2000 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrutbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-10644-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 €9

Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation angenommen. Die Abhandlung ist als ein Beitrag zur Entkriminalisierungsdiskussion im Bereich des Wirtschaftsstrafrechts konzipiert. Rechtsprechung und Literatur haben bis Ende 2001 Berücksichtigung gefunden. Mein Dank gilt all denen, die zum Gelingen dieser Arbeit beigetragen haben. Mein vorzüglichster Dank gilt meinem Doktorvater Professor Dr. Felix Herzog. Er hat die verschlungenen Pfade, die zur Fertigstellung der Abhandlung führten, verständnisvoll verfolgt und die Entstehung der Arbeit mit viel menschlichem und fachlichem Beistand gefördert. Professor Dr. Cristoph G. Paulus hat innerhalb kurzer Zeit das Zweitgutachten erstellt. Den Herren Professoren Dres. Friedrich-Christian Schroeder und Eberhard Schmidhäuser danke ich für die Aufnahme in die Reihe Strafrechtliche Abhandlungen neue Folge. Besonderer Dank gilt meinen Eltern, deren aufopferungs volle Unterstützung meine Ausbildung und meinen Einsatz für diese Arbeit ermöglichte. Berlin, Februar 2002

Dietmar Höffner

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem ................................

16

A. Herkunft..............................................................................

16

B. Die Aufgabe des Strafrechts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Zu den absoluten Straftheorien .................................................. 20 11. Zu den relativen Straftheorien ................................................... 21

c.

Zur Funktion des Haftungsrechts .................................................. I. Ausgleichsfunktion .............................................................. 11. Prävention!Rechtsgüterschutz ...................................................

22 22 24

D. Zusammenfassung...................................................................

25

Erster Teil Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit des GmbH-Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung

27

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages .............. . .... . ................ 28 I. Sinn und Zweck der Pflicht ...................................................... 28 11. Entstehung der Insolvenzantragspflicht ............. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 1. Zahlungsunfähigkeit .......................................................... 29 2. Überschuldung................................................................ 32 3. Subjektive Voraussetzungen.................................................. 35 a) Der Ansatzpunkt.......................................................... 36 b) Der Sorgfaltsmaßstab für den Pflichtinhalt ............................... 36 c) Die Dreiwochenfrist ...................................................... 37 (1) Beginn................................................................ 37 (2) Bedeutung der Dreiwochenfrist ...................................... 40 B. Zivilrechtliche Haftung: § 823 Abs.2 BGB ......................................... I. Die Anspruchsgrundlage § 823 Abs. 2 BGB ..................................... 11. Voraussetzungen des § 823 Abs.2 BGB ......................................... 1. Verstoß gegen ein Schutzgesetz .............................................. 2. Schutzgesetzcharakter des § 64 Abs. 1 GmbHG .............................. a) Persönlicher Schutzbereich: Einbeziehung der Gläubiger. . . . . . .. . . .. . . . . b) Sachlicher Umfang: Quotenschaden ...................................... c) Rechtsprechungsänderung: Ersatz des negativen Interesses.............. 3. Rechtswidrigkeit .............................................................. 4. Verschulden ...................................................................

41 41 42 42 43 44 45 46 48 48

8

Inhaltsverzeichnis a) Verschuldensmaßstab des § 64 Abs. 1 GmbHG ........................... 49 b) Gegenstand ............................................................... 50 III. Rechtsfolge: Schadenersatz. . . .... . . . . .. .. .. . . . . .. . . . . . .. . . . ... . . ... . . . . . . . . ... . . 51 1. Altgläubiger .................................................................. 51 2. Neugläubiger ................................................................. 52 IV. Prinzipien der Anspruchsdurchsetzung .......................................... 52 1. Die Prozessmaximen des Zivilprozesses ..................................... 52 a) Dispositionsgrundsatz .................................................... 52 b) Verhandlungsgrundsatz ................................................... 53 2. Beweis- und Darlegungslast .............. . ....... . ....... . ................... 53 a) Überschuldung............................................................ 54 b) Verschulden............................................................... 56 3. Informationsmöglichkeiten des Gläubigers. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56

C. Strafrechtliche Verantwortlichkeit................................................. I. Die Vorschrift des § 84 Abs. 1 Nr.2, Abs. 2 GmbHG ............................ 1. Rechtsgut/Schutzrichtung..................................................... 2. Rechtsnatur ................................................................... a) Abstraktes Gefährdungsdelikt ............................................ b) UnterlassungsdeIikt....................................................... c) Sonderdelikt .............................................................. II. Tatbestandsvoraussetzungen von § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG ........ . .... 1. Zahlungsunfähigkeit .......................................................... 2. Überschuldung................................................................ 3. Der subjektive Tatbestand .................................................... a) Vorsatz (§ 84 Abs. 1 GmbHG) ............................................ b) Fahrlässigkeit (Abs. 2) .................................................... c) Kenntnis der Antragsptlicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Durchsetzung des Strafanspruches . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . 1. Prozessmaximen des Strafprozesses .......................................... a) Offizialprinzip ............................................................ b) AkkusationsprinziplLegalitätsprinzip..................................... c) Opportunitätsprinzip ...................................................... 2. "Beweislast" im Strafprozess ................................................. 3. Informationsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft........................... IV. Rechtsfolge ......................................................................

57 57 57 58 58 59 59 60 60 61 62 62 63 64 64 65 65 66 67 68 69 70

D. Bestandsaufnahme: Vergleich zivilrechtlicher Haftung mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit ....................................................................... I. Prozessuale Gestaltung .......................................................... 11. Tatbestandsebene ................................................................ III. Beweislast .......................... . .... . ....... . ....... . .... . .................. IV. Informationsmöglichkeiten ...................................................... V. Rechtsfolge ......................................................................

71 71 72 74 74 75

Inhaltsverzeichnis

9

Zweiter Teil Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

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A. Ultima ratio und Entkriminalisierung .............................................

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B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip ...... I. Polare Ausgangsposition zum "Mittel" Strafgesetz ............................. 11. Bundesverfassungsgericht und Gewaltenteilung............ . ....... . .... . ....... III. Ultima ratio und Verhältnismäßigkeit ........................................... 1. Verhältnismäßigkeitsprüfung und Beurteilungsspielraum .................... 2. Geeignetheit .................................................................. 3. Erforderlichkeit ............................................................... 4. Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) ...................................... a) Strafmaß.................................................................. b) Gesamtabwägung......................................................... (I) Erste Möglichkeit: Abwägung zwischen den Grundrechtsbereichen des verbotenen Verhaltens und denen des geschützten Rechtsguts .. (2) Zweite Möglichkeit: Abwägung zwischen den Grundrechtsbereichen der Rechtsfolge (Strafe) und denen des geschützten Rechtsguts ..... 5. Zusammenfassung............................................................

80 80 81 84 85 86 89 92 92 96

C. Überblick über die Herleitung des ultima ratio Grundsatzes in der Literatur ... I. Subsidiaritätsprinzip............................................................. 11. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Erforderlichkeit ................................ III. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Verhältnismäßigkeit (i. e. S.) .... . .... . ......... IV. Strafwürdigkeit/Strafbedürftigkeit............................................... V. Stellungnahme ................................................................... I. Zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Günther) ........................ 2. Zur Strafwürdigkeit ............................................ . .... . ......... VI. Zwischenergebnis................................................................

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D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes. . . .. . . .. . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Der scheinbar einfache Lösungsansatz .......................................... 11. Optimierung der Erforderlichkeit ............................ . ............ . ...... III. Versteckte Komplexität des Erforderlichkeitsproblems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. I. Zur Voraussetzung der gleichen Effektivität .................................. 2. Zur Voraussetzung des mildesten Mittels bei mehreren Beteiligten .......... 3. Optimierungsprobleme ....................................................... IV. Ergebnis..........................................................................

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E. Das Subsidiaritätsprinzip ........................................................... I. Allgemeiner Aussagegehalt ............. . ....... . .... . ....... . ............ . ...... 11. Wurzeln des Prinzips ............................................................ I. Staatsphilosophisches Gedankengut (Föderalismus und Liberalismus) ...... 2. Begründung im Naturrecht ................................................... 3. Katholische Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. III. Verfassungsrechtliche Aspekte .................................................. I. Entstehung des Grundgesetzes ......................................... . ...... 2. Rechtsgeltung des Subsidiaritätsgrundsatzes .................................

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Inhaltsverzeichnis 3. Subsidiaritätsprinzip und Bundesverfassungsgericht ......................... 4. Subsidiaritätsprinzip zwischen Freiheit und Anarchie. . . . .. . . . . . . . . .. . . . ... .. IV. Subsidiaritätsprinzip und Strafrecht ............................................. 1. Subsidiäres Strafrecht in der marxistisch-leninistischen Ideologie und im Recht der DDR ............................................................... 2. Ablehnung: Sax ............................................................... 3. Wohlwollende Stimmen ...................................................... 4. Arthur Kaufmann ............................................................. 5. Brandt ......................................................................... 6. Würdigung .................................................................... 7. Fazit ...........................................................................

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Dritter Teil Insolvenzverschleppung und ultima ratio

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A. Subsidiaritätsprinzip und Zivilrecht versus Strafrecht ............................ 148 B. Effektivierung der Rechtsverfolgung durch Privatisierung ....................... I. Effektivierung durch Erhöhung des Haftungsrisikos ............................ 11. Effektivierung durch Aktivierung des Privatinteresses .......................... 1. Mobilisierung der Energie des persönlich Betroffenen ....................... 2. Präzisierung des Haftungstatbestandes durch Verfolgung der Schadenersatzansprüche ..................................................................... 111. Gleichlauf von Herrschaft und Haftung .........................................

151 151 153 153

C. Betrachtung zum Rechtsgüterschutz ............................................... I. Rechtsgutsbezug bei § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG ......................... 11. Rechtsgutsbezug der Schadenersatzhaftung ..................................... 111. Zwischenergebnis ................................................................

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D. Folgerungen für das Wirtschaftsstrafrecht ......................................... I. Privatisierung des Konflikts anstelle Privatisierung des Strafrechts ............. 1. Susanne Walthers strafrechtliches Sanktionensystem ........................ 2. Die Stellung des Subsidiaritätsprinzips zur strafrechtlichen Wiedergutmachung ......................................................................... a) Einführung eines Umwegs ................................................ b) Denaturierung des Strafrechts ............................................ c) Verkümmerung des privatrechtlichen Konfliktlösungspotentials ......... 3. Schlussfolgerung ............................................................. 11. Der Vermögens schaden als wirtschaftsstrafrechtliches Rechtsgut . . . . . . . . . . . . . .. 1. Das Argument des Vermögensschadens ........................... .. ......... 2. Vermögensschaden als zivilrechtliches Schutzgut ............................

159 159 160 . 161 161 163 164 164 165 166 167

E. Zusammenfassung................................................................... I. Das Strafbedürfnis ............................................................... 11. Auffangtatbestand ............................................................... 111. Praktische Gegenüberstellung Strafrecht - Zivilrecht ...........................

167 167 168 170

154 154

Inhaltsverzeichnis

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IV. Dogmatische Einbrüche im Strafrechts system durch § 84 Abs. I Nr. 1, Abs. 2 GmbHG ........................................................................ 1. Ultima ratio Prinzip ..... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 2. Auflösung des Rechtsgutsbezugs ............................................. 3. Schlussfolgerung ............................................................. V. Schluss...........................................................................

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Literaturverzeichnis ................ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 174 Sachwortverzeichnis ..................................................................... 194

Einleitung Der Geschäftsführer einer GmbH hat bei Vorliegen eines Insolvenzgrundes die Pflicht, Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu stellen (§ 64 Abs. 1 GmbHG). Diese Pflicht wird durch zwei Regelungsmechanismen abgesichert. In zivilrechtlicher Hinsicht wird § 64 Abs. 1 GmbHG als Schutzgesetz im Sinne des § 823 Abs.2 BGB angesehen, mit der Folge, dass das Unterlassen der AntragsteIlung Schadenersatzpflichten auslöst. In strafrechtlicher Hinsicht wird durch § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG das Unterlassen der durch § 64 Abs. I GmbHG auferlegten Pflicht zum Straftatbestand gemacht. Es gibt damit zu ein und derselben Verhaltensnorm zwei unterschiedliche Sanktionsnormen I. Seit einiger Zeit wird dieses Nebeneinander zweier den GmbH-Geschäftsführer bestrafender Regelungen als "fragwürdig"2 oder als "rechtspolitisch nicht ohne weiteres vertretbar"3 bezeichnet 4 • Ransiek stellt die Frage, ob neben der Schadenersatzpflicht eine strafrechtliche Absicherung überhaupt notwendig ist und wie man die Strafvorschrift rechtfertigen will s. Er weist darauf hin, dass die hohe Anzahl von Ablehnungen der Eröffnung von Konkursverfahren mangels Masse bei der GmbH jedenfalls den Verdacht begründe, dass weder die zivilrechtliche noch die daran anschließende strafrechtliche Regelung sonderlich effektiv sind 6 • Angesichts dieser Situation sei zu klären, ob sich der Sinngehalt strafrechtlicher Tatbestände darauf beschränken könne, zur wirksamen Erfüllung zivilrechtlicher Pflichten, Freiheitsstrafen anzudrohen, insbesondere wenn die erhofften Wirkungen ausbleiben 7. Hierzu muss angemerkt werden, dass der zivilrechtlichen Sanktion bis 1994 nicht allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die deliktische Schadenersatzpflicht war durch die Beschränkung auf den Quotenschaden zur Wirkungslosigkeit verdammt 8• Diese Situation änderte sich jedoch mit dem Urteil des 11. Zivilsenats des 1 Vgl. zum Verhältnis von Verhaltensnorm und Sanktionsnorm im Falle des § 823 Abs. 2 BGB und Strafgesetzen Dörner, JuS 1987, S.522, S. 524 ff. 2 Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 152. 3 Mertens, Lange-Festschrift, S. 561, S.578; vgl. auch Canaris, JZ 1993, S.649, S.652. 4 Kritisch bereits Haffke, KritV 1991, S. 165, S. 170ff. Das Nebeneinander strafrechtlicher und zivilrechtlicher Regelungen ist auch aus der Sicht der ökonomischen Theorie des Rechts fraglich. Vgl. Kirchner in: OU/Schäfer, Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S. 108 ff. 5 Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S. 152. 6 Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S.162. 7 Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S.162. 8 Siehe dazu noch unten 1. Teil, B. 11. 2. b).

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Einleitung

Bundesgerichtshofs vom 6. Juni 1994 9• Der Bundesgerichtshof hat für die sogenannten NeugläubigerIO die Beschränkung des Schadenersatzes aufgegeben und gibt dieser Gläubigergruppe nunmehr bei Verletzung der Pflicht des § 64 Abs. 1 GmbHG einen Anspruch auf Ersatz des vollen negativen Schadens gegen den Geschäftsführer. Aus der zivilrechtlichen Schadenersatzregelung ist dadurch ein "scharfes Schwert" geworden. Das Verhältnis von zivilrechtlicher zu strafrechtlicher Sanktion stellt sich dadurch in neuer Dimension. Folgendes Beispiel soll das Verhältnis verdeutlichen: Bei dem Fall BGH ZIP 1995, S. 211 (Urteil vom 7. Nov. 1994) wurde der Beklagte, alleiniger Gesellschafter und Geschäftsführer der Schuldner-GmbH, vom Bundesgerichtshof in Zivilsachen zur Zahlung des negativen Interesses gemäß § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 64 Abs. 1 GmbHG an seinen Gläubiger, den Kläger, verurteilt 11. Dieses negative Interesse belief sich laut Sachverhaltsangaben auf 492.134,03 DM 12 • Demgegenüber wurde das gegen den Beklagten wegen Konkursvergehens eingeleitete Strafverfahren nach § 153 a StPO gegen Zahlung einer Geldbuße von 9.000,-DM eingestellt I3 • Bei diesem zahlenmäßigen Vergleich erscheint die strafrechtliche Sanktion gegenüber der zivilrechtlichen lächerlich gering. Der Sinn des mit großem Aufwand betriebenen Verfahrens zur Ermittlung von Insolvenzkriminalität einschließlich der Konkursverschleppung wird dadurch in Frage gestellt. Für gewöhnlich wird das Strafrecht als ein zusätzlicher Schutz angesehen, der bei besonders gefährdeten Rechtsgütem eingreifen soll. Weber etwa schreibt es werde "gleich klar", dass der besondere Rechtsgüterschutz durch das Strafrecht notwendig ist, wenn man bedenke, dass das Zivilrecht mit seiner Ausgleichsfunktion und seiner Schadenersatzpflicht bei schädigenden Handlungen einen ersatzbereiten und finanzkräftigen Täter nicht von Eingriffen abhalten kann 14. Im Falle der Insolvenzverschleppung hingegen ist angesichts des obigen Beispiels die Notwendigkeit des Strafrechts gerade nicht "gleich klar". Vielmehr scheint bereits auf den ersten Blick der zivilrechtliehe Schutzmechanismus dem Strafrechtstatbestand in vielerlei Hinsicht überlegen zu sein. Die Einzelheiten darzulegen ist Teil dieser Arbeit. Hier soll der Frage nachgegangen werden, ob man nicht auf den zusätzlichen strafrechtlichen Schutz verzichten sollte und wie man dies begründen kann. Angesichts der Gemeinsamkeiten von Deliktsrecht und Strafrecht l5 bemerkte Deutsch, die Einschränkung der Straftatbestände und die Erkenntnis, dass das Strafrecht subBGHZ 126, S. 181. Zu den Einzelheiten siehe unten 1. Teil, B. 11. 2. c). 11 BGH ZIP 1995, S.211, S.212f. 12 Der BGH hat den Fall zum Berufungsgericht zurückverwiesen, so dass der genaue Betrag nicht feststeht. Der genannte Betrag ist die Forderungsaufstellung des Lieferanten laut Tatbestand. Vgl. BGH ZIP 1995, S.211, S.212. 13 BGH ZIP 1995, S. 211, S. 212 (Im Tatbestand). 14 Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 10. 15 Vgl. dazu unten die Einführung zu Haftung und Strafrecht im Rechtssystem. 9

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Einleitung

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sidiären Charakter hat, führe zur Rückbesinnung auf den stellenweise alleinigen Schutz durch das private Deliktsrecht 16 • Diese Äußerung enthält mit dem Hinweis auf den ultimo ratio Charakter des Strafrechts den Begründungsansatz für den Vorrang des zivilrechtlichen Schutzes. Aufgabe dieser Arbeit ist zunächst, das System der zivilrechtlichen Haftung mit der strafrechtlichen Verantwortlichkeit zu vergleichen. Zu diesem Zweck werden die jeweiligen Normen in ihren Voraussetzungen dargestellt (l. Teil). Danach wird dem Grundsatz der ultima ratio auf den Grund gegangen (2. Teil). Abschließend sollen die beiden ersten Teile zusammengeführt werden, was Schlussfolgerungen auf die Handhabung von Wirtschaftsstraftatbeständen zulassen wird (3. Teil).

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Deutsch, Wahl-Festschrift, S. 340, S. 341.

Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem Diese Arbeit behandelt das Verhältnis von zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei Insolvenzverschleppung. Bevor die Regelungen im einzelnen untersucht werden, soll verdeutlicht werden, welche Regelungsmaterien dem Gesetzgeber mit dem Strafrecht und dem zivilen Deliktsrecht zur Verfügung stehen. Erörtert werden soll das allgemeine Verhältnis von Haftung und Strafrecht im Rechtssystem. Hierzu ist es notwendig Herkunft und zugedachte Aufgaben der beiden Regelungssysteme zu erörtern und darzustellen. Der folgende Überblick wird eine prägnante Einordnung der beiden Sanktionssysteme im Rechtssystem ermöglichen, die für die Beurteilung des Verhältnisses der Sanktionen bei der Insolvenzverschleppung von Bedeutung ist.

A. Herkunft Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit werden in den modernen Rechtsordnungen grundsätzlich voneinander getrennt: Die öffentliche Strafe wird vom Strafgericht in einem besonderen, mit rechtsstaatlichen Garantien versehenen Verfahren gegen den Täter verhängt; dagegen ist es Sache des Zivilgerichts, dem gegen den Täter gerichteten Anspruch des Verletzten auf Wiedergutmachung des ihm widerfahrenen Unrechts und seiner Folgen zu entsprechen. Diese Trennung ist jedoch nicht selbstverständlich und hat sich erst in der geschichtlichen Entwicklung ergeben. Strafe und Schadenersatz haben eine gemeinsame Herkunft in der Buße oder Composito älterer Rechtsordnungen I. Für archaische Rechtsordnungen kennzeichnend ist die Haftungsfolge der vergeltenden Buße, durch deren Leistung die rechtswidrige Tat gesühnt, der Verletzte und die ihm nahestehenden Personen besänftigt und zugleich der angerichtete Schaden wiedergutgemacht werden sollen 2• Es handelte sich dabei um eine einheitliche Reaktion der Rechtsordnung auf geschehenes Unrecht zu den kombinierten Zwecken der Strafe, der Genugtuung und des Schadensausgleichs 3 • Vgl. auch Ebel/Thielmann, Rechtsgeschichte, Band I, Rdn. 64. StolI, Haftungsfolgen, S. 55. Buße hat die Wortbedeutung von "heilen", wieder in Ordnung bringen, versöhnen, vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn. 118. Vgl. eingehend zu Rechtsbruch und Buße in archaischen Rechtsordnungen Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn. llOff. 3 StolI, Consequences of Liability, S. 92. I

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A. Herkunft

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Die geschichtlichen Wurzeln der Buße reichen ins römische Recht zurück4 • Dort wurde ursprünglich bei den "delicta" (den Unrechtstaten) die Verfolgung dem Verletzten anheimgegeben. Dieser setzte mit den Mitteln des Zivilprozesses eine Sühne des zugefügten Unrechts durch den Täter durch. Während zunächst der Verletzte ein Zugriffsrecht auf den Körper des Täters hatte, konnte dieses Racherecht später durch einen Sühnevergleich abgelöst werden. 5 Der Staat setzte später diese Möglichkeit zur Bußzahlung als verbindliche Folge eines Delikts durch, indem er feste Bußsätze einführte und den Verletzten dazu zwang, die gesetzmäßig angebotene Buße anzunehmen 6• Das Deliktsrecht des antiken Römischen Rechts zielte nicht primär darauf ab, dem Verletzten Ersatz für den ihm zugefügten Schaden zu sichern 7, sondern gab ihm Anspruch auf eine Geldbuße, die häufig ein Mehrfaches der Sachwerte betrug 8• Dabei waren die (privaten) Deliktsklagen Strafklagen 9 • Strafrecht und privates Schuldrecht unterschied man auf dieser frühen Entwicklungsstufe nicht 10. - Die spätere Entwicklung, die mit lustinian abgeschlossen ist, hat die Schadenersatzpflicht von der Strafe getrennt 11. Das Rechtsinstitut der Buße war daneben insbesondere in den germanischen Volksrechten klar herausgebildee z. Ursprünglich diente die Leistung der Buße dazu, eine Fehde zwischen den Sippen des Verletzten und des Täters abzuwenden. Demgemäss war sie von der Sippe des Täters an die Sippe des Verletzten zu leisten 13. Die Höhe der Buße richtete sich grundsätzlich nicht nach dem Umfang des angerichteten Schadens, sondern nach dem begangenen Unrecht, das nach den Umständen der Tat und dem persönlichen Rang des Verletzten beurteilt wurde 14. Private Delikte und öffentliches Strafrecht bleiben auch hier unterschiedslos als Privatstrafrecht verbunden. Diebstahl, Ehebruch, Körperverletzung und Tötung waren Verletzungen von privaten Rechten des Geschädigten oder der Sippe des Getöteten, mit der Folge privater Rache oder - häufiger - Bußzahlungen 15. Vgl. Kern, Mezger-Festschrift, S.407, S.407f. Kaser, Römisches Privatrecht, Band 1, §4 112 (S.26), §39 11 (S.147f.), § 142 11 (S.61O). 6 Kaser, Römisches Privatrecht, Band 1, § 39 11 2 (S. 148). 7 Ein allgemeiner Begriff des Schadenersatzes ist dem römischen Recht unbekannt, vgl. Kaser, Römisches Privatrecht, Band 1, § 117 I 1 (S.498). 8 Kaser, Römisches Privatrecht, Band 1, § 142 11, IV, V (S. 61Off.). 9 Coing, Europäisches Privatrecht I, § 100 I (S. 503). 10 EbellThielmann, Rechtsgeschichte Band I, Rdn. 64. I1 Kern, Mezger-Festschrift, S.407, S.408. 12 Siehe dazu Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 16-28; Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn. 117; Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 24 f., S. 37 ff., S. 56f.; Kern, Mezger-Festschrift, S.407, S.408. 13 Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 16-28. 14 Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S. 18 f. 15 Wesei, Geschichte des Rechts, Rdn. 183. Offenbar hat es daneben eine vom Privatstrafrecht verschiedene Form der öffentlichen Strafe gegeben. Anscheinend war diese aber auf die Verletzung öffentlicher Interessen, wie militärischer Verrat oder Überläuferturn, beschränkt, vgl. Wesei, a. a. 0.; Eb. Schmidt, Einführung indie Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 25 f. 4

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2 Höffner

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Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem

Die Trennung von Schadenersatz und Strafe war ein langwieriger, sich über die Jahrhunderte erstreckender und in verschiedenen Schüben erfolgender Prozess, der vor allem die systematische Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht voraussetzte 16. Bis ins 16. Jahrhundert hinein lebte die Unrechtsverfolgung in europäischen Rechtsordnungen auf der Grenze zwischen privatem und öffentlichem aber auch weltlichem und kirchlichem Recht 17 • In der Zeit des späten Mittelalters, mit der Gottes- und Landfriedensbewegung, kam dann etwas Neues hinzu: die "peinliche Strafe", die in ihrer Art von der Buße deutlich verschieden war l8 • Die Anfange der peinlichen Strafe können in den Landfriedensgesetzen wie dem Kölner Gottesfrieden vom Jahre 1083 nachgewiesen werden '9 . Das aus dem späten 14. Jahrhundert für die Rechtspraxis verfasste Handbuch "Summa legum brevis levis et utilis" ließ wissen, die Strafe sei "angemessene Züchtigung und Erziehung für begangene Rechtsbrüche". Es gebe vielerlei Strafen, insbesondere solche gegen Personen, weil es viele Arten der Peinigung gebe. Hierzu seien zu rechnen: Gefangensetzung, Züchtigung, Geißelung, Schläge mit Fäusten oder Ruten, Abschneiden der Ohren oder Nase, Ausstechen der Augen, Brechen der Knochen, Brandmarken bis auf die Zähne, Abschlagen von Hand oder Fuß, Enthaupten, Henken, im Sack Ertränken, Verbrennen, Lebendigbegraben, Ausstoßung usw. Zu verhängen sei diejenige Strafe, vor der man sich am meisten fürchte. 20 Ein weiterer Punkt ist von Bedeutung: Konnte man aus der Sicht des damaligen materiellen Rechts noch fragen, ob Strafen nicht eigentlich Sache des Privatrechts wären, wies die "Summa" das Recht zum Strafen dem Richter zu. Strafen zu verhängen wurde damit zur Sache des Territorialstaates 21 • Die wachsende Bedeutung der öffentlichen Strafjustiz führte dazu, dass die Deliktsklagen des römischen Rechts ihren pönalen Charakter verloren und zu reinen Klagen auf Schadenersatz umgeformt wurden 22 •

In Deutschland lieferte die Lehre die theoretische Begründung für die Trennung von Schadenersatz und Strafe im 19. Jahrhundert: die Strafe geschehe dem Täter zu\6 v. Bar, Gemeineuropäisches Deliktsrecht, Bd. I, § 1 Rdn.4 Fn. 20 (S. 5) mit einer Darstellung der Entwicklung in Dänemark. Vgl. auch Coing, Europäisches Privatrecht I, § 100 11 (S. 504 ff.). \7 Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn.929ff. \8 Vgl. Eh. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfiege, S. 57 f. Das Wort "Strafe" tauchte im 12. Jahrhundert als sprachliche Neuschöpfung auf und ist damit wesentlich jünger als das Wort Buße, vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn.1026. \9 Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn.1027. 20 Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn. 1032. Zu einzelnen mittelalterlichen Strafen Eh. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfiege, S. 61 ff. 2\ Vgl. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, Rdn. 1032. Nach Eh. Schmidt kommt der Gedanke, dass Strafverfolgung Staatsaufgabe sei, mit der Entwicklung der Königsgerichtsbarkeit in fränkischer Zeit auf. Vgl. Eh. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, S. 44 f. 22 Coing, Europäisches Privatrecht I, § 100 11 (S. 505).

B. Die Aufgabe des Strafrechts

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leide, der Ersatz dem Verletzten zuliebe 23 . Binding schließlich sagte, Ersatzverbindlichkeiten und Strafe seien apodiktische Gegensätze 24 •

B. Die Aufgabe des Strafrechts 25 Was die Aufgabe des Strafrechts sein soll, bildet den Gegenstand einer umfangreichen, kontroversen und in den Einzelheiten undurchschaubaren Diskussion 26 . Hinzu kommt, dass zum Teil zwischen den Aufgaben des Strafrechts und dem Zweck der Strafe im konkreten Einzelfall (den Straftheorien) unterschieden wird 27 . Während die Aufgabe des Strafrechts die Frage behandeln soll, welches Verhalten der Staat mit Strafe bedrohen darf, soll die Strafzwecklehre darüber entscheiden, auf welche Weise die Strafe im Einzelfall wirken so1l28. Dieser Einteilung wird hier nicht gefolge9 , da man von einem theoretischen Standpunkt aus gesehen sowohl das Strafgesetz als auch die im Einzelfall verhängte Strafe unter dem Gesichtspunkt "Strafrecht" bzw. "Aufgabe des Strafrechts" zusammenfassen kann. Der praktische Sinn jeden Strafgesetzes ist die Möglichkeit zur Verhängung der angedrohten Strafe im Einzelfall. Denn das Strafgesetz bildet die Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff Strafe. Wenn man die "Sinnfrage" stellt, lässt sich also nicht im oben genannten Sinne zwischen Aufgabe und Zweck unterscheiden. Vielmehr ist der gesamten Diskussion zu eigen, dass es um die Legitimation des Strafrechts (bzw. des Strafgesetzes oder der verhängten Strafe) geht 30 • Unter dem Gesichtspunkt der Legitimation bildet der gesamte Diskussionskomplex eine Einheit und wird hier als Einheit behandelt. Was die Straftheorien betrifft, stehen sich seit alters her relative und absolute Straftheorien gegenüber 3' . Die Einteilung nach relativer und absoluter Straftheorie 23 So Thon, Rechtsnonn und subjektives Recht, 1878, S. 61 f.; ähnlich Binding, Die Nonnen und ihre Übertretung I, S. 287 f. 24 Binding , Die Nonnen und ihre Übertretung I, S. 284 ff., S. 452 ff., S. 284: ,,zwischen den beiden Rechtsfolgen ... besteht nun aber die tiefste wesentliche Verschiedenheit." S.445: "Ersatzleistung (ist) in keiner Beziehung Strafe". 25 Begrifflich wird der hier behandelte Gegenstand unter "Aufgaben" eingeordnet. Andere Bezeichnungsweisen sind Funktion bzw. Zweck des Strafrechts oder der materielle Verbrechensbegriff. Die hiesige Begrifflichkeit entspricht Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § 1 Rdn. 243 ff. Zur Begründung vgl. dort. 26 Einen Überblick gibt Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § 1 Rdn. 249 ff. 27 S. Z. B. Roxin, Strafrecht AT I, § 3 Rdn. 1; Weber in: Baumann/WeberlMitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn.24. 28 Roxin, Strafrecht AT I, § 3 Rdn. 1. 29 So auch Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § 1 Rdn.244, m. w. N. 30 Vgl. insbesondere Müller-Dietz, Rudolf Schmitt-Festschrift, S.95, S. 95f.; Hoffmann, Vergeltung und Generalprävention im heutigen Strafrecht, S. 105 ff. 31 Vgl. Jakobs, Strafrecht AT, 1. Abschn. Rdn.17, m. w. N. zur Geschichte der Straftheorien. Vgl. eingehend: Hoffmann, Vergeltung und Generalprävention im heutigen Strafrecht, S.7ff.

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Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem

bildet auch heute noch eine Leitlinie in der Diskussion um die Strafzwecklehre32 • Sie soll hier als Ausgangspunkt der Betrachtung dienen, insbesondere um sie später für den vergleichenden Blick auf die Aufgaben des Haftungsrechts fruchtbar zu machen.

I. Zu den absoluten Straftheorien Nach den absoluten Straftheorien liegen Rechtsgrund und Sinn der Strafe allein in der Vergeltung bzw. in der Sühne für die Tat. Durch die Übelzuführung in Form der Strafe soll das vom Täter schuldhaft begangene Unrecht ausgeglichen werden. Die Strafe ist dabei frei bzw. losgelöst von jeder Zweckerwägung, das heißt sie ist absolut 33 • Das hinter dem Vergeltungs gedanken stehende Gerechtigkeitsprinzip ist das Talionsprinzip, das durch den biblischen Spruch ausgedrückt wird: "Auge um Auge, Zahn um Zahn" 34. Die "gerechte Strafe" entspricht in ihrer Dauer und Härte der Schwere der Missetat und gleicht sie dadurch aus 35 • Der der absoluten Straftheorie innewohnenden Schuldgrundsatz ermöglicht so eine Quantifizierung der Schuld und damit eine Differenzierung der Strafdrohung sowie der Strafzumessung im einzelnen Fa1l 36 • Sie ist dadurch insbesondere für die Rechtsanwendung von Bedeutung 3? Was der Vergeltungstheorie aber wissenschaftlich für lange Zeit so überragenden Einfluss gesichert hat, war ihre Fundierung durch die Philosophie des deutschen Idealismus, insbesondere durch Kant und Hegel 38 • Heute wird allerdings eingewandt, die absolute Straftheorie sei weltfremd und menschenverachtend: Die staatliche Strafe füge mit Bedacht Leid zu, ohne sich damit rechtfertigen zu können, dass dieses Leid letztlich auch dem Bestraften, dem Opfer oder der mitbetroffenen Gesellschaft zugute komme 39 • Andererseits wird anerkannt, dass es ihr um die Menschenwürde des Verurteilten geht 40 : Der bestrafte Mensch soll nicht "bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachen32 Vgl. Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 24; kurzer Überblick bei Zippelius, Rechtsphilosophie, § 37 I. 33 Vgl. Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn.50ff.; Wolf, Verhütung oder Vergeltung?, S. 46 ff. 34 Das Talionsprinzip diente ursprünglich zur Begrenzung des dem Täter zuzufügenden Nachteils, vgl. Kaser, Römisches Privatrecht, Band I, § 39 II2b (S.147), §41 11 (S.156). 35 Vgl. Roxin, Strafrecht AT I, § 3 Rdn.2. 36 Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn.59. 37 Vgl. BGHSt 24, S. 134: "Von ihrer Bestimmung als gerechter Schuldausgleich darf sich die Strafe weder nach oben noch nach unten inhaltlich lösen." Ferner: BVerfGE 22, S. 132. 38 Roxin, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 3 f. 39 So zusammenfassend Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § 1 Rdn.411, m.w.N. 40 Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § I Rdn.413.

B. Die Aufgabe des Strafrechts

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rechts gemengt" werden, wenn die Strafe zu seiner oder der anderen Besserung verhängt wird 41 •

11. Zu den relativen Straftheorien Praxis und Wissenschaft werden heute dagegen von den relativen Straftheorien beherrscht 42 • Die wesentliche Rechtfertigung der Strafe liegt demnach darin, dass sie dazu dient, künftige Angriffe auf schutzwürdige Güter (Rechts güter) zu unterbinden 43 • Strafen sind auf diese Schutzzwecke bezogen und stehen zu ihnen in einer Relation. Die Aufgabenbestimmung des Strafrechts vom Rechtsgut her ist der Versuch, dem Strafgesetzgeber ein plausibles und verwendungsfähiges Kriterium seiner Entscheidungen an die Hand zu geben und zugleich einen externen Prüfungsmaßstab für die Gerechtigkeit der Entscheidungen zu entwickeln. Das Denken vom Rechtsgut her zielt auf eine rationale Kriminalpolitik: Der Strafgesetzgeber soll seine Entscheidungen an einem klaren und gerechten Kriterium prüfen, sie mit ihm rechtfertigen und sich aus ihm kritisieren lassen. Unzulässig ist, was sich auf den Schutz eines Rechtsguts nicht berufen kann 44 • Als Wirkungsmechanismus wird zweierlei angeboten: General- bzw. Spezialprävention 45 • Die Generalprävention geht davon aus, dass die Strafe in erster Linie durch ihre Androhung unrechtsverhindernd auf die Allgemeinheit einwirkt und in zweiter Linie durch die Bestrafung von Tätern, bei denen die Strafdrohung versagt hat, andere von der Begehung strafbarer Handlungen abschreckt 46 • Die Spezialprävention kümmert sich dagegen um den straffälligen Täter: dieser soll durch gezielte spezielle Einwirkung auf seine Person von der Begehung künftiger Taten abgehalten werden - durch Erziehung, Besserung oder Abschreckung 47 • Prävention bzw. Vorbeugung als relativer Zweck des Strafrechts ist damit der Haupttopos der relativen Straftheorien. Dieser vorbeugende Schutz kommt - so die überwiegende Formulierung in der Literatur - den Rechtsgütern zuteil. 48 Aufgabe 41 Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre, 11. Teil, 1. Abschn., allgemeine Anmerkung E, A 197 (S.453). 42 Nachweise bei Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § 1 Rdn.415. 43 Vgl. etwa Rudolphi, Honig-Festschrift, S. 151, S. 154f.; Ouo, Strafrechtsdogmatik und Kriminalpolitik, S. 1, S. 1 ff. 44 So Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, Vor § 1 Rdn.261. 45 Vgl. Rudolphi, Grundfragen des modemen Strafrechtssystems, S.69, S. 69ff.; Zippelius, Rechtsphilosophie, § 37 I 1; Wolf, Verhütung oder Vergeltung?, S. 38 ff. 46 V gl. Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 25; Jakobs, Strafrecht AT, 1. Abschn. Rdn.4 ff. 47 Vgl. Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn.36. 48 Es gehört heute zum strafrechtlichen Allgemeingut, dass das Strafrecht dem Rechtsgüterschutz dient, vgl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 21. Nachweise bei Hassemer in: Nomos Kommentar zum StGB, vor § 1 Rdn. 247. Zur Geschichte vgl. Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, passim. Kritisch jedoch Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rdn. 7 ff.

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Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem

des Strafrechts sei es, die wichtigsten Bereiche sozialen Zusammenlebens bzw. die sozial wichtigsten Interessen mit einem besonderen Schutz zu versehen 49 • Der Gesetzgeber entscheide darüber, ob er ein Gut rechtlich schützen wolle und damit zu einem Rechtsgut erhebe. Der Begriff des Rechtsguts sei daher sicher ein "durch und durch positivrechtlicher Begriff"50. Jedoch sei der Gesetzgeber nicht frei, was er zum Schutzgut einer Strafrechtsnorm erheben wolle. "Er kann nur solche sozialen Gegebenheiten zum Schutz strafrechtlicher Normen erheben, die für die verfassungsmäßige Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers und für unser sich im Rahmen der Verfassung bewegendes Gesellschaftsleben notwendig sind."51 Mit dieser "Zweckbestimmung" wird von der relativen Straftheorie der Bogen zur Aufgabe des Strafrechts als Rechtsgüterschutz geschlagen. Der Kreis in der Diskussion um die Legitimation des Strafrechts schließt sich hier.

c.

Zur Funktion des Haftungsrechts

Wie beim Strafrecht, so wird auch im Haftungsrecht eine Legitimation der Schadenersatzpflicht für notwendig erachtet: "Soll uns die gesetzliche Anordnung einer Schadenersatzpflicht als sachlich begründet erscheinen, so muss es zwischen dem Schadensereignis und dem Ersatzpflichtigen eine Beziehung geben, die es rechtfertigt, ihn für dieses Ereignis und seine Folgen einstehen zu lassen."52 Diese Rechtfertigungspflicht für eine deliktische Schadenersatzpflicht leuchtet ein, wenn man vertraglich begründete Pflichten zum Vergleich heranzieht: Anders als im Deliktsrecht ergibt sich die Rechtfertigung für die Verpflichtung bzw. für deren Anerkennung durch die Rechtsordnung bereits aus der freien Willensentscheidung der sich Verpflichtenden.

I. Ausgleichsfunktion Überwiegend wird es als vorrangiges Ziel des Deliktsrechts angesehen, dem Geschädigten einen Ausgleich zu verschaffen, durch den sein Schaden wiedergutgemacht, er ihm "abgenommen" und dem Schädiger aufgebürdet wird. 53 Die Deliktshaftung wird als eine Erscheinungsform der ausgleichenden Gerechtigkeit (iustitia So Weber in: Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 10. Rudolphi in: Systematischer Kommentar zum StGB, Rdn.4 vor § 1 unter Berufung auf Amelung, Rechtsgüterschutz und Schutz der Gesellschaft, S. 5 f. 51 Rudolphi in: Systematischer Kommentar zum StGB, Rdn.5 vor § 1. Zur Ableitung der Rechtsgüter aus der Verfassung siehe auch Roxin, Strafrecht AT, § 2 Rdn. 9. 52 Larenz, JuS 1965, S. 373, S. 373, Hervorhebung im Original. 53 Lange, Schadenersatz, Einl. III 2a (S.9); Kötz, Steindorff-Festschrift, S.643, S.643; Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdn.17; Mertens in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 823 Rdn.41. 49 50

c.

Zur Funktion des Haftungsrechts

23

commutativa) bezeichnet; sie dient nach Canaris primär der Korrektur von "Unrecht", nicht wie die Gefährdungshaftung dem Abwälzen von "Unglück" nach den Maßstäben der verteilenden Gerechtigkeit (iustitia distributiva).54 Der Ausgleichsgedanke besagt nach Larenz, dass dem Verletzten das ihm Gebührende, wenn nicht in natura, dann in der Form einer Ersatzleistung verschafft, das ihm Genommene wiederverschafft wird, sein Nachteil ausgeglichen werden soll. 55 Diese Ausformulierung des Ausgleichsgedanken macht jedoch deutlich, dass es sich dabei nicht um ein Ziel des Deliktsrechts handelt, sondern lediglich den Regeln zugrunde liegt, die - sofern die Haftung des Schädigers dem Grunde nach feststeht - Art und Umfang seiner Schadenersatzleistung ermitteln. 56 Demgegenüber sagt der Ausgleichsgedanke, wie Kötz zutreffend feststellt, nichts über die Begründung der Haftung aus. 57 So formuliert Mertens, das Deliktsrecht diene dem Rechtsgüterschutz, indem es Ausgleich verschafft. 58 Auch die Aussage Canaris' trägt den Kern des Problems in sich: zwar handelt es sich um ausgleichende Gerechtigkeit, doch diese korrigiert Unrecht. Das zu korrigierende Unrecht ist eigentlich dasjenige, was die Haftung begründet. Die Ausgleichsfunktion ist nur Mittel zum Zweck. 59 Der Ausgleichsgedanke im ganzen formuliert heißt daher: Das Unrecht wird dadurch korrigiert, dass der Schädiger den Schaden des Geschädigten ausgleicht. Der Ausgleich ist somit der Mechanismus, der im Deliktsrecht das Unrecht korrigiert (und dafür als gerecht empfunden wird). Der Ausgleichsgedanke stellt damit das haftungsrechtliche Gegenstück zu dem der absoluten Straftheorie zugrunde liegenden Gedanken dar. Wie dort die verhängte Strafe, so soll hier der Schadenersatz das Unrecht ausgleichen bzw. die Schuld sühnen. Für beide Sanktionen wird postuliert, dass sie als gerecht empfunden werden, bzw. einem bestimmten Gerechtigkeitsideal entsprechen (ius talionis/iustitia commutativa). Und beiden Ansätzen ist insbesondere gemein, dass sie den Maßstab für die Sanktion enthalten, ja geradezu Ausdrücke desjenigen Mechanismus sind, der den jeweiligen Unrechtsausgleich verschafft: Während bei der Strafe dem Täter ein Übel zugefügt wird, das dem Maß seiner Schuld entsprechen soll, ist es beim Schadenersatz die Einbuße an Rechtsgütern des Verletzten, die das Maß der Ausgleichspflicht des Täters bestimmt. Die Parallele zwischen absoluter Straftheorie und deliktsrechtlichem Ausgleichsgedanken ist damit vollkommen.

Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd.2/2, § 75 12 i (S. 354). Larenz, NJW 1959, S. 865, S. 865. 56 Kötz, Steindorff-Festschrift, S. 643, S. 644; Vgl. auch Larenz, NJW 1959, S. 865, S. 865. 57 Kötz, Steindorff-Festschrift, S. 643, S. 644. 58 Mertens in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 823 Rdn.41. 59 So auch J. Schmidt, Schadensersatz und Strafe, S. 50. 54 55

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Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem

11. PräventioniRechtsgüterschutz Die Parallele führt aber darüber hinaus: Auch im Zivilrecht ist Prävention als Zweck des Haftungsrechts anerkannt 60 • Der Bundesgerichtshof hat unlängst für den Fall der sensationslüsternen Presseorgane, die zur Steigerung ihrer Auflage berühmten Persönlichkeiten in erfundenen Interviews und Berichten schwere Kränkungen in den Mund legen, entschieden, es gebiete "der Gedanke der Prävention, die Gewinnerzielung als Bemessungsfaktor in die Entscheidung über die Höhe der Geldentschädigung einzubeziehen. "61 Aber auch im Falle der Insolvenzverschleppung - unten wird dieser Punkt noch erörtert werden 62 - war für den Bundesgerichtshof die präventive Funktion einer deliktischen Schadenersatzpflicht ausgesprochene Begründung dafür, Neugläubiger nicht mehr nur auf den Quotenschaden zu verweisen, sondern ihnen Schadenersatz für das gesamte negative Interesse zu gewähren: Der Bundesgerichtshof weist nämlich darauf hin, dass "ein Bedürfnis nach einem individuellen Schutz der durch die Konkursverschleppung geschädigten Gläubiger" bestehe 63 und dass das Gebot der rechtzeitigen KonkursantragsteIlung "als Instrument des Gläubigerschutzes ... schadenersatzrechtlich - und nicht nur strafrechtlich - so sanktioniert sein (muss), dass dieser Schutz wirksam ist."64 Das Haftungsrecht soll also zumindest auch der Verhinderung von Verletzungen und damit der Minimierung des Schadens dienen 65 • Letzteres stellt insbesondere in der ökonomischen Analyse des Rechts die Rechtfertigung für das Haftungsrecht dar 66 • Dabei dient auch die deliktische Präventionswirkung dem Rechtsgüterschutz 67 • Diese Aussage folgt bereits aus dem jeglicher deliktischen Haftung zugrunde liegendem Anknüpfungskriterium, dem Schaden. Schaden ist die Einbuße an Rechtsgütern 68 • Indem das Deliktsrecht dem Geschädigten unter bestimmten Voraussetzungen einen Anspruch auf Ersatz seines Schadens gewährt, wird dessen Rechtsgüter60 Lange, Schadenersatz, Einl. III 2b (S. lOf.); Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdn. 18; Mertens in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 823 Rdn.44; Motsch, JZ 1984, S. 211, S. 219. Vgl. eingehend zur Präventionswirkung des Haftpflichtrechts: J. Schmidt, KritV 1986, S. 83 ff. passim. 61 BGH NJW 1995, S. 861 (Caroline von Monaco). 62 Siehe I. Teil, B.II.2.c). 63 BGHZ 126, S.181, S.198. 64 BGHZ 126, S.181, S.197. 65 So Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdn. 18. 66 Vgl. Horn, AcP 176 (1976), S.307, S.324f. Die ökonomische Analyse des Rechts stellt dabei das Gegenstück zur strafrechtlichen Diskussion über die Funktionalisierung des Strafrechts dar. 67 Vgl. Mertens in: Münchener Kommentar zum BGB, Vor § 823 Rdn.41; Möllers, Rechtsgüterschutz im Umwelt und Haftungsrecht, S. 143; Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd. 2/2, § 75 11 (S.350). 68 Vgl. Heinrichs in: Palandt, BGB, Vor § 249 Rdn. 7; Lange, Schadenersatz, § 1 (S.28).

D. Zusammenfassung

25

sphäre geschützt. Nach Canaris bildet der Gedanke des Rechtsgüterschutzes den "selbstverständlichen Ausgangspunkt", wenn es um Schadenersatz geht 69 • Zur Parallele hinsichtlich der absoluten Straftheorie kommt hier also die Parallele zwischen haftungsrechtlicher Rechtfertigung und relativer Straftheorie hinzu: Der mit dem Haftungsrecht verfolgte Zweck ist wie der des Strafrechts präventiver Rechtsgüterschutz. 70 Die Diskussion um die Legitimation bzw. um die Aufgaben des Strafrechts einerseits und des Haftungsrechts andererseits decken sich damit. 71 Heck hatte 1929 festgestellt, die Aufgabe des privaten Deliktsrechts "ist im Endziel die gleiche, die dem öffentlichen Strafrecht obliegt, nämlich die Sicherung der allgemeinen Lebensordnung der durch sie abgegrenzten Interessen .... Die Rechtsordnung gewährt diesen Gütern (Leben, Leib, Gesundheit usw.) erst recht Schutz und diese Schutzgewährung erfolgt außer durch das öffentliche Strafrecht und andere Mittel auch durch das private Deliktsrecht. Strafrecht und privates Deliktsrecht haben auch heute noch, wie ihrem gemeinsamen Ursprunge entspricht, eine in dem Endziele übereinstimmende Aufgabe."72

D. Zusammenfassung Die Geschichte von Strafrecht und Haftung macht deutlich, dass es sich dabei um zusammengehörige Rechtsgebiete handelt. Der gemeinsame Vorläufer der Buße war eine einheitliche Sanktion der Rechtsordnung auf den (deliktischen) Rechtsbruch, die sich später in die beiden Sanktionssysteme öffentliches Strafrecht und ziviles Haftungsrecht aufspaltete. Beide Sanktionen sollen dazu dienen, das begangene Unrecht auszugleichen und den Frieden der Rechtsordnung wiederherzustellen. Unterschiedlich sind lediglich Verfahren und Rechtsfolge der bei den Systeme 73. Die strenge Trennung von Schadenersatz und Strafe lässt sich daher zwar theoretisch postulieren, sie widerspricht aber der Rechtswirklichkeit14 • Nur in formeller Hinsicht lässt sich der Gegensatz begrifflich genauer festlegen 75 : Danach ist öffentliche 69

Canaris, Larenz-Festschrift, S. 27, S. 30.

70 Nach Esser/Weyers, Schuldrecht H, § 53 4 b (S. 527 f.) betrifft die Parallele auch die Tat-

sache, dass der feste, undifferenzierte Glaube an eine allgemeine, selbständige präventive Wirkung des Haftpflichtrechts in den Bereich der "juristischen Alltagstheorien" über empirische Zusammenhänge gehört und "rational schon nicht mehr zu erklären" ist. 71 Wenn auch die strafrechtliche Diskussion einen ganz anderen Grad der Intensität erreicht hat. Dies mag damit zusammenhängen, dass das Zivilrecht allgemein nicht unter einem derartigen Lgitimationsdruck steht. 72 Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 145 Nr. 3 (S.437). 73 Vgl. hierzu Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 145 Nr.5 (S.438); Deutsch, WahlFestschrift, S. 339, S. 340. 74 So StolI, Haftungsfolgen, S. 60. 75 Zu den formellen Unterschieden vgl. Heck, Grundriß des Schuldrechts, 1929, § 146 Nr. 1-8; Ransiek, ZGR 1992, S. 203, passim; Deutsch, Wahl-Festschrift, S. 339, S.340ff.

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Einführung: Haftung und Strafrecht im Rechtssystem

Strafe jede Sanktion, die vom Strafgericht wegen einer Tat als Strafe gegen den Täter verhängt wird. Für die öffentliche Strafe ist damit wesentlich, dass durch sie die Tat von Staats wegen öffentlich als Verstoß gegen elementare Sätze der Rechtsordnung missbilligt und gebrandmarkt wird. Dagegen ist die privatrechtliche Haftungsfolge des Schadenersatzes Gegenstand eines auf materielle Wiedergutmachung gerichteten Leistungsanspruchs des Verletzten gegen den Täter, wobei diese Haftungsfolge unabhängig von der öffentlichen Missbilligung der schadensursächlichen Tat eintritt. Für den folgenden Teil kann daher im Auge behalten werden, dass die Regelungssysteme des öffentlichen Strafrechts und des privaten Deliktsrechts schon wegen ihrer gemeinsamen Herkunft eng verwandt sind und auch heute noch nach allgemeiner Meinung die gleichen Aufgaben erfüllen sollen. Aus diesem Grunde sind Ausgestaltung und Handhabung der zivilrechtlichen Haftung bei Insolvenzverschleppung einerseits und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit andererseits für einen Vergleich und eine Bewertung hervorragend zugänglich.

Erster Teil

Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit des GmbH -Geschäftsführers bei Insolvenzverschleppung Bisher haben nur wenige Grenzgänger die verwandten Rechtsgebiete Strafrecht und Deliktsrecht einander gegenübergestellt I. Die angestellten Vergleiche und Überlegungen beziehen sich jedoch allesamt jeweils auf die gesamten Regelungsbereiche. Sie sind daher notwendigerweise pauschal und für den Einzelfall nicht sehr aussagekräftig. Auch in der Entkriminalisierungsdiskussion der Strafrechtslehre ist das Steuerungspotential des Zivilrechts weitgehend unbekannt 2• Zur Bereicherung der Diskussion soll hier am konkreten Beispiel eines Tatbestandes, der sowohl deliktsrechtlich als auch strafrechtlich durchgeformt ist, eine detaillierte Gegenüberstellung vorgenommen werden. Um ein plastisches Verständnis des Untersuchungsgegenstandes zu erreichen, werden in diesem ersten Teil die Systeme der zivilrechtlichen Haftung und der strafrechtlichen Verantwortlichkeit beschrieben. Zunächst werden die materiellrechtlichen Tatbestände und Probleme erläutert. Das materielle Recht bildet nur den einen Teil der Rechtsgeltung. Um die Rechtsgeltung im ganzen zu erfassen, muss auch die praktische Seite des materiellen Rechts, das heißt die Durchsetzbarkeit der dargelegten Haftungsvoraussetzungen bekannt sein. Soll nämlich oberster Ordnungsfaktor das Recht sein, genügt dieser Aufgabe nicht allein die schriftliche Niederlegung von Rechtsregeln; hinzukommen muss vielmehr, dass sie auch in der Wirklichkeit Durchsetzungskraft erlangen 3 • Im Anschluss an die tatbestandlichen Voraussetzungen der zivil- und strafrechtlichen Haftung werden daher auch die Grundsätze der Durchsetzung der Normen dargestellt. Damit sind dann alle Elemente der Rechtsgeltung behandelt worden und können verglichen werden.

1 Die wichtigsten sind Stall, Frehsee, Deutsch und Ransiek. Sie sind bei der Bearbeitung intensiv berücksichtigt worden. 2 Beispielhaft sei als Nachweis hier die Arbeit von Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, genannt, weil diese Arbeit nahezu umfassend sämtliche in der Strafrechtslehre vorhandenen Diskussionsansätze berücksichtigt. Das Deliktsrecht ist in den Überlegungen jedoch nicht ernsthaft berücksichtigt worden (V gl. S. 350 f., S. 364 f.). 3 Nothhelfer, Freiheit, S. 89.

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I. Teil: Zivilrechtliehe Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages Die Vorschrift des § 64 Abs. 1 GmbHG verpflichtet die Geschäftsführer einer GmbH anknüpfend an die Insolvenzgründe Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung, § 63 GmbHG, §§ 17, 19 InsO, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen. Die Vorschrift lautet: "Wird die Gesellschaft zahlungsunfahig, so haben die Geschäftsführer ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber drei Wochen nach Eintritt der Zahlungsunfahigkeit, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen. Dies gilt sinngemäß, wenn sich eine Überschuldung der Gesellschaft ergibt."

I. Sinn und Zweck der Pflicht Die Vorschrift bezweckt, die Geschäftsführer als die zur Vertretung der Gesellschaft berufenen Organe zur Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu veranlassen. Sie macht dadurch aus dem Recht zur Antragstellung (§§ 11, 15 InsO) eine zwingende zivilrechtliche Antragspflicht 4 • Es soll für die Beachtung der in § 63 GmbHG geregelten Insolvenzgründe gesorgt werden. Die Pflicht des Geschäftsführers geht dabei nicht primär auf Insolvenzantragsteilung, sondern das Gesetz untersagt die Fortsetzung der insolventen Gesellschaft außerhalb des Insolvenzverfahrens 5• Im Interesse von Rechtsverkehr und Öffentlichkeit soll durch die Vorschrift soweit möglich Vorsorge dafür getroffen werden, dass insolvenzreife Gesellschaften mit beschränktem Haftungsfonds nicht länger am Geschäftsverkehr teilnehmen und dadurch Gläubiger schädigen oder gefährden 6 • Der Pflicht liegt die Annahme zu Grunde, dass eine insolvenzreife Gesellschaft eine Gefahr für den Rechtsverkehr und die Gläubiger darstellt: Sie müsse vom Markt genommen werden, weil sie kein "tauglicher Geschäftspartner" mehr seF. Die Insolvenzantragspflicht dient damit den Vermögensinteressen sowohl der aktuellen als auch der potentiellen Gläubiger8• Es soll sichergestellt werden, dass für Personenverbindungen und sonstige juristische Personen des Privatrechts eine Teilnahme am Rechtsverkehr als werbendes Unternehmen nicht möglich ist, wenn sie ihr gesamtes Eigenkapital verloren haben und den Gläubigem auch keinen Aus4 V/mer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 1 ist der Ansicht, es handele sich um eine öffentlich-rechtliche Pflicht. Diese Einordnung wiederspricht aber sämtlichen Theorien zur Abgrenzung des öffentlich-rechtlichen Bereichs vom zivilrechtlichen. Allein der Umstand, dass die Pflicht durch ein Gesetz angeordnet wurde, macht sie öffentlich-rechtlich: auch das Zivilrecht ist in Gesetzen festgelegt. 5 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. I. 6 V/mer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. I; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn.lO. 7 A/tmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, §64 Rdn.16. 8 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 12.

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages

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gleich durch unbeschränkte Haftung natürlicher Personen bieten. Dies geschieht aus Gründen des Gläubigerschutzes dann, wenn eine für die Gläubiger kritische Vermögensmasse erreicht ist 9• Die Insolvenzantragspflicht des Geschäftsführers, speziell diejenige im Falle der Überschuldung, geht mit der Haftungsbeschränkung der juristischen Personen, insbesondere der GmbH, einher. Gläubigerrisiken, die durch die Konstruktion der GmbH als Gesellschaft ohne persönlich haftende natürliche Person entstehen, sollen vermindert werden.

11. Entstehung der Insolvenzantragspflicht Die Entstehung der Insolvenzantragspflicht setzt in objektiver Hinsicht den realen Eintritt IO einer der beiden Insolvenzgründe, Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, voraus. Die Antragspflicht besteht fort, solange der Insolvenzgrund nicht beseitigt ist 11. In subjektiver Hinsicht war lange Zeit unklar, inwieweit dem antragspflichtigen Geschäftsführer der Eintritt des Insolvenzgrundes bekannt sein muss. Insofern zeichnet sich in Literatur und Rechtsprechung eine Klärung ab l2 • Inhalt der (entstandenen) Pflicht ist es, ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber nach drei Wochen, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen l3 •

1. Zahlungsunfähigkeit In § 64 Abs. I S. 1 GmbHG ist als erster Anknüpfungspunkt für die Antragspflicht der Insolvenzgrund der Zahlungsunfähigkeit genannt. Die Zahlungsunfähigkeit ist gemäß § 17 Abs. 1 InsO der allgemeine (für alle Schuldner geltende) Eröffnungsgrund für das Insolvenzverfahren. § 17 Abs. 2 InsO enthält als gesetzliche Definition der Zahlungsunfähigkeit: "Der Schuldner ist zahlungsunfähig, wenn er nicht in der Lage ist, die fälligen Zahlungspflichten zu erfüllen. Zahlungsunfähigkeit ist in der Regel anzunehmen, wenn der Schuldner seine Zahlungen eingestellt hat."

Eine solche Legaldefinition fehlte bis zur Einführung der Insolvenzordnung. Nach der von der bisherigen h. M. verwendeten Formel war der Schuldner zahlungsunfähig, wenn er aufgrund eines Mangels an Zahlungsmitteln dauerhaft nicht mehr in der Lage ist, seine ernsthaft eingeforderten Geldschulden im wesentlichen zu berichtigen. 14 Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 63 Rdn. I. Vgl. kurz zur Entwicklung: Altmeppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, §64 Rdn.3. II BGHSt 28, S.371, S.380; K. Schmidtin: Scholz, GmbHG, §64 Rdn.16. 12 Siehe unten 3.c). 13 Zutreffende Einordnung dieses Problempunktes als Pllichtinhalt von Altmeppen in: Roth/ Altmeppen, GmbHG, §64 Rdn.8f. 14 RGZ 50, S.39, S.4I; BGH KTS 1957, S.12; BGH WM 1957, S.67, S.68; BGH NJW 1962, S.102; Kilger/K. Schmidt, Insolvenzgesetze, § 102 Anm. 2a; Jaeger/Henckel, Konkursordnung, § 30, Rdn. 20; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rdn. 7.17. 9

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Gegenüber dieser Definition verzichtet die Legaldefinition auf verschiedene Merkmale. So wird nicht mehr erwähnt, dass die Zahlungsunfahigkeit auf einem Mangel an Zahlungsmitteln beruhen muss. Dieser Zusatz ist jedoch ohnehin überflüssig, denn eine Zahlungsunfähigkeit beruht immer auf Geidmangel. I5 Ebenfalls gestrichen wurde das Merkmal der Dauer. In der Entwurfsbegründung zur Insolvenzordnung heißt es, es verstehe sich von selbst, dass eine vorübergehende Zahlungsstockung keine Zahlungsunfahigkeit begründe. Dieser Fall sei etwa dann gegeben, wenn in einem bestimmten Zeitpunkt liquide Mittel fehlten, weil eine erwartete Zahlung nicht eingegangen sei, der Schuldner sich die Liquidität aber kurzfristig wieder beschaffen könne. Es werde aber davon abgesehen, eine "andauemde" Unfähigkeit zur Erfüllung der Zahlungspflichten zu verlangen, weil dies als Bestätigung der verbreiteten Neigung verstanden werden könne, den Begriff der Zahlungsunfähigkeit stark einzuengen und auch eine sich über Wochen oder sogar Monate erstreckende Illiquidität zu einer rechtlich unerheblichen Zahlungsstockung zu erklären. 16 Durch den Verzicht auf das Merkmal der Dauer sollte also den bisherigen Diskussionen um Zeiträume bis zu sechs Monaten 17 der Boden entzogen werden. Klargestellt wurde, dass sich der Zeitraum der Zahlungsstockung nur noch auf wenige Tage erstrecken darf, um nicht zu einer rechtlich relevanten Zahlungsunfähigkeit zu werden. 18 Innerhalb dieses Zeitraums hat also der Schuldner Zeit, sich durch einen Bankkredit flüssige Mittel zu verschaffen. Gelingt ihm das nicht, ist er in der Regel zahlungsunfähig. 19 Weiterhin fehlt in der Legaldefinition das Merkmal der Wesentlichkeit. Auch hierauf hat der Gesetzgeber verzichtet, um "bisherigen Tendenzen zu einer übermäßig einschränkenden Auslegung des Begriffs der Zahlungsunfähigkeit" entgegenzuwirken. 20 Bisher wurde angenommen, dass das Verhältnis der mit den verfügbaren Mitteln beglichenen Forderungen zu den noch offenen zwischen 75-90 % liegen müsse,21 bzw. dass das Verhältnis der bezahlten zu den unbezahlten Schulden die Regel und nicht die Ausnahme sei. 22 Derartige Berechnungen sind aus Sicht des Gläubi15 Kuhn/Uhlenbruck, Konkursordnung, § 102 Rdn.2. Eingehend: Temme, Eröffnungsgründe, S. 10ff. 16 Vgl. bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S. 316. 17 V gl. dazu die Aufzählung bei Drukarczyk/Schüler, Kölner Schrift, S. 57, Rdn. 24. Das Bay ObLG nimmt z. B. an, dass für die Annahme der Zahlungsunfähigkeit die sichere Prognose erforderlich ist, dass das Unternehmen in den nächsten drei Monaten die entsprechenden forderungen erfüllen kann. Positive Liquiditätsentwicklungen der nächsten drei Monate sind daher zu berücksichtigen. vgl. Bay ObLG BB 1996, S. 1840, m. w. N. 18 Pape in: Kübler/prütting, InsO, § 17 Rdn. 9. 19 Vgl. die Begründung des Regierungsentwurfs bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S.316. 20 So die Begründung des Regierungsentwurfs bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S.316. 21 Das Bay ObLG nimmtz.B. an, dass eine Unterdeckung von 25 % erforderlich ist, umZahlungsunfahigkeit annehmen zu können, vgl. Bay ObLG BB 1996, S. 1840, m. w. N. 22 Kuhn/Uhlenbruck, Konkursordnung, § 102, Rdn.2a.

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages

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gers, dessen Forderungen über einen längeren Zeitraum nicht bezahlt werden, ohnehin äußerst problematisch. 23 Sie entfallen nach der Stellungnahme des Gesetzgebers in Zukunft. Der Schuldner ist auch dann zahlungsunfähig, wenn er nur einen kleinen Teil seiner fälligen Verbindlichkeiten nicht begleichen kann. 24 Zwar ist dem Gesetzgeber zufolge auch hier "selbstverständlich", dass ganz geringfügige Liquiditätslücken außer Betracht bleiben müssen,25 es ist aber dennoch nicht gerechtfertigt, Zahlungsunfähigkeit erst anzunehmen, wenn der Schuldner einen bestimmten Bruchteil der Gesamtsumme seiner Verbindlichkeiten nicht mehr erfüllen kann. 26 Schließlich erwähnt die Legaldefinition das ernsthafte Einfordern nicht mehr und hebt anstatt dessen nur noch auf die fälligen Zahlungsverpflichtungen ab. Teilweise wurde mit der Voraussetzung des ernsthaften Einforderns die Vorstellung verbunden, dass ein erheblicher Druck - bis zu Vollstreckungsversuchen des Gläubigers - auf dem Schuldner lasten müsse. 27 Bereits vor Inkrafttreten der Insolvenzordnung ging der Bundesgerichtshof jedoch davon aus, dass einfache Mahnungen und auch telefonische Zahlungsaufforderungen ausreichen, um die Voraussetzung zu erfüllen. 28 Nach der nunmehrigen Legaldefinition genügt es, dass die offene Verbindlichkeit nicht gestundet ist. 29 Erzwungene Stundungen jedoch, die dadurch entstehen, dass es dem (zahlungsunfähigen) Schuldner gelingt, seine Gläubiger über längere Zeiträume hinweg zu vertrösten oder dadurch dass die Gläubiger Klage und Vollstreckung nicht vornehmen (lassen), weil sie das für aussichtslos halten, gelten nicht mehr als Hinderungsgrund, um Zahlungsunfähigkeit annehmen zu können. Nur echte Stundungen, bei denen die Fälligkeit einvernehmlich herausgeschoben wird, hindern die Annahme der Zahlungsunfähigkeit 30 . Die Zahlungseinstellung des S. 2 von § 17 Abs. 2 InsO ist die stärkste Form der Zahlungsunfähigkeit und wird dahingehend definiert, dass die (intern gegebene) 23 Der Gläubiger kann nicht wissen, in: welchem Verhältnis seine (und möglicherweise die von anderen ihm unbekannten Gläubigem) offene Forderung zu den bezahlten Forderungen steht. 24 Vgl. Wimmer, NJW 1996, S.2546, S.2547; Pape in: Kübler/Prütting, InsO, § 17 Rdn.13; BurgerlScheliberg, BB 1995, S.261, S.262. 25 Selbst dies will Temme, Eröffnungsgründe, S. 32 ff. nicht gelten lassen: jedes noch so geringe Unvermögen des Schuldners reiche für eine Zahlungsunfähigkeit aus. Ähnlich KuhnlUhlenbruck, Konkursordnung, § 102 Rdn. 2: Zahlungsunfähigkeit liegt bereits vor, wenn der Schuldner außerstande ist, einen Gläubiger zu befriedigen, unabhängig von der Höhe sonstiger Verbindlichkeiten. 26 So die Begründung des Regierungsentwurfs bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S.316. 27 Vgl. Pape in: Kübler/Prütting, InsO, § 17 Rdn.3. 28 Vgl. BGH ZIP 1997, S.1926, S.1927. 29 Vgl. KuhnlUhlenbruck, Konkursordnung, § 102, Rdn. 2 c. Zum Problem der Stundung vgl. Temme, Eröffnungsgründe, S. 23 f. 30 Pape in: Kübler/prütting, InsO, § 17 Rdn.6; Uhlenbruck in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rdn. 567.

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Zahlungsunfahigkeit für die beteiligten Verkehrskreise erkennbar wird. 31 Dieses Merkmal hat die Funktion, den Beweis der Zahlungsunflihigkeit zu ermöglichen. Liegt Zahlungseinstellung vor, so erübrigt sich regelmäßig der Beweis der Zahlungsunfahigkeit. 32 Außerdem werden Insolvenzanträge der Gläubiger zumeist mit der Einstellung der Zahlung durch den Schuldner begründet. Indizien 33 für den Eintritt der Zahlungsunfahigkeit sind die tatsächliche Nichterfüllung größerer Geldschulden trotz Fälligkeit und Mahnung,34 die Häufung von Zahlungsklagen, Vollstreckungsmaßnahmen oder Wechselprotesten, 35 die Nichtzahlung von Löhnen, Gehältern und Sozialabgaben,36 die wiederholte Hingabe ungedeckter Schecks 3? und die Abgabe der eidesstattlichen Versicherung durch die Geschäftsführer 38 . 2. Überschuldung Der zweite Anknüpfungspunkt für die Entstehung der Insolvenzantragspflicht ist gemäß § 64 Abs. 1 S. 2 GmbHG der Insolvenzgrund der Überschuldung. Gemäß § 19 Abs. 1 InsO ist die Überschuldung für juristische Personen 39 neben der Zahlungsunfahigkeit weiterer Eröffnungsgrund. Auch für diesen Insolvenzgrund hat die InsO in § 19 Abs.2 eine Legaldefinition geschaffen. § 19 Abs. 2 InsO lautet: "Überschuldung liegt vor, wenn das Vermögen des Schuldners die bestehenden Verbindlichkeiten nicht mehr deckt. Bei der Bewertung des Vermögens des Schuldners ist jedoch die Fortführung des Unternehmens zugrunde zu legen, wenn diese nach den Umständen überwiegend wahrscheinlich ist."

Mit dieser Legaldefinition hat sich der Gesetzgeber im Streit um den Inhalt des Begriffes, der schon seit Einführung des Konkursgrundes der Überschuldung währt 40, klar zugunsten eines bestimmten Überschuldungsbegriffes entschieden 41 . 31 BGH WM 1961, S.1297; 1974, S.570; 1975, S.6; BGH NJW 1985, S.1785; BGH ZIP 1995, S.929, S.930; KuhnlUhlenbruck, Konkursordnung, § 102 Rdn. 2f.; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 63 Rdn. 8. 32 KuhnlUhlenbruck, Konkursordnung, § 30 Rdn. 2; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 63 Rdn.17. 33 Vgl. auch die Auflistung bei Jaeger/Henckel, Konkursordnung, § 30 Rdn. 14; Uhlenbruck in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rdn.563; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 63 Rdn. 18; KuhnlUhlenbruck, Konkursordnung, § 30 Rdn. 8. 34 Vgl. BGH NJW 1984, S. 1953; Zur Unbeachtlichkeit der Erfüllung kleinerer Schulden als Gegenindiz vgl. BGH NJW 1985, S. 1785. 35 RGZ 50, S.38, S. 41; zurückhaltend jedoch BGH WM 1959, S. 89lf. und NJW 1962, S. 102, S. 104. 36 RG Recht 1919, Nr.3594; vgl. auch BGH BB 1957, S.941, S.942. 37 Vgl. BGH WM 1959, S.892; BGH DB 1975, S.147. 38 BGH ZIP 1995, S.211, S.212; K. SchmidtlUhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rdn.563. 39 Die Beschränkung der Überschuldung auf juristische Personen hat ihren Grund darin, dass die Haftung einer natürlichen Person fehlt, vgl. hierzu Pape in: Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rdn. 3; Häsemeyer, Insolvenzrecht, Rdn.7.16. 40 Vgl. zur Entwicklung des Überschuldungsbegriffes Höjfner, BB 1999, S. 198, S. 198ff.

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages

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Es handelt sich bei dem Überschuldungsbegriff des § 19 Abs. 2 InsO um den sogenannten zwei stufigen Überschuldungsbegriff42 , eine bilanzielle Art der Überschuldungsfeststellung. Die Überschuldung ergibt sich also aus einem Überschuldungsstatus 43 • Die zwei stufige Prüfungsmethode versucht, die gedanklichen Ansätze der bei den Bewertungsprämissen Zerschlagung bzw. Fortführung zu verbinden 44 • Nach welcher Bewertungsprämisse in der Überschuldungsbilanz vorzugehen ist, entscheidet der erste Prüfungsschritt, die sogenannte Fortbestehens- oder Überlebensprognose. Dabei soll untersucht werden, ob das Unternehmen als Ganzes fortgeführt oder veräußert werden kann, ob wesentliche Teile im Ganzen veräußert werden können oder ob das Unternehmen - gegebenenfalls nach einer Reorganisation und Sanierung - in Zukunft Ertrag erwirtschaften kann 45 • In die sorgfältige und sachverständige Prüfung mit einbezogen werden soll unter anderem die Lage der verschuldeten Gesellschaft, die Möglichkeiten von Einsparungen, von Rationalisierungen, Aufnahme von Krediten, Sanierungsmaßnahmen USW. 46 . Kommt diese Untersuchung zu einem negativen Ergebnis, so sind in den Überschuldungsstatus Zerschlagungswerte einzusetzen, bei einem positiven Ergebnis dementsprechend Fortführungswerte 47 • Mit der Entscheidung für den zwei stufigen Überschuldungsbegriff hat sich der Gesetzgeber ausdrücklich gegen den seit der BGH-Entscheidung vom 13. Juli 1992 48 von der ständigen Rechtsprechung vertretenen 49 "neueren zwei stufigen Pape in: Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rdn. 2. Das zweistufige Prüfungsverfahren wird vertreten von: Auler, DB 1976, S. 2169, S. 2l70; Blumers, BB 1976, S.1441, S.1442; Deutler, GmbHR 1977, S.36, S.38f.; Gurke, Verhaltensweisen und Sorgfaltspflichten von Vorstandsmitgliedern und Geschäftsführern, S. 53 f. Herget, AG 1974, S.137, S.138; Mühlberger, GmbHR 1977, S.146, S.149; Pribilla, KTS 1958, S.l, S.6; Siedschlag, Ansatzpunkte, S. 92; Zilias, Wpg 1977, S.445, S.448; Förschle/Kofahl in: Budde/Förschle, Sonderbilanzen, Abschn. P Rdn. 92 ff.; Altmeppen, ZIP 1997, S.1173, S.1175. 43 Pape in: Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rdn. 7. 44 Vgl. zu diesen Prämissen eingehend Höjfner, BB 1999, S.198, S. 199f. 45 Pribilla, KTS 1958, S. 1, S. 7. Vgl. auch mw, Stellungnahme des Fachausschuß Recht FAR 1/1996: Empfehlungen zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen, Wpg 1997, S.22, S.23f. 46 Pribilla, KTS 1958, S. 1, S.7; zustimmend Hirtz, Vorstandspflichten, S. 64ff.; ebenso, aber auf den "wirklichen Gegenwartswert" abstellend, Zilias, Wpg 1977, S.445, S.447 f. 47 Pribilla, KTS 1958, S. I, S. 7; Vgl. auch FörschlelKofahl in: Budde/Förschle, Sonderbilanzen, Abschn. P Rdn. 101. 48 BGHZ 119, S.201 ff. 49 Bestätigung für die GmbH, Urteil vom 6.6.1994 - BGHZ 126, S. 181, S. 199; für die Aktiengesellschaft, Urteil vom 20. März 1995 - BGHZ 129, S. 136 = AG 1995, S. 368. Weiterhin: BGH NJW 1997, S. 3026, S. 3027; BGH ZIP 1998, S. 776, S. 778 f. Vgl. die unterinstanzlichen Entscheidungen LG Düsseldorf, Urteil vom 22.12.1992 - NJW-RR 1993, S.415, S.4l7; OLG Hamm, Urteil vom 25.1.1993 - NJW-RR 1993, S.1445; OLG Düsseldorf, Urteil vom 10.3.1995 - WM 1995, S. 1024, S. 1026; Urteil vom 18. April 1997 - WiB 1997, S. 1087, S. 1088; LG Waldshut-Tingen, Urteil vom 28.7.1995 - BB 1995, S. 2365; OLG Celle, Urteil vom 6.9.1995 - VIZ 1996, S.95, S.97. Anders anscheinend nur OLG Hamburg, Urteil vom 21.4.1995 - NJW 1995, S, 1506, in dem zwar von einer rechnerischen und rechtlichen Überschuldung gesprochen wird (S. 1506), die Prüfung einer negativen Fortbestehensprognose jedoch mit keinem Wort erwähnt wird (S. 1506f.). 41

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3 Höffner

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Überschuldungsbegriff" gewandt. Dieser "neuere zwei stufige Überschuldungsbegriff" unterscheidet zwischen "rechnerischer" und "rechtlicher" Überschuldung 50 • Die rechnerische Überschuldung wird nach Zerschlagungswerten bestimmt51 • Sie ergibt sich damit aus einem Überschuldungsstatus, in den Zerschlagungswerte einzusetzen sind. Diese rechnerische Überschuldung soll aber auch bei einem negativen Ergebnis (Gesellschaft rechnerisch überschuldet) nicht zu einer Insolvenzantragspflicht führen, sondern begründet diese nur dann, wenn die auf einer zweiten Stufe durchzuführende Prognose der Ertrags- und Lebensfahigkeit negativ ausfällt 52 • Erst dann soll die Gesellschaft "rechtlich überschuldet" sein 53 • Während also bei der (konventionellen) zweistufigen Überschuldungsprüfung des Gesetzgebers die Fortbestehens- oder Überlebensprognose lediglich im Rahmen der Bewertung des Vermögens im Überschuldungsstatus eine Rolle spielt54, ist sie beim "neueren zwei stufigen Überschuldungsbegriff" das praktisch allein entscheidende Moment der Überschuldungsprüfung 55 • Die von der ständigen Rechtsprechung vertretene Ansicht hatte der Gesetzgeber der InsO jedoch ausdrücklich abgelehnt. In der Begründung des Gesetzentwurfes heißt es: "Der (Rechts-)Ausschuss hat die Definition der Überschuldung in Abs. 2 (des § 19 InsO) um einen Satz ergänzt, aus dem sich ergibt, dass auch bei einer positiven Prognose für die Fortführung des Unternehmens nicht von vornherein ausgeschlossen ist, dass Überschuldung vorliegt. Allerdings ist bei einer solchen positiven Prognose das Vermögen mit Fortführungswerten anzusetzen. ... Der Ausschuss weicht damit entschieden von der Auffassung ab, die in der Literatur vordringt und der sich kürzlich auch der Bundesgerichtshof angeschlossen hat (BGHZ 119,201,214). Wenn eine positive Prognose stets zu einer Verneinung der Überschuldung führen würde, könnte eine Gesellschaft trotz fehlender persönlicher Haftung weiter wirtschaften, ohne dass ein die Schulden deckendes Kapital zu Verfügung steht. Dies würde sich erheblich zum Nachteil der Gläubiger auswirken, wenn sich die Prognose - wie in dem vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall - als falsch erweist. "56 Der Gesetzgeber hat sich damit entschieden gegen die Ansicht des Bundesgerichtshofs zum Überschuldungstatbestand gewandt. Zum einen hat er in den Gesetzesmaterialien ausdrücklich betont, dass er den von der ständigen Rechtsprechung vertretenen Überschuldungsbegriff ablehnt, zum anderen hat K. Schmidt, JZ 1982, S. 165, S. 170; Ulmer, KTS 1981, S.469, S. 478. K. Schmidt, AG 1978, S. 334, S.337; Ulmer, KTS 1981, S.469, S.478. Zum Inhalt der Liquidationswerte im Sinne des ..neueren zweistufigen Überschuldungsbegriffes" vgl. Rowedder in: Rowedder, GmbHG, §63 Rdn.12-14. 52 Ulmer, KTS 1981, S.469, S.478. 53 Siehe hierzu im einzelnen Höjfner, BB 1999, S. 198, S. 201 f. 54 So zutreffend Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 63, Rdn. 12, 15. 55 Kritisch hierzu Pape in: Kübler/Prütting, InsO, § 19 Rdn. 6. Vgl. eingehend Höjfner, BB 1999, S.198, S.204f., S.252, S.254. 56 So die Beschlussempfehlung des Rechtsausschusses zu § 23 Abs. 2 (RegE) bei Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S. 320. 50

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A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages

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er eine Fassung des Gesetzestextes verabschiedet, der es der zukünftigen Rechtsprechung unmöglich machen soll, am "neueren zweistufigen Überschuldungsbegriff" festzuhalten. Im Bereich des Überschuldungsmerkmals stehen sich damit zwei der obersten deutschen Rechtsinstanzen mit unterschiedlichen Ansichten gegenüber. Ob die Rechtsprechung an der gesetzlichen Überschuldungsdefinition vorbeigehen kann und ihre Ansicht durchsetzt, bleibt abzuwarten. K. Schmidt ist derweil der Ansicht, die Ablehnung seines "neuen zweistufigen Überschuldungsbegriffes" sei "weithin von Missverständnissen (des Gesetzgebers) geprägt"57. Er erwartet, dass sich die Rechtsprechung zwar die Formeln des neuen Rechts zu eigen machen wird, ohne jedoch sachlich von der bisherigen Praxis abzuweichen. 58 Andere Autoren bezweifeln jedoch, dass die Rechtsprechung sich wirklich von den Vorgaben des Gesetzgebers lösen kann. 59 Auch das Institut deutscher Wirtschaftsprüfer empfiehlt den Wirtschaftsprüfern, die mit einer Überschuldungsprüfung betraut sind, entsprechend dem vom Gesetzgeber verlangten Überschuldungsverständnis vorzugehen. 60 Wenn die Rechtsprechung weiterhin an ihrem Begriff der Überschuldung festhält, liegt möglicherweise ein Fall für das Bundesverfassungsgericht vor. 61

3. Subjektive Voraussetzungen Die subjektiven Voraussetzungen der Insolvenzantragsptlicht sind umstritten. 62 Für Unklarheit sorgt dabei, dass subjektive Voraussetzungen zumeist erst im Zusammenhang mit einer Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG diskutiert werden. 63 Außerdem verschwimmt das Problem, weil der Zusammenhang zwischen Beginn der Antragsptlicht, Ptlichtinhalt und Beginn der Dreiwochenfrist nicht hinreichend geklärt ist. K. Schmidt in: Kölner Schrift, S. 911 Rdn. 13. K. Schmidt in: K. SchmidtlUhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rdn.498. 59 Schüppen hält es für "kaum möglich", dass die Rechtsprechung am neueren zweistufigen Überschuldungsbegrifffesthält, vgl. Schüppen, OB 1994, S.197, S.199. Ablehnend zur BGHRechtsprechung im Hinblick auf die Fassung des § 19 Abs. 2 InsO und weiterer Gesetze: Altmeppen, ZIP 1997, S.1173, S.1175; ders. in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, §63, Rdn.12, 15; Pape in: Kübler/prütting, InsO, § 19 Rdn. 6; Höjfner, BB 1999, S. 252, S. 253 f.; Temme, Eröffnungsgründe, S. 113 ff. m. w. N. 60 Vgl./DW, Stellungnahme des Fachausschuß Recht FAR 1/1996: Empfehlungen zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen, Wpg 1997, S.22, S. 23, S. 25. 61 Vgl.Höjfner,BB 1999,S.198,S.205. 62 Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 64 Rdn.4. 63 Vgl. Z. B. BGHZ 126, S. 181, S. 199; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn.52; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 18. Schulze-Osterloh in: Baumbach/Hueck, GmbHG, §64 Rdn.27; ders., AG 1984, S.141, S.143ff. Anders: Mertens in: KölnerKommentar zum AktG, § 92 Rdn. 62. 57

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3*

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

a) Der Ansatzpunkt Nach herrschender Meinung ist der Verschuldensmaßstab für die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG Vorsatz und Fahrlässigkeit. 64 Dies ist jedoch eine ganz andere Frage als diejenige, ob § 64 Abs. I GmbHG

bereits selbst einen besonderen Verschuldensmaßstab enthält. Diese Frage wird von den meisten Kommentatoren des § 64 Abs. I GmbHG gar nicht erkannt und deswegen nicht diskutiert. 65 § 64 Abs. 1 GmbHG bestimmt jedoch, dass der Geschäftsführer (nachdem die Antragspflicht durch den Eintritt eines Insolvenzgrundes begonnen hat 66 ) ohne schuldhaftes Zögern, spätestens aber nach drei Wochen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen hat. Dies ist der Pflichtinhalt67 des § 64 Abs. I GmbHG. Dieser Inhalt der Antragspflicht enthält mit dem Passus "ohne schuldhaftes Zögern" ein Verschuldenselement 68 und stellt damit Anforderungen an die subjektive Seite des Verstoßes gegen § 64 Abs. I GmbHG. Ein Verstoß gegen die Antragspflicht liegt dann vor, wenn der Geschäftsführer bei der Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens schuldhaft zögert. Hier ist daher der richtige Ort, um subjektive Voraussetzungen für die Insolvenzantragspflicht zu erörtern. Wie der Gesetzestext dabei unmissverständlich zum Ausdruck bringt, ist das schuldhafte Zögern im Verhältnis zur Dreiwochenfrist der übergeordnete Gesichtspunkt. 69 Daher ist zunächst zu klären, welcher Verschuldensmaßstab mit dem schuldhaften Zögern verbunden ist und erst hernach die Frage zu stellen, ob dieser Verschuldensmaßstab durch die Dreiwochenfrist noch geändert werden kann.

b) Der Sorgfaltsmaßstab für den Pflichtinhalt Voraussetzung der Antragspflicht ist der objektive Eintritt des Insolvenzgrundes. 70 Insofern ist der Gesetzestext unmissverständlich. Die nächste Frage ist, welcher Sorgfaltsmaßstab an die Erfüllung der Pflicht zu stellen ist. Im Sinne des Gesetzestextes heißt die Frage: wann zögert der Geschäftsführer schuldhaft mit der Beantragung der Eröffnung des Insolvenzverfahrens? Insofern ist die von der herrschenden Meinung in bezug auf die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB vertretene Auf64 Vgl. nurBGHZ 126, S.181, S.199;Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, §64 Rdn.4; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 18. A. A.: Schulze-Osterloh in: Baumbach/Hueck, GmbHG, §64 Rdn.27; ders., AG 1984, S.141, S.143ff.; Mertens in: Kölner Kommentar zum AktG, § 92 Rdn. 62. 65 Eine Ausnahme bildet Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 64 Rdn. 4 f. 66 Siehe dazu sogleich c). 67 Zutreffende Charakterisierung von Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 64 Rdn. 8. 68 Vgl. auch Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 14. 69 Ebenso: K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16. 70 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, §64 Rdn. 14.

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages

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fassung zum Sorgfaltsmaßstab zu übernehmen: 71 das Zögern ist schuldhaft, sofern Vorsatz oder Fahrlässigkeit des Geschäftsführers vorliegt. Hierfür ist allerdings eine Begründung nachzuliefern, was die herrschende Ansicht bislang nicht getan hat: Zunächst knüpft der Gesetzestext ersichtlich an Fahrlässigkeit an. 72 Dafür, dass § 64 Abs. 1 GmbHG von § 276 Abs. 1 S. 1 BGB abweicht und an die Kenntnis der Krise anknüpft, ist nichts ersichtlich. Es ist daher vom Grundfall des bürgerlichen Rechts auszugehen, dass Verschulden sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit meint. Dies macht auch die Parallele zu § 121 Abs. 1 BGB deutlich. Dort ist bestimmt, dass die Anfechtung in den Fällen der §§ 119, 120 BGB ohne schuldhaftes Zögern erfolgen muss, nachdem der Anfechtungsberechtigte von dem Anfechtungsgrunde Kenntnis erlangt hat. Der Gesetzgeber benennt die subjektiven Haftungsvoraussetzungen, wenn diese von § 276 Abs. 1 S. 1 BGB abweichen sollen. Der Sorgfaltsmaßstab für die Pflichterfüllung in § 64 Abs. I GmbHG ist daher sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit. c) Die Dreiwochenjrist (1) Beginn

Demgegenüber beginnt nach früher herrschender Ansicht die Antragsjrist nicht schon mit dem objektiven Eintritt des Insolvenzgrundes, sondern erst, wenn der Geschäftsführer hiervon positive Kenntnis erlangt hat. 73 Nach dieser Auffassung fallen der Beginn der Antragspflicht und der Beginn der Dreiwochenfrist auseinander. 74 Dies soll dazu führen, dass bereits längst eine Pflichtverletzung vorliegt, wenn die Dreiwochenfrist beginnt. 75 Dann nämlich soll die Frist eine Unterbrechung des in der bestehenden Pflichtverletzung liegenden Dauerdelikts bewirken, während der dem Geschäftsführer weitere Verzögerungen des Insolvenzantrages nicht angelastet werden können, vorausgesetzt, er handelt ohne schuldhaftes Zögern im Interesse einer Sanierungschance. 76 Insofern führt der Bundesgerichtshof aus: "Das geschäftsführende Organ darf daher die Frist gegebenenfalls auch dann nach pflichtgemäßem Ermessen für Sanierungs bemühungen in Anspruch nehmen, wenn es die Konkurslage fahrlässig zu spät entdeckt und sich insoweit schadenersatzpflichtig gemacht Vgl. die Nachweise oben in Fußnote 64. Ebenso: Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 64 Rdn.4; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, §64 Rdn.18. 73 BGHSt 15, S. 306, S. 310; BGHZ 75, S. 96, S. 110; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn.25; Uhlenbruck, ZIP 1980, S. 73, S. 80. 74 Vgl. K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16; Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 64 Rdn. 6. 75 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16. Vgl. auch BGHZ 75, S. 96, S. 111. 76 Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 64 Rdn. 6 a. E. 71

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

hat".77 Das heißt, obwohl der Geschäftsführer schon längst schadenersatzptlichtig ist, darf er für Sanierungsbemühungen die Dreiwochenfrist (ab Kenntnis des Insolvenzgrundes) in Anspruch nehmen. Welchen rechtserheblichen Sinn diese durch den Bundesgerichtshof erteilte Erlaubnis für Sanierungsbemühungen haben soll, ist angesichts dessen, dass sich der Geschäftsführer bereits wegen Fahrlässigkeit schadenersatzptlichtig gemacht haben kann und es im vom Bundesgerichtshof entschiedenen Fall nur um die Schadenersatzptlicht ging, unerfindlich. Diese Verwirrung hängt mit der Dreiwochenfrist des § 64 Abs. 1 GmbHG zusammen. Die Dreiwochenfrist ist im Zusammenhang mit der Einführung der Vergleichsordnung 78 und der Gleichstellung von Konkursantrag und Vergleichsantrag 79 eingeführt worden 80. Den Geschäftsführern sollte die Möglichkeit gegeben werden, zwischen Konkurs- und Vergleichsantrag abzuwägen und die unter Umständen umfangreichen Voraussetzungen für einen ordnungsgemäßen Vergleichsantrag zu schaffen 8l • Im Anschluss hieran wurde die Frage diskutiert, ob die Dreiwochenfrist nur dann zu laufen anfangt, wenn der Geschäftsführer den Eintritt des Insolvenzgrundes kennt oder ob die Dreiwochenfrist laufen kann, wenn er diesen Umstand aus Fahrlässigkeit nicht kennt. 82 Die herrschende Ansicht, die annimmt, die Frist beginne erst in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem der Geschäftsführer positive Kenntnis vom Krisentatbestand hat 83 , begründet dies wie folgt: Die Frist diene dazu, die Wahl zwischen Konkurs- und Vergleichs antrag zu ermöglichen und eine Wahl könne nur dann stattfinden, wenn der Geschäftsführer weiß, dass er zu wählen hat 84 • Nur so könne die Frist ihren Zweck erfüllen, Sanierungsversuche zu ermöglichen, zumal sich der objektive Eintritt des Konkursgrundes kaum jemals zeitlich genau festlegen lasse 85 • Hieran ist zwar richtig, dass eine Wahl nur stattfinden kann, wenn man weiß, dass man zu wählen hat. Nur hindert dieser Gedanke nicht daran, einem Geschäftsführer auch dann einen Verschuldensvorwurf zu machen, wenn er gar nicht wusste, dass er wählen muss. Andernfalls könnte sich der Geschäftsführer sogar mit Desinteresse BGHZ 75, S. 96, S. 111, Hervorhebung im Original. Vom 5. Juli 1927, RGBl.I1927, S.139. 79 Gesetz über die Pflicht zum Antrag auf Eröffnung des Konkurses und des gerichtlichen Vergleichsverfahrens, RGBI. I 1930, S. 93. 80 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16. 8\ Vgl. die Begründung des Gesetz über die Pflicht zum Antrag auf Eröffnung des Konkurses und des gerichtlichen Vergleichsverfahrens, RT-Drucksache Nr. 1469 vom 7. Dezember 77 78

1929, S.4.

Vgl. hierzu Schulze-Osterloh, AG 1984, S.141, S.142ff. Vgl. Schulze-Osterloh in: Baumbach/Hueck, GmbHG, § 64 Rdn.9; Meyer-Landrut in: Meyer-Landrut, GmbHG, § 64 Rdn. 10; Rowedder in: Rowedder, GmbHG, § 64 Rdn. 8 jeweils mit weiteren Nachweisen. 84 Schulze-Osterloh, AG 1984, S.141, S.143. 85 BGHZ 75, S. 96, S. 111. 82 83

A. Die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages

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oder mangelnder Sachkenntnis entschuldigen. 86 Im übrigen ist mit der Einführung der Insolvenzordnung die Zweigleisigkeit des Insolvenzverfahrens - einerseits Konkursverfahren andererseits gerichtliches Vergleichsverfahren - abgeschafft und durch ein einheitliches Insolvenzverfahren abgelöst worden. 87 Nach jetzt geltendem Recht gibt es daher keine Wahlmöglichkeit zwischen zwei verschiedenen Verfahrensarten mehr, so dass die Argumentationsgrundlage für die herrschende Meinung entfallen ist. 88 Das neue Recht veranlasst somit dazu, sich auf die übergeordnete Frage des subjektiven Tatbestands zu konzentrieren. Wie der Gesetzestext insofern unmissverständlich zum Ausdruck bringt, ist die Dreiwochenfrist lediglich eine Konkretisierung des Verschuldensmaßstabs 89 . Der Geschäftsführer darf nach Eintritt des Insolvenzgrundes längstens drei Wochen zögern, damit dieses Zögern nicht als schuldhaft gilt. Hat man aber für den Verschuldensmaßstab sowohl Vorsatz als auch Fahrlässigkeit akzeptiert, kann man nicht über den Umweg der Konkretisierung des Verschuldensmaßstabs den strengeren Verschuldensmaßstab der Kenntnis (bzw. Vorsatz 2. Grades) einführen. Die herrschende Ansicht, die als Verschuldensmaßstab fahrlässiges Verhalten anerkennt,90 setzt sich hierzu in Widerspruch, wenn sie für den Fristbeginn Kenntnis verlangt. Denn dadurch wird das Merkmal der Antragspflicht zunächst im Sinne des Vorsatzes 2. Grades durchsubjektiviert, so dass erst die Informiertheit des Täters die Pflicht auslöst 91 . Da der Insolvenzgrund das einzige objektive Tatbestandsmerkmal des § 64 Abs. 1 GmbHG ist,92 gilt dieses Vorsatzerfordernis für den gesamten Tatbestand. Wie Geilen 93 festgestellt hat, wäre dann für einen fahrlässigen Pflichtverstoß praktisch kein Raum. Im Anwendungsbereich der Vorschrift blieben nur "Lappalien", wie z. B. nachträgliches Vergessen der AntragsteIlung (nachdem der Geschäftsführer bereits erkannt hat, dass er zahlungsunfähig oder überschuldet ist!) oder eine nachträglich fahrlässig geänderte Einschätzung der Überschuldung 94 übrig 95 . Es wäre aber absurd anzunehmen, der Vorwurf fahrlässigen Verhaltens gegen den Geschäftsführer würde sich auf derartige Fälle beschränken. 86 Vgl. K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, §64 Rdn.30. Dass dies nicht möglich ist erkennt die herrschende Meinung zwar, vgl. RG, LZ 1928, 1339 =GmbHRspr. IV Nr.3 zu § 64 GmbHG, Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 36, zieht daraus aberin bezug auf die Auslegung der Dreiwochenfrist nicht die nötigen Schlüsse. 87 Vgl. Uhlenbruck, Das neue Insolvenzrecht, S. 21. 88 Vgl. Uhlenbruck in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rdn. 1252. 89 Dies erkennt K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16. 90 Vgl. nur BGHZ 126, S. 181, S. 199 m. w. N. 91 BGH BB 1961, S. 387; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 364. 92 Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 14. 93 Geilen, Aktienstrafrecht, § 401 Rdn.39. 94 So im Fall BGHSt 15, S.306, S.310f. 95 Geilen, Aktienstrafrecht, §401 Rdn.39. Zustimmend: Tiedemann, GmbHR 1985, S.281, S. 282. Schulze-Osterloh meint hingegen, der Fall, dass der Geschäftsführer "die AntragsteIlung unter Verstoß gegen seine Sorgfalltsplficht verzögert oder unterläßt" , sei keine Lappalie und spreche daher gegen die Formulierung von Geilen. So Schulze-Osterloh, AG 1984, S.141, S.147.

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Darüber hinaus ist mittlerweile allgemein anerkannt, dass der Geschäftsführer als solcher verpflichtet ist, die wirtschaftliche Lage des Unternehmens laufend zu beobachten. 96 Diese Pflicht zur Eigenprüfung besteht nicht zuletzt im Hinblick auf die Verpflichtung zur unverzüglichen Einberufung einer Gesellschafterversammlung, wenn sich aus der lahresbilanz oder einer im Laufe des Geschäftsjahres aufgestellten Bilanz ergibt, dass die Hälfte des Stammkapitals verloren ist (§ 49 Abs. 3 GmbHG).97 Der Geschäftsführer handelt unter anderem schuldhaft, wenn er es versäumt, bei (lediglich objektiv vorliegenden) Anhaltspunkten für eine Krise für die Aufstellung eines Vermögensstatus zu sorgen. 98 Die Folge der ständigen Prüfungspflicht hinsichtlich eines Insolvenzgrundes ist, dass die GmbH so organisiert sein muss, dass ein Insolvenzgrund auch tatsächlich wahrgenommen werden kann, sobald er vorliegt. 99 Soll diese von Rechtsprechung und Lehre entwickelte Anforderung an die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsführers (§ 43 Abs. 1 GmbHG)loo nicht unterlaufen werden, kann die Dreiwochenfrist nicht erst mit Kenntnis des Insolvenzgrundes zu laufen beginnen. 101 Daher läuft die Frist des § 64 Abs. 1 GmbHG wie Uhlenbruck formuliert "ab Konkursreife gnadenlos". 102 (2) Bedeutung der Dreiwochenfrist Was die nach neuem Recht verbleibende Bedeutung lO3 der Dreiwochenfrist betrifft, ist festzuhalten, dass sie dem Ermessen des Geschäftsführers im Rahmen der Antragstellung eine objektiv festgelegte zeitliche Grenze setzt. 104 Die Frist wirkt absolut in dem Sinne, dass ein nach Fristablauf gestellter Insolvenzantrag in jedem Fall verspätet ist. 105 Das Gesetz hat mit der Dreiwochenfrist die Grundlage für außergerichtliche Sanierungsbemühungen geschaffen. Der Geschäftsführer hat daher bei Insolvenzreife für außergerichtliche Vergleichsgespräche mit den Gläubigem maximal drei Wochen Zeit. 106 Inwiefern er die Dreiwochenfrist ausnutzen darf, ist Frage des Einzelfalls. 107 96 Vgl. BGHZ 126, S.181, S.199; OLG Celle NZG 1999 S.I064, S.1065; Meyke, Haftung, B. VI. (Rdn.208). 97 Uhlenbruck, WiB 1996, S.409, S.413. 98 Vgl. BGHZ 126, S.181, S.199; Lutter/Hommelhojf, GmbHG, §64 Rdn.12, 33; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 52; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 30. 99 Uhlenbruck, WiB 1996, S.409, S.413. 100 Vgl. hierzu Altmeppen in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, § 43 Rdn. 3 ff. 101 So K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 18, Rdn. 30; Lutter/Hommelhojf, GmbHG, § 64 Rdn.26; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 52; Uhlenbruck, WiB 1996, S.409, S.414. 102 Uhlenbruck, WiB 1996, S.409, S.414. 103 Da keine Wahlmöglichkeit zwischen Konkurs- und Vergleichsantrag mehr existiert, ist der ursprünglich mit der Dreiwochenfrist verbundene Normzweck entfallen. 104 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16. 105 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 20. 106 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 16.

B. Zivilrechtliche Haftung: § 823 Abs. 2 BGB

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B. Zivilrechtliche Haftung: § 823 Abs. 2 BGB Der Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht löst zwei Sanktionen aus: zum einen macht sich der Geschäftsführer gegenüber den Gläubigern schadenersatzpflichtig nach § 823 Abs.2 BGB, zum anderen ist der Verstoß gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs.2 GmbHG strafbar. Zunächst wird hier die zivilrechtliche Haftung nach der Anspruchsgrundlage des § 823 Abs. 2 BGB untersucht. Es handelt sich dabei - obwohl die Haftung den Geschäftsführer persönlich trifft - nicht um eine Konstellation des Haftungsdurchgrijfs, sondern die Haftungsbeschränkung wird durch einen vom Durchgriff zu unterscheidenden Verschuldenstatbestand überwunden 108.

I. Die Anspruchsgrundlage § 823 Abs.2 BGB Nach § 823 Abs. 2 S. 1 BGB trifft denjenigen eine Schadenersatzpflicht, "welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt".

Die Vorschrift des § 823 Abs. 2 BGB ergänzt den durch §§ 823 Abs. 1, 826 BGB gewährten Schutz, indem sie eine deliktische Schadenersatzpfiicht allgemein an den Verstoß gegen Rechtsnormen knüpft, die dem individuellen Schutz des Betroffenen vor der erlittenen Beeinträchtigung zu dienen bestimmt sind. 109 Auf diese Weise werden Normen aus den verschiedensten Bereichen der Rechtsordnung für den Fall der Missachtung mit deliktsrechtlichen Folgen, das heißt mit Schadenersatz, bewehrt. 110 Dabei kommen als Schutzgesetze nicht nur Gesetze im formellen Sinn in Betracht, sondern entsprechend Art. 2 EGBGB Rechtsnormen jeder Art. 111 Auch ist es nicht notwendig, dass die Norm eine Strafe androht; vielmehr genügt es, wenn sie ein bestimmtes Gebot oder Verbot enthält. 112 § 823 Abs. 2 BGB geht tatbestandlich sowohl über § 823 Abs. 1 BGB als auch über § 826 BGB in wesentlichen Punkten hinaus und wird als einer der drei Grundtatbestände des Deliktsrechts qualifiziert ll3 • Gegenüber § 823 Abs. 1 BGB gewinnt § 823 Abs. 2 BGB im Bereich der abstrakten Gefährdungsdelikte eigenständige BeVgl. hierzu BGHZ 75, S. 96, S. 108, S. 110. K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, § 9 IV 4 b). 109 Vgl. Zeuner in: Soergel, BGB, § 823 Rdn.285. 110 Dies wird von Canaris als Hauptfunktion der Vorschrift bezeichnet, vgl. Canaris, Larenz-Festschrift 1983, S.27, S.47f. 111 RGZ 135, S.242, S. 245; BGH NJW 1977, S.1147, S. 1148; Bistritzki, Voraussetzungen, S.8ff. 112 Vgl. RGZ 128, S.298, S.300; 138, S.165, S.168; Canaris, Larenz-Festschrift 1983, S.27, S.49. 113 Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd. 2/2, § 77 12 a (S. 432). 107

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deutung" 4 , da dort nicht erst eine Rechtsgutsverletzung, sondern bereits eine Verhaltenspflichtverletzung zur Normverletzung führt. Die zweite Hauptfunktion von § 823 Abs. 2 BGB liegt in der Ausweitung der Haftung auf allgemeine oder primäre Vermögensschäden l15 • Vergleichsmaßstab kann hier nur § 826 BGB sein, der gleichfalls Vermögensschäden ersatzfähig macht. Der grundsätzliche Unterschied von § 823 Abs.2 BGB hierzu ist, dass auch dann eine Haftung des Schädigers für Vermögensschäden in Betracht kommt, wenn ihm lediglich Fahrlässigkeit zur Last flillt. Dies ist dann der Fall, wenn das Schutzgesetz des § 823 Abs.2 BGB auch durch fahrlässiges Verhalten verletzt werden kann, wie insbesondere § 64 Abs. 1 GmbHG I16 • In Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG kommen daher beide Besonderheiten des § 823 Abs. 2 BGB zum Tragen, weil § 64 Abs. 1 lediglich eine Verhaltenspflicht statuiert und keinen Erfolgseintritt verlangt und weil die Verschuldensanforderungen auch fahrlässiges Verhalten erfassen.

11. Voraussetzungen des § 823 Abs.2 BGB Die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB sind eine Schutzgesetzverletzung und rechtswidrig-schuldhaftes Verhalten. 117 1. Verstoß gegen ein Schutzgesetz Nicht jede Rechtsnorm ist geeignet, die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB zu begründen. Voraussetzung für die Annahme eines Schutzgesetzes im Sinne des § 823 Abs.2 BGB ist es, dass die betreffende Norm nicht lediglich den Schutz der Allgemeinheit oder eines sonstigen nicht-individuellen Rechtsgutes, sondern zumindest auch den Schutz des Einzelnen zum Ziel hat" 8 • Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut von § 823 Abs.2 BGB. 119 Nicht ausreichend ist es, wenn sich eine Norm zwar zum Vorteil bestimmter Personen oder Personengruppen auswirkt, hierauf aber nach ihrer Ordnungsfunktion nicht abzielt. 120 Es kommt dabei nicht auf die 114 Vgl. Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd.2/2, § 77 11 b (S.431). Eingehend: Canaris, Larenz-Festschrift 1983, S.27, S. 52 ff. 115 Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd. 2/2, § 77 I 1 c (S. 431 f.). 116 Siehe oben 1. Teil, A. 11. 3. b). 111 Vgl. Fuchs, Deliktsrecht, S.113. 118 Vgl. RGZ 128, S.298, S.3OO; 138, S.219, S.231; BGHZ 12, S.146, S.148; 22, S.293, S. 297; 40, S. 306, S. 307; 64, S. 232, S. 237; IOD, S. 13, S. 14; 106, S. 204, S. 206f.; 122, S.I, S.3. Dieses Kriterium ist freilich nahezu ohne Aussagekraft und damit praktisch weitgehend unbrauchbar: Institutionenschutz ist meist kein Selbstzweck, sondern dient auch dem Individualschutz. Vgl. Canaris, Larenz-Festschrift, S.27, S. 46f.; Knöpfte, NJW 1967, S.697, S. 697 ff.; Schmiedel, Deliktsobligationen, 1. Teil, S. 113 ff. 119 Canaris, Larenz-Festschrift, S. 27, S.46. 120 Vgl. BGHZ46, S.17, S.23; 105, S.121, S.124; 116, S. 7, S.13; BGH NJW 1973, S.1547, S.1548.

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Wirkung, sondern auf Inhalt und Zweck des Gesetzes nach der Intention des Gesetzgebers bei seinem Erlass an. 121 Die Schaffung eines individuellen Schadenersatzanspruchs muss erkennbar vom Gesetz erstrebt sein oder zumindest im Rahmen des haftpflichtrechtlichen Gesamtsystems tragbar erscheinen. 122 Handelt es sich um ein deliktsrechtlich erhebliches Schutzgesetz, so ist erforderlich, dass der Anspruchsteller zum Kreis der geschützten Personen gehört (persönlicher Schutzbereich der Norm). Es gibt keinen umfassenden zivilrechtlichen Schutzbereich, sondern nur einzelne Personen oder Mitglieder von Personengruppen, deren Interessen deliktsrechtlich wahrgenommen werden. 123 Wenn die verletzte Norm Individualschutz entfaltet und der AnspruchssteIler zum Kreis der geschützten Personen gehört, ist darüber hinaus notwendig, dass sie gerade vor Schädigungen der eingetretenen Art zu schützen bestimmt ist, der jeweilige Schaden also vom Schutzzweck der Norm umfasst wird (sachlicher Schutzbereich der Norm) 124. Die Norm muss in diesem Sinne Schutzgesetz im Hinblick auf das betroffene Rechtsgut oder Interesse und die eingetretene Schädigung sein. Die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB setzt dementsprechend insgesamt voraus, dass der Geschädigte zu dem durch das Gesetz geschützten Personenkreis gehört, dass er in einem Rechtsgut oder Interesse verletzt worden ist, dessen Schutz das Gesetz zu dienen bestimmt ist, und dass sich schließlich in dem Schädigungsvorgang eine Gefahr verwirklicht hat, die durch das Gesetz abgewendet werden sollte. 125 2. Schutzgesetzcharakter des § 64 Abs. 1 GmbHG Die Antwort wer und inwieweit durch § 64 Abs. 1 GmbHG in Verbindung mit § 823 Abs. 2 BGB geschützt wird, beantwortet sich daher in Ansehung des Normzwecks. 126 Wie zumeist im Kapitalgesellschaftsrecht geht es bei § 64 Abs. 1 GmbHG um die Problematik, ob außer der Gesellschaft auch die Gesellschafter selbst oder gesellschafts fremde Dritte geschützt sind 127 • Die schon vor dem 1. Weltkrieg aufgekommene Frage nach dem Schutzgesetzcharakter des § 64 Abs. 1 GmbHG sowie bei Bejahung, nach der Reichweite des Schutzzwecks entwickelte sich nach Mertens "zu dem vielleicht bekanntesten BGH ZIP 1991, S.1597; BGH NJW 1992, S.241, S.242. BGHZ46, S.23; 66, S.388, S.390; BGHDB 1976, S.1665; OLG Düsseldorf, NJW 1979, S.2618. Vgl. Knöpfte, NJW 1967, S.697, S.698f. 123 Deutsch, Unerlaubte Handlungen, Schadenersatz und Schmerzensgeld, Rdn.214. Vgl. hierzu BGH LM § 823 (Bb) Nr. 1; BGHZ 12, S.75; 22, S. 293; 103, S. 39; BGH NJW 1991, S.2019. 124 Zeuner in: Soergel, BGB, § 823 Rdn.290. Vgl. hierzu BGHZ 39, S. 366ff. 125 Vgl. BGH NJW 1991, S.292, S.293; Schmiedel, Deliktsobligationen, 1. Teil, S.109ff. 126 Mertens in: Münchener Kommentar zum BGB, § 823 Rdn. 185. 127 Mertens, Lange-Festschrift, S.561, S.576. 121

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Schutzzweckproblem des Kapitalgesellschaftsrechts überhaupt"128. Canaris bezeichnet § 64 Abs. 1 GmbHG als "geradezu ein Paradigma eines Schutzgesetzes" 129.

a) Persönlicher Schutzbereich: Einbeziehung der Gläubiger Früher war umstritten, ob § 64 GmbHG Schutzgesetz zugunsten der Gläubiger der Gesellschaft ist. Nach der Absicht des Gesetzgebers des § 64 GmbHG sollte der Geschäftsführer (gemäß § 64 Abs. 2 S. 1 GmbHG) nur für Zahlungen haften, die die Konkursmasse verringern 130. In diesem Sinne sagt Brodmann: "Das Gesetz sagt deutlich genug nicht Ersatz des Schadens, sondern Ersatz der Zahlungen."131 Die ältere Rechtsprechung des Reichsgerichts lehnte es dementsprechend ab, § 64 Abs. 1 GmbHG als Schutzgesetz zugunsten der Gläubiger zu betrachten; § 64 Abs. 2 GmbHG regele die Ersatzpflicht für Konkursverschleppung abschließend 132 • In einer Entscheidung vom 5. Juni 1935 bejahte das Reichsgericht hingegen die Schutzpflichteigenschaft des damals dem § 64 Abs. 1 GmbHG für die AG entsprechenden § 240 Abs. 2 HGB a. F. erstmals 133. Eine Schadenersatzpflicht wolle solche Zahlungen und darüber hinaus auch alle sonstigen, nicht in einer Zahlung bestehenden Vermögensabflüsse der Gesellschaft gerade verhindern. Der Bundesgerichtshof knüpfte an diese Rechtsprechung des Reichsgerichts in seinem Grundsatzurteil vom 16. Dezember 1958 134 an. Er stellte klar, dass in den personellen Schutzbereich des § 64 Abs. I GmbHG auch und vor allem die Gläubiger der Gesellschaft einbezogen seien. Der Schutz erstreckt sich dabei auf alle Gläubiger, das heißt sowohl auf sogenannte Altgläubiger als auch auf sogenannte Neugläubiger. 135 Altgläubiger in diesem Sinne sind diejenigen, die bereits vor der Insolvenzreife der Gesellschaft Forderungsinhaber waren und durch die Verschlechterung der Insolvenzquote Schaden erleiden; Neugläubiger sind diejenigen, die nach Eintritt des Insolvenzgrundes, das heißt in der Phase der Insolvenzverschleppung Forderungen gegen die GmbH erlangen. 136

128 Mertens, Lange-Festschrift, S.561, S.577. 129

Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd. 2/2, § 77 I 1 c (S. 432).

130 Vgl. BGHZ 126, S.181, S.194f.; Flume, ZIP 1994, S.337, S.339. 131

Brodmann in: Kommentar zum GmbHG, §64 Fußn.4.

132 RGZ 73, S. 30, S. 35. Vgl. auch Wiesner, Archiv Bürgerlichen Rechts 28 (1905), S.298,

S.324. 133 RG JW 1935, S. 3301, S. 3302. auch KG (Ost) NJ 1950, S. 123. 134 BGHZ 29, S. 100. Bestätigt durch: BGH WM 1960; S. 641 f.; 1961, S. 1103 ff.; 1962, S.527, S.530; 1987, S.1431, S.1432; NJW 1979, S.2198. 135 BGHZ 100, S.19, S.21. 136 Vgl. K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 37.

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b) Sachlicher Umfang: Quotenschaden Dagegen beschränkte der Bundesgerichtshof zunächst den sachlichen Umfang des Schutzbereichs: § 64 Abs. 1 GmbHG solle lediglich verhindern, dass das zur Befriedigung der Gläubiger erforderliche Gesellschaftsvermögen diesem Zweck durch eine verzögerte Konkursantragstellung entzogen wird. Die Gläubiger sollen vor einer Verringerung ihrer Befriedigungsaussichten im Konkurs bewahrt werden 137. Nicht hingegen wolle § 64 Abs. I GmbHG vor der Gefahr eines Vertragsschlusses mit einer GmbH in Unkenntnis von deren Insolvenz schützen. Demgemäß hätten die Geschäftsführer nach § 823 Abs. 2 BGB, § 64 Abs. I GmbHG nur den gerade durch die Schmälerung des Haftungsfonds nach Entstehung der Antragspflicht hervorgerufenen Gläubigerschaden zu ersetzen. Der ersatzfähige Schaden (sogenannter Quotenschaden) beschränkt sich auf die Differenz zwischen der von den Gläubigem bei rechtzeitiger Konkursantragstellung zu erzielenden und der tatsächlich erzielten Konkursquote 138. Mit dieser Rechtsprechung hatte der Bundesgerichtshof ein kurioses Kapitel des Schadenersatzes aufgeschlagen. Die bei rechtzeitiger Konkursanmeldung angefallene hypothetische Quote lässt sich praktisch nicht ermitteln: Dem Gläubiger oblag der Nachweis, (1) wann der Zeitpunkt der Konkursreife gegeben war (2) welche Masse zu diesem Zeitpunkt vorhanden war und welchen Wert sie hatte und (3) welche Verbindlichkeiten ihr gegenüberstanden. 139 Dadurch wurde es für den klagenden Gläubiger bzw. - im Gesellschaftskonkurs - für den Konkursverwalter unmöglich, die Höhe des erlittenen Quotenschadens auch nur ungefähr darzutun 140. Für die Klagen des Konkursverwalters bzw. der Gläubiger waren diese Schwierigkeiten nicht zu überwinden, so dass es zu einer "Kapitulation vor den praktischen Problemen der Schadensberechnung"141 kam. Nach Einschätzung von Mertens ist kein Prozess bekannt geworden, in dem von vornherein ein auf den Ersatz des Quotenschadens begrenzter Anspruch jemals ernstlich verfolgt worden wäre 142. Mit dieser Rechtsprechung wurde zwar einerseits den §§ 823 Abs. 2 BGB, 64 Abs. 1 GmbHG grundsätzliche Anspruchsqualität für die Gläubiger der GmbH zugesprochen, andererseits hat man aber gleichzeitig durch die Beschränkung auf den Quotenschaden die Vorschriften "als Haftungsnormen weitgehend außer Kraft gesetzt" 143. BGHZ 100, S.19, S.23. Vgl. BGHZ 29, S. IOD, S. 106; 75, S.96, S. 106; BGH WM 1960, S. 641; WM 1961, S. 1103, S. 1106; 1962, S.764; 1962, S.527, S.530; BGH OB 1976, S. 1665, S. 1666; BGH NJW 1979, S.1829; BGH ZIP 1997, S.1542, S.1543. Eingehender: Dauner-Lieb, ZGR 1998, S.617, S.624ff. 139 Vgl. Meyke, Haftung, F. VIII. I. (Rdn.319). 140 Vgl. Mertens, Lange-Festschrift, S.561, S.577; Kübler, ZGR 1995, S.481, S.487. 141 Goette,OStR 1994, S.1048, S.1051 f. Vgl. auch die Zusammenstellung der Stimmen in BGHZ 126, S.181, S.197. 142 Mertens, Lange-Festschrift, S.561, S.577. Ebenso: BGHZ 126, S.181, S.197; Kübler, ZGR 1995, S.481, S.488. 143 Mertens, Lange-Festschrift, S. 561, S. 577. 137 138

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

c) Rechtsprechungsänderung: Ersatz des negativen Interesses

Mit seinem Urteil vom 6. Juni 1994 144 hat der 11. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs ein Verfahren abgeschlossen, das in der Fachwelt erhebliches Aufsehen erregt hat. Ausgelöst wurde dieses Aufsehen durch den Beschluss vom 1. März 1993 145 , mit dem der Senat ankündigte, seine in BGHZ 29, S.loo begründete Rechtsauffassung zur Haftung des GmbH-Geschäftsführers bei Verletzung der Insolvenzantragspflicht zu ändern. Bislang haftete dieser Geschäftsführer wie dargelegt Alt- und Neugläubigern grundsätzlich nur im Hinblick auf den sog. Quotenschaden. Diese Auffassung hat der Bundesgerichtshof durch die genannte Entscheidung in bezug auf die Neugläubiger aufgegeben. Dem Fall lag folgender Sachverhalt zu Grunde 146: Der Beklagte war Geschäftsführer und seit 1985 Alleingesellschafter der im Mai 1981 mir einem Stammkapital von 50.000,- DM gegründeten S. Handels-GmbH (im folgenden GmbH). Im Dezember 1985 und Januar 1986 bestellte er im Namen der GmbH bei der Klägerin Waren im Wert von 98.236,22 DM. Die Klägerin lieferte die Gegenstände unter Eigentumsvorbehalt im Januar und Februar 1986. Auf Antrag des Beklagten vom 27. März 1986 wurde am 25. April 1986 das Konkursverfahren über das Vermögen der GmbH eröffnet. Die Klägerin, die auf die Waren lieferung keine Bezahlung erhielt, erlangte durch Aussonderung Waren im Wert von 7.960,11 DM zurück. Wegen der Restforderung von 90.276,11 DM, mit der sie nach ihrer Behauptung im Konkurs ausfallen wird, nahm die Klägerin den Beklagten auf Schadenersatz in Anspruch. Sie behauptete, die GmbH sei bereits 1985 überschuldet und zahlungsunfähig gewesen; der Beklagte habe dies, als er die Waren bestellte, gewusst. Das Landgericht wies die Klage ab. Das Oberlandesgericht gab ihr hingegen unter dem Gesichtspunkt des Schadenersatzes aus Verschulden bei Vertragsschluss statt. Die Verletzung vorvertraglicher Pflichten erblickte das Berufungsgericht in der Bestellung der Waren durch den Beklagten obwohl er die seit 1984 bestehende Überschuldung der GmbH kannte. Die eigene Verantwortlichkeit des Beklagten für diese Pflichtverletzung ergebe sich aus dem von ihm bei dem Vertragsschluss mit der Klägerin verfolgten eigenen wirtschaftlichen Interesse, da er für die Verbindlichkeiten der GmbH Sicherheiten aus seinem Privatvermögen bestellt und sich bis zu einem Betrage von 250.oo0,-DM verbürgt habe. 144 BGHZ 126, S. 181 = BGH ZIP 1994, S. 1103 = EWiR 1994, S.791 (Wi1he1m) = NJW 1994, S.2220 = LM Nr. 135 zu § 276 (Fa) BGB = OB 1994, S. 1608 = GmbHR 1994, S. 539 = WM 1994, S. 1428. Vgl. auch die Dokumentation von Hirte, Abschied vorn Quotenschaden, ZIP-Sonderdruck vorn 4. Nov. 1994. Die Entscheidung wurde mittlerweile bestätigt in BGH ZIP 1995, S. 211, S. 212 (dazu Karolus, ZIP 1995, S. 269); BGH ZIP 1995, S. 124, S. 125; BGH ZIP 1995, S. 31 f. 145 BGH ZIP 1993, S.763 mit Anm. Ulmer =EWiR 1993, S. 583 (Wiedemann) =JZ 1993, S. 682 = GmbHR 1993, S. 420 = BB 1993, S. 2467 = WM 1993, S. 1885 = WuB 11. C § 64 GmbHG 1.94 (Medicus). 146 BGHZ 126, S.181 f.

B. ZivilrechtIiche Haftung: § 823 Abs. 2 BGB

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Der erkennende VI. Senat des Bundesgerichtshofs hält demgegenüber mit Zustimmung der von der Rechtsprechungsänderung betroffenen Zivilsenate des Bundesgerichtshofes und des Bundesarbeitsgerichtes den Geschäftsführer bei schuldhaftem Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht des § 64 Abs. 1 GmbHG für verpflichtet, den Gläubigem, die infolge des Unterbleibens des Konkursantrages mit der GmbH in Geschäftsbeziehung treten und ihr Kredit gewähren (den sogenannten Neugläubigem), den ihnen dadurch entstehenden Schaden über den sogenannten Quotenschaden hinaus zu ersetzen 147. Zur Begründung führt der Bundesgerichtshof aus, der Normzweck der gesetzlichen Konkursantragspflichten bestehe darin, konkursreife Gesellschaften mit beschränktem Haftungsfonds vom Geschäftsverkehr femzuhalten, damit durch das Auftreten solcher Gebilde nicht Gläubiger geschädigt oder gefruudet werden l48 . Die frühere Position der herrschenden Meinung, welche die Schutzrichtung des § 64 GmbHG lediglich hinsichtlich des Erhalts der Haftungsmasse sah, werde dem Schutzzweck des Abs. 1, der über Abs. 2 hinausreiche, nicht gerecht l49 • Nur für juristische Personen mit beschränkter Haftungsmasse gebe es überhaupt eine - von ihren Organen zu erfüllende - Pflicht zur Konkursanmeldung. Das beruhe darauf, dass die beschränkte Haftung auf das Vermögen der Gesellschaft ihre Legitimation verloren habe, wenn dieses Vermögen vollständig verwirtschaftet sei. Die Konsequenz bestehe nach dem Gesetz nicht in einer nunmehr einsetzenden persönlichen Haftung der Gesellschafter, sondern darin, dass die für die Geschäftsführung verantwortlichen Personen durch Konkursanmeldung für eine rechtzeitige Beseitigung der Gesellschaft zu sorgen hätten. Die Konkursanmeldungspflicht ergänze damit den mit den Kapitalaufbringungs- und -erhaltungs vorschriften bewirkten Gläubigerschutz. Zusammen mit diesen stelle sie die Rechtfertigung für das Haftungsprivileg der Gesellschafter dar l50 • Außerdem müsse das Gebot der rechtzeitigen KonkursantragsteIlung als Instrument des Gläubigerschutzes schadenersatzrechtlich - und nicht nur strafrechtlich - so sanktioniert sein, dass dieser Schutz wirksam sei. Das sei bei der Begrenzung der Geschäftsführerhaftung auf den Quotenschaden nicht der Fa1l 151 • Unbestreitbar bestehe ein Bedürfnis nach einem individuellen Schutz der durch Konkursverschleppung geschädigten Gläubiger. Belegt werde dies durch Versuche von Rechtsprechung und Wissenschaft, diesem Bedürfnis durch Haftungstatbestände außerhalb der Konkursantragspflichten (Vertreterhaftung wegen wirtschaftlichen Eigeninteresses und Vertrauenshaftung 152) Rechnung zu tragen. Diese Konstruktionen seien jedoch nicht haltbar, setzten an der falschen Stelle an und erfassten die in Betracht kommenden Fälle nicht richtig. Dies alles zeige, dass bisher die gläubigerschützende Bedeutung des § 64 Abs. 1 GmbHG unter dem Aspekt der Haftungsnorm des § 823 Abs. 2 BGB zu geBGHZ 126,5.181,5.192. Vgl. hierzu bereits oben A.I. 149 BGHZ 126,5.181,5.194-196 mit eingehender Begründung. 150 BGHZ 126,5.181, 5. 196f. 151 BGHZ 126,5.181,5.197. 152 So auch die Vorinstanz im vom BGH entschiedenen Fall, siehe oben. 147 148

1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

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ring eingestuft wurde. Den Neugläubigern sei deshalb gegen die Geschäftsführer bei schuldhaftern Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht ein Anspruch auf Ausgleich des Schadens zuzubilligen, der ihnen dadurch entsteht, dass sie in Rechtsbeziehungen zu einer überschuldeten oder zahlungsunfähigen Gesellschaft getreten sind. 153 Nach dem jetzigen Stand der Rechtsprechung ist § 64 Abs. I GmbHG Schutzgesetz für die Gläubiger der Gesellschaft. In sachlicher Hinsicht umfasst dieser Schutzzweck bei den Altgläubigern deren Quotenschaden und bei den Neugläubigern den vollen negativen Schaden. 3. Rechtswidrigkeit Auch § 823 Abs. 2 BGB setzt Rechtswidrigkeit des Verhaltens voraus. 154 Insoweit gilt grundsätzlich nichts anderes als für § 823 Abs. I BGB. Anders als bei § 823 Abs. 1 BGB 155 ist die Rechtswidrigkeit jedoch grundsätzlich indiziert 156: der Tatbestand des § 823 Abs. 2 verlangt ja bereits begrifflich mit dem Verstoß gegen ein Schutzgesetz ein rechtswidriges Verhalten. 4. Verschulden Die Deliktshaftung erfordert auch im Fall des § 823 Abs. 2 BGB ein Verschulden. Dies gilt gemäß § 823 Abs. 2 S. 2 BGB auch dann, wenn das Schutzgesetz eine entsprechende Voraussetzung nicht enthält. Nach den Motiven des BGB 157 soll daher dort, wo in anderen Rechtsgebieten spezifische Sanktionen bereits an rechtswidriges Verhalten allein geknüpft werden soll, Schadenersatz nur dann gefordert werden können, wenn zur Rechtswidrigkeit ein Verschulden des Handelnden hinzutritt. 158 Stellt das Schutzgesetz hingegen bestimmte subjektive Voraussetzungen auf, dann greift auch die Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB nur ein, wenn diese vorliegen. Wenn sich das ~er Haftung zugrunde liegende Schutzgesetz nur gegen vorsätzliches Verhalten wendet, so ist für den Ersatzanspruch nach § 823 Abs. 2 BGB ebenfalls Vorsatz erforderlich. 159 Auch die Frage, welche Anforderungen an den Vorsatz zu BGHZ 126, S.181, S.198. RGZ 155, S. 234, S. 237. 155 Zumindest, wenn man die Rechtswidrigkeit verhaltensbezogen beurteilt, da dann die Rechtswidrigkeit nicht indiziert ist, vgl. Thomas in: Palandt, BGB, § 823 Rdn.33. 156 Thomas in: Palandt, BGB, § 823 Rdn. 142; Fuchs, Deliktsrecht, S. 117. 157 Vgl. Mot.Il, 1888, S. 727. 158 Dörner, JuS 1987, S.522, S.523. 159 Vgl. RGZ 118, S.312, S.315; BGHZ46, S.17, S.21 f.; BGH NJW 1982, S.1037, S.1038. Dörner ist hingegen der Ansicht, dass sich die Voraussetzungen von Vorsatz und Fahrlässigkeit für den Bereich des § 823 Abs. 2 BGB generell nach den Kriterien des Zivilrechts und nicht z. B. des Strafrechts bestimmen, vgl. Dörner, JuS 1987, S. 522, S. 525 ff. Er übersieht dabei, dass be153 154

B. Zivilrechtliche Haftung: § 823 Abs. 2 BGB

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stellen sind, ist nach den für das Schutz gesetz geltenden Regeln zu beantworten. 160 Im Sinne einer klaren und praktikablen Konturierung liegt es nahe, entsprechendes auch hinsichtlich einer im Schutzgesetz vorausgesetzten Fahrlässigkeit anzunehmen. 161

a) Verschuldensmaßstab des § 64 Abs.l GmbHG § 64 Abs. 1 GmbHG enthält als eigenen Verschuldensmaßstab Vorsatz und Fahrlässigkeit. 162 Der Geschäftsführer handelt vorsätzlich, wenn er trotz Kenntnis des Insolvenzgrundes nicht innerhalb der Dreiwochenfrist die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Was die Verschuldensform der Fahrlässigkeit betrifft, gilt für sie, wie allgemein im Zivilrecht, ein objektivierter Maßstab. 163 Das bedeutet jedoch nicht, dass alle Fälle unterschiedslos nach einem völlig abstrakten Einheitsmaßstab zu beurteilen wären. Geboten ist vielmehr eine nach Lebensbereichen abstufende Typisierung, für die darauf abzustellen ist, was man von einer Person in der Stellung und Rolle des Handelnden allgemein erwarten kann und erwarten muss. 164 Maßgebend ist daher die Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes, wie sie angesichts der Größe und des wirtschaftlichen Gewichts eines Unternehmens nach Art der betreffenden GmbH zu fordern ist. 165 Der Geschäftsführer hat die Entscheidung, ob er die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragen muss, mit der Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsleiters zu treffen. Als solcher ist er verpflichtet, die wirtschaftliche Lage des Unternehmens laufend zu beobachten. 166 Hinsichtlich der Insolvenzgründe des § 63 GmbHG ist der Geschäftsführer zu beständiger Selbstprüfung verpflichtet. 167 In diesem Zusammenhang muss er sich über die Buchführung der Gesellschaft informieren. 168 Bei Anzeichen einer Krise hat er sich durch Aufstellung eines Vermögensstatus einen Überreits der Verstoß gegen die strafrechtiche Vorschrift zumeist eine bestimmte Verschuldensform verlangt, vgl. § 15 StGB. Die Übernahme der Verschuldensform ist daher bereits tatbestandliche Voraussetzung des § 823 Abs.2 BGB. 160 Vgl. BGHZ46, S.17, S.21 f.; 133, S. 370, S.381 f.; BGH NJW 1962, S. 910, S. 911; 1985, S. 134, S. 135. Eingehend: von Olshausen, Bemmann-Festschrift, S. 125, S. 141 ff. 161 Zeuner in: Soergel, BGB, § 823 Rdn.294. 162BGHZ 75, S.96, S.I11; 126, S.181, S.199; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, §64 Rdn. 52; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 30; Rowedder, § 64 Rdn. 13; Uhlenbruck, WiB 1996, S.409, S.413 f. Siehe hierzu bereits oben A. 11.3. b). 163 BGH WM 1981, S.440, S. 442; Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 35. 164 Vgl. Zeuner, JZ 1966, S.I, S.8. 165 Vgl. hierzu §43 Abs.l GmbHG. 166 BGHZ 126, S.181, S.199. Vgl. auch die genauer spezifizierten Angaben in BGH NJW 1994, S. 2149, S. 2150f. 167 K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 64 Rdn. 10. 168 BGH ZIP 1995, S.1334, S. 1336. 4 Höffner

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

blick über den Vennögensstand zu verschaffen. 169 Krisenindikatoren und damit auch Verschuldensindikatoren sind dabei eine deutlich rückläufige Geschäftsentwicklung, eine nicht nur vorübergehend negative Ertragslage, der Ausweis von Verlusten in der Jahresbilanz, Liquiditätsschwierigkeiten, erhebliche Forderungsausfalle bzw. die damit verbundenen negativen Auswirkungen auf die Vennögenslage, nachhaltige Wertminderungen bei den Warenbeständen oder ins Gewicht fallende Belastungen aus Gewährleistungsptlichten u. a. 170 Die GmbH muss insgesamt so organisiert sein, dass die Geschäftsführer den Eintritt eines Insolvenzgrundes tatsächlich wahrnehmen können. 171 Auf mangelnde eigene Sachkenntnis können sich die Geschäftsführer angesichts des im Zivilrecht geltenden objektiven Sorgfaltsmaßstabs nicht berufen 172: Notfalls muss sich der Geschäftsführer fachkundig beraten lassen. 173 Entsprechendes gilt im Fall einer Ressortverteilung innerhalb der Geschäftsführung: Das Vorhandensein weiterer Geschäftsführer entbindet den anderen nicht, von der ordnungsgemäßen Führung der Geschäfte der Gesellschaft, insbesondere nicht von der Erfüllung der den Geschäftsführern vom Gesetz auferlegten Ptlichten. 174 Dies gilt selbst dann, wenn sie untereinander in zulässiger Weise eine Aufteilung der Geschäfte vorgenommen haben. Eine solche interne Geschäftsaufteilung ist deshalb nicht dazu geeignet, den nach internen Absprachen nicht zuständigen Geschäftsführer von der Verantwortung für die rechtzeitige Stellung des Insolvenzantrags zu befreien. 175 b) Gegenstand Vorsatz und Fahrlässigkeit müssen sich bei alledem auf den Verstoß gegen das Schutzgesetz beziehen. 176 Hinsichtlich der sich aus der Tatbestandsverwirklichung ergebenden Folgeschäden ist dagegen ein Verschulden nicht erforderlich. Für § 823 Abs.2 BGB ist es, anders als bei § 823 Abs. 1 BGB, ausreichend, wenn es vorhersehbar ist, dass der Verstoß gegen ein Schutzgesetz eintreten könnte, während die Vorhersehbarkeit des Erfolges der schädigenden Wirkung nicht erforderlich ist. 177 BOHZ 126, S.181, S.199. Vgl. Ulmer in: Hachenburg, OmbHO, § 64 Rdn. 52; IDW, Stellungnahme des Fachausschuss Recht FAR 1/1996: Empfehlungen zur Überschuldungsprüfung bei Unternehmen, Wpg 1997, S. 22, S. 23. 171 Uhlenbruck, WiB 1996, S.409, S.413. 172 Ulmer in: Hachenburg, OmbHO, § 64 Rdn. 52. 173 BOHZ 126, S.181, S.199 im Anschlus an Lutter, DB 1994, S.129, S.135. 174 OLO Düsseldorf, BB 1974, S. 712, S. 713. 175 BOH NJW 1994, S.2149, S.2150. 176 Zeuner in: Soergel, BGB, § 823 Rdn. 293. 177 BOHZ 34, S. 381; BOH VersR 1968, S. 593, S. 594; 1987, S.1014, S. 1015 m. w. N. Vgl. Canaris, Larenz-Festschrift 1983, S.27, S.52. 169 170

B. Zivilrechtliehe Haftung: § 823 Abs. 2 BGB

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Das hat praktische Auswirkungen zugunsten des Geschädigten, wenn die Verletzung des betreffenden Rechtsguts nicht zum Tatbestand des Schutzgesetzes gehört, wie bei den abstrakten Gefahrdungsdelikten: es kommt dann zu einer "Verkürzung des Verschuldensbezuges" .178 Bei § 64 Abs. 1 GmbHG gehört die Verletzung eines bestimmten Rechtsgutes nicht zum Tatbestand, sondern lediglich die Pflichtverletzung. Die Verletzung der Insolvenzantragsptlicht ist daher alleiniger Gegenstand, auf den sich das Verschulden des Geschäftsführers beziehen muss.

IH. Rechtsfolge: Schadenersatz Hinsichtlich des vom Geschäftsführer gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG zu ersetzenden Schadens wird zwischen den Alt- und Neugläubigem der Gesellschaft unterschieden.

1. Altgläubiger Altgläubiger (und auch alle Deliktsgläubiger) der Gesellschaft haben auch nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs (s.o.) lediglich einen Anspruch auf Ersatz des Quotenschadens. Der Schaden besteht in der Differenz zwischen der (hypothetischen) Konkursquote, die auf den Gläubiger bei pflichtgemäßer (das heißt rechtzeitiger) Antragstellung entfallen wäre, und dem tatsächlich erzielten Masseerlös. 179 Es muss also ein Vergleich zwischen ursprünglich erzielbarer und tatsächlich erzielter Konkursquote stattfinden. 180 Die hypothetische Konkursquote ergibt sich aus dem Verhältnis der hypothetisch verfügbaren Masse zu den damals bestehenden Verbindlichkeiten. Die hypothetische Konkursquote lässt sich nur ermitteln, indem man konkret durchspielt, wie ein Insolvenzverfahren unmittelbar im Anschluss an die Insolvenzreife verlaufen wäre. 181 Dabei müssen insbesondere die Regeln der Insolvenzordnung zu Aus- und Absonderung beachtet werden; 182 ferner muss das zum Zeitpunkt der Insolvenzreife noch vorhandene Gesellschaftsvermögen um die Beträge gekürzt werden, die zur Abdeckung von Massekosten und Masseschulden erforderlich gewesen wären; schließlich ist die Rangfolge der Insolvenzforderungen zu beachten. 183 Der Quotenschaden ist gegebenenfalls zu schätzen (§ 287 ZPO).I84 Larenz/Canaris, Schuldrecht Bd. 2/2, S. 445. Vgl. BGHZ 29, S. 100, S. 106; 75, S.96, S. 106; BGH WM 1960, S. 641; WM 1961, S.1103, S. 1106; 1962, S. 764; 1962, S.527, S.530; BGH DB 1976, S. 1665, S. 1666; BGH NJW 1979, S.1829; BGH ZIP 1997, S.1542, S.1543. 180 Dauner-Lieb, ZGR 1998, S. 617, S. 626. 181 Dauner-Lieb, ZGR 1998, S. 617, S. 623. 182 Vgl. zu Eigentumsvorbehalt und Sicherungszession den Fall BGH ZIP 1997, S. 1542, S.1543f. 183 Dauner-Lieb, ZGR 1998, S.617, S.623, S.626f. 178

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

2. Neugläubiger Vertragliche Neugläubiger der Gesellschaft haben gegen den Geschäftsführer einen Anspruch auf Ersatz des vollen Vertrauensschadens, soweit dieser nicht durch eine auf den Gläubiger entfallende Konkursquote gedeckt ist. 185 Die Höhe des Schadens richtet sich daher nach §§ 249ff. BGB. 186 Neugläubiger haben einen Anspruch darauf, so gestellt zu werden, als hätten sie den Vertrag mit dem insolvenzreifen Unternehmen nicht geschlossen (negatives Interesse).187 Der Schaden der Neugläubiger besteht darin, dass sie bereits im Zeitpunkt ihres Vertrages mit der insolvenzreifen GmbH einen nicht werthaitigen Gegenanspruch erlangen und im Vertrauen auf die Solvenz der GmbH Leistungen erbringen, die am Ende nicht vergütet werden. 188

IV. Prinzipien der Anspruchsdurchsetzung Im folgenden werden die Besonderheiten der Durchsetzung des oben dargelegten Anspruchs dargestellt.

1. Die Prozessmaximen des Zivilprozesses Der Anspruch des Gläubigers gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG muss als bürgerlich-rechtlicher Anspruch vor den ordentlichen Gerichten unter Geltung der ZPO geltend gemacht werden. Für die Geltendmachung des Anspruchs werden die Verfahrens grundsätze der ZPO angewandt, insbesondere der Dispositionsgrundsatz und die Verhandlungsmaxime.

a) Dispositionsgrundsatz Die Entscheidung, ob ein Prozess stattfindet und worüber prozessiert wird, kann der Gesetzgeber entweder den Parteien überlassen oder zur Aufgabe des Gerichts oder einer staatlichen Behörde machen. 189 Der deutsche Zivilprozess ist weitgehend vom Dispositionsgrundsatz beherrscht. Das bedeutet, dass die Parteien Gestaltungsfreiheit über den Gang und den Gegenstand des Verfahrens haben. 190 Diese Verfügungsfreiheit der Parteien entspricht der Verfügungsbefugnis über private Rechte Ulmer in: Hachenburg, GmbHG, §64 Rdn.53; Dauner-Lieb, ZGR 1998, S.617, S.623. BGHZ 126, S.181, S.201; bestätigt durch BGH NJW 1995, S.398; OLG Köln OLG-Rp 1996, S.191. 186 V gl. zu Einzelheiten Altrneppen, ZIP 1997, S. 1173, S. 1179 ff. 187 BGH ZIP 1995, S. 211, S. 212. 188 Altrneppen in: Roth/Altmeppen, GmbHG, §64 Rdn.14. 189 Grunsky, Verfahrensrecht, S. 24. 190 Henckel, Prozeßrecht und Materielles Recht, S. 119. 184

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B. Zivilrechtliche Haftung: § 823 Abs. 2 BGB

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(Privatautonomie).191 Die Befugnis zur Klageerhebung (und die mit ihr verbundene Programmierung des Streitgegenstandes), die Befugnis zur Klageänderung, zur Rücknahme der Klage usw., all diese einzelnen Erscheinungsformen der Verfügungsfreiheit im Zivilprozess haben mit dem subjektiven Privatrecht oder, besser gesagt mit seiner Ausübung gemein, dass sie (im Gegensatz zu den Pflichtrechten) zur Disposition des Berechtigten gestellt werden und damit seiner Verantwortung anheim fallen. 192 b) Verhandlungsgrundsatz Unter Verhandlungsgrundsatz wird die Herrschaft der Parteien über den Prozessstoff, der als tatsächliche Grundlage für die Entscheidung des Gerichts erheblich ist, verstanden. 193 Er bedeutet, dass allein die Parteien den Streitstoff in den Prozess einführen, über seine Feststellungsbedürftigkeit entscheiden und seine Feststellung betreiben. Tatsachen, die von den Parteien nicht vorgebracht werden, darf das Gericht nicht berücksichtigen und in der Regel keine Beweise von Amts wegen aufnehmen. 194 Die Parteien können also frei darüber entscheiden, welche Tatsachen sie dem Gericht unterbreiten. Sie tragen damit die Verantwortung für die Beibringung des Sachverhaltes. 195 Das deutsche Zivilprozessrecht geht damit davon aus, dass die Wahrheit, bzw. der wahre Sachverhalt, am besten aufzudecken ist, wenn man die widerstreitenden Interessen der Parteien zur Wahrheitserforschung mobilisiert. 196 Nach Henckel weiß jeder praktisch erfahrene Jurist, dass beispielsweise in einem Schadenersatzprozess nach einem Verkehrsunfall, in dem es um hohe Beträge geht, oft mehr an Wahrheit herauskommt, als in dem vorangegangenen Strafverfahren, in dem eine geringe Geldstrafe verhängt worden ist. 197

2. Beweis- und Darlegungslast Gelingt es im Rechtsstreit nicht, den zugrundeliegenden Sachverhalt zur Überzeugung des Gerichts aufzuklären (non liquet), so beruht die Entscheidung des Gerichts auf den Regeln der objektiven Beweislast. Diese bestimmen also über die Folgen der Beweislosigkeit. 198 Das Gericht spricht somit einen etwaigen Anspruch des Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 422. Bätticher, ZZP 85 (1972), S. 1, S. 25. Vgl. Eingehend Henckel, Prozeßrecht und Materielles Recht, S. 119 ff. 193 Henckel, Prozeßrecht und Materielles Recht, S.143. 194 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, S.426. 195 Henckel, Prozeßrecht und Materielles Recht, S.143. 196 Vgl. Gaul, AcP 168, S.27, S.49f. 197 Henckel, Prozeßrecht und Materielles Recht, S.144. 198 Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 669; Musielak, Beweislast im Zivilprozeß, S. 19; Baumgärtei, Beweislastpraxis im Privatrecht, Rdn. 10. 191

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I. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Gläubigers gegen den Geschäftsführer nur dann zu, wenn der Gläubiger die Tatsachen beweisen kann, für die ihn die Beweislast trifft. Grundsätzlich trägt jede Partei die Beweislast für das Vorhandensein aller Voraussetzungen der ihr günstigen Normen. 199 Will der Neugläubiger den Geschäftsführer wegen verspäteten Insolvenzantrages auf Schadenersatz in Anspruch nehmen, so hat er nach dieser Grundregel den Zeitpunkt der objektiven Insolvenzreife, also Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung, darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen. Außerdem träfe ihn die Beweislast hinsichtlich des Verschuldens des Geschäftsführers beim Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht. 200 Von dieser Grundregel ist aber die Rechtsprechung beim Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG abgewichen und hat dem Gläubiger die Durchsetzung seines Anspruchs erleichtert. a) Überschuldung

Der Bundesgerichtshof erleichtert es dem Gläubiger, den Beweis für den Insolvenzgrund der Überschuldung nach dem "neueren zweistufigen Überschuldungsbegriff" zu erbringen: "Den Beweis für das Vorliegen der objektiven Voraussetzungen der Insolvenzantragspflicht hat grundsätzlich der Gläubiger zu erbringen. Steht fest, dass die Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt rechnerisch überschuldet war, so ist es allerdings Sache des Geschäftsführers, die Umstände darzulegen, die es aus damaliger Sicht rechtfertigten, das Unternehmen trotzdem fortzuführen. Hierzu ist er weit besser in der Lage als ein außenstehender Gläubiger, der in aller Regel von den für die Zukunftsaussichten der Gesellschaft maßgebenden Umständen keine Kenntnis hat. Dem Geschäftsführer ist die Darlegung dieser Umstände zumutbar, weil er, wie bereits gesagt, ohnehin zu einer laufenden Prüfung der Unternehmenslage verpflichtet ist. Ob über diese Verteilung der Darlegungslast hinaus der Geschäftsführer hinsichtlich der Fortbestehensprognose auch die Beweislast trägt, ist dagegen zweifelhaft. Das ist hier indessen nicht zu entscheiden. "201 Der Bundesgerichtshof zieht damit das Rechtsinstitut der sekundären Behauptungslast heran. 202 Muss eine Partei Umstände beweisen, die zu dem ihrem Einblick entzogenen Bereich des Prozessgegners gehören, so entstehen ihr erhebliche Beweisprobleme, da Beweisermittlungs- und Ausforschungsanträge nicht zulässig sind. 203 In diesen Fällen prüft der Bundesgerichtshof, ob es dem Prozessgegner im Rahmen seiner Erklärungslast nach § 138 Abs. 2 ZPO ausnahmsweise zuzumuten ist, dem Beweispflichtigen eine prozessordnungsgemäße Darlegung durch nähere Rosenberg/Schwab/Gottwald, Zivilprozeßrecht, S. 671. Für die Tatbestandsverwirklichung ist im Deliktsrecht grundsätzlich der Vollbeweis zu erbringen. Vgl. Deutsch, Allgemeines Haftungsrecht, Rdn.79. 201 BGHZ 126, S.181, S.200. 202 Vgl. Meyke, Haftung, F. VIII.8.a) (Rdn.347). 203 Greger in: Zöller, ZPO, Vor § 284 Rdn. 34. 199

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B. Zivilrechtliche Haftung: § 823 Abs. 2 BGB

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Angaben über die betreffenden, zu seinem Wahrnehmungsbereich gehörenden Verhältnisse zu ermöglichen. 204 Folge der Nichterfüllung der sekundären Behauptungslast ist, dass die Behauptung des primär Darlegungspflichtigen trotz ihrer mangelnden Substantiierung als zugestanden im Sinne des § 138 Abs. 3 ZPO gilt. 205 Der verlangte Tatsachenvortrag ist daher als ein substantiiertes Bestreiten im Sinne des Prozessrechts aufzufassen. 206 Genügt der Gegner seiner Darlegungslast, ist die weitere Beweisführung wiederum Sache des an sich Beweispflichtigen. 207 Demnach verbleibt die Beweislast für die Überschuldung beim Gläubiger. 208 Der Gläubiger braucht aber lediglich die rechnerische Überschuldung darzulegen und zu beweisen. Der Geschäftsführer muss daraufhin im Sinne eines qualifizierten Bestreitens eine positive Fortführungsprognose dartun. Gelingt ihm dies, muss der Gläubiger wiederum die negative Fortbestehensprognose beweisen. 209 Weitergehend wollen Ulmer und K. Schmidt dem Geschäftsführer für eine positive Fortbestehensprognose auch die Beweislast aufbürden. 210 Der praktische Unterschied zur Ansicht des Bundesgerichtshofs dürfte gering sein. 211 Der Bundesgerichtshof knüpft bezüglich der Darlegungslast an die Selbstprüfungspflicht des Geschäftsführers an. Dem Bundesgerichtshof zufolge ist er in diesem Rahmen verpflichtet, bei einer rechnerischen Überschuldung zu prüfen, ob sich für das Unternehmen eine positive Fortbestehensprognose stellt und hierfür gegebenenfallsjachkundigen Rat bei einem Wirtschaftsprüfer, Anwalt oder Steuerberater einzuholen. 212 Der Maßstab für die Substantiierung der dem Geschäftsführer auferlegten Darlegungslast ist dadurch so hoch, als hätte der Bundesgerichtshof ihm die Beweislast aufgebürdet. Auf den Überschuldungsbegriff des § 19 Abs. 2 InsO übertragen bedeutet diese Beweiserleichterung, dass der Geschäftsführer, wenn die Gesellschaft nach einer konsolidierten Handelsbilanz überschuldet ist, darlegen muss, weshalb er in den Überschuldungsstatus höhere Fortführungswerte einsetzen durfte und wie die Fortführungswerte, welche die Schulden decken, beschaffen sind. 213 Vgl. BGH NJW 1961, S.2149, S.2150; 1990, S.3151. BGH ZIP 1994, S. 789. Vgl. Musielak, Grundlagen der Beweislast, S.I44f. 206 Vgl. E. Schneider, MDR 1962, S. 361, S. 362. 207 Greger in: ZöHer, ZPO, Vor § 284 Rdn. 34. 208 So zutreffend Bork, ZGR 1995, S. 505, S. 521. 209 Bork, ZGR 1995, S.505, S.521. 210 Ulmer, KTS 1981, S.469, S.486f.; ders. in: Hachenburg, GmbHG, § 64 Rdn. 19; K. Schmidt in: Scholz, GmbHG, § 63 Rdn. 12, § 64 Rdn. 42. Zustimmend: SiegmannIVogel, ZIP 1994,S.1821,S.1827. 211 Im Ergebnis ebenso: Altmeppen, ZIP 1997, S. 1173, S. 1176. 212 BGHZ 126, S. 181, S. 199; mit Hinweis auf Lutter, DB 1994, S. 129, S. 135 zur Spezifizierung des "fachkundigen Rats". 213 Altmeppen, ZIP 1997, S.I173, S.1176; ders. in: Roth/Atlmeppen, GmbHG, §64 Rdn.15 a.E. 204

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

b) Verschulden Eine weitere Beweiserleichterung betrifft das Verschulden des Geschäftsführers. Ein wichtiger Unterschied zwischen Abs. 1 und Abs. 2 des § 823 BGB besteht hinsichtlich der Beweislast. Stützt der Kläger seinen Ersatzanspruch auf § 823 Abs. 1, so obliegt es ihm, das Verschulden des Beklagten zu beweisen. Anders liegt es, wenn er seinen Anspruch auf Abs. 2 stützt. In diesem Falle braucht der Kläger nur zu beweisen, dass der Beklagte den objektiven Tatbestand eines Schutzgesetzes verletzt hat. Ist dieser Beweis geführt, so spricht nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung dafür, dass den Beklagten auch ein Verschulden an der Verletzung trifft. 214 Dies gilt zumindest dann, wenn das Schutzgesetz das geforderte Verhalten bereits so konkret umschreibt, dass mit der Verwirklichung des objektiven Tatbestands der Schluss auf einen subjektiven Schuldvorwurf nahe liegt. 215 Für den Fall des § 64 Abs. 1 GmbHG hat der Bundesgerichtshof die Verschuldensvermutung anerkannt. 216 Bezüglich der Tatbestandsvoraussetzung des Verschuldens obliegt es damit dem Gläubiger, sich zu entlasten. 3. Informationsmöglichkeiten des Gläubigers Die Beweispflicht des klagenden Gläubigers beschränkt sich damit auf den Eintritt der Zahlungsunfähigkeit oder der buchmäßigen Überschuldung (und auf den eigenen Schaden). Was die Zahlungsunfahigkeit betrifft, so sind als Nachweis insbesondere vergebliche Vollstreckungsaufträge und Anträge auf Abgabe der eidesstattlichen Versicherung anerkannt und geeignet. 217 Die notwendigen Informationen, um die buchmäßige Überschuldung darzulegen, besitzt er als Außenstehender in der Regel nicht. Eine allgemeine Pflicht des Geschäftsführers, die zeitliche Entwicklung der Vermögensverhältnisse der Gesellschaft darzulegen, ist bislang nicht anerkannt. 218 Der Gläubiger kann jedoch die für seine Darlegungslast maßgeblichen Tatsachen aus dem Bericht des Insolvenzverwalters gemäß § 131 InsO,2I9 aus Ermittlungsak214 Vgl. BGHZ 51, S. 91, S. 103 f.; BGH NJW 1968, S. 1279; 1985, S. 1774, S. 1775; Kötzl Wagner, Deliktsrecht, Rdn. 174. 215 BGHZ 116, S. 104, S. 114 f., vgl. auch Kötz/Wagner, Deliktsrecht, Rdn. 174 a. 216 BGHZ 126, S. 181, S.2OO. Vgl. zu § 64 Abs.2 GmbHG: BGH NJW 1994, S.2149, S.2150. 217 So z.B. bei BGH ZIP 1995, S.211, S.212. 218 Vgl. BGHZ 125, S. 366, S. 370f. Andere Ansicht allerdings Heil, Akteneinsicht und Auskunft im Konkurs, Rdn. 356; Meyke, Haftung, F. VIII. 10. a) (Rdn. 354); die ein Auskunftsrecht gemäß § 242 BGB annehmen. 219 Gemäß § 299 Abs. 2 ZPO hat der Gläubiger Anspruch auf Akteneinsicht beim Konkursgericht und kann dabei auch das Gutachten des Sequesters einsehen. Vgl. OLG Braunschweig, ZIP 1997, S.894; OLG Naumburg, ZIP 1997, S.895; LG Potsdam, ZIP 1997, S.987. Vgl. hierzu Uhlenbruck, KTS 1989, S. 527, S. 533.

C. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

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ten bzw. Strafakten wegen Verstoßes gegen Insolvenzde1ikte und aus den gemäß § 325 HGB zum Handelsregister einzureichenden Jahresabschlüssen ziehen. 220 Ist der GmbH-Geschäftsführer seiner Verpflichtung, den Jahresabschluss zum Handelsregister einzureichen, nicht nachgekommen, so kann der Gläubiger das Verfahren nach § 335 HGB beantragen. Nach § 335 Nr.6 HGB sind die GmbH-Geschäftsführer, die ihrer Pflicht zur Offenlegung des Jahresabschlusses und anderer Unterlagen der Rechnungslegung nicht nachgekommen sind, auf Antrag (§ 335 S. 3 HGB) vom Registergericht durch Festsetzung eines Zwangsgeldes nach § 132 Abs. 1 FGG dazu anzuhalten, ihre Verpflichtung zu erfüllen. 221

C. Strafrechtliche Verantwortlichkeit Neben der zivilrechtlichen Haftung gemäß § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 64 Abs. 1 GmbHG ist die strafrechtliche Verantwortlichkeit gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG die zweite Sanktion, der der Geschäftsführer bei Verstoß gegen die Insolvenzantragspflicht ausgesetzt ist.

I. Die Vorschrift des § 84 Abs.l Nr.2, Abs.2 GmbHG Mit § 84 GmbHG knüpft das Strafrecht nur an eine ohnehin bestehende zivilrechtliche Pflicht an, die abgesichert werden soll, begründet aber keine eigenständige 222 • Der Tatbestand lautet: (I): Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer es

1. 2. als Geschäftsführer entgegen § 64 Abs. 1 oder als Liquidator entgegen § 71 Abs.4 unterlässt, bei Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen.

(11): Handelt der Täter fahrlässig, so ist die Strafe Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder Geldstrafe.

1. Rechtsgut/Schutzrichtung In den Gesetzesmotiven heißt es lapidar, jede Verletzung der Insolvenzantragspflicht enthalte "eine schwere Gefährdung der Gläubiger" und werde deshalb unter Strafe gestellt 223 • Worin nach Ansicht des Gesetzgebers die Gefährdung letztlich beWimmer, NJW 1996, S.2546, S.2547. Wimmer empfiehlt, den Antrag vorher anzudrohen, um eine vergleichsweise Zahlung des Geschäftsführers zu erreichen. Vgl. Wimmer NJW 1996, S. 2546, S. 2547. 222 Ransiek, ZGR 1992, S. 203, S. 209. Ransiek hält den Sinn des § 84 GmbHG für zweifelhaft, vgl. Ransiek, a. a. 0., Fn.30. 223 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, Amtliche Ausgabe, Berlin 1891, S.120. 220 221

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

steht, wird leider nicht geklärt. Der Gesetzgeber des GmbHG äußerte sich lediglich dahingehend, dass er mit den Strafvorschriften des GmbHG Verhaltensweisen erfasst habe, die "die Sicherheit des im Geschäfts- und Kreditverkehr mit den Gesellschaften stehenden Publikums in gemeingefährlicher Weise" verletzen. Namentlich müssten, "da den Gläubigem der Gesellschaft ausschließlich das Gesellschaftsvermögen haftet, jede arglistige Täuschung des Publikums über die wesentlichen finanziellen Grundlagen des Unternehmens auch strafrechtlich geahndet werden, und dasselbe gilt von einer widerrechtlichen Verkürzung des Gesellschaftsvermögens, durch welche den Gläubigem die zu ihrer Befriedigung unentbehrlichen Mittel entzogen werden."224 Nach dem heute allgemein üblichen Verständnis soll § 84 GmbHG das Interesse der Gesellschaftsgläubiger, der Gesellschaft und anderer dritter Personen an einer wirtschaftlich gesunden Gesellschaft schützen 225 • Die Vorschrift soll Gefahren vorbeugen, die sich daraus ergeben, dass die GmbH als eigene Rechtspersönlichkeit nur mit dem Gesellschaftsvermögen haftet 226 . Solche Gefahren bestehen insbesondere dann, wenn die Gesellschaft zahlungsunfahig oder überschuldet ist 227 • Nach Bieneck soll durch die Strafbarkeit der Insolvenzverschleppung dem Umstand begegnet werden, dass die GmbH eine "beliebte Rechtsform auch bei unseriösen Schuldnern" ise28 . Das Rechtsgut des § 84 GmbHG ist insgesamt mit dem des § 64 Abs. 1 GmbHG 229 identisch: Die Pflicht zur Insolvenzantragstellung und der damit verbundene Zweck sollen durch § 84 GmbHG "strafrechtlich abgesichert"230 werden.

2. Rechtsnatur a) Abstraktes Gefährdungsdelikt § 84 GmbHG ist ein abstraktes Gefahrdungsdelikt; auf eine konkrete Gefährdung der geschützten Rechtsgüter im Einzelfall kommt es nicht an 231 . Die Insolvenzverschleppung gehört damit in die Gruppe der "Vorfelddelikte"232. Es handelt sich um 224 Entwurf eines Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung nebst Begründung und Anlagen, Amtliche Ausgabe, Berlin 1891, S.II8f. 225 BGH wistra 1982, S. 189, S. 191; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S.347, S.349; Kohlmann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit des GmbH-Geschäftsführers, Rdn.473. 226 BGHZ 29, S. 100, S. 106; Fuhrmann in: Rowedder, GmbHG, § 84 Rdn. I. 227 Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 347, S. 349. 228 Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, § 84 Rdn. 1. 229 Siehe dazu oben A. I. 230 Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 347, S. 349. 231 Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 347, S. 349; Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn.15. 232 Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschafts strafrecht, § 84 Rdn. 3.

c. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

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eine Vorverlegung des Strafrechtsschutzes, die im Vergleich zu sonstigen Vermögens- und Wirtschaftsdelikten sehr weit geht, da auch Fahrlässigkeit unter Kriminalstrafdrohung steht 233 • Nach Tiedemann signalisiert die ungewöhnlich niedrige Obergrenze der Freiheitsstrafe von einem Jahr ein gewisses Unbehagen des Gesetzgebers bei der Pönalisierung der fahrlässig abstrakten Gefährdung 234 • Diese Verlegung des Strafschutzes in das Vorfeld der Schädigung soll sich aus der besonderen Insolvenzanfälligkeit der GmbH und den charakteristischen Gefahren, die mit der Haftungsbeschränkung auf das Gesellschaftsvermögen und der Anonymität der Gesellschafter verbunden sind rechtfertigen 235 •

b) Unterlassungsdelikt Ferner umschreibt § 84 Abs. 1 Nr.2 GmbHG ein echtes Unterlassungsdelikt. 236 Zwar soll die vom Gesetz geforderte AntragsteIlung einen "Erfolg", nämlich die rechtzeitige Eröffnung des Insolvenzverfahrens, herbeiführen, jedoch kommt es für die Strafbarkeit nicht auf das Ausbleiben dieses "Erfolges" an; das strafbare Verhalten erschöpft sich im Unterlassen der Insolvenzantragstellung. 237

c) Sonderdelikt Zur allgemeinen Kennzeichnung der Deliktsnatur gehört schließlich die Feststellung, dass es sich bei § 84 Abs. 1 Nr. 2 GmbHG um ein echtes Sonderdelikt handelt. 238 Dies bedeutet zunächst, dass der bestellte Organwalter nach allgemeiner Meinung auch dann tauglicher Täter ist, wenn es sich um einen Strohmann handelt. 239 Die Rechtsprechung weitet den Täterkreis des § 84 GmbHG aber über die durch einen gültigen Organisationsakt ins Amt bestellten Organwalter in zwei Richtungen aus. 24O Zum einen soll auch ein Organwalter, der seine Stellung ausübt, obTiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn. 16. Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn. 16. Zustimmend: Canaris, JZ 1993, S.649, S. 651 f. Vgl. dazu allgemein Tiedemann in: Delitala-Gedächtnisschrift Bd.3, S.2147, S.2152f. 235 Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn. 16. 236 BGHSt 14, S.280; S.281; 28, S.371, S.380; BGH GA 1959, S.87, S.89; BGH GmbHR 1959, S. 28; Richter, GmbHR 1984, S. 113, S. 119; Bieneck in: Müller-GugenbergerlBieneck, Wirtschafts strafrecht, § 84 Rdn. 4. 237 BGHSt 14, S.280, S.281; Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn.13; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S.347, S. 350. 238 BGHSt2, S.53f. Vgl. Richter, GmbHR 1984, S.113, S.118f.; Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn. 18; Bieneck in: Müller-GugenbergerlBieneck, Wirtschafts strafrecht, § 84 Rdn.5. 239 Vgl. SiegmannIVogel, ZIP 1994, S.1821 m. w.N. 240 Vgl. eingehend und kritisch Altrneppen in: Roth/Aitmeppen, GmbHG, § 84 Rdn. 3-7. 233

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

wohl der zu Grunde liegende zivilrechtliche Organisationsakt ungültig ist, Täter sein können;241 zum anderen zählen nach der Rechtsprechung zum Taterkreis auch die sogenannten faktischen Geschäftsführer, das heißt Personen, die gar keine Geschäftsführerstellung innehaben, aber neben dem bestellten Organ faktisch agieren. 242 Hierdurch soll gewährleistet werden, dass der Schutz der Allgemeinheit vor unredlicher Handhabung der Geschäftsführung einer GmbH "unterlaufen" wird. 243

11. Tatbestandsvoraussetzungen von § 84 Abs. 1 Nr.2, Abs.2 GmbHG Der objektive Tatbestand ist erfüllt, wenn der Geschäftsführer (oder Liquidator) es unterlässt, die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen, obwohl die GmbH zahlungsunfahig oder überschuldet ist. 244 Indem der Gesetzgeber mit § 64 Abs. 1 GmbHG dieselbe Bezugsnorm zum Anknüpfungspunkt des Straftatbestandes erklärt wie auch für die Schadenersatzptlicht, spricht er sich für einen Gleichlauf der Sanktionen aus. 245 Teilweise bestehen im Strafrecht gegenüber dem Verständnis im Zivilrecht jedoch Unterschiede.

1. Zahlungsunfähigkeit Zahlungsunfahigkeit im Sinne des § 84 Abs. 1 Nr.2 GmbHG liegt vor, wenn die GmbH aus Mangel an bereiten Mitteln auf Dauer nicht mehr in der Lage ist, ihre falligen Schulden ganz oder zu einem wesentlichen Teil zu erfüllen. 246 Die Definition entspricht damit der bisherigen herrschenden Ansicht zur Definition der Zahlungsunfahigkeit bei § 64 Abs. 1 GmbHG. 247 Durch § 17 Abs. 2 InsO ergeben sich aber 241 BGHSt 3, S. 32, S.37; 6, S. 314, S. 316. Vgl. hierzu K. Schmidt, Rebmann-Festschrift, S.419, S.425. 242 BGHSt 31, S. 118, S. 122; BGH wistra 1984, S. 178. Vgl. auch BGHSt 14, S.280, S. 282; BGH wistra 1990, S.60, S.61; OLG DüsseldorfNIW 1988, S.3166f.; Bay ObLG wistra 1991, S.195, S.197. Vgl. hierzu zustimmend: Wiesener, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S.101, S.180ff.; Bruns, IR 1984, S.133, S.133f.; Fuhrmann, Tröndle-Festschrift, S.139, S.142ff.; K. Schmidt, Rebmann-Festschrift, S.419, S. 433 ff.; C. Schäfer, GmbHR 1993, S. 717, S. 723; Dierlamm, NStZ 1996, s. S. 153, 153ff. und ablehnend: Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn. 32 ff.; Joerden, wistra 1990, S. I, S.4. Umfassende Darstellung bei Montag, Die Anwendung der Strafvorschriften des GmbH-Rechts auf faktische Geschäftsführer. 243 BGHSt 31, S.118, S.122. 244 Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S.347, S.357. 245 Vgl. K. Schmidt, Rebmann-Festschrift, S.419, S.437. 246 BGH wistra 1982, S.189, S. 191; 1988, S. 383; RGSt 41, S. 314; Bay ObLG wistra 1988, S. 363; Kohlmann in: Hachenburg, GmbHG, § 84 Rdn. 39. Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn.44; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S.347, S. 359. 247 Vgl. C. Schäfer, GmbHR 1993, S. 717, S.784.

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auch hier Änderungen 248 , wie sie bereits oben dargelegt wurden 249 . Zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit gibt es zwei Methoden: 250 die sogenannte betriebswirtschaftliche Methode besteht in der stichtagsbezogenen Gegenüberstellung der fälligen Verbindlichkeiten mit den zu ihrer Tilgung vorhandenen oder herbeizuschaffenden Mitteln;251 die sogenannte kriminalistische Methode verwendet wirtschaftskriminalistische Beweisanzeichen wie Häufigkeit der Wechsel- und Scheckproteste, fruchtlose Pfändungen 252 und Ableistung der eidesstattlichen Versicherung. 253 Letztere Methode ist wegen der geringeren Arbeitsbelastung die gängige Praxis der Staatsanwaltschaften. 254

2. Überschuldung Das OLG München nimmt an, Überschuldung sei auch in strafrechtlicher Sicht im Sinne des "neueren zweistufigen Überschuldungsbegriffes" der zivilrechtlichen Rechtsprechung zu verstehen und verlangt dementsprechend für die Feststellung der Überschuldung Ausführungen zur Fortführungsprognose. 255 Demgegenüber geht die Literatur und die übrige Rechtsprechung davon aus, dass der (konventionelle) zwei stufige Überschuldungsbegriff Anwendung finden so1l256. Diese Auffassung wird durch die Legaldefinition § 19 Abs.2 InsO bestärkt, der auch im strafrechtlichen Bereich anzuwenden ist 257 • Im Ansatz herrscht hier der gleiche Konflikt wie bei § 64 Abs. I GmbHG. Aufgrund der gesetzgeberischen Entscheidung ist auch hier zu erwarten, dass der Konflikt zugunsten § 19 Abs. 2 InsO entschieden wird. 248 Vgl. Moosmayer, Einfluß der Insolvenzordnung 1999 auf das Insolvenzstrafrecht, S.156ff.; Uhlenbruck, wistra 1996, S.I, S. 3 f. Anders hingegen Bittmann, wistra 1998, S.321, S.323. 249 Siehe oben 1. Teil, A. 11. 1. 250 Allein das Geständnis des Angeklagten reicht zur Feststellung der Zahlungsunfähigkeit nicht Vgl. BGH wistra 1988, S.225. 251 Vgl. BGH wistra 1987, S.218, S.219; BGH wistra 1991, S.26, S.26; eingehend: Hartung, wistra 1997, S.I, S.2ff. 252 Fruchtlose Pfandungen sind durch sog. Unpfandbarkeitsbescheinigungen gern. § 63 der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (auch Pfandabstandserklärung genannt) nachzuweisen, vgl. BGH wistra 1987, S.218, S. 219. Eine andere Möglichkeit ist die Aussage des Gerichtsvollzierhers, vgl. BGH wistra 1992, S.145, S.146. 253 Vgl. BGH wistra 1987, S.218, S.219; 1993, S.184, S.184. Eine Liste findet sich bei Hartung, wistra 1997, S.I, S.11 f. 254 Nach Hartung wegen Arbeitsüberlastung, vgl. Hartung, wistra 1997, S. I, S. 2; Vgl. außerdem Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 46 f. 255 OLG München, NJW 1994, S.3112, S.3114. 256 OLG Düsseldorf, wistra 1997, S.113, S.113; Kohlmann in: Hachenburg, GmbHG, § 84 Rdn.43. Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn.47; Schulze-Osterloh in: Baumbach/Hueck, GmbHG, § 84 Rdn. 23; Lüderssen, Arm. Kaufmann-Gedächtnisschrift, S. 675, S. 678 f.; PJeifJer, Rowedder-Festschrift, S. 347, S. 360. 257 Vgl. dazu Uhlenbruck, wistra 1996, S.I, S.6.

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Herrschende Meinung im Strafrecht ist es jedoch, dass zugunsten des Geschäftsführers regelmäßig von der Fortführung des Unternehmens auszugehen ist, so dass in den Überschuldungsstatus regelmäßig Fortführungswerte einzusetzen sind 258 • Um Unsicherheiten bei der Bewertung der einzelnen Vermögensgegenstände nicht zu Lasten des Geschäftsführers gehen zu lassen, wird darüber hinaus im Strafrecht eine "qualifizierte"259, bzw. eine "gravierende"260 Überschuldung verlangt. 261 Dem Bundesgerichtshof zu folge ist die Überschuldung in den Urteilsfeststellungen mit dem unzweifelhaften Mindestbetrag zu beziffern. 262 Staatsanwaltschaften untersuchen heutzutage bei der Feststellung der Krisensituation bevorzugt die Zahlungsunfähigkeit, um Streitigkeiten bei der Feststellung einer Überschuldung angesichts der Unsicherheiten des prognostischen Elements sowie dem Streit um die verschiedenen Überschuldungsbegriffe aus dem Wege zu gehen. 263

3. Der subjektive Tatbestand Hinsichtlich der subjektiven Voraussetzungen verlangt Abs. 1 die vorsätzliche Begehungsweise mit einem Strafrahmen von Geldstrafe bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe. Für Abs. 2 ist Fahrlässigkeit ausreichend, wodurch sich das Höchstmaß der Freiheitsstrafe auf ein Jahr reduziert.

a) Vorsatz (§ 84 Abs.l GmbHG) Der Vorsatz muss sich auf sämtliche objektiven Merkmale des Abs. 1 Nr.2 beziehen. Bedingter Vorsatz genügt. 264 Der Täter muss wissen, dass er Geschäftsführer (oder Liquidator) ist; er muss die Umstände kennen, aus denen sich die Pflicht zum Stellen des Insolvenzantrags (Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung) ergibt, insbesondere auch den Ablauf der Höchstfrist von drei Wochen. 265 Die Kenntnis der 2580LG Düsseldorf, wistra 1997, S. 113, S. 113; Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn.47; Schulze-Osterloh in: Baumbach/Hueck, GmbHG, § 84 Rdn. 23; Lüderssen, Arm. Kaufmann-Gedächtnisschrift, S. 675, S. 677; Schlüchter, wistra 1984, S.41, S.43; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 347, S. 360. A. A. insbesondere Franzheim, NJW 1980, S. 2500, S. 2501. 259 Tiedemann in: Scholz, GmbHG, §84 Rdn.47. 260 Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschafts strafrecht, § 76 Rdn. 27. 261 So auch Bottke, JA 1980, S. 93, S.97. Nach Weyand ist dies die gängige Praxis der Ermiulungsbehörden, vgl. Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn.34. 262 BGHSt 15, S. 306, S. 310; vgl. auch BGH GA 1959, S. 87, S. 89. 263 Hartung, wistra 1997, S.I, S.1 f. 264 RGSt 75, S. 160, S. 163; BGH GA 1959, S.87, S. 89; Richter, GmbHR 1984, S. 113, S. 120; Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn. 98; Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, § 84 Rdn. 20. 265 BGH GA 1959, S. 87, S. 89; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 347, S. 364f.

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Krisenwarnzeichen wird in der Regel die Kenntnis des objektiven Tatbestandes indizieren. 266 b) Fahrlässigkeit (Abs. 2)

Fahrlässig handelt, wer entweder die Sorgfalt außer acht lässt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet und fähig ist, und deshalb die Tatbestandsverwirklichung nicht erkennt (unbewusste Fahrlässigkeit) oder wer die Tatbestandsverwirklichung für möglich hält, jedoch pflichtwidrig und vorwerfbar im Vertrauen darauf handelt, dass sie nicht eintreten werde (bewusste Fahrlässigkeit)267. In der Strafrechtslehre wird dabei dem subjektiven Maßstab des individuellen Täter-Könnens erhebliche Bedeutung beigemessen 268 . Zumindest im Bereich der Wirtschafts straftaten wird der Fahrlässigkeitsmaßstab in erster Linie objektiv gehandhabe69 . Der Fahrlässigkeitsvorwurf bei § 84 Abs. 2 GmbHG setzt vor allem voraus, dass die Zahlungsunfähigkeit oder Überschuldung der GmbH für einen sorgfältigen Geschäftsführer erkennbar und die Unkenntnis des Täters objektiv pflichtwidrig war 270 • Ähnlich wie im Zivilrecht kann daher auch im Strafrecht einem Geschäftsführer vorgeworfen werden, er hätte wenigstens subjektiv erkennen können, dass er den übernommenen Pflichten als Geschäftsführer nicht gewachsen ist (sog. "Übernahmeverschulden")27I. Ptlichtwidrig handelt insbesondere der Geschäftsführer, der ohne jegliche wirtschaftliche und geschäftliche Planung tätig wird oder keine bzw. mangelhafte Aufzeichnungen führt, außerdem derjenige, der Krisen indikatoren nicht zum Anlass nimmt, seine geschäftliche Situation zu überprüfen. 272 Nach Bieneck muss derjenige, der im Wirtschaftsleben als Organ einer Handelsgesellschaft auftritt, für die Erfüllung der verkehrsüblichen und -erforderlichen Pflichten einstehen. Der Pflichtenmaßstab für fahrlässige Taten werde dementsprechend in der strafgerichtlichen Praxis streng gehandhabt: Im Ergebnis bilde die vom Bundesgerichtshof für § 64 GmbHG formulierte Ptlicht, notfalls sachverständige Dritte einzuschalten, auch die Grundlage für den Fahrlässigkeitsvorwurf im Konkurs strafrecht. 273 Die Anforderungen unterscheiden sich damit nicht von denen, die für die Haftung aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit §64 Abs.l GmbHG gelten 274 . Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn. 98. Vgl. Lackner/Kühl, StGB, § 15 Rdn.35; eingehender: Roxin, Strafrecht AT I, § 24 Rdn.8ff. 268 Vgl. nur Roxin, Strafrecht ATI, § 24 Rdn.46ff. 269 Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn. 104. Vgl. hierzu BGHSt7, S. 123 f. 270 Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn. 101. 271 Vgl. dazu Richter, GmbHR 1984, S. 113, S.120. 272 Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 106. Vgl. Uhlenbruck in: K. Schmidt/Uhlenbruck, Die GmbH in Krise, Sanierung und Insolvenz, Rdn. 1255. 273 Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, § 84 Rdn. 21. Ebenso: Tiedemann in: Scholz, GmbHG, § 84 Rdn. 103. 274 Tiedemann empfiehlt hingegen der Praxis, bei der Bestrafung der Unterlassung der Insolvenzantragsstellung nach § 84 Abs. 2 GmbHG, einen Maßstab anzuwenden, der der groben 266

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit c) Kenntnis der Antragspflicht

Wie bereits bei der zivilrechtlichen Insolvenzantragspflicht will ein Teil der strafrechtlichen Literatur und die ältere Rechtsprechung die Antragspflicht des Geschäftsführers erst mit Kenntnis des Insolvenzgrundes entstehen lassen. 275 Diese BGH-Rechtsprechung rührt jedoch noch aus der Zeit, als es noch gar keinen strafrechtlichen Fahrlässigkeitstatbestand gab. 276 Die neuere strafrechtliche Literatur geht hingegen davon aus, dass es nicht darauf ankommt, wann der Geschäftsführer subjektiv von dem Eintritt des Insolvenzgrundes erfährt. 277 Wie bereits zu § 64 Abs. I GmbHG ausgeführt 278 sprechen die besseren Gründe für die letztgenannte Ansicht. Positive Kenntnis zu verlangen, widerspricht der üblichen Gesetzestechnik des Strafgesetzgebers 279 • Für den Fahrlässigkeitstatbestand, der in § 84 Abs. 2 GmbHG ausdrücklich angeordnet wurde, bliebe andernfalls kein Raum 280 •

III. Durchsetzung des Strafanspruches Die praktische Seite der Durchsetzung des Strafanspruches folgt gänzlich anderen Grundsätzen, als die Durchsetzung des zivilrechtlichen Anspruchs. Das Strafrecht unterscheidet sich hinsichtlich der geltenden Prozessmaximen, dem Umfang der beweisbedürftigen Tatsachen und den Möglichkeiten zur Informationsbeschaffung.

Fahrlässigkeit entspricht. Bislang fehlten für die Erkenntnis der Gefahr einer Überschuldung verlässliche und praktikable Kriterien. Insbesondere im GmbH-Recht im Hinblick auf dessen Adressatenkreis, der sich überwiegend aus Angehörigen kleiner Betriebe und mittelständischer Schichten zusammensetze sei kaum annehmbar, den Fahrlässigkeitsvorwurf in Bezug auf das Vorliegen der Überschuldung bereits auf das Verkennen eines einzigen potenziellen Indikators zu stützen. Vgl. Tiedemann in: Delitala-Gedächtnisschrift, S.2147, S.2153. Die Praxis behilft sich demgegenüber (wie dargestellt, siehe dazu im Text Punkt C. 11. 2., S. 62) bei der Überschuldung damit, erst eine erhebliche Überschuldung als strafrechtsrelevant gelten zu lassen. 275 Vgl. BGHSt 15, S.306, S.31O; BGH GA 1959, S.87, S.88; Möhrenschlager, wistra 1983, S. 17, S. 21; Pfeiffer, Rowedder-Festschrift, S. 362f.; Kohlmann, Strafrechtliche Verantwortlichkeit des GmbH-Geschäftsführers, Rdn.474; Meyer-Landrut in: Meyer-Landrut, GmbHG, §84 Rdn.8. 276 Dies hinderte den BGH jedoch nicht daran, die Vorinstanz zur Prüfung einer möglicherweise vorliegenden Fahrlässigkeitsschuld zu verpflichten, vgl. BGH GA 1959, S.87, S.88f. 277 Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn.80; Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschaftsstrafrecht, § 84 Rdn. 21. Anders noch Richter, GmbHR 1984, S. 113, S. 119. 278 Siehe oben 1. Teil, A. 11. 3. c) (l). 279 Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn.59. V gl. bereits ders., GmbHR 1985, S. 281, S.282. 280 Siehe oben 1. Teil, A. 11. 3. c)( 1).

C. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

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1. Prozessmaximen des Strafprozesses a) Ojfizialprinzip

Im deutschen Strafrecht herrscht das Offizialprinzip. Dieses Prinzip besagt, dass allein der Staat Straftaten von Amts wegen verfolgt. Nach diesem Grundsatz hat der Staat nicht nur den materiellen Strafanspruch, sondern auch das Recht und die Pflicht zur Strafverfolgung; er verwirklicht seinen Strafanspruch selbst, und zwar ohne Rücksicht auf den Willen des Verletzten; er schreitet bei allen Straftaten von Amts wegen ein. Der Verletzte kann als Anzeigenerstatter auftreten oder kann im Prozess Zeuge sein; nötig ist das aber nicht 281 • Zwar sollen im Verfahren die Belange des durch die Straftat Betroffenen, des Verletzten, berücksichtigt werden; aber sie stehen doch nicht so im Vordergrund, als dass ein Einzelner über die Erfüllung einer der Gemeinschaft obliegenden Aufgabe befinden könnte. 282 Dieses Prinzip hatte sich in der deutschen Rechtsgeschichte im Mittelalter herausgebildet und ist das Ergebnis einer allgemeinen Abkehr von dem davor im strafrechtlichen Bereich vorherrschenden Prinzip der Selbsthilfe in Form der Fehde und Blutrache 283 • Während des ganzen Mittelalters ist die Selbsthilfe als Mittel der Rechtsdurchsetzung in Gestalt der Fehde anerkannt gewesen 284 • Die staatliche Anerkennung der Fehde entstammt germanischem Rechtsdenken, das von einer grundsätzlich staatlichen Aufgabe des Rechtsschutzes und der Justizgewährung noch nichts wusste. Je mehr sich in der Entwicklung des Rechtsdenkens der Gedanke entfaltet, dass Justizgewährung Recht und Pflicht der obrigkeitlichen Gewalten sei, je 281 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 12 Rdn.7; Krey, Strafverfahrensrecht, Band 2, Rdn.120ff. 282 Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 92. 283 Eingehend zu dieser Umstrukturierung: Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, §§ 30f., 35 ff., 65, 68. Die Abkehr von der Selbsthilfe fand im Zusammenhang mit der Herausbildung einer stärkeren staatlichen Zentralgewalt statt. Im Zuge einer Straffung der königlichen Gewalt in der merowingischen und fränkischen Periode zogen neuartige Vorstellungen und Motive in die Strafrechtspflege ein, die Eb. Schmidt, a. a. O. § 30 zusammenfassend als "Vorstoß einer öffentlichrechtlichen Auffassung von Verbrechen und Strafe" charakterisiert. So wurde etwa der Beklagte nicht mehr vom Kläger in einem außergerichtlichen Formalakt, sondern durch eine amtliche Ladung seitens des Gerichts geladen, usw. Vor allem mit der Entwicklung der Königsgerichtsbarkeit bricht sich der Gedanke Bahn, dass Verbrechensverfolgung eine Staatsaufgabe sei, dass es jedenfalls nicht angängig sei, die Ahndung strafbarer Handlungen ausschließlich der Privatinitiative zu überlassen, vgl. Eb. Schmidt, a. a. O. § 32. Die folgende Abkehr von der Selbsthilfe fand dann in erster Linie durch die Gottesund Landfriedensbewegungen, nachgewiesen ab etwa dem Jahr 1000, statt, vgl. Eh. Schmidt, a. a. O. § 36 f. Außerdem entwickelte sich in dieser Zeit der Anklageprozeß. So versuchte man in spätmittelalterlicher Zeit, namentlich in den deutschen Städten, im Rahmen des germanischen Rechtsganges zu einer Intensivierung der Verbrechensverfolgung zu kommen, indem man für die Erhebung der Anklage öffentliche oder amtliche Ankläger bestellte, denn private Kläger wagten sich oft nicht mehr hervor, vgl. Eb. Schmidt, a. a. O. § 68. 284 Vgl. Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, § 34, der davon spricht, dass Fehde und Rache bis ins 16. Jahrhundert bekannt waren.

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

stärker die Bemühungen werden, eine staatliche Rechtspflege wirksam zu gestalten, desto mehr wird vom Staate her die Selbsthilfe eingeschränkt. 285 Das hinter dem Offizial prinzip stehende Staatsverständnis ist geprägt sowohl von der Sorge des Staatsträgers um Normeinhaltung und Verhinderung privat ausgetragener unkontrollierbarer Fehden, als auch von einem Verantwortungsgefühl für den einzelnen, den nicht wehrfähigen Staatsbürger. Der Staat erhält eine Organisationsfunktion, die sich auf die wesentlichen Bereiche des zwischenmenschlichen Zusammenlebens bezieht. Ein gravierender Normverstoß wird als eine Gemeinschaftsangelegenheit betrachtet. 286

b) Akkusationsprinzip/Legalitätsprinzip Soweit die Strafverfolgung Privatpersonen überlassen ist, ist der Strafprozess ein Parteiprozess, der notwendigerweise mit der Klage durch einen Kläger gegen einen Beklagten beginnt 287 • Wenn dagegen der Staat die Strafverfolgung selbst in die Hand nimmt, bestehen zwei Möglichkeiten der Gestaltung des Strafverfahrens: den Inquisitionsprozess oder den Akkusationsprozess bzw. den Anklageprozess. Während im Inquisitionsprozess der Richter die gesamte Strafverfolgung unternimmt, ist beim Akkusationsprozess die Aufgabe der Strafverfolgung zwischen der anklagenden staatlichen Behörde und dem das Urteil sprechenden Gericht aufgeteilt, Ankläger und Richter sind zwei verschiedene Personen. 288 Im geltenden Recht gilt lückenlos der Anklagegrundsatz, das heißt die Eröffnung einer gerichtlichen Untersuchung ist durch die Erhebung einer Klage bedingt (§ 151 StPO)289. Zur Erhebung der Klage ist in Konsequenz des Offizial prinzips der Staat berufen, der dabei durch die Staatsanwaltschaft vertreten wird. Die Staatsanwaltschaft hat grundsätzlich das Anklagemonopol. 290 Diesem Anklagemonopol tritt ein Verfolgungs- und Anklagezwang zur Seite (Legalitätsprinzip291). Die Staatsanwaltschaft ist gemäß § 152 Abs. 2 StPO prinzipiell zur Aufnahme der Ermittlungen wegen aller verfolg barer Straftaten verpflichtet, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorliegen. Wenn die Ermittlungen genügenden Anlass dazu bieten, muss sie gemäß § 170 Abs. 1 StPO auch Anklage er285 Vgl. zusammenfassend zu dieser Entwicklung Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil I, Rdn. 1-6. 286 Kühne, Strafprozeßlehre, Rdn. 135. Vgl. auch Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 92. 287 V gl. zum gennanischen Rechtsgang, wo das Verfahren vom Verletzten oder einem seiner Verwandten und Freunde durch Klageerhebung in feierlichem Fonnalakt in Gang gebracht wurde Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, §§ 27-29. 288 V gl. etwa Roxin, Strafverfahrensrecht, § 13 Rdn. 1-3. 289 V gl. Krey, Strafverfahrensrecht, Band 2, Rdn. 157 ff. 290 Bis auf die Ausnahmen der Privatklagedelikte. Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 13 Rdn. 7; Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 99. 291 Vgl. hierzu z.B. Krey, Strafverfahrensrecht, Band 2, Rdn.197ff.; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rdn. 1-3; Hassemer, StA Schleswig-Holstein-Festschrift, S.529, S. 529ff.

C. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

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heben. Das Legalitätsprinzip bedeutet damit Verfolgungszwang gegen jeden Verdächtigen. 292 c) Opportunitätsprinzip Das Legalitätsprinzip ist jedoch vielfältig durch das Opportunitätsprinzip durchbrochen. Roxin sagt, im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalität gelte nicht das Legalitäts- sondern das Opportunitätsprinzip. 293 Das Opportunitätsprinzip stellt die gesetzliche Ausnahme zum Legalitätsprinzip dar. 294 Inhalt dieses Prinzips ist die Befugnis der Staatsanwaltschaft, trotz Vorliegen der Verfolgungsvoraussetzungen das Strafverfahren einzustellen. 295 Grundlage dieser Befugnis sind vor allem die §§ 153-154e, 376 StPO, §§45, 47, 109 JGG, § 398 AO und §§ 31, 37f. BtMG. 296 In den dort genannten Fällen tritt an die Stelle des Verfolgungs- und Anklagezwanges das Recht der Staatsanwaltschaft, nach pflichtgemäßem Ermessen zwischen Anklageerhebung und Verfahrenseinstellung auch dann zu wählen, wenn hinreichender Tatverdacht besteht. 297 Die Vorschriften lassen sich in vier verschieden Möglichkeiten zur Verfahrenseinstellung unterteilen 298 : 1. Der Tatvorwurf ist geringfügig und es besteht kein Verfolgungsinteresse. 2. Das Strafverfolgungsinteresse kann auf andere Weise als durch Anklageerhebung befriedigt werden. 3. Dem Strafverfahren stehen vorrangige staatliche Interessen entgegen. 4. Der Verletzte kann selbst die Strafverfolgung betreiben. Die Gründe für die so gestaltete Durchbrechung des Legalitätsprinzips liegen im Bereich der Effektivität der Strafrechtspflege. 299 Die schnelle und effektive Verfolgung schwerer Straftaten soll nicht unter der Belastung der Verfolgungsbehörden und der Strafjustiz mit geringfügigen Verfehlungen leiden. 3°O Eine lückenlose Geltung des Legalitätsprinzips sei wegen der beschränkten Ressourcen der Strafverfolgungsorgane gar nicht möglich; eine solche Geltung würde zur FunktionsunfähigPfeiffer, StPO, § 152 Rdn.2. Vgl. BVerfG NStZ 1982, S.430. So Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rdn.6. Eingehend kritisch: Baumann, ZRP 1972, S. 273 ff.; ferner: Pott, Die Außerkraftsetzung der Legalität durch das Opportunitätsdenken in den Vorschriften der §§ 154, 154a StPO, passim. 294 Vgl. Pfeiffer, StPO, § 152 Rdn.4. Kühne zählt neben dieser gesetzlichen Ausnahme die faktischen Ausnahmen Dunkelziffer und Verfolgungsabstinenz der Ermittlungsbehörden aus pragmatischen Überlegungen, vgl. Kühne, Strafprozeßlehre, Rdn.139. 295 Hassemer, StA Schieswig-Hoistein-Festschrift, S.529, S. 532; Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rdn. 6. 296 Zur quantitativen Bedeutung der einzelnen Vorschriften vgl. Rieß, NStZ 1981, S. 2, S. 3. 297 Krey, Strafverfahrensrecht, Band 2, Rdn.212. 298 Einteilung von Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 Rdn. 6. 299 Vgl. Hassemer, StA Schieswig-Hoistein-Festschrift, S. 529, S. 532 ff. 300 Vgl. etwa BGHSt 16, S. 229; Bloy, GA 1980, S. 161, S.I72. 292

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

keit der Strafrechtspflege führen. 301 Außerdem wird die Vermeidung der Erstkriminalisierung durch das Opportunitätsprinzip als rechtspolitisch wünschenswert angesehen. 302 2. "Beweislast" im Strafprozess Im Strafprozess gibt es keine Beweiserleichterungen wie im Zivilprozess. Dies ergibt sich aus zwei Grundsätzen des Strafprozesses: dem Ermittlungsgrundsatz und dem Grundsatz in dubio pro reo. Im deutschen Strafprozess gilt der Ermittlungsgrundsatz (Untersuchungsgrundsatz, Instruktionsmaxime). Er bedeutet, dass das Gericht den Sachverhalt selber ermittelt und dabei grundsätzlich nicht an Anträge und Erklärungen der Parteibeteiligten gebunden ist (vgl. § 155 Abs. 2 und § 244 Abs. 3 StPO).303 Die StPO will also die Ermittlung des wahren Sachverhalts dadurch gewährleisten, dass das Strafverfahren als ein vom Prinzip der materiellen Wahrheitserforschung beherrschter Amtsprozess ausgestaltet ist, in dem das Gericht von Amts wegen zur Erforschung der Wahrheit verpflichtet ist und die Verfahrensbeteiligten grundsätzlich weder über den Prozessstoff verfügen noch eine vorzeitige Verfahrensbeendigung herbeiführen können. 304 Ausfluss der Instruktionsmaxime ist es, dass alle für die gerichtlichen Entscheidungen irgend wie erheblichen Tatsachen bewiesen werden müssen, § 244 Abs.2 StPO. 305 Die "Beweislast" (sofern im Strafprozess überhaupt von Beweislast gesprochen werden kann 306) für das Vorliegen der Tatsachen trägt der Staat, bzw. die die Anklage vertretende Staatsanwaltschaft. 307 Im Strafrecht ist es üblicher diese Tatsache umgekehrt auszudrücken: Es gilt der Grundsatz in dubio pro reo, das heißt im Zweifel ist in der Tatfrage zugunsten des Angeklagten und damit zu Lasten des staatlichen Strafanspruches zu entscheiden. 308 Der Grundsatz ist zwar im Gesetz nicht ausdrücklich formuliert, ergibt sich aber zumindest aus Art. 6 Abs. 2 MRK ("Bis zum gesetzlichen Nachweis seiner Schuld wird vermutet, dass der Angeklagte unschuldig ist") und kann als gewohnheitsmäßig anerkannt bezeichnet werden. 309 Schuld301

Fezer, Strafprozeßrecht, Band I, Fall 1/46, 48.

302 So Rieß in: Löwe-Rosenberg, StPO, § 153 Rdn. 3, m. w. N. Zustimmend Krey, Strafver-

fahrensrecht, Band 2, Rdn.212. 303 Vg!. z. B. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 14 AI. 304 Vg!. hierzu: Pfeiffer in: Karslruher Kommentar zur StPO, Ein!. Rdn.7. 305 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 24 Rdn. 6. 306 Hiergegen z. B. Gössel, Strafverfahrensrecht, Stuttgart u.a. 1977, S.183 f. Vg!. zum Problem Stuckenberg , Untersuchungen zur Unschuldsvermutung, S. 87 f. m. w. N. 307 Meyer-Großner, StPO, § 155 Rdn. 3. Zur Identität des in dubio pro reo Satzes mit einer Beweislast-Regel: Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 36ff. 308 Vg!. zu diesem Grundsatz insbesondere Stree, In dubio pro reo, passim; ferner z. B. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 D. 309 So Prütting, Gegenwartsprobleme der Beweislast, S. 38. Das Bundesverfassungsgericht leitet den Grundsatz zwar nicht her, wendet ihn aber an, vg!. BVerfG NJW 1988, S.477, S.477.

C. Strafrechtliche Verantwortlichkeit

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vennutungen, die den Satz "in dubio pro reo" durchbrechen, kennt das Strafrecht nicht 3IO • Ebenso folgt aus diesem Prinzip, dass es im Strafprozess keine Beweislastumkehr, wie sie das Zivilrecht kennt 311 , geben kann 3I2 • Um die strafrechtliche Sanktion durchsetzen zu können, müssen also von den Strafverfolgungsorganen sämtliche Strafbarkeitsvoraussetzungen bewiesen werden, und zwar ausnahmslos.

3. Informationsmöglichkeiten der Staatsanwaltschaft Der weit überwiegende Teil von Strafverfahren wegen Insolvenzdelikten entsteht durch Mitteilung der Insolvenzgerichte 313 • Die "Anordnung über Mitteilungen in Zivilsachen" (MiZi) regelt, dass die Eröffnung eines Konkursverfahrens bzw. die Ablehnung mangels Masse der Staatsanwaltschaft mitzuteilen ist 314 • Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens bzw. dessen Ablehnung mangels Masse lassen noch keine Rückschlüsse auf Straftaten zu. Der Staatsanwalt stellt daher zunächst Vorennittlungen an und lässt sich die Insolvenzakte übersenden 315 • Daneben bieten das Handelsregister und die Vollstreckungs akten des Gerichtsvollziehers dem Staatsanwalt Möglichkeiten, sich zu infonnieren 316• Weitere Infonnationsquellen sind der Insolvenzverwalter und das Finanzamt 3l7 • Ergeben sich hieraus Verdachtsmomente für gravierende Insolvenzstraftaten, kann die Staatsanwaltschaft Geschäftsräume und andere Orte des Beschuldigten durchsuchen und Geschäftsunterlagen sicherstellen 3l8 • Die Durchsuchung von Geschäfts- und ergänzend auch Privaträumen ist in Wirtschaftsstrafverfahren die klassische kriminalistische Methode der Beweisbeschaffung. 319 Grundlage hierfür sind die §§ 98 ff. StPO, die Möglichkeiten und Grenzen für Durchsuchungs- und Beschlagnahmemaßnahmen festlegen. Bereits die Insolvenz der GmbH lässt die Staatsanwaltschaft vom Anfangsverdacht der Straftat der Verschleppung des Insolvenzverfahrens ausgehen 320 • Die Staatsanwaltschaft hat damit die Möglichkeit, direkt auf die Geschäftsunterlagen des Beschuldigten zuzugreifen. Vgl. eingehend zur Unschuldsvermutung: Stuckenberg, ZStW 111 (1999), S.422, passim; zur Geltung des Rechtssatzes nach bundesdeutschem Recht, S. 423 f. 310 Roxin, Strafverfahrensrecht, § 15 Rdn.37. Vgl. dazu kritisch Stuckenberg, ZStW 111 (1999), S. 422, S.446. 311 Siehe 1. Teil, B. IV. 2. a). 312 Vgl. Stuckenberg, ZStW 111 (1999), S.422, S.444f. 313 Bora/Liebl/Poerting/Risch, Polizeiliche Bearbeitung von Insolvenzkriminalität, S. 286. 314 Baumgarte, wistra 1991, S.171, S.I72. 315 Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 140. 316 Köhler in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch, Kapitel 2 Rdn. 500 ff.; Baumgarte, wistra 1991, S.171, S.I72. 317 Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 146ff. 318 V gl. Köhler in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch, Kapitel 2 Rdn. 542 ff.; Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 148. 319 So Kramer, Ermittlungen, Rdn.75. 320 So Richter, wistra 2000, S. 440.

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

IV. Rechtsfolge Die empirische Justizforschung hat nachgewiesen, dass der Normbefehl der §§ 160 Abs.1, 163 Abs.1 StPO, bei zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkten den Sachverhalt zu erforschen, nur teilweise erfüllt wird und zwar in delikts spezifisch unterschiedlicher Weise: Der Aufklärungsaufwand wird nach einer antizipierten Erfolgseinschätzung und nach der Deliktsschwere dosiert. 32I Bei § 84 Abs. 1 Nr.2, Abs. 2 GmbHG ist die Voraussetzung für die Aufklärung der Taten besonders schlecht: zum einen sind die staatsanwaltlichen Ermittlungen in diesem Bereich schwierig und langwierig, zum anderen ist die Straferwartung nicht sonderlich hoch. Allgemein wird von staatsanwaltlicher Seite beklagt, dass die Ermittlungsverfahren, die mögliche Insolvenzstraftaten zum Inhalt haben, regelmäßig sehr langwierig sind. 322 Verantwortlich gemacht wird hierfür in erster Linie die Schwierigkeit der Sachlage und der Umfang der Ermittlungsakten. Bei Konkursdelikten sind in der Regel umfangreiche Buchhaltungsunterlagen auszuwerten. Zum Teil soll der Umfang der Beweismittel aus mehreren Kubikmetern Unterlagen 323 bzw. aus Hunderten von Ordnern 324 bestehen. Zur Feststellung des Zeitpunkts der Überschuldung oder der Zahlungsunfähigkeit müssen in der Regel sachverständige Buchprüfer hinzugezogen werden. 325 Dieser enorme Aufwand lohnt sich nicht für die geringe Straferwartung, die mit dem Formaldelikt 326 des Vergehens nach § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs.2 GmbHG verbunden ist. Die Straferwartung für eine durchschnittliche fahrlässige oder vorsätzliche Konkursverschleppung liegt bei 40-60 Tagessätzen. 327 Legt man einen Tagessatz von 40,-DM zu Grunde, ist eine Geldstrafe zwischen 1.600 DM und 2.400 DM zu verhängen 328 • Nach Bittmann muss daher der Staatsanwalt, bevor er kistenweise Geschäftsunterlagen auswerten lässt und damit schon in kleineren Fallen Kosten von mindestens 30.000 DM verursacht, prüfen, ob es Alternativen gibt. 329 Rieß, NStZ 1981, S. 2, S.4 m. w. N. Vgl. auch Zeij3ig, wistra 1994, S.295, S. 299. Vgl. Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, Rdn. 216 f.; Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 156 f.; Keller/Schmid, wistra 1984, S. 201, S. 201. V gl. zu den aus staatsanwaltlicher Sicht erforderlichen Tätigkeiten: Köhler in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch, Kapitel 2 Rdn.497ff. 323 Keller/Schmid, wistra 1984, S. 201, S. 201. 324 Schmidt-Hieber, Verständigung im Strafverfahren, Rdn.216. 325 Schmidt-H ieber, Verständigung im Strafverfahren, Rdn. 216. V gl. zum Sachverständigen im Wirtschaftsstrafverfahren Krekeler, wistra 1989, S.52, S.52ff. 326 Vgl. zur Einordnung als Formaldelikt: Keller/Schmid, wistra 1984, S. 201, S. 206. 327 Bittmann, wistra 1999, S. 10, S. 15. 328 So z. B. im Fall OLG Düsseldorf, wistra 1997, S. 113. Dort hatte das Landgericht den Angeklagten wegen nicht rechtzeitiger Konkursantragsstellung zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen zuje 40,-DM verurteilt. Vgl. die Sachverhaltsangaben des Urteils. 329 Bittmann, wistra 1999, S.lO, S.15. ÄhnlichZeij3ig, wistra 1994, S.295, S.299. Vgl. zu den Kosten Krekeler, wistra 1989, S. 52, S. 56. 321

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D. Vergleich zivilrechtlicher Haftung mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit

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Diese "Alternative" wird in Wirtschaftsstrafsachen allgemein in den Opportunitätsvorschriften der §§ 153, 153 a StPO und den Möglichkeiten zur Verfahrensbeschränkung nach §§ 154ff. StPO gesehen. Diese "sinnvolle Beschränkung des Legalitätsprinzips" dient der Beschleunigung und einem zügigen Verfahrensabschluss. 330 Soweit im Zusammenhang mit dem Unternehmenszusammenbruch geringfügige Bankrottdelikte zu verzeichnen sind, der Beschuldigte z. B. nur für einen kurzen Zeitraum seine Buchführung vernachlässigt und auch keine Bilanzen erstellt hat, führt die starke zivilrechtliche Belastung der Geschäftsführer gegenüber der Hausbank usw. "normalerweise" zur Einstellung nach § 153 StPO. 331 Aber auch bei schwerwiegenderen Vorwürfen wird von der Staatsanwaltschaft häufig § 153 a StPO angewandt. 332 Diese Handhabung der Einstellungsvorschriften bei Wirtschaftsstraftaten führt dazu, dass bei alleinigem Vorliegen einer Straftat nach § 84 GmbHG in aller Regel das Ermittlungsverfahren eingestellt wird. 333 Die Einstellung erfolgt, sofern es dem Staatsanwalt gelingen sollte, vom Beschuldigten die Zustimmung zur Einstellung gemäß § 153 a StPO zu erlangen, nach dieser Vorschrift; ist dies aber, wie häufig, nicht möglich, dann wird die Einstellung gemäß § 153 StPO erfolgen. 334 Bei § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 BGB verebbt der Strafanspruch des Staates damit vollständig in den Opportunitätsvorschriften. § 84 Abs. I Nr. 2, Abs. 2 GmbHG dient im Endeffekt nur noch als Auffangtatbestand für nicht beweisbare Betrugs- und Konkursstraftaten 335 •

D. Bestandsaufnahme: Vergleich zivilrechtlicher Haftung mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit Mit diesem Überblick über Voraussetzungen und Wirkungsweise der beiden Sanktionen lässt sich nun Bilanz ziehen. Es ergeben sich die im folgenden aufgeführten Gemeinsamkeiten bzw. Unterschiede von zivilrechtlicher Haftung zu strafrechtlicher Verantwortlichkeit.

I. Prozessuale Gestaltung Fundamentale Unterschiede zwischen zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortlichkeit ergeben sich hinsichtlich der Durchsetzung der jeweiligen 330 Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 156; Vgl. auch Zeij3ig, wistra 1994, S. 295, S. 299; eingehender Keller/Schmid, wistra 1984, S. 201, S. 202 ff. 331 Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 158. 332 Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 158. m Tiedemann, GmbH-Strafrecht, § 84 Rdn. 113. 334 Bittmann, wistra 1999, S.IO, S.15. 335 So übereimstimmend Bieneck in: Müller-Gugenberger/Bieneck, Wirtschafts strafrecht, § 84 Rdn. 3; Tiedemann, GmbH-Strafrecht, Vor § 82 Rdn.9.

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1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

Sanktion. Als übergeordneter Gesichtspunkt für die Durchsetzung der zivilrechtlichen Haftung ist die Eigenverantwortlichkeit des einzelnen Anspruchsinhabers zu nennen. Wie der materielle zivilrechtliche Anspruch selbst durch das Gesetz in die Verfügungsbefugnis des Einzelnen gestellt ist, der Einzelne also eigenverantwortlich über dessen materielles Schicksal entscheiden kann, so stellt ihm der Staat mit den Möglichkeiten des Zivilprozesses lediglich die Möglichkeit zur Durchsetzung des Anspruchs zur Verfügung 336 • Ob, wie und wann der Anspruch durchgesetzt wird, steht dadurch in der Verantwortung des Einzelnen. Die Betonung der Eigenverantwortlichkeit im Zivilprozessrecht ist das notwendige Korrelat zur Eigenverantwortlichkeit des Privatrechts (Privatautonomie).337 Demgegenüber ist die Strafverfolgung als behördlich organisiertes staatliches Verfahren ausgestaltet, das unabhängig von den Interessen des Einzelnen betrieben wird. Der Strafanspruch wird als Gemeinschaftsangelegenheit betrachtet und von der Staatsanwaltschaft als "Gemeinschaftsorgan" verfolgt. Private Interessen und Initiativen können allenfalls insoweit auf die Durchsetzung des Anspruchs einwirken, dass die Staatsanwaltschaft zu einer genaueren Prüfung des Falles veranlasst wird. 338 Im Grunde sind sie jedoch überflüssig 339 • Was die prozessuale Gestaltung der beiden Sanktionen betrifft stehen sich auf der einen Seite Verantwortung des Einzelnen und auf der anderen Seite staatlich organisiertes Verfahren gegenüber.

11. Tatbestandsebene Die Vorschriften sind hinsichtlich ihrer tatbestandlichen Voraussetzungen sowohl in objektiver Hinsicht als auch in subjektiver Hinsicht nahezu identisch. Zwar sind die Details der Insolvenzgründe durch die Einführung der Insolvenzordnung in Bewegung geraten 340 , sie dürften sich jedoch für den zivilrechtlichen und strafrechtlichen Bereich einheitlich entwickeln. Identisch sind insbesondere die Anforderungen an die Zahlungsunfähigkeit, der Nachweis der Zahlungsunfähigkeit im Prozess durch Indizien bezüglich der Zahlungseinstellung bzw. durch die sogenannte kriminalistische Methode und die subjektiven Voraussetzungen bezüglich der Fahrlässigkeit. 341 Einziger Unterschied sind die strengeren Anforderungen bei der Feststellung der Überschuldung im Bereich der strafrechtlichen Verantwortung: Während hier regelmäßig Fortführungswerte in den Überschuldungsstatus einzusetzen sind, sind nach der Grundregel des § 19 Abs. 2 InsO regelmäßig Liquidationswerte einzusetzen. AuSiehe 1. Teil, B. IV. Siehe bereits oben 1. Teil, B. IV. 1. a). m Vgl. Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 138. 339 Siehe oben Roxin bei Fn. 297. 340 Siehe oben 1. Teil, A. 11. 1. und 2. 341 Siehe oben 1. Teil, C. 11. 336 337

D. Vergleich zivilrechtlicher Haftung mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit

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ßerdem verlangt die Strafbarkeit eine erhebliche Überschuldung 342 • Dies führt dazu, dass die Überschuldung im strafrechtlichen Sinne nicht so leicht wie (bzw. erst für einen späteren Zeitpunkt als) die Überschuldung im zivilrechtlichen Sinne festgestellt werden kann. Betrachtet man allein dieses Tatbestandsmerkmal, greift eigentlich die Strafbarkeit zu einem späteren Zeitpunkt ein, als die Haftung. Beim Vergleich des Eingreifens der beiden Sanktionen muss man jedoch mitberücksichtigen, dass für die Strafbarkeit allein die Tatsache der Insolvenzverschleppung ausreicht, während über die Haftung noch der Zeitpunkt der Begründung der Forderung (nämlich nach Eintritt des Insolvenzgrundes) gegen die GmbH mitentscheidet. Im Ergebnis dürften daher beide Sanktionen zur gleichen Zeit eingreifen. Folgender (realistischer) Fall soll das tatbestandliehe Verhältnis von Strafbarkeit zu Haftung verdeutlichen: Eine beliebige Bau-GmbH mit für gewöhnlich rentablem Geschäftsbetrieb verursacht bei einem Auftrag einen großen Schaden beim Auftraggeber, etwa durch einen Großbrand. Die Haftpflichtversicherung übernimmt aus hier nicht interessierenden Gründen den Schaden nicht (oder nicht voll). Mit dem Tag der Verursachung des Schadens hat damit die Bau-GmbH eine Schadenersatzverpflichtung gegenüber dem Auftraggeber, die in der Überschuldungsbilanz auszuweisen wäre und zu einer erheblichen Überschuldung der GmbH führt. (Wenn die Schadenersatzforderung eingetrieben wird, wird es auch zur Zahlungsunfähigkeit der GmbH kommen: Die Hausbank der GmbH wird eher die GmbH liquidieren lassen, als den Kredit der Bau-GmbH aufzustocken; denn die Bau-GmbH würde den Kredit ja nur zur Begleichung der aus Sicht der Bank "unwirtschaftlichen" Schadenersatzforderung verwenden. Aus wirtschaftlicher Sicht wäre dieses Geld verloren, da es keine Rendite tragen kann. Die Bank wird also die Aufstockung des Kredits verweigern und vielleicht auch den bisherigen Kredit fällig stellen, was alsbald zur Zahlungsunfähigkeit der Bau-GmbH führen wird.) Falls der Geschäftsführer der Bau-GmbH nun entgegen seiner Verpflichtung aus § 64 Abs. 1 GmbHG nicht innerhalb von drei Wochen die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt, macht er sich strafbar gemäß § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG. Damit es zu einer zivilrechtlichen Haftung kommt, muss er zusätzlich nach Ablauf der Dreiwochenfrist Verbindlichkeiten gegenüber den dann anspruchsberechtigten Neugläubigern begründen. Beide Sanktionen treten daher gleichzeitig ein, wenn die Gesellschaft weiterbetrieben wird. Aber auch wenn man einen schleichenden Vermögensverfall, etwa bei schlechter konjunktureller Lage o. ä. annimmt, dürfte die Insolvenzverschleppung wegen Überschuldung tatbestandlieh (das heißt theoretisch) beide Sanktionen parallel auslösen: Damit es zu Zahlungsausfällen bei den Neugläubigern und damit zu einem Schaden kommt, muß eine erhebliche Überschuldung der GmbH vorgelegen haben. Andernfalls ist der wirtschaftliche Zusammenbruch der Gesellschaft eher unwahrscheinlich. 343 Ein Auseinanderfallen der tatbestandlichen Voraussetzungen der bei342 343

Siehe oben 1. Teil, C. 11. 2. Vgl. auch Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 52.

1. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

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den Sanktionen ist daher zwar denkbar, aber wahrscheinlich für die Praxis nicht relevant.

III. Beweislast In bezug auf die Beweislast unterscheiden sich die beiden Sanktionen. Während für die Strafbarkeit der Vollbeweis der tatbestandlichen Voraussetzungen erbracht werden muss, kann der Neugläubiger Beweiserleichterungen beim Tatbestandsmerkmal der Überschuldung und beim Verschulden des Geschäftsführers nutzen. 344 Letzteres dürfte jedoch kaum relevant werden, da auch im strafrechtlichen Bereich das Verschulden zumindest in Form der Fahrlässigkeit "indiziert" ist, wenn der objektive Tatbestand feststeht. Die inhaltlichen Anforderungen, die an das Verschulden gestellt werden, können direkt aus dem objektiven Tatbestand abgeleitet werden. Denn das Vorliegen eines Insolvenzgrundes ist dem Geschäftsführer bei Anwendung der verkehrsüblichen und -erforderlichen Sorgfalt immer erkennbar. Die Anforderungen an diese Sorgfalt sind ja gerade so formuliert, dass sie auf die Pflicht, einen Insolvenzgrund zu erkennen, hinauslaufen 345 • Das Nichterkennen eines Insolvenzgrundes ist daher quasi definitions gemäß sorgfaltswidrig. Auswirken dürfte sich demgegenüber die Beweiserleichterung für das Tatbestandsmerkmal der Überschuldung. Für den Fall, dass die straf- und zivilrechtliche Rechtsprechung am "neueren zwei stufigen Überschuldungsbegriff" festhält, würde der Nachweis der negativen Fortbestehensprognose den staatlichen Strafverfolgungsorganen obliegen, während der Neugläubiger hiervon befreit ist. Je nachdem, welche Anforderungen das jeweilige Gericht an diesen Nachweis stellt, kann diese Hürde u. U. nicht zu überwinden sein, insbesondere dann nicht, wenn der in "dubio pro reo" Satz großzügig auf die Fortbestehensprognose angewendet wird. Falls die Rechtsprechung sich hingegen für den Überschuldungsbegriff des § 19 Abs.2 InsO entscheidet, wirkt sich die Beweiserleichterung nicht aus: Nach dem strafrechtlichen Überschuldungsbegriff müssen bereits wegen der abweichenden Definition Fortbestehenswerte in den Überschuldungsstatus eingesetzt werden 346 • Zusätzliche Änderungen zu den bereits bei den tatbestandlichen Unterschieden besprochenen ergeben sich daher nicht.

IV. Informationsmöglichkeiten Die besseren Möglichkeiten zur Beschaffung der Informationen, um die erforderlichen Nachweise zu führen, hat hingegen die Staatsanwaltschaft, insbesondere mit 344 345 346

Siehe 1. Teil, B. IV. 2. Siehe oben 1. Teil, C. 11. 3. b). Siehe oben 1. Teil, C. 11. 2.

D. Vergleich zivilrechtlicher Haftung mit strafrechtlicher Verantwortlichkeit

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der ihr zur Verfügung stehenden Möglichkeit zur Beschlagnahme der Geschäftsunterlagen. Für den Nachweis der Zahlungsunfahigkeit ist der Zugriff auf die Geschäftsunterlagen des Schuldners allerdings weniger bedeutend, da diese im Prozess durch Indizien bezüglich der Zahlungseinstellung bzw. durch die sogenannte kriminalistische Methode nachgewiesen werden kann 347. Die hierfür notwendigen Tatsachen ergeben sich jedoch nicht (zumindest nicht direkt) aus den Geschäftsunterlagen des Schuldners. 348 Diesbezüglich sind daher die Zwangsmaßnahmen der Staatsanwaltschaft weniger entscheidend. Relevant werden die Möglichkeiten allerdings beim Merkmal der Überschuldung. Wahrend der Neugläubiger darauf angewiesen ist, sich den Überschuldungsbilanzinhalt aus den zum Handelsregister eingereichten Unterlagen oder dem Bericht des Insolvenzverwalters auszurechnen, kann der Staatsanwalt direkt auf die Geschäftsunterlagen des Schuldners zurückgreifen. Allerdings darf dieser Umstand nicht überbewertet werden. Zum einen wird es zu den Ermittlungen beim Beschuldigten nur in Ausnahmefallen kommen: Nur spektakuläre FirmenzusammenbTÜche, die von einer Flut von Betrugsanzeigen begleitet werden, führen zu einem sofortigen Zugriff der Staatsanwaltschaft auf Buchhaltung und sonstige Unterlagen beim Schuldner. 349 Ferner führt auch die Sicherstellung der Geschäftsunterlagen für den Nachweis der Überschuldung der Gesellschaft nicht weiter, wenn Buchführungsakten fehlen oder grob lückenhaft sind. 350

V. Rechtsfolge Die gravierendsten Unterschiede zwischen zivilrechtlicher Haftung und strafrechtlicher Verantwortlichkeit bestehen hinsichtlich der jeweiligen Rechtsfolge: Grundsätzlich stehen sich auf der einen Seite Schadenersatz und auf der anderen Seite Strafe gegenüber. Die zivilrechtliche Sanktion Schadenersatz reagiert dabei auf die im Einzelfall eingetretenen durch die Insolvenzverschleppung verursachten Folgen. Der Geschäftsführer, der die GmbH nicht rechtzeitig aus dem Geschäftsverkehr entfernt, muss sämtlichen dadurch geschädigten Gläubigem Ersatz leisten. Die zivilrechtliche Sanktion in Form des Schadenersatzes ist am eingetretenen Schaden orientiert. Der strafrechtlichen Sanktion hingegen ist eigen, dass sie (abgesehen von den Fällen des Zusammentreffens der Insolvenzverschleppung mit schwereren Delikten) eigentlich gar nicht ausgesprochen wird. In aller Regel endet ein Verfahren, das lediglich den Vorwurf der Insolvenzverschleppung umfasst, in einer EinstelSiehe oben 1. Teil, C. 11. 1. Vgl. zu den notwendigen Anfragen Weyand, Insolvenzdelikte, Rdn. 145. 349 Vgl. Weyand, Insolvenzdelikte, vor Rdn. 142 Fn.436; Tiedemann, Wirtschaftskriminalität 11, S. 172 ff. 350 Tiedemann, GmbHR 1985, S. 280. 347

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l. Teil: Zivilrechtliche Haftung und strafrechtliche Verantwortlichkeit

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lung. Die strafrechtliche Sanktion reagiert damit im Prinzip gar nicht auf die tatsächlichen Geschehnisse. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es zu derartigen Sanktionsverhältnissen kommt, wie im Fall BGH ZIP 1995, S. 210. 351 Der Fall erscheint angesichts der Handhabung der Opportunitätsvorschriften im Wirtschaftsstrafrecht weniger der Ausnahme als vielmehr der Regel zu entsprechen: Wahrend das Zivilrecht den tatsächlich entstandenen Schaden ersetzt, gibt es im Strafrecht die Abstufung von Einstellung nach § 153 StPO zu Einstellung nach § 153a StPO, wobei letztere bereits die schwereren Fälle erfasst. Ein Verhältnis der Sanktionen von 490.000 DM Schadenersatz zu 9.000 DM Geldbuße ist daher nichts Ungewöhnliches.

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Siehe dazu die Einleitung.

Zweiter Teil

Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik Im 1. Teil sahen wir, dass für die Insolvenzverschleppung durch den GmbH-Geschäftsführer zwei Sanktionen angedroht sind, die in einem grotesken Missverhältnis zueinander stehen. Das Strafrecht, das gemeinhin als die schärfste dem Staat zur Verfügung stehende Waffe bezeichnet wird, ist in ihrer Sanktionswirkung dem zivilrechtlichen Schadensersatzanspruch ganz offensichtlich unterlegen. Das Strafgesetz steht als überflüssiges Attribut des staatlichen Strafanspruches dar. Es drängt sich die Frage auf, ob diese Strafvorschrift überhaupt erforderlich ist, um die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages "abzusichern". Hier rückt nun das Verhältnis zwischen Strafrecht und dem sonstigen Recht in den Mittelpunkt. Der Frage nachzugehen, in welchem Verhältnis das Strafrecht zum Gesamtrechtssystem steht, gehört seit den Forderungen der Aufklärung zum Standardrepertoire der modemen Strafrechtslehrbücher. "La Loi ne doit etablir que des peines strictement et evidemment necessaires". Dieser Satz der französischen Erklärung der Menschenrechte vom 26. August 1789 (Art. 8) I griff eine Hauptforderung Beccarias 2 auf und wandte sich an den Strafgesetzgeber. Der Satz verkörpert in der Sprache heutiger deutscher Kriminalpolitik und ihrer Einbindung durch das Bundesverfassungsgericht die Prinzipien der Verhältnismäßigkeit und der Subsidiarität des Strafrechts, auch ultima ratio Grundsatz genannt. Dieser Grundsatz ist das Schlagwort, mit dem man in der Strafrechtslehre gemeinhin das Verhältnis von Strafrecht zu den anderen Rechtsgebieten zu beschreiben versucht. Strafrecht soll erst zum Einsatz gebracht werden, wenn andere rechtliche Gestaltungsmodalitäten versagen. Dieser Grundsatz soll daher als Ausgangspunkt der Betrachtung verwendet werden. An dieser Stelle soll ermittelt werden, ob der ultima ratio Grundsatz eine Aussage über die Existenzberechtigung der Strafsanktion zulässt. Zitiert nach Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, S. 1. Der Italiener Cesare Beccaria (1738-1794) machte mit dem in alle Kultursprachen übersetzten Buch "Dei delitti e delle pene" (1764) die kriminalpolitischen Reformgedanken der französischen Aufklärung zum geistigen Gemeingut der zivilisierten Welt, vgl. zu ihm Eb. Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspfiege, S. 218f. Einen zweisprachigen Ausschnitt aus seinem Werk ist zu finden in: Vormbaum, Texte zur Strafrechtstheorie der Neuzeit Bd. 1, S. 119-135. Darin u. a.: "Diejenigen Strafen, welche über das hinausgehen, was zur Erhaltung des öffentlichen Wohls erforderlich ist, sind ihrer Natur nach ungerecht", a. a. O. S. 120. I

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Der ultima ratio Grundsatz ist in seiner Grundaussage strafrechtliches Allgemeingut und dürfte bereits jedem Studenten in den ersten Semestern bekannt sein. Kein Allgemeingut ist hingegen die Grundlage und die Reichweite dieses Satzes. Wirft man einen genauer prüfenden Blick in die strafrechtliche Literatur, so wird man feststellen, dass auch bei den Experten Herleitung und Einzelheiten dieses Grundsatzes keineswegs klar umrissen sind. Prittwitz stellte zutreffend fest, Grundsätze, wie Subsidiarität, fragmentarischer Charakter oder ultima ratio fehlten selten in den einleitenden Kapiteln der Strafrechtslehrbücher und auch das Bundesverfassungsgericht schmücke sich damit. Was dagegen mit ihnen genau gemeint sei, bliebe oft im Dunkeln J • Zumeist lassen die Autoren lediglich schlagwortartig das Stichwort "ultima ratio" fallen und formulieren die Grundaussage, hernach wird aber flugs das Thema gewechselt. Dieser zweite Teil der Arbeit widmet sich daher einer genaueren Untersuchung dessen, was sich hinter dem Satz "Strafrecht ist die ultima ratio der Rechtsordnung" verbirgt. Dargelegt werden soll zunächst die Auffassung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Grundsatz. Daraufhin soll untersucht werden, auf welchen allgemeineren Rechtssatz sich der Grundsatz zurückführen lässt, um so präzisere Aussagen darüber machen zu können, was der Grundsatz im Einzelfall bedeutet und in welchem Sinne man eine "Geltung" des Satzes annehmen kann.

A. Ultima ratio und Entkriminalisierung Das ultima ratio Prinzip ist ein in der strafrechtlichen Literatur allgemein anerkannter Grundsatz 4 • Übersetzt und verstanden wird das Prinzip als: "im äußersten Fall das äußerste Mittel"s. Der Grundgedanke lautet z. B. bei Baumann/Weber: Das Strafrecht darf wegen seiner besonders einschneidenden Rechtsfolgen nur als ultima ratio staatlichen Einschreitens in Betracht kommen. Erst wenn andere Mittel (z. B. des Zivilrechts, Verwaltungsrechts oder Sozialrechts ) nicht verfangen, darf der Staat das scharfe (oft zu scharfe und zu viel zerstörende) Werkzeug des Strafrechts einsetzen, um soziales Verhalten zu erzwingen 6• Häufig wird in diesem Zusammen3 Prittwitz in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S.387, S.387. Vgl. auch Gardocki in: Modernes Strafrecht und ultima ratio Prinzip, S. 17, S. 18 f. 4 Vgl. Naucke, Strafrecht, § 1 Rdn. 165 f.; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rdn. 27; Jescheck in: Leipziger Kommentar zum StGB, Einleitung, Rdn. 3; Rudolphi in: Systematischer Kommentar zum StGB, Vor § 1 Rdn. 12ff.; Lackner/Kühl, StGB, vor § 13 Rdn. 3; Maurach/ Zipf, Strafrecht AT 1, § 2, Rdn. 1 ff.; Schultz, ZStW 92, S. 611, S. 626; Driendl, Notwendigkeit und Möglichkeit, S. 33f.; Weber, Baur-Festschrift, S.133, S.133f.; Roxin, Strafrecht ATI, § 2 Rdn. 38; Kindhäuser in: Modernes Strafrecht und ultima-ratio Prinzip, S. 29, S. 29. Ablehnend soweit ersichtlich nur Niggli, Schweizerisches Strafrecht 1993, S. 236, S. 251 f., S. 257f. 5 Naucke, Strafrecht, § 1 Rdn. 166. 6 So Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 19, Hervorhebung im Original.

A. Ultima ratio und Entkriminalisierung

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hang auch von der SubsidiaritäC oder vom fragmentarischen Charakter8 des Strafrechts gesprochen. Gemeinsamer Fixpunkt bei der Diskussion des Prinzips in der Literatur ist die strafrechtsbegrenzende Funktion, die ihm zukommen so1l9. Ihm entspringe, wie Zipf formuliert, bezüglich Art und Umfang von Strafrechtsschutz und Strafverfolgung eine wichtige Restriktionstendenz, die der Hypertrophie des Strafrechts entgegengestellt werden könne lO • Am eindeutigsten richtet sich der Satz an den Strafrechtsgesetzgeber; ihm soll er als Maßstab dafür dienen, in welchem Ausmaß er tätig werden darf. Er soll ihm Kriterien anbieten, die ihn erkennen lassen, welche Verhaltensweisen er als Straftaten bezeichnen und verbieten soll und darf". Mit dem ultima ratio Prinzip ist damit ein Anliegen verbunden, das man allgemein mit dem Wort Entkriminalisierung bezeichnen kann '2 und das sozusagen einen eigenen Forschungsbereich in der Strafrechtswissenschaft bildet 13 • Den Grundgedanke der Entkriminalisierungsforschung hatte Sax folgendermaßen formuliert'4: Zwar ist Strafe für Schutz und Bewährung der Gemeinschaftsordnung unentbehrlich. Strafe bedeutet aber andererseits eine massive sittliche Missbilligung, dessen sozialethisch diskriminierende Wirkung zumeist über die Zeit der eigentlichen Strafverbüßung hinaus andauert. Hinzu komme, dass Strafe nach Begriff wie realer Wirkung einen massiven Eingriff in sittliche Werte, in Leben, Freiheit, Ehre und Menschenwürde des Betroffenen bedeutet, der für sich genommen sittlich nicht zu rechtfertigen ist. Der strafende Eingriff in diese sittlichen Werte müsse deshalb auf das unerlässlich Notwendige beschränkt werden. Radbruch hat 1914 die Zielvorstellung dieses Ansatzes mit einer noch heute gültigen Formulierung zusammengefasst: Das unendliche Ziel der strafrechtlichen Entwicklung ist ein Strafgesetzbuch ohne Strafen, nicht die Verbesserung des Strafrechts, sondern der Ersatz des Strafrechts durch Besseres, durch Maßnahmen, die 7 Vgl. z. B. Baumann/Weber/Mitsch, Strafrecht AT, § 3 III 2 (S.29); Haffke, KritV 1991, S. 165, S. 165f.; Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 19; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rdn.26. 8 So z. B. Maiwald, Maurach-Festschrift, S.9, passim; Jescheck/Weigend, Lehrbuch des Strafrechts, S. 52 f. 9 Prittwitz in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 387, S. 392. 10 Zipf, Kriminalpolitik, § 3 5. (S.53). 11 Prittwitz in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S.387, S.393. 12 V gl. zum Zusammenhang Prittwitz in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 387, S. 392, S. 405; Naucke, Strafrecht, § 4 Rdn. 17. 13 Vgl. hierzu insbesondere Naucke, der die Unterscheidung von Strafbegrenzungs- und Strafverfolgungswissenschaft einführte, vgl. Naucke, ZStW 94 (1982), S. 525, S. 546: "liberale (Strafrechts-)Dogmatik ist ihrem Ziel nach Strafbefreiungsdogmatik". Vgl. ferner zu diesem Thema Vormbaum, ZStW 107 (1995), S. 734, S. 744 ff.; zu den meistdiskutierten Konzepten zur Strafrechtsbegrenzung Müller-Dietz, Rudolf Schmitt-Festschrift, S. 95, S. 108-114. 14 Sax in: Die Grundrechte, Bd. 1I1/2, S. 909, S.924.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

besser, klüger und menschlicher als das Strafrecht sind l5 • Dieser Satz zielt auf den Gedanken der Entkriminalisierung. Gleichzeitig umschreibt er aber auch den Leitgedanken des ultima ratio Prinzips: Verzicht auf Strafrecht und Ersatz des Strafrechts durch bessere Maßnahmen. Schon von der Wortbedeutung her kann es daher bei einer Untersuchung zum ultima ratio Grundsatz nur darum gehen, seine Aussagekraft und Reichweite im Hinblick auf eine etwaige entkriminalisierende Wirkung festzustellen.

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip Das Bundesverfassungsgericht hatte das ultima ratio Prinzip zum ersten Mal in seiner Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit des § 218 a StGB in der Fassung des 5. StrRG vom 18. Juni 1974 erwähnt l6 • Seitdem findet der Gedanke, Strafrecht sei die ultima ratio im Instrumentarium des Gesetzgebers, immer häufiger Aufnahme in die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts, wenn es die Verfassungsmäßigkeit einer Strafnonn überprüft 17 •

I. Polare Ausgangsposition zum "Mittel" Strafgesetz Nach dem Bundesverfassungsgericht ist es grundsätzlich "Sache des Gesetzgebers", den Bereich strafbaren Handeins unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage im einzelnen verbindlich festzulegen 18. Insbesondere habe der Gesetzgeber die exakte Grenzlinie zwischen dem Kernbereich des Strafrechts und dem Bereich der bloßen Ordnungswidrigkeiten zu ziehen 19. Der Gesetzgeber sei bei der Entscheidung, ob er ein bestimmtes Rechtsgut, dessen Schutz ihm wesentlich erscheint, gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will und wie er es gegebenenfalls tun will, "grundsätzlich frei"20. Das Bundesverfassungsgericht könne die Entscheidung des Gesetzgebers nicht darauf prüfen, ob er die zweckmäßigste, vernünftigste oder gerechteste Lösung gefunden habe; es habe lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell im Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entsprichei. V gl. Radbruch, Rechtsphilosophie, § 22 a. E. (S. 265). BVerfGE 39, S.I, S.47. 17 Zuletzt BVerfGE 96, S. 10, S. 26. 18 BVerfGE 90, S.145, S.173. Ebenso: BVerfGE 96, S. 10, S.26. 19 BVerfGE 27, S. 18, S. 29 f.; 51, S. 60, S. 74 f.; 96, S. 10, S. 26. 20 BVerfGE 30, S. 142, S. 162; 37, S. 201, S. 212; 50, S. 142, S. 162. Ähnlich: BVerfGE 73, S. 206, S. 236. 21 BVerfGE 90, S.145, S.173. 15

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B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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Andererseits betont das Gericht, der Gesetzgeber sei zu besonderer Zurückhaltung verpflichtet, wenn es sich um einen Eingriff durch ein Strafgesetz handelt, da das Strafgesetz die schärfste Sanktion sei, über die die staatliche Gemeinschaft verfüge 2. Die Strafnorm stelle gewissermaßen die "ultima ratio" im Instrumentarium des Gesetzgebers dar 23 . Als rechtlicher Schutz werde sie aber dann eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verboten sein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist 24 . Das Bundesverfassungsgericht macht damit für das ultima ratio Prinzip zwei Grundaussagen, die in entgegengesetzte Richtungen tendieren. Einerseits steht es dem Gesetzgeber frei, zum Mittel des Strafrechts zu greifen. Andererseits, und dieser Gedanke wird jeweils mit dem ultima ratio Prinzip in Verbindung gebracht, dürfe der Gesetzgeber vom Strafrecht "nur behutsam und zurückhaltend Gebrauch machen"25. Ausgangspunkt des Bundesverfassungsgerichts beim Zugriff auf Strafgesetze sind damit zwei sich widersprechende Aussagen. Bereits diese Ausgangsposition lässt vermuten, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Überprüfung von Strafnormen keine sonderlich stringente Position einnehmen wird.

11. Bundesverfassungsgericht und Gewaltenteilung Die soeben genannte Entscheidungsfreiheit des Gesetzgebers folgert das Bundesverfassungsgericht aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung 26 • Gewaltenteilung ist als Prinzip der Konstituierung, Rationalisierung, Stabilisierung und Begrenzung staatlicher Gewalt das organisatorische Grundprinzip der Verfassung 27 • Art. 20 Abs.2 S. 2 GG legt den Grundsatz der Gewaltenteilung für die Rechtsordnung unter Herrschaft des Grundgesetzes fest: Die Staatsgewalt wird "durch besondere Organe der gesetzgebenden, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung ausgeübt." Die Gerichtsbarkeit (einschließlich des Verfassungsgerichts), Parlament und Regierung sind demnach gleichermaßen verfassungsrechtlich legitimierte Instanzen mit jeweils spezifischen Aufgaben 28 . Da aber die Verfassungs gerichtsbarkeit einerseits Rechtsprechung ist und andererseits die Gesetze kontrollieren kann, sprengt sie das klassische GewaltenteiBVerfGE6, S. 389, S.433. BVerfGE 39, S. 1, S.47. 24 BVerfGE 88, S. 203, S. 258. Ebenso: BVerfGE 96, S. 10, S. 25; 96, S. 245, S. 249. 25 BVerfGE 39, S.l, S.47. 26 Vgl. z. B. BVerfGE 71, S. 206, S. 215. 27 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, § 13 III, Rdn. 498, Hervorhebung im Original. 28 Bischoff, Diskussionsbeitrag in: Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 60, S. 61; Quaritsch, Diskussionsbeitrag in: Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, S. 63, S. 65. 22 23

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

lungsschema 29 . Im Gewaltenteilungssystem des GG kommt dem Bundesverfassungsgericht die Funktion des "Hüters der Verfassung"30 zu 3!. Das Bundesverfassungsgericht wahrt das Verfassungsrecht gegenüber den Organen des Staates 32 . Mit einem Satz von Smend heißt das knapp zusammengefasst: "Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, und die Literatur kommentiert es in diesem Sinne."33 Der Abgeordnete Süsterhenn formulierte die Motivation zur Einsetzung des Bundesverfassungsgerichts auf der Sitzung des Parlamentarischen Rats in Herrenchiemsee prägnant: "Entweder wird das Recht als die Grundlage der menschlichen Gesellschaft anerkannt und dann auch mit den notwendigen Garantien zu seiner Verwirklichung ausgestattet, oder aber die politische Zweckmäßigkeit wird zum höchsten Prinzip erhoben, was dann wieder zu den gefahrlichen Grunddogmen einer vergangenen Epoche hinführen würde, wonach eben Recht ist, was dem Volke oder der Regierung oder dem Staate nutzt."34 Diese Stellung des Bundesverfassungsgerichts führt zwangsläufig zu Problemen bei der Kompetenzabgrenzung. Da die Verfassung für jedwedes staatliches Handeln maßgeblich und verbindlich ist, unterliegt alle Staatsgewalt der Kontrolle durch die Verfassungsgerichtsbarkeit 35 . Der Staat mit voll ausgebauter Verfassungsgerichtsbarkeit hat seine ratio essendi dann nicht allein im politischen Handeln, sondern vor allem in der Verfassungsmäßigkeit seiner Politik. Er ist vom Verfassungsgericht stets zurückzuführen auf die Grundlage, die ihn konstituiert: die Verfassung und ihre Befugnisse 36 . Das Problematische an dieser Aufgabe des Verfassungs gerichts ist, dass das Handeln der obersten Verfassungsorgane häufig politisches Handeln ist. Verfassungsgerichtsbarkeit ist dann notwendigerweise politische Gerichtsbarkeit 37 , denn in einer 29 Rollecke in: Handbuch des Staatsrechts der BRD, Bd. H, § 53 Rdn. 34; Hesse, H. HuberFestschrift, S. 261, passim. Das BVerfG versteht seine Stellung wie folgt: "Die verfassungsrechtliche Stellung des BVerfG ist eine andere als die der oberen Bundesgerichte. Es ist als Gericht zugleich ein oberstes Verfassungsorgan", vgl. BVerfGE 7, S. I, S. 14; siehe auch BVerfGE6 S. 300, S. 304. 30 Vgl. zu diesem Begriff C. Schmitt, Hüter der Verfassung. 31 Vgl. H.-I. Vogel, DÖV 1978, S.665, S.665f.; Majer, EuGRZ 1980, S.98, S. 98ff. 32 Degenhardt, Staatsrecht I, Rdn. 594. 33 Smend in: Das Bundesverfssungsgericht, S. 23, S. 24. 34 In der 2. Sitzung am 8. September 1948, ParI. Rat, Sen. Ber. S. 25. V gl. zur Herrschaft des Rechts im Rechtsstaatlsensee in: Das Bundesverfassungsgericht, S.49, S. 49. 35 Vgl. Freiherr von der Heydte, Geiger-Festschrift, S. 909, S. 917f., nach dem es im Rechtsstaat grundsätzlich keine staatliche Tätigkeit gebe, die der Kontrolle entzogen sei. Jegliches staatliche Verhalten unterliege dem Willkürverbot, vgl. Freiherr von der Heydte, a. a. O. Außerdem Stern, Der Staat des Grundgesetzes, S. 350 f. 36 Stern, Staatsrecht H, § 44 H 2 (S. 954 ). 37 So bereits Triepel, VVDStRL5, 1929, S. 28, S. 28. Vgl. dazu Würtenberger in: Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, S. 57, passim; lsensee in: Das Bundesverfassungsgericht, S.49, passim; Stern, Der Staat des Grundgesetzes, S. 344-369.

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demokratischen, der Positivität des Rechts verpflichteten Verfassungsordnung sind Recht und Politik zwei Seiten derselben Sache 38 . Die Bedeutungs- und Machtfülle des Bundesverfassungsgerichts als letztinstanzlicher Verfassungsinterpret ist dabei VOn der Art und Weise abhängig, mit welchem Vorverständnis und welchen Methoden es die Verfassungs interpretation betreibt: "Denn die gewählte Auslegungsmethode ist nicht nur ein Kanon der Rechtsanwendung und der richterlichen Rechtsbildung, sondern zugleich eine Grenzbestimmung für die Kontroll- und Entscheidungskompetenz des Gerichts, vornehmlich dort, wo über die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen zu befinden ist."39 Jedes Justieren des Prüfungsmaßstabes ist daher zugleich eine Austarierung der verfassungsrechtlich intendierten Gewaltenbalance 40 • Legt das Gericht einen besonders strengen Prüfungsmaßstab an, nimmt es für sich gleichzeitig einen vergrößerten eigenen Kompetenzbereich in Anspruch. Um die funktionalen Schranken zu wahren, die sich aus der Gewaltenteilung ergeben, hat das Bundesverfassungsgericht Institute im Sinne eines "judical-self-restraint" entwickelt 41 . Die Funktionenteilung von gesetzgebender und rechtsprechender Gewalt gebiete insbesondere Zurückhaltung bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle von Gesetzen: "Das Bundesverfassungsgericht hat stets betont, dass es prinzipiell Aufgabe des Gesetzgebers sei zu entscheiden, mit welchen Mitteln der von einer Regelung verfolgte Zweck zu erreichen sei."42 Zum Grenzbereich zwischen dem Strafrecht und dem Bereich der bloßen Ordnungswidrigkeiten, führt das Gericht aus, die in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Anschauungen über die Bewertung des Unrechtsgehalts einzelner Verhaltensweisen seien in besonderem Maße dem Wechsel unterworfen. Die Grenzlinie unter Berücksichtigung der jeweiligen konkreten historischen Situation im einzelnen verbindlich festzulegen, sei Sache des Gesetzgebers 43 . Die Aussage, dass der Gesetzgeber bei der Entscheidung, zum Mittel des Strafrechts zu greifen "grundsätzlich frei" ist, ist daher als Kompetenzbegrenzung des Bundesverfassungsgerichts zu verstehen 44 • Das Bundesverfassungsgericht kann wegen der funktionell-rechtlichen Grenzen seiner Verfassungsinterpretation nicht über diesen "politischen" Entscheidungsbereich des Gesetzgebers richten. 38 Vgl. hierzu insbesondere Rinken in: Altemativkommentar zum GG, Rdn.87-90 vor Art. 93. 39 Badura in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd.2, S.I, S.l. 40 Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 1 f. 41 V gl. BVerfGE 35, S. 257, S. 261 f. über die Kompetenz zur verfassungsrechtlichen Prüfung eines außenpolitischen Vertrages. Vgl. dazu Kriele, NJW 1976, S. 777, passim. Allgemein zu den funktionellen Grenzen Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S.40ff. 42 BVerfGE 71, S. 206, S. 215 zur Überprüfung der Zwecktauglichkeit von Gesetzen im Rahmen des Verhältnismäßigkeitsprinzips. 43 BVerfGE 27, S.18, S.29f.; 51, S.60, S. 74f. 44 Ähnlich J. Vogel, StV 1996, S. 110, S. 115, der darauf hinweist, dass deshalb die Äußerungen des BVerfGs nichts über die tatsächlichen materiellen Grenzen des Gesetzgebers aussagen.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

III. Ultima ratio und Verhältnismäßigkeit Dem Bundesverfassungsgericht zufolge hat das ultima ratio Prinzip seine Wurzel in dem das ganze öffentliche Recht einschließlich des Verfassungsrechts beherrschenden rechtsstaatlichen Prinzip der Verhältnismäßigkeit 45 ; Das Strafrecht sei schon wegen seines am stärksten eingreifenden Charakters "nicht das primäre Mittel rechtlichen Schutzes", seine Verwendung unterliege daher den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit 46 . In materieller Hinsicht biete der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit den allgemeinen verfassungsrechtlichen Maßstab, nach dem der Gesetzgeber die Handlungsfreiheit einschränken darf. Diesem Grundsatz komme für die Prüfung einer Strafvorschrift "gesteigerte Bedeutung" zu, da diese als schärfste dem Staat zur Verfügung stehende Sanktion durch Androhung, Verhängung und Vollziehung von Strafe ein sozialethisches Unwerturteil über ein bestimmtes Handeln des Bürgers ausspreche und dadurch den in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden Wert und Achtungsanspruch des Verurteilten berührt. Strafrecht werde aber als "ultima ratio" des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist47 . Die Aussage "Strafrecht ist die ultima ratio im Instrumentarium des Gesetzgebers" bedeutet für das Bundesverfassungsgericht somit eine Verhältnismäßigkeitsprüfung des betreffenden Gesetzes, wie sie auch bei allen anderen nicht strafrechtlichen Normen durchgeführt wird. Im Bereich des Strafrechts hat diese Prüfung lediglich eine ominöse "gesteigerte Bedeutung". Ursprünglich leitete das Bundesverfassungsgericht den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aus dem Rechtsstaatsprinzip der Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 GG ab 48 . Später nahm das Gericht an, der Grundsatz folge aus dem "Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur soweit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerlässlich ist"49. Nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wie ihn das Bundesverfassungsgericht versteht, muss ein grundrechtseinschränkendes Gesetz geeignet und erforderlich sein, um den erstrebten Zweck zu erreichen50 • Ein Gesetz ist geeignet, wenn mit seiner Hilfe der erstrebte Erfolg gefördert werden kann; es ist erforderlich, wenn der Gesetzgeber nicht ein anderes gleich wirksames, aber das Grundrecht nicht oder weniger stark einschränkendes Mittel hätte wählen können 51. 45

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BVerfGE 39, S.I, S.47. BVerfGE 88, S. 203, S. 258. BVerfGE 90, S. 145, S. 172; 92, S.277, S. 326; 96, S. 10, S. 25; 96, S. 245, S. 249. Vgl. z. B. BVerfGE 23, S. 133. So BVerfGE 19, S. 342, S. 348.; 65, S. 1, S. 44. BVerfGE 47, S. 109, S. 117. BVerfGE 90, S. 145, S. 172.

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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Die Verhältnismäßigkeitsprüfung umfasst weiterhin eine Zumutbarkeitsprüfung 52 : Bei einer Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht sowie der Dringlichkeit der ihn rechtfertigenden Gründe muss die Grenze der Zumutbarkeit für die Adressaten des Verbots gewahrt sein. Die Maßnahme darf nicht übermäßig belasten (auch Angemessenheit, Übermaßverbot oder Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn genannt)53.

1. Verhältnismäßigkeitsprüfung und Beurteilungsspielraum Das Bundesverfassungsgericht übt jedoch - im Sinne der oben angedeuteten funktionalen Kompetenzabgrenzung - bei der Prüfung der Verhältnismäßigkeit durch Bestimmung des Prüfungsmaßstabes Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber. Dem Gesetzgeber steht ein Beurteilungsspielraum hinsichtlich bestimmter Fragen zu. Das Bundesverfassungsgericht eröffnet so dem Gesetzgeber einen unüberprüfbaren Raum eigener "politischer" Entscheidungsbefugnis. Vergleichbar ist dieser dem Gesetzgeber zustehende Beurteilungsspielraum mit dem Ermessensspielraum des Polizeibeamten 54 . Bekanntlich hat die Polizei zur Abwehr einer die öffentliche Sicherheit und Ordnung bedrohenden Gefahr die nach pflichtgemäßem Ermessen notwendigen Maßnahmen zu treffen. Sie soll dabei, wenn mehrere Mittel in Betracht kommen, das für die Allgemeinheit oder den Einzelnen am wenigsten beeinträchtigende Mittel wählen. Dabei kommt es jedoch nicht darauf an, was objektiv erforderlich oder das mildeste Mittel gewesen wäre, sondern nur auf die Beurteilung eines pflichtgemäß handelnden, durchschnittlich qualifizierten Beamten an. Das Verwaltungsgericht hat diese pflichtgemäße Beurteilung einer Behörde bei der Bestimmung dessen, was ihr erforderlich schien hinzunehmen, sofern nicht Ermessensmissbrauch oder Ermessensüberschreitung festzustellen sind. An die Stelle des pflichtgemäßen Ermessens einer Verwaltungsbehörde tritt die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit, solange sie nur Zielen dient, die als solche nicht verfassungswidrig sind. Im einzelnen heißt das, dass dem Gesetzgeber bei der Beurteilung der Eignung und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Ziele sowie bei der in diesem Zusammenhang vorzunehmenden Einschätzung und Prognose der dem Einzelnen oder der Allgemeinheit drohenden Gefahren ein Beurteilungsspielraum zusteht. Dieser kann vom Bundesverfassungsgericht je nach der Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden 55 • Die Auffassung des Gesetzgebers zu den in diesem ZuBVerfGE 47, S. 109, S. 117. BVerfGE 90, S. 145, S. 173. 54 Diesen Vergleich macht H. Schneider in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd.2, S. 390, S. 396f. 55 BVerfGE 90, S.145, S. 173. 52 53

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

sammenhang auftretenden Wertungs- und Abwägungsfragen kann vom Bundesverfassungsgericht nicht beanstandet werden, solange nicht eindeutig ist, dass sie von unrichtigen tatsächlichen Voraussetzungen ausgeht oder mit der Verfassung in Widerspruch steht 56 • Das Gericht ist bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zwar nicht an die Rechtsauffassung des Gesetzgebers gebunden. Soweit dabei jedoch Wertungen und tatsächliche Beurteilungen des Gesetzgebers von Bedeutung sind, kann sich das Gericht über sie grundsätzlich nur hinwegsetzen, wenn sie widerlegbar sind 57 • Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat bei der Beurteilung von Prognosen des Gesetzgebers graduell abgestufte Maßstäbe zugrunde gelegt, die von einer Evidenzkontrolle 58 über eine Vertretbarkeitskontrolle 59 bis hin zu einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle 60 reichen. Dieser Abstufung hinsichtlich der Intensität verfassungs gerichtlicher Kontrolltätigkeit entspricht eine ebenso graduelle Verschiebung bezüglich der Kompetenzbereiche von Staatsleitung durch Parlament und Regierung auf der einen Seite und Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite 61 • Die Handhabung der Kontrolldichte bei den für das ultima ratio Prinzip bedeutsamen Strafgesetzen wird anhand der einzelnen Prüfungsschritte Geeignetheit, Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne dargestellt.

2. Geeignetheit Dem Gesetzgeber steht bei der Frage der Eignung des Gesetzes zur Zweckerreichung ein Beurteilungsspielraum zu. Den Begründungszusammenhang für diesen Beurteilungsspielraum hat das Bundesverfassungsgericht in beispielhafter Weise in einer Entscheidung im 30. Band dargelegt 62 : "Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt die Frage aufgeworfen, ob ein freiheits beschränkender oder ein den Bürger belastender Eingriff als Mittel zur Erreichung des mit dem Gesetz verfolgten Zweckes geeignet ist. Die Rechtsprechung hat sich vor allem bei der Prüfung der Zulässigkeit von Berufszugangsbeschränkungen und von Maßnahmegesetzen mit wirtschafts- oder verkehrspolitischen Zwecken entwickelt. Der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit fordert, dass der Einzelne vor unnötigen Eingriffen der öffentlichen Gewalt bewahrt bleibt. Dies bedeutet auch, dass die Mittel des Eingriffs zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels geeignet sein müssen. Die Zielsetzung und die Bestimmung des geeigneten Mittels setzen eine politische - sei es eine wirtschafts-, gesellschafts- oder rechtspolitsche - Entscheidung voraus. Naturgemäß muss der So BVerFGE 13, S. 97, S. 113. So die Formulierung in: BVerfGE 45, S. 187, S. 238. 58 So bei BVerfGE 36, S. 1, S. 17; 37, S. 1, S. 20; 40, S. 196, S. 223. 59 Bei BVerfGE 25, S. 1, S.I2f.; 30, S.250, S. 263; 39, S.21O, S. 225 f. 60 BVerfGE7, S.377, S.415; 11, S.30, S.45; 17, S.269, S.276ff.; 39, S.I, S.46, S.51 ff.; 45, S.187, S.238. 6\ Vgl. bereits oben. Außerdem hierzu grundlegend Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, S. 2 f. und passim. 62 BVerfGE 30, S.250, S.262f. m. w.N. Ebenso: BVerfGE 61, S.291, S.313f. 56 57

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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Gesetzgeber bei dieser Entscheidung von der Beurteilung der zur Zeit des Erlasses des Gesetzes bestehenden Verhältnisse ausgehen. Da die Entwicklung sich nicht genau vorausberechnen lässt und aus den verschiedensten Gründen der erwartete Geschehensablauf eine unvorhergesehene Wendung nehmen kann, müssen Irrtümer über den Verlauf der wirtschaftlichen Entwicklung in Kauf genommen werden. Eine gesetzliche Maßnahme kann nicht schon deshalb als verfassungswidrig angesehen werden, weil sie auf Fehlprognosen beruht. Die Frage nach der Zwecktauglichkeit eines Gesetzes darf nicht nach der tatsächlichen späteren Entwicklung, sondern nur danach beurteilt werden, ob der Gesetzgeber aus seiner Sicht davon ausgehen durfte, dass die Maßnahmen zur Erreichung des gesetzten Ziels geeignet waren, ob also seine Prognose bei der Beurteilung wirtschaftspolitischer Zusammenhänge sachgerecht und vertretbar war." Aus diesem Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers folgt der vom Bundesverfassungsgericht angelegte Prüfungsmaßstab: Das Gericht behandelt die Frage, ob eine Maßnahme zwecktauglich ist, stets sehr einschränkend und prüft jeweils nur, ob das eingesetzte Mittel "objektiv untauglich", "objektiv ungeeignet" oder "schlechthin ungeeignet" war 63 • Den gleichen Grundsätzen ist das Bundesverfassungsgericht bei der verfassungsrechtlichen Überprüfung der Eignung von Strafgesetzen gefolgt. Unter dem Gesichtspunkt der Zwecktauglichkeit muss sich "klar erweisen lassen", dass die Strafvorschrift zum Schutz der Rechtsgüter, dem sie dienen, "schlechthin ungeeignet" ist 64 • Bei Anwendung dieser Kriterien wird die Verfassungswidrigkeit einer gesetzlichen Maßnahme auch nach Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts nur selten und nur in besonders gelagerten Fällen festgestellt werden können 65 • Bei Strafnormen kommt hinzu, dass die strafrechtliche Sanktion vom Bundesverfassungsgericht pauschal als "wirkungsvolle Durchsetzung öffentlicher Interessen" angesehen wird 66 • Dass die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts zur Wirkungsweise des Strafrechts als pauschal zu bezeichnen ist, zeigt sich insbesondere an den Entscheidungen des Gerichts zu den Versuchen des Gesetzgebers, den Schwangerschaftsabbruch zu entkriminalisieren. Im 39. Band äußert sich das Gericht eingehender zur angenommenen Wirkungsweise des Strafrechts 67 : Sehe man die Aufgabe des Strafrechts in dem Schutz besonders wichtiger Rechtsgüter und elementarer Werte der Gemeinschaft, so komme der general präventiven Funktion des Strafrechts eine hohe Bedeutung zu. Ebenso wichtig wie die sichtbare Reaktion im Einzelfall sei die Fernwirkung einer Strafnorm. Schon die bloße Existenz einer solchen Strafdrohung habe Einfluss auf die Wertvorstellungen und die Verhaltensweisen der Bevölkerung. Das Wissen um die Rechtsfolgen im Falle der Übertretung bilde eine Schwelle, vor de63 64

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BVerfGE 30, s. 250, S. 263. BVerfGE 47, S.109, S. 117; 50, S. 142, S. 163; 55, S. 28, S. 29f.; 71, S. 206, S. 216. BVerfGE 17, S.109, S.I17. BVerfGE 96, S. 10, S. 26. BVerfGE 39, S.I, S.57f.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

ren Überschreitung viele zurückschrecken. In die gleiche Richtung zielen die Ausführungen im 88. Band 68 : Die Strafandrohung sei zwar nicht die einzig denkbare Sanktion, mit der Verhaltensgebote versehen werden könnten, um sie im Sinne einer tatsächliche Geltung durchzusetzen, sie könne allerdings den Rechtsunterworfenen in besonders nachhaltiger Weise zur Achtung und Befolgung der rechtlichen Gebote veranlassen. Rechtliche Verhaltensgebote sollen Schutz in zwei Richtungen bewirken. Zum einen sollen sie präventive und repressive Schutzwirkungen im einzelnen Fall entfalten, wenn die Verletzung des geschützten Rechtsguts droht oder bereits stattgefunden hat. Zum anderen sollen sie im Volke lebendige Wertvorstellungen und Anschauungen über Recht und Unrecht stärken und unterstützen und ihrerseits Rechtsbewusstsein bilden, damit auf der Grundlage einer solchen normativen Orientierung des Verhaltens eine Rechtsverletzung schon von vornherein nicht in Betracht gezogen werde. Durch diese Überlegungen des Bundesverfassungsgerichts zur Wirkungsweise einer Strafnorm wird deren Geeignetheit zum Rechtsgüterschutz quasi per se nicht nur bejaht, sondern als besonders hoch eingeschätzt. Gerade bei der Frage des Schwangerschaftsabbruchs kann die Eignung des Strafrechts zum Schutze des nasciturus ernsthaft bezweifelt werden 69 • Durch den nebulösen Verweis auf eine - positive - generalpräventive Wirkung der Strafnorm wird diese von sämtlichen - auch empirisch untermauerten 70 - Anzweitlungen hinsichtlich ihrer tatsächlichen Wirkung freigesprochen 71. Eine Strafnorm ist dadurch "an sich" zum Rechtsgüterschutz geeignet (und zwar besonders gut)72. Die Prüfung der Geeignetheit, die das Bundesverfassungsgericht durchführt, stellt daher keine Hürde dar, die von einer Strafnorm nicht genommen werden könnte 73.

BVerfGE 88, S. 203, S. 253. So bereits R. Herzog, IR 1969, S. 441, S.445 f. Vgl. eingehender Denninger/Hassemer, KritV 1993, S.78, S. 96 f.: "Die Aufklärung, gar die strafrechtliche Verurteilung, von Abtreibungen bewegt sich statistisch gegen Null. Das bedeutet ... dass das Strafrecht in diesem Bereich der Kriminalität nicht greift, dass es praktisch wirkungslos ist. ... Das bedeutet, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittel des Lebensschutzes ist." m. w. N. 70 Vgl. dazu Liebl, Ermittlungsverfahren, Strafverfolgungs- und Sanktionspraxis beim Schwangerschaftsabbruch, insbes. S. 180f. 71 Ähnlich zur Immunisierung der positiven Generalprävention gegen den Nachweis empirischer Wirksamkeit Kayßer in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S. 143, S. 149f. 72 Vgl. auch Kirchner in: Ott/Schäfer, Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S. 108, S. 112 f., der darauf hinweist, dass diese Betrachtungsweise rationale Überlegungen unterbindet. 73 So auch allgemein die Einschätzung in der Literatur, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 186f.; Paulduro, Verfassungsgemäßheit, S. 176f. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 178. 68 69

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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3. Erforderlichkeit Das Gebot der Erforderlichkeit ist verletzt, wenn der vom Gesetzgeber verfolgte Zweck auch durch ein milderes Mittel erreicht werden kann, welches das betreffende Grundrecht nicht oder weniger fühlbar einschränkt. Das mildere Mittel muss aber in gleichem Maße tauglich sein wie das vom Gesetzgeber gewählte 74. Im Rahmen der Konkretisierung des "Interventionsminimums" durch die Erforderlichkeitsprüfung braucht sich der Gesetzgeber nicht auf ein zwar milderes, aber zur Zweckerreichung weniger taugliches Mittel verweisen zu lassen. Zwei Fragenkreise sind zu unterscheiden 75 : Erstens muss normativ geklärt werden, welche milderen Mittel zur Verfügung stehen; zweitens muß - wie bei der Geeignetheit - die Effektivität der milderen Mittel beurteilt und mit der Effektivität des vom Gesetzgeber gewählten Mittels verglichen werden. Dabei handelt es sich um die gleiche empirische Prüfung wie zuvor schon bei der Geeignetheif6. Auch bei der Beurteilung der Erforderlichkeit des Mittels steht dem Gesetzgeber ein unüberprüfbarer Beurteilungs- und Handlungsspielraum bei der Wahl der Mittel für eine Regelung zu 77. Der freie Handlungsspielraum kommt dabei bereits beim ersten zu klärenden Fragenkreis zum Tragen: bei der Frage nach den Alternativen zur getroffenen Regelung. Auf dieser Ebene bezeichnet das Bundesverfassungsgericht die Freiheit des Gesetzgebers zwar nicht ausdrücklich als Beurteilungsspielraum; sie findet aber in einer dem Gericht offenbar gar nicht bewussten 78 eingeschränkten Prüfungsmethode ihren Ausdruck. Nach dem Obersatz der Erforderlichkeitsprüfung müssten eigentlich Regelungsalternativen in allen Richtungen auf ihre Geeignetheit und Eingriffsintensität untersucht werden 79 . Eine solche umfassende Prüfung leistet das Bundesverfassungsgericht aber nicht. Eher das Gegenteil ist der Fall: In der Regel wägt das Gericht im Rahmen der Erforderlichkeit gar nicht ab oder die Prüfung erschöpft sich in lapidaren Feststellungen wie: "Es ist nicht ersichtlich, welches mildere Mittel in gleicher Weise geeignet sein könnte, den Schutz ... (des betreffenden Rechtsguts) zu bewirken"80. Falls es Alternativen zu der vom Gesetzgeber getroffenen Regelung erwägt, so handelt es sich jeweils um die vom vorlegenden Gericht aufgezeigten Wege 8I oder die im Rahmen von einer Verfassungsbeschwerde von Seiten der Beschwerdeführer angeführten und die in Fachkreisen diskutierten Alternativen 82 . BVerfGE 53, S.135, S.145f.; 67, S.157, S.167; 68, S.193, S.218f. Vgl. Lagodny, Strafrecht vor den schranken der Grundrechte, S. 179. 76 Vgl. Lerche, Übermaß, S.19f.; Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 59ff., S. 147f. 77 BVerfGE 17, S.109, S.119. 78 So Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 63. 79 Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 59. 80 So z. B. BVerfGE 71, S.206, S. 218, Mich persönlich erinnert diese Formulierung sehr stark an meine eigene Erforderlichkeitsprüfung im kleinen Schein im Öffentlichen Recht. 81 SO Z. B. BVerfGE 25, S. 1, S. 19 ff. 82 So ausdrücklich einschränkend: BVerfGE 40, S.196, S. 223f.; 77, S. 84, S.109; inhaltlich identisch: BVerfGE 47, S.109, S.119. 74 75

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Im Rahmen dieser bereits eingeschränkten Prüfung kommt dann der (auch als solcher bezeichnete) Beurteilungsspielraum zum Zuge: Für belastende wirtschaftsordnende Maßnahmen (es ist nicht ersichtlich, dass das Bundesverfassungsgericht im Bereich des Strafrechts etwas anderes annehmen sollte) hat das Bundesverfassungsgericht dem Gesetzgeber hinsichtlich der Auswahl und technischen Gestaltung dieser Maßnahmen einen "weiten Bereich des Ermessens" zugestanden. Dieser Beurteilungsspielraum schlägt notwendigerweise auf den Prüfungsumfang des Verfassungsgerichts durch: "Nicht jeder einzelne Vorzug einer anderen Lösung gegenüber der vom Gesetzgeber gewählten führt zu deren Verfassungswidrigkeit. Die sachliche Gleichwertigkeit zur Zweckerreichung muss vielmehr bei dem als Alternative vorgeschlagenen geringeren Eingriff in jeder Hinsicht eindeutig Jeststehen"83. Damit liegt zunächst die Latte für die Gleich-Geeignetheit der Mittel ziemlich (im Bereich des Strafrechts unerreichbar 84 ) hoch. Hinzu kommt dann, dass sich diese Gleich-Geeignetheit des milderen Mittels für das Bundesverfassungsgericht "sicher erweisen" lassen bzw. dass die Auffassung des Gesetzgebers hinsichtlich der besseren Eignung des gewählten Mittels "eindeutig widerlegbar" sein muss. In diesem Sinne führt das Gericht zur Erforderlichkeit des § 184 Abs. 1 Nr.7 StGB aus 85 : "Soweit der Jugendschutz in Frage steht, wird gegen die Erforderlichkeit der Entgeltklausel eingewendet, dass wirksame Alterskontrollen am Eingang in gleicher Weise geeignet wären, Jugendlichen den Zugang zu verwehren, und dass dieses Mittel die Veranstalter geringer belasten würde als die zur Prüfung gestellte Regelung. Gerade diese Alternative ist jedoch im Gesetzgebungsverfahren geprüft worden. Der Gesetzgeber war offenbar aufgrund der Erfahrungen mit der Einhaltung der von den Freigabebehörden gesetzten Altersgrenzen der Auffassung, dass die Durchführung von Alterskontrollen nicht ausreiche. Dafür, dass das nicht zutreffe, lassen sich gesicherte Anhaltspunkte nicht gewinnen. Bei dieser Sachlage kann das Bundesverfassungsgericht der Auffassung des Gesetzgebers nicht entgegentreten." Unter diesen Umständen ist auch die Prüfung der Erforderlichkeit für ein Strafgesetz keine ernstzunehmende Gefahr. Zwar ist einerseits das Strafrecht auch nach Bekunden des Bundesverfassungsgerichts das schärfste Schwert im Instrumentarium des Gesetzgebers; wie bereits dargelegt 86 hält das Gericht andererseits dieses Schwert quasi axiomatisch für den wirkungsvollsten Rechtsgüterschutz. Legt man diese Prämissen zugrunde, werden kriminalstrafrechtliche Bestimmungen kaum je 83 BVerfGE 30, S.292, S. 319; Hervorhebung vom Verfasser. Ähnlich: BVerfGE 25, S. 1, S. 19 f.: Mögen die von den Gerichten vorgeschlagenen Lösungen gegenüber der gesetzlichen Regelung gewisse Vorzüge aufweisen, so kann dies allein noch nicht dazu führen, die gesetzliche Regelung als unangemessen und deshalb als verfassungswidrig anzusehen. 84 Dazu noch unten. 85 BVerfGE 47, S.109, S. 119. Ähnlich zur Freiheit des Gesetzgebers bestimmte Annahmen zu machen: BVerfGE 41, S. 360, S. 372 ff.; 87, S. 363, S. 386. 86 Siehe oben 2. Teil, B. III. 2. (bei Fn.66).

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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durch gleich wirksame Alternativen ersetzt werden können 87. Wenn der Staat zur schärfsten Waffe greift, ist dies immer auch durch seine größere Wirksamkeit gerechtfertigt. Beim Bundesverfassungsgericht heißt es dann nur kurz: "Dass ein gleichwertiger Schutz anders als durch strafrechtliche Sanktionierung bewirkt werden könnte, ist nicht ersichtlich."88 Im Verständnis des Bundesverfassungsgerichts ist somit dem Grundsatz der Erforderlichkeit keine Tendenz in Richtung auf eine Entkriminalisierung zu eigen. Ganz im Gegenteil nahm das Bundesverfassungsgericht die Prüfung der Erforderlichkeit zum Anlass, Entkriminalisierungsbestrebungen entschieden entgegenzutreten. So führte das Gericht anlässlich der Überprüfung des § 248 a StGB aus: "Die Frage, wie der zunehmenden Bagatellkriminalität im Bereich der Vermögensdelikte - insbesondere den sogenannten Ladendiebstählen - durch geeignete gesetzgeberische Maßnahmen zu begegnen sei, ist ... Gegenstand zahlreicher rechtspolitischer und kriminologischer Erörterungen und Untersuchungen gewesen; verfassungsrechtliche Fragen sind dabei nur am Rande berührt worden. Das Bundesverfassungsgericht kann den Ergebnissen solcher Erörterungen ... nur sehr begrenzt Rechnung tragen. Zwar erscheinen unter besonderen Voraussetzungen Fälle denkbar, in denen gesicherte kriminologische Erkenntnisse im Rahmen der Normenkontrolle insoweit Beachtung erfordern, als sie geeignet sind, den Gesetzgeber zu einer bestimmten Behandlung einer von Verfassungs wegen gesetzlich zu regelnden Frage zu zwingen oder doch die getroffene Regelung als mögliche Lösung auszuschließen. Einen solchen Festigkeitsgrad weisen indessen die Ergebnisse der kriminologischen Untersuchungen nicht einmal im Bereich der Ladendiebstähle, geschweige denn in bezug auf sonstige Fälle des Diebstahls und der Unterschlagung geringwertiger Sachen auf. Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht verpflichtet, die Regelung des Diebstahls geringwertiger Sachen aus dem Strafrecht herauszunehmen und etwa in das Ordnungswidrigkeitenrecht zu verlagern."89. Noch deutlicher heißt es in einer Entscheidung zu § 34 Abs. 1 Nr.3 Buchst. a AsyIVFG: die Prämisse, dass das Strafrecht ganz besonders dem aus der Verfassung entwickelten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu entsprechen habe und daher erst zur Anwendung kommen dürfe, wenn Maßnahmen und Maßregeln des übrigen Rechts, insbesondere des Verwaltungsrechts versagten, "steht zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in offenkundigem Widerspruch"90. An dieser Stelle entlarvt das Bundesverfassungsgericht selbst seine Äußerung von der "gesteigerten Bedeutung" der Verhältnismäßigkeitsprüfung bei Strafgesetzen. Es bleibt damit auch unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit bei der vom Bundesverfassungsgericht betonten unbeschränkten Freiheit des Gesetzgebers, zum Mittel des Strafrechts zu greifen. 87 Vgl. Günther, Strafrechts widrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 193 f.; Lewisch, Verfassung und Strafrecht, S.228. 88 BVerfGE 57, S.250, S.270. Vgl. auch die etwas eingehenderen Ausführungen bei BVerfGE 90, S. 145, S. 182f. - Cannabis. 89 So BVerfGE 50, S. 205, S. 213. 90 BVerfGE 80, S.182, S. 185.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

4. Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) Die dritte Stufe der Verhältnismäßigkeitsprüfung hat mit den Worten des Bundesverfassungsgerichts "den Sinn, die als geeignet und erforderlich erkannten Maßnahmen einer gegenläufigen Kontrolle im Blick darauf zu unterwerfen, ob die eingesetzten Mittel unter Berücksichtigung der davon ausgehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen für den Betroffenen noch in einem angemessenen Verhältnis zu dem dadurch erreichbaren Rechtsgüterschutz stehen. Die Prüfung am Maßstab des Übermaßverbots kann demgemäss dazu führen, dass ein an sich geeignetes und erforderliches Mittel des Rechtsgüterschutzes nicht angewandt werden darf, weil die davon ausgehenden Beeinträchtigungen der Grundrechte des Betroffenen den Zuwachs an Rechtsgüterschutz deutlich überwiegen, so dass der Einsatz des Schutzmittels als unangemessen erscheint."91 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit charakterisiert die Relation zwischen Mittel und Zweck und ist dabei am Gerechtigkeitsideal orientiert 92 • Die Entscheidung über die Verhältnismäßigkeit eines Eingriffs verlangt eine Gesamtwürdigung und Abwägung aller Umstände des Einzelfalles 93 . Das Gewicht des angestrebten Ziels und das Ausmaß des durch den Mitteleinsatz hervorgerufenen Schadens sind zueinander in Beziehung zu setzen 94 . Die Unverhältnismäßigkeit einer Maßnahme kann sich zum einen aus der Art des verfolgten Zwecks 95 , zum anderen im Hinblick auf das gewählte Mittel 96 oder schließlich aus der Verknüpfung beider97 ergeben. Ein gegen das verfassungsrechtliche Prinzip der Verhältnismäßigkeit verstoßendes Strafgesetz könnte nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung sein 98 . Das Bundesverfassungsgericht hat zu überprüfende Strafnormen in zwei Richtungen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung unterworfen. Zum einen hat es lediglich das Strafmaß hinsichtlich seiner Angemessenheit überprüft, zum anderen hat es eine "Gesamtabwägung" der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter und Interessen durchgeführt. a) Strafmaß

Das Bundesverfassungsgericht bezieht die Prüfung der Verhältnismäßigkeit (im engeren Sinne) in den meisten Fällen nur auf das Verhältnis von Schuld des Täters BVerfGE 90, S. 145, S. 185. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 205. 93 BVerfGE 25, S.I, S.I2f.; 27, S.211, S.219 (st. Rspr.). 94 Vgl. BVerfGE 68, S.193, S.219; 71, S.206, S.218; Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 205. 95 Vgl. BVerfGE 30, S.292, S.316f.; 32, S.I, S.34; 33, S.17I, S.187f.; 34, S.238, S.246; 35,S.382,S.401; 36,S.47,S.59. 96 Vgl. BVerfGE 34, S. 238, S. 245. 97 BVerfGE 16, S.194, S.202; 17, S.306, S.314; 30, S.292, S.316f., 32, S.I, S.34; 33, S.171, S.187f.; 33, S.125, S.168; 36, S.47, S.59. 9S BVerGE6, S. 389, S.439; 45, S.187, S. 260. 91

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B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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zum Maß seiner Strafe 99 • Diese Prüfung vernachlässigt die im Sinne des ultima ratio Prinzips vorrangige Frage, ob der Einsatz des Strafrechts mangels Angemessenheit überhaupt auszuscheiden hat (Frage nach dem ob anstelle nach dem wie des Strafens) !00. Das Bundesverfassungsgericht prüft also in diesen Fällen nicht, ob die Strafvorschrift insgesamt verfassungswidrig (weil unverhältnismäßig) ist. Für die Verfassungsmäßigkeit eines Strafgesetzes ist dann lediglich die Frage ausschlaggebend, ob der dem Strafrichter zur Verfügung gestellte Strafrahmen dafür ausreicht, eine der Schuld im Einzelfall entsprechende Strafe zu verhängen. Unverhältnismäßig kann ein Strafgesetz sein, wenn es übermäßig schwere Strafen androht 101. Zur lebenslangen Freiheitsstrafe heißt es, die absolute Androhung einer so schweren Strafe sei nur dann verfassungsrechtlich unbedenklich, wenn dem Richter von Gesetzes wegen die Möglichkeit offen bleibt, bei der Subsumtion konkreter Fälle unter die abstrakte Norm zu einer Strafe zu kommen, die mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist lO2 • Dies heißt dann, die angedrohte Strafe müsse "in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zu dem Verschulden des Täters" stehen; sie dürfe nach Art und Maß der unter Strafe gestellten Handlung "nicht schlechthin unangemessen oder gar grausam" sein 103. Tatbestand und Rechtsfolge müssen "sachgerecht aufeinander abgestimmt" sein. 104 Stellt sich bei dieser Prüfungs alternative für die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift nur die Frage, ob der Gesetzgeber einen angemessenen Strafrahmen zur Verfügung stellt, ist hierbei noch der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen. Denn es steht dem Gesetzgeber nach dem Bundesverfassungsgericht grundsätzlich frei, Art und Mindestmaß der Strafe zu bestimmen, die er für die Begehung einer Straftat androht lO5 • Wörtlich heißt es: "Die Festlegung eines Strafrahmens beruht auf einem nur in Grenzen rational begründbaren Akt gesetzgeberischer Wertung. Welche Sanktion für eine Straftat angemessen ist und wo die Grenzen einer an der Verfassung orientierten Strafdrohung zu ziehen sind, hängt von einer Fülle von Wertungen ab. Das Grundgesetz gesteht dem Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum zu. Dem trägt das Bundesverfassungsgericht bei der inhaltlichen Überprüfung gesetzlicher Strafdrohungen Rechnung. Es kann in solchen Fällen einen Verstoß gegen den Schuldgrundsatz und das Übermaßverbot nur dann feststel99 Siehe vorhergehende Nachweise und alle Nachweise in diesem Abschnitt; außerdem: BVerfGE 20, S.323, S.331; 25, S.269, S.286; 27, S.18, S.29; 34, S.261, S.267; 41, S.121, S.125. Auf verhängte Strafen bezogen, BVerfGE 37, S.201, S.212: Schließlich verletzen Art und Höhe der verhängten Strafen weder den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz noch das Prinzip der Schuldangemessenheit. Dies bedarf keiner näheren Darlegung. Außerdem: BVerfGE 51, S.60, S. 74, S. 76. 100 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S.216. 101 Vgl. BVerfGE6, S.389, S.439f. 102 BVerfGE 45, S. 187, S. 260 - Lebensstrafe. 103 BVerfGE 1, S. 332, S. 348; 6, S. 389, S. 439. 104 BVerfGE 90, S. 145, S. 173. 105 BVerfGE 34, S. 261, S. 266; 50, S. 125, S. 138.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

len, wenn die gesetzliche Regelung - gemessen an der Idee der Gerechtigkeit - zu schlechthin untragbaren Ergebnissen führt." 106 Dies war aber in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung nie der Fall. Denn regelmäßig ermöglicht der weite Strafrahmen der Vorschriften dem Richter in allen denkbaren Fällen "stets auf eine Strafe zu erkennen, die in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters steht." 107 Denn "zur Vermeidung unverhältnismäßiger Sanktionen wird es in der Regel genügen, dass der Gesetzgeber dem Richter die Verhängung schuldangemessener Strafen innerhalb eines entsprechenden Strafrahmens bei der Strafzumessung ermöglicht."108 Und selbst wenn der Strafrahmen nicht so sonderlich weit ist, wie z. B. bei § 211 StGB, kann der Richter unter Berücksichtigung des Allgemeinen Teils des Strafgesetzbuches und einer restriktiven Auslegung einzelner Tatbestandsmerkmale zu einer angemessenen Einzeifalllösung kommen !09. Mehrfach hatte das Bundesverfassungsgericht in ähnlicher Weise dann, wenn es nach dem Tatbestand der Norm zu einer unverhältnismäßigen Strafandrohung kam (in diesen Fällen stellte sich für das Bundesverfassungsgericht noch am ehesten die Frage nach dem ob der Strafe) die Verhältnismäßigkeit der Vorschrift durch "verfassungskonforme Auslegung" auf der Rechtsanwenderseite gewahrt gesehen. So nahm das Gericht bei § 240 StGB an, die weite Fassung des Tatbestandes könne zur Folge haben, dass auch solche Verhaltensweisen pönalisiert werden, für welche die angedrohte Sanktion "nach Art und Maß unverhältnismäßig" ist. Bei Erstreckung des Gewaltbegriffs auf Sitzdemonstrationen ist daher der Strafrichter nach dem Bundesverfassungsgericht aus verfassungsrechtlichen Gründen gezwungen, die Verwerflichkeitsklausel im Rahmen der Anwendung des einfachen Rechts heranzuziehen (nach dem Bundesverfassungsgericht: "verfassungskonforme Auslegung" des § 240). Im Rahmen der Verwerflichkeitsklausel ist dann "in Erfassung aller für die MittelZweck-Relation wesentlichen Umstände und Beziehungen eine Abwägung der auf dem Spiel stehenden Rechte, Güter und Interessen nach ihrem Gewicht in der sie betreffenden Situation" erforderlich.!10 Die Verwerflichkeitsklausel hat damit vom Bundesverfassungsgericht deutlich die Gestalt einer auf den Tatbestand zugeschnittenen Verhältnismäßigkeitsprüfung erhalten. Im Ergebnis wird dadurch der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erst durch den anwendenden Richter gewahrt. Ebenso hat das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung zu § 29 Abs. I Nr. 1, 3 BtMG (Erwerb und Besitz von Cannabisprodukten) argumentiert!!!: Das

106

BVerfGE 34, S. 261, S. 266; 50, S.125, S. 140.

107 BVerfGE 50, S.205, S. 215 - Diebstahl geringwertiger Sachen. Ähnlich: BVerfGE 6, S. 389, S.439; 36, S.41, S.46; BVerfG NStZ 1985, S.173, S. 173f. 108 BVerfGE 73, S.206, S.254. 109 BVerfGE 45, S. 187, S. 261 ff. In die gleiche Richtung zur lebenslangen Freiheitsstrafe zielt: BVerfG IR 1982, S.28. 110 Vgl. BVerfGE 73, S.206, S.253-256. 111 BVerfGE 90, S.145, S.187ff.

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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Gericht ging von dem fragwürdigen Umstand aus, dass auch der Erwerb und Besitz der Droge fremde Rechtsgüter dadurch gefahrde, dass diese Umstände "die Möglichkeit einer unkontrollierten Weitergabe der Droge an Dritte" eröffneten. Dies geIte auch dann, wenn Erwerb und Besitz nur den Eigenverbrauch vorbereiten sollten(!). In diesen Fällen könne aber das "Maß der von der einzelnen Tat ausgehenden Rechtsgütergefährdung und der individuellen Schuld gering" sein. Beschränke sich der Erwerb oder der Besitz von Cannabisprodukten auf kleine Mengen zum gelegentlichen Verbrauch, so sei im allgemeinen auch die konkrete Gefahr einer Weitergabe der Droge an Dritte "nicht sehr erheblich". Entsprechend gering sei dann in aller Regel das öffentliche Interesse an einer Bestrafung. Die Verhängung von Kriminalstrafe gegen Probierer und Gelegenheitskonsumenten kleiner Mengen von Cannabisprodukten könne in ihren Auswirkungen auf den einzelnen Täter "zu unangemessenen und spezialpräventiv eher nachteiligen Ergebnissen führen". Wer nun denkt, § 29 Abs. I Nr. I, 3 BtMG sei verfassungswidrig (weil unverhältnismäßig), hat die Möglichkeiten der §§ 153, 153a StGB, §§ 29 Abs. 5,31 a BtMG vergessen. Nach dem Bundesverfassungsgericht hat der Gesetzgeber dem Übermaßverbot "dadurch genügt, dass er es den Strafverfolgungsorganen ermöglicht, im Einzelfall durch das Absehen von Strafe oder Strafverfolgung einem geringen individuellen Unrechts- und Schuldgehalt der Tat Rechnung zu tragen." Dieser Argumentation liegt die Annahme zugrunde, der Gesetzgeber dürfe aus generalpräventiven Gründen Strafe auch dort androhen, wo deren Verhängung unzulässig wäre. Denn die in manchen Fällen unverhältnismäßige Strafvorschrift ist mit den entsprechenden Einstellungsermächtigungen zusammen zu lesen. So gesehen "ordnet die unverhältnismäßige Vorschrift dann eigentlich gar keine Rechtsfolge an"l12. Das Bundesverfassungsgericht knüpft damit auch die Verfassungsmäßigkeit der § 29 Abs. I Nr. 1, 3 BtMG an eine verfassungskonforme Handhabung der Strafverfolgungsvorschriften durch die Strafverfolgungsorgane. Gewahrt ist die Verhältnismäßigkeit des Strafgesetzes bzw. die Angemessenheit der Strafandrohung mit dieser Rechtsprechung in jedem Falle. So ist es nur konsequent, wenn das Gericht andernorts feststellt, der Schuldgrundsatz decke sich in seinen die Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbots 1l3 • Da das StGB vermittels § 46 ohnehin insgesamt auf dem Schuldgrundsatz beruht 114, ist dann gleich jedes erdenkliche Strafgesetz verhältnismäßig: Es kann ja gar nicht zur Verhängung einer der Schuld des Täters nicht entsprechenden Strafe kommen, denn diese ist bereits verfahrensmäßig 115 Grundlage des Strafausspruchs (= "Schuldspruch"). Vgl. zur Kritik NelieslVelten, NStZ 1994, S. 366, S. 367. BVerfGE 73, S. 206, S. 253; 92, S. 277, S. 327 (Benennung: verfassungsrechtliche Gebot des sinn- und maßvollen Strafens). Vgl. auch BVerfG JZ 1979, S. 224. 114 Vgl. z.B. Lackner/Kühl, StGB, §46 Rdn. 6. 115 Verfahrensmäßig heißt hier nur, den Ablauf betreffend: Der Richter stellt zuerst etwas fest, was das StGB als "Schuld des Täters" bezeichnet und hemach bestimmt er die Strafe. 112 113

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Wiederum an anderer Stelle heißt es, im Rechtsstaat entspreche der Abstufung der verschiedenen Straftaten nach ihrem Unrechtsgehalt die nach Strafart und Strafhöhe gestaffelte Sanktion. Die Strafhöhe richte sich zwar nach dem normativ festgelegten Wert des verletzten Rechtsguts und der Schuld des Täters, aber das Gewicht einer Straftat, der ihr in der verbindlichen Wertung des Gesetzgebers beigemessene Unwertgehalt lasse sich in aller Regel erst aus der Höhe der angedrohten Strafe entnehmen. Insofern sei die Strafandrohung für die Charakterisierung, Bewertung und Auslegung des Straftatbestandes von entscheidender Bedeutung l16 . Während das Bundesverfassungsgericht in den bisher zitierten Fällen das Strafmaß daraufhin überprüfte, ob es in bezug auf das verletzte Rechtsgut und die Schuld des Täters angemessen bzw. "gerecht" sei, bezeichnet dasselbe Gericht hier das vom Gesetzgeber festgelegte Strafmaß in umgekehrter Schlussrichtung als ausschlaggebend für das Gewicht der Straftat (respektive dem Wert des verletzten Rechtsguts und der Schuld des Täters). An dieser Stelle darf man sich natürlich fragen, ob sich das Gericht bei der Überprüfung des Strafmaßes immer im klaren darüber war, was zuerst da war - das Huhn oder das Ei? b) Gesamtabwägung

In manchen Entscheidungen führt das Bundesverfassungsgericht aber auch eine "Gesamtabwägung" 117 durch. In diese Abwägung werden eingestellt: die Bedeutung der durch den Grundrechtseingriff zu schützenden und der grundrechtlich geschützten Rechtsgüter, die Wirksamkeit des mit der zur Prüfung gestellten Vorschrift angestrebten Rechtsgüterschutzes und das Ausmaß der zu diesem Zweck normierten Grundrechtsbeschränkung 118. Unklar ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Eingriffsrichtung des Strafgesetzes (die normierte Grundrechtsbeschränkung) und damit der Prüfungsmaßstab, der in die Gesamtabwägung einzusetzen ist. Es gibt zwei Möglichkeiten, den staatlichen Eingriff, der in einem Strafgesetz liegt, zu beurteilen 119. Zum einen kann man das Strafgesetz als Eingriff in dasjenige Grundrecht auffassen, dem das "bei Strafe verbotene" Verhalten zuzuordnen ist. In diesem Fall bildet die Verhaltensnorm den Ausgangspunkt der Betrachtung. Die andere Möglichkeit besteht darin, anhand der angedrohten Rechtsfolge "Strafe" die Eingriffsrichtung zu bestimmen. In diesem Fall ist die Sanktionsnorm Anknüpfungspunkt für den Eingriffl20. 116 BVerfGE 27, S. 18, S. 29 mit Verweis auf BVerfGE 25, S. 269, S. 286. Hervorhebung vom Verfasser. 117 So der Begriff in BVerfGE 71, S. 206, S.218 mit Verweis auf BVerfGE 68, S. 193, S. 219, dort die Bezeichnung "verhältnismäßig im engeren Sinn". 118 BVerfGE 71, S.206, S.218. 119 Instruktiv hierzu Dürig in: Maunz/Dürig (Begr.), GG, Art. 2 Rdn. 76 (VerbotsnormNerhaltensnorm) und 77 (Sanktionsnorm).

B. Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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(1) Erste Möglichkeit: Abwägung zwischen den Grundrechtsbereichen des verbotenen Verhaltens und denen des geschützten Rechtsguts Folgt man der ersten Möglichkeit, wird die Strafvorschrift als Verhaltensvorschrift betrachtet, die bestimmte, in den Bereich eines Grundrechts fallende Tätigkeiten verbietet (= Eingriff) 121. Die Abwägung müsste dann stattfinden zwischen den Grundrechtsbereichen des verbotenen Verhaltens und denen des geschützten Rechtsguts. Diese Art der Abwägung nimmt das Bundesverfassungsgericht durchgehend bis zur Cannabis-Entscheidung vor l22 • Ob es damit die für Strafgesetze entscheidende Frage stellt, ist zu bezweifeln. Dies wird deutlich, wenn man anstelle der bislang vom Bundesverfassungsgericht überprüften Normen aus dem Randbereich des Strafrechts z. B. §§ 211,212 StGB in den durchzuführenden Prüfungsmodus einsetzt. Die Verhältnismäßigkeit von §§ 211, 212 StGB wäre an der Gewährleistung der allgemeinen Handlungsfreiheit zu messen, der die Tatigkeit des Tötens zuzurechnen ist (sofern man mit dem Bundesverfassungsgericht davon sprechen will). Bei der "Gesamtabwägung" zu §§ 211, 212 StGB müssten dann die allgemeine Handlungsfreiheit des Täters zum Töten und das Recht auf Leben des Opfers gegeneinander abgewogen werden. Diese Sichtweise ist offensichtlich absurd und kann auch gar nicht zu einem Ergebnis führen, dass gegen die Verhältnismäßigkeit einer Strafvorschrift spricht. Denn der Gesetzgeber muss schon sehr schlecht aufgelegt gewesen sein, wenn es zu einer Strafvorschrift kommen sollte, bei der die Gewährleistung des Grundrechts dem das verbotene Verhalten zuzurechnen ist (der Handlungsfreiheit) mehr gelten sollte, als das durch die betreffende Strafvorschrift geschützte Rechtsgut (Leben). Und so ist auch in den bislang entschiedenen Fällen die Abwägung immer zugunsten der Strafvorschrift ausgefallen 123. Entscheidend ist 120 Vgl. zu Unterscheidung von Verhaltensnorm und Sanktionsnorm Haffke in: CoimbraSymposium für Claus Roxin, S. 89, S. 92 f. 121 Vgl. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S.6. Das BVerfG spricht davon, dass die Strafnorm ein mit staatlicher Autorität versehenes sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise enthalte, BVerfGE 27, S. 18, S.29. 122 Das BVerfG führte im einzelnen folgende Abwägungen durch: BVerfGE 20, S. 162, S. 177 f. - Schutz des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland nach außen (§§ 99, 100 StGB) und der Pressefreiheit. BVerfGE 28, S. 175, S. 188 f. - Schutz der Staatssicherheit (§ 100e StGB a. F.) zur Freiheit geistige Auseinandersetzungen mit Personen außerhalb des Bundesgebiets zu führen. BVerfGE 28, S. 191, S. 199 ff. - Aufrechterhaltung und einwandfreies Funktionieren einer geordneten Verwaltung (§ 353 b StGB) und Meinungsfreiheit. BVerfGE 30, S.336, S. 350f. - Jugendschutz (§§ 6, 21 GjS) zu Berufsausübungsfreiheit. BVerfGE 47, S. 109, S. 119 f. -Jugendschutz (§ 184 Ans. 1 Nr.7 StGB) zu Berufsausübungsfreiheit. BVerfGE 71, S. 206, S. 215ff. - Unbefangenheit der Verfahrensbeteiligten (§ 353d Nr.3 StGB) und Grundrecht des Art. 5 Abs. 1 GG Inhaltlich unklar dagegen die Abwägung von BVerfGE 80, S. 244, S. 255 f. (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 VereinsG) und BVerfG NStZ 1985, S. 173, S. 173 (§ 67 Abs. 1 Nr. 1 c WeinG). 123 Vgl. Nachweise in vorstehender Fußnote.

7 Höffner

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

aber folgender Punkt: Bei dieser Prüfung rallt völlig unter den Tisch, dass die Verbotsnorm mit Strafe sanktioniert ist. Die vorzunehmende Abwägung wäre die gleiche, egal ob dem Täter bei §§ 211, 212 StGB eine lebenslange Freiheitsstrafe droht oder ob er wie bei §§ 823 Abs. 1, 844 Abs. 1 BGB die Beerdigungskosten ersetzen muss. Diese Sichtweise erkennt nicht, dass Verbotsnormen Sanktionen mit unterschiedlicher Eingriffsqualität nach sich ziehen können (Schadenersatz, Geldbußen usw.) und geht damit an der spezifischen Qualität von Strafvorschriften vorbei. (2) Zweite Möglichkeit: Abwägung zwischen den Grundrechtsbereichen der Rechtsfolge (Strafe) und denen des geschützten Rechtsguts Folgt man der zweiten oben angegebenen Möglichkeit, rückt die mit einem Strafgesetz intendierte Rechtsfolge, die zu verhängende Strafe, als Eingriff in den Mittelpunkt der Abwägung. Das Strafgesetz stellt bei angedrohter Freiheitsstrafe - soweit ersichtlich gibt es keine Strafgesetze, die sich auf die Geldstrafe beschränken 124 - einen Eingriff in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dar l25 • Bei diesem Prüfungs modus ist abzuwägen zwischen dem geschützten Rechtsgut und der Grundrechtseinbuße, die der mögliche Täter durch die zu verhängende Strafe erleiden muss. Ansatzweise ist das Bundesverfassungsgericht zum ersten Mal in der Cannabis-Entscheidung so vorgegangen, indem es Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG als Prüfungsmaßstab nannte 126 • Inhaltlich beschränkt sich die "Abwägung" auf die Feststellung, dass die Begehungsweisen des § 29 BtMG fremde Rechtsgüter gefährdeten (einschließlich des bereits erwähnten § 29 Abs. 1 Nr. 1,3 BtMG) und daher die Kriminalstrafe "keine übermäßige und deshalb verfassungswidrige Sanktion" darstelle 127 • Von einer echten Prüfung kann daher bislang noch nicht die Rede sein.

Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S.130. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 130f. 126 BVerfGE 90, S.145, S.I72. Hingewiesen werden soll noch darauf, dass das BVerfG auch in der Entscheidung BVerfGE 80, S. 244, S. 254 ff. die Verhaltensvorschrift (§ 3 Abs. I VereinsG) und die daran anknüpfende Sanktions-(Straf-)vorschrift (§ 20 Abs.1 Nr. 1 VereinsG) getrennt prüft. (Es mag daran gelegen haben, dass es sich auch um zwei getrennte Vorschriften handelte). Dabei führte das Gericht jedoch keine Abwägung durch, sondern fragte nur, ob die § 20 Abs. I Nr. 1 VereinsG zugrunde liegende Wertung, die dort genannten Verstöße seien "strafwürdig und strafbedürftig", verfassungsrechtlichen Bedenken begegne. Diese Frage verneinend führte das Gericht aus: Der Unwert der Tathandlung erschöpfe sich nicht in bloßem Ungehorsam. es handele sich vielmehr um eine Betätigung, die wichtige Anliegen der Allgemeinheit gefährdete. Hinzu komme, dass die Mittel des Verwaltungszwanges in aller Regel nicht ausreichen werden. Der Gesetzgeber konnte es daher für geboten erachten, den Verstoß mit Kriminalstrafe zu bedrohen. Vgl. BVerfGE 80, S. 244, S.256. Dass es sich dabei nur um Leerformeln handelt, die auf jede beliebige Vorschrift angewandt werden können, ist bereits daran zu sehen, dass das Gericht diese Passage in BVerfGE 90, S.145, S.184 mit identischem Inhalt wiederholt. 127 BVerfGE 90, S.145, S.182-194. 124 125

B. Rechtsprechung des Bundesverlassungsgerichts zum ultima ratio Prinzip

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5. Zusammenfassung Weil Strafrecht die ultima ratio im Instrumentarium des Gesetzgebers ist, müssen Strafgesetze nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts einer Verhältnismäßigkeitsprüfung mit "gesteigerter Bedeutung" unterzogen werden. Strafrecht soll nur dann angewandt werden, "wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist"128. Damit hat das Bundesverfassungsgericht einen Prüfungsmaßstab formuliert, der allerdings die Besonderheit aufweist, nie in einem Fall zur Anwendung gekommen zu sein. Die vom Bundesverfassungsgericht durchgeführte Verhältnismäßigkeitsprüfung "mit gesteigerter Bedeutung" zeigt an keinem Punkt Ansätze in Richtung auf eine Prüfung mit "harten" Kriterien. In keinem Fall führte das Gericht den Prüfungsmaßstab aus oder kam ansonsten zu einer Konkretisierung der Grenzen der Kriminalisierung durch den Gesetzgeber. Vielmehr ist es genau umgekehrt: Die Verhältnismäßigkeitsprüfung "mit gesteigerter Bedeutung" war für das Bundesverfassungsgericht lediglich Anlass, zu betonen, dass der Gesetzgeber doch "alles darf". Nur diesen Teil des "polaren Ausgangspunkts" hat das Gericht erläutert, indem es darauf hinwies, dass Strafgesetze zum Rechtsgüterschutz besonders gut geeignet seien und dass es ein Gebot, Strafrecht erst einzusetzen, wenn andere Mittel versagten, nicht gebe. Was die Verhältnismäßigkeitsprüfung anbelangt, sticht lediglich die Konzeptlosigkeit der Prüfung des Bundesverfassungsgerichts heraus, die dazu führt, dass auch in diesem Bereich keine "harten" Kriterien entwickelt werden. Letztlich läuft die Argumentation regelmäßig auf die Leerformel hinaus, dass die Kriminalstrafe angesichts dieser oder jener Umstände "nicht unverhältnismäßig" ist und dass die Anwendung des Strafrechts "nicht außerhalb des dem Gesetzgeber eingeräumten weiten Spielraums eigenverantwortlicher Bewertung" 129 liegt. Und selbst wenn das Bundesverfassungsgericht (gezwungen durch eine gut begründete Vorlage, wie insbesondere in der Cannabis-Entscheidung) nicht umhin kann, zuzugeben, dass es einen Bereich gibt, in dem Strafen unverhältnismäßigerweise angedroht werden, weicht es auf die Rechtsanwenderseite aus. Dadurch umgeht es einerseits eine klare Positionsbestimmung, realisiert andererseits aber nicht den Unterschied zwischen dem Eingriff, der in einem unverhältnismäßigen Gesetz besteht, und dem Eingriff, der in einer unverhältnismäßigerweise verhängten Einzelstrafe besteht. Das Bundesverfassungsgericht formuliert zwar einen Prüfungsmaßstab, der ultima ratio Ansatz bleibt jedoch reine Leerformel. Diese Schlussfolgerung könnte nach obiger Rechtsprechungsanalyse uneingeschränkt stehen bleiben, wären da nicht die Entscheidungen zu § 218 StGB 130. Diese Vorschrift ist der einzige Fall, bei BVerlGE 88, S. 203, S. 258. Ebenso: BVerlGE 96, S. 10, S. 25; 96, S. 245, S. 249. So z.B. zuletzt BVerlGE 96, S. 10, S.27. 130 Aus Anlass der Prüfung des Schwangerschaftabbruchs führte das Gericht zum ersten Mal den Terminus "ultima ratio" ein. 128

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

dem das Bundesverfassungsgericht seine Zurückhaltung gegenüber der Strafgesetzgebung aufgab und den Gesetzgeber zu einer bestimmten Regelung zwang. Bezeichnenderweise ging dieser Druck nicht in Richtung Entkriminalisierung, sondern in Richtung Kriminalisierung. § 218 StGB ist dabei die einzige Stelle, an der sich das Bundesverfassungsgericht über die selbstgesteckten Grenzen im Prüfungsmaßstab und damit über die eigenen Kompetenzgrenzen hinauslehnt l31 : Nach gewöhnlichem, die ganze Rechtsprechung ungebrochen durchziehenden Grundsatz ist es Sache des Gesetzgebers, zu entscheiden, ob er ein Rechtsgut gerade mit den Mitteln des Strafrechts verteidigen will. Lediglich beim ungeborenen Leben ist dies anders 132. Die Widersprüchlichkeit wird deutlich, wenn man sich vor Augen führt, wie brüsk das Gericht an anderer Stelle das für das ungeborene Leben entwickelte "Untermaßverbot" 133 zurückweist: "Nicht dass der Gesetzgeber im Übermaß grundrechtliche Freiheit beschränkt habe, würde ihm zum Vorwurf gemacht, sondern dass er ein ,Übermaß' grundrechtlicher Freiheit aufrechterhalte. Dies zu beanstanden kann nicht Sache des Bundesverfassungsgerichts sein."134 Letztendlich lässt sich damit als Schlussfolgerung festhalten, dass der ultima ratio Ansatz des Bundesverfassungsgerichts hinsichtlich Entkriminalisierung eine reine Leerformel bleibt I35 •

c.

Überblick über die Herleitung des ultima ratio Grundsatzes in der Literatur Anerkannt ist der ultima ratio Grundsatz als Gebot der Kriminalpolitik 136 • Als Begründung kann die Überzeugung dienen, dass das Strafrecht immer noch ein ziemlich primitives Instrument ist: Einerseits ist zweifelhaft, ob man durch seine Anwendung die angestrebten Ziele erreichen kann, insbesondere, ob man auf diese Weise bestimmte Rechtsgüter wirklich schützt; andererseits ist sicher, dass die Bestrafung oft negativ auf den Verurteilten wirkt I37 • Diese Begründung reicht aber nicht aus, wenn es darum geht, die Verbindlichkeit und die Reichweite des Prinzips einzuschätzen, geschweige denn um einzelne Schlussfolgerungen hinsichtlich des WirtIm Ergebnis ebenso: Lamprecht, NJW 1994, S. 3272, S. 3273 f. Vgl. dazu Müller-Dietz in: § 218 StGB, S. 77, S. 98 f.; Kayßer in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S.143, S.155ff. 133 So die Begrifflichkeit in BVerfGE 88, S. 204, Leitsatz Nr. 8. 134 BVerfGE 71, S.206, S.218. 135 Dementsprechend haben auch sämtliche vom ultima ratio Grundsatz ausgehenden Entkriminalisierungsbemühungen des Gesetzgebers keine materiellrechtlichen Änderungen gebracht. Vgl. dazu Weber, Baur-Festschrift, S.133, S. 134ff. 136 Vgl etwa Maurach/Zipf, Strafrecht ATI, § 2 Rdn. 13; Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 531 f. m. w. N.; Gardocki in: Modernes Strafrecht und ultima-ratio Prinzip, S. 17, S. 18. 137 So Gardocki in: Modernes Strafrecht und ultima-ratio Prinzip, S. 17, S. 17. Ähnlich Weber, Baur-Festschrift, S.133, S.133f. 131

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C. Überblick über die Herleitung des ultima ratio Grundsatzes in der Literatur

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schaftsstrafrechts zu ziehen. Hierfür muss untersucht werden, aus welchen allgemeineren Kategorien sich der Grundsatz ableiten lässt. In der Literatur werden verschiedene Möglichkeiten genannt, worauf der Gedanke Strafrecht ist ultima ratio basieren soll: das Subsidiaritätsprinzip, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme und das Merkmal der Strafwürdigkeit, bzw. der Strafbedürftigkeit. Einige Autoren nennen in diesem Zusammenhang daneben den fragmentarischen Charakter des Strafrechts 138, wobei jeweils auf einen Aufsatz von Maiwald l39 bezug genommen wird. Nach den berühmten Worten Bindings trägt das Strafrecht fragmentarischen Charakter l40 • Damit bezeichnet er die Lückenhaftigkeit des Strafrechts systems als solches und seiner Tatbestände; es werden also nicht alle Verhaltensweisen, die einen schweren Unrechtsgehalt aufweisen, bestraft 141. Hatte Binding diesen Zustand als großen Mangel bezeichnet, so wird heute umgekehrt das Wort vom fragmentarischen Charakter als Forderung an den Strafgesetzgeber verstanden 142. Es handelt sich jedoch hierbei lediglich um eine Zustandsbeschreibung bzw. um die Beschreibung einer empirischen Tatsache, die zudem nicht sonderlich genau ist l43 • Zu einem Programmsatz wird der Begriff nur bei einer zusätzlichen Wertung. Solche Wertungen können, je nachdem welchen Hintergrund man berücksichtigt, völlig unterschiedlich sein und dem Begriff eine andere Richtung geben. Am einfachsten ist dies an der unterschiedlichen Auffassung von Binding zum heutigen Verständnis zu sehen. Hier von Interesse ist aber lediglich die Herkunft dieser Wertung. Der fragmentarische Charakter des Strafrechts kann daher nicht als Theorie berücksichtigt werden 144.

I. Subsidiaritätsprinzip Arthur Kaufmann bezieht sich bei der Herleitung des ultima ratio Prinzips auf den Gedanken der Subsidiarität allen staatlichen Handeins 145: "Unter der Herrschaft des Subsidiaritätsprinzips darf das Strafrecht nur dort eingesetzt werden, wo es zum Schutze der Gesellschaft unbedingt notwendig ist, d. h. einzig zum Schutze derjenigen Rechtsgüter, die für das Leben der Menschen im Mitsein mit den anderen unSo z. B. Roxin, JuS 1966, S. 377, S. 382 (Fn. 17); Jescheck/Weigend, Strafracht AT, § 711. Maiwald, Maurach-Festschrift, S. 9. 140 Binding, Lehrbuch des Strafrechts, BT, Bd. I, S. 20. 141 Vgl. Maiwald, Maurach-Festschrift, S. 9, S. 9f. 142 Vgl. Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 7 11 I (S.53); Maiwald, Maurach-Festschrift, S.9, S.9. 143 Vgl. Prittwitz in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S.387, S. 389. 144 Ähnlich im Ergebnis Prittwitz in: Vom unmöglichen Zustand des Strafrechts, S.387, S.405. 145 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 102. Ihm folgend: Brandt, Subsidiaritätsprinzip, passim; Zipf, Kriminalpolitik, § 3 5., S.53; offenbar auch Weber, Baur-Festschrift, S. 133, S. 133. Zustimmend zum Subsidiaritätsprinzip auch Hassemer in: Nomos-Kommentar zum StGB, vor § I Rdn.206. 138 139

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

entbehrlich sind und die auf andere Weise als durch das Strafrecht nicht wirksam geschützt werden können." Fruchtbar gemacht wird dadurch eine Zuständigkeitsregel der gesellschaftlichen Ordnung, 146 dessen Grundgedanke lautet: Aufbau der Gesellschaft von unten nach oben, bzw. dem einzelnen Gemeinschaftsglied soviel Freiheit wie möglich und nur soviel Staat wie nötig. 147 Aus dem Subsidiaritätsprinzip leitet Kaufmann eine positive Aussage ab: Wo Aufgaben entstehen, die der Einzelne oder eine kleine Gemeinschaft nicht bewältigen können, ist der Staat zu einer Hilfestellung aufgerufen; es handelt sich um ein in der menschlichen Personalität begründete und von ihm geforderte Ergänzung und Vervollständigung. 148 Dazu gehöre die Garantie jener grundlegenden Güter und Rechte, die der Mensch zu seiner persönlichen Entfaltung braucht, das Anbieten von Grundchancen durch entsprechende institutionelle Maßnahmen und ferner konkrete Hilfen 149. Die positive Seite des Subsidiaritätsprinzips erfasse damit den Aspekt des sozialen Rechtsstaates l5o • Anhand des § 218 StGB schließt Kaufmann den Bogen zum Prinzip ultima ratio: Eine Strafdrohung helfe Frauen, die sich in der betreffenden Notlage befänden, wenig, sondern es müsse positiv etwas getan werden, um die Not zu beheben; "nach dem Subsidiaritätsprinzip sind nichtstrafrechtliche Hilfen das Primäre, und nur wo diese nicht ausreichen, darf der strafrechtliche Rechtsgüterschutz eingreifen." 151

11. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Erforderlichkeit Die überwiegende Anzahl der Autoren bezieht sich für die Herleitung des ultima ratio Prinzips auf das Merkmal der Erforderlichkeit einer staatlichen Maßnahme als Teil des Verhältnismäßigkeitsprinzips 152. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist eine übergreifende Leitregel allen staatlichen Handelns 153 • Die Verhältnismäßigkeit einer staatlichen Maßnahme umfasst deren Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit als Relation zwischen den Auswirkungen der staatlichen Maßnahme und deren Zielsetzung l54 • Die Prüfung der Erforderlichkeit bezieht sich dabei auf die Mittelauswahl: Unter mehArth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 89. Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 90. 148 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 98. 149 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 98. 150 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S.I03. 151 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 105. 152 Roxin, Strafrecht AT!, § 2 Rdn. 39; Frehsee, Schadenswiedergutmachung, S.144; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rdn. 27; Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 20; Müller-Emmert, GA 1976, S. 291, S.301. Ablehnend: Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 531 f. (zu eng gefaßt). 153 BVerfGE 23, S. 133. 154 Degenhardt, Staatsrecht, Rdn. 391. 146 147

C. Überblick über die Herleitung des ultima ratio Grundsatzes in der Literatur

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reren für die Verwirklichung des angestrebten Ziels in Betracht kommenden - gleichermaßen geeigneten - Maßnahmen ist diejenige zu wählen, die am wenigsten belastet I55 • Es handelt sich um das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs. Für das Strafrecht soll dies nun folgendes bedeuten: Da das Strafrecht die härtesten aller staatlichen Eingriffe in die Freiheit des Bürgers ermögliche, dürfe es nur eingesetzt werden, wenn mildere Mittel keinen ausreichenden Erfolg versprechen. Wo andere sozialpolitische Maßnahmen ein bestimmtes Rechtsgut ebenso gut oder gar wirkungsvoller schützen können, verstoße es gegen das Übermaßverbot, wenn der Staat zum scharfen Schwert des Strafrechts greife l56 .

111. Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: Verhältnismäßigkeit (i. e. S.) Günther lehnt dagegen die Herleitung des Prinzips der ultima ratio aus dem Grundsatz der Erforderlichkeit ab l57 • In der Gestalt, die dieser Grundsatz durch das Bundesverfassungsgericht erhalten hat, gebe er nur in begrenztem Ausmaß verbindliche Anhaltspunkte für die Selektion strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen: Angesichts der gegenüber den übrigen Rechtsgebieten grundsätzlich gesteigerten general präventiven Wirkungen einer Verhaltenskriminalisierung erweise sich der Einsatz des Strafrechts in aller Regel für den Rechtsgüterschutz als besser geeignet (und damit als erforderlich)158. Jede Missachtung einer zivil- oder öffentlichrechtlichen Schutzvorschrift belege die Notwendigkeit zusätzlicher Schutzvorkehrungen und deren verfassungsrechtliche Erforderlichkeit 159 • Dass der Einsatz des Strafrechts von besonders strengen Voraussetzungen abhängig zu machen ist, folgt seiner Ansicht nach aus dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (i. e. S.) 160. Die Verhältnismäßigkeitsmaxime habe gegenüber dem in der strafrechtlichen Diskussion im Vordergrund stehenden Erforderlichkeitsprinzip das größere Gewicht, weil der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Bezüge zum Gerechtigkeitspostulat aufweise 161, während sich die Erforderlichkeit einer Maßnahme in Degenhardt, Staatsrecht, Rdn.395. So Roxin, Strafrecht ATI, § 2 Rdn. 39. Ähnlich: Hassemer, Schutzbedürftigkeit, S. 20f. 151 Günther spricht zumeißt nicht vom ultima ratio Prinzip, sondern von der "Selektion strafrechtlich relevanter Verhaltensweisen", von einer "Maxime der Verhaltenskriminalisierung" oder von einer "Verfassungsschranke der Verhaltenskriminalisierung", vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 193, S. 210. Dabei geht es ihm aber um dasjenige, was gemeinhin mit dem Prinzip ultima ratio verknüpft ist. Er selbst stellt auch den Zusammenhang seiner Überlegungen mit dem ultima ratio Gedanken her, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 192 f. und S. 214. 158 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 193. 159 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 193 f. 160 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 210. 161 Vgl. hierzu Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 199 f., S. 205 ff. 155

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

utilitaristischen, an Ökonomie und Effizienz orientierten Technokratieaspekten erschöpfe 162. Nach Günther begrenzt der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vornehmlich im Straftatbestandsbereich die Kriminalisierungsmöglichkeiten des Gesetzgebers 163. Die Wechselwirkung zwischen Mittel und Zweck, die der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz untersuche, sei der Abwägungsmaßstab für die Verhaltenskriminalisierung: Der Einsatz des Strafrechts erfordere einen der besonderen Härte des Mittels entsprechend gesteigert gewichtigen Anlass 164.

IV. Strafwürdigkeit/Strafbedürftigkeit Weiterer Ansatzpunkt für die Herleitung des Prinzips der ultima ratio sind die Überlegungen zur Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit 165. Das Strafrecht enthalte kein umfassendes System des Rechtsgüterschutzes, sondern beschränkt sich auf einzelne nach dem Kriterium der Strafwürdigkeit (bei anderen Autoren Strafbedürftigkeit l66 ) ausgewählte Schwerpunkte l67 . Der Gesetzgeber könne bei der Bildung gesetzlicher Straftatbestände nicht schlechthin jede Verletzung eines in der Gemeinschaft als verbindlich geltend anerkannten schutzbedürftigen Kulturwerts unter Strafe stellen. Er müsse unter den abstrakt möglichen Verletzungen schutzbedürftiger Kulturwerte eine Auswahl nach ihrer Strafwürdigkeit treffen 168. Der sachliche Gehalt der Strafwürdigkeit umfasst nach Sax die Elemente des "Strafe-Verdienen" und des ,,strafe-Bedürfen"169. Die Strafbedürftigkeit sei dabei das Kriterium, nach dem festgestellt wird, dass Strafe auch wirklich das einzige Mittel ist, um die Gemeinschaftsordnung vor verletzenden Verhaltensweisen hinreichend zu schützen; stünden weniger einschneidende Mittel als eine Strafbewehrung zur Verfügung, so liege eine Strafbedürftigkeit nicht vor 170.

Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S. 210. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S.235. 164 Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S.209, S. 21Off. 165 Zur Strafwürdigkeit eingehend Altpeter, Strafwürdigkeit und Straftatsystem, passim, zum Zusammenhang zwischen ultima ratio und Strafwürdigkeit S. 35 f. m. w. N. 166 So etwa Duo, ZStW 96, S. 339, S. 348. 167 Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 7 11 1 (S.52). 168 Sax in: Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 909, S. 916. 169 Sax in: Die Grundrechte, Bd. III/2, S.909, S. 924; ders., JZ 1976, S.9, S. 11; ders., JZ 1977,S.326,S.332. 170 So Sax in: Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 909, S. 925, Hervorhebung im Original. Begrifflich herrscht allerdings noch Unklarheit. Ähnlich allerdings: Jescheck/Weigend, Strafrecht AT, § 7 I 1 a (S.50); Maiwald, Maurach-Festschrift, S. 9, S. 12; Rudolphi, ZStW 83, S.105, S.114f.; Günther, JuS 1978, S. 8, S. 11; Duo, Schröder-Gedächtnisschrift, S. 53, S. 56f.; ders., Grundkurs StrR, Allg. StrRLehre, § 1 Rdn.48 ff.; ders., ZStW 96, S. 339, S. 348; Baumann/Weber/ Mitsch, Strafrecht AT, § 3 Rdn. 19. 162 163

C. Überblick über die Herleitung des ultima ratio Grundsatzes in der Literatur

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V. Stellungnahme Strafrecht ist ultima ratio der Verhaltenssteuerung. Wenn Strafrecht das "letzte Mittel" ist, also erst zulässig ist, wenn andere Mittel nicht verfangen, dann muss ein Vergleich stattfinden. Von den aufgeführten Herleitungsmöglichkeiten bietet zunächst der Grundsatz der Erforderlichkeit die Möglichkeit zwei verschiedene Regelungsaltemativen zu vergleichen und gegeneinander abzuwägen '7': Auf der einen Seite steht die Regelung durch Strafrecht, auf der anderen Seite die Alternativregelung. Dieser Grundsatz kann daher von seiner Anlage her Bestandteil des ultima ratio Prinzips sein. Ebenso enthält das Subsidiaritätsprinzip einen Wertmaßstab für verschiedene Regelungsalternativen, indem es bestimmt, das die Konfliktlösung auf der niedrigeren gesellschaftlichen Ebene durchzuführen ist. Anders verhält es sich mit den Ansätzen zur Verhältnismäßigkeit und zur Strafwürdigkeit. Zu diesen sei folgendes angemerkt:

1. Zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne (Günther) Günther lehnt den Gedanken der Erforderlichkeit als Quelle des ultima ratio Prinzips ab, weil dieser in der Gestalt, die er durch das Bundesverfassungsgericht erhalten hat, keine verbindlichen Aussagen über die Grenzen der Kriminalisierungsmöglichkeiten erlaube. Wenn er dann allerdings den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz bevorzugt, übersieht er, dass das Bundesverfassungsgericht daraus auch keine Schlüsse auf die Begrenzung der Verhaltenskriminalisierung zieht. Regelmäßig nimmt das Bundesverfassungsgericht nämlich an, im Bereich staatlichen Strafens würde sich der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz mit dem Schuldprinzip decken 172: dadurch, dass der Richter im Einzelfall die Möglichkeit habe, eine schuldangemessene Strafe zu verhängen, sei der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt. Das Bundesverfassungsgericht bezieht damit das Verhältnismäßigkeitsprinzip gar nicht auf die Kriminalisierungsmöglichkeit des Gesetzgebers. Inder Gestalt, die er durch das Bundesverfassungsgericht erhalten hat, trifft auch das Verhältnismäßigkeitsprinzip keine verbindlichen Aussagen über die Grenzen der Kriminalisierungsmöglichkeiten 173. Entscheidend gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Quelle des ultima ratio Gedankens spricht aber seine Eindimensionalität. Das Verhältnismäßigkeitskriterium behandelt das Verhältnis zwischen Mittel und Zweck. Es trifft aber keine Aussage über das Verhältnis zweier Mittel. Damit ist es zur Begründung der Aussage, dass der Gesetzgeber zum Mittel des Strafrechts greifen darf, wenn andere Mittel 171 So auch Lüderssen in: Modemes Strafrecht und ultima-ratio Prinzip (Vorbemerkung), S.l1, S.ll. 172 Siehe oben Punkt 4. a). 173 Dies erkennt auch Günther selbst, vgl. Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, S.215f.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

nicht verfangen und damit zur Begründung des ultima ratio Prinzips ungeeignet. Wohlgemerkt sei damit aber nicht Günther widersprochen, wenn er sagt, das Verhältnismäßigkeitsprinzip würde an sich dem Gesetzgeber eine Grenze bei der Schaffung von Straftatbeständen ziehen. Im hier allein angesprochenen Zusammenhang des ultima ratio Prinzips wird dieser Gedanke allerdings nicht weiter verfolgt.

2. Zur Strafwürdigkeit Was die Kriterien der Strafwürdigkeit bzw. -bedürftigkeit betrifft, so stellte Roxin fest, es handele sich dabei um verschwommene und in vieifliltiger Bedeutung verwendete Begriffe l74 • Und in der Tat sollen diese Begriffe neben der soeben angesprochenen Bedeutung für das ultima ratio Prinzip noch Bedeutung auf der Tatbestands-, der Unrechts- und der Schuldebene 175 oder auf einer von den eben genannten Kategorien gesonderten Ebene des Strafwürdigkeitstatbestands haben 176. Nach Wolter liegt die "wesentliche Funktion" der Strafbedürftigkeit darin, "materiellrechtliche und prozessuale Institute zu entwickeln und systematisch zu verarbeiten" 177. Fehlende Strafwürdigkeit soll demnach unter anderem bewirken: Tatbestandsausschluss wegen Haftungsbegrenzung durch den Schutzzweck der Norm 178 , Verantwortungsausschluss nach § 113 Abs. 4 StGB, Strafausschluss bei Verwendung von Lockspitzeln oder Verfolgungsausschluss nach § 153 StPO l79 • Die Diskussion um die Strafwürdigkeit ist damit vorwiegend ein Bezeichnungsproblem, und das in mehrfacher Hinsicht: Zunächst kommt den einzelnen Begriffen innerhalb der Strafwürdigkeitsdiskussion bei den unterschiedlichen Autoren unterschiedliche Bedeutung zu 180. Die begriffliche Verwirrung geht soweit, dass Probst einen Beitrag eigens zur begrifflichen Klärung verfasste 181 und auch andere Autoren stets zu einer begrifflichen KlarsteIlung genötigt sind, wenn sie sich mit Strafwürdigkeit- bzw. Strafbedürftigkeit befassen 182. Über diese Unstimmigkeit im einzelnen hinaus kann aber auch die gesamte Strafwürdigkeitsproblematik als Bezeichnungsproblem angesehen werden. Unter der Bezeichnung der Strafwürdigkeit bzw. der Strafbedürftigkeit werden nämlich den Einzelproblemen lediglich neue Namen geSo Roxin, Strafrecht AT I, § 23 Rdn.34. So z.B. bei Stratenwerth, Strafrecht AT, Rdn.195f.; ders, ZStW 71, S.565, S.565ff. 176 Letzteres wird vertreten von Schmidhäuser, Strafrecht AT, 2/15,12/2,12/7; Schünemann, ZSchwR, Bd.97, S.131, S.147f.; Langer, GA 1976, S.193, S.204; ders., Das Sonderverbrechen, S. 275, S. 360ff. 177 So Wolter in: 140 Jahre GA-Festschrift, S. 269, S.298. 178 Sax, JZ 1975, S.137, S.I44; ders., JZ 1976, S. 9, S. 9. 179 Vgl. Wolter in: 140 Jahre GA-Festschrift, S.269, S. 298. 180 Vgl. Volk, ZStW 97, S. 871, S. 894 ff. Zur Begriffsproblematik eingehend: Altpeter, Strafwürdigkeit und Straftatsystem, S. 5-46; zur verwendeten Terminologie S. 37 f. 181 Probst, ÖRiZ 1979, S.109, passim. 182 So z. B. Otto, Schröder-Gedächtnisschrift, S.53, S.56 (Fn. 13), S. 58 (Fn. 20); Altpeter, Strafwürdigkeit und Straftatsystem, Frankfurt/M. 1990, S. 37 ff. 174 175

C. Überblick über die Herleitung des ultima ratio Grundsatzes in der Literatur

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geben bzw. die Einzelprobleme werden lediglich unter den genannten Begriffen neu geordnet zusammengefasst. Inhaltlich wird dadurch aber nichts gewonnen. So ist sicher die Schuld des Täters Grundlage für seine Strafbarkeit 183. Welche Merkmale als schuldtypisch für eine bestimmte Deliktsart Bestandteile des Schuldtatbestandes sind, entscheidet sich nach der jeweils zugrunde liegenden Inhaltsbestimmung des Schuldbegriffs 184. Man kann dann natürlich die objektiven oder subjektiven Sachverhalte, die die persönliche Verantwortung des Täters erhöhen oder vermindern unter dem Gesichtspunkt der Strafwürdigkeit des Täters zusammenfassen, hat aber dadurch - außer einer neuen Bezeichnung - nichts ausgesagt, was zur Lösung des inhaltlichen Problems beitragen würde 185. Hieraus folgt, dass die Kriterien der Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit keinen eigenständigen Bedeutungsgehalt haben. Dies wird auch daran deutlich, dass es Sache des Beliebens ist, welchen der beiden Ausdrücke man welchem Problem zuordnet l86 • Daher ist es zwar nicht falsch, bestimmte "materiellrechtliche und prozessuale Institute" unter den Gesichtspunkten der Strafwürdigkeit oder Strafbedürftigkeit zu diskutieren, in der Sache ist diese Zuordnung aber überflüssig. Ebenso verhält es sich mit dem Zusammenhang zwischen der Strafbedürftigkeit und dem ultima ratio Gedanken. Ob man nun sagt, die Strafbedürftigkeit sei dasjenige Kriterium, das darüber entscheide, dass Strafe das einzige Mittel sei, um den Rechtsgüterangriff des Täterverhaltens abzuwehren oder ob man gleich sagt, der ultima ratio Gedanke ist diese Aussage, bleibt sich gleich. Man kann nämlich auch ohne Bedeutungsverlust die Aussage umdrehen: Wenn Strafe das einzige Mittel ist, um den Rechtsgüterangriff des Täterverhaltens abzuwehren, ist das Verhalten als strafbedürftig zu bezeichnen. Durch den Verweis auf die Strafbedürftigkeit hat man dem ultima ratio Gedanken nichts weiter hinzugefügt, als einen neuen Namen. Weder lässt sich aus der Strafbedürftigkeit selbst etwas ableiten noch trifft sie konkrete inhaltliche Aussagen, aus denen sich etwas hinsichtlich des ultima ratio Gedankens ableiten lässt. Vielmehr muss man trotz Verwendung der Begriffe Strafwürdigkeit bzw. Strafbedürftigkeit auf dahinterstehende Begründungen zurückgreifen. Besonders deutlich wird dies daran, dass der ultima ratio Gedanke und andere verfassungsrechtliche Prinzipien zur Begründung sowohl der Strafwürdigkeit als auch der Strafbedürftigkeit selbst herangezogen werden 187. Ein solches Im-Kreise-Drehen des Begründungszusammenhanges ist aber ein sicheres Indiz dafür, dass weder Strafwürdigkeit noch Strafbedürftigkeit vermögen, etwas über das ultima ratio Prinzip auszusagen.

183 184 185 186 187

Vgl. nur § 46 Abs. 1 StGB. Hierzu etwa Dtto, ZStW 87, S. 539, S. 586. Vgl. Dtto, Schröder-Gedächtnisschrift, S. 53, S. 67 f. Vgl. Volk, ZStW 97, S. 871, S. 899. Vgl. Altpeter, Strafwürdigkeit und Straftatsystem, Frankfurt/M. 1990, S.42 m. w. N.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

VI. Zwischenergebnis Von den Herleitungsmöglichkeiten müssen demnach das Subsidiaritätsprinzip und der Grundsatz der Erforderlichkeit einer staatlichen Maßnahme eingehender untersucht werden.

D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes Wie bereits im Überblick dargestellt 188, nimmt die herrschende Ansicht in der Strafrechts lehre an, der ultima ratio Grundsatz habe seine Wurzel im Grundsatz der Erforderlichkeit als Teil des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit staatlicher Maßnahmen. Für den Grundsatz der Erforderlichkeit als allgemeinen Rechtsgrundsatz gibt es keine Standardformulierung. Die in gesetzlichen Vorschriften, in Rechtsprechung und Literatur anzutreffenden Formulierungen weichen indessen ihrem Sinn nach nicht voneinander ab 189 • Das grundsätzliche Verständnis ist in erster Linie durch die Auslegung des Bundesverfassungsgerichts geprägt und durch die obige Darstellung 190 hinreichend beschrieben. Für das Strafrecht folgt die Beziehung zum Erforderlichkeitsgrundsatz aus der Ambivalenz der Interessenwahrnehmung und gleichzeitigen Interessenbeeinträchtigung. Einerseits haben Strafrecht und Strafprozessrecht zum Ziel, "Rechtsgüter" , die zu den in der aktuellen Staatsgemeinschaft als je verbindlich geltenden Werten in Beziehung stehen, gegenüber Angriffen und Eingriffen durch Androhung und Verhängung der staatlichen Zwangsreaktionen der Strafe und Maßregel zu schützen und zu bewähren; zum anderen beeinträchtigen gerade Verhängung und Vollzug dieser Zwangsreaktion die grundgesetzlieh auch für die Person des Beschuldigten garantierten Werte, indem sie in seine Ehre, seine Freiheit, sein Eigentum, ja insgesamt in seine Würde als Mensch vielfaltig eingreifen 191. Diese Eingriffe müssen auf das notwendige Minimum reduziert werden, um die größtmögliche Grundrechtsentfaltung sämtlicher beteiligter Interessen zu gewährleisten. Nach seiner sprachlichen Fassung führt der Grundsatz der Erforderlichkeit auf ein einziges noch zulässiges Mittel l92 und ist deshalb von Hirschberg als "scharfe Entscheidungsregel" bezeichnet worden 193. Dies ist höchstwahrscheinlich der Reiz, den der Erforderlichkeitsgrundsatz gerade auf die Strafrechts lehre ausübt und der zu seiner großen Beliebtheit als Begründung des ultima ratio Grundsatzes führte 194. Siehe oben 2. Teil, C. 11. 2. Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S.56, mit beispielhafter Darstellung der Übereinstimmung verschiedener Definitionsansätze. 190 Siehe oben 2. Teil, B. III. 3. 191 So Sax in: Die Grundrechte, Bd. III/2, S. 909, S. 909f. 192 Ebenso, Lerche, Übermaß, S. 21 ("der Idee nach"). 193 Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 58. 194 Ähnlich Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 126. 188

189

D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes

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Mit dem Erforderlichkeitsgrundsatz, so scheint es, hat man eine Handhabe, die zu eindeutigen Ergebnissen führt. Angewandt auf das Strafrecht müsse es im Ergebnis dazu kommen, dass das Strafrecht nur noch in dem Maße zum Schutz der Rechtsgüter eingesetzt werde, wie es "unbedingt" oder "absolut" erforderlich sei. Die Analyse der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum ultima ratio Grundsatz hat indessen erwiesen, dass sich dieser Grundsatz in seiner praktischen Handhabung zu einer Leerformel verwandelt l95 • Kann dies einerseits daran liegen, dass es das Bundesverfassungsgericht nicht versteht, eine nähere Konkretisierung des Erforderlichkeitsprinzips herauszuarbeiten, so ist es andererseits auch möglich, dass sich der Grundsatz gar nicht für eine konkrete Anwendung auf Strafgesetze eignet. Deshalb soll an dieser Stelle die theoretische Brauchbarkeit des Grundsatzes im Hinblick auf einen entkriminalisierenden Ansatz des ultima ratio Grundsatzes überprüft werden.

I. Der scheinbar einfache Lösungsansatz Zunächst soll kurz der - einfache - Grundgedanke, wie er insbesondere im Polizeirecht verwendet wird, veranschaulicht werden. Stehen zwei Mittel zur Auswahl, die beide zur Zielerreichung gleich tauglich, in ihrer Grundrechtsbeeinträchtigung aber verschieden intensiv sind, so folgt aus der im Grundrecht niedergelegten Wertentscheidung die Verpflichtung für den Gesetzgeber, das weniger einschneidende Mittel zu wählen 196. Solchermaßen formuliert ist das Gebot eine Folge des Abwehrcharakters der Grundrechte 197. Auf den ersten Blick erscheint das Gebot allerdings nicht nur plausibel begründet zu sein, sondern auch im Bereich seiner Anwendung klare und letztlich einfache Leitlinien zu geben. Die Minimierung des Eingriffs knüpft gedanklich an eine Skala an, auf der die verschiedenen (gleich geeigneten) Maßnahmen geordnet werden, je nach dem Grad der Belastung der Betroffenen 198. Folgender Beispielsfall soll dies verdeutlichen. Ein Hauseigentümer besitzt ein Mietshaus mit einem schadhaften Dach. Von diesem Dach gehen Gefahren für die Mietparteien aus, etwa weil es reinregnet. Die von der Behörde in Erwägung zu ziehenden Maßnahmen, deren Ausführung sie dem Eigentümer aufgeben wird, könnten wie folgt aussehen: i.

Reparatur des schadhaften Daches.

ii. Ersetzen des Flachdachs durch ein Giebeldach.

iii. Abbruch des ganzen Hauses. 195 Ossenbühl spricht vom gesamten Verhältnismäßigkeitsprinzip als einer Leerformel, vgl. Ossenbühl, Lerche-Festschrift, S. 151, S. 157. 196 Stelzer, Wesensgehaltsargument und Verhältnismäßigkeitsprinzip, S. 220f. 197 Vgl. Hotz, Zur Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von Grundrechtseingriffen, Zürich 1977, S. 33; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 100-104. 198 Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 65.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Die Belastung der Betroffenen steigt sukzessive von i. bis iii. (Bei iii. kommt noch eine zusätzliche Belastung für die Mieter, bei denen es zwar nicht mehr reinregnet, so dass die Maßnahme zur Gefahrabwendung geeignet ist, die aber anderseits keine Wohnung mehr haben.) Von den gleich geeigneten Maßnahmen ist somit i. auszuwählen, weil diese den Hauseigentümer und die Mietparteien am wenigsten belastet. Der Erforderlichkeitsgrundsatz, so scheint es, ist einfach und kommt zu einem eindeutigen Ergebnis.

11. Optimierung der Erforderlichkeit Schlink hat den Versuch 199 unternommen, auf das Gebot der Erforderlichkeit Überlegungen der Wohlfahrts ökonomie und Spieltheorie anzuwenden 2°O. Die Wohlfahrtsökonomie will in ihren Verteilungskonzepten gesellschaftlichen Nutzen als Funktion individueller Nutzen maximieren. Bentham brachte dies auf die utilitaristische Formel: "Das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl"201. Die Parallele sieht Schlink in den Abwägungsproblemen des Verfassungsrechts, bei denen es darum ginge, die Freiheits- und Verhaltensspielräume innerhalb der Gesellschaft optimal zu verteilen 202 . Das Kriterium der Verhältnismäßigkeit habe dabei eine Parallele zum Kriterium der sogenannten Pareto-üptimalität: Pareto-optimal ist eine Verteilungs lage dann, wenn kein Beteiligter bessergestellt werden kann, ohne dass ein anderer schlechter gestellt wird 203 . Ebenso kann nach Schlink die Verhältnismäßigkeit einer gesetzgeberischen Maßnahme optimiert werden 204 : Ein Eingriff des Staates in die Freiheit des Bürgers sei nur dann verhältnismäßig, wenn er notwendig ist, den vom Staat verfolgten Zweck zu erreichen 205 . Ist er nicht notwendig, dann könne die Freiheit des Bürgers unangetastet bleiben, ohne dass darum dem Staat die Verfolgung seines Zwecks versagt werden müsse. Der Bürger könne also besser gestellt werden, ohne dass der Staat schlechter gestellt wird, die Situation könne also i. S. des Pareto-Kriteriums noch optimiert werden. Schlink veranschaulicht diesen Gedanken anhand von Funktionen mit einer Xund einer Y-Achse, wie sie auch in der Spieltheorie verwendet werden 206 . Auf der X-Achse wird gewissermaßen die Stärke eingetragen, in der der Staat seinen Zweck verfolgen kann; auf der Y-Achse steht aufsteigend die Eingriffsintensität der MaßNach Dechsling, Verhältnismäßigkeit, S. 51, ist dieser Versuch "verdienstvoll". Schlink, Abwägung, S.154-191. 201 Bei Schlink, Abwägung, S. 157f. Bentham versuchte seine Fonnel auch auf das Strafrecht zu übertragen, vgl. dazu und zu den m. E. fragwürdigen Folgerungen Baurmann, Zweckrationalität und Strafrecht, S. 191 ff. 202 Schlink, Abwägung, S. 156. 203 Schlink, Abwägung, S. 173 f. 204 Schlink, Abwägung, S. 181. 205 Der Gedanke von Schlink ist bereits an dieser Stelle unlogisch, da auf jeder Seite des wenn-dann-Satzes mit "verhältnismäßig" bzw. "erforderlich" identische Kriterien stehen. 206 Schlink, Abwägung, S.182ff. 199

200

D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes

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nahme in die Freiheit des Bürgers. Die Menge der Pareto-optimalen Problemlösungen liegen auf einer Verbindungslinie zwischen einem Punkt der Y-Achse (größtmögliche Freiheit; staatliche Zweckverfolgung = 0) und einem Punkt der X-Achse (größtmögliche Zweckverfolgung; Freiheit = 0). Will der Staat einen Zweck in einem bestimmten Maße erreichen - in der Funktion hieße das, dass auf der X-Achse ein festgelegter Wert einzutragen wäre -, so muss er vom festgelegten Wert auf der X-Achse in Y-Richtung bis zu der Linie vordringen, die die Menge der Pareto-optimalen Lösungen wiedergibt, und damit die Freiheit des Bürgers in Pareto-optimaler Weise gewährleisten. Nimmt man das Beispiel des schadhaften Daches von soeben, so ist der Zweck der Behörde (Beseitigung der Gefahr) auf der X-Achse mit einem bestimmten Wert einzutragen, sagen wir der Anschaulichkeit halber 5. In Y-Richtung hätten dann die oben ins Auge gefassten Maßnahmen i.-iii. z. B. die Werte 5 (i.), 3 (ii.) und 1 (iii.). In Y-Richtung muss nun der Staat zur Zweckverfolgung bis zum höchsten Wert - 5 - vordringen (der gleichzeitig auf der Linie der Pareto-optimalen Lösungen liegt), um mit der Maßnahme i die größtmögliche Freiheit des Bürgers zu gewährleisten. Grundrechtliche Abwägungsfragen werden - so suggeriert es der Vorschlag von Schlink - zu einfachen Rechenaufgaben, die eine optimale Problemläsung gewährleisten 207 .

III. Versteckte Komplexität des Erforderlichkeitsproblems Mit dem Erforderlichkeitsgrundsatz hat der Jurist somit offenbar eine einfache Handhabe, die zu einem eindeutigen Ergebnis führt, das zudem optimal ist. Im Widerspruch dazu äußerte Forsthoff erhebliche Bedenken an der Handhabbarkeit des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf der Ebene des Gesetzgebers 208 . Der Rechtsgrundsatz klinge vernünftig und einleuchtend, in der gerichtlichen Anwendung ergäben sich aber Schwierigkeiten, wie beim Willkürverbot auch 209 . Zu diesem hatte Forsthoff festgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner umfangreichen Spruchpraxis nicht über eine Formulierung hinausgekommen sei, die im konkreten Fall "schlechterdings nichts" hergebe 2lO • Wenn es in einem gerichtlichen Verfahren zum Streit käme, könne das Gericht nur mit seiner eigenen Wertung entscheiden, die mit Subsumtion nichts zu tun habe und deshalb auch nicht als Anwendung einer allgemeinen Norm gelten könne. "Es liegt in der Natur der Sache und ist logisch erweislich, dass diese Wertung über Leerformeln nicht hinauskommen kann."211 207 Der Vorschlag ist in der Literatur auf Zustimmung gestoßen: Nach Dechsling ist das Pareto-Kriterium "ein hervorragender Ausgangspunkt für die Analyse des Erforderlichkeitsgebots", vgl. Dechsling, Verhältnismäßigkeit, S. 51. Yi will nunmehr praktisch die gesamte Verhältnismäßigkeit in Rechenformeln auflösen, vgl. Yi, Verhältnismäßigkeit, passim. 208 ForsthoJf, Der Staat der Industriegesellschaft. 209 A.a.O., S.137. 210 A. a. 0., S. 136. 211 A.a.O., S.136.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Bezüglich des Rechtsgrundsatzes der Verhältnismäßigkeit erinnert Forsthoff daran,212 dass er seine Ausprägung im Verwaltungsrecht (genauer Polizeirecht) gefunden habe. Insbesondere das preußische Oberverwaltungsgericht habe ihn entwickelt. Man müsse sich vergegenwärtigen, dass dieser Grundsatz nur innerhalb eines relativ engen und deshalb überschaubaren Rahmens praktisch werde: auf der einen Seite die der Polizei an sich zu Gebote stehenden Mittel, auf der anderen die Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. In einem solchen übersehbaren Bereich biete die Beurteilung, ob eine getroffene Maßnahme gemessen an dem verfolgten Zweck notwendig war, keine besonderen Schwierigkeiten 213 • Dies ändere sich von Grund auf, wenn der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in das Verfassungsrecht überführt werde. Die Situation des Gesetzgebers, der zur umfassenden Gestaltung berufen sei, könne mit der einer Polizeibehörde, die unter vorgegebenen Mitteln das Geeignete zur Abstellung einer Störung auszuwählen habe, schwerlich verglichen werden. Bei der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auf die Gesetzgebung fehle das enge Beziehungsnetz zwischen Normen und Fakten, das im administrativen Rahmen der Rechtsanwendung Stützen bietet. Die Rechtsanwendung laufe so auf allgemeine Würdigung und Wertungen hinaus und werde damit schließlich zur Ansichtssache. 214 Ob der Erforderlichkeitsgrundsatz eine scharfe Entscheidungsregel ist, die zu einem optimalen Ergebnis kommt - Schlink 215 -, oder ein aussageloses Vehikel darstellt, das lediglich den Gerichten dazu dient, die eigene Ansicht dem betroffenen Rechtssetzungsorgan aufzuzwingen - Forsthoff -, lässt sich nur entscheiden, wenn man das Erforderlichkeitskriterium in seine einzelnen Bestandteile zerlegt und dann genauer betrachtet. Es wird sich zeigen, dass die Definition und die Konkretisierungen durch scheinbar einfache Rechenoperationen die versteckte Komplexität des Ansatzes lediglich überspielen und nichts zur Vereinfachung des Entscheidungsvorgangs des (Straf-)Gesetzgebers beitragen.

1. Zur Voraussetzung der gleichen Effektivität Der Grundsatz der Erforderlichkeit verlangt zwei Regelungsalternativen, die "gleich effektiv", also im gleichen Grade zur Zweckerreichung tauglich sind. Bereits im Ansatz fällt es schwer, zwei unterschiedliche gesetzliche Regelungsmöglichkeiten zu denken, die "gleich effektiv" sein sollen. Unterschiedliche Regelungsmög212 A. a. 0., S. 138. 213 Entgegen Forsthoffkann auch in polizeirechtlichen Fällen eine Verhältnismäßigkeitsprü-

fung ziemlich schwierig sein, dies zeigt z.B. die Entscheidung OVGE 10, S. 341, S. 347ff. des OVG Lüneburg. 214 A. a. 0., S. 140. Ähnlich auch Ossenbühl, Lerche-Festschrift, S. 151, S. 157. 215 Die positive Bewertung des Erforderlichkeitskriteriums findet sich bei Schlink immer wieder. So heißt es etwa in Schlink, EuGRZ 1984, S. 457, S. 462: Die Geeignetheit und die Erforderlichkeit einer gesetzgeberischen Maßnahme "kann methodisch korrekt, rational kontrollierbar und dogmatisch generalisierbar überprüft werden".

D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes

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lichkeiten haben unterschiedliche Wirkungsweisen und dürften daher, sofern sie sich tatsächlich unterschieden, nie "gleich effektiv" sein. Das Problematische an der Voraussetzung der gleichen Effektivität liegt jedoch in der Effektivitätsprüfung selbst. Zwei Elemente müssen näher untersucht werden, um die Effektivität eines Mittels zu bestimmen: das Ziel, das es zu erreichen gilt (der Zweck) und die Wirkungsweise des Mittels. Bei beiden Elementen haben Strafrechtsvorschriften einen Haken. Betrachten wir die Wirkungsweise des Mittels näher. Stellen wir uns ein praktisches (tatsächlich wirkendes) Mittel vor, eines das aus der Beschreibung einer Ersatzvornahme einer Ordnungsbehörde stammen könnte, wie z. B. die oben aufgeführten Mittel i._iii. 216 • Hier sind die Wirkungsweise des Mittels und die Folgen der Anwendung mit größter Genauigkeit vorhersehbar und beschreibbar. Dementsprechend lassen sich diese Mittel problemlos zu einem (ebenfalls im tatsächlichen Bereich liegenden) Zweck in Beziehung setzen. Anders wird dies, wenn wir den Bereich der normativen Mittel zur Zweckverfolgung betrachten. Denn der Wirkungsmechanismus von Gesetzen ist wesentlich komplexer und deswegen schwerer durchschaubar 217 • Insbesondere für den Bereich des Strafgesetzes ist die Wirkungsweise völlig ungeklärt. Gemeinhin wird ein generalpräventiver Zweck des Strafrechts angenommen. Die generalpräventive Wirkung des Strafrechts war z. B. die Ausgangsbasis für das Bundesverfassungsgericht, den Einsatz des Strafrechts zur Verhinderung des Schwangerschaftsabbruchs zu fordern 218 • Typisch ist auch die Annahme von Lewisch,219 dass höhere Strafen, wenn die anderen Variablen gleich bleiben, zu einer höheren Abschreckungswirkung führen. Gerade diese Annahmen lassen sich aber nicht belegen: Gesetzlicher Strafrahmen, Wahl der Sanktionsart und richterliche Strafhöhenbemessung haben nach den einschlägigen Studien - wenn überhaupt - relativ geringes Gewicht für die Befolgung von Gesetzen 220 • Die genannten Annahmen sind typische apriori Annahmen, Annahmen also, die möglicherweise in der Natur des menschlichen Denkens begründet, wissenschaftlich aber nicht nachweisbar sind. Zwar geht man in der Kriminologie davon aus, dass die Anordnung materieller und prozessualer Strafrechtsnormen für die gegenwärtige Gesellschaft unerlässlich ist, man ist sich indessen bewusst, dass diese Annahme bislang keineswegs erwiesen ist: Weder die der Generalprävention zugeschriebene Wirksamkeit, noch der Prozess der Wirkungsentfaltung sind bislang empirisch hinSiehe oben I. Vgl. Wirksamkeit von Gesetzen: Blankenburg in: Lexikon des Rechts, 3/310. Einführend in die Komplexität HeilandlSchulte in: Muß Strafe sein?, S.61, S. 74f. 218 Siehe oben 2. Teil, B. III. 5. 219 Lewisch, Verfassung und Strafrecht, S.228. 220 Deutlich etwa Kaiser, Kriminologie (Lehrbuch), § 31 Rdn. 34: empirische Anhaltspunkte für die Effektivität strengerer Maßstäbe in der Strafzumessung liegen nicht vor. Keine der deutschsprachigen Studien, die reales Verhalten in Zusammenhang mit Aspekten der Strafverfolgung gebracht haben, hat Anhaltspunkte für beachtlich abschreckende Wirkung von Strafen ergeben, weder bezogen auf Schwere, noch auf Wahrscheinlichkeit. Vgl. etwa die Studie von Bönitz, Strafgesetze und Verhaltenssteuerung, Zusammenfassung S. 345. 216 217

8 Höffner

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

reichend belegtz 21 • Da man aber bereits über die Wirkungsweise des Strafgesetzes keine schlüssigen Aussagen machen kann, ist es auch kaum möglich, zutreffend über die Effektivität zur Zweckerreichung zu urteilen. Hinzu kommt die unsichere Zweckbestimmung bei Strafgesetzen, die in gewisser Weise mit der Unsicherheit bei der Wirkungsweise korreliert. Um die Effektivität einer Norm (oder überhaupt einer Maßnahme) beurteilen zu können, muss ein Zweck festgelegt werden, mit Hilfe dessen die Norm zu beurteilen ist 222 • Die Möglichkeit, die Effektivität der Norm zu überprüfen, hängt dann im wesentlichen von der Konkretisierung des Zwecks ab m . Wenn von den Ordnungs behörden eine Gefahr für die Sicherheit und Ordnung festgestellt wird, z. B. das oben erwähnte undichte Dach, so liegt mit der Beseitigung dieser Gefahr ein sehr konkret umschriebener Zweck vor, dessen Erscheinung im wesentlichen auf tatsächlichem Gebiet liegt. Hier fällt es leicht, den Grad der Zwecktauglichkeit der verschiedenen Mittel zu überprüfen. Anders ist es beim Mittel des Strafrechts. Die Strafrechtswissenschaft hat bisher keine konkret umschriebene verbindliche Zweckbestimmung für Strafgesetze finden können. Der Zweck des Strafrechts liegt je nach der Sichtweise in Rechtsgüterschutz, negativer Generalprävention, positiver Generalprävention, Normvertrauen der Bürger, Systemvertrauen, Spezialprävention usw. Bei der Umschreibung des Zwecks einzelner Strafrechtsnormen ist man auch weit davon entfernt, ein Ziel anzugeben, an dem der Erreichungsgrad messbar wäre. Für die Insolvenzverschleppung ist die übliche Zweckbeschreibung der Strafvorschrift die "Absicherung der zivilrechtlichen Insolvenzantragspflicht"224. Diese Formulierung lässt der Phantasie zwar viel Spielraum, ist aber nicht geeignet, die Strafvorschrift einer empirischen Effektivitätsmessung zuzuführen. Die Crux des Strafgesetzes ist, dass seine direkte Wirkung, die (Möglichkeit zur) Bestrafung des gegen die Strafnorm verstoßenden Täters, als eigentlich gar nicht gewollt gilt. Diese Folge der Strafvorschrift wird eher als notwendiges Übel betrachtet, um die Früchte der indirekten Wirkung der Strafvorschrift, z. B. Rechtsgüterschutz, ernten zu können 225 • Dieser indirekte Zweck wird aber immer zumindest so undeutlich bleiben, dass seine Erreichung nicht überprüft werden kann. Daher ist es insgesamt praktisch nicht möglich, die Effektivität von Strafgesetzen einzuschätzen 226 • 221 Eisenberg , Kriminologie, § 41 Rdn. 6. Vgl. auch die umfangreiche Studie von Bönitz, Strafgesetze und Verhaltenssteuerung, passim, S.345: "Es zeigte sich, dass die Analyse natürlicher Variation von Strafvariablen in Feldexperimenten nicht zu befriedigenden Antworten auf die Frage nach der verhaltenssteuernden Wirkung von staatlichen Strafandrohungen und -realisationen führte." 222 Vgl. Eisenberg, Kriminologie, § 15 Rdn. 5. 223 Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S.162. 224 Siehe oben VII. A. 1. 225 Vgl. Z. B. Heiland/Schulte in: Muß Strafe sein?, S. 61, S. 61; außerdem dazu Lüderssen, E. A. Wolf-Festschrift, S. 325, S. 327 f., der darauf hinweist, dass das Strafrecht am Ende das Vernünftige "paralysiert". 226 Die Kriminologie beschäftigt sich vorwiegend mit der Messung der (positiven sowie negativen) Generalprävention und der (ebenfalls sowohl positiven als auch negativen) Spezial-

D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes

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Kennt man nach alledem bereits die Effektivität einer Strafvorschrift nicht, ist es naturgemäß unmöglich, ein "ebenso effektives Mittel" nennen zu können. Wenn das Bundesverfassungsgericht im Rahmen der ErforderlichkeitspTÜfung regelmäßig ausführt, es sei nicht ersichtlich, dass ein gleichwertiger Schutz der Rechtsgüter anders als durch strafrechtliche Sanktionierung bewirkt werden könne, ist diese Aussage zwar nicht falsch im eigentlichen Sinne; denn das Gericht stellt sich lediglich eine Frage, die nicht (weder positiv noch negativ) beantwortet werden kann. Es fragt sich aber, warum das Gericht ein derartig sinnloses Unterfangen überhaupt durchführt.

2. Zur Voraussetzung des mildesten Mittels bei mehreren Beteiligten Aber nicht nur die Effektivitätsmessung, sondern auch die Bestimmung des "mildesten Mittels" ist schwieriger, als es auf den ersten Blick scheint. Im obigen Beispiel mit dem schadhaften Dach waren als denkbare Maßnahmen i.-iii. lediglich solche vorgeschlagen, die die jeweils Betroffenen in gleicher Weise schwächer oder stärker belasten. Es ist hier einfach zu entscheiden, welches für die Betroffenen das mildeste Mittel ist. Anders und komplizierter wird dies, wenn der Kreis der Betroffenen größer und unüberschaubarer wird und die verschiedenen für die Problemlösung zur Verfügung stehenden Maßnahmen die jeweils Betroffenen in unterschiedlicher Weise belasten. Vor einer solchen komplexeren Entscheidungssituation wird der Gesetzgeber in aller Regel stehen. Ein einfaches Beispiel veranschaulicht diesen Sachverhalt: Zwei Mittel stehen zur Zweckerreichung zur Verfügung. Das eine belastet A, das andere B. Welches das objektiv mildere Mittel ist, lässt sich bereits in dieser (überschaubaren) Situation nicht mehr sagen, obwohl freilich sowohl A als auch B das den jeweils anderen belastende Mittel als milder angeben würden. Der Erforderlichkeitssatz bietet hier keine Entscheidungshilfe, sondern muss durch ein zusätzliches Auswahlkriterium ergänzt werden, das dann freilich einer objektiven Prüfung nicht mehr zugänglich ist. Das Problem der Auswahl des Betroffenen hat Hirschberg daher als "offene Stelle des Modells der Erforderlichkeit" bezeichnet227 • Für Strafgesetze bietet der Erforderlichkeitsgrundsatz daher dann kein Entscheidungskriterium, wenn, wie für gewöhnlich, als Regelungsalternativen solche zur Debatte stehen, die andere Personen oder Personengruppen belasten als den späteren Täter. Dies ist etwa die Konstellation bei der Streitfrage, ob zur Vermeidung der Wirtschaftskriminalität zum Mittel des Strafrechts oder zu nicht-strafrechtlichen Kontrollen des Wirtschaftslebens z. B. durch Wirtschaftsverwaltungsrecht mit umprävention, vgl. Göppinger, Kriminologie, S.158f. Vgl. zu den theoretischen Schwierigkeiten der Kriminologie Karstedt, Normbindung und Sanktionsdrohung, S.22ff.; Göppinger, Kriminologie, S. 158 f., S. 162; Kaiser, Kriminologie (Lehrbuch), § 31 Rdn. 34 ff.; Eisenberg , Kriminologie, § 15 Rdn.8. 227 Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S. 68. 8*

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

fassenden Melde-, Genehmigungs- und Zuverlässigkeitsprüfungsverfahren USW. 228 zu greifen ist. Letztere Maßnahmen belasten alle Wirtschaftler, während die strafrechtliche Lösung nur den jeweiligen Täter trifft. Hier lässt sich trefflich streiten, ob das Wirtschaftsstrafrecht, weil es den Teilnehmern am Wirtschaftsprozess grundsätzlich die größere Freiheit lässt, Vorrang vor dem "gängelnden" Wirtschaftsverwaltungsrecht hat 229 , oder ob das Mittel des Strafrechts, weil es im Verdachtsfalle noch viel weitergehende Kontrollmöglichkeiten eröffnet und einzelne Bürger schwerwiegenden Eingriffen aussetzt, erst dann legitim ist, wenn die wirtschaftsinternen Steuerungsmöglichkeiten gänzlich versagen 230. Das Kriterium der Erforderlichkeit jedenfalls kann zur Entscheidung dieser Frage nichts beitragen, da es nicht feststellen kann, welches der beiden Mittel das mildere isr231 • Hier bedarf es eines zusätzlichen Abwägungsarguments, etwa der Hinweis von Weber, dass erst dann, wenn ein bestimmter Rechtsbereich mit Präventivnormen und -maßnahmen lückenlos abgedeckt ist, also dem einzelnen genau gesagt wird, was er zu tun und zu lassen hat, schädigende Zuwiderhandlungen einen so hohen Unrechts- und Schuldgehalt aufweisen, dass der Einsatz des Strafrechts gerechtfertigt ist 232 • Erst mit diesem zusätzlichen Argument ist es möglich, den ultima ratio Satz, Vorrang der Präventivmaßnahmen vor Strafrecht, stichhaltig zu begründen 233 • Ist es bereits nicht möglich, die Effektivität von Strafrechtsvorschriften zu benennen, so ist es außerdem in den allermeisten Fällen nicht möglich festzustellen, ob Alternativmaßnahmen "milder" sind. Der Satz, auf das Strafrecht muss verzichtet werden, wenn dem Gesetzgeber mildere Mittel mit gleicher Effektivität zur Verfügung stehen, ist praktisch bedeutungslos, weil seine einzelnen Bestandteile nicht überprüfbar sind. Das Merkmal der Erforderlichkeit kann gar kein Kriterium sein, das dem Gesetzgeber Grenzen der Kriminalisierung aufzeigt.

228 Vgl. zu den den präventiven Maßnahmen der Sozialkontrolle im Bereich der Wirtschaftskriminalität Heinz, ZStW 96, S,417, S,438f. 229 So insbesondere Müller-Emmert, GA 1976, S. 291, S. 301; Tiedemann, JZ 1986, S. 865, S.866; Weber, ZStW 96, S.376, S.380f.; ähnlich Dtto, MschrKrim, 65 (1980), S.397, S.403 f.; ders., ZStW 96, S. 339, S.362. Allgemein (unabhängig vom Wirtschaftsstrafrecht) in diese Richtung: Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 345. 230 So F. Herzog, Unsicherheit, S. l2lf. Ähnlich Volk, JZ 1982, S. 85, S. 88. 231 Anders offenbar Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 346 f., der seine Auffassung als "unstreitig" (S. 348) bezeichnet. Demzufolge kommt es beim Vergleich der beiden Maßnahmen auf den "Durchschnitt der Anwendungsfalle" an. Bezugspunkt müsse die Gesamtheit der Normadressaten sein. Er erkennt dabei nicht das eigentliche Problem, dass die jeweiligen Normadressaten bei den zu vergleichenden Regelungen jeweils andere sind. Ferner ist unklar, was die "durchschnittliche Eingriffsintensität" sein soll, wenn z. B. bei 100 Normadressaten I Strafe verhängt wird. Diese Durchschnittssichtweise ist für die punktuelle Strafverhängung nicht anwendbar. 232 Weber, ZStW 96, S. 376, S. 380. 233 Vgl. auch Volk, JZ 1982, S. 85, S. 88.

D. Die Erforderlichkeit des Strafgesetzes

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3. Optimierungsprobleme Überhaupt ist es bedenklich, die staatlichen gesetzgeberischen Entscheidungen dahingehend zu überprüfen, ob sie "optimal" sind, wozu auch das Erforderlichkeitskriterium dienen so1l234. Die komplexe Entscheidungssituation des Gesetzgebers ist dadurch gekennzeichnet, dass sie viele "Variable" aufweist. Maximen mit mehreren Variablen wie diejenige von Bentham (größtmögliches Glück der größtmöglichen Zahl) können vielleicht zur allgemeinen Handlungsorientierung dienen und besagen dann: bedenke bei deinen Entscheidungen den notwendigen Aufwand und den erreichbaren Erfolg und wäge ab. Als Entscheidungsregeln sind sie jedoch nicht verwendbar 235 • Ein leitendes Prinzip kann nicht durch die Forderung zwei oder mehr Funktionen (größtes GlÜCk/größte Zahl) zu maximieren, formuliert werden. Genau genommen ist eine derartige Formulierung ein Widerspruch in sich. Im allgemeinen besitzt eine Funktion dort ein Maximum, wo die andere keines besitzt 236 . Solche Optimierungsprobleme sind nur lösbar, wenn es nur eine Variable gibt. Die Wirtschaftswissenschaftler formulieren daher korrekt: "Verwende gegebene Mittel so, dass du damit den höchsten Ertrag erzielst"; oder: "Erreiche einen gegebenen Zweck mit dem geringsten Aufwand."23? Für die Überprüfung der gesetzgeberischen Entscheidung würde dies bedeuten, dass er bei einer Variablen - im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung wäre das die Zweckbestimmung - freie Hand haben muss, damit seine Entscheidung hinsichtlich ihrer "Optimalität" überprüft werden kann. Dieser Zweck kann dann problemlos so umschrieben werden, dass genau das gewählte Mittel als der geringste Aufwand erscheint. Beim Strafrecht hieße der Zweck Bekämpfung dieser und jener Kriminalitätsform. Mit dieser Zweckbestimmung ist die geschaffene Strafvorschrift optimal zur Zweckerreichung. Die gesamte gesetzgeberische Entscheidung in ihren einzelnen Schritten lässt sich nicht als eine Frage der Optimierung auffassen, da die Zweckbestimmung immer ein Teil der Entscheidung neben dem zu wählenden Mittel ist und damit bei jeder Entscheidung mehrere Variable auftauchen. Ob sich überhaupt eine gesetzgeberische Entscheidung darauf untersuchen lässt, ob sie optimal ist, mag dahingestellt sein. Für die Entscheidung des Gesetzgebers eine Strafvorschrift zu schaffen, trifft dies jedenfalls nicht zu.

IV. Ergebnis Nach einer rasanten Ausbreitung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit auf das gesamte öffentliche Recht und auf andere Rechtsgebiete und seiner "Hochzo234 Vgl. allgemein kritisch zur Herleitung von Optimierungsgeboten aus der Verfassung, Lerche, Stern-Festschrift, S. 197, passim; zum Erforderlichkeitsgrundsatz S. 208 f. 235 Vgl. hierzu Hirschberg , Verhältnismäßigkeit, S. 68. 236 von NeumannlMorgenstern, Spieltheorie, S. 11. 237 Vgl. Gräfgen, Wirtschaftliche Entscheidung, S. 102.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

nung auf die Verfassungsebene" ist in der staatsrechtlichen Literatur eine Phase der Besinnung eingetreten 238 . Die Kritik am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz fasst Ossenbühl dahingehend zusammen, dass dieser Grundsatz - im Übermaß angewandt - "zu einer Knochenerweichung der Rechtsordnung, zur Einsetzung von weichen Topoi an die Stelle harter Direktiven, Maßstäbe und Strukturen" führt. "In die Leerformel des Verhältnismäßigkeitsprinzips werden Zwecksetzungen, Zweckwertungen, Tatsachenfeststellungen, Prognosen und Einschätzungen eingespeist und in einem schwer rationalisierbaren Vorgang miteinander in Beziehung gesetzt."239 Diese Phase der Besinnung hat die Strafrechtler noch nicht erreicht. Dort wird mit unverminderter Kraft den zu erwartenden Heilswirkungen des Erforderlichkeitsprinzips gehuldigt 240 . Wie dargelegt ist diese Hoffnung jedoch gänzlich unbegründet. Das Erforderlichkeitsprinzip mit seiner an Scheinrationalität erinnernden Argumentationsstruktur führt lediglich dazu, die wahren Probleme zu verdecken. Vom Erforderlichkeitsprinzip können insbesondere keine Kriterien abgeleitet werden, die dazu taugen, den ultima ratio Satz zu begründen oder sonst dem Gesetzgeber Grenzen der Kriminalisierung aufzuzeigen. Für die hier zu entscheidende Frage ist der Erforderlichkeitssatz daher wertlos.

E. Das Subsidiaritätsprinzip Weiterer Ansatzpunkt für die Begründung des ultima ratio Grundsatzes ist das Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip ist eine fundamentaltheoretische 238 Ossenbühl, Lerche-Festschrift, S. 151, S. 163. V gl. außerdem kritisch zum Verhältnismäßigkeitsprinzip: Schnapp, JuS 1983, S. 850, S. 850; Ress in: Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in europäischen Rechtsordnungen, S. 5, S. 5. 239 Ossenbühl, Lerche-Festschrift, S.151, S.157. Vgl. auch BVerfGE 92, S.277, S.327: "Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne enthält als solcher aber keine inhaltliche Aussagen darüber, welche Auswirkungen und Bedingungen eines staatlichen Eingriffs in die Abwägung einzubeziehen sind und wann ein Mittel verhältnismäßig ist und wann nicht." 240 So untersucht letzthin Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 126-160, das Erforderlichkeitsprinzip näher und erkennt dabei, dass es bislang nicht richtig gehandhabt wird (S.127f.). Um das Erforderlichkeitsprinzip dennoch "zu konkretisieren und operationalisierbar" zu machen, sammelt er Neben- und Folgewirkungen von Strafgesetzen, wobei er sein Augenmerk "verstärkt auf den negativen Folgen" legt, "die im Sinne einer kritischen Ergänzung des Effektivitätsmastabes als Basis der Erforderlichkeitsprüfung dem eher unkritischen Maßstab des Gesetzgebers hinzuzufügen ist." Diese seien dann "als abstrahierte Größen in jeder Reflexion über die Gesamtwirkung einer gesetzgeberischen Maßnahme zu bedenken" (S.129f.). Wieso nun aber durch diese Liste von Neben- und Folgewirkungen (die weit davon entfernt ist, auch nur exemplarischen Wert zu haben) das Erforderlichkeitskriterium "operationalisierbar" machen soll bleibt ebenso dunkel, wie auch die Gründe für die bislang nur mangelhafte "Operationalisierbarkeit" nicht erhellt werden. Hier wirkt offenbar der dunkle Glaube an die Heilswirkungen des Erforderlichkeitsprinzips, der immer noch versucht, durch Verbesserungen des Prinzips, zu gewünschten Ergebnissen zu kommen.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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Grundaussage mit sozialuniversalem Anspruch 241 • Die Idee der Subsidiarität ist ihrem Wesen nach nicht neu 242 , seine Herkunft lässt sich über Aquin und Augustinus bis zu Aristoteles zurückverfolgen 243 • Philosophischer Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips ist die neuscholastische Naturrechtsdoktrin 244 •

I. Allgemeiner Aussagegehalt Das Subsidiaritätsprinzip ist eine Zuständigkeitsregel für die gesellschaftliche Ordnung 245 • Geltung entfalten soll es für das Verhältnis von Staat bzw. Gesellschaft zu kleineren Gemeinschaften und zum Individuum 246 • Allgemein wird zwischen einer positiven und einer negativen Aussage unterschieden 247 : Nach der positiven Seite des Subsidiaritätsprinzips soll die Gemeinschaft ihren Gliedern (hilfreichen) Beistand leisten. Dieser Beistand bezieht sich auf Angelegenheiten, die die Glieder allein nicht bewältigen können. Die Gemeinschaft ist dazu da, ihren Gliedern hilfreich zu sein ("Subsidium" = lateinisch für Hilfeleistung), ihnen Vorteile oder Nutzen zu bringen. Also soll sie tun, was den Gliedern förderlich, vorteilhaft, nützlich ist, aber auch nur solches: was immer den Gliedern abträglich, für sie nachteilig oder schädlich wäre, das hat sie zu lassen 248 • Nach der negativen Seite darf daher eine größere Gemeinschaft keine Aufgabe übernehmen, die eine kleinere (oder der einzelne) nicht ebenso gut erfüllen kann ("Funktionssperre"). Das Subsidiaritätsprinzip sieht die Menschheit als eine Art Pyramide, deren unterste Stufe der Einzelmensch ist. Dieser formiert sich dann mit anderen zu immer größeren Gruppen, bis schließlich als letzte und höchste Stufe der Staat (oder auch die Menschheit, sofern diese eine "Gruppe" bildet) erreicht ise49 • Das Subsidiaritätsprinzip weist innerhalb dieser Pyramide der je unteren gesellschaftlichen Ebene den Vorrang im Handeln zu, soweit deren Kräfte ausreichen 250 • 241

L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft - Erfolgreiche Gesellschaft, S. 19.

R. Herzog, Der Staat 2 (1963), S. 399, S. 399. Pieper, Subsidiarität, S. 46 ff. 244 Vgl. dazu Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 21 ff. m. w. N. 245 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 89; Hengstenberg in: Utz, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 19, S. 19. 246 Pieper, Subsidiarität, S. 36 f. 247 Vgl. etwa: von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 94 ff. mit beispielhaften, dabei aber sehr pauschalen Erläuterungen, was die Gesellschaft leisten soll und was der einzelne; L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft - Erfolgreiche Gesellschaft, S. 27 ff. Demgegenüber bezeichnet Isensee in seiner Untersuchung gemäß dem Sprachgebrauch von "Quadragesimo anno" - dazu noch unten - nur den negativen Aspekt als Subsidiaritätsprinzip, vgl./sensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 30. 248 von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 79. 249 Vgl. Küchenhoffin: Utz, Das Subsidiaritätsprinzip, S.70, S. 81 f.; Hengstenberg in: Utz, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 19, S. 28. 250 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 28. 242 243

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Die von den Menschen gebildeten Gemeinschaften und Vereinigungen besitzen demnach das Recht, die je eigenen Aufgaben und Ziele mit eigenen Kräften zu verwirklichen. Wenn eine kleinere Gemeinschaft dazu nicht in der Lage ist und der Unterstützung und Förderung bedarf, dann hat sie einen Anspruch, diese von der weiteren Gemeinschaft zu erhalten. Nur wenn die Gemeinschaften wie die Familie, die Gemeinde, die Betriebe, die Vereine und Organisationen ihre Aktivität in eigener Zuständigkeit und Verantwortung, in eigener Initiative entfalten können und dabei nicht von größeren Gemeinschaften gemaßregelt werden, bleibt auch der Dienstcharakter der Gesellschaft gegenüber dem Menschen gewahrt: Die Gesellschaft muß sich von den Personen her, von unten nach oben, nicht von oben her, von den Behörden und Machtzentren her aufbauen 251.

11. Wurzeln des Prinzips Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Geschichte des Subsidiaritätsprinzips sehr weit zurück reicht. Nell-Breuning ist der Ansicht, der Gedanke, "alles, was die Gemeinschaft tut, sollte für ihre Glieder Wohltat und nicht Plage sein, und eben deswegen hat die Gemeinschaft alles zu unterlassen, was für ihre Glieder nicht Wohltat, sondern Plage wäre" sei aufgrund seiner Einfachheit und Vernünftigkeit so alt wie die Menschen selbse52 . Und in der Tat lassen sich an verschiedenen Stellen der europäischen Geistesgeschichte Formulierungen finden, die an das Subsidiaritätsprinzip erinnern. Erste Anklänge an das Subsidiaritätsprinzip gibt es bei Aristote1es und bei Augustinus; eine Fortentwicklung des aristotelischen Gedankens findet man in der Scholastik bei Thomas von Aquin 253 • Immer wieder gern wird von Verfechtern des Subsidiaritätsprinzips ein Ausspruch des 16. Präsidenten der USA, Lincoln, genannt: "Die Regierung hat für die Bevölkerung das zu besorgen, wonach die Leute ein Bedürfnis haben, was sie aber selbst überhaupt nicht tun können oder doch, auf sich selbst gestellt, nicht ebenso gut tun können. In all das was die Leute ebenso gut selber tun können, hat die Regierung sich nicht einzumischen. "254 Bei alledem handelt es sich aber um alleinstehende Äußerungen, die nicht als geschlossene Theorie bezeichnet werden können. Auch die als "klassische Stelle für die biblische Begründung"255 der Subsidiarität bezeichnete ist wohl eher als Zufallsprodukt zu deuten, denn als Ausformung einer Theorie: Im Buch Exodus 18, 18-22 gibt Jetro dem Mose folgenden Rat: "Du reibst dich ja vollständig auf, dich selbst und das Volk, das bei dir ist; denn die Aufgabe überschreitet deine Kräfte, du kannst Rauscher in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 5, S. 387. von Nell-Breuning, Baugesetze der Gesellschaft, S. 86f. 253 Vgl. hierzu Pieper, Subsidiarität, S. 46 f. m. w. N. 254 Zit. nach von Nell-Breuning, Subsidiaritätsprinzip in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 7, Sp. 828, mit englischem Originaltext. 255 L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft - Erfolgreiche Gesellschaft, S. 19. 251

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E. Das Subsidiaritätsprinzip

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sie allein nicht bewältigen. Höre jetzt auf mich! Ich will dir einen Rat geben: ... Du aber suche dir aus allen Leuten richtige gottesfürchtige und zuverlässige Männer aus, die der Bestechung nicht zugänglich sind, setze sie als Vorsteher über je eintausend, über je einhundert, über je fünfzig und über je zehn! ... Nur alle wichtigen Sachen sollen sie vor dich bringen, alles Geringfügige aber sollen sie selbst entscheiden! Entlaste also dich selber und lass jene mit dir die Verantwortung tragen! Wenn du es so machst und auch Gott es dir so befiehlt, dann kannst du bestehen und auch dieses Volk wird befriedigt heimgehen." Die Liste derartiger Äußerungen ließe sich noch bedeutend verlängern. Allen Stellen ist gemein, dass der Gedanke der staatlichen Subsidiarität anklingt, aber ebenso, dass aus diesen Stellen keine wissenschaftliche Theorie entsprungen ist. Eine Aufzählung führt daher zu nichts weiter als der Erkenntnis, dass der hinter dem Subsidiaritätsprinzip stehende Gedanke bei Überlegungen zum Staatsaufbau als "naheliegend" angesehen werden kann. Eine theoretische Fundierung lässt sich dagegen erst in der Neuzeit belegen. Für das Subsidiaritätsprinzip lassen sich drei Stränge unterscheiden: philosophische Staatslehre, insbesondere Föderalismus und Liberalismus, Naturrecht und katholische Soziallehre. Diese drei Linien sind jedoch nicht streng voneinander getrennt, beschäftigen sie sich doch alle drei mit den Regeln zum Aufbau von Gemeinschaften.

1. Staatsphilosophisches Gedankengut (Föderalismus und Liberalismus) Althusius (1557-1638) gilt in der Fachliteratur als erster moderner Theoretiker des Föderalismus 256 • Er umschreibt den Gesellschaftspakt als einen konsozialen Einigungsbund, durch welchen sich die symbiotischen Gesellschaftsmitglieder auf die gegenseitige Kommunikation alles dessen verpflichten, was für ein harmonisches Sozialleben nützlich und notwendig ist. Politik wird als horizontale Partnerschaft definiert. Der Herrschaftsvertrag ist als ein Mandatsverhältnis umschrieben, in dem der Herrscher nur diejenigen Befugnisse erhält, welche ihm explizit zuerkannt worden sind. Alles andere verbleibt in gesellschaftlicher Kontrolle nach dem nun genauer bestimmten Zweck subsidiärer Herrschaftsvermutung, wonach ein Gemeinwesen um so stabiler erscheint, je weniger Macht seine Herrscher besitzen. Nach Althusius ist damit die subsidiäre Verankerung aller Herrschaftsmacht die verfassungsmäßige Grundlage des Gemeinwesens. 257 Dabei gilt immer und auf jeder Regierungsebene des zusammengesetzten Gemeinwesens, dass dem Volk Vorrang und Oberherrschaft gegenüber den Regierenden gebührt, denn "jede verfassungs geben256 Hüglin in: Subsidiarität, S. 97, S. 99. Vgl. zu Althusius auch lsensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 37 ff. 257 Nach Hüglin in: Subsidiarität, S. 97, S. 106, dort die Angabe der lateinischen Originalzitate (Fn. 26 ff.).

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

de Gewalt besteht zuerst und hat Vorrang vor dem, was durch sie konstituiert wurde".258 Gilt Althusius als föderaler Staatsdenker und kann man den Föderalismus neben Regionalismus und kommunaler Selbstverwaltung als eine subsidiaritätsnahe staatliche Organisationsform bezeichnen 259 , so klingt aus seinem System gleichzeitig ein anderer staatsphilosophischer Grundgedanke an: der Liberalismus. Der neuzeitliche Liberalismus 260 ist ein Kind der Aufklärung, die das Individuum in den Mittelpunkt des sozialen Daseins rückte. Im 18. Jahrhundert stimmten die philosophische Lehre von der sittlichen Autonomie des Einzelnen, die politische Forderung nach individuellen Grund- und Freiheitsrechten und die nationalökonomische Theorie darin überein, dass sich durch wohlverstandene Wahrung der Eigeninteressen, die sich in freiem Wettbewerb begegnen, von selber ein wohleingespieltes Wirtschaftsleben entwickle. Diese Lehren vereinigten sich in der Tendenz, die Macht des Staates zu beschränken. Diese frühliberale Staatsauffassung hat im Jugendwerk Wilhelm von Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen"261 von 1792 eine plastische Darstellung gefunden. Für Humboldt muss "der wichtigste Gesichtspunkt des Staats immer die Entwicklung der Kräfte der einzelnen Bürger in ihrer Individualität sein"262. Er unterscheidet grundsätzlich "positive" und "negative" Tätigkeit (bei Humboldt: "Sorgfalt") des Staates. Die zentrale Frage sei, "ob der Staat allein Sicherheit oder überhaupt das ganze physische Wohl der Nation beabsichtigen müsse", ob der Staat sich also auf die "negative" Tätigkeit, Schutz der Freiheit vor rechtswidrigen Störungen, beschränken muss oder "positiv" zur Beförderung der Wohlfahrt tätig werden so1l263. Für die Beantwortung dieser Frage geht Humboldt vom Menschenbild der Aufklärung aus: "Der wahre Zweck des Menschen ... ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist Freiheit die erste und unerlässliche Bedingung."264 "Die wahre Vernunft (kann) dem Menschen keinen andren Zustand als einen sol258 Nach Hüglin in: Subsidiarität, S. 97, S.107, dort mit Angabe des lateinischen Originalzitats (Fn. 31). 259 Vgl. hierzu Häberle in: Riklin/Batliner, Subsidiarität, S. 267, S. 287-290. Zum Zusammenhang zwischen Föderalismus und Subsidiarität ferner Lecheler, Das Subsidiaritätsprinzip, S.36-41. 260 Vgl. kurz und übersichtlich zu liberalen Ideen und zum liberalistischen Staatstypus Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 29 11. 261 Zitiert nach der Ausgabe .. Über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates", Nürnberg 1954, mit einer Einführung von Rudolf Pannwitz. Zur Entstehungsgeschichte (und zu strafrechtlichen Aspekten) F. Herzog, KritV 1993, S. 247, S. 248 f., der darauf hinweist, dass die radikale Kühnheit der Schrift auf Dispute v. Humboldts mit dem Koadjutor des Erzstifts Mainz Karl von Dalberg zurückzuführen ist, der eine fest im katholischen Glauben verwurzelte Gegenposition zu den v. Humboldtschen Thesen einnahm. 262 v.Humboldt, Ideen, S.197. 263 v.Humboldt, Ideen, S.28. 264 v. Humboldt, Ideen, S. 30.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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chen wünschen, in welchem ... jeder Einzelne der ungebundensten Freiheit genießt, sich aus sich selbst, in seiner Eigentümlichkeit zu entwickeln"265. Daher sei jedes Bemühen des Staates, sich in die Privatangelegenheiten der Bürger einzumischen verwerflich, es sei denn dieses Bemühen hätte einen "unmittelbaren Bezug auf die Kränkung der Rechte des einen durch den anderen"266. Nach Humboldt ist jede Staatstätigkeit der Entfaltung des Menschen abträglich. "Gerade die aus der Vereinigung mehrerer (Menschen) entstehende Mannigfaltigkeit ist das höchste Gut, welches die Gesellschaft gibt". Weil der Staat Einförmigkeit bringt, gehe diese Mannigfaltigkeit "gewiss immer in dem Grade der Einmischung des Staates verloren"267. Da der Staat, "nicht umhin kann, der Entwicklung der Individualität hinderlich zu werden" soll er "nie, außer dem Fall einer absoluten Notwendigkeit" tätig sein 268 . Die Entscheidung, was zu dieser absoluten Notwendigkeit zu zählen ist, ergibt sich für Humboldt aus dem Gedanken der Subsidiarität: Der Staat soll für die Menschen nur das tun, "was sie allein nicht selbst sich zu verschaffen vermögen" und dies ist die Gewährleistung der Sicherheit (also die von Humboldt so genannte "negative Seite" der Staatstätigkeit)269; "Der Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst und gegen auswärtige Feinde notwendig ist; zu keinem anderen Endzwecke beschränke er ihre Freiheit."270 Diese Beschränkung der Staatstätigkeit auf subsidiäre Aufgabenwahrnehmung ist nach Humboldt "das einzig wahre und untrügliche Mittel, scheinbar widersprechende Dinge, den Zweck des Staates im Ganzen und die Summe aller Zwecke der einzelnen Bürger durch ein festes dauerndes Band freundlich miteinander zu verknüpfen."27l Nach der liberalen Staats auffassung ist Staatlichkeit immer nur legitim, soweit sie subsidiär ist. Das Subsidiaritätsprinzip ist der Grundgedanke der liberalen Lehre von der Rechtfertigung und den Aufgaben des Staates 272 •

2. Begründung im Naturrecht Das Subsidiaritätsprinzip bildet auch im Naturrecht eine zentrale Leitregel für den Aufbau der Gesellschaft. Traditionell werden alle Versuche, überpositive Normen zu begründen unter dem Begriff des Naturrechts zusammengefasst 273 • In der heutigen Diskussion wird unter diesem Begriff die Gesamtheit der praktischen v. Humboldt, Ideen, S. 35 f. v. Humboldt, Ideen, S. 37. 267 v. Humboldt, Ideen, S. 39. 268 v. Humboldt, Ideen, S. 52 f. 269 v.Humboldt, Ideen, S.197. 270 v.Humboldt, Ideen, S.59f. 271 v.Humboldt, Ideen, S.197. 272 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.45 m. w. N. 273 Seelmann, Rechtsphilosophie, § 8 Rdn. 1. 265

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(= auf menschliche Handlungen bezogenen) Grundsätze verstanden, die der

Mensch aus eigener Vernunft erkennen kann 274 • Das Subsidiaritätsprinzip wird als eine unmittelbar aus dem Naturrecht des Menschen auf freie und volle Entfaltung der Persönlichkeit abgeleitete Norm des Naturrechts und damit als vorstaatlicher, überpositiver Rechtssatz betrachtet 275 • Wesensmäßig soll sich nach den Verfechtern des Naturrechts die Bindungswirkung des Subsidiaritätsprinzips auf alle Gemeinschaften und ihre Organe erstrecken 276 • Messner gibt folgenden Begründungszusammenhang an: Nach dem Naturrecht findet die Gesellschaft ihren Seinsgrund und ihre Seinsordnung in der Natur des Menschen 277. Der Mensch ist zwar einerseits ein Einzelwesen, ebenso sehr aber auch ein Gesellschaftswesen: vermöge seiner Kommunikations- und Kooperationsfahigkeit ist der Mensch auf Ergänzung und Gesellschaftlichkeit angelegt 278 • Der Zweck der Gesellschaft besteht in der Hilfe, die die Menschen zur eigenverantwortlichen Erfüllung der in den existentiellen Zwecken begründeten Lebensaufgabe benötigen 279 • Diese Hilfe wird Gemeinwohl (auch Gemeinnutzen oder Sozialwohl) genannt, da sie durch die Verbundenheit aller ermöglicht und von allen benötigt wird 280 • Die Rechtsordnung stellt demnach im Grunde eine Gemeinwohlordnung dar: Ordnung der Gesellschaft, gefordert durch die von allen ihren Gliedern benötigte Hilfe bei der ihnen durch ihre existentiellen Zwecke gestellten, daher in Eigenverantwortung zu erfüllenden Lebensaufgabe 281 • Die Gesellschaft soll nur die Erfüllung der der menschlichen Eigenverantwortung gestellten Aufgaben ermöglichen. Deshalb ist das Gemeinwohl seiner Natur nach nur Hilfe im Dienste solcher Aufgaben: es ist subsidiären Wesens 282 • Dieses Subsidiaritätsprinzip bedeutet, dass das Gemeinwohl für die Gesellschaft keine Zuständigkeiten und Berechtigungen begründet in dem, was der Einzelmensch oder die Gliedergesellschaft aus eigener Kraft zu tun vermögen 283 • Seelmann, Rechtsphilosophie, § 8 Rdn.2. Vgl. Küchenhoffin: Utz, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 70, S. 77 f. m. w. N. 276 Kalkbrenner, Küchenhoff-Festschrift, Bd.2, S.515, S.527. 277 Messner, Naturrecht, S. 152f. 278 Messner, Naturrecht, S.150f. Diese (zugleich Individual- und Sozial-) Doppelnatur des Menschen wird Naturrechtlich auch als einfacher Erfahrungssatz begründet: Im menschlichen Leben gibt es Zeiten der Abhängigkeit und der Belastbarkeit, somit Relationen der individuellen Freiheit und solche der Mitverantwortung. Der Mensch als Kind ist zunächst von seiner Familie abhängig, doch Jahr um Jahr wird er reifer, der Jugendliche wird erwachsen. Der Erwachsene erarbeitet seinen Lebensunterhalt für sich und die, die vorher mit ihm teilten; er legt sich und seine Kraft zusammen und gibt Leben an andere weiter. Der alte Mensch hat angespart, doch für sein Auskommen im Alter garantieren nunmehr die Jungen. Das ist im Sozialen wie im Kulturellen so, das ist das Recht aufRecht und Schutz des Rechts durch die nächstgrößere Gemeinschaft - so durch Familie, Nachbarschaft, Gemeinde, Staat usw. So Wichmann in: Timmerrnann (Hrsg.), Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, Berlin 1998, S. 7, S. 7 f. 279 Messner, Naturrecht, S.189. 280 Messner, Naturrecht, S. 189. 281 Messner, Naturrecht, S. 290. 282 Messner, Naturrecht, S. 294 f. 283 Messner, Naturrecht, S. 295. 274

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E. Das Subsidiaritätsprinzip

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Dem naturrechtlichen Subsidiaritätsprinzip liegt damit der Gedanke zugrunde, dass der Mensch der Träger, Schöpfer und das Ziel aller gesellschaftlichen Einrichtungen ist. Nicht die Gesellschaft, nicht die Behörde, nicht die Experten, sondern die Menschen selbst sind die Akteure und die verantwortlichen Träger des gesellschaftlichen Lebens. Sie sollen daher auch Struktur und Richtung, Ausmaß und Dichte der Gesellschaftsprozesse bestimmen. 284 Das Gemeinwesen hat seine Rechtfertigung darin, dass es die Entfaltung der Persönlichkeit ermöglicht 285 • Die Gemeinschaft sollte daher eine Struktur aufweisen, die ein Optimum solcher Persönlichkeitsentfaltung gewährleistet. Aus der Forderung nach größtmöglicher Selbstbestimmung folgt der Subsidiaritätsgrundsatz als Strukturprinzip für die Gemeinschaftsordnung 286 •

3. Katholische Soziallehre Das Subsidiaritätsprinzip ist neben dem Solidaritätsprinzip das beherrschende Prinzip, nach dem die katholische Soziallehre 287 und in ihrem Gefolge auch eine Reihe politischer Programme 288 das Verhältnis von Individuum und Staat, das Verhältnis von Gesellschaft und Staat und schließlich den inneren Aufbau des Staates und der Gesellschaft geregelt wissen wollen 289 • Das Subsidiaritätsprinzip gründet So Rauscher in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, Bd. 5, S. 386. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 17 I. 286 Zippelius, Allg Staatslehre, § 17 12. 287 Die katholische Kirche nimmt für sich immer und überall das Recht in Anspruch, "in wahrer Freiheit den Glauben zu verkünden, ihre Soziallehre kundzumachen und auch politische Angelegenheiten einer sittlichen Beurteilung zu unterstellen, wenn die Grundrechte der menschlichen Person oder das Heil der Seelen es verlangen" (Gaudium et spes 76,5). Der engere Begriff der katholischen Soziallehre bezeichnet die in eine systematische Ordnung gebrachte Summe aller wichtigen kirchenamtlichen Verlautbarungen in diesem Bereich, wie sie insbesondere in den päpstlichen Sozialenzyklen ihren Niederschlag finden. Vgl. Raas in: R. Herzog, Evangelisches Staatslexikon, Bd.lI, Sp. 3231-3233. Vgl. umfassender zur katholischen Soziallehre Weiler, Einführung, passim. 288 Im Godesberger Programm der SPD von 1959 heißt es im Abschnitt "Die staatlichte Ordnung": Der Staat soll Vorbedingungen dafür schaffen, dass der einzelne sich in freier Selbstverantwortung und gesellschaftlicher Verpflichtung entfalten kann. Die Grundrechte sollen nicht nur die Freiheit des einzelnen gegenüber dem Staat sichern, sie sollten als gemeinschaftsbildende Rechte den Staat mitbegründen. Als Sozialstaat hat er für seine Bürger Daseinsvorsorge zu treffen, um jedem die eigenverantwortliche Selbstbestimmung zu ermöglichen und die Entwicklung einer freiheitlichen Gesellschaft zu fördern." Im Grundsatzprogramm der CDU von 1978 heißt es in der Präambel unter dem Abschnitt "Grundwerte" (Nr. 17): "Die Verwirklichung der Freiheit bedarf der eigenverantwortlichen Lebensgestaltung nach dem Prinzip der Subsidiarität. Deshalb muß der Staat auf die Übernahme von Aufgaben verzichten, die der einzelne, oder jeweils kleinere Gemeinschaften erfüllen können. Was der Bürger allein, in der Familie und im freiwilligen Zusammenwirken mit anderen ebensogut leisten kann, soll ihm vorbehalten bleiben. Der Grundsatz der Subsidiarität gilt auch zwischen kleineren und größeren Gemeinschaften sowie auch zwischen freien Verbänden und staatlichen Einrichtungen." 289 R. Herzog in: R. Herzog, Evangelisches Staatslexikon, Bd.lI, Sp. 3564. 284 285

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

sich in der katholischen Soziallehre auf das christliche Verständnis des Menschen als einer eigenständigen, selbstverantwortlichen Person und auf das daraus resultierende Verhältnis zwischen Einzelnem und Gesellschaft: Die Gesellschaft ist demnach auf die Menschen hingeordnet, sie soll ihnen helfen, ihre Kräfte zu entfalten und ihre Ziele zu erreichen, darf sie aber nicht beherrschen und gängeln 290. Die Entwicklung der katholischen Soziallehre beginnt mit dem Rundschreiben Leos XIII. "Rerum Novarum" von 1891 291 . Obwohl das Subsidiaritätsprinzip dort unter dieser Bezeichnung nicht ausdrücklich genannt wird, können in dieser Enzyklika die ersten Ansätze für das Prinzip gesehen werden. "Rerum Novarum" spricht auch das Verhältnis von Staat und Gesellschaft an. Dem Staat kommt danach die Pflicht zur Hilfeleistung bei äußerster Not und zum Rechtsschutz zu: "Ein großer und geHihrlicher Irrtum liegt also in dem Ansinnen an den Staat, als müsse er nach seinem Gutdünken in das Innere der Familie, des Hauses eindringen. Allerdings, wenn sich eine Familie in äußerster Not und in so verzweifelter Lage befindet, dass sie sich in keiner Weise helfen kann, so ist es der Ordnung entsprechend, dass staatliche Hilfeleistung für die äußerst Bedrängten eintrete; die Familien sind eben Teile des Staates. Ebenso hat die öffentliche Gewalt zum Rechtsschutz einzugreifen, wenn innerhalb der häuslichen Mauem erhebliche Verletzungen des gegenseitigen Rechtes geschehen: Übergriffe in Schranken weisen und die Ordnung herstellen heißt dann offenbar nicht Befugnisse der Familie und der Individuen an sich reißen: der Staat befestigt in diesem Falle die Befugnisse der einzelnen, er zerstört sie nicht. Allein an diesem Punkt muss er halt machen, über obige Grenzen darf er nicht hinaus, sonst handelt er dem natürlichen Recht entgegen."292 Der Name und die genaue Formulierung des Subsidiaritätsprinzips findet sich erstmals in der Enzyklika "Quadragessimo anno"293 des Papsts Pius' XI. vom 15. Mai 1931 294 . In dem Unterabschnitt "Die neue Gesellschaftsordnung" formulierte er den allgemeinen Grundsatz "Principium subsidiarii officii" und zwar in bestimmter, rechtssatzmäßiger Form, was erstmals auch eine klare juristische Auslegung des Subsidiaritätsprinzips erlaubte 295 • Hierauf beruht daher auch das gegenwärtige begriffliche Verständnis des Subsidiaritätsprinzips296. 290 Rauscher, "Subsidiarität I", in: Görres-Gesellschaft, Staatslexikon, 7. Auflage, Bd.5, Sp.386. 29\ Papst Leo XIII., Rerum novarum, Über die Arbeiterfrage, in: Texte zur katholischen Soziallehre, S. 31 ff. 292 Papst Leo XIl/., a. a. O. Ziff. 11 (S.38). Vgl. auch Ziff. 28 (S. 51 f.). 293 Der Name ergibt sich aus dem Umstand, dass diese Enzyklika 40 Jahre (= Quadragesimo anno) nach der Enzyklika "Rerum Novarum" verfaßt wurde. Es handelt sich bei "Quadragesimo anno" um eine Gedächtnisschrift zum 40jährigen Wirken von "Rerum novarum". Vgl. von Nell-Breuning, Einführung, in: Texte zur katholischen Soziallehre, S.15. 294 Pius Xl., Quadragesimo anno, in: Texte zur katholischen Soziallehre, S. 91 ff. 295 Th.A. Schmitt, Subsidiaritätsprinzip, S. 28. 296 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 16; Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 89; Brandt, Subsidiaritätsprinzip, S. 124.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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Das Principium subsidiarii officii lautet: ,,(Ziff. 79) Wenn es nämlich auch zutrifft, was ja die Geschichte deutlich bestätigt, dass unter den veränderten Verhältnissen manche Aufgaben, die früher leicht von kleineren Gemeinwesen geleistet wurden, nur mehr von großen bewältigt werden können, so muss doch allzeit unverrückbar jener höchst gewichtige sozial philosophische Grundsatz festgehalten werden, an dem nicht zu rütteln noch zu deuteln ist: wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; zugleich ist es überaus nachteilig und verwirrt die ganze Gesellschaftsordnung. Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja in ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen. (Ziff. 80) Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen. Sie selbst steht dadurch nur um so freier, stärker und schlagfertiger da für diejenigen Aufgaben, die in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, weil sie allein ihnen gewachsen ist: durch Leitung, Überwachung, Nachdruck und Züge1ung, je nach Umständen und Erfordernis. Darum mögen die staatlichen Machthaber sich überzeugt halten: Je besser durch strenge Beobachtung des Prinzips der Subsidiarität die Stufenordnung der verschiedenen Vergesellschaftungen innegehalten wird, um so stärker stehen gesellschaftliche Autorität und gesellschaftliche Wirkkraft da, um so besser und glücklicher ist es auch um den Staat bestellt."297 Zur Begründung führt die Enzyklika Quadragessimo anno an: "In Auswirkung des individualistischen Geistes ist es so weit gekommen, dass das einst blühend und reichgegliedert in einer Fülle verschiedenartiger Vergemeinschaftungen entfaltete menschliche Gesellschaftsleben derart zerschlagen und nahezu ertötet wurde, bis schließlich fast nur noch die Einzelmenschen und der Staat übrig blieben - zum nicht geringen Schaden für den Staat selber. Das Gesellschaftsleben wurde ganz und gar unförmlich; der Staat aber, der sich mit all den Aufgaben belud, welche die von ihm verdrängten Vergemeinschaftungen nun nicht mehr zu leisten vermochten, wurde unter einem Übermaß von Obliegenheiten und Verpflichtungen zugedeckt und erdrückt." 298 Es handelt sich bei den genannten Sozialenzyklen der katholischen Päpste um geseIlschaftstheoretische Ausführungen. Es geht um den Gesellschaftsaufbau, durch den "dem Menschengeschlecht erst die reichsten und beglückensten Segnungen zuteil werden"299. Die Betrachtungen sind an diesen Stellen frei von Ausführungen zur 297 Pius Xl., Quadragesimo anno, Ziff. 79 und Ziff. 80, in: Texte zur katholischen Soziallehre, S. 120f. 298 Pius Xl., Quadragesimo anno, Ziff.78, in: Texte zur katholischen Soziallehre, S. 120. 299 Pius Xl., Quadragesimo anno, Ziff.77, in: Texte zur katholischen Soziallehre, S. 120.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

kirchlichen Aufgabe. So kommt es, dass das von Papst Pius XI. formulierte Subsidiaritätsprinzip sich nicht wesentlich von den Erklärungen, die es in den profanen Gesellschaftswissenschaften erfahrt, unterscheidet. Insbesondere hat es keinerlei konfessionellen Gehalt, sondern versucht lediglich ein allgemeines Klugheitsprinzip auszudrücken, das sich an die Vernunft der Staatsrechtier wendet 3°O.

III. Verfassungsrechtliche Aspekte Inwieweit das Subsidiaritätsprinzip ein Verfassungsrechtssatz ist, und wieweit seine Geltung anzunehmen ist, war mit Beginn der Geltung des Grundgesetzes Gegenstand lebhaftester Diskussionen. Widerstreitendes Potenzial des Prinzips war dabei auf der einen Seite seine Sinnfalligkeit und Vernünftigkeit, auf der anderen Seite seine inhaltliche Offenheit und die Schwierigkeit, allgemeine staatsrechtliche Grundsätze zu formulieren.

1. Entstehung des Grundgesetzes Im Verfassungskonvent von Herrenchiemsee 301 versuchten die Teilnehmer Süsterhenn und Kanka, dem Subsidiaritätsprinzip eine ausdrückliche Aufnahme in den Verfassungstext zu verschaffen 302 . Dabei konnten zunächst Formulierungsschwierigkeiten nicht überwunden werden. Die Bezeichnung "Subsidiaritätsprinzip" sollte vermieden werden, damit der Gedanke nicht als einseitig konfessionelles Gedankengut abgestempelt werde. Der Abgeordnete Süsterhenn begnügte sich dann mit Art. 1 Abs. 1 des Entwurfs von Herrenchiemsee (HChE): "Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen"303. Aber auch diese For300 LecheIer, Das Subsidiaritätsprinzip, S. 33; Kalkbrenner, Küchenhoff-Festschrift, Bd.2, S.515, S.519. 301 Der Parlamentarische Rat benötigte, um das Verfahren der Grundgesetzgebung zu beschleunigen, einen ausgearbeiteten Entwurf. Die Ministerpräsidenten der Länder (den Ministerpräsidenten waren für die West-Alliierten die Ansprechpartner zur Realisierung der Staatlichkeit in den West-Zonen) setzten zu diesem Zweck durch Beschuß vom 25. Juli 1948 einen "Sachverständigen- Ausschuss für Verfassungsfragen" ein, der vom 10.-23. Aug. 1948 auf der Insel Herrenchiemsee in Bayern tagte. In ihm war jedes Land mit einem Experten vertreten. Der Sachverständigen-Ausschuss sollte keine verfassungspolitischen Vorentscheidungen treffen, sonder rein sachbezogene, verfassungsrechtliche Arbeit leisten. Der Konvent präsentierte deshalb regelmäßig eine ganze Palette von ausformulierten Alternativvorschlägen, um die Arbeit des Parlamentarischen Rats nicht zu präjudizieren. Der am Ende verabschiedete "Herrenchiemsee-Bericht" enthält neben einem ausführlichen darstellenden Teil einen vollständigen Verfassungsentwurf für ein Grundgesetz mit 149 Artikeln. Vgl. Kahl, JuS 1997, S. 1083, S.1084f. 302 Die Darstellung beruht auf Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S.143-146. 303 Art. 1 HehE lautete insgesamt: ,,(1) Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen. (2) Die Würde der menschlichen Persönlichkeit ist unantastbar. Die öffentliche Gewalt ist in allen ihren Erscheinungsformen verpflichtet, die Menschenwürde zu achten und zu schützen." vgl. Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd.II, S.l, S.ll.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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mulierung fand keine Aufnahme ins Grundgesetz, so dass das Subsidiaritätsprinzip keinen ausdrücklichen Niederschlag im Verfassungstext gefunden hat: Der Parlamentarische Rat 304 stellte ein Bekenntnis zur Menschenwürde an den Anfang des Grundgesetzes. Der Abgeordnete Heuss wandte gegen Art. I Abs. I HehE ein, er habe keinen klar erkennbaren Rechtscharakter und enthalte eine unfundierte Polemik gegen den "schief verstandenen Hegei"; das Staatsgrundgesetz dürfe nicht mit einer Kränkung der inneren Würde des Staates eingeleitet werden, dadurch, dass man ihn als "subsidiäre Angelegenheit" herabsetze, denn auch der Staat sei ein Träger eingeborener Würde; man solle diese "banale Staatsphilosophie" wegstreichen 305 • Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Subsidiaritätsprinzip bei der Erstellung des Grundgesetzes überhaupt nicht beachtet worden wäre. Z. B. äußerte der Abg. Brockmann (Z) in der 3. Sitzung des Parlamentarischen Rats am 9. Sept. 1948: "Ich sagte eingangs bereits, dass nur die Freiheit uns befahigen kann, den Weg zu einer evolutionären Erneuerung zu beschreiten. Wir sehen diese Freiheit am besten gewährleistet, wenn zunächst beim Grundgesetz und später bei der Verfassung nach dem Subsidiaritätsprinzip vorgegangen wird. Was die Familie leisten kann, soll Aufgabe der Familie sein und bleiben. Dabei ist beispielsweise auch die Erziehung der Kinder nach unserer Auffassung nicht Aufgabe des Staates, nicht Aufgabe der Gemeinschaft, sondern einzig und allein Aufgabe der Eltern ... "306. Es fehlt aber die Verbürgung des Subsidiaritätsprinzips in Form eines Rechtssatzes.

304 Dem Parlamentarischen Rat oblag die Ausarbeitung des Grundgesetzes. Der Terminus Parlamentarischer Rat (und nicht verfassungsgebende Nationalversammlung) wurde gewählt, um den zumindest in räumlicher Hinsicht vorläufigen Charakter des zu gründenden Staatengebildes zu unterstreichen. Die Versammlung konstituierte sich am I. Sept. 1948 im Zoologischen Museum Alexander Koenig in Bonn unter Vorsitz von Konrad Adenauer (CDU). Nach lange umkämpfter Zustimmung der Alliierten am 22. April 1949 wurde das endgültige Grundgesetz am 8. Mai 1949 vom Parlamentarischen Rat verabschiedet. Vgl. zur Entstehungsgeschichte Kahl, JuS 1997, S.1083, S.1085f. 305 Der Abg. Heuss führt in seiner Rede am 8. Sept. 1948 zu Art. 1 Abs. 1 HChE aus: "Meine Herren, was für ein Deutsch! Der Staat ist... da ... ! Was ist denn das nun? Eine deklamatorische Sentenz oder ein einklagbares Recht, ist das ein Rechtssatz oder was eingentlich? Verzeihen Sie, wenn ich etwas grob bin. In diesem Satz steckt eine heimliche Polemik gegen den schief verstandenen, vor 117 Jahren verstorbenen Hegel drin. Und weil man gegen diesen Heget, der wehrlos ist, irgendeine Polemik unterbringen muß, wird sie zu den banalsten Dingen, die wir der Weit nachreden, dass der Hegel unser Staatsdenken versaut hätte. Bitte, wie sind den die Dinge? Wir dürfen, wenn wir ein Staatsgrundgesetz machen, nicht damit beginnen, die innere Würde des Staates zu kränken, indem wir ihn nur als eine subsidiäre Angelegenheit für den Menschen - wer ist denn der Mensch? - unterbringen wollen .... Der Staat ist nicht nur eine Apparatur, sondern er ist auch ein Träger eingeborener Würde, und als Träger der ordnenden Gemeinschaft ist er für den Menschen und ist der Mensch für ihn keine Abstraktion. Streichen Sie diese banale Staatsphilosophie weg und gehen Sie dorthin, wo man praktisch auch Rechtsverbindlichkeiten machen kann." Vgl. Stenographische Berichte, S.44. Ähnliche Kritik äußert Rendtorff, Der Staat 1962, S.405, S. 423 f. 306 Vgl. Stenographische Berichte, S. 55.

9 Höffner

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

2. Rechtsgeltung des Subsidiaritätsgrundsatzes Trotz dieses negativen Textbefunds hat in den fünfziger und sechziger Jahren eine besonders intensive Diskussion darüber stattgefunden, ob es sich bei dem Subsidiaritätsprinzip um einen Verfassungsrechtssatz handelt oder nicht. Die verschiedenen Untersuchungsergebnisse reichen von einer Anerkennung als Rechtssatz mit voller Geitung 307 über eine Qualifizierung als gesellschaftliches Ordnungsprinzip ohne Rechtscharakter 308 zu einer ausdrücklichen Ablehnung 309 • Da das Subsidiaritätsprinzip im Grundgesetz nicht ausdrücklich verankert ist, kann dem Verfassungstext keine positive Aussage hinsichtlich seiner Geltung entnommen werden. Zur Begründung sind in der staatsrechtlichen Literatur folgende Erklärungsmuster diskutiert worden: - der Nachweis der Substanz des Subsidiaritätsprinzips in einzelnen Grundgesetzartikeln 310; - die Ableitung eines solchen Nachweises aus einer "Gesamtschau einer Reihe von Grundgesetzartikeln" 3 1'; - mittelbare Ableitung des Subsidiaritätsgedankens aus dem Staatsaufbau und Strukturprinzipien der Verfassung 312 ; - der Nachweis der Geltung des Subsidiaritätsprinzips als von der Verfassung anerkanntes überpositives Recht 3l3 • 307 Vgl. Hengstenberg in: Utz, Das Subsidiaritätsprinzip, S.19, S.19; Süsterhenn, Nawiasky-Festschrift, S.141, S.151; Dürig, JZ 1953, S.153, S.198; ders., JZ 1955, S.521, S.523; ders. in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Art. 1 Rdn.54; Maunz, Staatsrecht, 7. Auflage, S.62; Menger, Der Begriff des sozialen Rechtstaats im Bonner Grundgesetz, S.28. 308 Thieme, Subsidiarität und Zwangsmitgliedschaft, S. 20f.; Fichtner, ZfRR 1961, S. 321, S. 326; Stern in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Art. 28, S.2; Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 220 ff. 309 Glaser, Das Subsidiaritätsprinzip, Diss. Berlin 1965, S. 133; R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 149f.; Roters in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 28 Rdn.6; Badura, Staatsrecht, S. \08. 310 So bezüglich Art. I, 2 und 6: Süsterhenn, Höffner-Festschrift, S. 227, S. 230f.; Wallenstätter, Das Subsidiaritätsprinzip und die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten, S. 84ff.; v. Münch, JZ 1960, S.303, S.305; Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesestz, S.83ff. 311 So Dürig, JZ 1953, S.193, S.193ff., der sich auf Art. 6 Abs.l, 912,28 und 30GG beruft. Ähnlich Kalkbrenner, Küchenhoff-Festschrift, Bd. 2, S. 515, S. 529; Wallenstätter, Das Subsidiaritätsprinzip und die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Grundrechten, S.69ff. 312 So Stewing, Subsidiarität und Föderalismus in der Europäischen Union, S.36ff. zu Strukturprinzipien, Föderalismus und Finanzverfassung. 313 So Kalkbrenner, Küchenhoff-Feschrift, Bd.2, S. 515, S. 524f., S. 529f. Dazu Glaser, Subsidiaritätsprinzip, S. 80ff. Für den Abg. Süsterhenn war dies wohl ursprünglich der Geltungszusammenhang für das Subsidiaritätsprinzip im GG. Er forderte im Parlamentarischen Rat, sich endgültig von dem Geiste des Rechtspositivismus abzuwenden. Es gebe vor- und

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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Vor allem Art. 1 GG, zum Teil in Verbindung mit Art. 2 Abs. 1 GG, ist zur Begründung der Geltung des Verfassungsprinzips der Subsidiarität im Grundgesetz herangezogen worden 314 : "Durch diese Verfassungsbestimmungen werden Würde und Freiheit des Menschen zu politischen Höchstwerten erklärt und damit der Gemeinschaft nur eine dienende oder, wie man auch sagen könnte, subsidiäre Funktion gegenüber dem Menschen zuerkannt. "315 Süsterhenn verweist dabei darauf, dass die weitergehende Fassung des Art. 1 HChE nur aus stilistischen Gründen nicht in die endgültige Fassung des Grundgesetzes aufgenommen worden sei. Außerdem bringe auch Art.l GG entschieden und klar genug das zum Ausdruck, was für das Verhältnis von Staat und Individuum in Art. lAbs. 1 HChE gesagt werden sollte 316 . Doch kann man die Entstehungsgeschichte von Art. 1 GG genauso gut anders deuten, wozu insbesondere die oben zitierte Rede von Heuss im Parlamentarischen Rat Veranlassung gibt 317 • Der Parlamentarische Rat wollte sich offenbar einer Festlegung über bestimmte soziale Ordnungsprinzipien, wozu auch das Subsidiaritätsprinzip gehört, enthalten. Der Verfassungs geber hat, wie Isensee feststellt, den Bereich, innerhalb dessen die Geltung des Subsidiaritätsprinzips in Frage stehen könnte, gar nicht betreten 3I8 • Ebenso wie der Herleitung aus Art. 1 GG ist auch allen anderen Ansätzen gemein, dass sie jeweils triftigen Gegenargumenten ausgesetzt sind. Ansätze, die sich in Richtung auf eine subsidiäre Gesellschaftsordnung verstehen ließen, wie z. B. Art. 6 Abs.2 GG (Vorrang der elterlichen Erziehung 319) werden durch andere Aussagen, hier Art. 7 Abs. 5 GG (keine Bevorrechtigung der privaten gegenüber staatlichen Schulen) neutralisiert 320. Solcherart bietet der Text des Grundgesetzes genügend Material, um in die eine oder andere Richtung zu argumentieren. Anerkannt ist zwar, dass das Prinzip "enge Bezüge" zu den freiheitssichernden Grundrechten, zum Demokratie-, Rechtsstaats- und Sozialstaatsprinzip und zum Föderalismus "aufweist"321. Kein Begründungsansatz hat jedoch zwingend die verüberstaatliche Rechte, die sich aus der Natur und dem Wesen des Menschen und der verschiedenen Lebensgemeinschaften ergeben, die der Staat zu respektieren habe, vgl. Stenographische Berichte, S. 20 f. Das BVerfG lehnt allerdings die Geltung von Naturrecht kategorisch ab, als Prüfungsmaßstab kommt "nur das Grundgesetz in Betracht", vgl. BVerfGE 10, S.59, S. 81. 314 Süsterhenn, Höffner-Festschrift, S. 231; Wallenstätter, Das Subsidiaritätsprinzip und die Rechtsprechung des BVerfG zu den Grundrechten, S. 84ff.; v.Münch, JZ 1960, S. 303, S. 305; Zuck, Subsidiaritätsprinzip und Grundgesestz, S. 83 ff. 315 Süsterhenn, Höffner-Festschrift, S.231. 316 So auch Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd.lI, S.I, S.II, auf den sichSüsterhenn a.a.O. beruft. 317 Vgl. oben Fußnote 305. 318/sensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 145. 319 Siehe dazu oben die Rede des Abgeordneten Brockmann, bei Fn.306. 320 Vgl. Schmidt-JortzigISchink, Subsidiaritätsprinzip und Kommunalverfassung, S. 8. Ein anderes plastisches Beispiel ist die sofortige Re1ativierung von Art. 14 Abs. I GG durch Art. 14 Abs.2 GG. 321 So v.Münch, Staatsrecht Bd.1, Rdn.993. 9*

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

bindliche Rechtsgeltung des Prinzips zur Folge 322 • Dies wird bereits allein daran deutlich, dass von den Verfechtem des Subsidiaritätsprinzips immer wieder auf das überpositive Naturrecht verwiesen werden musste. Lerche kritisierte die Herleitungsversuche folgendermaßen: Er äußerte Zweifel dahingehend, dass man das Subsidiaritätsprinzip "so ohne weiteres den geltenden Verfassungen unterschieben kann, um es dann als unmittelbar verbindlichen Rechtssatz wieder herauszuziehen."323 (Zu dieser Äußerung stellte Kimminich fest, der Vorwurf, sich wie Geistesschwache zu benehmen, die einen Gegenstand heimlich in die Schublade stecken und ihn später mit freudiger Überraschung daraus hervorzuziehen, werde nicht selten gegen die Rechtsgelehrten erhoben 324).

3. Subsidiaritätsprinzip und Bundesverfassungsgericht In dieser Situation der mangelnden schriftlichen Fixierung kann ein "allgemeiner Rechtssatz" nur zur positiven Geltung kommen, wenn das Bundesverfassungsgericht den Rechtssatz als geltend anerkennt, wie es z. B. im vergleichbaren Fall des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes geschehen ist 325 • Das Gericht vermeidet es aber sogar, das Subsidiaritätsprinzip nur zu erwähnen: In einem Rechtsstreit um das Bundessozialhilfe- und Jugendwohlfahrtsgesetz vor dem Bundesverfassungsgericht hätte es für das Gericht nahegelegen, darauf einzugehen, denn der Gesetzgeber hatte in den angefochtenen Regelungen versucht, das Verhältnis zwischen den staatlichen und gesellschaftlichen Trägem der Wohlfahrtspflege nach dem Leitbild des Subsidiaritätsprinzips zu ordnen 326 . Außerdem sprachen die Beschwerdeführer des Verfahrens das Prinzip ausdrücklich an 327 • Das Gericht geht dennoch in der Begründung nicht auf den Begriff ein, ja das Wort Subsidiarität taucht im Begründungstext nicht einmal auf328 . Lediglich das Bundesverwaltungsgericht hatte in einer Entscheidung festgestellt, dass das Subsidiaritätsprinzip zwar für bestimmte einzelne Rechtsgebiete als Rechtsgrundsatz anerkannt sei, jedoch nicht als allgemeiner Verfassungsgrundsatz angesehen werden könne 329 . Von einer Anerkennung durch das Bundesverfassungsgericht kann daher nicht die Rede sein. Aus dem vom Bundesverfassungsgericht vertretenen Menschenbild 330 ist jedoch zu ersehen, dass der Boden für die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips nicht So auch im Ergebnis LecheIer, Subsidiaritätsprinzip, S. 48 f. Lerche in: Tamandl, Der Einfluß des katholischen Denkens auf das positive Recht, S. 92. 324 Kimminich in: Kimminich, Subsidiarität und Demokratie, S.30, S. 34 f. 325 Siehe oben 2. Teil, B. 111. 326 BVerfGE 22, S. 180. 327 BVerfGE 22, S.180, S.191. 328 Vgl. die Begrundung des Gerichts a. a. 0., die entscheidenden Stellen finden sich auf S. 199, S. 209. Vgl. eingehender zur Argumentation des Gerichts I sensee , Subsidiaritätsprinzip, S. 11. 329 BVerwGE 23, S. 304, S. 306 f. 330 Vgl. hierzu Dürig in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Rdn. 70. 322 323

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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schlecht ist. Das Gericht stellt den Menschen in den Mittelpunkt der vom Staat verfolgten Ziele: "Gegenüber der Allmacht des totalitären Staates, der schrankenlose Herrschaftsmacht über alle Bereiche des sozialen Lebens für sich beanspruchte und dem bei der Verfolgung seiner Staatsziele die Rücksicht auf das Leben des Einzelnen grundsätzlich nichts bedeutete, hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den einzelnen Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt, wie das Bundesverfassungsgericht bereits früh ausgesprochen hat, die Vorstellung zugrunde, dass der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen ... unabdingbar fordert. " 331 Zwar sei dabei immer die Gemeinschaftsgebundenheit des Einzelnen zu beachten: "Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum - Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne dabei deren Eigenwert anzutasten. Dies ergibt sich insbesondere aus einer Gesamtsicht der Art. I, 2,12,14, 15, 19 und 20 GG."332 Die der Forderung des Subsidiaritätsprinzips entsprechende Anerkennung der Eigenverantwortlichkeit des Individuums und seines Eigenwertes wird damit relativiert durch eine Gemeinschaftsgebundenheit der Person, deren Grenzen nur noch im Einzelfall aus einer Abwägung der verschiedenen divergierenden Interessen gewonnen werden können m . Aber bei der Abwägung der einander gegenüberstehenden Interessen des Einzelnen und der Gesamtheit ist nach dem Bundesverfassungsgericht "vom grundsätzlichen Vorrang des Freiheitsrechts auszugehen"334. Diese Position ist inhaltlich von der Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips nicht weit entfernt. Eine ausdrückliche Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips durch das Bundesverfassungsgericht, verbunden mit einer klaren inhaltlichen Ausgestaltung, gibt es jedoch nicht. Rechtstatsächlich ist das Subsidiaritätsprinzip daher kein Verfassungsrechtssatz.

4. Subsidiaritätsprinzip zwischen Freiheit und Anarchie Die Formulierung des Bundesverfassungsgerichts vom Spannungsverhältnis Individuum - Gemeinschaft trifft den Kern des staatsrechtlichen Problems um das Subsidiaritätsprinzip. Das Subsidiaritätsprinzip hat in erster Linie einen freiheitlichen (liberalen) Bezug. Die Ansiedlung der Entscheidungsbefugnis und Verant331 BVerfGE 39, S.67. Vgl. bereits BVerfGE2, S.12. BVerfGE4, S. 6, S. 15 f., zur Spannung zwischen Handlungsfreiheit und gemeinschaftsbedingten Schranken bei Art. 2 Abs. 1 GG. Vgl. auch BVerfGE 7, S. 205; 8, S. 274, S. 329; 24, S.I44;27,S.I,S.7; 30,S.193; 33, S.303, S.334; 50,S.290,S.353;56,S.37,S.49; 65,S.I, S.44. 333 Lecheier, Subsidiaritätsprinzip, S.49; vgl. BVerwGE 23, S. 304, S. 306f., das direkt auf das Subsidiaritätsprinzip Bezug nimmt. 334 BVerfGE 13, S.97, S.105. 332

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

wortlichkeit auf der gesellschaftlich kleineren Ebene, möglichst im Bereich des Einzelnen, ist im Gedanken der staatsrechtlichen Freiheit notwendig enthalten. Mit dem Freiheitsbezug trifft das Subsidiaritätsprinzip einen Staatszweck, der dem Grundgesetz zu eigen ist: Der Freiheitszweck ist für den demokratischen Rechtsstaat typusprägend 335 . Auch die grundgesetzliehe Ordnung geht von der Würde und Selbstbestimmung des Einzelnen (Art. 1, 2 Abs. 1 GG) und damit von der individuellen Selbstbestimmung eines jeden aus 336 . Zur Gewährleistung staatsbürgerlicher, individueller und kollektiver Freiheit sind die Grundrechte als subjektive Rechte ausgestaltet; der Freiheitsgebrauch ist der Entscheidung des Berechtigten überlassen 337 • Die Grundrechte werden von der deutschen Staatsrechts lehre als objektiv-rechtliche Normierung einer staatlichen Freiheitsvorsorge verstanden 338 • Das Bekenntnis des Grundgesetzes zur freiheitlich demokratischen Grundordnung 339 wird als "Antwort auf die Frage nach der Staatsidee der Bundesrepublik Deutschland", als ein "Gutteil der Verfassungsgrundentscheidung schlechthin" und als "Festlegung von Verfassungsgrundwerten, die die moralische und politische Substanz des Staates zu bilden haben" bezeichnet340 . Die Gewährleistung der Freiheit ist damit eine bedeutende - möglicherweise die bedeutendste 341 - Seite des geltenden deutschen Staatsrechts und zwar diejenige, die auf die Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips als Verfassungsrechtssatz drängt. Die gesetzliche Gestaltung von Sozialtatbeständen durch den Staat ist in Anbetracht des Gewichts, welches das Grundgesetz der freien Selbstbestimmung der Persönlichkeit beimisst, nur dort zulässig, wo die freie Gestaltung durch den Einzelnen, gestellte Aufgaben nicht mehr zu bewältigen vermag. Die Ersetzung der Individualgestaltung durch diejenige des gemäß Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 GG berufenen Staates muss deshalb durch einen sachlichen Grund legitimiert sein 342 . Der Freiheit der Entfaltung darf nur dort eine Grenze gesetzt werden, wo "überragende Forderungen des Gemeinwohls es unabdingbar gebieten"343. Hieraus lässt sich - wie es ja auch vielfach getan wurde 344 - die Vgl. Link, VVDStRL 48, S. 7, S.42; Rees, VVDStRL 48, S. 56, S.98. von Hippel, Grenzen und Wesensgehalt der Grundrechte, S. 15 f. 337 So Grimm, KritV 1986, S. 38, S. 51. V gl. aus der Rechtsprechung der BVerfG vor allem BVerfGE 50, S.290, S.336f., S.362ff.; auch: BVerfG NJW 1989, S.738. 338 Link, VVDStRL 48, S. 7, S.44 mit umfassenden Nachweisen. 339 In Art. 10 Abs. 2 S. 2, 11 Abs.2, 18 S. 1, 21 Abs.2 S. 1, 73 Nr. Wb, 87 a Abs.4 S. 1, 91 Abs.1 GG. 340 Vgl. Stern, Staatsrecht I, § 16 2 b. 34\ Das BVerfG formuliert: "Selbstbestimmung (ist) eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens", BVerfGE 65, S. 1, S. 43, Hervorhebung vom Verfasser. 342 Wintrich, Apelt-Festschrift, S. 1, S.6. 343 So die Vertreter der strengen Gemeinwohlklause1, E.R. Huber, Wirtschaftsverwaltungsrecht Bd. I, S. 663; ders., DÖV 1956, S. 135, S. 136; Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, S.24; Dürig, NJW 1955, S.729, S.730; ders., JZ 1957, S.169, S.I72; Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd.IV/2, S. 741, S. 813 m. w. N. Einschränkung nur aufgrund "überwiegenden Allgemeininteresses" auch z.B. bei BVerfGE 65, S.l, S.44. 335

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E. Das Subsidiaritätsprinzip

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Schlussfolgerung ziehen, das Subsidiaritätsprinzip beanspruche auch nach der grundgesetzlichen Ordnung Geltung. Die Freiheit des Einzelnen kann aber nicht durch den Staat umfassend unterstützt werden. Insbesondere in der modemen, hochkomplexen Gesellschaft, in der die Menschen auf dichtem Raum miteinander leben und in vielerlei Abhängigkeits- und Einwirkungsverhältnissen stehen, können sie sich in vielfältiger Weise gegenseitig beeinträchtigen. Die Handlungsfreiheit bedarf der Begrenzung, um die Gemeinverträglichkeit menschlichen Handeins herzustellen 34s • Diese Begrenzung ist eine zwingende Notwendigkeit, weil sonst die Freiheit in Willkür ausarten und letztlich zur Unfreiheit führen würde 346 • Dementsprechend findet die Freiheitsgewährleistung des Grundgesetzes ihre Grenze in den Rechten anderer und der verfassungsmäßigen Ordnung. Art. 2 Abs. 1 GG spiegelt damit das Spannungsverhältnis zwischen der Freiheit des Einzelnen und seiner Gemeinschaftsgebundenheit in allgemeingültiger Weise wider 347 • Dasjenige, was den Inhalt dieser Grenzziehung ausmacht, kann als Recht bezeichnet werden 348 • Zur Ausgestaltung dieser Grenzziehung ist (in aller Abstraktheit gesprochen) der Staat berufen. Der Staat ist die Organisation auf die sich der Einzelne im Kampf um das Recht verlassen kann und muss; er schafft Recht und setzt es durch. Um diese Rechtsdurchsetzung zu gewährleisten, ist der Staat mit Souveränität ausgestattet 349 • Das Subsidiaritätsprinzip mit seiner die Staatsgewalt beschränkenden Intention rüttelt an der potentiellen Allzuständigkeit des Staates, die nach herkömmlicher Staatslehre Teil der Souveränität der Staatsgewalt ist 350• In einer unbeschränkten Geltung des Prinzips wandelt es die geltende Staatsform zur Anarchie: Die programmatische "Hilfe zur Selbsthilfe" hat zum erklärten Ziel, dass der Hilfeempfänger sich baldmöglichst ohne Hilfe von außen selbst helfen kann; damit steht jedes Hilfsangebot unter der Aufgabenstellung, sich selbst überflüssig zu machen 351 • ledwede Gesellschaftstätigkeit ist nach Schneider ihrem Wesen und Be344 Vgl. Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd.IV/2, S. 741, S. 808, S. 815; Huber, DÖV 1956, S. 135, S. 205; Pieper, Subsidiarität, S. 98 m. w. N. 345 Vgl. z. B. Murswiek in: Sachs, GG, Art. 2 Rdn. 11. 346 Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd. IV /2, S. 741, S. 781. 347 Vgl. Degenhart, JuS 1990, S. 161, S. 164f. Allgemein zur Wechse1bezüglichkeit von Freiheit und Bindung: Maunz/Zippelius, Deutsches Staatsrecht, § 24 I I; Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 34 12. 348 Man kann natürlich "Recht" auch ganz anders definieren. Zur Schwierigkeit "Recht" zu definieren vgl. Arth. Kaufmann, Tendenzen im Rechtsdenken der Gegenwart, S. 7 ff. (S. 33 ff. zu Subsidiarität und Strafrecht). 349 Dass der modeme Rechts- und Verfassungsstaat dabei einen Kompromiss anstrebt zwischen dem Bedürfnis nach einer homogenen Staatsgewalt, die stark genug ist, den Rechtsfrieden zu gewährleisten, und dem Bedürfnis, gleichwohl ein größtmögliches Maß an individuellen Freiheiten zu sichern, ist ein anderes staatsrechtliches Kapitel. Vgl. dazuZippelius, Allgemeine Staatslehre, § 30 I I. 350 Vgl. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, §9 III2. 351 L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft - Erfolgreiche Gesellschaft, S. 31 ff.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

griff nach bloß subsidiär und damit, nach Verwirklichung des jeweiligen Zieles der Selbsthilfe, schlicht überflüssig 352 • Käme es zu einer (nur theoretisch denkbaren) umfassenden und radikalen Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips in einer Gesellschaftsform würde sich diese Gesellschaftsform überflüssig machen. Dieser theoretische Endpunkt der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips verdeutlicht, dass es in radikaler Form jeglicher Staats verfassung, und zwar auch derjenigen, die die Freiheitsverbürgung zum Ziel hat, fremd ist 353 • Jede StaatsverJassung hat damit ein dem Subsidiaritätsprinzip entgegenwirkendes, retardierendes Moment: Die Verfassung, welche die Freiheit des Einzelnen garantieren soll, muss selbst konserviert werden. Der Subsidiaritätsgrundsatz hat daher keinen "vollnormativen Charakter" und eignet sich nicht, wie Isensee es ausdrückt, als Obersatz eines rechtlichen Subsumtionsschlusses 354 • Eine normative Geltung in dem Sinne, dass sich jede Verwaltungstätigkeit automatisch in einem Verfassungsprozess vor dem Subsidiaritätsprinzip rechtfertigen müsste, ist nicht denkbar 355 • Es handelt sich aber um einen Gedanken politischer Klugheit 356 : Der Subsidiaritätsgedanke kann und soll dazu dienen, den Gleichgewichtszustand der Freiheit des Menschen, der nie vorgegeben ist, jeweils unter wechselnden geschichtlichen Bedingungen und in jeder Rechtsordnung herzustellen 357.

IV. Subsidiaritätsprinzip und Strafrecht Es wurde bereits festgestellt, dass der ultima ratio Grundsatz in der Literatur mit dem subsidiären Charakter des Strafrechts gleichgesetzt wird. 358 Damit ist zwar begrifflich eine Verbindung hergestellt, jedoch wird mit dem subsidiären Charakter des Strafrechts zumeist lediglich die Vorstellung verknüpft, Strafrecht sei zu anderen Rechtsgebieten subsidiär, ähnlich wie auch bestimmte Strafrechtsvorschriften zu anderen subsidiär sind, also dann zurücktreten, wenn die vorrangigen Vorschriften eingreifen. Wird in der strafrechtlichen Literatur vom subsidiären Rechtsgüterschutz durch das Strafrecht gesprochen heißt das also nicht, dass auch auf den staatsrechtlichen Subsidiaritätsgrundsatz, so wie er soeben dargestellt wurde, bezug genommen wird. An dieser Stelle soll daher dargestellt werden, inwiefern der staatsrechtliche Subsidiaritätsgrundsatz in der strafrechtlichen Literatur Eingang gefunden hat. 352 L. Schneider, Subsidiäre Gesellschaft - Erfolgreiche Gesellschaft, S. 35, dort als "dritter Satz" (nach der positiven und negativen Aussage) des Subsidiaritätsprinzips bezeichnet. 353 Ähnlich argumentiert R. Herzog, Der Staat 2, S. 399, S. 417 f. 354 Isensee, Subsidiaritätsprinzip, S. 313. 355 So R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S.149f. 356 So auch das Ergebnis der Untersuchung von R. Herzog, Der Staat 2 (1963), S. 399, S.423. 357 Roos, Demokratie als Lebensform, S.125. 358 Siehe oben 2. Teil, c.l.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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1. Subsidiäres Strafrecht in der marxistisch-leninistischen Ideologie und im Recht der DDR Das Subsidiaritätsprinzip diente zwar nicht dem Worte, aber doch der Sache nach in der von der marxistisch-leninistischen Ideologie geformten Strafrechtspflege der Ostblockstaaten theoriebildend 359 . In schrittweiser Verwirklichung der marxistischen These vom "Absterben des Staates" in der kommunistischen Gesellschaft 360 soll sich die staatliche Strafgewalt aus bestimmten Bereichen traditioneller öffentlicher Strafrechtspflege zurückziehen und sie unter Vorbehalt eigener Hilfszuständigkeit den Haus-, Straßen-, Betriebs-, Kolchosegemeinschaften usw. zur eigenständigen Regelung überlassen, soweit es sich um geringfügig politische und wirtschaftliche Verstöße, insbesondere um die Verletzung persönlicher Einzelinteressen handelt. 361 So lautete etwa Art. 3 der Grundsätze des sozialistischen Strafrechts der DDR 362 : "Die Leiter der Betriebe, der staatlichen Organe und Einrichtungen, die Vorstände der Genossenschaften und die Leitung der gesellschaftlichen Organisationen ... sind dafür verantwortlich und rechenschaftspflichtig, dass in ihrem Aufgabenbereich durch eine wissenschaftliche Leitungstätigkeit und Erziehungsarbeit im engen Zusammenwirken mit den Bürgern Straftaten vorgebeugt wird und Gesetzesverletzer zu ehrlichem und verantwortungsbewusstem Verhalten erzogen werden. Dazu haben sie Ursachen und Bedingungen von Straftaten zu beseitigen, Gesetzlichkeit und Disziplin zu festigen und Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die staatlichen und gesellschaftlichen Organe der Rechtspflege sind verpflichtet, mit ihren Erfahrungen Staats- und Wirtschaftsorgane, Betriebe, Einrichtungen, Genossenschaften und Massenorganisationen und gesellschaftliche Kollektive bei der Verhütung von Straftaten und der gesellschaftlichen Erziehung Straffälliger wirksam zu unterstützen und dabei auf die Vervollkommnung der Leitungstätigkeit und Erziehungsarbeit hinzuwirken."363 Dies stellte zuerst Sax fest, vgl. Sax, lZ 1959, S. 778, S. 779f. Ursprünglich von Marx verstanden als kontinuierlicher Prozeß der Vergesellschaftung der Arbeit in Assoziation und damit Aufhebung der Klassengegensätze und ihrer politischen Gewalt; später, im Marxismus/Leninismus Fernziel und Gegenbild der übersteigerten Staatlichkeit in der Diktatur des Proletariats. Nach Vollendung des "Überstaates" werde die klassenlose Gesellschaft erzeugt sein und damit der Staat und die politische Herrschaft als überflüssig von selbst "absterben" oder "einschlafen". Vgl. dazuPernthaler, Allgemeine Staatslehre und Verfassungslehre, § 33 c) (S. 102 f.); Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 18 IV (S. 138 ff.). 361 Im sozialistischen Bulgarien und der ehemaligen Sowjetunion waren Diebstahl und ähnliche Handlungen im unteren Grenzbereich des Strafrechts bloße Ordnungswidrigkeiten, vgl. BuchholziGriebe, NI 1987, S. 63, S. 64. Im Strafrecht der DDR als "allgemeine Kriminalität" bezeichnet, vgl. Autorenkollektiv (Leitung lohn Lekschas), Strafrecht der DDR, S. 111: "Der allgemeinen Kriminalität haben die Arbeiterklasse und ihre Verbündeten grundsätzlich zu begegnen als einer sozial negativen Erscheinungsform von individuell-gesellschaftlichen Konflikten, die der sozialistischen Gesellschaft trotz der Befreiung von antagonistischen Klassengegensätzen noch für eine historisch relativ lange Zeit erwachsen." 362 Diese Grundsätze waren Bestandteil des StGB. 363 Vgl. Strafrecht der DDR, Kommentar zum Strafgesetzbuch, S. 22, m. Anm. In die "erzieherische Einwirkung" sollten auch Mitbewohner, Hausvertrauensmänner und Straßenver359

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

Objekte staatlichen Strafrechtsschutzes sind demnach nur die Klassen, die Gesellschaft, deren Ideologien und organisatorische Integrationen (Staat, Partei, Wirtschaftsorganisationen USW.)364. Zwar ist es auch Aufgabe der Strafjustiz, neben den allgemeinen gesellschaftlichen Rechtsgütern, Rechtsgüter einzelner Bürger (Eigentum, Freiheit, Ehre, Leben, körperliche Integrität, Gesundheit usw.) zu schützen; bei einer Kollision zwischen persönlichem und gesellschaftlichem Rechtsgut hat das erstere dem letzteren als dem übergeordneten zu weichen 365 • Rechtsverstöße, die gesellschaftliche Schutzobjekte nicht oder nur ganz unwesentlich berühren, stellen höchstens Manifestationen eines mangelhaften Klassenbewusstseins, damit aber nur ein Erziehungsproblem dar 366 • Diese Erziehungsarbeit soll lokal von der konkreten Lebens- und Arbeitsgemeinschaft, in der der Täter steht (Arbeitskollektive, gesellschaftliche Organisationen usw.) geleistet werden 367 • Die Staatsrnacht behält sich - subsidiär - das Eingreifen nur für den Fall vor, dass die primäre Selbsterziehung zu sozialistischen Moral nicht gelingt, insbesondere wenn solche Verstöße infolge Wiederholung die Grenze der Gefährlichkeit überschreiten und zum Verbrechen werden 368 • Zum Begriff und Gegenstand des sozialistischen Strafrechts der DDR heißt es im "offiziellen" Strafrechts lehrbuch der DDR von 1988 369 : "Mit der Errichtung der trauensmänner einbezogen werden. Die sozialistische Gesellschaft verlangt gegebenenfalles von jedem Einzelnen, der gesellschaftlichen Erziehungspfiicht nachzukommen. Vgl. Benjamin, NJ 1957, S.785, S. 788. 364 Vgl. Benjamin, NJ 1957, S. 785, S.788. Diese Kriminalitätsfonn hieß im Strafrecht der DDR (im Gegensatz zu "allgemeinen Kriminalität", siehe vorherige Fußnote) "friedensfeindliehe und konterrevolutionäre Kriminalität", vgl. Autorenkollektiv (Leitung lohn Lekschas), Strafrecht der DDR, S. 112. Dabei geht es "dem Wesen nach stets um das Austragen antagonistischer Klassenwidersprüche zwischen Sozialismus und Imperialismus", vgl. Autorenkollektiv (Leitung lohn Lekschas), a. a. O. 365 Berger, Demokratisches Strafrecht, S.59. 366 Autorenkollektiv (Leitung lohn Lekschas), Strafrecht der DDR, S. 111: " ... werden die Ziele und Grundsätze, die Fonnen und Methoden des Austragens und Lösens der individuellgesellschaftlichen Konflikte, wie sie sich auch in Straftaten der allgemeinen Kriminalität äußern, primär von einem grundlegenden allgemeinen objektiven Entwicklungserfordernis der sozialistischen Gesellschaft bestimmt: von dem Erfordernis, jedes ihrer Mitglieder zu gesellschaftlicher Bewußtheit, Verantwortung und Disziplin und damit zu verantwortungs bewußtem und freiem, von der Einsicht in das gesellschaftlich Notwendige geleitetem Handeln bei der Gestaltung seiner persönlichen und gesellschaftlichen Lebensverhältnisse zu befähigen, dazu jeden in die Kollektivität der sozialistischen Gesellschaft einzubeziehen und keinen zurückzulassen. Dieses Erfordernis auch im Kampf gegen Straftaten der allgemeinen Kriminalität zur Geltung zu bringen ist Inhalt der allgemeinen Schutz- und Erziehungsfunktion des sozialistischen Strafrechts, die ein notwendiges Moment des staatlich und gesellschaftlich organisierten Prozesses der Kriminalitätsbekämpfung und -vorbeugung bildet. Diese Funktion wird - in dialektischer Wechselwirkung ihrer Komponenten - sowohl mit Methoden staatlich disziplinierenden Zwanges wie auch mit Methoden der gesellschaftlich-kollektiven Erziehung, Einwirkung und Hilfe realisiert." 367 Vgl. Teichler, NJ 1986, S.463, S.463. 368 Vgl. Sax, JZ 1959, S. 778, S. 779f. m. w. N.; Sax, JZ 1959, S. 385, S. 388 Fn. 33. 369 Autorenkollektiv (Leitung lohn Lekschas), Strafrecht der DDR.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

139

sozialistischen Gesellschaft und ihrer Staats- und Rechtsordnung in der Sowjetunion nach der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution hat sich erstmals ein Strafrecht mit einer neuen, höheren Qualität herausgebildet, das sich vom Strafrecht der vorangegangenen Ausbeutergesellschaft prinzipiell unterscheidet. Der Aufbau der sozialistischen Gesellschaft in weiteren Ländern, darunter in der DDR, führte auch in diesen Staaten zur Herausbildung eines Strafrechts neuen, sozialistischen Typs. Das sozialistische Strafrecht ist in allen seinen Teilen und Erscheinungsformen dem Ziel untergeordnet, eine neue, höhere Gesellschaftsordnung zu errichten, in der es im Ergebnis der Entwicklung der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse, der politischen Organisation der Gesellschaft und der gesellschaftlichen wie individuellen Lebensverhältnisse und Lebensbedingungen Kriminalität als gesellschaftliche Erscheinung nicht mehr geben und in der demzufolge auch das Strafrecht gegenstandslos sein wird."370 Das sozialistische Strafrecht "ist das Strafrecht einer Gesellschaft, in der die Werktätigen die bewussten Gestalter ihrer gesellschaftlichen Lebensverhältnisse und -prozesse sind. Als solche machen sie auch die Kriminalitätsbekämpfung und -vorbeugung in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen - eingeschlossen der Strafrechtspflege - mehr und mehr zu ihrer eigenen, gemeinsamen Angelegenheit."371 "Das Strafrecht ist Bestandteil des Systems staatlich-rechtlicher Instrumente und Organisationsformen, mittels dessen der sozialistische Staat die Vorbeugung und Bekämpfung der Kriminalität als gesamtgesellschaftlichen Prozess leitet und organisiert." Es spielt im Prozess der weiteren Zurückdrängung der Kriminalität "eine wichtige Rolle, ... ist jedoch nicht das Hauptmittel ... ; ihm kann immer nur eine unterstützende Funktion zukommen"372. Insbesondere im Bereich der nicht erheblich gesellschafts widrigen Kriminalität werden im Strafrecht der DDR verstärkt Mittel außerstrafrechtlicher Verantwortlichkeitsformen eingesetzt373 • Beispielsweise konnte gemäß § 24 Abs. 2 StGB/ DDR bei Straftaten mit materiellen Schäden von Strafe abgesehen werden, wenn der Erziehungszweck des Strafverfahrens durch eine Verurteilung zum Schadensersatz erreicht werden kann 374 • Daneben wurden ganze Bereiche der Bagatellkriminalität aus der staatlichen Zuständigkeit ausgegliedert und auf die gesellschaftli-

370

A. a. 0., S. 102.

371 A. a. 0., S. 103. 372 A. a. 0., S. 101; S. 313: "Die sozialistische Gesellschaft..., in der bereits die tiefer liegenden sozialen Grundursachen der Kriminalität im wesentlichen beseitigt sind, ist in ihrer revolutionären Umgestaltung darauf gerichtet, schrittweise die sozialen Ursachen der Kriminalität aufzuheben. Unter diesen veränderten Bedingungen ist die Strafe nicht mehr Hauptinstrument der Kriminalitätsbekämpfung; sie wird vielmehr zu einem unterstützenden Mittel im Kampf gegen die Kriminalität. Denn das Hauptmittel, der Hauptweg der Kriminalitätsbekämpfung besteht im Sozialismus in der progressiven Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und in der Mobilisierung der ganzen Gesellschaft gegen Straftaten und andere Rechtsverletzungen". Ähnlich, Teichler, NI 1986, S. 463, S. 463. 373 Vgl. dazu Bem;ik, NI 1984, S. 223, S. 223; Teichler, NI 1986, S.463, S.463. 374 V gl. Teichler, NJ 1986, S.463, S. 464.

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

ehe Gerichtsbarkeit bei den betrieblichen Arbeitskonfliktkommissionen übertragen 375. Das sozialistische Strafrecht hat damit in verschiedener Hinsicht das Programm für ein Strafrecht mit subsidiärem Charakter formuliert. Zunächst gibt es eine Form der materiellrechtlichen Subsidiarität: strafrechtliche Tatbestände sind subsidiär abgestuft entsprechend der Eigenart der betroffenen Rechtsgüter (staatliche respektive private). Außerdem nehmen strafrechtliche Sanktionen gegenüber außerstrafrechtlichen Maßnahmen nur eine subsidiäre Funktion wahr. Darüber hinaus wird funktional die gesellschaftliche Aufgabe des Strafrechts in subsidiärer Ordnung, ausgehend von der täternäheren Umgebung, wahrgenommen: Die Erziehungsaufgabe des Strafrechts wird auf das direkte gesellschaftliche Umfeld des Täters verlegt, wo effektiver auf den Täter eingewirkt werden kann 376 • Bagatellkriminalität wird von Gesellschaftsgerichten geahndet. Nur hilfsweise, bei schwereren Delikten, werden die staatlichen Organe zur Kriminalitätsbekämpfung eingeschaltet. 2. Ablehnung: Sax Nach der bislang allein gebliebenen Stimme von Sax hat das Subsidiaritätsprinzip im Strafrecht keinen Raum 377 • Das Prinzip setze eine Spannung zwischen obrigkeitlicher Ordnungs gewalt einerseits und den individuellen Ordnungskräften andererseits voraus. Im Bereich westlicher Strafrechtspflege fehle es jedoch an dieser Spannung und überhaupt an der Denkbarkeit eines reglementierenden Staatsübergriffs auf das Gebiet eigenständiger und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung. Denn das Strafrecht sei nach "westlicher Auffassung"378 dem Schutz und der Bewährung der je verbindlichen Gemeinschaftswertordnung in ihrem Kembereich gegenüber unerträglichen Angriffen zu dienen bestimmt. Die Gemeinschaftswertordnung sei der Verfügungsgewalt des Einzelnen entzogen. Sie integriere sich zwar in ihrer jeweiligen kultur- und zeitbedingten Gestalt aus den Wertschätzungen aller der Ge375 Vgl. zu dieser Entwicklung Schönfeldt, Normdurchsetzung in osteuropäischen Nachkriegsgesellschaften (1944-1989) Band 1, Sowjetische Besatzungszone in Deutschland - Deutsche Demokratische Republik (1945-1960), S. 3, S. 159f. Vgl. eingehend zu den gesellschaftlichen Gerichten Schönfeldt in: BenderlFalk, Recht im Sozialismus, Band 2, Justizpolitik, S. 233, S. 235 ff. 376 Auch die westdeutsche Kriminologie stellte fest, dass der Täter bei (dezentraler) betrieblicher Bewältigung von Kriminalität in vergleichbaren Fällen nur mit geringer eingreifenden Sanktionen belegt werden müsse, vgl. Kaiser, Kriminologie (Einführung), § 11 2 (S. 53); Kaiser/Metzger-Pregizer, Betriebsjustiz, S. 306ff. J77 Sax, JZ 1959, S. 778, S. 779. 378 Sax bezieht seine Äußerungen auf die subsidiäre Struktur des Strafrechts nach marxistisch-leninistischer Theorie. Dem stellt er das Strafrecht "westlicher" Prägung gegenüber. In Zeiten des Kalten Krieges ist es nicht verwunderlich, dass Sax zu einem der marxistisch-leninistischen Theorie widersprechendem Ergebnis kommt.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

141

mein schaft angehörigen Einzelnen. Aber als Wertordnung genommen gehöre sie nicht zum Bereich der dem Einzelmenschen zu seiner Wesensverwirklichung aufgegebenen Lebensgestaltung, sondern zum Wirkbereich der überindividuellen Gemeinschaft. Schutz und Bewährung der Wertordnung sei daher primäre Aufgabe des Staates. Die Gemeinschaftswertordnung würde in dem Maße an Verbindlichkeit verlieren, in dem der Staat zufolge Anerkennung des Subsidiaritätsprinzips auch in der Strafrechtspflege nur eine Hilfszuständigkeit für Wertverletzungen, die nach allen geltenden Kriterien strafwürdig sind, beanspruchte.

3. Wohlwollende Stimmen Demgegenüber sind die andern Stimmen, die sich zum Subsidiaritätsprinzip äußern diesem gegenüber "wohlwollend" eingestellt. Im geltenden Straf- und Strafprozessrecht ließen sich in großer Anzahl "Subsidiaritätsaspekte nachweisen"379. So soll schon das staatliche Strafen insgesamt Ausdruck des Subsidiaritätsprinzip sein, denn der Staat habe das Strafrecht nur deshalb an sich ziehen müssen, "weil der Einzelne oder seine Gemeinschaften nicht in der Lage waren und in der Lage sind, das Verbrechen einzudämmen und den Verbrecher gerecht zu bestrafen"380. Daneben wird der Subsidiaritätsgedanke in vielen Einzelregelungen entdeckt. Insbesondere am Privatklageverfahren soll ersichtlich sein, dass das Subsidiaritätsprinzip im Strafrecht, bzw. im Strafprozessrecht seine Ausgestaltung gefunden habe 381 . Als "massive positivrechtliche Ausprägungen" des Subsidiaritätsprinzips bezeichnet Jakobs neben materiellrechtlichen (u. a. §§ 47,56,57 StGB) und prozessrechtlichen (§§ l53ff. StPO) Einrichtungen das Vikariieren von Strafe und Maßregel (§ 67 Abs.4 StGB) und den Vorrang des Maßregelzwecks (§ 67 Abs. 5 StGB).382 Pieper 383 entdeckte den Subsidiaritätsgedanken in der Regelungssystematik der Antragsdelikte wieder. Ihr liege nämlich "eine Bewertung von Rechtsgütern zugrunde". Seien bestimmte Rechtsgüter "nicht unabdingbar für das menschliche Zusammenleben", so solle der Staat nur dann die Strafverfolgung aufnehmen, wenn dies durch den Verletzten "erwünscht ist oder ihm damit geholfen werden kann". In dieser Unterscheidung soll sich nun der Subsidiaritätsgedanke wiederfinden. Der Staat als größere Einheit übernehme nur das, was der Einzelne nicht selbst erreichen kann 384 . Es sei hier gleich angefügt, dass m. E. derartige Feststellungen nicht sehr weiterführend sind. Denn sie leben mehr davon, dass die jeweilige Regelung die AssoziaSo Pieper, Subsidiarität, S. 143. Bernzen, Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Strafrechts, S.90. Ähnlich später Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 100f. 381 Bernzen, Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Strafrechts, 1966, S.90f.; ebenso Pieper, Subsidiarität, S. 143 f. 382 Jakobs, Strafrecht AT, 2. Abschn. Rdn.26. 383 Pieper, Subsidiarität, S. 144. 384 Pieper, a. a. O. 379

380

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

tion des Subsidiaritätsprinzips erweckt, als dass zwischen dem Prinzip und der Regelung ein bestimmter Zusammenhang feststellbar wäre, der präzise Schlussfolgerungen zulässt oder auf einer Schlussfolgerung beruht. Der Vorgang, "Ausprägungen" des Subsidiaritätsprinzip im positiven Recht aufzufinden, ist für die Rechtswissenschaft weitgehend folgenlos. Vergegenwärtigt man sich z. B. bei den Privatklagedelikten, dass ihre Bedeutung gegen Null tendiert 385 , wird offenbar, dass die Zuordnung der Privatklagedelikte zum subsidiären Gedankengut nichts über den Aufbau des Strafrechtssystems aussagt; genauso gut kann man umgekehrt sagen, die geringe Bedeutung der Privatklagedelikte beweise, dass das Subsidiaritätsprinzip zur Gestaltung des deutschen Strafrechts nur sehr wenig beigetragen hat. Was die Antragsdelikte von Pieper anbelangt, ist bereits der Zusammenhang zum Subsidiaritätsprinzip undeutlich. Was das von Pieper genannte "etwas" ist, das der Einzelne bei den Antragsdelikten nicht erreichen kann, bleibt bei seinen Ausführungen unklar und lässt sich auch gar nicht denken, denn der Einzelne betreibt bei den Antragsde1ikten gerade nicht die Strafverfolgung. Den zitierten Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip fehlt vor allem eine übergreifende Zuordnung von Strafrecht und Subsidiaritätsprinzip. Sie belegen lediglich, dass das Subsidiaritätsprinzip geeignet ist, in vielerlei Regelungen Assoziationen zu wecken, machen das Subsidiaritätsprinzip aber nicht zu einem juristischen Instrument, mit dem man argumentieren kann. Für die vorliegende Arbeit sind diese Äußerungen daher ohne Belang. 4. Arthur Kaufmann Arthur Kaufmann war es, der zuerst weitergehende kriminal politische Schlussfolgerungen aus dem Subsidiaritätsprinzip gezogen hat. Am Beispiel des Strafrechts könne man am genauesten registrieren, wieweit der Staat sich an das Subsidiaritätsprinzip hält 386 . Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips für das Strafrecht betreffe nicht nur Einzelprobleme, sondern vor allem kriminalpolitische Grundsatzentscheidungen 387 . Das Subsidiaritätsprinzip sei ein "Leitprinzip". Damit sei es zwar nur eine Orientierungshilfe für den Gesetzgeber, aber keine Leerformel, "wie ja auch ein Wegweiser nicht deshalb nutzlos ist, weil er niemand nötigt, den angezeigten Weg zu gehen". Erlässt der Gesetzgeber eine Strafdrohung, die über Erwägungen zur Subsidiarität hinweggeht, "wird er nicht erwarten können, dass ein solches Gesetz dann aus Überzeugung befolgt wird"388. Für das geltende deutsche Strafrecht stellte er fest, dass an vielen Beispielen demonstriert werden könne, wie sehr der positive Aspekt des Subsidiaritätsprinzips Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, § 61, S.4, m. w. N. Arth. Kaufmann, Tendenzen im Rechtsdenken der Gegenwart, S. 38. 387 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 100. 388 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 102 f. 385 386

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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vernachlässigt worden sei 389 • Die Ausübung der Strafgewalt könne nach dem Subsidiaritätsprinzip nie primäre Aufgabe des Staates sein. In einem Rechtsstaat dürfe das Strafrecht nur dort eingesetzt werden, wo es zum Schutz der Gesellschaft unbedingt erforderlich ist, nämlich einzig zum Schutz der Rechtsgüter, die für das Leben der Menschen im Mitsein mit den anderen unentbehrlich sind und die auf andere Weise als durch das Strafrecht nicht wirksam geschützt werden können 390 • Der Rechtsgüterschutz solle nicht über das Strafrecht funktionieren, sondern der Staat müsse positiv etwas tun. Insbesondere beim bereits zitierten Beispiel des § 218 StGB müsse wirksame Hilfe in medizinischer, psychologischer, seelsorgerischer und wirtschaftlicher Hinsicht für Schwangere angeboten werden. Diese nichtstrafrechtlichen Maßnahmen seien das primäre Mittel zum Rechtsgüterschutz. Auf keinen Fall dürfe eine Strafdrohung den womöglich wirksameren Schutz eines Rechtsguts durch nichtstrafrechtliche Mittel vereiteln 391. Kaufmann zieht aus dem Subsidiaritätsprinzip damit für das Strafrecht zwei Schlussfolgerungen: Erstens haben nichtstrafrechtliche Maßnahmen und insbesondere staatliche Leistungen Vorrang vor einer strafrechtlichen Konfliktlösung. Zweitens darf Strafrecht nur für Rechtsgüter eingesetzt werden, die für das Zusammenleben der Menschen unentbehrlich sind.

5. Brandt Brandt hat die erste und bislang einzige längere Untersuchung über die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzip für das Strafrecht verfasst 392 • Er knüpft an die Überlegungen Kaufmanns zum Subsidiaritätsprinzip an und versucht diese zu einem System fortzuentwickeln. Kriminologische Erkenntnisse würden die Minimierung staatlicher Eingriffe im Kriminalrecht, insbesondere eine Begrenzung strafrechtlicher Sanktionen verlangen 393 • Als Tendenzen zur Entkriminalisierung bezeichnet Brandt die Rechtsinstitute, die zur Straflosigkeit führen, wie zum Beispiel die Indemnität der Abgeordneten, den Rücktritt vom Versuch 394 oder die Möglichkeiten zur Verfahrenseinstellung im Sinne der §§ 153 ff. StP0 395 • Die materiellen Kriterien der Entkriminalisierungsvarianten ordnet er in verschiedene Einflussbereiche ein, namentlich die Einflussbereiche des Täters, des Opfers und des Staates 396 • Sodann deckt er Mängel in der kriminal politischen Konzeption der verschiedenen Bereiche

Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 105. Arth. Kaufmann, Tendenzen im Rechtsdenken der Gegenwart, S. 39. 391 Arth. Kaufmann, Henkel-Festschrift, S. 89, S. 104f. 392 Brandt, Subsidiaritätsprinzip. 393 Brandt, a.a.O., S. 71. 394 Brandt, a. a. 0., S. 75, S. 85 f. 395 Brandt, a. a. 0., S. 59ff., S. 76. 396 Brandt, a.a.O., S. 79ff. 389

390

144

2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

auf397 • So sei etwa der Grundgedanke des Rücktritts vom Versuch bzw. der tätigen Reue, nämlich den reuigen und letztlich keinen Schaden verursachenden Täter ohne staatliche Bestrafung zu lassen, nur lückenhaft durchgeführt. Der Strafverzicht würde z. B. für eine freiwillige, vollständige und rechtzeitige Schadenswiedergutmachung nach einem bereits vollendeten Delikt grundsätzlich versagt 398 . Angesichts dieses Befundes der vom Gesetzgeber nur punktuellen und inkonsequenten Entkriminalisierungsregelungen sei ein durchgängiges Prinzip vonnöten, aus dem die Entkriminalisierungsbedingungen einheitlich entwickelt und sodann in das kodifizierte Kriminalrecht umgesetzt werden können. Dieses Prinzip müsse zugleich das "Dach einer neben dem Unrecht und der Schuld vorhandenen dritten - dynamischen - kriminalrechtlichen Kategorie bilden, in der sämtliche Entpönalisierungsvoraussetzungen anzusiedeln sind; insoweit handelt es sich damit um eine Deliktskategorie, in der darüber entschieden wird, ob die begangene Tat strafbedürftig ist, ob eben bei konkreter Betrachtungsweise eine STRAF-Tat anzunehmen ist."399 Dieses Prinzip bzw. diese Deliktskategorie findet Brandt im Subsidiaritätsprinzip. Dabei räumt er Einwände aus, die gegen eine Übernahme des Prinzips in das Kriminalrecht sprechen 4°O. In seiner kriminalrechtlichen Ausgestaltung besage es: "Kann zunächst der Täter bzw. können sodann Täter und Opfer gemeinsam oder schließlich kleinere soziale Einheiten, innerhalb deren Lebenskreis ein Verbrechen verübt wird, nach dessen Begehung autonom keine kriminalrechtlich zufriedenstellende Regulierung bewirken, müssen staatliche Organe tätig werden, und zwar in erster Linie durch soziale Hilfen und erst in letzter Konsequenz strafend."401 Sodann behebt er die zuvor aufgezeigten "Mängel im kriminalpolitischen Konzept", wobei er jeweils auf das Subsidiaritätsprinzip verweist 402 . Zur Berücksichtigung restitutiver Leistungen des Täters etwa heißt es, nach der Grundaussage des Subsidiaritätsprinzips müsse eine entsprechende Regelung vorsehen, dass der Täter, der allein und erfolgreich den durch seine Tat angerichteten Schaden wiedergutmacht, "rechtlich garantiert sicher vor kriminalrechtlichen Eingriffen des Staates ist''403. Das restitutive Täterverhalten sei daher als Strafaufhebungsgrund auszugestalten 404 . Letztlich bleibt allerdings unklar, wozu Brandt das Subsidiaritätsprinzip braucht. Denn die "Mängel im kriminalpolitischen Konzept" des geltenden Rechts stehen für ihn schon fest, bevor die Sprache auf das Subsidiaritätsprinzip kommt, das schließlich in der Lage sein soll, die Mängel zu beheben. Ein Zusammenhang der aufgezeigten Mängel und dem Prinzip scheint daher von vornherein gar nicht zu bestehen. Das Subsidiaritätsprinzip wird von Brandt im Laufe der Arbeit flächendeckend als Brandt, a. a. 0., S. 94 ff. Brandt, a. a. 0., S. 94 f. 399 Brandt, a. a. 0., S. 121. 400 Brandt, a. a. 0., S. 161 f. 401 Brandt, a. a. 0., S. 167. 402 Brandt, a.a.O., S.169ff. 403 Brandt, a. a. 0., S. 170 f. 404 Brandt, a. a. 0., S. 173, S. 180. 397 398

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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Allheilmittel für alle von ihm aufgespürten "Mängel im kriminal politischen Konzept" verwandt und verliert dadurch an Kontur. Ebenso gut könnte es allein bei der Begründung bleiben, die jetzige Gestalt des Strafrechts überzeuge aus kriminal politischen Gründen nicht und müsse verbessert werden. Dass Brandt sozusagen begründungs begleitend das Subsidiaritätsprinzip einführt und behauptet, bestimmte Regelungen de lege ferenda würden aus dem Subsidiaritätsprinzip folgen und gleichzeitig die Mängel beseitigen, ist bereits von der Argumentationsstruktur her nicht stringent. Letztlich bleibt es auch in der Arbeit von Brandt bei der bloßen Behauptung, das Subsidiaritätsprinzip würde bestimmte Regelungen bevorzugen. Daher ist die einzige strafrechtliche Arbeit, die sich dem Subsidiaritätsprinzip widmet, mit einem Fragezeichen zu versehen. 6. Würdigung Die Aufnahme des Subsidiaritätsprinzips in das strafrechtliche Gedankengut ist auf den ersten Blick geprägt von einem Ost-West Gegensatz. Da das Subsidiaritätsprinzip eigentlich freiheitlich-liberalem Gedankengut entspringt, ist es erstaunlich, dass gerade die totalitären Regime des Ostblocks im Bereich des Strafrechts Strukturen aufgenommen haben, die diesem staatsrechtlichen Ordnungsprinzip entsprechen, während dem (west-)deutschen Strafrecht, das Teil eines freiheitlich-demokratischen Rechtssystems ist, Strukturen mit derartiger Richtung weniger zu eigen sind. Das erklärende Verbindungseiement ist die marxistisch-leninistische Theorie vom "Absterben des Staates", die zu den anarchistischen Theorien zu zählen ist405 • Das Subsidiaritätsprinzip hat seinerseits, wie bereits ausgeführt406 , eine Affinität zum Anarchismus. So mag es nicht verwundern, dass bestimmte gesellschaftliche Strukturen der Ostblockstaaten und hierbei insbesondere die Auffassung und Handhabung des Strafrechts, scheinbar den Subsidiaritätsgedanken rezipiert haben. Obwohl bekanntlich die Utopie der klassen- und dann auch staatenlosen Gesellschaft nie verwirklicht werden konnte, gab es im sozialistischen Staatsaufbau Elemente, die die "Entstaatlichung" der Gesellschaft vorantreiben sollten. Das Beispiel des Strafrechts des Ostblocks ist ein Aspekt des Paradoxons 407 , das in der anarchistischen Eschatologie des Marxismus-Leninismus einerseits und den totalitären Neigungen der marxistischen Staaten andererseits besteht. Wegen der gänzlich anderen Form der Ausübung der Herrschaftsgewalt in den Ostblockstaaten sind die Erkenntnisse aus deren Strafrecht jedoch nur schwerlich auf unsere Staatsform zu übertragen. Aus hiesiger Sicht, insbesondere im Hinblick auf die heftig geführte Diskussion um Entkriminalisierung des deutschen Strafrechts, klingt der Gedanke vom schrittweisen Rückzug des Strafrechts aus den Be405 Vgl. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 18 IV (S. 138ff.); R. Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 119. 406 Siehe oben 2. Teil, E. III. 4. 407 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, § 18 IV (S. 140).

10 Höffner

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2. Teil: Strafrecht als ultima ratio der Rechtspolitik

reichen der klassischen Strafrechtsptlege einerseits verlockend. Es kann dabei andererseits aber nicht übersehen werden, dass sich die Ostblockstaaten ganz anderer Fonnen der Disziplinierung der Gesellschaft bedienten, als sie nach den Grundsätzen der freiheitlichen Demokratie möglich sind, geschweige denn erstrebenswert wären. Der subsidiäre Charakter des Strafrechts nach marxistisch-leninistischer Vorstellung ist daher aus hiesiger Sicht zwar eine interessante Ausgestaltung des Strafrechts, kann aber nicht zur Lösung einzelner Fragen, die sich nach dem deutschen Recht stellen, fruchtbar gemacht werden. Von den Autoren, die sich auf der Grundlage unseres Demokratieverständnisses mit dem Subsidiaritätsgedanken im Zusammenhang mit Strafrecht auseinandergesetzt haben, ist Sax der einzige, der dem Subsidiaritätsgrundsatz für das Strafrecht keine Bedeutung beimisst. Die ablehnende Haltung von Sax beruht offenbar auf dem Bedürfnis in Zeiten des Kalten Krieges (die Anmerkung stammt aus dem Jahre 1959) staatstheoretisches Gedankengut der Ostblockstaaten nicht bedenkenlos zu übernehmen. Wenn er dabei gleich das ganze Subsidiaritätsprinzip als unbrauchbar abstempelt, kann man sich jedoch nicht des Eindrucks erwehren, er schütte das Kind mit dem Bade aus. Denn dem Subsidiaritätsprinzip selbst ist gerade keine (von Sax anscheinend gefürchtete) Tendenz zum Totalitarismus zu eigen, sondern genau das Gegenteil. Und wenn er sagt, im Bereich westlicher Strafrechtsptlege fehle es an der "Denkbarkeit" eines reglementierenden Staatsübergriffs auf das Gebiet eigenständiger und eigenverantwortlicher Lebensgestaltung, schießt er argumentativ deutlich über das Ziel hinaus: jegliches Strafrecht ist ein reglementierender Staatsübergriff. Genau das ist es gerade, worum es bei der Strafe geht, dass sie nämlich einen "reglementierenden Staatsübergriff" in die Lebensgestaltung des Einzelnen (und zwar des Täters) bewirkt. Täte sie das nicht, könnte man wohl kaum mehr von einer strafenden Wirkung sprechen. Deshalb fehlt es auch im "westlichen" Strafrecht nicht an der Denkbarkeit eines reglementierenden Übergriffs in die Lebensgestaltung des Einzelnen, sondern umgekehrt fehlt es an der Denkbarkeit, dass dem nicht so sein könne. Die Argumentation von Sax geht also offensichtlich am Thema vorbei. Gerade das von "westlicher Auffassung" geprägte Strafrecht sollte sich angesichts des freiheitlich-liberalen Charakters des Subsidiaritätsprinzips mit seiner Umsetzung beschäftigen. Was die hiesige Strafrechts wissenschaft betrifft, ist der Ertrag, der aus dem Subsidiaritätsprinzip geschöpft wird, eher ernüchternd. Es bleibt zunächst die Feststellung von Kaufmann über das Subsidiaritätsprinzip als "Leitregel" auch für die Strafrechtswissenschaft. Diese Einschätzung ist im Hinblick auf die staatsrechtliche Diskussion über den nonnativen Charakter des Subsidiaritätsprinzips zutreffend 408 • Darüber hinaus können die allgemeinen Folgerungen, die Kaufmann und Brandt für das Strafrecht geschlossen haben, festgehalten werden.

408

Siehe oben 2. Teil, E. III. 2. und 3.

E. Das Subsidiaritätsprinzip

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7. Fazit In der Strafrechts lehre ist die Bedeutung des Subsidiaritätsgrundsatz für das Strafrecht noch wenig beleuchtet. Es bleibt daher nur, sich in jeder Einzelfrage die Forderungen des Subsidiaritätsgedankens zu verdeutlichen und dann die notwendigen Schlussfolgerungen zu ziehen. Ein wichtiges Fazit lässt sich jedoch an dieser Stelle ziehen: Das Subsidiaritätsprinzip ist prinzipiell dazu geeignet, den Satz "Strafrecht ist die ultima ratio im Rechtsgüterschutz" zu begründen. Das Subsidiaritätsprinzip verweist darauf, dass ein Weniger an Strafrecht ein Mehr an individueller Freiheit bedeutet. Das Strafrecht ist als rein staatliche Sanktion die äußerste Maßnahme der staatlichen Fremdsteuerung. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzips ist es daher das am stärksten in die Freiheit der Bürger eingreifende Mittel. Dieses soll daher erst dann zur Konfliktlösung herangezogen werden, wenn die gesellschaftsinternen Möglichkeiten zur Konfliktvermeidung und Konfliktsteuerung versagen.

10*

Dritter Teil

Insolvenzverschleppung und ultima ratio Der dritte Teil dieser Arbeit bildet die Zusammenfassung der beiden ersten Teile. Als Quintessenz der Arbeit sollen die beiden ersten Teile aufeinander bezogen und die Ergebnisse systematisch aufgearbeitet werden, dies insbesondere im Hinblick auf eine normativ bestmöglich gestaltete Rechtspolitik. Dieses Programm beinhaltet zunächst eine schlichte "Anwendung" der Ergebnisse des zweiten Teils der Arbeit auf das Verhältnis von zivilrechtlicher Haftung zu strafrechtlicher Verantwortlichkeit im Falle der Insolvenzverschleppung. Anschließend werden die Folgen dieser Anwendung des Subsidiaritätsprinzips besprochen und weiterführende dogmatische und rechtspolitische Überlegungen angestellt.

A. Subsidiaritätsprinzip und Zivilrecht versus Strafrecht Beim Verhältnis der zivilrechtlichen Haftung zur strafrechtlichen Verantwortung bei Insolvenzverschleppung favorisiert der Subsidiaritätsgedanke die zivilrechtliche Regelung. Dass dies das Ergebnis einer Anwendung des Subsidiaritätsprinzips für eine rechtliche Regelung der Ahndung der Insolvenzversch1eppung ist, dürfte an dieser Stelle niemanden überraschen I. Hier soll lediglich eine im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip stringente Begründung für dieses Ergebnis gegeben werden: I Obwohl es mit der Anwendung des Subsidiaritätsprinzips bzw. des ultima ratio Satzes zuweilen Probleme gibt. Ich möchte nur eine Aussage von Lüderssen zum ultima ratio Prinzip erwähnen. Lüderssen nimmt an, aus dem ultima ratio Grundsatz folge, dass das Vermögensstrafrecht zwar nicht dort Unrecht annehmen dürfe, wo das Zivilrecht keine Haftung begründet, dass aber diese Akzessorietät nicht in umgekehrter Richtung gelte: nicht alles, wofür das Zivilrecht eine Verantwortung etabliert, sei strafbar; vgl. Lüderssen, Arm. Kaufmann-Gedächtnisschrift, S. 675, S. 685. Diese Aussage wird sicherlich jeder Strafrechtler ohne zu zögern unterschreiben. Das sonderbare bei der Haftung aus Insolvenzverschleppung war, dass diese durch die Figur des Quotenschadens gar keine reale Existenz aufwies. Das Zivilrecht begründete also gar keine Haftung für die Insolvenzverschleppung. Dennoch war die Insolvenzverschleppung schon immer ein Straftatbestand. Dies widerspricht der von Lüderssen aufgestellten These. Erstaunlicherweise stammt diese These aus einem Aufsatz von Lüderssen zum Straftatbestand des § 84 GmbHG, insbesondere zur Insolvenzverschleppung (der Aufsatz trägt den Titel "Der Begriff der Überschuldung in § 84 GmbHG", vgl. Lüderssen, Arm. KaufmannGedächtnisschrift, S. 675, S. 675.). Selbst Lüderssen merkte offenbar nicht, dass gerade die behandelte Strafvorschrift gegen die von ihm soeben aufgestellte These verstieß; vgl. Lüderssen a.a.O.

A. Subsidiaritätsprinzip und Zivilrecht versus Strafrecht

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Das Subsidiaritätsprinzip räumt der "niedrigeren" Ebene im Gesellschaftsaufbau den Vorzug für die Aufgabenwahrnehmung ein. Die Aufgabe, um die es hier geht, kann mit Sanktionierung des zu spät eingeleiteten Insolvenzverfahrens umschrieben werden. Diese kann sowohl durch den zivilrechtlichen Haftungstatbestand als auch durch den Straftatbestand geleistet werden. Wie bereits im Kapitel Deliktsrecht und Strafrecht im Rechtssystem gezeigt wurde 2 , erfüllen beide Tatbestände trotz des unterschiedlichen Rechtsgebiets die gleiche Aufgabe 3 • - Dabei ist die Aufgabenwahrnehmung durch die strafrechtliche Sanktion rein staatlich ausgestaltet 4 • Verwirklicht wird der staatliche Strafanspruch. Der Staat schafft sich mit der Staatsanwaltschaft eine staatliche Behörde, die "sein" Recht zur Bestrafung wahrnimmt. Sämtliche Entscheidungen obliegen dem Staat, der sie durch seine Behörden auch selbst umsetzt. - Bei der zivilrechtlichen Sanktionsgestaltung handelt es sich hingegen um einen privatrechtlichen Anspruch 5• Der Anspruch ist dem Vermögen des Einzelnen zugeordnet. Der ganze Vorgang der Sanktionierung obliegt seinem Verantwortungsbereich. Der Staat stellt ihm zwar mit den Sanktionsvorschriften und dem Justizapparat die Möglichkeit zur Verfügung, sein Recht geltend zu machen, sämtliche Handlungsentscheidungen sind aber vom Einzelnen in eigener Verantwortung zu treffen. Die Aufgabenwahrnehmung fällt also primär in den Verantwortungsbereich des Einzelnen. Bildet man im Sinne des Subsidiaritätsprinzips Hierarchieebenen (vom Gesamtstaat bis hinunter zu den einzelnen Bürgern), so wird die Aufgabe durch den zivilrechtlichen Schadenersatzanspruch auf der niedrigeren Ebene wahrgenommen als es durch den Straftatbestand geschieht. Die Aufgabenwahrnehmung wird von der staatlichen Ebene auf die Ebene der Einzelpersonen "heruntergestuft": vom staatlichen Verantwortungs bereich gelangt sie in den Verantwortungsbereich des einzelnen Bürgers. Die zivilrechtliche Sanktion ist daher auf der niedrigeren Ebene angesiedelt und damit im Sinne des Subsidiaritätsprinzips vorzugswürdig. Haffke hatte sich bereits 1991, also drei Jahre vor der in dieser Arbeit besprochenen Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofs, mit dem Verhältnis von zivilrechtlichen zu strafrechtlichen Regelungsmechanismen für die Insolvenzverschleppung befasst 6 • Während die von mir soeben gegebene Deutung eher eine formale, vorwiegend auf das "Oben" und "Unten" im Gesellschaftsaufbau bezogene Sicht beinhaltet, interpretiert Haffke in dem zitierten Text das Subsidiaritätsprinzip eher inhaltlich. Aber auch dabei kommt er zum Ergebnis, dass das Zivilrecht die vorrangige Regelungsmaterie sei. Aus dem Subsidiaritätsprinzip folge, dass "primär Siehe oben Einführung, C. Vgl. auch Frehsee, KrimJ 1986, S. 105, S. 107. 4 Siehe oben 1. Teil, C. III. 5 Siehe 1. Teil, B. IV. 1. 6 Haffke, KritV 1991, S.165, S.170ff. 2

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3. Teil: Insolvenzverschleppung und ultima ratio

die Regelungsmöglichkeiten des Rechtsgebiets, auf das sich das Strafrecht bezieht, auszuschöpfen sind"7 (was im vorliegenden Fall das Zivilrecht wäre). Es sei nicht Aufgabe des Strafrechts, solche Regelungsdefizite trotz dort vorhandenen Regelungspotentials auszugleichen. Das Strafrecht habe nicht die "Lücken zivilrechtlicher Selbststeuerung" zu besetzen; es begleite die "Selbststeuerung" und sichere sie ab, sei aber nicht "Fremdsteuerung". Das Problem der "Untersteuerung" könne und dürfe nicht durch das Strafrecht gelöst werden; es habe diese Probleme nicht zu seinen eigenen zu erklären, sondern müsse sie dort belassen bzw. dorthin zurückgeben, wo sie hingehören: in das zivile oder öffentliche Recht. Nach Haffke lässt sich am Beispiel der §§ 64,84 GmbHG dieser Gedanke gut veranschaulichen. Eine Benachteiligung der Gläubigerinteressen sei dem GmbH-Recht von vornherein mitgegeben, denn die Rechtsform der GmbH diene vor allem dem Interesse der Gesellschafter, das Risiko aus ihrer Geschäftstätigkeit höhenmäßig zu beschränken. Das widerspreche jedoch genau den Gläubigerinteressen8 • Dies ist die von Haffke sogenannte "Lücke zivilrechtlicher Selbststeuerung". Durch die Insolvenzantragsptlicht der Geschäftsführer der GmbH soll dieser strukturellen, bewusst und gewollt eingegangenen Gläubigergeflihrdung gegengesteuert werden; nur stelle sich die Frage, ob dieses Gegensteuerungsinstrument effizient genug ist ("Untersteuerung"), ob nicht noch weitere effizientere Gegensteuerungsinstrumente zur Verfügung stünden 9• "Wo feinere und wahrscheinlich viel wirkungsvollere zivilrechtliche Regelungen zur Verfügung stehen, braucht die Keule des Strafrechts nicht geschwungen zu werden"l0 (Ablehnung der "Fremdsteuerung"). Haffke bezieht diese Frage auf das Verhältnis von Insolvenzantragsptlicht zu Haftungsdurchgriff wegen Unterkapitalisierung und ähnlicher, die Kapitalausstattung der GmbH sichernder Instrumentell. Nach der hier thematisierten Rechtsprechungsänderung des Bundesgerichtshofs lässt sich die Frage jedoch wesentlich präziser fassen als die Frage nach der Absicherung der Gläubigerrisiken durch zivilrechtliche Schadenersatzhaftung versus strafrechtliche Verantwortung: Soll das Strafrecht neben dem mittlerweile 12 bestehenden zivilrechtlichen Schutz der Insolvenzantragsptlicht zusätzlich steuernd eingreifen? Nach dem Subsidiaritätsprinzip lautet die Antwort eindeutig Nein: Die betreffende Aufgabe wird auf der zivilrechtlichen Ebene in ausreichendem Maße bewältigt. Das Eingreifen der im Sinne des Subsidiaritätsprinzips höheren strafrechtlichen Ebene ist daher nicht notwendig, sondern, auch dies ist die Aussage des Subsidiaritätsprinzips, sogar schädlich. Ähnlich: Lüderssen, Krise, S.40f. Vgl. zu dieser Risikoabwälzenden Haftungsstruktur der GmbH Immenga, Personalistische Kapitalgesellschaft, S. 124f. 9 Haffke, KritV 1991, S.165, S.174. 10 Haffke, KritV 1991, S.165, S.175. 11 Haffke, KritV 1991, S.165, S.174f. 12 1991, als Haffke den zitierten Aufsatz schrieb, gab es den hier besprochenen Anspruch aus § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 64 Abs. 1 GmbHG praktisch noch nicht. Siehe 1. Teil, B. 11. 2. b) und c). 7

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B. Effektivierung der Rechtsverfolgung durch Privatisierung

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B. Effektivierung der Rechtsverfolgung durch Privatisierung Nach dieser "Anwendung" des Subsidiaritätsprinzips auf das Verhältnis zivilrechtlicher Haftung zu strafrechtlicher Verantwortlichkeit bei der Insolvenzverschleppung sollen hier die Folgen dieser Anwendung aufgezeigt werden. Zunächst sei auf den Topos Effektivität der Regelung eingegangen. Für das Strafrecht ist immer noch die Bezeichnung "schärfstes Schwert im Instrumentarium des Gesetzgebers" gebräuchlich. Diese Bezeichnung ist insofern berechtigt, als dem Strafrecht mit der Freiheitsstrafe die einschneidendste Sanktion, welche die Rechtsordnung kennt, zur Verfügung steht 13. Impliziert wird mit dieser Bezeichnung, dass dem Strafrecht bei der Unrechtsbekämpfung besonders große Wirksamkeit zukommt. Wenn ein Missstand nachhaltig bekämpft werden soll, so wird sofort der Ruf nach dem Strafrecht laut. Im ersten Teil dieser Arbeit sahen wir demgegenüber, dass bezüglich der Durchsetzung der Pflicht zur Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens der Einsatz des Strafrechts nicht zu einer konsequenten Rechtsverfolgung führt. Zugespitzt formuliert erschöpft sich die Funktion der Strafvorschrift darin, bei Verdacht auf eine entsprechende Straftat, die Grundlage für eine Einstellungsnachricht zu bilden. Die Durchsetzung der Strafvorschrift bewegt sich daher unterhalb der Schwelle, ab der Sanktionsvorschriften beginnen, für die Rechtsbetroffenen von ernsthaftem Interesse zu sein 14. Vom "schärfsten Schwert im Instrumentarium des Gesetzgebers" kann daher keine Rede sein. Das Beispiel der Insolvenzverschleppung belegt aber darüber hinaus, dass ein funktionierendes Privatrechts system zwar nicht generell, aber jedenfalls bei Vermögensverletzungen, den Einsatz des Strafrechts obsolet macht. Drei Punkte sollen hierfür angeführt werden.

I. Effektivierung durch Erhöhung des Haftungsrisikos Es soll zunächst auf das Motiv des Bundesgerichtshofs für die besagte Rechtsprechungsänderung hinsichtlich des Schadenersatzes bei Insolvenzverschleppung eingegangen werden: Es ging um die wirksamere rechtliche Durchsetzung der Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages durch Erhöhung des Haftungsrisikos. Vor der BGH-Entscheidung existierte auf der einen Seite mit § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG eine strafrechtliche Sanktion, die als "ineffektiv" bekanne s und auf der an\3 Obwohl das Zivilrecht mit dem persönlichen Arrest, usw. auch Zugriffsmöglichkeiten auf die Person des Schuldners kennt. Diese nehmen in der Rechtspraxis allerdings eine derart untergeordnete Rolle ein, dass sie im Vergleich mit dem gänzlich auf die Freiheitsstrafe angelegten Strafrecht nicht ins Gewicht fallen. 14 Vgl. zu den Überlegungen des potetiellen Täters Kirchner in: OU/Schäfer, Die Präventivwirkung zivil- und strafrechtlicher Sanktionen, S.108, S. 120f. 15 Gessner, Praxis der Konkursabwicklung, S.111 f.; Hopt in: Das Unternehmen in der Krise, S.II, S.31; Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S.162.

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3. Teil: Insolvenzverschleppung und ultima ratio

deren Seite eine deliktische Schadenersatzptlicht, die durch die Beschränkung auf den Quotenschaden ebenfalls zur Wirkungslosigkeit verdammt war l6 • In dieser Lage wollte der Bundesgerichtshof durch seine Grundsatzentscheidung einen Haftungsanspruch schaffen, indem er die Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages rechtlich verbindlicher gestaltete: "Als Instrument des Gläubigerschutzes" , so der Bundesgerichtshof, "muss das Gebot der rechtzeitigen KonkursantragsteIlung schadenersatzrechtlich - und nicht nur strafrechtlich - so sanktioniert sein, dass dieser Schutz wirksam ist." 17 Auch in der Literatur wird die zivilrechtliche Haftung für wirkungsvoller gehalten. Um eine rechtzeitige InsolvenzantragsteIlung zu bewirken, hält es Kübler "angesichts der bekannten Unzulänglichkeiten der Strafverfolgung in Wirtschaftsstrafsachen" 18 für den einzig verbleibenden Weg, eine praktisch wirksame zivilrechtliche Schadenersatzpflicht der antragspflichtigen Vertretungsorgane zu begründen 19. Nach Lutter hat die BGH-Entscheidung zur Folge, dass "insolvente GmbHs im Rechtsverkehr nichts mehr zu suchen" haben 20 • Im Endeffekt soll sich aus der erweiterten zivilrechtlichen Haftung, in diesem Punkt sind sich die Kommentatoren der BOH-Entscheidung einig 21 , ein - angesichts des Status quo der weitgehend masse losen Insolvenzen - von allen Seiten gewünschter Rückgang der masse losen Insolvenzen ergeben. Ob die neue BGH-Rechtsprechung tatsächlich solche weitreichenden Folgen haben wird, bleibt noch abzuwarten 22 • In dieser Arbeit wurden bereits die bestehenden Bedenken gegen eine Effektivitätsmessung von Gesetzen erläutert 23 • Für die hier behandelte Frage wird dieses Problem jedoch dadurch vereinfacht, dass zwei rechtliche Gestaltungen zu beurteilen sind, die nach dem gleichen Schema der nachträglichen Sanktion der Pflichtverletzung arbeiten. Fest steht daher, dass, nimmt man eine wie auch immer geartete generalpräventive Wirkung von Verhaltenssanktionen an, die größere Wirkung von der zivilrechtlichen Haftung ausgehen muss, bzw. von dieser überhaupt erst eine generalpräventive Wirkung erwartet werden kann. Das beträchtlich erhöhte Haftungsrisiko ist in jedem Fall dazu geeignet, auf den Geschäftsführer einen spürbar größeren Druck zur rechtzeitigen Stellung des Insolvenzantrages auszuüben 24 • Der Geschäftsführer kann sich in kritischen Situationen geradezu konkret ausrechnen, für welche vertraglichen Verpflichtungen er persönlich einzuSiehe 1. Teil, B.n. 2. b). BGHZ 126, S.181, S.197. 18 Kübler, ZGR 1995, S. 481, S.484. 19 Kübler, ZGR 1995, S.481, S.485. 20 Lutter, DB 1994, S. 129, S. 134. 21 So bereits Lindacher, DB 1972, S. 1424, S. 1425 (noch als Forderung formuliert). Jetzt: Lutter, DB 1994, S. 129, S. 134; Bauder, BB 1993, S. 2472, S. 2473; Kübler, ZGR 1995, S.481, S.495. 22 Zurückhaltend Meyke, Haftung, F. VIII. 8. (Rdn.339). 23 Siehe oben 2. Teil, D. III. 3. 24 Vgl. Lutter, DB 1994, S.129, S.134; Kübler, ZGR 1995, S.481, S.495. 16

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B. Effektivierung der Rechtsverfolgung durch Privatisierung

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stehen haben wird, wenn er nicht pflichtgemäß die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Die in ihrer Umsetzung blutleere Straferwartung veranlasst den Geschäftsführer sicher nicht zu genaueren Erwägungen, was sich ja auch in der Rechtspraxis der vergangenen Jahre zur Genüge bestätigt hat.

11. Effektivierung durch Aktivierung des Privatinteresses Die Rechtsverfolgung wird aber nicht nur durch das betragsmäßig höhere Haftungsrisiko, sondern darüber hinaus durch Aktivierung des Privatinteresses der Ge. schädigten effektiver gestaltet 25 •

1. Mobilisierung der Energie des persönlich Betroffenen In erster Linie wird der Geschädigte mit größerer Energie und mehr emotionalem Schwung seine Ansprüche verfolgen als die materiell und persönlich unbeteiligte Staatsanwaltschaft und damit eine größere Verfolgungsintensität erreichen 26 • Das Engagement des Geschädigten hat ja schließlich Aussicht darauf, durch den Erhalt des Schadenersatzes belohnt zu werden: Die Staatsanwaltschaft hat angesichts der üblichen Handhabung der Einstellungsvorschriften bei Wirtschaftsdelikten nicht einmal Aussicht auf einen Erfolg in der Sache (durch eine Verurteilung). Nach Befragung von Insolvenzverwaltern, denen wegen ihrer Sachnähe und -kenntnis hohes Beurteilungsvennögen zukommt, ist es empirisch belegbar, dass die Staatsanwaltschaft die Strafverfolgung nicht gründlich genug betreibt. Befragt wurden die Insolvenzverwalter nach ihrer Einschätzung zur Verfolgungs intensität der Staatsanwaltschaften bei Insolvenzdelikten. Das Ergebnis sah wie folgt aus: Fast die Hälfte der Befragten gab an, dass die Verfolgungsorgane "selten" oder "nie" ausreichend aktiv werden; weitere 27 % ringen sich zu einem immer noch sehr skeptischen "gelegentlich" durch und nur 28 % meinen, dass der Legalitätsgrundsatz durch regelmäßige Strafverfolgung ausreichend gewahrt wird 27 • Die mangelnde Anwendung strafrechtlicher Sanktionen wird üblicherweise auf Ennittlungsdefizite oder Kapazitätsprobleme zurückgeführt 28 • Dass die Staatsanwaltschaften nur mangelhaft Insolvenzstraftaten verfolgen, mag zwar auch an ihrer Arbeitsüberlastung liegen. Vor allem aber - und dies kann man den Staatsanwälten nicht vorwerfen - ist das bereits geschilderte unbefriedigende Verhältnis zwischen Aufwand und Effekt des Strafverfahrens bei Insolvenzverschleppung 29 schuld. 25 Auch im US-amerikanischen Recht wird die prozessuale Durchsetzung der punitive damages an die geschädigte Partei aus Gründen der Effizienz delegiert. Vgl. dazu Reimann, USamerikanisches Privatrecht, § 27 4 d (S. 97 f.), § 66 I (S. 269); Stein, EuZW 1994, S. 18, S.23. 26 So auch Dingeldey, Insider-Handel und Strafrecht, S. 114 zum Fall des Insiderhandels. 27 Gessner, Praxis der Konkursabwicklung, S~ 226. 28 So etwa Ransiek, Unternehmensstrafrecht, S.162. 29 Siehe nochmals oben 1. Teil, C. IV.

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3. Teil: Insolvenzverschleppung und ultima ratio

Letztlich liegt damit die mangelnde strafrechtliche Rechtsdurchsetzung eigentlich in der Natur der Sache und diese Erkenntnis unterstreicht, dass das Strafrecht nicht das geeignete Instrument zur Regulierung des durch die Insolvenzverschleppung entstehenden Konflikts ist. 2. Präzisierung des Haftungstatbestandes durch Verfolgung der Schadenersatzansprüche Angemerkt sei außerdem, dass das verstärkte Privatinteresse für die Feststellung der Haftung des Geschäftsführers auch dazu führen wird, dass die Haftungstatbestände präzisiert werden. Denn man kann mit Sicherheit annehmen, dass es eine größere Nachfrage nach Rechtsprechung bei Insolvenzverschleppung geben wird. Die schärfere Haftung der Geschäftsführer bringt ein größeres Interesse der Gläubiger an der zivilrechtlichen Verfolgung ihrer Ansprüche mit sich. Die höhere Zahl der Klageerhebungen wiederum wird zu mehr Rechtsprechung und damit auch zu einer Präzisierung der Haftungsvoraussetzungen führen. Außerdem werden sich die Gläubiger einer insolvent gewordenen Gesellschaft bemühen, dem Geschäftsführer im Rechtsstreit einen möglichst frühen Zeitpunkt des Eintritts der Insolvenzreife nachzuweisen, um dadurch in die nunmehr vorteilhafte NeugläubigersteIlung zu gelangen 30• Auch durch eine solchermaßen erreichte größere Gewissheit über die Haftungsvoraussetzungen wird die Durchsetzung der Haftungsnorm eher möglich sein.

III. Gleichlauf von Herrschaft und Haftung In rechtspolitischer Hinsicht entspricht der Rechtssprechungswandel des Bundesgerichtshofs auch einem wirtschaftsrechtlichen Postulat. Mit der Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB i. V. m. § 64 Abs. 2 GmbHG und der damit verbundenen Verschärfung der persönlichen Haftungsverantwortung der Unternehmensleitung wird ein Stück weit der Gleichlauf von Herrschaft und Haftung in die Rechtswirklichkeit der GmbH zurückgeholt 3l • Die Formel vom Gleichlauf von Herrschaft und Haftung meint die wirtschaftspolitische Forderung, dass sich mit unternehmerischer Herrschaft die Haftung für die aus dem Unternehmen resultierenden Schulden verbinden müsse 32 • Im Sinne einer liberalen Wirtschaftspolitik soll dadurch ein Institutionenrahmen geboten werden, innerhalb dessen sich das Leistungsprinzip und das Ausleseprinzip realisieren können 33 • Das wirtschaftliche Risiko soll die am Markt auftreBauder, BB 1993, S.2472, S.2473; Kübler, ZGR 1995, S.481, S.495. Knieper, Zwang, Vernunft, Freiheit, S.189f. 32 Immenga, Personalistische Kapitalgesellschaft, S. 117 ff.; Flurne, Personengesellschaft, § 13 V; Wilhelm, Rechtsform, S. 338 f.; Wiedemann, Gesellschaftsrecht I, § 10 III 2 a, m. w. N. 33 Knieper, Zwang, Vernunft, Freiheit, S.188. 30

31

C. Betrachtung zum Rechtsgüterschutz

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tenden Wirtschaftssubjekte dazu zwingen, sich auf die Marktverhältnisse so gut und elastisch wie eben möglich einzustellen (Leistungsprinzip). Unternehmerischer Misserfolg führt zur Unrentabilität und beim Zwang zum Einstehen für auftretende Verluste zum Ausscheiden aus dem Wettbewerb (Ausleseprinzip). Können dagegen finanzielle Verluste durch Haftungsbeschränkung auf Dritte, wie etwa die Gläubiger, abgewälzt werden, so ist ein Verbleib am Markt ungeachtet unternehmerischer Fehlleistung in einem doch erheblichen Umfang möglich 34 . Für die GmbH wird das Ausleseprinzip durch die BGH-Entscheidung wieder eingeführt. Zwar geschieht dies nicht durch eine persönliche Verschuldenshaftung wie etwa bei der OHG, denn die Haftungsbeschränkung des § 13 Abs. 2 GmbHG bleibt weiterhin bestehen. Weder Gesellschafter noch Leitungsorgane müssen für die Schulden der Gesellschaft einstehen, sofern die GmbH im Rahmen des durch die Gesetze gesteckten Rahmens betrieben wird. Aber der Geschäftsführer muss für die ihn treffende Pflicht, in einer Krisensituation auf die Insolvenzgründe zu achten und gegebenenfalls die Eröffnung des Insolvenzverfahrens zu beantragen (§ 64 Abs. 2 GmbHG), persönlich einstehen. Er haftet also nicht für die Schulden der GmbH, sondern für eigenes individuelles Verschulden, für die Verletzung einer eigenen Pflicht und damit für eine so begründete eigene Verbindlichkeit. Der Geschäftsführer schuldet selbst 35 . Der Bundesgerichtshof hat nach den Worten von Flume "lediglieh ernst gemacht mit der Pflicht zur Stellung des Insolvenzantrages"36. Der Rechtsprechungswandel war zwar nicht vom Grundsatz "Gleichlauf von Herrschaft und Haftung" abgeleitet, sondern folgte den Bedürfnissen der Praxis. Mit dem Rechtsprechungswandel reagierte der Bundesgerichtshof auf Symptome im gesamtwirtschaftlichen Prozess, die man jedoch als Folgen einer zu großen Trennung von Herrschaftsmacht und Haftung bei juristischen Personen bezeichnen kann. Aus diesem Umschwung der Rechtsprechung kann man daher ableiten, dass ein funktionsfahiges Wirtschaftssystem ohne ein bestimmtes Maß von Zusammentreffen von Leitungsmacht und persönlicher Verantwortung nicht auskommt. Der Grundsatz vom "Gleichlauf von Herrschaft und Haftung" besitzt zwar keine theoretische Geltung, muss aber aus praktischen Gründen beachtet werden. Er kann damit als ein ungeschriebenes Gesetz für eine funktionierende Wirtschaftsordnung betrachtet werden.

c.

Betrachtung zum Rechtsgüterschutz

Das vorstehende Kapitel zeigte, dass die Haftung auf Schadenersatz allemal effektiver sein kann, als eine Strafvorschrift im Randbereich der Vermögensdelikte, die ihr Dasein nur knapp oberhalb der Grenze zum Nichtvollzug fristet. Die Tatsa34

Immenga, Personalistische Kapitalgesellschaft, S. 118.

35

Bork. ZGR 1995, S.505, S.518.

36

Flurne, ZIP 1994, S.337, S.339f.

156

·3. Teil: Insolvenzverschleppung und ultima ratio

che, dass es sich bei § 84 Abs. 1 Nr.2, Abs. 2 GmbHG um ein abstraktes Gefahrdungsdelikt handelt, rückt aber noch etwas anderes ins Blickfeld: den Rechtsgutsbezug. Der Rechtsgutsbezug weist dabei über die bloße Effektivität der Regelung hinaus, denn er vermittelt eine Legitimierung der Sanktion. In der Strafrechtslehre ist der Rechtsgutsbezug das Legitimitätskriterium für Strafvorschriften 37 ; kurz gesagt gehört demnach ein Tatbestand, der sich nicht auf den Schutz eines Rechtsguts berufen kann, nicht ins Strafgesetzbuch 38 • Weiter gefasst, bewegt man sich mit dem Topos Rechtsgüterschutz nicht nur im Rahmen der Strafrechtsordnung, sondern im Rahmen der Gesamtrechtsordnung. 39 Insbesondere kann das Rechtsgutskriterium mit der gleichen Berechtigung, die es für das Strafrecht hat, auch auf das Deliktsrecht angewandt werden 40 • Man kann daher dieses Kriterium auch dazu heranziehen, zu entscheiden, welche der beiden Sanktionsarten StrafeIHaftung die größere Legitimität hinsichtlich des zu schützenden Rechtsguts besitzt. Frehsee wies bereits darauf hin, dass Schadenersatz wegen der Rechtsfolge generell besser geeignet ist, den Schutzzweck der Norm zu verdeutlichen, als die ohne jeden symbolischen Bezug zum verletzten Rechtsgut bleibende Strafsanktion41 • Für den Fall der Insolvenzverschleppung stellt sich der Unterschied im Rechtsgutsbezug jedoch noch drastischer dar, denn der Tatbestand ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt.

I. Rechtsgutsbezug bei § 84 Abs.l Nr.2, Abs.2 GmbHG Das traditionelle Strafrecht ist an der Verletzung individueller Rechtsgüter orientiert 42 • § 84 Abs.1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG als abstraktes Gefahrdungsdelikt erschöpft sich dagegen in der Bestrafung der Pflichtverletzung. Ein besonderer tatbestandlicher Erfolg muss nicht nachgewiesen werden. Insbesondere braucht nicht dargelegt zu werden, ob und welchen Schaden die Pflichtverletzung angerichtet hat 43 • Der entscheidende Nachteil der abstrakten Gefahrdungsde1ikte wird daher darin gesehen, dass sie aufgrund der mit ihnen einhergehenden Abstraktion selbst dann eingreifen, wenn im Einzelfall das Verhalten des Täters für das geschützte Rechtsgut ungefährlich ist 44 • In der Strafrechtsliteratur wird aus diesem Grunde auch immer wieder darüber diskutiert, ob das Fehlen einer konkreten Gefahr bei einzelnen Delikten beVgl. bereits oben m. w. N. So Hassemer in: Nomos Kommentar, Vor § I Rdn.261 a. E. 19 Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte, S. 146 f.; Vgl. auch Hassemer in: Nomos Kommentar, Vor § 1 Rdn.294, Rdn. 300, der darauf hinweist, dass die Aufgabe des Rechtsgüterschutzes nicht nur von der Rechtsordnung wahrgenommen wird, sondern auch von anderen gesellschaftlichen und staatlichen Instutitionen. 40 Siehe oben Einführung, C. II. 41 Frehsee, KrimJ 1986, S. 105, S. 111. 42 So etwa Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 19 Rdn. 23. 43 Siehe oben 1. Teil, C. 11. 44 So Zieschang, Gefahrdungsdelikte, S. 383. Vgl. auch Lagodny, Schranken, S. 442. 37 38

C. Betrachtung zum Rechtsgüterschutz

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reits für den Schuldspruch oder erst für den Strafausspruch berücksichtigt werden so1l45. Zu dem zu schützenden Rechtsgut besteht bei abstrakten Gefahrdungsdelikten kein direkter Bezug 46 : Während die Deliktskategorien Erfolgsdelikt bzw. konkretes Gefahrdungsdelikt entweder die Verletzung oder die konkrete Gefährdung eines Rechtsguts untersagen, werden die durch ein abstraktes Gefahrdungsdelikt geschützten Rechtsgüter im Tatbestand gar nicht genannt 47 • Das Rechtsgut bildet lediglich das Motiv für die Schaffung der Strafvorschrift48 • Aus der tatbestandlichen Umschreibung des verbotenen Verhaltens kann nicht auf den rechtsgutsbezogenen Interessenkonflikt, den zu venneidenden Zweck der Nonn, geschlossen werden 49 • Bezeichnenderweise wird beim Straftatbestand des § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG der Schutzzweck erheblich allgemeiner und weniger fassbar umschrieben 50, als dies etwa der Bundesgerichtshof in seiner Grundsatzentscheidung zu § 64 Abs.2 GmbHG/§ 823 Abs.2 BGB tut 51 • Dieser nur sehr mittelbare (bzw. indirekte) Rechtsgutsbezug führt dazu, dass der kriminelle Gehalt der Tat für den Rechtsanwender weniger anschaulich und daher nicht genügend fassbar ist. Denn je unklarer die Lokalisierung des Schadens ist, desto eher ist man geneigt, strafwürdiges Verhalten zu verneinen 52 • Welchen Unrechtsgehalt die konkrete Pflichtverletzung bei einer Tat gemäß § 84 Abs. 1 Nr.2, Abs. 2 GmbHG haben soll, ist gar nicht Gegenstand des Strafverfahrens und kann daher dem Rechtsgefühl der Beteiligten gar nicht vennittelt werden. Die Folge? In der Rechtsanwendung wird die Strafverfolgung mit dem bereits beschriebenen, allenfalls mäßig zu nennenden Nachdruck gehandhabt: In der Regel werden die "Taten" nicht aufgedeckt, und wenn eine Strafe verhängt wird, liegt sie regelmäßig in dem Bereich, der etwa auch für "Schwarzfahren" verhängt werden kann. § 84 Abs. 1 45 V gl. zu § 84 GmbHG Tiedemann in: Delitala-Gedächtnisschrift, S. 2147, S. 2152, der sich dafür ausspricht entgegen der bisherigen herrschenden Meinung den Gegenbeweis der Ungefährlichkeit der Handlung bzw. der Unterlassung zuzulassen, vgl. a. a. O. 46 Die "Aufklärung des materiellen Substrats von Gefahrdungskriminalisierungen" bereitet deshalb auch dogmatisch erhebliche Schwierigkeiten, vgl. dazu insbesondere F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge, S. 1 ff., (Zitat S.48). Vgl. dazu auch Graul, Abstrakte Gefahrdungsdelikte, S. 140ff.; Zieschang, Gefährdungsdelikte, S. 349 ff., der die angebotenen Begründungen zur Legitimation der abstrakten Gefährdungsdelikte allesamt für nicht überzeugend hält und deswegen dafür plädiert, abstrakte Gefahrdungsdelikte aus dem Kriminalstrafrecht zu entfernen, vgl. a. a. O. S. 380ff., S. 391 f. 47 Kindhäuser, Gefahrdung als Straftat, S. 227. 48 Roxin, Strafrecht ATI, § 2 Rdn. 25, § 11 Rdn.127. 49 Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, S. 225. 50 "Interesse der Gesellschaftsgläubiger, der Gesellschaft und anderer dritter Personen an einer wirtschaftlich gesunden Gesellschaft"; GmbH ist "beliebte Rechtsform auch bei unseriösen Schuldnern" usw. Siehe oben 1. Teil, C.!. 1. mit Nachweisen. 51 "Vermögensinteresse der Gläubiger", Siehe sogleich. 52 So etwa Arzt/Weber, Strafrecht BT, § 19 Rdn. 23. Ähnlich: Volk, JZ 1982, S. 85, S. 88 (Je mehr man sich von klar umrissenen Individualrechtsgütern entfernt, desto schwieriger wird es, sich über die Notwendigkeit von Strafnormen zu verständigen.).

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3. Teil: Insolvenzverschleppung und ultima ratio

Nr. 2, Abs. 2 GmbHG dient im Endeffekt nur noch als Auffangtatbestand für nicht beweisbare Betrugs- und Insolvenzstraftaten 53 , führt also eigentlich gar kein eigenständiges Dasein. Die Strafvorschrift ist dadurch ein Paradebeispiel für ein abstraktes Gefährdungsdelikt, das durch die Auflösung des Rechtsgutsbezugs in der Rechtsanwendung außer Kontrolle gerät 54 •

11. Rechtsgutsbezug der Schadenersatzhaftung Anders verhält sich dies beim Schadenersatz. Der Bundesgerichtshof hat den Gläubigem einen Anspruch auf Ausgleich des Schadens zugebilligt, der ihnen dadurch entsteht, dass sie in Rechtsbeziehung zu einer überschuldeten oder zahlungsunfähigen Gesellschaft getreten sind 55 . Allein durch diese Schadensbenennung hat der Bundesgerichtshof den Rechtsgutsbezug der Insolvenzantragspflicht konkret gemacht, ja gerade wiederhergestellt. Denn dem natürlichen Schadensbegriff zufolge ist Schaden die Einbuße an Rechtsgütern 56 , die durch die Schadenersatzptlicht ausgeglichen werden soll. Die Pflicht zur Insolvenzantragsstellung bezieht sich nunmehr ausdrücklich darauf, Forderungsausfälle von zukünftigen vertraglichen Gläubigem einer insolvent gewordenen GmbH zu vermeiden. Geschützt wird das Vermögen derjenigen, die mit juristischen Personen in Geschäftskontakt treten. Durch die Schadenersatzpflicht wird diese Schutzrichtung eins zu eins vermittelt: das geschützte Rechtsgut, der Vermögensschaden, muss vom Geschädigten im Prozess dargelegt und notfalls bewiesen werden. Das geschützte Rechtsgut wird somit zum Bestandteil der Anspruchsvoraussetzungen und zum Gegenstand des zu führenden Prozesses gemacht, was bei der Strafnorm nicht der Fall ist. Indem der Bundesgerichtshof die Forderungsausfälle der Neugläubiger zu einem ersatzfähigen Schaden umwandelte, hat er gleichsam den Rechtsgutsbezug der Vorschrift konkretisiert. Der Vermögensschaden als Rechtsgutsbezug der Vorschrift muss im Prozess dargetan und bewiesen werden. Betrachtet man das Vermögen der Gläubiger als das zu schützende Rechtsgut, wird darüber hinaus die jeweilige Sanktionshöhe plausibel: Sie richtet sich danach, in welchem Maße der Geschäftsführer nach Eintritt der Insolvenzreife noch Verpflichtungen eingegangen ist. Die Höhe der Ersatzleistung hängt unmittelbar vom postulierten Unrechts gehalt der Handlung ab. Die Schadenersatzpflicht hat damit klare Beziehungen sowohl zum geschützten Rechtsgut, als auch zu der Sanktionshöhe. In der Rechtsanwendung ist der Haftungstatbestand daher auch nicht zweifelhaft. Siehe unten bei Fn. 103. Ähnliches hat Detzner, Rückkehr zum ,,klassischen Strafrecht", S. 50ff. für den Tatbestand des § 264 StGB (ebenfalls ein abstraktes Gefährdungsdelikt) festgestellt. 55 BGHZ 126, S.181, S.198. 56 Vgl. Heinrichs in: Palandt, Vor § 249 Rdn. 7; StolI, Haftungsfolgen, S.240f.; Lange, Schadenersatz, § 1 (S.28). 53

54

D. Folgerungen für das Wirtschafts strafrecht

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III. Zwischenergebnis Wahrend das zu schützende Rechtsgut durch den abstrakten Gefährdungstatbestand des § 84 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 GmbHG praktisch überhaupt nicht reflektiert wird, schlägt es sich bei dem Haftungstatbestand in ganz verschiedener Hinsicht nieder. Die Rechtsfolge Schadenersatz steht daher im Vergleich zur Rechtsfolge Strafe in unmittelbarerer Beziehung zu dem geschützten Rechtsgut. Nimmt man das Kriterium des Rechtsgüterschutzes, um die Legitimität der jeweiligen Sanktionsvorschrift zu beurteilen, so spricht dies ganz eindeutig für die Schadenersatzpflicht.

D. Folgerungen für das Wirtschaftsstrafrecht Das Verhältnis der zivilrechtlichen Haftung zum Straftatbestand im Falle der Insolvenzverschleppung gibt Anlass, zwei Aspekte der strafrechtlichen Diskussion der letzten Jahre zu überdenken: strafrechtliche Privatisierungsbestrebungen und den Aspekt des Vermögensschadens als wirtschaftsstrafrechtliches Rechtsgut.

I. Privatisierung des Konflikts anstelle Privatisierung des Strafrechts In der Strafrechtslehre und -gesetzgebung waren schon immer Überlegungen vorhanden, Instrumente und Elemente mit privatrechtlichem Charakter bzw. mit Bezug zu den beteiligten Privatpersonen aufzugreifen. So gab es gewichtige Stimmen, die während der Diskussion um die Einführung des Legalitätsprinzips in die StPO eine generelle subsidiäre Privatklage forderten. 57. In den 80er Jahren ist das Opfer einer Straftat und seine Rechtsstellung von der strafrechtlichen Theorie und in der strafrechtspolitischen Reformdiskussion sozusagen "wiederentdeckt" worden 58. Der 55. DJT 1984 befasste sich auf der Grundlage eines Gutachtens von RieB eingehend mit der Rechtsstellung des Verletzten im Strafverfahren und entwarf Vorschläge für deren Verbesserung 59 • Eine neue kriminalpolitische Strömung rückte dann den Tater-Opfer-Ausg1eich bzw. die Schadenswiedergutmachung als Instrument strafrechtlicher Sozialkontrolle ins Blickfeld 60 • Vgl. hierzu: Weigend, Anklagepflicht und Ermessen, S. 85 ff. So Schünemann, NStZ 1986, S.193, S. 194. Vgl. jüngst zur Freiheit und Freiwilligkeit auf der Opferseite einer Strafnorm Amelung, GA 1999, S.182ff. 59 V gl. dazu Rieß, Gutachten C für den 55. Deutschen Juristentag und die Sitzungsberichte zum Thema des Gutachtens von Rieß, L (Band 11). 60 Vgl. eingehend Frehsee, Schadenswiedergutmachung, passim; Dölling, JZ 1992, S.493, passim. Zuletzt hierzu B.-D. Meier, GA 1999, S.I, passim, bei dem sich auch eine Bestandsaufnahme der rechtlichen Regelungen im Zusammenhang des Täter-Opfer-Ausgleichs findet (S. 16-19); Walther, ZStW 111 (1999), S. 123, passim. 57

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3. Teil: Insolvenzverschleppung und ultima ratio

Insbesondere den Täter-Opfer-Ausgleich zeichnet eine verdächtige Nähe zum privatrechtlichen Instrument des Schadenersatzes aus: Die Straftat wird unter diesem Blickwinkel zum wesentlichen Teil als Ausdruck oder Auslöser eines Konflikts zwischen Täter und Opfer angesehen; Aufgabe der Rechtsordnung sei es, die Regulierung dieses Konflikts insbesondere durch Wiedergutmachung des angerichteten Schadens zu ermöglichen und zu fördern. Gelänge so die Konfliktregulierung, sei, so nimmt man von strafrechtlicher Seite aus an, das Bedürfnis nach einer darüber hinaus gehenden strafrechtlichen Reaktion auf die "Straftat" zu einem großen Teil erfüllt 61 • Das Assoziationsvermögen muss nicht besonders groß sein, um in diesen "strafrechtlichen" Überlegungen den Ausgleichsgedanken des zivilrechtlichen Schadenersatzes 62 wiederzuentdecken. Was es aber heißt, wenn sich die Strafrechtler auch dieses zivilrechtlichen Regelungsinstruments bemächtigen, muss an dieser Stelle genauer untersucht werden. 1. Susanne Walthers strafrechtliches Sanktionensystem Erst kürzlich hat Susanne Walther den Wiedergutmachungsgedanken aufgegriffen und versucht, ihn in ein strafrechtliches Sanktionensystem einzugliedem63 • Grundsätzlich merkt sie an, dass der Gedanke der Wiedergutmachung, wie er auch seinen Niederschlag in § 46 a StGB gefunden habe, als Regelungsmodell nicht in das zweispurige strafrechtliche System von Strafe einerseits und Maßregeln zur Besserung und Sicherung andererseits passe 64 • Vor allem aber kritisiert sie, dass die Herbeiführung der Wiedergutmachung immer noch nicht als "offizielle Aufgabe der Kriminaljustiz" angesehen werde 65 • In erster Linie sind es rechts staatliche Bedenken, die Walther gegen die aktuelle Form des Wiedergutmachungsgedankens im Strafrecht ins Feld führt 66 • Sie fordert, Wiedergutmachung als eigenständige kriminalrechtliche Maßnahme anzusehen, die eine dritte Spur neben Strafe bzw. Maßregeln zur Besserung und Sicherung bilden müsse 67 • In Walthers Modell tritt Wiedergutmachung nicht an die Stelle der Strafe, sondern neben sie 68 • Zu Walthers Ausführungen bemerkte Pieth 69 zutreffend, ob es nicht konsequenter wäre, gleich die strafrechtliche Intervention vollständig durch zivilrechtliche zu ersetzen. Das Zivilrecht enthalte bei näherer Betrachtung im Grundsatz alle Elemente, 61 Dölling, JZ 1992, S.493, 493f.; ähnlichB.-D. Meier, GA 1999, S.I, S.2: "Verhängung und Vollstreckung von Strafe wird in weiten Teilen entbehrlich gemacht". 62 Siehe dazu oben Einführung, B. I. 1. 63 Vgl. Walther, ZStW 111 (1999), S.I23ff. Ähnlich auch B.-D. Meier, GA 1999, S.I, S.lOf. 64 Walther, a.a.O., S.I26ff., S.I3l/134. 65 Walther, a.a.O., S.I26f. 66 Vgl. im Detail Walther, a.a.O., S.127f. 67 Walther, a. a. 0., S. 134. 68 Walther, a. a. 0., S.135, Hervorhebung im Original. 69 Mitgeteilt von Kilchling, Diskussionsbericht, ZStW 111 (1999), S.I44ff.

D. Folgerungen für das Wirtschafts strafrecht

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die auch das Modell von Walther beinhalte: von der Untersagung bis hin zu Schadenersatz und Genugtuungsvorschriften. Folglich stelle sich die Frage, weshalb es überhaupt in diesem Bereich noch des Strafrechts bedürfe 70. Pieth lenkt den Blick in die richtige Richtung: Denn der Wiedergutmachungsgedanke ist eigentlich im Zivilrecht angesiedelt 71 • Eine Belebung dieses Regelungsinstruments erreicht man deswegen nicht dadurch, dass man ihn auch für bestimmte Strafrechtsvorschriften in Anspruch nimmt, sondern vielmehr dadurch, dass man die betreffende Strafvorschrift komplett streicht und statt dessen das zivile Schadenersatzrecht an dessen Stelle treten lässt. Erst dann hat man freie Sicht auf diese konkrete Rechtsfolge und wird nicht durch Überlegungen zur "Einordnung", "Anpassung" und "Durchführung" dieses Instruments im staatlichen Verfahren der Strafverfolgung abgelenkt. Im folgenden sollen jedoch noch diese strafrechtlichen Privatisierungsbestrebungen im Lichte des Subsidiaritätsprinzips untersucht werden.

2. Die Stellung des Subsidiaritätsprinzips zur strafrechtlichen Wiedergutmachung Die Konsequenz dieser Privatisierungs bestrebung ist vergleichsweise absurd: Durch strafrechtlich verfasste Wiedergutmachungsmodelle wird in einem Bereich relativer Bagatellität die Reprivatisierung der Konflikte mit der Drohung strafrechtlichen Zwangs gegenüber dem Täter durchgesetzt1z. Beachtet man das Subsidiaritätsprinzip, vermeidet man solche Absurditäten und privatisiert den Konflikt, anstatt das Strafrecht zu privatisieren. Vom Standpunkt des Subsidiaritätsgrundsatzes aus gesehen, sind die hinter diesen Privatisierungs bestrebungen stehenden Gedanken zutreffend: Vielen Straftaten liegt ein Konflikt zwischen den beteiligten Personen und damit aus dem zivilen Bereich zu Grunde. Auch die Konfliktregulierung kann daher zufriedenstellend im privaten Bereich verbleiben. Sämtliche dieser Überlegungen setzen jedoch an der falschen Stelle an: im Strafrecht. Nach dem Subsidiaritätsgrundsatz ist die einzige logische Konsequenz dieser Überlegungen, auch die Konfliktregulierungszuständigkeit vom staatlichen in den privaten Bereich zu verlagern. Bereits die strafrechtliche Erfassung derartiger Streitigkeiten bedeutet eine zu starke Einmischung des Staates in im Kern privatrechtliche Konfliktlagen. Drei weitere Gründe seien dafür genannt. a) Einführung eines Umwegs

Erstens macht man einen Umweg, wenn man über die staatlichen Strafverfolgungsbehörden einen dem zivilrechtlichen Schadenersatz entsprechenden Aus70 7\ 72

Pieth, mitgeteilt von Kilchling, Diskussionsbericht, ZStW 111 (1999), S.I44f. Siehe oben Einführung, B. I. I. Stächelin, Strafgesetzgebung, S. 130f.

11 Höffner

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gleichsmechanismus einführt, anstatt den direkten Weg über den zivilrechtlichen Schadenersatzanspruch zu wählen. Derartige Umwege führen aber immer zu Reibungsverlusten sowohl auf Seiten des Strafrechts als auch auf Seiten des eingeführten "zivilistischen" Konfliktlösungsmechanismus. Ob damit den Beteiligten gedient ist, ist zu bezweifeln. Im Falle der Insolvenzverschleppung ist es beispielsweise denkbar, dass die Staatsanwaltschaft dem Schuldner aufgibt, anstelle der Geldbuße einen Betrag zur Schadens wiedergutmachung an den Gläubiger zu bezahlen. Nehmen wir den in der Einleitung geschilderten Fall BGH ZIP 1995, S. 211 (Urteil vom 7. Nov. 1994)73, so hätte der Gläubiger dem Opfer einen Betrag in Höhe von 9.000,-DM zu zahlen. Demgegenüber hat die rein zivilrechtliche Lösung mit einem vom Opfer einzuklagenden Schadenersatzanspruch sowohl für das Opfer selbst als auch für den Täter ganz entscheidende Vorteile. - Was das Opfer betrifft, so liegt sein Vorteil auf der Hand: Es erhält anstatt einer staatlicherseits ausgestellten Einstellungsbenachrichtigung nach § 153 StPO (bzw. nach § 153 a Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StPO) den vollen ihm entstandenen Schaden ersetzr7 4 • Dies mag zwar nach einer sarkastischen Formulierung klingen, ist aber, wie die Darstellungen im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt haben, die Realität der genannten Vorschriften in der Praxis 75. Welche Funktion man den bei den Sanktionsarten StrafrechtlHaftung auch zuschreiben mag (Genugtuung, Restitution, Unrechtsausgleich USW. 76 ), bei jeder erdenklichen Betrachtungsweise stellt ihn die zivilrechtliche Konfliktlösung günstiger als die strafrechtliche. - Was den Täter betrifft, so wird hier die Behauptung aufgestellt, dass die zivilrechtliche Haftung auch für ihn "besser" ist. Mit einer eventuellen zivilrechtlichen Haftung kommt auf den Geschäftsführer der GmbH eine Belastung zu, die er sich ausrechnen kann. Es handelt sich nicht um den Staat, der mit einem bisher nicht beachteten und deswegen in seiner Tragweite nicht einschätzbaren Strafanspruch an ihn herantritt, sondern um einen Gläubiger der GmbH. Sämtliche Tatbestandsmerkmale (einschließlich der Höhe der etwaigen Ersatzforderung) sind für den Geschäftsführer, der seine Buchführung kennt, berechenbar. Das Haftungsproblem wird zum normalen Beratungsproblem des betreuenden Rechtsanwalts oder Wirtschaftsprüfers. Der Konflikt wird dadurch gleichsam zu einem wirtschaftlichen Faktor beim Betrieb der GmbH. Dadurch wird das auf den Geschäftsführer zukommende Risiko in einen Bereich geholt, der ihm ohnehin bekannt ist (bzw. bekannt sein muss). Allein der drohende Schadenersatzanspruch veranlasst den Geschäftsführer, sich eingehend mit dem damit verbundenen Risiko zu befassen. Siehe oben die Einleitung. Was bekanntlich bei der Auflage nach § 153 a Abs. I, S. 1 Nr.l StPO nicht der Fall ist, da es danach nicht möglich ist, dass der Beschuldigte mehr leistet, als er zivilrechtlich zu leisten verpflichtet ist. Vgl. Schoreit in: Karslruher Kommentar zur StPO, § 153a Rdn.16. 75 Siehe oben 1. Teil, C. IV. 76 Siehe oben Einführung, B. und C. 73

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D. Folgerungen für das Wirtschaftsstrafrecht

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Der Nutzen, der mit der Strafvorschrift verbunden ist, ist derart gering, dass sich der damit verbundene Aufwand nicht rechtfertigen lässt. Mertens schreibt: "In der Praxis fungiert die Bestrafung nach diesen Vorschriften eher als eine Kompromißlösung für solche Fälle, in denen die Verurteilung wegen einer Bilanzstraftat in Betracht kommen könnte. Dies würde nach §§ 76 II AktG, 6 II GmbHG ein Berufsverbot für Vorstandsmitglieder oder Geschäftsführer auslösen. Die Bestrafung wegen Verletzung der Konkursantragspflicht führt dagegen nicht zu einem Berufsverbot. Das Geschäftsführungsmitglied, das nicht sicher sein kann, am Ende nicht doch wegen eines Bilanzdelikts verurteilt zu werden, wird deshalb ein Vergleichsangebot, sich nur wegen verspäteter Konkursanmeldung bestrafen zu lassen, oftmals akzeptieren. Diese Möglichkeit, mit Hilfe der Bestrafung wegen fahrlässiger Verletzung der Konkursantragspflicht den Strafappetit des Staates zu stillen, ohne die berufliche Existenz des Geschäftsführungsmitglieds zu vernichten, kann allerdings mit Sicherheit nicht als rechtspolitischer Rechtfertigungsgrund anerkannt werden.'