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German Pages 166 Year 1977
KLAUS
ENGELMANN
ProzeÊgrundsâtze i m Verfassungsprozeßrecht
Schriften zum öffentlichen Band 316
Recht
Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht Zugleich ein Beitrag zum materiellen Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
Von Dr· Klaus Engelmann
DUNCKER
& H U M B L O T
/
BERLIN
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Engelmann, Klaus Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht: zugl. e. Beitr. zum materiellen Verständnis d. Verfassungsprozeßrechts. — 1. Aufl. — Berlin: Duncker u n d Humblot, 1977. (Schriften zum öffentlichen Recht; Bd. 316) I S B N 3-428-03850-9
Alle Rechte vorbehalten © 1977 Duncker & Humblot, Berlin 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berlin 65 Printed in Germany I S B N 3 428 03850 9
Meinen Eltern
Vorwort Die Arbeit hat i m Sommersemester 1976 dem Fachbereich Rechtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg/L. als Dissertation vorgelegen. Die bis zum 31. August 1976 veröffentlichte Rechtsprechung und Literatur ist verwertet worden. A u f einschlägige Beiträge der Festgabe zum 25-jährigen Bestehen des Bundesverfassungsgerichts „Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz", Bd. I und II, Tübingen 1976, ist i n den Fußnoten verwiesen worden. Meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Peter Häberle, schulde ich für vielfache Anregungen und menschliche Ermutigung tiefen Dank. Dem Zweitberichterstatter, Herrn Prof. Dr. Gerhard Hoffmann, danke ich herzlich für Ratschläge und K r i t i k . Mein Dank gilt auch dem Inhaber des Verlages Duncker & Humblot, Herrn Professor Dr. J. Broermann, für die Aufnahme der Studie i n die Reihe „Schriften zum öffentlichen Recht". Marburg/L. und Kassel, i m September 1976 Klaus
Engelmann
Inhaltsverzeichnis
1.
Einleitung und Problemstellung
15
2.
Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht
19
2.1.
Die Herleitung des Begriffs Prozeßgrundsatz
19
2.2.
Der Grundsatzcharakter der Prozeßgrundsätze
21
2.3.
Geltung der Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
24
2.3.1.
Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit
25
2.3.2.
Der Grundsatz des Amtsbetriebs
26
2.3.3.
Der Grundsatz des beschränkten Anwaltszwangs
27
2.3.4.
Der Grundsatz der Kostenfreiheit
28
2.3.5.
Der Grundsatz der Unmittelbarkeit
28
2.3.6.
Der Grundsatz der Verfahrensverbindung
28
2.3.7.
Abgelehnte Annahme weiterer Prozeßgrundsätze
29
2.3.8.
Zusammenfassung
29
2.4.
Dispositions- u n d Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
29
2.4.1.
Die J u d i k a t u r des B V e r f G zur Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
31
2.4.2.
Stellungnahmen i n der L i t e r a t u r zur Geltung der Offizialmaxime
33
2.4.3.
Eigene Stellungnahme: Ablehnung der Kategorien Dispositionsu n d Offizialmaxime
36
2.4.4.
Antragsrücknahme Organstreit
38
in
den
Normenkontrollverfahren
und
im
2.4.4.1. Antragsrücknahme bei abstrakter u n d konkreter Normenkontrolle
38
2.4.4.2. Wirkungen der Antragsrücknahme i m Organstreit
42
2.4.5.
44
Ergebnis
10
Inhaltsverzeichnis
2.5.
Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
45
2.5.1.
Stellenwert der Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit i n der Verfahrenswirklichkeit
46
Die grundsätzliche Bedeutung der Öffentlichkeit für jedes staatliche Handeln
48
2.5.2.1. Der historische Hintergrund von Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens
49
2.5.2.2. Kontrolle der Justiz durch demokratische Öffentlichkeit
50
2.5.2.
2.5.3.
Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens als konstitutionelle Verfahrensprinzipien
51
2.5.4.
Enger Zusammenhang zwischen der Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens u n d der Garantie des rechtlichen Gehörs (Art. 103 I GG)
52
2.5.5.
Ergebnis
53
2.6.
Der Untersuchungsgrundsatz
54
2.7.
Verfassungsprozeßrecht als „Partizipationsrecht"
57
3.
Allgemeine Prozeßgrundsätze und Verfassungsprozeßrecht
59
3.1.
Formalien i m Verfassungsprozeßrecht
62
3.1.1.
Beachtung von Fristen (BVerfGE 1,12 (13))
63
3.1.2.
Rückwirkung von Schriftsätzen fahren (BVerfGE 8, 92 (94 f.))
3.1.3.
Eigener Ansatz: Bestimmung der Formenstrenge unter Beachtung der materiellrechtlichen Schutzfunktion der einzelnen Verfahrensarten 65
3.2.
Die „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand" (BVerfGE 4, 309 (313 f.))
67
3.2.1.
Die Rechtsprechung des BVerfG
67
3.2.2.
Eigener Ansatz
68
3.3.
Das Rechtsschutzbedürfnis
3.3.1.
Rechtsschutzbedürfnis bei Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Kostenentscheidung (BVerfGE 33, 247 (261 ff.))
71
3.3.2.
Eigene Stellungnahme
71
im
im
Verfassungsbeschwerdeverfahren i m Verfassungsbesch werdever-
Verfassungsbeschwerdeverfahren
64
70
Inhaltsverzeichnis 3.3.3.
Grundrechtsverstoß (224))
in
Entscheidungsgründen
(BVerfGE 8, 222 74
3.3.4.
Eigene Stellungnahme
75
3.4.
Die Mündlichkeit der Widerspruchsverhandlung bei der einstweiligen Anordnung gem. §32 BVerfGG (BVerfGE 32, 345 (346))
77
3.5.
Geltung neuer Verfahrensvorschriften (BVerfGE 1, 4)
77
3.6.
Die Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG
78
3.6.1.
Die materielle Rechtskraft als Ausgangspunkt der Bindungswirkung
79
3.6.2.
Abhängigkeit des Ausmaßes der Selbstbindung v o m Streitgegenstand
82
3.6.3.
Umfassendere Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts
85
3.6.4.
Eigener Lösungsvorschlag
86
3.6.5.
Ergebnis
90
3.7.
Ablehnung des Rückgriffs auf Allgemeine Prozeßgrundsätze
90
3.8.
Rückgriff auf „Grundsätze der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit" (BVerfGE 3, 267 (269 f.))
91
3.9.
Gesamtergebnis
92
4.
Der Doppelstatus des BVerfG und seine Auswirkungen
94
4.1.
Das B V e r f G als „echtes" Gericht
94
4.2.
Das BVerfG als oberstes Verfassungsorgan
97
4.2.1.
Der Begriff „Verfassungsorgan"
98
4.2.2.
Konstituierung des Verfassungsorgans durch das Grundgesetz
99
4.2.3.
Gleichordnung der obersten Verfassungsorgane
100
4.2.4.
Kompetenzzuweisung aus der Verfassung
101
4.2.5.
Die Bedeutung des Organs f ü r die Verfassungsordnung
102
4.2.6.
Die demokratische Legitimation des B V e r f G
103
4.2.7.
Ergebnis
105
f ü r anhängige Verfahren
12
Inhaltsverzeichnis
4.3.
Konkrete Konsequenzen der Doppelfunktion
105
4.4.
Auswirkungen i m organisatorischen Bereich
106
4.4.1.
Geschäftsordnungsautonomie organqualität
4.4.2.
Sachlicher Umfang der GO-Autonomie
108
4.4.3.
Die Geschäftsordnung des BVerfG vom 2. September 1975
110
als Konsequenz
der
Verfassungs-
106
4.4.3.1. Die organisatorischen Vorschriften der GeschO
110
4.4.3.2. Die verfahrensergänzenden Vorschriften der GeschO
111
4.4.3.3. Vergleich richte
113
mit
Geschäftsordnungen
anderer
(Verfassungs-)Ge-
4.4.3.4. Würdigung der GeschOBVerfG
115
4.4.3.5. Ergebnis
115
4.5.
Auswirkungen i m Verfahrensbereich
116
4.6.
Auswirkungen i m Entscheidungsbereich
118
4.7.
Keine Bindung des BVerfG an A r t . 95 Abs. 3 G G
120
4.8.
Ergebnis
121
5.
Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
122
5.1.
Die strukturelle Recht
123
5.1.1.
Die Differenzierung zwischen materiellem u n d formellem Recht 123
5.1.2.
Das (Spannungs-) Verhältnis zwischen materiellem u n d formellem Recht 125
5.1.3.
Problematik der verfahrensbedingten Interpretation des materiellen Rechts 127
Abhängigkeit
des formellen
vom
materiellen
5.1.3.1. V o r w i r k u n g e n des formellen Rechts auf die Interpretation m a teriellen Redits 128 5.1.3.2. Nachweis der verfahrensbedingten Interpretation Rechts i n der Rechtsprechung des B V e r f G
materiellen
129
5.1.4.
Ergebnis
131
5.2.
Verfassungsprozeßrecht als materielles Verfassungsrecht
131
5.2.1.
Die Zugehörigkeit des Verfassungsprozeßrechts zum materiellen Verfassungsrecht 132
Inhaltsverzeichnis 5.2.2.
Die „ganzheitliche Auslegung" des Verfassungsprozeßrechts Aspekt der materiellen Interpretation
5.2.3.
„Normierungszusammenhang" fassungsprozeßrecht
5.3.
Dynamisches Verständnis von Verfassungsprozeßrecht
5.3.1.
Verfassungsprozeßrecht als „konkretisiertes Verfassungsrecht"
5.3.2.
Der „dynamische" Aspekt der Verfassung
5.3.3.
Auswirkungen des Verfassungsverständnisses sungsprozeßrecht
5.4.
Ergebnis
142
6.
Konkretisierungen der materiellen Interpretation
144
6.1.
Abgrenzung zu anderen Interpretationsprinzipien
144
6.2.
Ansatzpunkte f ü r die materielle Interpretation
145
6.2.1.
Anknüpfung mungen
6.2.2
Prozeßgrundsätze und Allgemeine Prozeßgrundsätze als „ E i n bruchsteilen" materieller Interpretation i m Verfassungsprozeßrecht 148
7.
Schlußbetrachtung
Literaturverzeichnis
der
materiellen
als
zwischen Verfassungs- u n d V e r -
Interpretation
136 138 139
. . 139 140
auf
an
das
Verfas-
Einzelbestim-
141
145
150
152
1. Einleitung und Problemstellung Das „Gesetz über das Bundesverfassungsgericht" 1 (BVerfGG) enthält keine umfassende, auf Vollständigkeit angelegte Normierung des gerichtlichen Verfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht 2 . Der Gesetzgeber hat i n weiten Bereichen nur die Grundzüge des „Verfassungsprozesses" und seiner einzelnen Verfahrensarten festgeschrieben 3 . Gerade die im gerichtlichen Verfahren erforderlichen Ausdifferenzierungen der Verfahrensregelungen sind dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) und seiner Rechtsprechungspraxis zur Ausfüllung überlassen worden 4 . Vor die Aufgabe gestellt 5 , das lückenhafte Verfahrensrecht 8 sachgerecht zu ergänzen, bieten sich dem BVerfG, wenn die Normen des BVerfGG keine Lösungshinweise ergeben, u. a. folgende Möglichkeiten 7 der Lückenschließung: Es kann Lösungskriterien aus Prozeßgrundsätzen des Verfassungsprozeßrechts ableiten. Es kann sich des weiteren auf Prozeßgrundsätze beziehen, die i n einer oder gar mehreren anderen Verfahrensordnungen gelten — Allgemeine Prozeßgrundsätze — und diese i m Verfassungsprozeßrecht anwenden 8 . Daneben kann es aber 1 Gesetz v. 12. März 1951 (BGBl. I S. 243) i. d. Fassung der Bekanntmachung v o m 3. Febr. 1971 (BGBl. I S. 105); geändert durch A r t . 31 EGStGB v. 2. 3.1974 (BGBl. I S. 469). 2 BVerfGE 1, 109 (110 f.); 2, 79 (84); 4, 31 (37); 33, 199 (204); 33, 247 (261); Lechner, BVerfGG, Komm., vor §17, Anm. A ; Geiger, Gesetz über das Bundesverfassungsgericht, Komm., vor § 17, Anm. 2; Pfeiffer, Die Verfassungsbeschwerde i n der Praxis, S. 233; G. Wolf, DVB1. 1966, S. 884; Zuck, DÖV 1965, S. 836. 3 Lechner, Die Verfassungsgerichtsbarkeit, GrdR III/2, S. 699. 4 Vgl. BVerfGE 1, 396 (408): Das BVerfG kann sein Verfahren i n weitem Umfang frei gestalten. — s. auch Lechner, ebd., S. 699. 5 Z u r Notwendigkeit der Entwicklung von Verfahrensgrundsätzen i m Verfassungsprozeßrecht BVerfGE 4, 31 (37). 6 Z u r Lückenproblematik s. ζ. B. Canaris , Die Feststellung von Lücken i m Gesetz, S.56ff. 7 Zur grundsätzlichen Problemstellung vgl. den Hinweis von Zuck, N J W 1975, S. 907 (910, unter I I I 2 b). — Allgemein dazu auch Chr.-Fr. Menger, Allgemeine Prozeßrechtssätze i n der Verwaltungsgerichtsordnung, Staatsbürger u n d Staatsgewalt I I , S. 427 (433). 8 I m BVerfGG fehlt eine generelle subsidiäre Verweisung auf andere Verfahrensordnungen (vgl. dagegen etwa § 173 VwGO). Einzelverweisungen auf Vorschriften des G V G finden sich i n § 17 BVerfGG hinsichtlich der Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen, der Sitzungspolizei, der Gerichtssprache, der Beratung u n d Abstimmung, auf die StPO u n d ZPO i n § 28 I
16
1. Einleitung und Problemstellung
auch auf konkrete gesetzliche Regelungen einer anderen Verfahrensordnung Bezug nehmen 9 , wobei i n jedem Einzelfall geprüft werden muß, ob und inwieweit die „Besonderheiten" des Verfassungsprozesses einer Übernahme entgegenstehen 10 . M i t der Verwendung von Prozeßgrundsätzen und Allgemeinen Prozeßgrundsätzen (A.P.) i m Verfassungsprozeßrecht befaßt sich die vorliegende Arbeit. Bei den ersteren besteht die Problematik i n der Notwendigkeit, die Geltung eines Grundsatzes möglichst aus Einzelregelungen zu belegen, u m dann aus ihm eine konkrete Lösung für den Einzelfall zu deduzieren 11 . Bei der zweiten Spezies, den A.P., ist darüber hinaus zu überlegen, inwieweit Grundsätze aus anderen Verfahrensordnungen Wesen, Struktur und Funktion des Verfahrensrechts des BVerfG entsprechen. Das Denken in und mit Prozeßgrundsätzen scheint geprägt von einer zivilprozessualen Sicht der Interpretation von Prozeßrecht, die auf das Verfassungsprozeßrecht übertragen wird. Demgegenüber stellt sich die Frage, ob nicht ein besonderer Zusammenhang zwischen Verfassungsrecht und Verfassungsprozeßrecht i. S. eines materiellen Verständnisses von Verfassungsprozeßrecht 12 nachgewiesen werden kann. Materielles Verständnis des Verfassungsprozeßrechts meint seine Auslegung unter Einbeziehung des materiellen Rechts der Verfassung. Die Bejahung eines entsprechenden Verständnisses hätte für den Stellenwert von Prozeßgrundsätzen bei der Interpretation von Verfassungsprozeßrecht die Konsequenz, daß diese Institute selbst materiellrechtlich auszulegen wären. BVerfGG hinsichtlich der Vernehmung von Zeugen u n d Sachverständigen. Die §§ 38, 61 B V e r f G G verweisen bezüglich der Beschlagnahme, der Durchsuchung u n d der Wiederaufnahme des Verfahrens auf die Regelungen der StPO. — Generelle subsidiäre Verweisungsvorschriften sind dagegen i n vielen Verfahrensgesetzen bzw. Geschäftsordnungen der Länderverfassungsgerichte vorhanden. Vgl. §26 GeschO des B a y V e r f G H m i t Verweisung auf die V w G O u n d ZPO; § 6 1 BremStGHG: „Der Verfassungsgerichtshof regelt selbst sein Verfahren i n Anlehnung an die deutschen Prozeßordnungen ( Z i v i l prozeßordnung, Strafprozeßordnung, Dienststraf Ordnung)"; § 1 GeschO Hamb VerfG m i t Verweisung auf die Vorschriften der V w G O ; § 14 HessStGHG m i t einer Verweisung auf die Bestimmungen der StPO u n d des GVG. 9 So BVerfGE 1, 109 (110 f.): „ . . . i m Wege der Analogie zum sonstigen deutschen Verfahrensrecht"; 1, 433 (439): . . . „ i n Anwendung des Rechtsgedankens des § 115 Abs. 1 Ziff. 3 ZPO". Zustimmend Federer, Das B V e r f G 1951 - 1971, S. 59 (76); Klein, Maunz / Sigloch, BVerfGG, vor §17, R d n r . 4 ; Leibholz / Rupprecht, BVerfGG, Komm., vor § 17, Rdnr. 1. 10 s. BVerfGE 1, 87 (88 f.); 6, 376 (383); 20, 18 (26); 28, 243 (254). 11 Grundsätzlich skeptisch gegenüber der Aussagekraft allgemeiner Rechtsgrundsätze sowie ihrer Tauglichkeit zur Deduktion Minnerop, Materielles Recht u n d einstweiliger Rechtsschutz, S. 10 Fn. 5. !2 i n diesem Sinne vor allem P. Häberle, J Z 1973, S. 451 ff. und J Z 1976, S. 377 ff. m i t dem Stichwort: „Verfassungsprozeßrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht."
1. Einleitung u n d Problemstellung
Nach einer Gesamtdarstellung der Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts werden einige Allgemeine Prozeßgrundsätze exemplarisch untersucht. Ihre Handhabung durch das BVerfG erscheint unter dem Blickwinkel eines materiellrechtlichen Verständnisses des Verfassungsprozeßrechts besonders problematisch. Damit ist der Boden bereitet für die Grundlegung der sog. materiellen Interpretation. Für ihre Erörterung werden zunächst die Auswirkungen des Doppelstatus des BVerfG als Gericht und oberstes Verfassungsorgan auf die Interpretation von Verfassungsprozeßrecht behandelt. Daran anknüpfend w i r d der Kreis der Normen, der das Verfassungsprozeßrecht ausmacht und der nicht m i t denen des BVerfGG identisch ist, festgelegt. Anschließend ist der Nachweis für Notwendigkeit und Sachgerechtigkeit eines entsprechenden Interpretationsprinzips zu führen und seine Konsequenzen für die Auslegung von Verfassungsprozeßrecht darzustellen. Die vorliegende Arbeit stellt hinsichtlich des Beispielmaterials ausschließlich auf die Rechtsprechung des BVerfG ab. Dieses Vorgehen findet seine Begründung darin, daß das BVerfG die verfassungsgerichtliche Szene in der Bundesrepublik Deutschland beherrscht und die Verfassungsgerichte der Länder, ausgenommen den Bayerischen Verfassungsgerichtshof, übergreifende Bedeutung nur m i t singulären Entscheidungen erlangen konnten. Ein umfassender Vergleich m i t der Rechtsprechung der Länderverfassungsgerichte hätte auch wegen der sehr unterschiedlichen Ausgangslage für das bundesverfassungsgerichtliche Verfahrensrecht keinen zusätzlichen Erkenntniswert gehabt. Zwar besteht die Gefahr, bei einer theoretischen Nachbetrachtung und K r i t i k von Details aus der umfassenden Rechtsprechungstätigkeit des BVerfG dessen bedeutende Leistung aus den Augen zu verlieren. Ihrer bedarf es aber dennoch, da der einzige „Rechtsbehelf" gegen verfassungsgerichtliche Entscheidungen die öffentliche K r i t i k 1 3 ist. Von daher besteht ein öffentliches Bedürfnis nach kritischer Analyse verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, nach dem Eingreifen der „normierenden Kraft der Öffentlichkeit" 1 4 . Die soziale Wirksamkeit 1 5 , die reale „Macht" des Bundesverfassungsgerichts und damit auch ein „Stück" Macht der Verfassung ist nur i m Einzelfall abhängig von den Durchsetzungsmöglichkeiten verfassungsgerichtlicher Entscheidungen m i t staatlichen Zwangsmitteln. Sie w i r d vielmehr bestimmt von dem is So Roellecke, J Z 1975, S. 244 (246). 14 Dazu P. Häberle, ZfP 16 (1969), S. 273 (287). ίδ Vgl. zu den Faktoren, die die soziale Wirksamkeit der Rechtsprechung des B V e r f G ausmachen: Billing , Das Problem der Richterwahl zum Bundesverfassungsgericht, S. 80. 2 Engelmann
18
1. Einleitung u n d Problemstellung
Einfluß und der Autorität 1 6 , — und Autorität ist eine anfällige Größe —, die sich das Gericht durch seine Rechtsprechung i n der Wirklichkeit der Verfassung verschafft 17 . A u f Grund dessen ist das Gericht zu einem der maßgeblichen Faktoren i n der Wirklichkeit unserer verfaßten Ordnung geworden. Insbesondere ist i m Rückblick auf 25 Jahre Tätigkeit des BVerfG i m September 1976 festzuhalten, daß es den entscheidenden Beitrag dazu geleistet hat. daß der Bürger unserer res publica überhaupt so etwas wie ein „Verfassungsbewußtsein" 18 entwickeln konnte. I h m ist i m allgemeinen nicht ersichtlich, daß staatliches Wirken und wichtige Bereiche des öffentlichen und gesellschaftlichen Lebens vom Grundgesetz strukturiert werden. Dem Bürger w i r d diese Bedeutung der Verfassung oft genug nur an brisanten Streitigkeiten zwischen den maßgeblichen politischen Gruppen unseres Staates über die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns, die dann schließlich vor das Bundesverfassungsgericht getragen und durch es entschieden werden 1 9 , bewußt. Auch der Grundrechtsschutz durch die Verfassung, ein Komplex, der den „Verfassungsbürger", den Bürger also, der bewußt mit der Verfassung lebt, unmittelbarer berührt und der seine Konturen beinahe ausschließlich durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewonnen hat, ist fester „Bestandteil des deutschen Bürgerbewußtseins und ein Stück des allgemeinen politischen Selbstverständnisses" 20 geworden. So hat das BVerfG mit seiner Arbeit einen großen Anteil daran gehabt und hat es noch, daß die Publizität des Grundgesetzes 21 gefördert worden ist und wird. Wegen dieser wichtigen Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit i n unserer res publica liegt es auch i m Eigeninteresse des Bundesverfassungsgerichts, wenn seine Judikatur dem öffentlichen Prozeß der Kritik unterzogen wird.
16 s. Friesenhahn, Festschr. Ambrosini, S. 670 (689) ; Endemann, Festschr. G. Müller, S. 21 (29); Maassen, N J W 1975, S. 1343 (1346). 17 Auch Geiger, Festgabe Maunz, S. 117 (118), bemerkt ein erstaunliches Maß an Vertrauen, Respekt u n d A u t o r i t ä t der und i n die Institution V e r fassungsgerichtsbarkeit. ι» Stern, Festschr. Jahrreiß (1974), S. 271 (283). — Vgl. insbes. auch Smend, Das BVerfG 1951 - 1971, S. 15 (16), m i t der schon klassisch gewordenen Formulierung: „Das Grundgesetz gilt nunmehr praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es auslegt, u n d die L i t e r a t u r kommentiert es i n diesem Sinne." ι» s. z.B. das Hochschulurteil (BVerfGE 35, 79 ff.), das Grundlagenvertrags· (E 36, 1 ff.) u n d das Abtreibungsurteil (E 39, 1 ff.). 20 P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, Vorwort, S. X I . 21 Stern f S. 283, spricht v o m „vergessenen Grundgesetz".
2. Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht I n einem ersten Schritt werden die Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts dargestellt und auf ihren Geltungsgrund und ihre Bedeutung für das verfassungsgerichtliche Verfahren untersucht. I n einer zweiten Phase sind die von der Rechtsprechung zur Auslegung des Verfassungsprozeßrechts herangezogenen Allgemeinen Prozeßgrundsätze zu erörtern. 2.1. Die Herleitung des Begriffs Prozeßgrundsatz Zur Erläuterung des Begriffs Prozeßgrundsatz (oder auch: Prozeßmaxime 1 ) muß auf das Zivilprozeßrecht als der für die Entwicklung des deutschen Verfahrensrechts grundlegenden und einflußreichsten Verfahrensordnung (Zivilprozeßrecht als „lex scripta" des Prozeßrechts 2 ) zurückgegriffen werden 3 . A u f die ZPO bzw. das vor ihr geltende Recht geht auch das Institut des Prozeßgrundsatzes, auf dem wiederum die A.P. aufbauen, zurück. Der Begriff der „Prozeßmaxime" ist nicht der Gesetzessprache entnommen, sondern vielmehr von der Prozeßrechtswissenschaft erarbeitet worden. Als der eigentliche „Entdecker" von Prozeßmaximen gilt Nikolaus Thaddäus v. Gönner (1764 - 1827)4, der für den gemeinen Zivilprozeß die Unterscheidung von Verhandlungs- und Untersuchungsmaxime postulierte 5 . Die „Entdeckung" der Maximen 6 übte auf die weitere Entwicklung i n der Prozeßrechtswissen1 Die Begriffe Prozeßgrundsatz u n d Prozeßmaxime werden i n der Diskussion i m wesentlichen synonym verwendet, so daß hier von einer Gleichsetzung beider T e r m i n i ausgegangen werden k a n n (s. E. Schumann, A r t . Prozeß, Prozeßarten, Evangel. Staatslexikon, Sp. 1942 [1943]). Es findet sich aber auch eine Bezeichnung n u r der wichtigsten Verfahrensgrundsätze als M a x i m e n (vgl. z. B. Stein / Jonas / Pohle, ZPO, Komm., vor § 128, A n m . II). 2 Chr.-Fr. Menger, Prozeßrechtssätze, S. 427 (433). 3 Redeker, Verfahrensrechtliche Bindungen der Untersuchungsmaxime i m Verwaltungsprozeß, Staatsbürger u n d Staatsgewalt I I , S. 475 (476). — F ü r die Schweiz s. auch Kiöz, Prozeßmaximen i m Schweiz. Verwaltungsprozeß, S. 1. 4 Z u Leben u n d Werk v. Gönners Börnsdorf, Prozeßmaximen und Rechtswirklichkeit, insbes. ab S. 111. Kritisch gegenüber der Darstellung Börnsdorfs Bettermann, ZZP 88 (1975), S. 347 ff. 5 υ. Gönner, Handbuch des deutschen gemeinen Prozesses, Bd. I, S. 183. 6 Ablehnend gegenüber einer „Maximenideologie" neben Bomsdorf insbes. F. υ. Hippel, Wahrheitspflicht u n d Aufklärungspflicht der Parteien i m Z i v i l prozeß, S. 165 ff. I h m folgend Haverkämper, Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der M a x i m e n des Verwaltungsprozeßrechts, S. 8 ff. 2*
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
schaft einen nachhaltigen Einfluß aus7, ohne daß allerdings die Geltung und Bedeutung von Prozeßgrundsätzen unbestritten waren oder sind 8 . Das Zivilprozeßrecht i n seinem heutigen Verständnis kennt eine Vielzahl von Prozeßmaximen bzw. -grundsätzen 9 . Dazu werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit 1 0 , gezählt: die Verhandlungsmaxime 11 , die Ermittlungs- (Inquisitions-)maxime 12 , die Grundsätze der Mündlichkeit und Unmittelbarkeit 1 3 , der Grundsatz des rechtlichen Gehörs 14 , das Prinzip der freien Beweiswürdigung 1 5 , der Grundsatz der Verfahrenskonzentration 16 , der Grundsatz der Einheitlichkeit 1 7 und der Gleichwertigkeit der mündlichen Verhandlung 1 8 . Die zentrale Frage, die hinter der i n jeder Verfahrensordnung angenommenen Geltung von Prozeßgrundsätzen steckt, ist die nach der Verteilung von Funktionen und Kompetenzen zwischen Verfahrensbeteiligten und Gericht 19 . Sie ist für die einzelnen Verfahrensordnungen jeweils nicht grundsätzlich geregelt, sondern kann für verschiedene Verfahrensstationen, -funktionen und -handlungen durchaus differenziert beantwortet werden. Daraus folgt, daß es sich bei den einander zuzuordnenden Grundsatzpaaren wie Dispositions- und Offizialmaxime i n einer Verfahrensordnung nicht um sich ausschließende Alternativen handelt, sondern daß auch die Frage nach ihrer Geltung i n verschiedenen Prozeßstadien zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. 7 Z u r Geschichte der maßgeblichen Verfahrensgrundsätze jetzt Damrau, Die Entwicklung einzelner Prozeßmaximen seit der Reichszivilprozeßordnung v o n 1877. 8 Kritisch gegenüber der Verwendung von Prozeßgrundsätzen überhaupt Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, S. 105 f.; Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre u n d verfassungsgerichtliches Verfahren, S. 32 ff.; vgl. schon F. v. Hippel, S. 71 Fn. 52; 165, 176, 183, 185 u. ö.; zur K r i t i k s. auch W. Henckel, Prozeßrecht u n d materielles Recht, S. 118. 9 s. die Darstellung der Prozeßgrundsätze bei Bruns, Zivilprozeßrecht, § 16. Vgl. auch die Zusammenfassung der wichtigsten Grundsätze bei E. Schumann, Sp. 1943 f. 10 I m Rahmen dieser Untersuchung kann n u r ein kursorischer Überblick gegeben werden. 11 Dazu: Brüggemann, Judex statuor u n d judex investigator, S. 100; Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 18 ff.; Lent ! Jauernig, Z i v i l prozeßrecht, S. 67, 69. 12 Baumbach / Lauterbach / Albers / Hartmann, ZPO, Komm., Grundzüge § 128, A n m . 3 G. 13 s t e i n / Jonas / Pohle, vor § 128, A n m . V I I I 1 , 2; Bruns, S. 111, 123; Thomas / Putzo, ZPO, Komm., Einl. I 3. 14 Schönke / Kuchinke, Zivilprozeßrecht, S. 43. is s. Bruns, S. 123. 16 Vgl. Schönke / Kuchinke, S. 30; Bruns, S. 125. 1 7 Dazu Bruns, S. 126; Rosenberg / Schwab, Zivilprozeßrecht, S. 407. ι» Rosenberg / Schwab, S. 408. 19 Z u m ganzen Bettermann, ZZP 88 (1975), S. 348.
2.2. Der Grundsatzcharakter der Prozeßgrundsätze
21
Der den Prozeßgrundsätzen zuerkannte ordnende und systembildende Charakter 2 0 leidet aber darunter, daß der Begriff ein Sammelbecken für Prinzipien unterschiedlicher Qualität und Bedeutung darstellt. Für die Arbeit m i t den Grundsätzen wäre es daher von Wichtigkeit, sie auf die Gestaltung grundlegender Verfahrensfragen zu beschränken. 2.2. Der Grundsatzcharakter der Prozeßgrundsätze Der Terminus Grundsatz, zumeist i n Verbindung gesetzt m i t dem Begriff des Rechts, erfaßt i n der Rechtswissenschaft vielschichtige Erscheinungen 21 . Darauf ist hier kurz einzugehen, vor allem deshalb, weil Prozeßgrundsätze unterschiedlichen Grundsatzarten zuzurechnen sein können. I n einem ganz allgemeinen Sinne werden Rechtsgrundsätze verstanden als „fundamentale Rechtsnormen, die sich ergeben aus der Anwendung des Prinzips der Gerechtigkeit auf deutliche Interessenlagen allgemeiner A r t " 2 2 . Konkreter gefaßt sind diejenigen Grundsätze, die als allgemeine Normen eines Rechtsbereiches auch für dessen speziellere Regelungsbereiche gelten. Ein Beispiel aus dem Verfassungsrecht ist das Sozialstaatsprinzip 23 oder das Prinzip der Gewaltenteilung 2 4 . Grundsatz steht hier für eine den gesamten Regelungsbereich erfassende Norm 2 5 . Daneben werden insbesondere auf Verfassungsebene aus gewissen, die Sätze der geschriebenen Verfassung verbindenden, innerlich zusammenhängenden Leitideen Grundsätze entwickelt, die der Verfassungsgeber, weil sie das vorverfassungsmäßige B i l d geprägt haben, nicht in einem besonderen Rechtssatz konkretisiert hat2®. Ihnen w i r d von der Rspr. des BVerfG ebenfalls Normcharakter zugewiesen. Z u dieser A r t 20 Bettermann, S.348; vgl. auch M. Wolf, ZZP 88 (1975), S. 350 (351). 21 Z u r theoretischen Einordnung der Grundsätze des Verwaltungsrechts s. Schleifenbaum, Die allgemeinen Grundsätze des Verwaltungsrechts als revisibles Bundesrecht, S. 60 ff. 22 Z u diesen Rechtsgrundsätzen, die sich i n allgemeine u n d besondere untergliedern u n d zu deren besonderen auch Prozeßgrundsätze zu zählen sind, s. ff. J. Wolff , W o l f f / B a c h o f , Verwaltungsrecht I , § 2 5 1 a l , 2; ders., Festschr. W. Jellinek, S. 33 (37 ff.); Chr.-Fr. Menger, Prozeßrechtssätze, S. 427 (428 f.). 23 Vgl. dazu Leibholz / Rinck, GG, A r t . 20, Rdnr. 12 m. N. aus der Rspr. des BVerfG. 24 Leibholz / Rinck, A r t . 20, Rdnr. 16. 25 Z u r theoretischen Grundlegung von „Grundsätzen", „Grundsatznormen", „Leitgrundsätzen" i m Verfassungsrecht Lerche, Übermaß u n d Verfassungsrecht, S. 61 ff.; kritisch zur Einrichtung von Verfassungsgrundsätzen Herb. Krüger, Festschr. Forsthoff, S. 187 (192 ff.). 26 So Leibholz / Rinck, A r t . 20, vor Rdnr. 21.
22
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
von Rechtsgrundsätzen gehört das Rechtsstaatsprinzip des GG 2 7 . Die Verfassungsprinzipien durchdringen das unterverfassungsrechtliche Normensystem und finden dort ihre Entsprechung i n Einzelregelungen, die sich ggf. wiederum zu Grundsätzen vertiefen können. Das kann an Prozeßgrundsätzen des Verfassungsprozeßrechts nachgewiesen werden, die ζ. T. auf Verfassungsprinzipien zurückgreifen, konstitutionalisiert sind 2 8 . A m häufigsten werden Grundsätze aus der Summe von Detailregelungen einer Teilrechtsordnung entwickelt. Grundsätze geben hier eine Grundidee wieder, die sich i n einer Vielzahl von Einzelregelungen einer Teilrechtsordnung niedergeschlagen hat und die über die konkrete gesetzliche Detailregelung hinaus als Grundsatz Gültigkeit beansprucht. Prozeßgrundsätze können auch zu dieser A r t von Rechtsgrundsätzen gehören. Des weiteren gibt es Grundsätze, die i n mehreren Teilrechtsordnungen Geltung beanspruchen, weil inhaltlich übereinstimmende Normen i n den jeweiligen Teilrechtsordnungen vorhanden sind. Ihnen gleichzuordnen sind diejenigen Grundsätze, die sich als von Rspr. und/oder Rechtswissenschaft für mehrere Teilrechtsordnungen aus übergreifenden Gesichtspunkten erarbeitete grundlegende Lehren darstellen 29 . Diese Ergebnisse von Auslegungsvorgängen verdichten sich auf Grund feststehender Übung zu Rechtsgrundsätzen. Auch für nur eine Teilrechtsordnung werden von Rspr. und Lehre Rechtsgrundsätze entwickelt. Beispielhaft ist dafür die auf A r t . 103 Abs. 1 GG fußende Rspr. des BVerfG zur „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand" i n Straf- und Ordnungswidrigkeitsverfahren. Es geht dabei um die A n forderungen, die ein Betroffener erfüllen muß, u m nach Fristversäumung Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand zu erhalten. Diese A n forderungen dürfen nach Auffassung des BVerfG nicht überspannt werden 3 0 . 27 Vgl. Leibholz / Rinck, ebd. 28 Dazu E. Schumann, Sp. 1943. 29 Darunter fallen auch die Allgemeinen Prozeßgrundsätze. 30 Nach den insoweit einschlägigen Entscheidungen BVerfGE 17, 194 (197) u n d 18, 147 (150) bezieht sich das B V e r f G das erste M a l i n E 25, 158 (166) auf einen derartigen Grundsatz (s. auch E 26, 315 [318] m i t Bezugnahme auf E 25, 158 [166]). Entstehung u n d Bedeutung des Grundsatzes sind noch nicht konkretisiert. I n E 35, 296 (298) w i r d der Grundsatz wieder aktiviert. E 37, 93 (96 f.) f ü h r t n u r an, daß das B V e r f G diese Frage wiederholt entschieden habe, E 37, 100 (102) geht auf den fraglichen Grundsatz nicht ein. Er kehrt wieder i n E 38, 35 (38) u n d 40, 42 (44). I n der zuletzt genannten Entscheidung geht das Gericht auf die F u n k t i o n des Grundsatzes ein. So ist an i h m „zu messen, welche Vorkehrungen gegen drohende Fristversäumungen v o m Bürger verlangt werden" können. „Der Grundsatz begrenzt die Anforderungen, . . . die nach Versäumung an Vortrag u n d Glaubhaftmachung der Versäumnisgründe gestellt werden dürfen." „Ebenso setzt er einen
2.2. Der Grundsatzcharakter der Prozeßgrundsätze
23
Insgesamt b r e i t e t sich s o m i t eine P a l e t t e v o n G r u n d s ä t z e n m i t u n t e r schiedlicher Reichweite, B e d e u t u n g u n d R e g e l u n g s g e h a l t aus. D i e Z u o r d n u n g d e r Prozeßgrundsätze z u d e n e i n z e l n e n G r u n d s a t z a r t e n
und
die d a r a u s z u z i e h e n d e n F o l g e r u n g e n s i n d u m s t r i t t e n . V e r t r e t e n w i r d e i n V e r s t ä n d n i s d e r P r o z e ß g r u n d s ä t z e als A u s l e g u n g s h i l f e n i m P r o z e ß r e c h t 3 1 , als Rechtsgrundsätze m i t n o r m a t i v e m C h a r a k t e r 3 2 oder als A x i o m e des Prozeßrechts 3 3 . A l l e n A u f f a s s u n g e n ist aber w o h l gemeinsam, daß Prozeßgrundsätze als Ausdruck einer grundlegenden Verfahrensgestaltung i n e i n e r P r o z e ß o r d n u n g erachtet w e r d e n 3 4 , d e r sich i n n o r m a t i v e n E i n z e l r e g e l u n g e n niedergeschlagen h a b e n m u ß . I m e i n z e l n e n bestehen aber w e i t e r h i n U n k l a r h e i t e n ü b e r d i e V o r a u s s e t z u n g e n f ü r das V o r l i e g e n e i n e r g r u n d l e g e n d e n V e r f a h rensgestaltung, ü b e r R a n g u n d F u n k t i o n d e r P r o z e ß g r u n d s ä t z e 3 5 . Diese Fragen k ö n n e n nicht f ü r alle Prozeßordnungen zugleich aufgegriffen u n d gelöst w e r d e n . F ü r das Verfassungsprozeßrecht s i n d sie später a u f der G r u n d l a g e eines noch d a r z u s t e l l e n d e n m a t e r i e l l e n Verständnisses näher zu erörtern 36.
Maßstab für die verfassungskonforme Auslegung." — Der Grundsatz t r i t t jetzt an die Stelle der zugrundeliegenden N o r m des A r t . 103 Abs. 1 GG bzw. ergänzt die normative Regelung. Er stellt das K r i t e r i u m dar, an dem hoheitliches Handeln überprüft w i r d . Vgl. weiter die Bezugnahme auf den angeführten Grundsatz i n BVerfGE 40, 46 (50); 88 (91); 95 (98); 182 (185). 31 Vgl. Grunsky, Grundlagen, S. 16: „unentbehrliche Hilfe zur Beantwortung i m Gesetz nicht unmittelbar geregelter Fragen". Grunsky sieht die V e r fahrensgrundsätze als Grundgedanken an, die als solche i m Gesetz gar nicht ausdrücklich enthalten zu sein brauchen (ebd., S. 16). Gegen ein Verständnis der Prozeßgrundsätze als „vorgegebene Selbstverständlichkeiten" wendet sich ders., N J W 1976, S. 666. Er hebt hervor, daß Grundsätze nie je i n dem Sinne geltendes Recht gewesen seien, je „gegolten" hätten, daß ein Paragraph sie ausdrücklich statuiert hätte. — s. weiter Stein / Jonas / Pohle, vor § 128, Anm. I I ; Brüggemann, S. 102. 32 So Chr.-Fr. Menger, Prozeßrechtssätze, S. 433. — Gegen eine Rechtsnormqualität der Prozeßgrundsätze Pohle i n Stein/Jonas, v o r § 128, A n m . I I ; Brüggemann, S. 101. 33 Ablehnend insoweit Haverkämper, S. 16 ff. 34 So verstehen Rosenberg / Schwab, S. 387, die Verfahrensgrundsätze als Prinzipien, nach denen der Gesetzgeber das Verfahrensrecht geregelt habe. N u r besonders wichtige Entscheidungen des Gesetzgebers verdienten die Klassifizierung als Verfahrensgrundsätze. — Nach Bruns, S. 108, ist Gegenstand der Prozeßgrundsätze „die Frage der Gestaltung des Verfahrens". — Brüggemann, S. 101 f., wertet die Grundsätze, i m Anschluß an Chr.-Fr. Menger, Prozeßrechtssätze, S. 433, als „ M a t e r i a l i m Arsenal des Gesetzgebers" u n d als „Richtungsbegriffe". 35 Kritisch gegenüber dem unklaren Begriffsbild und die Notwendigkeit von Prozeßgrundsätzen überhaupt bezweifelnd Rödig, S. 105 f. 3 6 Nach Arens, AcP 173 (1973), S. 250 (251) erklären sich die unterschiedlichen Prozeßmaximen aus der Verschiedenheit der jeweiligen materiellen Rechtsgebiete.
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
2.3. Geltung der Prozeßgrundsätze im Verfassungsprozeßrecht Wie bei allen anderen Verfahrensordnungen 37 gehen Rechtsprechung und Literatur auch für das Verfassungsprozeßrecht davon aus, daß i n i h m Prozeßgrundsätze Geltung beanspruchen können. Diese Verfahrensgrundsätze 38 ergeben sich nach den insoweit prägenden BVerfGGKommentaren entweder „ i n Anlehnung an das Verwaltungsprozeß37 Der Nachweis sei hier wenigstens andeutungsweise für das Verwaltungsprozeßrecht geführt: Den Prozeßmaximen soll gerade i m Verwaltungsstreitverfahren „zwangsläufig besondere Bedeutung" zukommen, u n d zwar hinsichtlich der Frage, i n w i e w e i t zivilprozessuale Regelungen i m V e r waltungsprozeß Anwendung finden können (so f ü r das süddeutsche V G G : Bitter, BayVBl. 1958, S. 41 [42]). Die besondere Qualität der Verfahrensgrundsätze f ü r den Verwaltungsprozeß hebt auch die insoweit wegweisende Abhandlung von LUI ce, JuS 1961, S. 41 ff., hervor, der ausführt, daß die K l ä r u n g zentraler Fragen des Verwaltungsprozesses bewußt Rechtsprechung u n d Wissenschaft übertragen worden sei. I n der Beschäftigung m i t den Verfahrensmaximen sieht er die Basis, v o n der aus etwaige Lücken der gesetzlichen Regelung geschlossen werden können. Nach L ü k e prägen i n erster L i n i e die Dispositionsmaxime u n d die Untersuchungsmaxime den Verwaltungsprozeß. L ü k e weist zudem auf § 173 V w G O hin, der von „grundsätzlichen Unterschieden" i n den Verfahrensordnungen ausgeht. E i n Licht auf den Bestimmtheitsgrad u n d den verschwommenen Begriffsinhalt w i r f t i n diesem Zusammenhang die Feststellung Lükes, die amtliche Begründung zu den §§88, 106 u n d 129 V w G O , die i n diesen Fällen v o n der Durchbrechung der den Verwaltungsprozeß beherrschenden Offizialmaxime ausgehe, sei unrichtig, da das Offizialprinzip gerade nicht gelte (S. 42). — M i t „Allgemeinen Prozeßrechtssätzen i n der Verwaltungsgerichtsordnung" setzt sich auch Chr.-Fr. Menger, Prozeßrechtssätze, S. 427 ff., auseinander. Er faßt unter dem Oberbegriff der „allgemeinen Prozeßrechtssätze", bei denen es sich nach seiner Terminologie u m „besondere Rechtsgrundsätze" handelt (S. 429), wie etwa das „Prinzip umfassenden Rechtsschutzes" u n d die Gedanken der Rechtssicherheit u n d Billigkeit, auch die Verfahrensmaximen w i e Dispositions-, Offizial-, Verhandlungsmaxime u. a. Er versteht diese lediglich als „Tendenzen" (S. 433), die i n der jeweiligen Verfahrensordnung zum Ausdrude kommen u n d die andeuten, i n welche Richtung die E n t wicklung gegangen ist oder noch geht. — Auch Haverkämper, der i n seiner A r b e i t „Die verfassungsrechtlichen Grundlagen der M a x i m e n des V e r waltungsprozeßrechts", Diss. Münster 1973, die verfassungsrechtliche A b sicherung der Prozeßmaximen untersucht, geht von ihrer Geltung i m Verwaltungsprozeß aus (S. 32 ff.). Er sieht i n ihnen vornehmlich „empirische Begriffe" (S. 31). Diese Qualifizieung bedeutet nach H., daß, da der Begriffsinhalt der M a x i m e n bisher nicht k l a r und eindeutig definiert worden sei u n d auch nicht definiert werden könne, unter ihnen das zu verstehen ist, was bisher gemeinhin unter ihnen verstanden worden ist (S. 13). — Bei diesem Vorgehen von H. w i r d allerdings nicht klar, wie etwas zu verstehen ist, was nicht eindeutig definiert werden kann. — E i n Überblick über die wesentlichen Verfahrensgrundsätze des Verwaltungsprozeßrechts findet sich bei Tschira / Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, S. 278 ff. 38 Sie werden auch als „allgemeine Verfahrensgrundsätze" bezeichnet (Lechner, vor § 17, A n m . Β I). Der Begriff der Allgemeinheit bezieht sich i n diesem Zusammenhang auf alle Verfahrensarten der Verfassungsgerichtsbarkeit. Nach der hier verwendeten Terminologie sind die Grundsätze bloße Verfahrensgrundsätze u n d nicht m i t den „Allgemeinen Prozeßgrundsätzen", deren Allgemeinheit sich aus der Geltung i n mehreren Verfahrensordnungen ergeben k a n n (s. dazu noch 3.), zu verwechseln.
2.3. Geltung der Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
25
recht" 3 9 aus den allgemeinen Verfahrensvorschriften des BVerfGG (§§ 17 - 35) 40 oder aus den allgemeinen und besonderen Verfahrensregeln des BVerfGG 4 1 . I m einzelnen w i r d von der Geltung der folgenden Prozeßgrundsätze ausgegangen 42 : — — — — — — — — — — —
Grundsatz der Mündlichkeit Grundsatz der Öffentlichkeit Grundsatz der Parteiöffentlichkeit Dispositionsmaxime Offizialmaxime Untersuchungsgrundsatz Grundsatz des Amtsbetriebs Grundsatz der Unmittelbarkeit Grundsatz des beschränkten Anwaltszwanges Grundsatz der Kostenfreiheit Grundsatz der Verfahrensverbindung.
Die vorgestellten Grundsätze basieren zum einen auf einer Norm der allgemeinen Verfahrensvorschriften des BVerfGG, so daß sich bereits vorab die Frage stellt, ob das Verständnis als Grundsatz neben der Geltung als allgemeiner Verfahrensnorm einen zusätzlichen Erkenntniswert hat. Zum anderen beruht der Grundsatzcharakter auf einer Summe von Detailregelungen. Die Grundsätze sind von unterschiedlichem Gewicht. Ehe diejenigen behandelt werden, die für das Funktionieren der Sache Verfassungsgerichtsbarkeit eine ausschlaggebende Bedeutung haben, sind zunächst die i m wesentlichen unproblematischen Grundsätze darzustellen: der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit, des Amtsbetriebs, des beschränkten Anwaltszwangs, der Kostenfreiheit, der Unmittelbarkeit und der Grundsatz der Verfahrensverbindung. 2.3.1. Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit Der
Begriff
der
Parteiöffentlichkeit
meint,
daß
alle
Verfahrens-
b e t e i l i g t e n v o n d e m P r o z e ß v o r b r i n g e n des Gegners o d e r a n d e r e r B e teiligter Kenntnis nehmen können43. Der Grundsatz der Parteiöffentlichkeit i m
Verfassungsprozeßrecht
wird
aus d e n a l l g e m e i n e n
Ver-
se Lechner, vor § 17, A n m . Β I. 40 So die Auffassung von Lechner, ebd. Klein i n Maunz / Sigloch, vor § 17, Rdnr. 6. 42 Vgl. die Darstellungen von Lechner, ebd., u n d Klein, ebd.; s. weiter: Stern, Verfahrensrechtliche Probleme der Grundrechtsverwirkung u n d des Parteiverbots, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 194 (199 ff.). « Klein, vor § 17, Rdnr. 6.
26
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
fahrensvorschriften des BVerfGG abgeleitet: dem Recht der Beteiligten auf Akteneinsicht (§ 20), der Schriftlichkeit der Anträge m i t Begründungspflicht 44 und Pflicht zur Angabe der Beweismittel (§ 23 Abs. I ) 4 5 sowie dem Recht der Beteiligten, der Beweisaufnahme beizuwohnen und i n ihr Fragen zu stellen (§ 29) 46 . Die genannten Einsichtsund Mitwirkungsrechte und m i t ihnen der übergreifende Grundsatz der Parteiöffentlichkeit stehen i n engem Zusammenhang mit dem in jedem Gerichtsverfahren geltenden Recht auf Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG). Sie sind unmittelbarer Ausdruck des A r t . 103 Abs. 1 GG 4 7 . 2.3.2. Der Grundsatz des Amtsbetriebs
Die Durchführung eines Verfahrens i m Amtsbetrieb besagt, daß nach Verfahrenseinleitung durch den Antrag das Verfahren vom Amts wegen 4 8 durchzuführen ist 4 9 . Der Begriff des Amtsbetriebs erfaßt dabei nur die Prozeßleitung und die Durchführung des Verfahrens i m Rahmen der Anträge 5 0 , bezieht sich ζ. B. aber nicht auf die Frage, inwieweit das BVerfG trotz der Rücknahme der Anträge durch die Verfahrensbeteiligten das Verfahren „von Amts wegen" fortsetzen kann 5 1 . I n der Bestimmung der Rechtsgrundlage des Grundsatzes des Amtsbetriebes kann nicht allein, wie G. Wolf 52 zutreffend herausgearbeitet hat, auf die Vorschrift des § 26 BVerfGG 5 3 abgestellt werden, der nur die Befugnis des BVerfG zur Beweiserhebung von Amts wegen (Untersuchungsgrundsatz 54 ) erfaßt. Vielmehr ergibt sich aus einer Reihe von Normen, daß das BVerfG das Verfahren von Amts wegen in dem oben beschriebenen Sinne zu betreiben hat. Hier sind insbesondere die §§ 23 II, 24, 26, 30 II, 33 I und 35 BVerfGG zu nennen 55 .
44 Die Begründung, die innerhalb der gesetzlich vorgesehenen Frist vorliegen muß, ist ein wesentliches Erfordernis des verfahrenseinleitenden Antrages (so BVerfGE 21, 359 [361]). 45 Bei § 23 Abs. 1 B V e r f G G handelt es sich u m eine f ü r alle verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten geltende Verfahrensvorschrift (BVerfGE 24, 252 [258]). 46 s. dazu auch Lechner, §29, A n m . ; Geiger, Komm., §29, Anm. 3. 47 So Ole, V e r w A r c h 62 (1971), S. 114 (128) für das Verwaltungsverfahren. 4 » Dazu BVerfGE 1, 13 (31). 4 » Klein, vor § 17, Rdnr. 6. so G. Wolf, DVB1. 1966, S. 884 (886). 51 s. dazu die Ausführungen zur Offizialmaxime unter 2.4.1. 52 G. Wolf, S. 885. 53 So aber vor allem Lechner, vor § 17, A n m . Β I, m i t der Gleichsetzung von Amtsbetrieb u n d Offizialmaxime unter Bezugnahme auf § 261 BVerfGG. 54 Vgl. unten unter 2.6. 55 s. dazu die ausführliche Darstellung von G. Wolf, S. 885 f.
2.3. Geltung der Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
27
2.3.3. Der Grundsatz des beschränkten Anwaltszwangs
Nach § 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG müssen sich die Beteiligten eines Verfahrens (nur) in der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG von einem Rechtsanwalt oder einem Hochschullehrer des Rechts vertreten lassen. Daraus w i r d die Geltung eines Grundsatzes des beschränkten Anwaltszwangs gefolgert 56 . Die Praxis bei den verfassungsgerichtlichen Verfahrensarten 57 , i n denen überhaupt die Vertretung eines Beteiligten i n Betracht kommt, insbesondere die der Verfassungsbeschwerde, zeigt i n erstaunlich vielen Fällen, daß Organisationen, aber auch Privatleute nicht auf eine Vertretung durch Anwälte zurückgreifen. Die Beschränkung des Anwaltszwangs nur auf die mündliche Verhandlung vor dem BVerfG hat einen tieferen Sinn. So hebt sich die Vorschrift des § 22 I BVerfGG ζ. B. erheblich von der des § 78 ZPO ab, die für das Verfahren vor den Landgerichten und Gerichten des höheren Rechtszuges den Anwaltszwang normiert. Dabei ist die Bedeutung der i n einem Verfassungsprozeß zur Entscheidung stehenden Fragen gewöhnlich von ungleich größerem Gewicht. I n § 22 Abs. 1 BVerfGG kommt das Bestreben der verfassungsgerichtlichen Verfahrensordnung zum Ausdruck, den vom Verfahren Betroffenen den Zugang zu i h m ohne Einschaltung zusätzlicher Voraussetzungen zu ermöglichen. Die fehlende Präsenz von i m Verfassungsprozeß geschulten Anwälten kann aber auch zur Folge haben, daß von den Beteiligten für den Entscheidungsgegenstand wichtige Gesichtspunkte nicht i n ausreichendem Maße erkannt und daher auch vom Gericht nicht genügend berücksichtigt werden 5 8 . Als Pendant zum beschränkten Anwaltszwang i m Verfassungsprozeßrecht folgt daher die Forderung nach einer weitgehenden Beteiligung aller vom Verfahren materiell Betroffenen. Diese Einbeziehung der materiell Betroffenen, ggf. durch Anhörung von Sachverständigen, Fragebogenaktionen des Gerichts u. a., bedingt die vermehrte Information des Gerichts, ermöglicht zugleich eine größere „Richtigkeit" der Entscheidung und damit nicht nur die Bereitschaft, sondern auch tatsächlich einen erhöhten Konsens über die Entscheidung.
se Klein, vor §17, Rdnr. 6; Lechner, vor §17, Anm. Β I. — Für den Bund, die Länder und ihre Verfassungsorgane, gesetzgebende Körperschaften und Teile von ihnen, die i n der Verfassung oder i n der Geschäftsordnung m i t eigenen Rechten ausgestattet sind, s. die Sonderregelung des § 22 Abs. 1 S. 2 und 3 BVerfGG. 57 Wie sie sich i m Spiegel der amtlichen Entscheidungssammlung des BVerfG darstellt. 58 Aus dem Fehlen des Anwaltszwangs folgert Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 195, die Notwendigkeit einer umfassenden Beteiligung der Betroffenen.
28
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht 2.3.4. Der Grundsatz der Kostenfreiheit
Aus § 34 Abs. 1 BVerfGG ergibt sich die Gerichtskostenfreiheit i m Verfahren vor dem BVerfG 5 9 , die für das Verfassungsbeschwerdeverfahren i n § 34 Abs. 5 BVerfGG durch die Möglichkeit der Auferlegung von Gebühren wegen Mißbrauchs Einschränkungen erfährt. I n bestimmten Fällen ist eine Erstattung der Auslagen der Beteiligten vorgesehen 60 . A n Hand dieses Beispiels w i r d die Problematik der Postulierung eines zusätzlichen Grundsatzes neben der konkreten Verfahrensnorm besonders klar. Die Annahme des entsprechenden Grundsatzes führt nicht weiter. Der sog. Grundsatz erschöpft sich i n der Wiedergabe des Inhalts einer Vorschrift. 2.3.5. Der Grundsatz der Unmittelbarkeit
Für das Verfahren der Beweisaufnahme gilt der Grundsatz der Unmittelbarkeit 6 1 . Er besagt, daß ein Beweis grundsätzlich nur i n der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht erhoben werden darf. Der Grundsatz w i r d aus der Vorschrift des § 26 Abs. 1 S. 2 BVerfGG rückgeschlossen62, die Ausnahmen von der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme zuläßt. 2.3.6. Der Grundsatz der Verfahrensverbindung
Nach einem i n der Rspr. des BVerfG zum Ausdruck gekommenen Grundsatz kann das Gericht Verfahren auch verschiedener A r t m i t einander verbinden 6 3 . Gesetzlich ist die Verbindung von (gleichartigen) Verfahren i n § 66 BVerfGG für die Organstreitigkeiten und i n § 69 unter Verweisung auf § 66 für Bund/Länder-Streitigkeiten geregelt 64 . s» Lechner, vor § 17, A n m . Β I ; Klein, vor § 17, Rdnr. 6. 00 Auch wenn eine Verfassungsbeschwerde v o m Senat gem. § 93 a I V B V e r f G G nicht zur Entscheidung angenommen w i r d , k a n n eine Erstattung der Auslagen nach §34 Abs. 3 B V e r f G G angeordnet werden (BVerfGE 36, 89 [92]). — Die Möglichkeit der Erstattung von Auslagen nach §34 Abs. 3 g i l t n u r für am Verfahren vor dem B V e r f G Beteiligte (Ε 1, 433 [438]), nicht für Äußerungsberechtigte i. S. d. §82 Abs. 3 B V e r f G G (E36, 101). — Auslagen können auch erstattet werden, w e n n der Beschwerdeführer (nur) i n der verfassungsrechtlichen Hauptfrage obsiegt (E36, 146 [174]). ei Lechner, § 26, zu Abs. 1, A n m . 2. 62 Lechner, ebd. BVerfGE 12, 205 (223) m i t Verbindung von Bund/Länder-Streitverfahren und abstrakter Normenkontrolle; E10, 185 (186); 17, 232; 30, 227; 34, 118; 39, 169 m i t Verbindung von konkreter Normenkontrolle u n d Verfassungsbeschwerdeverfahren; E 22, 180 (199); 30, 1 (15) m i t Verbindung von abstrakter Normenkontrolle u n d Verfassungsbeschwerde; E 1 , 208 (210) m i t Verbindung von Organstreit u n d Verfassungsbeschwerde; E 13, 54 (56) m i t Verbindung von Biind/Länder-Streitverfahren, Organstreit i m B u n d u n d Verfassungsbeschwerde.
2.4. Dispositions- und Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
29
I n diesen Vorschriften sieht das BVerfG einen allgemeinen Grundsatz, „der es dem Gericht gestattet, auch i n anderen Fällen Verfahren m i t einander zu verbinden, wenn dies zweckmäßig erscheint" 65 . Verschiedene Verfahren dürfen aber nur verbunden werden, wenn die prozessuale Position der Verfahrensbeteiligten nicht beeinträchtigt w i r d 6 6 und den Verfahrensvorschriften für jede Verfahrensart Genüge getan wird67. 2.3.7. Abgelehnte Annahme weiterer Prozeßgrundsätze
Das BVerfG lehnt u. a. die Annahme eines allgemeinen Verfahrensgrundsatzes des Verfassungsprozeßrechts ab, dem zufolge Verfassungsorgane jeglichem Verfahren vor dem BVerfG beitreten können 6 8 . — Auch aus den §§ 96, 41 BVerfGG folge kein Prozeßgrundsatz der A r t , daß derselbe Antragsteller dieselbe verfassungsrechtliche Frage dem BVerfG erneut nur dann vorlegen kann, wenn neue rechtliche Gesichtspunkte vorgetragen werden oder wenn ein grundlegender Wandel der Lebensverhältnisse oder der allgemeinen Rechtsauffassung eingetreten ist 6 9 . 2.3.8. Zusammenfassung
Die bisher dargestellten Grundsätze haben zwar vielfältige praktische Auswirkungen. Diese beziehen sich aber oft nur auf die Gestaltung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens im einzelnen. Die i m A n schluß zu erörternden Grundsätze, nämlich die Dispositions- bzw. Offizialmaxime, das Prinzip der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sowie der Untersuchungsgrundsatz, berühren dagegen Zentralstellen des Verfassungsprozeßrechts. Sie sind deshalb von besonderer Wichtigkeit.
2.4. Dispositions- und Offizialmaxime im Verfassungsprozeß Inwieweit der Verfassungsprozeß von der Dispositions- und/oder der Offizialmaxime beherrscht wird, ist streitig. Dispositions- und Offizialmaxime sowie der Untersuchungs- und der Verhandlungsgrundsatz 64 Vgl. §27 Bad.-Württ. StGHG: „Der Staatsgerichtshof k a n n anhängige Verfahren verbinden u n d verbundene Verfahren trennen". Ebenso § 22 Saarl. VerfGHG. βδ BVerfGE 12, 205 (223); zustimmend Leibholz / Rupprecht, vor §17, Rdnr. 4; Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart, S. 89 (184). 66 BVerfGE 22, 387 (407). e? BVerfGE 12, 205 (223). es BVerfGE 24, 33 (44 f.). 6» BVerfGE 20, 56 (88).
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
hängen thematisch zusammen, so daß sich eine gemeinsame Erörterung anbietet. Zunächst bedarf es einer Bestimmung der zugrundeliegenden Begriffe. I m Zivilprozeßrecht entwickelt, aber m i t denselben Begriffsinhalten i n den anderen Prozeßordnungen verwendet, werden folgende Maximen(gegensatz)paare unterschieden: zum einen die Dispositionsund Offizialmaxime, zum anderen der Verhandlungs- und der Untersuchungsgrundsatz. Die inhaltliche Bestimmung der Dispositionsmaxime w i r d unterschiedlich vorgenommen. Nach der h. M. ist darunter der Grundsatz der Verfügungsfreiheit der Partei über Beginn, Ziel und Ende des Verfahrens zu verstehen 70 . Die Dispositionsmaxime besagt also, daß die Durchführung eines Verfahrens der Parteiherrschaft unterliegt 7 1 . Sie findet ihren Ausdruck i n dem Satz „ne procedat iudex ex officio" 7 2 . Andere Auffassungen 73 trennen nicht scharf zwischen Dispositionsund Verhandlungsmaxime und beziehen die Verhandlungsmaxime auch auf die Einleitung des Verfahrens 74 . Korrespondierendes Gegenstück der Dispositionsmaxime ist die Offizialmaxime 7 5 . Sie drückt aus, daß die Prozeßhandlungen, die ein Verfahren einleiten, fortführen und beenden, von Amts wegen vorgenommen werden 7 6 . Ebenfalls von der Partei herrschaft i m gerichtlichen Verfahren wie die Dispositionsmaxime geht der Verhandlungsgrundsatz aus. Er hat zum Inhalt, daß die Parteien befugt sind, den Tatsachenstoff in den Prozeß einzuführen, über die Feststellung des Stoffes zu entscheiden und seine Feststellung durch Sachvortrag, Beweisantritte u. a. zu betreiben 7 7 . Nur von den Parteien vorgetragene Tatsachen dürfen als Grundlage der Entscheidung verwendet werden 7 8 . Sein Pendant, der Untersuchungsgrundsatz 79 , stellt darauf ab, daß das Gericht von Amts wegen den Sachverhalt erforschen muß, also selbst alle erforderlichen Tatsachen und Beweismittel heranzuziehen und zu prüfen hat 8 0 . 70 Stein / Jonas / Pohle, vor § 128, A n m . V I 1 ; Bernhardt, S. 138; Lent / Jauernig, S. 65; G. Wolf, S. 884; Redeker / v.Oertzen, V w G O , §86, A n m . 2, 4. 71 Blomeyer, Zivilprozeßrecht, S. 63; Bruns, S. 114; Schönke / Kuchinke, S. 29. 72 Blomeyer, S. 63 ; Brüggemann, S. 103. 73 Einen Überblick über die verschiedenen Auffassungen gibt H aver kämper, S. 39 f. 74 Eyermann / Fröhler, VwGO, §86, A n m . 1; Lang, V e r w A r c h 52 (1961), S. 60 (63). ™ Bruns, S. 115; Stein / Jonas / Pohle, vor §128, A n m . V I 2. ™ Schönke / Kuchinke, S. 29. 77 Brüggemann, S. 100. 7 ® Bruns, S. 113; Lent / Jauernig, S. 69. ™ Blomeyer, S. 66; Lent / Jauernig, S. 69. 80 Kritisch zum Stellenwert von Verhandlungs- u n d Untersuchungsgrundsatz insbes. Bomsdorf, S. 278 ff. — a. A. insoweit Bettermann, S. 348 f.
2.4. Dispositions- und Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
31
2.4.1. Die Judikatur des BVerfG zur Offizialmaxime im Verfassungsprozeß
Die Rechtsprechung des BVerfG ging von der Geltung der Offizialmaxime jedenfalls zunächst für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. I Nr. 2 GG, §§ 13 Nr. 6, 76 ff. BVerfGG) aus. Wegen ihrer unscharfen Terminologie ist sie i n sich uneinheitlich und widersprüchlich. U m die verschiedenen Aspekte der Offizialmaxime in der Rechtsprechung des BVerfG darzustellen, ist die einschlägige Judikatur aufzuarbeiten. Bereits i n einer frühen Entscheidung 81 stellt das Gericht auf den „Offizialcharakter des Normenkontrollverfahrens" ab. Es führt aus: „Ist durch einen solchen Antrag das Verfahren (seil, der Normenkontrolle) in Gang gesetzt, so ist es i n der Tat i n seinem weiteren Verlauf der Verfügung des Antragstellers entzogen, so daß für die Gestaltung und die Durchführung des Verfahrens nicht die Anträge und Anregungen des Antragstellers, sondern ausschließlich Gesichtspunkte des öffentlichen Interesses maßgebend sind. Hieraus folgt ζ. B., daß die Zurücknahme eines zulässigen Antrages auf Durchführung eines Normenkontrollverfahrens nicht notwendigerweise zur Einstellung des Verfahrens führen müßte." — A n diesen Bemerkungen des Gerichts fällt auf: Es handelt sich um keine Begründung i m üblichen Sinn, unter Nennung von Argumenten, unter Hinweis auf gesetzliche Regelungen. Die Ausführungen setzen apodiktisch die Geltung des sogenannten „Offizialcharakters", bei dem es sich um die Offizialmaxime i m oben beschriebenen Sinne handelt, voraus. Offengelegt w i r d dagegen der Zweck, der hinter der Annahme einer Geltung der Offizialmaxime steht. Das BVerfG erschließt sich so die Möglichkeit, über die Fortsetzung eines eingeleiteten Normenkontrollverfahrens trotz A n tragsrücknahme zu befinden. Die Beendigung des Verfahrens liegt nicht mehr i n der Verfügungsbefugnis der Antragsteller. Beachtenswert ist die i n diesem Zusammenhang vom BVerfG vorgenommene Verknüpfung der Durchführung des Normenkontrollverfahrens m i t dem Topos „öffentliches Interesse" 82 , auf die später noch einzugehen sein wird. — I n E 8, 183 (184) beruft sich das Gericht inhaltlich auf die o. a. Entscheidung. Nach Rücknahme des Antrages durch den Antragsberechtigten stellt es das Verfahren ein, weil es das öffentliche Interesse an der Fortführung des Verfahrens nicht bejaht 8 3 . — I n einem anderen Sinn81 BVerfGE 1, 396 (414); s. schon E l , 14 (31): „Das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht ist nach Eingang des das Verfahren einleitenden Antrags von Amts wegen durchzuführen, also ohne Rücksicht darauf, ob die Antragsgegner u n d sonst zum B e i t r i t t Berechtigten i m Verfahren auftreten, Erklärungen abgeben oder Anträge stellen." 82 E l , 414f. — Allgemein zum „Öffentlichen Interesse": P. Häberle, öffentliches Interesse als juristisches Problem.
32
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
Zusammenhang verwendet das BVerfG den Begriff der Offizialmaxime i n E 1, 299 (316). Hier setzt es die Offizialmaxime m i t dem Untersuchungsgrundsatz gleich 84 . — I n E l , 433 (436) legt das Gericht wiederum ein neues Verständnis der Offizialmaxime dar: „Der das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht beherrschende Grundsatz der Offizialmaxime erfordert, daß das Gericht das Vorliegen einer Vollmacht von Amts wegen nachprüft." Das Gericht ordnet die Prüfung von Prozeßvoraussetzungen, — i n Frage stand die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde innerhalb der gesetzlichen Frist durch einen Bevollmächtigten —, die es von Amts wegen vorzunehmen hat, unter die Offizialmaxime ein. Die Autoren, die die Geltung der Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß erörterten, haben zum Teil angeführt, daß das BVerfG die Konsequenzen aus der Offizialmaxime, die Kompetenz zur Fortsetzung des Verfahrens nach Rücknahme des Antrages, noch nicht gezogen habe 85 . M i t dem Hinweis sollte angedeutet werden, daß das Gericht seiner vertretenen Auffassung nicht sicher sei. Diese Ansichten sind nach dem Beschluß des 2. Senats des BVerfG vom 26. Nov. 196886 so kaum mehr haltbar. Hier hat das Gericht i n einem Organstreitverfahren (Art. 93 I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG) erklärt, nach der mündlichen Verhandlung könne die Zurücknahme des Antrages nur m i t Zustimmung des Gerichts erfolgen. I m speziellen Fall hat das Gericht die Zustimmung wegen entgegenstehender „öffentlicher Interessen" verweigert und das Verfahren fortgesetzt. Eine weiterführende Begründung für diese Entscheidung w i r d vom Gericht nicht gegeben. Insbesondere bezieht es sich nicht ausdrücklich auf die Offizialmaxime, obwohl von ihrer Geltung i m Hintergrund ausgegangen w i r d 8 7 . 83 Auch i m Verfahren der konkreten Normenkontrolle (Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG) geht das Gericht v o m „Of fizialverfahren" der Normenkontrolle aus (BVerfGE 10, 332 [335]). 84 BVerfGE 1, 299 (316): „Das verfassungsgerichtliche Verfahren kennt keine Regeln über die Beweislast, es w i r d nach der Offizialmaxime durchgeführt." — M i t einem anderen begrifflichen I n h a l t verwendet das Gericht den Terminus „Offizialmaxime" i n E10, 177 (182) für das BEntschG. Es versteht darunter die E r m i t t l u n g aller für die Entscheidung erheblichen Tatsachen von A m t s wegen. — Das i n dieser Untersuchung vertretene V e r ständnis der Offizialmaxime legt das Gericht dagegen i n E 9, 256 (257) zugrunde: Danach seien bei Geltung der Offizialmaxime (im Ehelichkeitsanfechtungsverfahren der ZPO) Verfügungen über den Streitgegenstand durch Anerkenntnis und Geständnis ausgeschlossen. 85 So Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart, S. 183; G. Wolf, S. 888. ββ BVerfGE 24, 299 f. 87 Vgl. als Indiz die Einordnung der Antragsrücknahme i m Organstreit unter dem Stichwort „Offizialmaxime" i n dem Registerband für Band 21 - 30 der amtlichen Entscheidungssammlung des BVerfG.
2.4. Dispositions- u n d Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
33
D r e i A s p e k t e s i n d b e i d e r E n t s c h e i d u n g B V e r f G E 24, 299 f. h e r v o r zuheben. E i n m a l h a n d e l t es sich b e i d e m z u g r u n d e l i e g e n d e n V e r f a h r e n u m e i n e n O r g a n s t r e i t . Z u m z w e i t e n s t e l l t das G e r i c h t f ü r d i e A n t r a g s r ü c k n a h m e a u f d e n Z e i t p u n k t d e r m ü n d l i c h e n V e r h a n d l u n g ab. D i e Zulässigkeit einer Antragsrücknahme v o r der mündlichen V e r h a n d l u n g b l e i b t offen. Z u m d r i t t e n b e r ü c k s i c h t i g t das G e r i c h t auch h i e r w i e d e r v o r r a n g i g d i e „ ö f f e n t l i c h e n I n t e r e s s e n " , o h n e diesen Topos inhaltlich aufzufüllen 88. 2.4.2. Stellungnahmen in der Literatur zur Geltung der Offizialmaxime N a c h der g ä n g i g e n I n t e r p r e t a t i o n s p r a x i s h a t d i e E n t s c h e i d u n g f ü r die G e l t u n g d e r D i s p o s i t i o n s - b z w . d e r O f f i z i a l m a x i m e 8 9 i m v e r f a s sungsgerichtlichen V e r f a h r e n ζ. B . A u s w i r k u n g e n auf d i e i m B V e r f G G n i c h t g e n e r e l l geregelte F r a g e d e r B e e n d i g u n g des V e r f a h r e n s d u r c h Antragsbzw. Klagerücknahme. A l s Ausfluß der Dispositionsm a x i m e 9 0 · 9 1 müßte demnach ein Verfahren durch Antragsrücknahme abgeschlossen w e r d e n k ö n n e n 9 2 . Diese K o n s e q u e n z e n u n d die z u 88 s. auch BVerfGE 25, 308 (309), wo das B V e r f G i n einem abstrakten Normenkontrollverfahren das Vorliegen öffentlicher Interessen verneint u n d auf eine Antragsrücknahme h i n das Verfahren einstellt. I n Frage stand dabei u . a . die Verfassungsmäßigkeit des sog. Reptilienfonds. Antragsteller waren SPD-Abgeordnete, die nach E i n t r i t t der SPD i n die Große K o a l i t i o n ihren verfahrenseinleitenden A n t r a g zurückzogen. 89 Spanner, DÖV 1963, S. 684 (685), fordert die Befugnis f ü r das BVerfG, v. A . w. ein Normenkontrollverfahren für alle Gesetze einleiten zu können, die die Einrichtung, das Verfahren u n d die Zuständigkeit des Gerichts betreffen u n d bei denen Zweifel an der Rechtmäßigkeit bestehen (beschränkte Offizialmaxime). — Kritisch dazu Kutscher, Festschr. G. Müller, S. 161 (178). 90 Eine verfassungsrechtliche Grundlegung der Dispositionsmaxime v e r sucht Billing , S. 28 Fn. 12. Er sieht i n der Passivität des Rechtsprechungsorgans, i n der Erforderlichkeit eines Anstoßes von außen ein notwendiges Korrelat der Unabhängigkeit i. S. von Unbeteiligtsein des Gerichtes. Ebenfalls aus dem Grundsatz der richterlichen Passivität folgert Goessl, Organstreitigkeiten innerhalb des Bundes, S. 213, die Geltung der Dispositionsmaxime i m Verfassungsprozeß. — Richterliche Passivität u n d Notwendigkeit eines verfahrenseinleitenden Antrages sind aber nur zwei Einzelaspekte des Gesamtkomplexes Rechtsprechung, i n concreto der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie dürfen nicht i. S. einer M a x i m e verabsolutiert werden. 91 Z u r Dispositionsbefugnis der Antragsberechtigten i m österreichischen Verfassungsprozeß vgl. Hagen, S. 92 ff. 92 Dieser Schluß w i r d auch ausdrücklich von Friesenhahn, S. 183, gezogen. Vgl. demgegenüber Leibholz / Rupprecht, v o r § 17, A n m . 3 a, b, die die Offizialmaxime auf die amtswegige Verfahrenseinleitung beschränken. U n zutreffend nach der hier vertretenen Ansicht ist die Annahme, aus dem Grundsatz des Amtsbetriebs folge das Recht des Gerichts, nach Eingang des Antrages das Verfahren von Amts wegen durchzuführen (vor § 17, Anm. 3 b). Ebenfalls unzutreffend i n diesem Zusammenhang Zuck, V e r fassungsbeschwerde, Rdnr. 191. s. dagegen G. Wolf, S. 885, m i t der entsprechenden Zuordnung der Begriffe Partei- u n d Amtsbetrieb zur Dispositions- bzw. Offizialmaxime. 3 Engelmann
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
grundeliegende Fragestellung haben daher auch eine lebhafte Diskussion i n der Literatur ausgelöst. Die ganz überwiegende Meinung tendiert dahin, die Geltung der Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß für alle Verfahrensarten abzulehnen und stattdessen von der einer (beschränkten) Dispositionsmaxime auszugehen. Das gilt auch für die Verfahrensarten, bei denen das BVerfG annimmt, daß sie von der Offizialmaxime beherrscht werden. Friesenhahn 93, der als erster die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG aufgegriffen hat, geht von der durchgängigen Geltung der Dispositionsmaxime i m Verfassungsprozeß aus 94 . Er verweist auf die Gleichsetzung der Offizialmaxime, die nach der hier gegebenen Definition die Verfügung über Beginn, Ziel und Beendigung des Verfahrens betrifft, mit dem Untersuchungsgrundsatz 96 , der die Beibringung des Tatsachenstoffes zum Inhalt hat 9 6 . Auch i n den vom Gericht angeführten „öffentlichen Interessen" an der Durchführung eines Normenkontrollverfahrens sieht Friesenhahn keine ausreichende Begründung für die Annahme der Geltung der Offizialmaxime 9 7 . Zum gleichen Ergebnis wie Friesenhahn kommt G. Wolf 9 8 . Er weist darauf hin, daß nach dem BVerfGG die Berechtigung zur Verfahrenseinleitung die vom Bundesverfassungsgericht angesprochene Wahrnehmung der „öffentlichen Interessen" beinhalte, so daß insoweit das Gericht nicht mehr auf „öffentliche Interessen" rekurrieren könne. Die Durchführung eines Normenkontrollverfahrens sei nur so lange Aufgabe des Gerichts, wie Meinungsverschiedenheiten und Zweifel die Verfassungswirklichkeit beeinträchtigten. Das Gericht könne auch keine „politischen" Entschei03 Friesenhahn, S. 182 f. Z u undifferenziert i n diesem Zusammenhang die K r i t i k v o n Massing, PVS, Sonderheft 2 (1971), S. 180 (195), der aus der Geltung der Offizialmaxime für die Beweiserhebung die Möglichkeit ableiten w i l l , daß das Gericht seine Antragsabhängigkeit überspielen könne. 05 Friesenhahn, S. 183. 96 Kritisch dazu auch Leibholz / Rupprecht, vor § 17, Rdnr. 3. — Wie das B V e r f G dagegen Geiger, § 26, der seine Kommentierung zu § 26 m i t „Offizialmaxime — Beweiserhebung" überschreibt u n d weiter ausführt, daß das Verfahren vor dem B V e r f G „beherrscht ist v o m Offizialprinzip", dann aber anschließend wieder auf die Beweiserhebung abstellt (Anm. 1). — I m Ergebnis ebenso Leibholz, Das B V e r f G 1951 - 1971, S. 31 (37). — s. auch Fr. Klein, Bundesverfassungsgericht u n d richterliche Beurteilung politischer Fragen, S. 33, m i t der Annahme, aus der Geltung der Offizialmaxime folge die Pflicht des Gerichts zur Erforschung der objektiven Wahrheit. — Spanner, Das BVerfG, S. 32, zieht f ü r die Geltung des Offizialprinzips ebenfalls den § 26 B V e r f G G heran. — Eine Verknüpfung v o n Elementen der Untersuchungsu n d der Offizialmaxime n i m m t auch Maunz, M D H , A r t . 94, Rdnr. 7, vor. — Eine Gleichsetzung der Offizialmaxime m i t dem Untersuchungsgrundsatz findet sich i m übrigen auch i n der zivilprozessualen Literatur, s. ζ. B. Wieczorek, ZPO, Komm., Bd. I, T e i l 1, A I I c 3 (S. 10). 97 Friesenhahn, S. 183. 98 DVB1. 1966, S. 884 (887 ff.). 94
2.4. Dispositions- u n d Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
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düngen" — und darum handele es sich hier — treffen, soweit es u m die Einleitung und die Beendigung eines Verfahrens gehe. Dies sei ausschließlich den „Verfassungsparteien" als Antragsberechtigten überlassen. Es könne daher nicht eine Normenkontrolle entgegen der A n tragsrücknahme der Antragsberechtigten weitergeführt werden. I n die gleiche Richtung geht die Auffassung von Schmitz 100 über Zulässigkeit und Wirkung der Antragsrücknahme i n den Normenkontrollverfahren. Schmitz bejaht zunächst die Zulässigkeit der Antragsrücknahme bis zur Urteilsverkündung 101 und prüft dann die Wirkungen der Antragsrücknahme. I m Gegensatz zur Auffassung des BVerfG vertritt er die Ansicht, daß der Streitgegenstand der Normenkontrollverfahren nicht die Frage der Vereinbarkeit der fraglichen Normen miteinander, sondern der Antrag und der Sachverhalt sei 1 0 2 . Von diesem auch i n anderen Verfassungsprozeßarten geltenden Streitgegenstand könne nicht ohne weiteres abgewichen werden. Die Antragsrücknahme stelle sich als zulässige Disposition über den Streitgegenstand dar. M i t der allgemein gehaltenen Behauptung der Geltung der Offizialmaxime lasse sich jedenfalls kein Beweis für oder gegen die Wirkung der Antragsrücknahme ziehen 103 . Aus dem BVerfGG selbst ergebe sich — abgesehen von der Ausnahmevorschrift des § 78 Abs. 2 BVerfGG — kein Anhaltspunkt für eine Fortführungsbefugnis des BVerfG. Diese könne auch nicht aus einer Stellung des Gerichts als „Hüter der Verfassung" hergeleitet werden 1 0 4 . Der ausschließlich objektive Verfahrenszweck 105 der Normenkontrolle, die Wahrung der Verfassung, rechtfertige nicht die vom Gericht vertretene Auffassung, da m i t dieser Begründung die Verfahrensfortsetzung auch bei anderen, wenn nicht allen Verfahrensarten der Verfassungsgerichtsbarkeit i n Betracht käme 1 0 6 . Auch eine Verfahrensfortsetzung i m „öffentlichen Interesse" 107 lehnt Schmitz ab, da der Begriff des „öffentlichen I n teresses" wegen seiner Unbestimmtheit kein taugliches K r i t e r i u m für 99 Einen Zusammenhang zwischen dem politischen Charakter der V e r fassungsgerichtsbarkeit u n d Verfahrensbesonderheiten stellt Leibholz, Das B V e r f G 1951 - 1971, S. 31 (37), her. Er f ü h r t an, daß es sich bei den Streitigkeiten v o r dem B V e r f G nicht u m Parteistreitigkeiten handele u n d daß die Offizialmaxime gelte. — I m Anschluß an Leibholz Fr. Klein, S. 33, u n d Massing, Der CDU-Staat, Bd. 1, S. 211 (228). 100 Schmitz, Die Bedeutung der Anträge f ü r die Einleitung u n d die Beendigung des Verfassungsprozesses. ιοί Schmitz, S. 56. 102 Schmitz, S. 70. im DersS. 73. ι« 4 Schmitz, S. 75. 10
« Vgl. Leibholz / Rupprecht, § 76, Rdnr. 5. ιοβ Schmitz, S. 77. 107 Schmitz, S. 87. 3*
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
den Ausnahmefall sein könne, der eine Verfahrensfortsetzung Amts wegen rechtfertige 108 .
von
Zembsch folgert aus der Befugnis der „Parteien" zur Antragstellung i m Verfassungsprozeß nicht die grundsätzliche Geltung der Dispositionsmaxime 1 0 9 , da das BVerfGG für das Verfahren nach der Verfahrenseinleitung viele Hegelungen enthalte, die vom Antrag unabhängige Entscheidungen des Gerichts zulassen. Die Beschränkung des richterlichen Gestaltungsraumes durch die Bejahung der Dispositionsmaxime 1 1 0 widerspreche auch dem gesetzgeberischen Willen, dem BVerfG einen Freiraum i n der Ausgestaltung ungeregelter Prozeßrechtsinstitute zu lassen 111 . 2.4.3. Eigene Stellungnahme: Ablehnung der Kategorien Dispositions- und Offizialmaxime
Die Diskussion u m die Geltung von Dispositions- oder Offizialmaxime i m Verfassungsprozeßrecht hat ihren Kristallisationspunkt in der Frage gefunden, ob die Rücknahme von Anträgen i m abstrakten Normenkontrollverfahren das Verfahren beendet. Die Bestandsaufnahme der i n Rechtsprechung und Literatur vertretenen Meinungen hat gezeigt, daß ein Nachweis weder für die Geltung der Offizial- noch für die der Dispositionsmaxime geführt worden ist 1 1 2 . Die Judikatur des BVerfG begründet die Geltung der Offizialmaxime nur ungenau oder überhaupt nicht. Die Literatur bleibt demgegenüber i m wesentlichen dem Schema verhaftet, daß derjenige, der ein Verfahren einleiten kann, es auch beenden können muß 1 1 3 . Dieser Schluß zumindest ist nicht zwingend, wie das Beispiel einer anderen Verfahrensordnung zeigt 1 1 4 . Von daher fehlt dieser Auffassung ebenfalls die Uberzeugungskraft. Eines ist aber festzuhalten: Zur Einleitung eines verfassungsgerichtlichen 108
a. A . insoweit v. Campenhausen, Festgabe Maunz, S. 27 (38). Zembsch, Verfahrensautonomie des BVerfG, S. 106. 110 Goessl, S. 213, sieht die Dispositionsmaxime als Regel i m positiven Recht an, vermerkt aber Durchbrechungen i m Rahmen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Geltung der Dispositionsmaxime mache die Durchbrechungen zwar nicht an sich verfassungswidrig, sie müßten sich aber eindeutig aus dem positiven Recht ergeben. — Nicht überzeugend ist der Nachweis der Geltung der Dispositionsmaxime, s. dazu schon oben Fn. 90. 111 Zembsch, S. 107. Aus der L i t . jetzt: Söhn, Die abstrakte Normenkontrolle, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 292 (309 ff.). 112 Daher läßt es auch Klein, Maunz / Sigloch, vor § 17, Rdnr. 6, offen, ob die Dispositionsmaxime i m Verfassungsprozeß gilt. 113 So vor allem Friesenhahn, S. 182. Z u r Verfahrenseinleitung Söhn, S. 296, 307. 114 s. § 64 StGB a. F., der die Rücknahme eines Strafantrages n u r i n den gesetzlich besonders vorgesehenen Fällen zuließ. Von der Antragsbedürftigkeit k a n n also nicht ohne weiteres auf die Zulässigkeit der Antragsrücknahme geschlossen werden. — Anders jetzt die Regelung des § 77 d StGB. 109
2.4. Dispositions- und Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
37
Verfahrens bedarf es i n allen Fällen eines verfahrenseinleitenden A n trages durch einen Antragsberechtigten. Uber dieses Merkmal des Antragsprinzips hinaus kann aber nicht von vornherein von einer durchgehenden, alle Verfahrensarten umfassenden Geltung der Dispositions- oder der Offizialmaxime ausgegangen werden. Die verschiedenen Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit, die sich i n die Gruppen quasistrafrechtliche Verfahren, Wahlprüfungssachen, der sog. echten Verfassungsstreitigkeiten, der Normenkontrollverfahren und der Verfassungsbeschwerde einteilen lassen 115 , sind für die Beherrschung durch einen der angeführten Grundsätze viel zu unterschiedlich strukturiert 1 1 6 . Die hier vertretene Ansicht geht dahin, nicht auf die Kategorien der Dispositions- bzw. Offizialmaxime abzustellen, sondern vielmehr an ihre Stelle Kriterien zu setzen, die sich aus den Befugnissen des Gerichts bzw. der Beteiligten i n einer bestimmten Verfahrensart und für eine bestimmte Verfahrenssituation und -handlung unter Berücksichtigung der materiellen Schutzfunktion der Verfahrensart ermitteln lassen. Es sind somit ausschließlich i m Verfassungsprozeßrecht oder i m materiellen Recht der Verfassung angelegte Lösungsgesichtspunkte heranzuziehen. Aus ihnen können sich Rückschlüsse auf die bereits oben angeschnittene Frage der verfahrensbeendigenden Wirkung der Antragsrücknahme ergeben. Die mögliche Verfahrensbeendigung durch einen Dispositionsakt der Beteiligten sind also die Verfahrenssituation sowie die Verfahrenshandlung, die zu betrachten sind. Ansatzpunkt für die Ausgangsfrage sind dabei die materiellrechtlichen Zielsetzungen, die den einzelnen Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit zugrundeliegen. I n Betracht kommen hierfür die verschiedenen Schutzfunktionen der Verfahrensarten 1 1 7 , die die materiellrechtliche Zielsetzung wiedergeben, nämlich der Schutz des objektiven Verfassungsrechts und der Individualrechtsschutz 118 . Die Differenzierung nach dem objektiven und dem subjektiven Rechtsschutzgehalt einer Verfahrensart könnte dem Bedenken be115
Vgl. z.B. Lechner, Komm., Einl., A n m . 5; Schmitz, S. 37. z.B. unterschiedliche Ausgestaltung der am Verfahren formell u n d materiell Beteiligten, Entscheidungsvoraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses n u r bei Verfahren m i t subjektivem Rechtsschutzcharakter, keine Fristen bei „objektiven" Verfahren u. a. — s. dazu unter 2.4.4. 117 Das B V e r f G sieht sich selbst weniger i m Dienste subjektiver Rechtsverfolgung als i m Dienste der objektiven Bewahrung des Verfassungsrechts stehend. Vgl. BVerfGE 2, 76 (86 f.). 118 Dieses Vorgehen entspricht der Auffassung v. Campenhausens, Festgabe Maunz, S. 27 (35 ff.), der u. a. aus dem objektiven Charakter der konkreten Normenkontrolle Konsequenzen f ü r die Verfahrensbeendigung zieht. 116
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
gegnen, daß eine derartige Trennung kaum vornehmbar ist 1 1 9 . Denn gerade auch die Verfahren i m Verfassungsprozeßrecht m i t subjektivem Rechtsschutzcharakter dienen der Durchsetzung des objektiven Verfassungsrechts 120 . Mag eine Scheidung i n subjektiven und objektiven Verfahrenszweck i n anderem Zusammenhang nicht förderlich erscheinen, so ist sie aber i m Rahmen dieser Untersuchung ein brauchbares Kriterium. Die beiden dem Verfassungsprozeß zugrundeliegenden Schutzfunktionen haben Auswirkungen auf die Ausgestaltung der einzelnen Verfahrensarten. Die dadurch bedingte unterschiedliche Gewichtung der Strukturmerkmale einer Verfahrensart wie die Rolle der Beteiligten 1 2 1 , die Voraussetzung eines Rechtsschutzbedürfnisses, ist der Schlüssel für eine sachgerechte Lösung auch von i m BVerfGG nicht ausdrücklich geregelten Fragen. Aus der unterschiedlichen Gewichtung folgt, daß eine für alle Verfahrensarten einheitliche Regelung der Antragsrücknahme nicht möglich sein kann. 2.4.4. Antragsrücknahme in den Normenkontrollverfahren und i m Organstreit
Der oben skizzierte Ansatz soll bei den „objektiven" Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle einerseits und dem „subjektiven" Organstreitverfahren andererseits exemplifiziert werden. I m BVerfGG ist die Antragsrücknahme für das Verfahren der Präsidentenanklage (§ 52 I) und für die Richteranklage (§ 58 I) geregelt. Eine analoge Anwendung dieser Vorschriften i n den übrigen Verfahrensarten ist wegen der völlig unterschiedlichen Struktur der anderen Verfahrensarten nicht möglich1®2. 2.4.4.1. Antragsrücknahme bei abstrakter konkreter Normenkontrolle
und
Die abstrakte Normenkontrolle nach A r t . 931 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6, §§ 76 ff. BVerfGG und die konkrete Normenkontrolle nach A r t . 1001 119 I n diese Richtung zeigt die Argumentation von Lerche, Z Z P 78 (1965), S. 1 (10 f.). Vgl. weiter die Bedenken von Schmitz, S. 77. 120 Dazu: P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 14; Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 67 (1976), S. 303 (306). Wie Menger aber zutreffend hervorhebt (S. 304 f., 306 f.), k o m m t dem subjektiven Charakter einer Verfahrensart w e i t e r h i n Bedeutung zu z.B. bei der Frage der Bindung des B V e r f G an die verfahrenseinleitenden Anträge.
121 Wie Bettermann, ZZP 88 (1975), S. 347 (348), feststellt, handelt es sich bei der Frage nach der Kompetenz der Parteien bzw. Beteiligten u m ein zentrales Problem des gerichtlichen Verfahrens. ι 2 2 I n diesem Sinne auch Schmitz, S. 36.
2.4. Dispositions- und Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
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GG, § 13 Nr. 11, §§ 80 ff. BVerfGG haben den Verfahrenszweck gemeinsam: Sie dienen der Bewahrung der objektiven Verfassungsrechtsordnung 1 2 3 . Es geht nicht um subjektive Rechte oder Pflichten bzw. Berechtigungen von Beteiligten, sondern i n Frage steht die einheitliche Durchsetzung der Verfassung gegenüber dem Gesetzesrecht. Der objektive Charakter der Normenkontrollverfahren w i r k t sich i m Verfahrensrecht unmittelbar aus. So sind die Normenkontrollverfahren unabhängig von subjektiven Berechtigungen der Antragsteller 1 2 4 . Notwendig ist daher nicht das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses 125 . Die Stellung eines verfahrenseinleitenden Antrages i m abstrakten N K - V e r fahren ist auch nicht, i m Gegensatz zur Regelung i m Organstreit (§ 64 Abs. 3 BVerfGG), an die Einhaltung einer Frist gebunden 126 . Der objektive Charakter zeigt sich weiter bei der Ausgestaltung des Prüfungsumfanges. Das BVerfG ist gem. § 78 BVerfGG nicht begrenzt auf die Untersuchung der Rügen, die i n dem Antrag angeführt sind 1 2 7 . Konkreten Niederschlag findet der objektive Charakter der Verfahren vor allem i n der prozessualen Stellung der Antragsberechtigten und der übrigen „Verfahrensbeteiligten". Zunächst ist der Einfluß der Verfahrensbeteiligten i m Hinblick auf das abstrakte Normenkontrollverfahren zu erörtern. Die Position des Antragstellers ist in dieser Verfahrensart erheblich eingeschränkt, da an einem Normenkontrollverfahren „begrifflich notwendig niemand beteiligt" ist 1 2 8 . Das folgt daraus, daß für die Einleitung eines abstrakten NK-Verfahrens die Verletzung eines subjektiven Rechts nicht Voraussetzung ist. Es genügt die Erfüllung der i n § 76 Nr. 1 und 2 BVerfGG aufgestellten Voraussetzungen. Da nicht eigene Rechte und Kompetenzen i n Frage stehen, ist der Antragsteller nicht materiell betroffen. Sein objektives Interesse ergibt sich aus der Verpflichtung jedes Verfassungsorgans zur Aufrechterhaltung der objektiven Verfassungsrechtsordnung. — Auch die prozessuale Stellung der übrigen Verfassungsorgane neben den Antragstellern ist schwach. So sind die Verfassungsorgane, die nach § 77 BVerfGG äußerungsberechtigt sind, nicht Beteiligte i. S. der §§ 22, 25 BVerfGG, auch wenn sie die 123 BVerfGE 1, 396 (407); 2, 213 (217); 20, 56 (86, 95); 20, 350 (351); Friesenhahn, S. 108 f.; v. Campenhausen, S. 30, 35; Schmitz, S. 50; Stern, B K , A r t . 100, Rdnr. 4; Babel, Probleme der abstrakten Normenkontrolle, S. 11; E . Schumann, Verfassungs- u n d Menschenrechtsbeschwerde gegen richterliche E n t scheidungen, S. 63; Schmidt-Bleibtreu, Maunz / Sigloch, §76, Rdnr. 2. 124 Vgl. Leibholz / Rupprecht, vor § 76, Rdnr. 1, m. z. N. aus der Rspr. 125 s. Goessl, S. 173. Vgl. Söhn, S. 304. 126 So ausdrücklich auch BVerfGE 38, 258 (267 f.) — keine Anwendbarkeit der Regelung des § 73 Abs. 2 B V e r f G G auf das Verfahren der abstrakten N K . 127 BVerfGE 1, 14 (41); zustimmend Friesenhahn, S. 135. 128 BVerfGE 2, 213 (217); 2, 307 (312); 2, 406 (409); 3, 225 (228 f.); 15, 25 (30) — kritisch dazu Schmitz, S. 52.
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
Gelegenheit zur Äußerung wahrgenommen haben 1 2 9 . Das hat Konsequenzen für den Ablauf des Verfahrens und den Inhalt der Entscheidung. I n einem abstrakten Normenkontrollverfahren können von den Äußerungsberechtigten keine prozessualen Anträge wie ζ. B. ein Antrag auf Ablehnung eines Richters 1 3 0 gestellt werden 1 3 1 . Die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung steht i m Ermessen des Gerichts 132 . Die nur äußerungsberechtigten Verfassungsorgane können sie nicht erzwingen. Die Entscheidung ist den äußerungsberechtigten Verfassungsorganen nicht zuzustellen 133 . Etwas stärker ist die Stellung der Verfassungsorgane i m Verfahren der konkreten Normenkontrolle. Ihnen ist durch die Vorschrift des § 82 Abs. 2 BVerfGG ein Beitrittsrecht eingeräumt, auf Grund dessen sie die vollen Rechte und Pflichten von Beteiligten erlangen 1 3 4 . D.h., der Beteiligte i. S. d. §§ 82 Abs. 2 kann auf der Durchführung einer mündlichen Verhandlung bestehen (§ 25 Abs. 1 BVerfGG), prozessuale Anträge stellen und die sonstigen Rechte der Beteiligten wahrnehmen 1 3 5 . — Hier ist zwar gegenüber dem abstrakten NK-Verfahren die Stellung der Verfassungsorgane ausgebaut. Die Einräumung eines Beitrittsrechts und damit die Zuerkennung einer Beteiligtenposition hat aber keine große Bedeutung 1 3 6 . Die beitrittsberechtigten Verfassungsorgane müssen sich m i t der prozessualen Lage abfinden, wie sie i m Zeitpunkt des Beitritts besteht 137 . I n unserem Zusammenhang ist vor allem die prozessuale Situation der materiell Betroffenen, also der am Ausgangsverfahren Beteiligten, wichtig. Ihre Einwirkungschancen i m konkreten NK-Verfahren sind gering. Für sie besteht nicht die Möglichkeit des Beitritts zum Verfahren und damit auch nicht der Erlangung einer Beteiligtenfunktion 1 3 8 . Sie erhalten zwar gem. § 82 Abs. 3 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung, können aber aufgrund dieses Rechts nicht m i t Anträgen i n den Gang des Verfahrens eingreifen und auch keine mündliche Verhandlung erzwingen 13®. Ebenso wie für das 129 BVerfGE 2, 307 (312). is« BVerfGE 1, 66 (68). 131 Dazu Lechner, § 77, A n m . 2. 132 BVerfGE 2, 213 (217). 133 Lechner, § 77, A n m . 2. 134 Lechner, §82, zu Abs. 2. 135 Leibholz / Rupprecht, § 82, Rdnr. 1 ; Sigloch, Maunz / Sigloch, § 82, Rdnr. 9. 136 I n diesem Sinne auch Sigloch, ebd., Rdnr. 10. 137 v. Campenhausen, S. 30. 138 BVerfGE 2, 213 (217); 20, 350 (351); v. Campenhausen, S.30. 139 Auch das vorlegende Gericht des Ausgangsverfahrens erhält durch seine Vorlage an das B V e r f G keine beteiligtenähnliche u n d erst recht keine Beteiligtenposition.
2.4. Dispositions- u n d Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
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abstrakte NK-Verfahren läßt sich hier feststellen, daß die prozessuale Stellung derjenigen, die letztlich den Anstoß zu einem konkreten N K Verfahren geben, nämlich die der Beteiligten des Ausgangsprozesses, nur eine geringe Tragweite hat 1 4 0 . Die Beteiligten des Ausgangsverfahrens sind auf Äußerungsmöglichkeiten beschränkt und können ansonsten nicht das verfassungsgerichtliche Verfahren beeinflussen. Die vorausgegangene Analyse der Stellung der an einem Normenkontrollverfahren i m weitesten Sinne „Beteiligten" hat gezeigt, daß diese außerordentlich schwach ausgestaltet ist. I m Bahmen der abstrakten Normenkontrolle beschränkt sich die Funktion des Antragstellers i m wesentlichen auf die Einreichung des verfahrenseinleitenden Antrags unter den Voraussetzungen des § 23 Abs. 1 BVerfGG, der zudem nur als Anstoß 1 4 1 für die Einleitung des Normenkontrollverfahrens zu werten ist. Entsprechend seinem Zweck als objektivem Verfahren kennt das abstrakte Normenkontrollverfahren auch keinen Antragsgegner. Die prozessuale Stellung der Beteiligten des Ausgangsverfahrens der konkreten N K , die zumindest mittelbar den Anstoß für das NK-Verfahren gegeben haben, ist i m direkten Vergleich nicht nur formal schwächer. Als lediglich Äußerungsberechtigte haben sie auch materiell geringere Einwirkungsmöglichkeiten auf das Verfahren und den Inhalt der Entscheidung. Als notwendige Konsequenz folgt daraus, daß weder den Antragsberechtigten i m abstrakten NK-Verfahren noch den Beteiligten des Ausgangsverfahrens bei der konkreten N K eine über diese Funktion hinausgehende Dispositionsmöglichkeit über den Verfahrensablauf eingeräumt sein kann. Wer nur die Berechtigung hat, ein NK-Verfahren einzuleiten bzw. mittelbar zu initiieren und ansonsten keine prozessual relevanten Handlungen vornehmen kann, der hat auch nicht die Möglichkeit. das einmal laufende Verfahren durch seinen Dispositionsakt abzubrechen. M. a. W., den Antragsberechtigten i m NK-Verfahren und den Beteiligten i m Ausgangsverfahren der konkreten N K steht nicht die Befugnis zu, die eingeleiteten Verfahren zu beenden. Diese Kompetenz ist vielmehr allein dem BVerfG eingeräumt, das bei Antragsrücknahme bzw. Beendigung des Ausgangsverfahrens über die Einstellung des NK-Verfahrens zu entscheiden hat. Die vorstehende Aussage gilt ohne Einschränkungen zunächst nur für das Verfahren der abstrakten Normenkontrolle. Anders kann sich die Problematik für das konkrete Normenkontrollverfahren darstellen. I m Gegensatz zur abstrakten Normenkontrolle ist die konkrete N K an ein „konkretes" Ausgangsverfahren gekoppelt. 140
v. Campenhausen, S. 30. 141 BVerfGE 1, 208 (219).
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
Daher w i r d von Rechtsprechung 142 und L i t e r a t u r 1 4 3 die Auffassung vertreten, daß bei Wegfall des Ausgangsverfahrens auch das Normenkontrollverfahren gegenstandslos werde. Diese Ansicht vermag indes nicht zu überzeugen. Sie steht insbesondere, wie v. Campenhausen UA zutreffend hervorgehoben hat. i m direkten Widerspruch zur Ausgestaltung auch der konkreten N K als objektivem Verfahren. M i t der Einleitung eines Verfahrens nach A r t . 100 Abs. 1 GG durch das erkennende Gericht w i r d den Beteiligten des Ausgangsprozesses die Verfügungsbefugnis über den Streitgegenstand nicht entzogen 145 . Sie können das Ausgangsverfahren durch ihren zulässigen Dispositionsakt, etwa die Klagerücknahme, beenden. Das hat aber nicht die zwangsläufige Konsequenz, daß damit auch das NK-Verfahren beendet sein müßte, zumal eine i m NK-Verfahren ergangene Entscheidung die durch Dispositionsakte der Beteiligten (wie Klagerücknahme, Prozeßvergleich, Anerkenntnis) ergangene Beendigung des Ausgangsverfahrens nicht berühren würde. Eine den Wortlaut des A r t . 100 I GG („auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt") eng interpretierende Auffassung i n dem Sinne, daß die Entscheidungserheblichkeit während der gesamten Dauer des Normenkontrollverfahrens bestehen bleiben müsse, ist nicht zwingend 1 4 6 und w i r d der Funktion der konkreten N K nicht gerecht. Das Erfordernis der Entscheidungserheblichkeit ist an das vorlegende Gericht adressiert und soll das BVerfG vor aus theoretischem Interesse entstandenen Vorlagen schützen 147 . Dafür spricht auch der Charakter des Vorlageverfahrens als eines i n sich abgeschlossenen, aus dem Ausgangsverfahren ausgeklammerten Teilverfahrens 148 . Ein den Ausgangsprozeß beendender Dispositionsakt der Beteiligten hat i m Ergebnis nicht zwingend zur Folge, daß auch das Vorlageverfahren vom BVerfG eingestellt werden muß. Es kann daher vom BVerfG fortgeführt werden, wenn zwingende Gründe des öffentlichen Interesses dies erfordern 14 *. 2.4.4.2. Wirkungen
der Antragsrücknahme
im Organstreit
Bei dem Organstreit gemäß Art. 93 I Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5, §§ 63 ff. BVerfGG handelt es sich um ein Verfahren mit subjektivem Rechts142 BVerfGE 14, 140 (142). i « Sigloch, §80, Rdnr. 322; Schmitz, S. 51. 144 S. 34. 145 Sigloch, § 80, Rdnr. 323. ΐ4β ν . Campenhausen, S. 39. 147 υ. Campenhausen, S. 39. 148 Aus dem selbständigen Charakter des Vorlageverfahrens zieht Schmitz, S. 53, den gegenteiligen Schluß. ι 4 » v. Campenhausen, S. 39 f.; f ü r objektive Verfahren ist diese Möglichkeit offen gelassen bei Friesenhahn, S. 183.
2.4. Dispositions- u n d Offizialmaxime i m Verfassungsprozeß
43
schutzcharakter. I n Frage steht hier, ob Rechte oder Pflichten von Verfassungsorganen verletzt oder unmittelbar gefährdet sind. Dieser Charakter hat zur Folge, daß als Voraussetzung für das Verfahren das Bestehen eines materiell-rechtlichen (also verfassungsrechtlichen) Rechtsverhältnisses zwischen den Parteien des Organstreitverfahrens zu fordern ist, über das Streit bestehen muß 1 5 0 . Entsprechend der Funktion des Organstreitverfahrens, dem Schutz subjektiver Rechte und Pflichten, muß ein Rechtsschutzbedürfnis des Antragstellers vorliegen, wie sich aus § 64 Abs. 1 BVerfGG (die Verletzung und unmittelbare Gefährdung von Rechten und Pflichten) ergibt 1 5 1 . Die Voraussetzung des Rechtsschutzbedürfnisses ist dabei nicht Ausfluß der Dispositionsmaxime, sondern notwendige Konsequenz der Rechtsschutzfunktion des Verfahrens 1 5 8 . — Auswirkungen des subjektiven Charakters zeigen sich auch i n dem Rang, der den Betroffenen i m Verfahren zugewiesen wird. I m Gegensatz zum abstrakten NK-Verfahren, bei dem den übrigen Verfassungsorganen nur eine Äußerungsmöglichkeit eingeräumt ist (§ 77), besteht für sie i m Organstreitverfahren das Recht zum Beitritt (§ 65). Hier schlägt der Umstand der stärkeren materiellen Betroffenheit der Verfassungsorgane i n eine stärkere Ausgestaltung der Beteiligtenstellung um. Die Funktion des Organstreites als subjektives Rechtsschutz verfahren hat also einige relevante verfahrensrechtliche Konsequenzen. Weil der Streit sich u m die „versubjektivierten" Kompetenzen der Verfassungsorgane dreht, ist der Grad der materiellrechtlichen Betroffenheit der Organe um einiges größer als bei der abstrakten Normenkontrolle. Das bedingt, wie angedeutet, eine stärkere prozessuale Stellung der Organe i m Vergleich zum abstrakten NK-Verfahren. Damit einher gehen aber auch höhere Anforderungen an die Zulässigkeit des Verfahrens. Die stärkere prozessuale Stellung der antrags- und beitrittsberechtigten Organe zeitigt Auswirkungen auf die Dispositionsbefugnis der Organe. Da deren eigenen Rechte und Pflichten i m Streit stehen, liegt es i n ihrer Hand, diese auf dem Weg über das verfassungsgerichtliche Verfahren schützen zu lassen. Weil es sich hier nicht i n erster Linie u m den Schutz objektiven Rechts handelt, ist es gerechtfertigt, den antragsberechtigten Organen über die Befugnis zur Einleitung des Verfahrens hinaus auch die Kompetenz zuzugestehen, das Verfahren durch Rücknahme des Antrages zu beendigen. 150 s. Lechner, § 13 Nr. 5, A n m . I 3 a. 151 Goessl, S. 172. — Wegen der bestehenden Unterschiede zwischen V e r fahren m i t objektiver u n d subjektiver Zielsetzung sind die f ü r eine V e r fahrensart geltenden Regeln nicht ohne weiteres auf eine andere Verfahrensart übertragbar — so Chr.-F. Menger, V e r w A r c h 67, S. 305, 307. Weiter: Lorenz, Der Organstreit vor dem BVerfG, B V e r f G u n d GG, Bd. I , S. 225 (257). 152 So auch Goessl, S. 173; weiter Lechner, GrdR I I I / 2 , S. 706.
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht 2.4.5« Ergebnis
Die Geltung der Dispositions- und/oder der Offizialmaxime läßt sich nicht zweifelsfrei, auch nicht für einzelne Verfahrensarten, aus dem Verfassungsprozeßrecht bzw. aus dem i h m zugrundeliegenden materiellen Recht der Verfassung herleiten. Zur Ermittlung von Lösungsansätzen für i m Verfassungsprozeßrecht nicht geregelte Fragen kann aber auf andere Kriterien, ζ. B. den materiellrechtlichen Aspekt der objektiven oder subjektiven Schutzfunktion der verfassungsgerichtlichen Verfahren, abgestellt werden. Diese Funktionen, die den einzelnen Verfahren innewohnen, haben, wie gezeigt, konkrete prozessuale Auswirkungen; so hängt von ihnen die Ausgestaltung der prozessualen Stellung der Verfahrensbeteiligten ab. I n einem Verfahren, das vorrangig dem Schutz des objektiven Verfassungsrechts dient, ist diese Stellung, wie für die NK-Verfahren nachgewiesen worden, außerordentlich schwach ausgestaltet. Daraus folgt, daß den Beteiligten i n diesem Verfahren auch nicht das allgemeine Recht der Verfahrensbeendigung zustehen kann. Die Kompetenz des BVerfG zur Verfahrensfortführung trotz Antragsrücknahme ist gekoppelt an das Vorliegen eines öffentlichen Interesses 153 . Die zutreffende Anknüpfung des B V e r f G 1 5 4 an den materiellrechtlichen Beg r i f f 1 5 5 des öffentlichen Interesses leitet ihre Berechtigung auch daraus ab, daß das BVerfG als „Gemeinwohlfunktion" 1 5 6 per se das öffentliche Interesse zu beachten hat. Der Begriff des öffentlichen Interesses ist i m Hinblick auf die i m BVerfGG gegebenen Ansatzpunkte 1 5 7 , insbesondere unter Berücksichtigung des § 32 Abs. 1 BVerfGG 1 5 8 , inhaltlich aufzufüllen. Die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG zum Begriff des „gemeinen Wohls" i n § 32 I BVerfGG kann auch für die Frage der Berechtigung des Gerichts zur Verfahrensfortführung fruchtbar gemacht werden. Das BVerfG hat die Notwendigkeit der Fortführung zu begründen und die Argumente für das Vorliegen eines öffentlichen Interesses i m einzelnen aufzuzeigen 15®. Die pauschale Behauptung eines öffentlichen Interesses, wie i n E 24, 299 (300) geschehen, verstößt gegen 153 So auch f ü r das konkrete N K - V e r f a h r e n v. Campenhausen, S. 39. Grundsätzlich ablehnend dagegen Schmitz, S. 85 f. 154 v g l . z.B. BVerfGE 1, 396 (414); 8, 183 (184); ebenso Lechner, GrdR I I I / 2 , S. 702. ι ® Vgl. z.B. BVerfGE 1, 396 (414); 8, 183 (184); ebenso Lechner, G r d R I I I / 2 , u n d formellem Recht. Materiellrechtliche u n d prozessuale Gemeinwohlkonkretisierung gehen H a n d i n Hand. 156 Dazu P. Häberle, D Ö V 1969, S. 150 (151); ders., AöR 95 (1970), S.86ff., 260 ff., m i t einer Analyse der Rechtsprechung des BVerfG. 157 § 32 I, § 90 I I , § 93 a I V BVerfGG. 158 R Häberle, AöR 90 (1970), S. 86 (90 ff.). is» Entgegen Schmitz, S. 85 ff., ist der Begriff des Öffentlichen Interesses durch die Rspr. des B V e r f G ausreichend konkretisiert.
2.5. Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
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die auch i m Verfassungsprozeß erforderliche Transparenz und Rationalität einer gerichtlichen Entscheidung. Anders dagegen stellt sich der Sachverhalt beim Verfahren m i t subjektivem Rechtsschutzcharakter (Beisp.: Organstreit) dar. Die stärkere materielle Betroffenheit der Antragsberechtigten geht Hand i n Hand mit ihrer stärkeren prozessualen Stellung. Daher steht ihnen auch die Befugnis zur Verfahrensbeendigung durch Antragsrücknahme zu. Verfahrensbeendigende Wirkung kann der Rücknahme eines Antrages aber nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung zuerkannt werden. Danach bedarf es der Einwilligung des Gerichts (BVerfGE 24, 299 (300)). Eine weitergehende Rücknahmemöglichkeit würde den Weg zur Manipulation durch die Verfahrensbeteiligten eröffnen. Wie die vorstehenden Ausführungen gezeigt haben, läßt sich eine sachgerechte Lösung offener Fragen des Verfassungsprozeßrechts nicht allein aus Regelungen des BVerfGG ermitteln. Anzuknüpfen ist vielmehr auch an dem materiellen Recht der Verfassung, konkret des GG, da es i n vielen Bereichen den Hintergrund für die prozeßrechtlichen Normierungen darstellt. Verfassungsprozeßrecht ist auch insoweit „konkretisiertes Verfassungsrecht" 160. 2.5. Öffentlichkeit und Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlung meint die Möglichkeit für jedermann, an der Verhandlung vor Gericht als Zuhörer teilnehmen zu können 1 6 1 . Der Grundsatz der Mündlichkeit 1 6 2 umfaßt die Forderung, daß die wesentliche Zusammenarbeit der am Prozeß Beteiligten i n mündlicher Aussprache stattzufinden hat 1 6 3 . Öffentlichkeit und Mündlichkeit der gerichtlichen Verhandlung stehen i n engem Zusammenhang. Die Öffentlichkeit impliziert die Mündlichkeit der Verhandlung 1 6 4 , denn ohne die Mündlichkeit ist Öffentlichkeit nicht wirksam herzustel160
Begriff i n diesem Zusammenhang von P. Häberle, J Z 1973, S. 451. lei Stein / Jonas / Pohle, vor §128, A n m . X I I I ; Blomeyer, S. 93; Klein i n Maunz / Sigloch, vor § 17, Rdnr. 3. 162 Stein / Jonas / Pohle, vor § 128, A n m . V I I I . 163 Das hergebrachte Verständnis des Grundsatzes der Mündlichkeit beinhaltet an sich, daß n u r der i n der mündlichen Verhandlung vorgetragene Prozeßstoff Grundlage der Entscheidung sein k a n n (so auch Klein, § 25, Rdnr. 2). Diese Konsequenz des Mündlichkeitsgrundsatzes besteht für das Verfassungsprozeßrecht nicht, da nach § 30 Abs. 1 das B V e r f G auf G r u n d seiner „aus dem I n h a l t der Verhandlung" geschöpften Überzeugung entscheidet. Z u m „ I n h a l t der Verhandlung" ist auch der nicht ausdrücklich zur Sprache gekommene I n h a l t der A k t e n zu zählen (so zutreffend Lechner, § 25, A n m . 1). Eine andere Interpretation des § 301 B V e r f G G w ü r d e Umfang u n d Bedeutung des verfassungsgerichtlichen Verfahrens nicht gerecht. 164 s. Blomeyer, S. 93.
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2. Prozeßgrundsätze i m V e r f a s s u n g s p r o z e ß r e t
len. Der Grundsatz der Mündlichkeit verlangt dagegen nur die Parteiöffentlichkeit 1 6 6 . Die Mündlichkeit der verfassungsgerichtlichen Verfahren folgt aus § 25 I BVerfGG. Nicht mündlich sind die Beschlußverfahren (vgl. § 25 Abs. 2 BVerfGG) nach §24 und § 93 a BVerfGG. Obligatorisch sind mündliche Verhandlungen dagegen i n den Fällen der Anklage gegen den Bundespräsidenten (§ 55 Abs. 1 BVerfGG), der Richteranklage (§ 58 Abs. 1 BVerfGG) und des Widerspruchsverfahrens gegen einen Beschluß, durch den eine einstweilige Anordnung erlassen oder abgelehnt w i r d (§ 32 Abs. 3 S. 3 BVerfGG). I m Ermessen des Gerichts liegt es, ob das konkrete Verfahren der einstweiligen Anordnung (§ 32 I I 1 BVerfGG) und der Verfassungsbeschwerde gem. § 9 4 V 2 BVerfGG unter den dort genannten Voraussetzungen in mündlicher Verhandlung durchgeführt wird. Der Regelfall sollte aber nach dem Willen des Gesetzgebers die mündliche Verhandlung sein (vgl. auch § 82 Abs. 3, der für das konkrete Normenkontrollverfahren von dem Regelfall der mündlichen Verhandlung ausgeht). Gesetzliche Grundlage der Öffentlichkeit der mündlichen Verhandlung vor dem BVerfG ist § 17 BVerfGG m i t seiner Verweisung auf die Vorschriften der §§ 169-175 G V G 1 6 6 . öffentlich sind somit die Verhandlungen vor dem erkennenden Senat einschließlich der Verkündung der Urteile und der Beschlüsse (vgl. insoweit § 30 Abs. 1 S. 3 BVerfGG) 1 6 7 . Nicht öffentlich ist das Verfahren des Plenums nach § 16 BVerfGG, das Beschlußverfahren nach § 24 BVerfGG, die Beweisaufnahme außerhalb der mündlichen Verhandlung durch einen beauftragten Richter (§ 26 Abs. 1 S. 2 BVerfGG) und das Beschlußverfahren der Dreier-Ausschüsse nach § 93 a BVerfGG (s. § 93 a Abs. 4 BVerfGG). 2.5.1. Stellenwert der Grundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit in der Verfahrenswirklichkeit
Öffentlichkeit und Mündlichkeit des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sind, wie der Überblick gezeigt hat, i n einer Reihe von Einzelvorschriften angesprochen. Schon die detaillierten Regelungen des BVerfGG lassen Zweifel aufkommen, ob es erforderlich ist, von ihnen auf einen Grundsatz des Verfassungsprozeßrechts zu schließen 168 . Darüber hinaus erweckt die Postulierung insbesondere des Grundsatzes der Mündlichkeit die Annahme, daß die mündliche Verhandlung vor ics Fögen, Der K a m p f u m die Gerichtsöffentlichkeit, S. 22. ! · · s. dazu die ins einzelne gehende Darstellung von Klein, § 17, Rdnr. 3 - 14. Lechner, § 17, A n m . 2. i w So aber das Vorgehen des B V e r f G i n E 36, 298 (306), w o es darauf abstellt, daß der „Grundsatz besonderer Verfahrensbeschleunigung" in zahlreichen Einzelvorschriften des A r b G G zum Ausdruck komme.
2.5. Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
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dem BVerfG die Regel sei. Das ist aber nicht der Fall. Gerade i n der Verfahrensart, die für das Verständnis des Bürgers von der Sache Verfassungsgerichtsbarkeit entscheidende Bedeutung hat und die zugleich den größten Teil der beim Bundesverfassungsgericht eingehenden Verfahren ausmacht 169 , nämlich der Verfassungsbeschwerde, w i r d i n den seltensten Fällen auf Grund mündlicher Verhandlung 1 7 0 entschieden. Das belegt ein Uberblick der i n Band 30 - 39 der amtlichen Entscheidungssammlung des Bundesverfassungsgerichts entschiedenen Fälle, die den Zeitraum vom 15.12.1970 bis 22. 5.1975 umfassen. Von den i n Band 30 bis Band 39 enthaltenen 290 Entscheidungen sind nur 18 auf Grund mündlicher Verhandlung, also als Urteile (§ 25 Abs. 2 BVerfGG), ergangen. Diese pauschale Statistik könnte verzerrend wirken. Aber auch eine Aufgliederung nach den zugrundeliegenden Verfahrensarten bietet kein anderes Bild. Von der Quantität her bilden bei den abgedruckten Entscheidungen die Endentscheidungen i n Verfassungsbeschwerde verfahren und die Vorlageverfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG zwei große Blöcke. Sie machen die ganz überwiegende Mehrzahl der in der amtlichen Entscheidungssammlung abgedruckten Entscheidungen aus. Von den i n dem o. a. Zeitraum ergangenen 137 Entscheidungen über reine Verfassungsbeschwerdesachen waren gerade 4 Urteile 1 7 1 . Von den 104 Entscheidungen i m konkreten Normenkontrollverfahren ist nur eine 1 7 2 als Urteil ergangen 173 . Insbesondere die restriktive Handhabung der Vorschrift des § 94 Abs. 5 BVerfGG durch das Gericht 1 7 4 , auf Grund derer die A n beraumung einer mündlichen Verhandlung i n das „Belieben" 1 7 5 des Gerichts gestellt wird, ist auf heftige K r i t i k gestoßen 176 . Die aufgezeigte ie» Vgl. die Angaben von H. Rupp, ZZP 82 (1969), S. 1: Gesamtzahl der verfassungsgerichtlichen Verfahren i n dem Zeitraum v o m 7.9.1951 bis 31.12.1967: 18 689. Davon waren 17 232 Verfassungsbeschwerden. Vgl. jetzt die Zahlenangaben bei Zacher, Die Selektion der Verfassungsbeschwerde, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 396 (399). 170 s. schon die Zahlenangaben bei Klein, § 25 Rdnr. 1. 171 BVerfGE 34, 165; 35, 79; 35, 202; 36, 321; Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 119, spricht i n diesem Zusammenhang „ v o n der fast i n Vergessenheit geratenen mündlichen Verhandlung". 172 BVerfGE 33, 303. 173 Nicht berücksichtigt sind bei der Einzelaufschlüsselung die Urteile, die i n verbundenen Verfahren ergangen sind. 174 Beispielhaft f ü r die Praxis des B V e r f G ist E 35, 34 (35): „§94 Abs. 5 B V e r f G G stellt vielmehr — abweichend v o n der Regel des § 25 Abs. 1 BVerfGG — die Durchführung einer mündlichen Verhandlung i n das Ermessen des Bundesverfassungsgerichts." — Z u r einschlägigen J u d i k a t u r des B V e r f G vgl. weiter die von P. Häberle, J Z 1976, S. 377 (378 Fn. 11) angeführten Belege. ΐ7δ Oswald, ZRP 1972, S. 114. ΐ7β Oswald, S. 115; Zuck, N J W 1973, S. 1255 (1257); ders., ZRP 1973, S.233; ders. t Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 195, m i t der spitzen Bemerkung: Das wichtigste Hilfsmittel, u m die Rechtsprechung des Gerichts transparenter zu machen, sei nicht die mündliche Verhandlung, sondern das Telefon.
48
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
Praxis des BVerfG macht es erforderlich, die konstitutionellen Grundlagen der öffentlichkeits- und Mündlichkeitsvorschriften, die durch die Vielzahl der einfach-gesetzlichen Regelungen verdeckt wird, stärker ins Licht zu rücken. Umfang und Bedeutung der Öffentlichkeit und der Mündlichkeit des Verfassungsprozesses lassen sich nicht aus dem Verfassungsprozeßrecht heraus allein begreifen, sondern ihr besonderer Stellenwert kann nur i m Kontext m i t dem materiellen Recht der Verfassung näher bestimmt werden. 2.5.2. Die grundsätzliche Bedeutung der Öffentlichkeit für jedes staatliche Handeln
Die Erörterung der i n den einzelnen Verfahrensordnungen und auch i m BVerfGG gesetzlich normierten Öffentlichkeit 1 7 7 und Mündlichk e i t 1 7 8 des gerichtlichen Verfahrens ist i n dem größeren Zusammenhang der Funktion der Öffentlichkeit für das demokratische Gemeinwesen 179 zu sehen. A u f dieser höheren Betrachtungsebene entfaltet vor allem die Öffentlichkeit ihre Wirkung, während der auf das gerichtliche Verfahren zugeschnittene Grundsatz der Mündlichkeit i n der Bedeutung zurücktritt. Öffentlichkeit ist ein wesentliches Konstituens der freiheitlichen Demokratie westlicher Prägung. Demokratie entfaltet sich i n und durch Öffentlichkeit 1 8 0 . Gefordert ist die Öffentlichkeit allen staatlichen Handelns und Entscheidens, w e i l über die Öffnung des Entscheidungsprozesses für die Öffentlichkeit Verfahren und Entscheidung transparenter und rationaler werden 1 8 1 . Für die Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem GG stellt sich der Aspekt der Öffentlichkeit, entsprechend der Funktion des BVerfG als Gericht 1 8 2 und oberstem Verfassungsorgan 183 , unter zwei Gesichtspunk177 Vgl. §§169 ff. G V G ; §55 V w G O ; §61 SGG; §52 FGO; §17 BVerfGG; zur Gerichtsöffentlichkeit s. Grunsky, Grundlagen, S. 224 f. m. w. N. ne §1281 ZPO; §101 V w G O ; §1241 SGG; § 9 0 1 FGO; §25 BVerfGG; vgl. Grunsky, S. 213 ff. m. w. N. 17® Dazu eingehend P. Häberle, Pol. Bildung, H. 3 (1970), S. 3 ff. 180 p . Häberle, ebd., S.7; Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31 (1973), S. 175 (221, m. N. i n Fn. 182); Hesse, Grundzüge, S. 62 f., zum Zusammenhang von Demokratie u n d Publizität des politischen Prozesses; Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 355; Zacher, Freiheitliche Demokratie, S. 75 ff.; bezogen auf das Verwaltungsverfahren Kopp, Verfassungsrecht u n d Verwaltungsverfahrensrecht, S. 186 f., 192. lei Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 56 f., z u m Einfluß der Öffentlichkeit auf die Rationalität der politischen Willensbildung. P. Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 (461), sieht das verfassungsrechtliche Prinzip der Öffentlichkeit wegen seines Zwanges zur Rationalität als f ü r den Richter konstitutiv an. 182 Z u r Eigenschaft des B V e r f G als „echtem" Gericht vgl. die Ausführungen unter 4. 183 Z u den Auswirkungen der „Doppelfunktion" des B V e r f G s. noch unter 4.3.
2.5. Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
49
ten. A u f einer ersten Stufe ist der Stellenwert der verfahrensrechtlichen Öffentlichkeit zu erörtern. A u f der zweiten Stufe ergibt sich die Frage nach den Konsequenzen des Öffentlichkeitsgebots für das Verfassungsorgan BVerfG. 2.5.2.1. Der historische Hintergrund von Öffentlichkeit und Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens Die (noch) überwiegende Meinung i n Rspr. und L i t . 1 8 4 verneint den Rang der Öffentlichkeit und der durch ihn bedingten Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens als konstitutionelle Verfahrensprinzipien. Diese Ansichten verkennen, daß das Grundgesetz einen historisch aufgefüllten Begriff der Rechtsprechung rezipiert hat, dem Öffentlichkeit und Mündlichkeit als Strukturprinzipien immanent waren 1 8 6 . Darüber hinaus hat gerade die Komponente der Öffentlichkeit unter der Geltung des GG auch i m Hinblick auf das BVerfG einen Bedeutungszuwachs erfahren. Das Gericht soll i n seiner Funktion gewissermaßen als Schrittmacher die Verfassung effektiv gestalten und das heißt zugleich, sie öffentlich zu machen 186 . Die Öffentlichkeit des gerichtlichen Verfahrens ist es auch, die über die klassische Gewaltenteilungslehre als Postulat des Rechtsstaats zu sehen ist. Sie steht i n unlösbarem Kontext m i t der Forderung nach Unabhängigkeit der Rechtsprechung von der exekutiven Gewalt 1 8 7 . Über die Öffentlichkeit — staatlicher — Rechtsprechung sollte der Schutz des Individuums gegen staatliche Beeinflussung der Gerichte zu seinen Ungunsten gesichert werden. Ausgehend vom napoleonischen Z i v i l prozeßrecht fand die Publizität des Gerichtsverfahrens Eingang i n die deutsche Partikulargesetzgebung des frühen 19. Jhdt. 1 8 8 und wurde später als Art. 178 i n die Reichsverfassung von 1849 aufgenommen 189 . !84 Ablehnend f ü r Öffentlichkeit: BVerfGE 4, 74 (94), ohne Problematisierung der Frage; 15, 303 (307), ohne Begründung; Bettermann, G r d R I I I / 2 , S. 810, f ü r Mündlichkeit u n d Öffentlichkeit ohne Begründung; vgl. demgegenüber ders., J u r Blätter 94 (1972), S. 57 (62), m i t der Herstellung des Zusammenhangs zwischen rechtlichem Gehör u n d Mündlichkeit; O V G Münster, M D R 1956, S. 672, zur mündlichen Verkündung eines Verwaltungsgerichtsurteils, ohne Problematisierung; f ü r Mündlichkeit: B V e r w G , M D R 1958, S. 446. 185 So schon P. Häberle, Öffentliches Interesse, S. 123; Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers u n d die Rechtsweggarantie, S. 245, spricht i n diesem K o n t e x t v o m „vorverfassungsmäßigen Verfahrensbild". iss v g l . dazu P. Häberle, S. 122. 187 vgl. Fögen, S. 47. 188 s. Kip, Das sogenannte Mündlichkeitsprinzip, S. 26 ff.; weiter Möhring / Nirk, Festschr. 25 Jahre BGH, S. 305 (314 ff.). 189
sein."
A r t . 178 bestimmte: „Das Gerichtsverfahren soll öffentlich u n d mündlich
4 Engelmann
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
Von diesem Zeitpunkt an war die Gerichtsöffentlichkeit institutionalisiert. Ausdrücklich verfassungsrechtlich abgesichert ist sie heute nur noch i n Art. 90 Bayer. Verfassung 190 . Ansonsten ist sie ausschließlich i n einfachgesetzlicher Form normiert (s. o.). 2.5.2.2. Kontrolle durch demokratische
der Justiz Öffentlichkeit
Neben der Sicherung der Unabhängigkeit der Justiz auf Grund der Öffentlichkeit, die in diesem Zusammenhang weitgehend m i t der „öffentlichen M e i n u n g " 1 9 1 gleichzusetzen war, stand historisch ein weiterer Gedanke bei der Forderung nach Öffentlichkeit mehr oder weniger stark i m Hintergrund: die Absicherung der Kontrolle der Justiz durch die (demokratische) Öffentlichkeit 1 9 2 . Das Öffentlichkeitspostulat hatte somit eine ambivalente Funktion: A u f der einen Seite war die Gerichtsöffentlichkeit dazu bestimmt, die rechtsstaatlich als notwendig erkannte Unabhängigkeit der Justiz mit zu gewährleisten. Zum anderen sollte zumindest durch Zugänglichmachen des Verfahrens vor dem Gericht, des „äußeren" Verfahrens der Rechtsfindung also, das erkennende Gericht einer Kontrolle unterworfen werden. Ob die Kontrolle durch Öffentlichkeit i n allen Bereichen staatlichen Handelns und speziell bei der Rechtsprechung immer ein wirksames M i t t e l sein kann, steht nicht zur Diskussion. Solange die Öffentlichkeit i n demokratischen Staaten jedenfalls den Einfluß hat, wie er sich i n den USA anläßlich des Watergate-Skandals gezeigt hat, erfüllt sie eine wichtige Aufgabe bei der Kontrolle staatlicher, aber auch gesellschaftlicher Macht. I n der Gerichtsöffentlichkeit 193 nur eine Pervertierung i n dem Sinne zu sehen, daß diese „immer der Präparation der gerichtlich verhandelten Vorgänge für die Massenkultur der versammelten Verbraucher" diene 1 9 4 , entspringt einer zu einseitigen und pessimistischen Sicht von Öffentlichkeit. Auch eine Kontrolle, die nicht lückenlos funktioniert, entfaltet allein durch ihr Vorhandensein eine i®® A r t . 90 Bayer. Verf. lautet: „Die Verhandlungen vor allen Gerichten sind öffentlich. Bei Gefährdung der Staatssicherheit oder der öffentlichen Sittlichkeit kann die Öffentlichkeit durch Gerichtsbeschluß ausgeschlossen werden." iei z u r F u n k t i o n der „Öffentlichen Meinung" i m demokratischen Staat s. Hesse, Grundzüge, S. 61 f. 192 Habermas, S t r u k t u r w a n d e l der Öffentlichkeit, S. 97; s. auch Rheinstein, JuS 1974, S. 409 (412) (Neuabdruck): „ Z u r K o n t r o l l e der Richter dienen daher die Grundsätze der Öffentlichkeit des Verfahrens . . . " Reserviert dagegen Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 355; kritisch Fögen, S. 23 f. loa Kritisch zur K o n t r o l l f u n k t i o n a u d i Martens, Öffentlich als Rechtsbegriff, S. 74. ι 9 * Habermas, S. 226.
2.5. Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
51
präventive Schutzwirkung. Die Kontrolle durch u n d i n Öffentlichkeit i s t s o m i t eine der w i c h t i g s t e n V o r a u s s e t z u n g e n d e m o k r a t i s c h e r H e c h t sprechung195. 2.5.3. Öffentlichkeit und Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens als konstitutionelle Verfahrensprinzipien Z u m Z e i t p u n k t d e r E n t s t e h u n g des G G w a r eine V o r s t e l l u n g v o n Rechtspflege als e i n e r n i c h t ö f f e n t l i c h e n A n g e l e g e n h e i t , gerade als R e a k t i o n a u f d e n A b b a u v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e r G a r a n t i e n w ä h r e n d des vorausgegangenen 3. Reiches, n i c h t m ö g l i c h . D e r Verfassungsgeber h a t a n d i e Ö f f e n t l i c h k e i t u n d M ü n d l i c h k e i t des g e r i c h t l i c h e n V e r f a h r e n s i n d e r W e i m a r e r Z e i t a n g e k n ü p f t 1 9 6 u n d d i e Rechtsprechung w e g e n i h r e r ö f f e n t l i c h e n B e d e u t u n g als ö f f e n t l i c h e Sache k o n z i p i e r t . D e m B e g r i f f d e r Rechtsprechung, so w i e er i m G G vorausgesetzt ist, s i n d Ö f f e n t l i c h k e i t u n d M ü n d l i c h k e i t des V e r f a h r e n s i m m a n e n t . U b e r diese historisch bedingte verfassungskräftige Absicherung der Öffentlichkeit f ü r d i e Rechtspflege h i n a u s ist seit d e r E n t s t e h u n g des G G i m m e r m e h r i h r e B e d e u t u n g als z w i n g e n d e rechtsstaatliche u n d d e m o k r a t i s c h e V o r aussetzung g e f o r d e r t u n d a n e r k a n n t w o r d e n 1 9 7 . B e i d e n G r u n d s ä t z e n d e r Ö f f e n t l i c h k e i t u n d M ü n d l i c h k e i t h a n d e l t es sich s o m i t u m V e r f a s sungsgrundsätze m i t o b j e k t i v r e c h t l i c h e m G e h a l t , die i n j e d e m g e r i c h t l i c h e n V e r f a h r e n z u beachten sind. 195 Daher ist gegenüber der These von Luhmann, Legitimation durch Verfahren, S. 121 ff. (insbes. S. 124), Skepsis am Platze. L u h m a n n f ü h r t aus, daß die Berechtigung der Gerichtsöffentlichkeit sich aus der Legitimationsf u n k t i o n staatlicher Gewalt ergebe. Sie sei — als Identifikationsmöglichkeit für den einzelnen — ein Instrument zur Kanalisierung u n d Beherrschung von Konfliktlagen (s. dazu auch Fögen, S. 66). L u h m a n n skizziert aber n u r eine Seite der Öffentlichkeit. Er löst das Öffentlichkeitsprinzip aus dem Gesamtzusammenhang, aus dem heraus n u r auf seine F u n k t i o n geschlossen werden kann, indem er seine W i r k u n g lediglich auf die Legitimationseigenschaft beschränkt. Die freiheitsbewahrende u n d Demokratie sichernde F u n k t i o n der Öffentlichkeit t r i t t bei Luhmanns Herausstellung der K o m plexitätsreduzierungsqualität zu sehr i n den Hintergrund. 196 Z u diesem Vorgehen bei der Ausfüllung von Verfassungsbegriffen s. G. Hoffmann, J Z 1961, S. 193 (197), nach dem zur Ausfüllung einer Lücke i m Grundgesetz der Rechtszustand i n der Zeit der Weimarer Verfassung herangezogen werden kann. Überzogen erscheint die gegen diese Ansicht gerichtete These von A. Arndt, N J W 1961, S. 2007: „ I m Zweifel w i l l das Bonner Grundgesetz es anders u n d neu." ™ B a y V G H VerwRspr 4, Nr. 173 (S.805); P. Häberle, Pol. Bildung, H. 3 (1970), S. 3 (17), unter Herausarbeitung des demokratischen Bezugs der Öffentlichkeit; ders., öffentliches Interesse, S. 123, 347, 576; vgl. auch Ridder, GrdR I I , S. 277; nach ü i e , DVB1. 1959, S. 537 (542), drängt die Rechtsstaatsidee auf weitgehende öffentlichkeit der Betätigung staatlicher Gewalt; Oswald, S. 114, sieht die Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß als eine „Regelung, die i m Zuge der rechtsstaatlichen Tendenzen gelegen ist u n d auch i n anderen Gerichtszweigen zum Ausdruck k o m m t " ; Zuck, ZRP 1973, S. 233, geht von einer „demokratischen F u n k t i o n " der mündlichen Verhandlung aus;
4·
52
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht 2.5.4. Enger Zusammenhang zwischen der Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens und der Garantie des rechtlichen Gehörs (Art. 1031 GG)
Uber die oben dargelegte verfassungskräftige Absicherung des Grundsatzes der Öffentlichkeit und des ihn bedingenden Mündlichkeitsgrundsatzes hinaus besteht weiter eine Verknüpfung der Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens m i t der Garantie des rechtlichen Gehörs (Art. 1031 GG) 1 9 8 , die bislang noch nicht genügend beachtet worden ist 1 9 9 . Rechtliches Gehör w i r d bisher nur verstanden als formale Chance der Äußerung 2 0 0 . Es w i r d nicht ausreichend berücksichtigt, daß es dem Betroffenen i m Einzelfall nur i n einer mündlichen Verhandlung möglich sein kann, auch inhaltlich das auszudrücken 201 , was er ausdrükken w i l l . Die mündliche Verhandlung dient nicht nur der Verstärkung des rechtlichen Gehörs, sondern sie ist die Möglichkeit zu seiner sachgerechten Gewährung 2 0 2 . A u f diesen wichtigen Zusammenhang zwischen rechtlichem Gehör und mündlicher Verhandlung hat bereits A. Arndt hingewiesen 203 , der als Konsequenz des — wohlverstandenen — A r t . 103 I GG ein „Rechtsgespräch" 204 vor Gericht m i t und zwischen den Verfahrensbeteiligten forderte 2 0 5 . I m Rahmen dieses Rechtsgesprächs muß dem einzelnen die Möglichkeit eröffnet werden, seine Sicht der Angelegenheit vorzutragen. Vorbildlich ist i n diesem Zusammenhang die Regelung des § 104 Abs. 1 VwGO, der als unmittelbare Ausprägung des A r t . 103 I GG eine Erörterung der Streitsache m i t den Beteiligten i n tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht durch das Gericht vorschreibt 2 0 6 . Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, S. 90, spricht sich gegen eine völlige Eliminierung des Grundsatzes der Öffentlichkeit aus, da sonst dem rechtsstaatlichen Rechtsschutz wesentliche Elemente entzogen würden. Vgl. auch Klöz, Prozeßmaximen i m Schweiz. Verwaltungsprozeß, S. 14. — s. i m übrigen A r t . 6 1 M R K : „Jedermann hat einen Anspruch darauf, daß seine Sache . . . öffentlich . . . gehört w i r d . " iö8 Die Garantie des rechtlichen Gehörs ist eine Ausformung des demokratischen Prinzips i m GG. Z u m Zusammenhang zwischen rechtlichem Gehör u n d der Demokratie s. Kopp, S. 189 m. Fn. 532. 10» Vgl. Hamann / Lenz, GG, Komm., A r t . 103 I GG, A n m . Β I c. 200 So die Rechtsprechung des BVerfG, s. ζ. Β . E 36, 85 (87) m. ζ. Ν . aus der Rspr. 201 Zutreffend aber Bettermann, J u r B l ä t t e r 94 (1972), S. 57 (62). 202 Verkürzt ist daher die Betrachtung der Mündlichkeit der gerichtlichen Verhandlung ausschließlich unter Praktikabilitätsgesichtspunkten. So aber Grunsky, Grundlagen, S. 215. 203 A. Arndt, N J W 1959, S. 6 (8); vgl. auch Uie, DVB1. 1959, S. 537 (542). 204 A. Arndt, S.7; P. Häberle, J Z 1975, S. 297 (299 Fn.30); jetzt Möhring / Nirk, S. 312, m i t einem eindrucksvollen Plädoyer f ü r die mündliche V e r handlung i n der Revisionsinstanz f ü r Zivilsachen. 205 Gegen die Pflicht zur F ü h r u n g eines umfassenden Rechtsgesprächs Lorenz, S. 233 m. w. N. i n Fn. 34. 206 F ü r das Verwaltungsverfahren fordert Kopp, S. 190, „echte Diskussion u n d ein gemeinsames Ringen u m die richtige Lösung".
2.5. Öffentlichkeit u n d Mündlichkeit i m Verfassungsprozeß
53
2.5.5. Ergebnis
Die Verfahrensgrundsätze der Öffentlichkeit und Mündlichkeit sind dem Rechtsprechungsbegriff des GG immanent. Wegen ihrer verfassungskräftigen Absicherung ist es dem Gesetzgeber verwehrt, ganze Verfahrensarten für nichtöffentlich und nichtmündlich zu erklären 2 0 7 . Es versteht sich von selbst, daß Öffentlichkeit und Mündlichkeit des gerichtlichen Verfahrens auch von Verfassungs wegen nicht uneingeschränkt gelten können. Vielmehr ist der Gesetzgeber dazu berufen, diese Verfassungsgebote auszugestalten. Aufgabe einer richtigen Zuordnung ist es, den Anspruch auf Öffentlichkeit m i t den schutzwürdigen Interessen der Verfahrensbeteiligten 208 und den spezifischen Erfordernissen der einzelnen Verfahrensarten i n Einklang zu bringen 2 0 9 . Für das konkrete verfassungsgerichtliche Verfahren folgt aus den verfassungskräftigen Grundsätzen der Mündlichkeit und der Öffentlichkeit, daß das BVerfG bei der Ausübung des Ermessens, ob eine mündliche Verhandlung anzuberaumen ist, nicht Praktikabilitätsgesichtspunkten den Vorzug geben, sondern die Entscheidung des Verfassungsgebers für eine öffentlich/mündliche Verhandlung auch vor dem Verfassungsgericht richtig würdigen sollte 2 1 0 . Uber die gerichtsverfahrensrechtliche Ausprägung hinaus ist das Verfassungsprinzip Öffentlichkeit auch noch i n anderer Weise für die Verfassungsgerichtsbarkeit konstitutiv 2 1 1 : Die Öffentlichkeit der Verfassung fordert die Öffentlichkeit der Sache Verfassungsgerichtsbarkeit. D.h., Verfassungsgerichtsbarkeit muß sich der Öffentlichkeit stellen und sie für ihre Angelegenheiten nutzen, u m so mehr Publizität der Verfassung und deren konkrete Ausstrahlung zu schaffen. Das kann ζ. B. so aussehen, daß das BVerfG i n festen Abständen den Sachstand in wichtigen Verfahren mitteilt. So könnte vermieden werden, daß die materiell Betroffenen und die Öffentlichkeit von Entscheidungen des Gerichts, die aus einem sich mehrere Jahre hinziehenden Verfahren entstehen, überrascht werden. 2 °7 Entgegen Martens, S. 75. 208 So ermöglicht § 52 I I FGO den Ausschluß der Öffentlichkeit auf A n t r a g eines Verfahrensbeteiligten. 209 i n diese Richtung zielen auch die Bedenken von Τ schira / Schmitt Glaeser, S. 285, unter Berufung auf Köhl, Festschr. v. Carolsfeld, S. 235 ff. 210 So schlägt Low, DVB1. 1973, S. 941 (944), vor, die Beratungen der Dreier-Ausschüsse (§ 93 a I I BVerfGG) über die Annahme einer Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung f ü r die Öffentlichkeit zugänglich zu machen oder zumindest den Betroffenen die Teilnahme zu gestatten. — So auch schon Kelsen, V V D S t R L 5 (1929), S. 30 (77), m i t dem Vorschlag, die Beratungen des Gerichts f ü r die Öffentlichkeit zugänglich zu machen. 211 Dazu P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (121).
54
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
Des weiteren könnte das Gericht zu Beginn eines jeden Geschäftsjahres auf Grund des von i h m geführten Verfahrensregisters eine A u f stellung der anhängigen Verfassungsstreitigkeiten m i t Angabe des Streitgegenstandes veröffentlichen, u m mehr Vorinformationsmöglichkeiten für Betroffene zu gewährleisten. Dazu gehört auch, daß sich das Gericht bemüht, die Dauer der Verfahren abzukürzen 212 , nicht nur wegen der Interessen der unmittelbar am Verfahren Beteiligten, sondern auch wegen der materiell Betroffenen, die ζ. B. von der Verfassungsmäßigkeit oder der -Widrigkeit einer Norm berührt werden. Diese Maßnahmen könnten dazu beitragen, die Entscheidungspraxis des Gerichts durchsichtiger, öffentlicher zu machen. Das Öffentlichkeitsgebot der Verfassung käme so auch i m Verfassungsprozeß zu mehr Effektivität als bisher. 2.6. D e r Untersuchungsgrundsatz
Die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes 21® i m Verfassungsprozeßrecht, seine Konsequenzen und die Frage, inwieweit dieser verfassungskräftig abgesichert ist, haben für die Funktionsfähigkeit des BVerfG eine herausragende Bedeutung. Für das Verfassungsprozeßrecht ist der Untersuchungsgrundsatz i n § 26 Abs. 1 S. 1 BVerfGG normiert 2 1 4 . Aus seiner Geltung folgt die Befugnis des Gerichts, zu bestimmen, welche Tatsachen i m gerichtlichen Verfahren zu erörtern sind und ob über sie Beweis zu erheben ist 2 1 5 . Das Gericht ist gehalten, alles i n seinen Möglichkeiten Stehende zu tun, um den Sachverhalt aufzuklären, damit es bei seiner Sachentscheidung vom zutreffenden Sachverhalt ausgeht (vgl. § 26 Abs. 1 S. 1 : den zur Erforschung der Wahrheit erforderlichen Beweis). Es ist dabei nicht an Anträge oder Anregungen der Verfahrensbeteiligten gebunden. Es ist ebenfalls nicht an die tatsächlichen Feststellungen gebunden, die einem Urteil i n einem von der Dispositionsmaxime beherrschten gerichtlichen Verfahren zugrundegelegt werden 2 1 6 . Die Kompetenz des BVerfG aus 212 v g l . den Bericht i n „ D e r Spiegel", Nr. 49 v. 1.12.1975, S. 42: „Weltrekord i n Wartezeiten", der sich kritisch zur Dauer verfassungsgerichtlicher V e r fahren äußert. 213 Z u m Begriff des Untersuchungsgrundsatzes Stein / Jonas / Pohle, vor §128, V I I 2; Rosenberg 1 Schwab, S. 374; Lühe, JuS 1961, S.41 (421); Klein, Maunz / Sigloch, § 26, Rdnr. 1. 214 Geiger, §26, A n m . 2; Lechner, GrdR I I I / 2 , S. 703 f.; ders., Komm., §26, A n m . 1, allerdings hier unter dem Stichwort „Offizialprinzip"; Klein, §26, Rdnr. 1; G. Wolf, S. 887. 215 Der Untersuchungsgrundsatz bedingt nicht die Geltung anderer V e r fahrensgrundsätze w i e etwa der Offizialmaxime. Untersuchungsgrundsatz u n d Dispositionsmaxime i n einem Verfahren schließen sich nicht aus. Vgl. G. Wolf, S. 887; Klein, § 26, Rdnr. 1.
2.6. Der Untersuchungsgrundsatz
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§ 26 Abs. 1 ist i n Verbindung m i t § 33 Abs. 1 und 2 BVerfGG zu sehen, der es dem Gericht ermöglicht, die von einem anderen Gericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen unter den Voraussetzungen des § 33 seinen Entscheidungen zugrundezulegen. Die Vorschrift hat eine Entlastungsfunktion. Das BVerfG soll von der Verpflichtung zu — zeitraubenden — Beweisaufnahmen dann befreit sein, wenn die von einem anderen Gericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen ausreichende Grundlage für sein Verfahren sein können 2 1 7 . Uber die getroffenen Feststellungen hinaus ist die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes m i t der Funktionsfähigkeit des BVerfG i n besonderer Weise verknüpft. Für die folgenden Überlegungen ist zwischen den Fragenkreisen zu unterscheiden, inwieweit dem Gericht die Kompetenz zur Tatsachenermittlung grundsätzlich zustehen muß und von wem die Initiative zur Tatsachenermittlung auszugehen hat (Untersuchungs- oder Verhandlungsgrundsatz). Der erste Komplex befaßt sich m i t der Befugnis des BVerfG zur Tatsachenermittlung. Das BVerfG ist für Fragen der Verfassungsmäßigkeit von Maßnahmen der hoheitlichen Gewalt die einzige Tatsacheninstanz. Das unterscheidet es insoweit auch von den obersten Gerichtshöfen des Bundes als Revisionsgerichten. Eine Beschneidung der Kompetenz des BVerfG zur Tatsachenermittlung würde zugleich die Funktionsfähigkeit des Gerichts beeinträchtigen. Legislatorische Akte, die das BVerfG etwa an Tatsachenfeststellungen des Gesetzgebers binden würde 2 1 8 , wären verfassungswidrig. Z u r Funktion der „rechtsprechenden Gewalt" i. S. d. A r t . 92 Abs. 1 1. HS GG gehört auch der Bereich der gerichtlichen Tatsachenfeststellung 219 . Der von anderen Staatsorganen zugrundegelegte Sachverhalt muß von einem unabhängigen Gericht überprüft werden können. Es bedarf i m gerichtlichen Instanzenzug mindestens einer Tatsacheninstanz mit der Befugnis zur unabhängigen Entscheidung über heranzuziehende Beweismittel 2 2 0 . Das g i l t unmittelbar auch für das BVerfG. Eine Bindung des Gerichts durch den Gesetzgeber an dessen Tatsachenfeststellungen bedeutete die „Usurpation" rechtsprechender Funktionen durch die Legislative 2 2 1 . Sie 216 BVerfGE 7, 198 (213) läßt es dahingestellt sein, i n w i e w e i t eine Bindung besteht. 217 So hat das B V e r f G i n E 8, 222 (227) ausgeführt, daß Beweiserhebungen insbesondere i m Verfassungsbeschwerdeverfahren grundsätzlich nicht Sache des B V e r f G seien. 218 Vgl. den einschlägigen E n t w u r f des § 26 a BVerfGG, vorgelegt von dem damaligen BT-Abgeordneten Dichgans (Rechtsausschuß Drucks. VI/14, S. 6). Dazu Geck, V o r w o r t zu: Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, S. V ff. 2i» Herzog, M D H , A r t . 92, Rdnr. 66, m i t einer Unterstellung unter die A r t . 97 ff. 220 So ausdrücklich Herzog, Rdnr. 67.
2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
würde die Grundlage der richterlichen Kompetenz zerstören, dem Gericht ein wesentliches Stück seines Entscheidungsbereiches nehmen 2 2 2 und wäre daher wegen des Verstoßes gegen A r t . 92 Abs. 1 1. HS GG verfassungswidrig 2 2 3 . Die Kompetenz des BVerfG zur Tatsachenermittlung und -feststellung ist also verfassungskräftig abgesichert. Unabhängig davon ist die Frage, ob § 26 Abs. 1 BVerfGG i n seiner konkreten Ausprägung m i t der Festschreibung des Untersuchungsgrundsatzes von Verfassungs wegen verbürgt ist. Auch die Verlagerung der Befugnis, den Tatsachenstoff i n den Prozeß einzuführen und über seine Feststellung durch Beweiserhebung bzw. - a n t r i t t zu entscheiden, vom BVerfG auf die Verfahrensbeteiligten wäre verfassungswidrig. Das BVerfG ist i n den Fällen, i n denen es verfassungsrechtliche Fragen bzw. Streitigkeiten entscheidet, die letzte Instanz. Es hat Letztentscheidungskompetenz. Durch seine Entscheidung sind die Organe des Staates und ggf. die Bürger i m Rahmen des § 31 BVerfGG gebunden. Seine Entscheidungen berühren zudem nicht nur Einzelinteressen, sondern betreffen vielfach grundlegende Fragen der Ordnung des Gemeinwesens. Von daher gesehen kann bei der Beweiserhebung nicht nur auf die Tatsachen und Beweisanträge abgestellt werden, die von den Beteiligten vorgetragen werden. Wenn die Verfahrensbeteiligten z.B. durch das Nichtantreten von Beweisen die vollständige Aufklärung des Sachverhaltes verhinderten, wäre das eine Verkürzung des Entscheidungsspielraums, die für ein Verfassungsgericht nicht hingenommen werden kann. Die Verpflichtung des BVerfG aus § 26 Abs. 1 BVerfGG zur umfassenden Beweiserhebung über alle erheblichen Tatsachen ist somit funktionsgerechter Ausdruck der Stellung der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem GG. Der Untersuchungsgrundsatz des § 26 Abs. 1 BVerfGG ist ebenfalls verfassungskräftig abgesichert 224 . § 26 Abs. 1 BVerfGG hat Verfassungsrang 225 . Das BVerfG ist, wie ausgeführt, nicht an Tatsachenfeststellungen anderer Verfassungsorgane gebunden 2 2 6 . Faktisch besteht dagegen bei 221 Holtkotten, BK, Art. 97, Erl. I I 1 b. 222 Geiger, Protokoll der 13. Sitzung des Rechtsausschusses des Dt. B T v o m 23. 4.1970, S. 102 f. 223 Friesenhahn, Protokoll der 18. Sitzung des Rechtsausschusses v o m 17.6.1970, S. 20. Negativ gegenüber dem geforderten §26 a BVerfGG: Rupp, ebd., S. 27, A n i . 4 Β ; Seuffert, ebd., S. 33; Frowein, ebd., A n i . 2 Nr. 8; G. Müller, Protokoll der 13. Sitzung des Rechtsausschusses, S. 104 f., 112; Haager, ebd., S. 107 f. 224 F ü r den Verwaltungsprozeß sieht Bauer, Gerichtsschutz als Verfassungsgarantie, S. 89, den Untersuchungsgrundsatz über A r t . 1 9 I V GG als v e r fassungsrechtlich garantiert an. Vgl. weiter Ule, V e r w A r c h 62 (1971), S. 114, der die Geltung des Untersuchungsgrundsatzes i m Verwaltungsverfahrensrecht auf den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der V e r w a l t u n g zurückführt. 225 So auch P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 41.
2.7. Verfassungsprozeßrecht als „Partizipationsrecht"
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der Uberprüfung von Gesetzen oder von Maßnahmen der Exekutive i n Sach- und Problemkenntnis ein Ubergewicht derjenigen staatlichen Stellen, die die zu überprüfenden A k t e erlassen haben und die i m Prozeß zumindest Äußerungsrechte haben 2 2 7 . Das BVerfG muß sich daher durch Entwicklung eines eigenen Informationsinstrumentariums, ζ. B. durch die Einschaltung von Sachverständigen, durch Anhörung von Vertretern von Interessenverbänden, Versendung von Fragebogen, Einbeziehung der materiell Betroffenen, die adäquate Grundlage für die Sachverhaltsaufklärung schaffen 228 . Funktionellrechtlich zu bestimmende Grenzen dieses Verständnisses des § 26 Abs. 1 BVerfGG ergeben sich lediglich aus der Eigenschaft des BVerfG als Gericht. Es hat insbesondere bei der Bewertung von Tatsachen den vor allem der Legislative einzuräumenden weiten Beurteilungsspielraum zu beachten 229 . 2.7. Verfassungsprozeßrecht als „Partizipationsrecht" I m Verfassungsprozeßrecht können, wie i m übrigen i n jeder anderen Verfahrensordnung auch, die am Verfahren Beteiligten über die angenommene Geltung der Prozeßgrundsätze und über Einzelbestimmungen am gerichtlichen Verfahren m i t w i r k e n 2 3 0 . Daneben kennt es die M i t w i r k u n g weiterer i n das Verfahren Einbezogener, die nicht auf der Ebene Antragsteller, -gegner, Beschwerdeführer, Kläger und Beklagter am Verfahren teilnehmen (können). Es sind die sonstigen Verfahrens226 Z u m ganzen Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts. — Jetzt: Ossenbühl, Kontrolle v o n Tatsachenfeststellungen u n d Prognoseentscheidungen durch das BVerfG, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 458 ff. 227 Kritisch gegenüber Prognosefähigkeit u n d Kompetenz des B V e r f G zur Tatsachenfeststellung Dichgans, Festschr. Geiger, S. 945 (950 ff.). — Z u den Grenzen der Prognosefähigkeit des Gerichts Philippi, S. 124 ff. 22 « Chr. Starck, W D S t R L 34 (1976), S. 75 m. Fn. 178, sieht das v o m B V e r f G entwickelte Beweisverfahren, das parlamentarischen Anhörungen ähnele, als angemessen an. Abzulehnen ist dagegen die von Roellecke, ebd., S. 126 f. (Disk.) vertretene Auffassung, die Praxis des B V e r f G bei der Heranziehung von Sachverständigen, Meinungsäußerungen etc. sei rechtswidrig (abgeschwächt von Roellecke, S. 136). a. A . insoweit P. Häberle, ebd., S. 136. — Z u den verfahrensrechtlichen Möglichkeiten der Informationsgewinnung des B V e r f G s. auch Pawlowski, D Ö V 1976, S. 505 (508 f.). 229 v g l . BVerfGE 30, 250 (263); 30, 292 (317). 280 Die Verfahrensbeteiligten haben die Pflicht, ihre verfahrenseinleitenden Anträge zu begründen u n d die Beweismittel anzugeben (§ 231 BVerfGG). Ihnen steht das Recht zur Akteneinsicht zu (§20). Sie werden von den Beweisterminen benachrichtigt (§29 1. HS), können der Beweisaufnahme beiwohnen (§29 2. HS) u n d Fragen an Sachverständige u n d Zeugen stellen (§ 29 S. 2). F ü r das Verfahren der Beweisaufnahme gilt der Grundsatz der Unmittelbarkeit. Über den Untersuchungsgrundsatz des § 26 Abs. 1 B V e r f G G haben die Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, maßgeblich an der Feststellung des Sachverhaltes mitzuwirken.
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2. Prozeßgrundsätze i m Verfassungsprozeßrecht
beteiligten 2 3 1 , die Beitritts- 2 3 2 und Äußerungsberechtigten 233 , zu denen auch betroffene Private, also nicht nur staatliche Stellen, zählen können 2 3 4 . Darüber hinaus kann das BVerfG bei bestimmten Verfahrensarten die obersten Gerichtshöfe des Bundes oder die obersten Landesgerichte u m sachdienliche Mitteilungen ersuchen 235 . Aus den dargestellten Formen der Einbeziehung von i m weitesten Sinne am Verfahren Beteiligten folgert P. Häberle ein Verständnis des Verfassungsprozeßrechts als Partizipationsrecht 236 . Partizipation 2 3 7 i n diesem Zusammenhang heißt nicht unmittelbare Teilnahme am Entscheidungsbeschluß, sie ist begrenzt auf den Vorgang der Entscheidungsfindung. Insbesondere die Einbeziehung der Beitritts- und Äußerungsberechtigten und die Mitteilungen der obersten Bundes-/Landesgerichte dienen vorrangig dem Informationsbedürfnis des BVerfG als Entscheidungsträger. Das verfassungsgerichtliche Verfahren ist nicht beschränkt durch ein Verständnis als Parteienstreit. M i t der Einbeziehung der betroffenen Gruppen und Kräfte durch Sachverständigengutachten, Hearings etc. i n den Prozeß der Entscheidungsfindung durch das BVerfG w i r d die Möglichkeit für eine w i r k lichkeitsgerechte Entscheidung des Gerichts vergrößert. Partizipation fördert also den Informationsstand des Gerichts, Information wiederum bedingt die Einbeziehung pluralistischer Gruppen i n den Gang des verfassungsgerichtlichen Verfahrens. Das Verfassungsprozeßrecht ist daher i n erster Linie ein informationsoffenes Recht. Eine Beschränkung des Verständnisses des Verfassungsprozeßrechts als Partizipationsrecht i n diesem Sinne leistet einer Partizipationseuphorie i m Verfassungsprozeßrecht jedenfalls keinen Vorschub 238 . 231 Vgl. P. Häberle, J Z 1975, S. 297 (299, unter I I 2 (2) b). 232 Gem. §§ 65 I, 82 I I , 83 I I , 88, 94 V BVerfGG. 233 Gem. §§ 77, 82 I I I , 83 I I , 85 I I , 94 I, I I , I V BVerfGG. 234 Vgl. §§ 82 I I I , 94 I I I BVerfGG. 235 § 82 Abs. 4 B V e r f G G f ü r das Verfahren der konkreten Normenkontrolle. Die Anwendungsmöglichkeit dieser Vorschrift w i r d durch die GeschOBVerfG erweitert. 23β j z 1975, S. 297 (304); ders., J Z 1976, S. 377 (382/3): Partizipationsnormen des Verfassungsprozeßrechts als sachgerechter Ausdruck der pluralistischen freiheitlich-demokratischen S t r u k t u r des politischen Gemeinwesens des GG; s. auch ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, Grundprobleme der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 34: Das Pluralismusprinzip des GG verlange ein p a r t i zipationsgerechtes Verfassungsprozeßrecht i. S. der Schaffung besserer I n formations» u n d Kommunikationsmöglichkeiten aller an der Verfassungsinterpretation Beteiligten. 237 Z u den verschiedenen Partizipationsinhalten vgl. Schmitt Glaeser, V V D S t R L 31 (1973), S. 179 (184 ff.); Hartisch, Verfassungsrechtliches L e i stungsprinzip u n d Partizipationsverbot i m Verwaltungsverfahren, S. 80 ff. 238 Kritisch zu Häberles verfassungstheoretischem Modell eine demokratischen Verfahrensbeteiligung jetzt H. H. Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (184 ff.).
3. Allgemeine Prozeßgrundsätze und Verfassungsprozeßrecht I n den Fällen, i n denen das Verfassungsprozeßrecht auch über den Weg der Prozeßgrundsätze keine Konkretisierungsgesichtspunkte für die Lösung offener Probleme bereit hält, zieht sein Hauptinterpret, das BVerfG, h i n und wieder allgemeine Regeln des deutschen Verfahrensrechts heran 1 . Es beruft sich auf „allgemeine Grundsätze des Verfahrensrechts" 2 , auf „allgemeine Rechtsgrundsätze des Prozeßrechts" 3 , auf dieselben verfahrensrechtlichen Grundsätze, nach denen i m Z i v i l prozeß eine einschlägige Regelung erfolgt 4 , schließlich auf allgemeine verfahrensrechtliche Grundsätze besonders des Z i v i l - und Verwaltungsprozeßrechts 5 . Diese Spezies von Grundsätzen w i r d somit für die I n terpretation des Verfassungsprozeßrechts als maßgeblich angesehen. Trotz der teilweise unterschiedlichen Terminologie ist allen Grundsätzen eines gemeinsam: Sie entfalten ihre Wirkung i n mehr als einer Verfahrensordnung. Es handelt sich daher bei ihnen u m „Allgemeine Prozeßgrundsätze". Wenn man von „allgemeinen Grundsätzen des deutschen Verfahrensrechts" spricht, liegt der Schluß nahe, diese aus einem „allgemeinen Verfahrensrecht" herzuleiten. Die Forderung nach einem allgemeinen, für alle Gerichtszweige geltenden Verfahrensrecht ist eines der großen rechtspolitischen Anliegen der vergangenen Jahrzehnte gewesen 6 . 1
Ausdrücklich angesprochen werden diese Regeln i n § 1 der GeschO HambVerfG: „ Z u ihrer Ergänzung (seil, der Vorschriften, die für das Verfahren vor dem hamburgischen Verfassungsgericht gelten) sind die allgemeinen Regeln des deutschen Verfahrensrechts heranzuziehen." — Das B V e r f G greift auf die „Allgemeinen Prozeßgrundsätze" nicht n u r i m Z u sammenhang m i t dem BVerfGG, sondern aiich bei anderen Prozeßordnungen zurück. Vgl. jetzt BVerfGE 40, 272 (275), w o es für die FGO von dem „allgemein anerkannten Grundsatz des Prozeßrechts" ausgeht, daß die Einlegung von Rechtsmitteln nicht von außerprozessualen Bedingungen abhängig gemacht werden könne. Vgl. auch den Hinweis von Söhn, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 307. 2 BVerfGE 1, 4 — dazu unter 3.5.; 32, 345 (346) — dazu unter 3.4.; 33, 199 (204) — dazu unter 3.6. 3 BVerfGE 1, 12 (13) — dazu unter 3.1.1. 4 BVerfGE 8, 92 (94) — dazu unter 3.1.2. s BVerfGE 33, 247 (261) — dazu unter 3.3.1. 6 s. dazu das auf der Tagung der Zivilprozeßrechtslehrer 1956 gehaltene Referat von Bettermann, Notwendigkeiten, Möglichkeiten u n d Grenzen einer Angleichung der deutschen Verfahrensordnungen, ZZP 70 (1957), S. 161 ff. m. ζ. N. aus der L i t . i n Fn. 1 ; weiter F. Baur, Gutachten f ü r den 42. Dt.
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Prozeßgrundsätze
Verfassungsprozeßrecht
Seiner Verwirklichung ist man bis heute nicht näher gekommen als vor 20 Jahren. Das mag seinen Grund i n vorrangigeren rechtspolitischen Aufgaben wie der Reformierung des Strafrechts und der Schaffung eines Sozialgesetzbuches gehabt haben, es mag aber auch an der Erkenntnis liegen, daß eine grobe Typisierung den differenzierten Verfahrensabläufen i n den einzelnen Gerichtszweigen m i t ihren i n sich unterschiedlichen Verfahrensarten nicht gerecht werden kann 7 . Insbesondere wäre als Voraussetzung einer Vereinheitlichung des Gerichtsverfahrensrechts zu klären, „ob und i n welchem Umfang das Prozeßrecht vom materiellen Recht abhängt" 8 , eine Fragestellung, die auch dieser Arbeit i n bezug auf das Verfassungsprozeßrecht zugrundeliegt. Allgemeine Prozeßgrundsätze entstammen somit nicht einem allgemeinen deutschen Verfahrensrecht, sie sind höchstens dessen Vorläufer 9 . Für die Bestimmung des Begriffs „Allgemeine Prozeßgrundsätze" ist zwischen den oben erörterten spezifischen Grundsätzen einer konkreten Prozeßrechtsordnung und den Grundsätzen zu unterscheiden, deren Geltung sich nicht auf eine bestimmte Prozeßordnung beschränkt, sondern sich auf mehrere, wenn nicht alle Verfahrensordnungen erstreckt 10 . Allgemeine Prozeßgrundsätze sind danach die Grundsätze, deren Geltung sich in mehr als einer Verfahrensordnung nachweisen läßt 1 1 . I m Gegensatz zu den bereits behandelten Prozeßgrundsätzen des Verfassungsprozeßrechts 12 beziehen sich die Α. P. als Grundsätze, die nicht aus der jeweiligen konkreten Prozeßordnung entwickelt worden sind, nicht auf die grundlegenden Verfahrensgestaltungen der konkreten Prozeßordnung. Bei ihnen handelt es sich mehr u m Regelungen, die die Ausgestaltung des Verfahrens i m einzelnen und die Form, unter der sich die Rechtsverfolgung vollzieht, betreffen. Aber auch sie haben einiges Gewicht. Juristentag, S. 5, 7 Fn. 2 a. — Z u den Vereinheitlichungsbestrebungen bei den drei verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen V w G O , FGO u n d SGG s. unter 5.4. 7 Bettermann, S. 193, w i r f t die berechtigte Frage auf, ob Wesen, S t r u k t u r u n d F u n k t i o n der verschiedenen Prozeßordnungen u n d Prozeßarten überhaupt eine einheitliche Aussage für den ganzen Prozeß oder die ganze Gerichtsbarkeit zulassen. β F. Baur, S. 7 Fn. 2 a; dazu auch Bettermann y S. 193. 9 Z u dieser F u n k t i o n der Α. P. Chr.-Fr. Menger, Prozeßrechtssätze, S. 433, 447. 10 Vgl. die entsprechende Definition des „allgemeinen Prozeß rechts" durch Rödig, Die Theorie des gerichtlichen Erkenntnisverfahrens, S. 1, als „Menge sämtlicher übereinstimmender Normen jeweils wenigstens zweier gegebener Prozeßordnungen". 11 I n diesem Sinne w o h l auch Zöller, ZPO, Komm., § 128, Vorbem. A. 12 s. oben unter Gliederungspunkt 2.
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Prozeßgrundsätze
Verfassungsprozeßrecht61
Die Literatur hat die Rezeption von Α. P. i n das Verfassungsprozeßrecht, wie sich an den Arbeiten von Goessl 13 und Zembsch 14 exemplarisch belegen läßt, bereitwillig angenommen. Das i n i h r vorherrschende Verständnis der Interpretation von Verfassungsprozeßrecht, das es als 13
Es wäre müßig, den Umfang der Übernahme Α. P. bei der Lösung verfassungsprozeßrechtlicher Fragen i m einzelnen aufzuzeigen, da der ganz überwiegende Teil der L i t e r a t u r i n den einschlägigen Arbeiten auf Α. P. zurückgreift. — Goessl geht i n seiner A r b e i t über „Organstreitigkeiten innerhalb des Bundes" v o n der uneingeschränkten Geltung Α . P. i m V e r fassungsprozeßrecht aus. F ü r ihre Anwendbarkeit genügt die Tatsache, daß es sich u m einen „Grundsatz des sonstigen Prozeßrechts" handelt (S. 172; vgl. auch S. 170, 177, 191, 195). Dabei greift G. auf Α. P. zurück, ohne zu erörtern, ob sich die so gewonnenen Ergebnisse nicht (auch) vorrangig aus Regelungen u n d S t r u k t u r des B V e r f G G ergeben. So stützt er seine begründete Ansicht, daß die Parteifähigkeit des Antragstellers i m Organstreitverfahren zur Zulässigkeit des Verfahrens gehört (S. 91), auf die Geltung eines entsprechenden Grundsatzes des allgemeinen Prozeßrechts. Ebenso begründet G., daß der Mangel fehlender Parteifähigkeit i m Organstreitverfahren durch eine i m Laufe des Verfahrens entstehende Parteifähigkeit geheilt w i r d (S. 93). Noch klarer w i r d die Funktion, die die Α. P. bei Goessl einnehmen, i n seinen Ausführungen zum Antragsprinzip (S. 50) : „Das Antragsprinzip ergibt sich zwar nicht unmittelbar aus dem Gesetz, folgt aber aus allgemeinen Gesichtspunkten. Eine Entscheidung von A m t s wegen wäre m i t dem Wesen richterlicher Tätigkeit nicht vereinbar. ,Ne eat judex ex officio 4 ist ein allgemeiner Prozeßgrundsatz, der auch f ü r die Verfassungsgerichtsbarkeit gilt." — Dieser Rückgriff auf Α. P. ist i n seiner Pauschalität bedenklich, vor allem, w e i l durch i h n die gesetzlichen N o r mierungen aus den Augen verloren werden. Z w a r ist das Erfordernis des Antrags nicht als Prinzip geregelt, aber aus den detaillierten Vorschriften des BVerfGG über die Antragsberechtigung i n den einzelnen Verfahrensarten ergibt sich die Notwendigkeit eines Antrages zur Verfahrenseröffnung v o r dem Bundesverfassungsgericht (vgl. Lechner, vor § 17 A n m . Β I I 1). 14 Zembsch konstatiert i n seiner verfassungsprozessualen A r b e i t „ V e r fahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts" bei einer Vielzahl von Fällen die Geltung Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht oder überprüft zumindest die Ausfüllung prozeßrechtlicher Lücken bzw. die Interpretation von Normen des B V e r f G G an Α. P. (vgl. ζ. B. S. 28 f., insbes. S. 29, wo Z. die Verfahrensautonomie des B V e r f G als mögliche Grundlage f ü r das A b weichen von Α. P. i n Betracht zieht, s. weiter S. 112, 117, 120, 122, 125, 127, 128, 129, 141, 149). Ausgangspunkt dieses Vorgehens ist Zembschs Streben nach der Wahrung des Zusammenhangs der allgemeinen Prozeßrechtslehre (S. 25). Konsequent fordert Z. die Beachtung Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht als Ausdruck der Verfahrensgerechtigkeit (S. 98), einem Gesichtspunkt übrigens, der v o l l n u r i n den Verfahren, die (auch) den Schutz subjektiver Rechte bezwecken, zum Tragen kommt. Die von i h m angenommene sog. Verfahrensautonomie des B V e r f G (dazu später unter 4.4.2., Fn. 99) sieht er durch die Α. P. beschränkt (S. 101), die Α. P. fixieren f ü r Z. die Grenzen der verfahrensautonomen Rechtsfortbildung (S. 123). — Die Α. P. erfüllen bei Z. die Rolle eines den einzelnen Verfahrensordnungen übergeordneten Prozeßrechts, das n u r durch eine gesetzliche Regelung, noch nicht einmal durch Verfahrensgestaltungen, die auf G r u n d der Verfahrensautonomie ergehen, „verdrängt" w i r d . Bei der Annahme der Geltung von Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht erörtert Z. nicht, ob ein Rückgriff auf diese G r u n d sätze notwendig ist. Er unterläßt es insbesondere, zu überprüfen, ob die Α. P. möglichen besonderen Anforderungen, die an die Interpretation des V e r fassungsprozeßrechts zu stellen sind, genügen.
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Prozeßgrundsätze
Verfassungsprozeßrecht
Verfahrensrecht i m üblichen Sinne behandelt 1 0 und für das es von daher keinen unterschiedlichen Interpretationsansatz akzeptiert, hat bisher nicht zu einer grundsätzlichen Problematisierung der rezeptiven Übernahme von Grundsätzen aus anderen Verfahrensordnungen geführt. Allgemeine Prozeßgrundsätze werden i n den folgenden Rechtsprechungsbeispielen m i t unterschiedlicher Zielsetzung verwendet. Sie bilden i n manchen Fällen die alleinige Begründungsbasis für eine bestimmte Verfahrensgestaltung durch das BVerfG. Hierbei geht das Gericht zumindest incidenter von ihrer uneingeschränkten Geltung i m Verfassungsprozeß aus. Daneben werden Α. P. auch m i t anderer Intention zur Auslegung herangezogen, nämlich als weitere Begründungskomponente und als zusätzliche Argumentationshilfe. Sie sichern so ein bereits unter Voranstellung anderer Gesichtspunkte gewonnenes Ergebnis ab. Damit sind sie bloße Bestätigungsinstrumente und nicht mehr selbständiger Begründungsersatz. I n weiteren Entscheidungen lehnt das BVerfG den Rückgriff auf Α. P. ab. Es geht dabei aber auch hier, wie sich zumeist aus den Gründen ergibt, von der Geltung der Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht aus. Eine Heranziehung der Α. P. als zusätzliches M i t t e l zur Überprüfung eines aus den Normen des Verfassungsprozeßrechts gewonnenen Ergebnisses beinhaltet sicher nicht die gleiche Problematik wie ihre Verwendung als alleinige Begründung. Gleichwohl stellt sich auch hier die i m Grundsatz bereits aufgeworfene Frage nach der Bedeutung und nach der Funktion der Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht.
3.1. F o r m a l i e n i m Verfassungsprozeßrecht
Von besonderer Tragweite für die Handhabung des Verfassungsprozeßrechts ist die Spruchpraxis des BVerfG zur Beachtung von Fristen und Formerfordernissen bei bestimmten Parteihandlungen 11®. Ein materiellrechtliches Verständnis des Verfassungsprozeßrechts indiziert ein Offenhalten des verfassungsgerichtlichen Verfahrens für die Lösung der materiellen Streitfrage. Gerade den materiell Betroffenen soll nicht über ein hohes Maß an Strenge bei der Anwendung prozessualer Formen und Fristen der Zugang zum Verfahren versperrt werden. 15 Exemplarisch dafür ist der Ansatz von E. Schumann, J Z 1973, S. 484 (488 f.), der zwar dem Verfahrensrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit „Eigenheiten" zugesteht, diese aber nicht auf einen grundsätzlich anderen Ansatz bei der Interpretation von Verfassungsprozeßrecht zurückführt. 16 Z u den Formerfordernissen i n den verfassungsgerichtlichen Verfahren s. den Überblick bei Vollkommer, Formenstrenge u n d prozessuale Billigkeit, S. 112 f.
3.1. Formalien i m Verfassungsprozeßrecht
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Folgende wesentliche Formalien sind nach der Rspr. des BVerfG zu beachten: Der Beschwerdeführer einer Verfassungsbeschwerde muß innerhalb der Fristen des § 93 Abs. 1 und 2 BVerfGG das angeblich verletzte Recht ausdrücklich bezeichnen oder durch den Sachvortrag kenntlich gemacht haben 17 . Soweit es sich u m die Mindesterfordernisse einer Verfassungsbeschwerde (§ 92 BVerfGG) handelt, kann er nicht auf eine von einem anderen Beschwerdeführer eingelegte Verfassungsbeschwerde Bezug nehmen 18 . Ausreichend ist die Einlegung einer Verfassungsbeschwerde durch ein Telegramm, das sich auf ein bereits vorher von einem bevollmächtigten Rechtsanwalt eingelegtes Schreiben bezieht 19 . Das Nachschieben von Gründen ist möglich 20 . I m konkreten Normenkontrollverfahren kann sich das vorlegende Gericht zur Begründung der Verfassungswidrigkeit einer Norm weitgehend auf die Begründung einer Verfassungsbeschwerde i n einem Parallelverfahren beziehen 21 . Auch i m Organstreitverfahren verlangt § 23 Abs. 1 BVerfGG eine nähere Substantiierung der Begründung 2 2 . 3.1.1. Beachtung von Fristen i m Verfassungsbeschwerdeverfahren (BVerfGE 1, 12 (13))
Anhand der Verfahrensvoraussetzung „Rechtswegerschöpfung" (§ 90 Abs. 2 BVerfGG) führt das Gericht aus 23 , es entspräche den allgemeinen Rechtsgrundsätzen des Prozeßrechts, daß derjenige sein Recht verliere, der es verabsäume, die i h m vom Gesetzgeber gestellten Fristen zu beachten. Die erhobene Verfassungsbeschwerde war wegen Versäumung der Frist unzulässig. Nach Ablauf der Fristen des § 93 Abs. 1 und 2 BVerfGG sind auch die für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde erforderlichen Mindestvoraussetzungen wie die Angabe des verletzten Rechts nicht mehr nachzuholen. Der Formmangel ist unheilbar 2 4 . I n diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die Bezugnahme auf einen Α. P. notwendig war. Daß Fristen als Ausschlußfristen bei verschuldeter Nichtbeachtung 25 zum Abschneiden der weiteren Rechtsverfolgung führen, ergibt sich aus ihrer Zielsetzung. Das Abstellen auf einen Α. P. trägt nichts zur Klärung der Frage bei und ist daher überflüssig. 17 BVerfGE 5, 1; 8, 141 (142); 21, 359 (361); 24, 252 (259). 18 BVerfGE 8, 141 (143); 21, 359 (361); 32, 365 (368). — Entsprechendes g i l t für das Verfahren der Wahlprüfungsbeschwerde (E 21, 359 [361]). i» BVerfGE 32, 365 (367 f.). so BVerfGE 18, 85 (89). 21 BVerfGE 14, 221 (232 f.). 22 BVerfGE 24, 252 (258). 23 BVerfGE 1, 12 (13). 24 BVerfGE 5, 1 (2). 25 Z u m Problem der „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand" s. die Ausführungen unter 3.2.
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Prozeßgrundsätze
Verfassungsprozeßrecht
3.1.2. Rückwirkung von Schriftsätzen i m Verfassungsbeschwerdeverfahren (BVerfGE 8, 92 (94 f.))
Eine weitere Entscheidung des BVerfG zum Problemkreis Formalien im Verfassungsprozeß erging hinsichtlich der Rückwirkung von Schriftsätzen i m Verfassungsbeschwerdeverfahren 26 . Der Entscheidung ist in ihrer abstrakten Aussage zwar zuzustimmen. K r i t i k r u f t aber die Begründung des BVerfG i m konkreten Fall hervor. Die Rückwirkung von Schriftsätzen w i r d nämlich unter dem Hinweis auf „dieselben verfahrensrechtlichen Grundsätze, nach denen eine i n einem Schriftsatz fehlende Unterschrift nur m i t Wirkung für die Zukunft nachgeholt" werden kann, verneint. Der angesprochene Grundsatz w i r d aus der zivilprozessualen Literatur belegt. Das Gericht hält die Zurückführung auf Allgemeine Prozeßgrundsätze für ausreichend. Seine Formulierung 2 7 erweckt den Anschein, daß Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht Geltung beanspruchen können, ohne daß es dazu einer spezifischen Legitimation bedürfe. Es hätte aber darlegen müssen, warum die Anwendimg dieses, vom formstrengen Verfahren des Zivilprozesses 28 ausgehenden Grundsatzes i m Verfassungsprozeßrecht angebracht war. Das gilt insbesondere, wenn der zur Entscheidung stehende Fall genauer betrachtet w i r d : Vom Bruder des Beschwerdeführers war für diesen eine Verfassungsbeschwerde eingelegt worden, die am 6.12.1957 beim BVerfG — innerhalb der Beschwerdefrist des § 93 Abs. 1 BVerfGG — einging. Erst nach Verstreichen der Beschwerdefrist am 3.1.1958 sind der Beschwerdeführer und sein Bruder am 9.1.1958 vom Gericht auf die Vorschrift des § 22 Abs. 1 BVerfGG hingewiesen worden. Die daraufhin am 15.1.1958 formgerecht eingelegte Beschwerde des Beschwerdeführers ist vom BVerfG verworfen worden, da es, wie dargelegt, eine Rückwirkung der Beschwerde auf den 6.12.1957, dem Datum ihrer Einlegung durch den Bruder, verneinte. Gerade bei diesem Verfahrensablauf hätte es nahegelegen, dem Beschwerdeführer i n dem Schreiben mit dem Hinweis auf das Erfordernis des § 22 Abs. 1 BVerfGG eine Frist zur nachträglichen Formverbesserung 29 einzuräumen 30 . Es hätte sich so eine befriedigende und sachgerechte Lösung ohne pauschale 2β BVerfGE 8, 92 (94 f.). 27 BVerfGE 8, 92 (94): „Das folgt aus denselben verfahrensrechtlichen Grundsätzen . . . " 28 Obwohl die Verfahren vor dem B V e r f G nicht an strenge F o r m v o r schriften gebunden sind — so jedenfalls BVerfGE 1, 433 (436). 2» Vgl. zu dem Formerfordernis der Unterschrift bei Schriftsätzen die Untersuchung von Vollkommer, S. 356 ff.; s. zur eigenhändigen Unterschrift bei der Einlegung der (bayer.) Verfassungsbeschwerde BayVerfGH, N J W 1976, S. 183. 30 Das B V e r f G sieht sich aber selbst daran gehindert, nach A b l a u f der gesetzlichen Fristen neu zu eröffnen (BVerfGE 21, 359 [361 f.] f ü r §48 BVerfGG).
3.1. Formalien i m Verfassungsprozeßrecht
65
Berufung auf nicht unbestrittene Grundsätze des Zivilprozeßrechts bzw. des sogenannten allgemeinen Prozeßrechts erreichen lassen. M i t der Berufung auf Α. P. verdeckt das Gericht nur die grundlegende Frage, welche Anforderungen an die Formenstrenge i m Verfassungsprozeßrecht überhaupt und speziell i m Verfassungsbeschwerdeverfahren zu stellen sind. 3.1.3. Eigener Ansatz: Bestimmung der Formenstrenge unter Beachtung der materiellrechtlichen Schutzfunktion der einzelnen Verfahrensarten
Bei der Festlegung der Formenstrenge i m Verfassungsprozeßrecht ist ein nach Verfahrensarten differenzierender Ansatz zu wählen. Man w i r d dabei folgende Gesichtspunkte zu bedenken haben: I n erster Linie ist die unterschiedliche Rechtschutzfunktion der einzelnen Verfahrensarten zu beachten. Konkret ergibt sich daraus: I m Verfahren m i t objektiver Schutzfunktion sind geringere Anforderungen an die Handhabung von Formalien und Fristen zu stellen. Dies folgt aus der Funktion der Verfahren, dem Schutz der Verfassungsrechtsordnung 31 . Bei Verfahren mit subjektiver Rechtsschutzfunktion werden Formen und Fristen grundsätzlich streng zu handhaben sein, da es für den Schutz subjektiver Rechte nur unter besonderen Voraussetzungen der Anrufung des Verfassungsgerichts bedarf 32 . Innerhalb der Verfahren mit subjektiver Schutzfunktion n i m m t die Verfassungsbeschwerde eine besondere Stellung ein. Das Verfassungsbeschwerdeverfahren soll jedermann (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG) als außerordentlicher, letzter Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat zustehen 33 . Die Schaffung dieser Zuständigkeit beinhaltet auch, daß die Durchführung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens nicht durch Verfahrensvoraussetzungen, die sachlich nicht zwingend geboten sind, erschwert w i r d 3 4 . Aus der Zuständigkeitsvorschrift des A r t . 93 I Nr. 4 a GG i. V. m. § 90 BVerfGG ist also positiv zu entnehmen, daß Erschwernissen praktischer A r t , soweit möglich, abgeholfen werden muß, um die Zulassungsschwelle für die Verfassungsbeschwerde so niedrig wie möglich zu halten. Deshalb ist es gerechtfertigt, das Armenrecht auch und gerade i m Verfassungsbeschwerdeverfahren zu gewähren 35 . Dieser Gesichtspunkt geht Hand i n 31
Dazu oben unter 2.4.3. Vgl. die insgesamt höheren Voraussetzungen, die an die Zulässigkeit subjektiv-rechtlicher Verfahren, insbesondere an die Verfassungsbeschwerde, gestellt werden. 33 BVerfGE 2, 287 (291); 4, 309 (311); 14, 25 (29); 18, 315 (325). 34 Diese Aussage w i r d für die übrigen Verfahrensordnungen v o m B V e r f G aus A r t . 19 I V GG i. V. m. A r t . 103 I GG hergeleitet, s. dazu BVerfGE 41, 323 ff. m. N. 32
5 Engelmann
66
3. Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
Hand m i t der Begründung des Armenrechts aus dem Grundsatz des sozialen Hechtsstaats (Art. 20 Abs. 1 GG) i. V. m. dem Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) 3 e . — Aus der Berücksichtigung der vom Verfassungsprozeßrecht erstrebten weitgehenden Einbeziehung der Beteiligten folgt auch die Pflicht zur Gewährung des Armenrechts an die Äußerungsberechtigten i. S. d. § 94 Abs. 3 BVerfGG, wenn ihre Äußerungen zur Klärung der Streitfrage beitragen können 3 7 . Aus dem angegebenen Grund fordert die Verfassungsbeschwerde für ihre Einlegung nicht den Anwaltszwang 3 8 (vgl. §22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG), obwohl seine Einführung einer geordneten Rechtspflege durchaus entgegenkäme. Da das Verfahren der Verfassungsbeschwerde nicht durch die Schaffung weiterer Erfordernisse unzugänglicher gemacht werden soll, kann der Aspekt der geordneten Rechtspflege 39 i m Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen hier nicht i m Vordergrund stehen. Die so belegte Offenheit der Verfassungsbeschwerde als Verfahrensart w i r k t sich aber auch i n anderer Hinsicht aus. Bei diesem — materiellen — Verständnis der Verfassungsbeschwerde bleibt die aus praktischen Erwägungen sicherlich notwendige Einschränkung des Zugangs zum BVerfG durch die Vorprüfung der Dreierausschüsse (§ 93 a BVerfGG) und die konkrete (Begründungs-)Praxis des BVerfG nach wie vor problematisch 40 / Darüber hinaus ergeben sich auch Auswirkungen für die i m Verfassungsbeschwerdeverfahren zu praktizierende Formenstrenge. Die von der Verfassung geforderte Offenheit der Verfassungsbeschwerde läßt bei vielen Formenmängeln eine andere Beurteilung ihrer Schädlichkeit zu als das z.B. i m formenstrengen Verfahren des Zivilprozesses der Fall wäre. Denn auch diese Formvorschriften des Verfassungsprozeßrechtes sind nicht „Selbstzweck" 41 . Gerade sie dienen, u m weiter den Bundesfinanzhof zur Zielsetzung von Verfahrensvorschriften zu zitieren, „letztlich der Wahrung der materiellen Rechte der Prozeßbeteiligten. I n Zweifelsfällen sind sie daher — wenn irgend vertretbar — so auszulegen, daß sie eine Entscheidung über die mate35 BVerfGE 1, 109 (110f.); 1, 433 (438); 27, 57 — dazu Engler, N J W 1965, S. 996 (1001 f.); s. weiter Zembsch, S. 91. 36 BVerfGE 2, 335 (341); 9, 124 (131). 37 Offengelassen von BVerfGE 1, 433 (438 f.). — Bejahend Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 27. 38 So aber die Anregung von Friesenhahn, Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart, S. 89 (185). 39 Z u m „Gemeinwohlgut" der funktionstüchtigen Rechtspflege s. auch K . Engelmann, M D R 1973, S. 365 (366) m. N. i n Fn. 25. 40 Aus dem Chor der kritischen Stimmen zur Praxis des B V e r f G bei den Verfassungsbeschwerdeverfahren s. insbesondere Ridder, Operation V e r fassungsbeschwerde, N J W 1972, S. 1689 ff., u n d Low, Dauerproblem V e r fassungsbeschwerde, DVB1. 1973, S. 941 ff. « B F H — GrS — i n E 111. 278 (285).
3.2. Die „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand"
67
rielle Rechtslage ermöglichen und nicht verhindern 4 2 ." Diese, auf den Steuerprozeß gemünzten, Formulierungen der Aufgabenstellung des Verfahrensrechts und seiner Formvorschriften können i n vollem Umfang auf das Recht der Verfassungsbeschwerde übertragen werden. Vom BVerfG war bei der Ausgangsentscheidung eine Besinnung auf die grundsätzlichen Aufgaben des Verfahrensrechts und seiner Formalien bei den einzelnen Verfahrensarten zu erwarten. Das Gericht hätte von da aus Schlußfolgerungen für das fragliche Problem ziehen können. Ansatzweise ist das i n anderem Zusammenhang geschehen43. Hier stellt das Gericht darauf ab, „welcher Grad von Formenstrenge nach den maßgeblichen verfahrensrechtlichen Vorschriften sinnvoll zu fordern ist". Die Festlegung eines sinnvollen Ausmaßes an Formenstrenge kann nur auf der Grundlage des Gesamtzusammenhangs der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihrer Verfahrensarten erfolgen. Ein Verweis auf Grundsätze des Zivilprozeßrechts löst die Probleme nicht, greift sie noch nicht einmal auf.
3.2. Die „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand" (BVerfGE 4, 309 (313 f.)) I n den engeren Kontext der Behandlung von Formalien gehört die Frage, inwieweit i m Verfassungsprozeßrecht bei Versäumung von Fristen eine „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand" möglich ist 4 4 . 3.2.1. Die Rechtsprechung des BVerfG
Ursprünglich hatte das BVerfG es offen gelassen, ob die Übernahme des Prozeßrechtsinstituts „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand" i n das Verfassungsprozeßrecht aus allgemeinen Rechtsgedanken des deutschen Verfahrensrechts geboten sei 48 . I n einer späteren Entscheidung 46 — Anlaß war eine Fristenversäumung i n einem Verfassungsbeschwerdeverfahren — stellt es auf den Charakter der i n § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG normierten Frist als echter Ausschlußfrist ab 4 7 . Es führt zudem aus, daß 42 B F H E 111, 285; i n Anschluß daran auch BSG — GrS — i n E 38, 248 (260) zur Frage der Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand. 43 BVerfGE 15, 288 (291); zum Schriftformerfordernis des §23 Abs. 1 B V e r f G G s. noch BVerfGE 16, 190 f. 44 Einen Überblick über die Rspr. der verschiedenen obersten Gerichtshöfe des Bundes gibt BSGE 38, 248 (253 ff.). 4 « BVerfGE 1, 430 (431). « BVerfGE 4, 309 (313 f.). 47 Die Wiedereinsetzung w a r bereits v o r der zweiten veröffentlichten Entscheidung i n anderen Verfahren abgelehnt worden — vgl. Röhl, M D R 1954, S. 378 (388). 5*
6 8 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
es sich bei der Wiedereinsetzung 48 nicht u m ein allgemeines einheitliches Rechtsinstitut i m gesamten deutschen Verfahrensrecht 49 handele und die Zulassung der Wiedereinsetzung aus diesem Grunde nicht gefordert sei. Des weiteren zieht das Gericht den besonderen Charakter der Verfassungsbeschwerde heran, der eine Übernahme der Wiedereinsetzung nicht gestatte. Die Wiedereinsetzung sei eine Konzession der Rechtssicherheit an die materielle Gerechtigkeit 50 . Aus eben diesem Grunde sei aber auch die Verfassungsbeschwerde geschaffen worden. Eine Wiedereinsetzung i m Rahmen der Verfassungsbeschwerde würde die Rechtskraft von Entscheidungen über den i n § 93 Abs. 1 BVerfGG abgesteckten Umfang hinaus auflösen 51 . Diese Judikatur hat das Gericht später bestätigt 5 2 und auf andere Fristen des BVerfGG übertragen. Eine Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand wegen Versäumung der Antragsfrist hat es auch i m Organstreitverfahren als unzulässig angesehen 53 . 3.2.2. Eigener Ansatz
Das BVerfG knüpft bei der Ausgestaltung des Verfassungsprozeßrechts i m Hinblick auf das Institut der Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand an Begriffe des materiellen Verfassungsrechts wie Rechtssicherheit und materiale Gerechtigkeit 54 als Ausdruck des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG) 5 5 an und verbindet diese m i t verfassungsprozeßrechtlichen Überlegungen. Hier w i r d deutlich, wie das materielle Recht der Verfassung auf die Auslegung des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit einwirkt. Die Argumentation des BVerfG mit der Zielsetzung der Verfassungsbeschwerde, ebenfalls einem materiellen Gesichtspunkt, scheint i m ersten Moment zu überzeugen. Daß m i t i h m die Diskussion aber nicht abgeschlossen werden kann, zeigt ein 48 Eine Wiedereinsetzung i m Verfassungsbeschwerdeverfahren hat wegen der v o m B V e r f G großzügig zu handhabenden Formalien auch Röhl, S. 388, für wünschenswert gehalten. — Bejahend auch Geiger, Vorbem. vor § 17, A n m . 2; ablehnend dagegen A. Arndt, DVB1. 1952, S. 1 (5). 49 Grundsätzlich zur Zielsetzung der „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand" i m Verfahrensrecht das V o t u m v. Schlabrendorffs, BVerfGE 35, 51 ff. (abw. M.). so BVerfGE 4, 309 (315). — Z u diesen materiellen Zielsetzungen des V e r fahrensrechts s. auch BVerfGE 41, 323 (326 f.). 51 I n diesem Sinne Geiger, Wortprotokoll der 13. Sitzung des 5. Ausschusses i m 6. Dt. B T v o m 23. 4.1970, S. 126. Bejahend auch Lechner, vor § 17, A n m . C I I 1 g; zum ganzen noch Zembsch, S. 126. 52 BVerfGE 9, 109 (1151); 28, 243 (256). 53 BVerfGE 24, 252 (258) zur Frist des § 64 Abs. 3 BVerfGG. 54 s. auch v. Schlabrendorff, ebd., S. 51: Wiedereinsetzung dient der i n dividuellen Gerechtigkeit. 55 Vgl. dazu BVerfGE 35, 41 (47) m. w. N. aus der verfassungsgerichtlichen Rspr.; jetzt BVerfGE 41, 323 (326).
3.2. Die „Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand"
69
Blick über den Rahmen der Bundesverfassungsgerichtsbarkeit hinaus 0 6 i n das Recht der bayerischen Verfassungsgerichtsbarkeit, der traditionsreichsten und bedeutendsten Länderverfassungsgerichtsbarkeit. Hier hat das Institut der Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand Eingang gefunden 57 . Dementsprechend hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof die Wiedereinsetzung bei einer Versäumung der Zweimonatsfrist für die Einreichung der Verfassungsbeschwerde „rechtsgrundsätzlich" für möglich gehalten 68 . Die Frage der Wiedereinsetzung ist bei den i n der amtlichen Entscheidungssammlung Band 1 - 26s® abgedruckten Entscheidungen des Bayer. Verfassungsgerichtshofes lediglich i n drei Fällen praktisch geworden 60 , ohne daß die Voraussetzungen der Wiedereinsetzung ein einziges M a l vorgelegen hätten. Es handelt sich also insgesamt u m ein Problem geringer praktischer Bedeutung. Es stellt sich bei i h m aber erneut die Frage, ob der vom BVerfG gehandhabte Rigorismus i m Bereich der Formalien und bei der Ablehnung der Wiedereinsetzung dem i n der Verfassungsbeschwerde als Verfahrensinstitut selbst zum Ausdruck gekommenen Gedanken der materiellen Gerechtigkeit entspricht. Dabei ist zu berücksichtigen, daß die Wiedereinsetzung 61 , u m auf die Beispiele anderer Verfahrensordnungen zurückzugreifen, gebunden ist an unverschuldete Fristversäumnisse 612 . Dementsprechend sah auch A r t . I Nr. 19 des Regierungsentwurfs zum Vierten Änderungsgesetz des BVerfGG vom 16. 2.1970 63 die Einführung der Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand i m Verfassungsbeschwerdeverfahren vor, um die Effektivität des grundrechtlichen Individualschutzes i m Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen nicht geringer sein zu lassen 64 . Der vom Bundestag und Bundesrat zunächst befürwortete Änderungsvorschlag wurde auf Empfehlung des Rechtsausschusses des Bundestages wieder gestrichen, weil dieser die Einführung der Wiedereinsetzung nicht für dringlich hielt. I m Gegenteil befürchtete er durch 56 Der HessStGH lehnt i n einer Entscheidung v o m 6.9.1958 (zitiert nach B a y V e r f G H 19, 98 [99]) die Wiedereinsetzung i m hess. verfassungsgerichtlichen Verfahren ab. 57 Die Wiedereinsetzung i n den vorigen Stand ist ausdrücklich geregelt i n § 24 der GeschO des Verfassungsgerichtshofes f ü r den Freistaat Bayern v o m 15. 7.1963 (GVB1. S. 151) i. d. F. v o m 18. 2.1966 (GVB1. S. 159). 58 B a y V e r f G H 7, 1 f. Sie umfassen die Jahre 1947/48 bis 1973. 60 Außer der oben genannten Entscheidung noch B a y V e r f G H 18, 127 (131); 19, 98 (99 f.). 61 Z u r Wiedereinsetzung bei formfehlerhaftem Handeln Vollkommer, S. 318 ff. 62 s. § 60 V w G O ; § 67 I SGG; § 56 FGO. 63 BT-Drucksache VI/388. 64 Vgl. die amtliche Begründung BT-Drucks. VI/388, S. 11 f.
7 0 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
sie eine unangemessene zusätzliche Belastung des BVerfG® 5. Ob diese Bedenken zu Hecht bestanden (s. dazu den Vergleich m i t der bayerischen Regelung), ob sie insbesondere die Nichteinführung der Wiedereinsetzung unter Berücksichtigung der materiellen Zielsetzung der Verfassungsbeschwerde rechtfertigen können, mag i n diesem Zusammenhang dahingestellt bleiben. Obwohl die Wiedereinsetzung also nicht gesetzlich verankert und damit die Rechtsprechung des BVerfG i n diesem F a l l vom Gesetzgeber ausdrücklich gebilligt worden ist, würde m. E. eine großzügigere Handhabung i m Sinne des angesprochenen Regierungsentwurfes dem ..besonderen Charakter der Verfassungsbeschwerde", ihrem Wesen als „letzter Rechtsbehelf des Bürgers", als „ultima ratio" 6 ® besser gerecht 67 . Es zeigt sich somit auch hier, daß das Verfahrensrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit erst i m Lichte der Verfassung sachgerecht verstanden und interpretiert werden kann.
3.3. Das Rechtsschutzbedürfnis im Verfassungsbeschwerdeverfahren Nach ständiger Rechtsprechung fordert das BVerfG für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses, nämlich die eigene, gegenwärtige und unmittelbare rechtliche Betroffenheit des Beschwerdeführers 68 . Trotz der langen Rechtsprechungstradition ist der Begriff des Rechtsschutzbedürfnisses weder klar umrissen noch i n sich gefestigt 69 . Es handelt sich u m einen „Mosaikbegriff" 7 0 , der sich aus einer Vielzahl von Einzelgesichtspunkten zusammensetzt und deshalb abstrakt schwer zu erfassen ist. Auch zur Bestimmung des Rechtsschutzbedürfnisses, bei dem das BVerfG zuweilen materielle Gesichtspunkte zur Begründung anführt 7 1 , greift es gelegentlich auf Α. P. zurück.
β® Schriftliche Begründung des Rechtsausschusses des Dt. Bundestages v o m 26.11.1970, BT-Drucks. VI/1471, S. 7. «β So Maurer, Festschr. K e r n , S.275 (291). 67 F ü r die Einführung der „Wiedereinsetzung" i n jüngerer Zeit auch Zuck, ZRP 1973, S. 233 (237); ders., Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 27, 81. es Aus der Rspr. des B V e r f G s. insbes. E l , 97 (102f.); 9, 89 (92); 15, 256 (262 f.); 21, 139 (143); 31, 58 (67); 39, 258 (264). — Z u r Voraussetzung der eigenen u n d gegenwärtigen Beschwer s. Leibholz / Ruppr echt, §90, Rdnr. 70 m. ζ. N. aus der Rspr. des B V e r f G ; zur unmittelbaren Betroffenheit vgl. Lechner, § 90, zu Abs. 1, A n m . 4. Dazu auch Pieroth, DVB1. 1974, S. 195 (196). ™ Leibholz / Rupprecht, §90, Rdnr. 70. 71 Vgl. BVerfGE 9, 89 (93 f.): Bejahung des Rechtsschutzbedürfnisses angesichts der „Bedeutung des Schutzes der persönlichen F r e i h e i t " ; 1, 351 (359): unter Abstellen auf die „besondere F u n k t i o n der Verfassungsgerichtsbarkeit".
3.3. Das
echtsschutzbedürfnis i m Verfassungsbeschwerdeverfahren
71
3.3.1. Rechtsschutzbedürfnis bei Verfassungsbeschwerde gegen gerichtliche Kostenentscheidung (BVerfGE 33, 247 (261 ff.))
Das Gericht begründet das Nichtvorliegen des Rechtsschutzbedürfnisses 72 aus der speziellen Funktion der Verfassungsbeschwerde 73 i n den Fällen, in denen eine mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Gerichtsentscheidung lediglich wegen ihrer Auswirkungen auf die Kostenentscheidung, die hier nur ein unselbständiger Annex der die Hauptsache betreffenden Entscheidung war, verfassungsgerichtlich überprüft werden soll 7 4 . Es weist darauf hin, daß diese Behandlung des Problems den allgemeinen verfahrensrechtlichen Grundsätzen anderer Verfahrensordnungen entspreche. Regelungen aus anderen Verfahrensordnungen könnten zwar nicht ohne weiteres und allgemein übernommen werden, ein Rückgriff auf diese Grundsätze sei dem Gericht mangels gesetzlicher Regelung jedoch i m Rahmen seiner zweckentsprechenden Verfahrensgestaltung überlassen. Anschließend belegt das Gericht detailliert aus Rechtsprechung und Literatur zu den der Verfassungsbeschwerde vergleichbaren Verfahrensarten, daß das angeschnittene Problem dort entsprechend gelöst wird. Erst dann kommt es wieder auf sein Ergebnis zurück und begründet es weiter m i t teleologischen und funktionellrechtlichen Argumenten. 3.3.2. Eigene Stellungnahme
Das Verfassungsprozeßrecht kennt keine ausdrückliche Regelung des Rechtsschutzbedürfnisses 76. Die Sachurteilsvoraussetzung Rechtsschutzbedürfnis 7 6 w i r d dennoch für einzelne Verfahrensarten gefordert, als 72 BVerfGE 33, 247 (261 ff.). Entsprechend auch BVerfGE 39, 276 (292). A u f die Eigenart der Verfassungsbeschwerde als „außerordentlichen, nicht zum Rechtsmittelzug gehörigen u n d sich gegen rechtskräftige E n t scheidungen wendenden Rechtsbehelf zur prozessualen Durchsetzung von Grundrechten" stellt das B V e r f G auch ab, als es die analoge Anwendung der f ü r den Zivilprozeß u n d andere Verfahrensarten geltenden Vorschriften über die Anschlußberufung u n d die Anschlußrevision ablehnt (BVerfGE 24, 236 [243] — dazu Lechner, § 92, A n m . 1.) — H i e r bezieht sich das B V e r f G wiederum auf einen grundgesetzlichen, also materiellrechtlichen Aspekt bei der Auslegung des Verfassungsprozeßrechts. 74 Vgl. die Regelung des § 158 Abs. 1 V w G O . — I m Ergebnis auf der gleichen L i n i e liegt der BayVerfGH, B a y V B l . 1975, S. 646 (dazu Erichsen, V e r w A r c h 67 (1976), S. 187 [189]). E r verneint die Zulässigkeit einer V e r fassungsbeschwerde gegen eine gerichtliche Kostenentscheidung, w e i l die v o m Beschwerdeführer angeführten Grundrechte der Bayer. Verfassung, insbes. Menschenwürde u n d Handlungsfreiheit, durch eine Kostenentscheidung begrifflich nicht verletzt sein könnten. 75 Ausführlich zum Rechtsschutzbedürfnis i m Verfassungsbeschwerdeverfahren R. Schneider, Z Z P 79 (1966), S. 1 ff. 76 Das Rechtsschutzbedürfnis w i r d zu den „allgemeinen Prozeßrechtsregeln" gezählt. So jedenfalls Bettermann, AöR 86 (1961), S. 129 (160). 73
7 2 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
würde es von einer gesetzlichen Regelung vorgeschrieben 77 . Es w i r d als A x i o m verstanden 78 und von daher nicht i n Frage gestellt. Demgegenüber kann die behauptete Qualität des Rechtsschutzbedürfnisses als allgemeiner verfahrensrechtlicher Grundsatz eine Übertragung auf das Verfassungsprozeßrecht nicht ohne weiteres rechtfertigen. Das Bestehen eines Rechtsschutzbedürfnisses ist eng m i t dem Schutz subjektiver Rechte und Pflichten verbunden 7 9 . Die subjektive Schutzfunktion der Verfahrensart ist seine unabdingbare Voraussetzung. Ein Rechtsschutzbedürfnis muß daher bei der Verfassungsbeschwerde, den Bund/Länderund den Land/Land-Streitigkeiten 8 0 vorliegen. Das Rechtsschutzbedürfnis kann also nicht losgelöst von Verfahrensordnung und -art betrachtet werden. Trotz des „unverzichtbar subjektiven Charakters" 8 1 der Verfassungsbeschwerde sind bei der Prüfung des Vorliegens des Rechtsschutzbedürfnisses zudem objektive Momente zu berücksichtigen 82 , die i n der Rspr. des BVerfG auch zum Ausdruck kommen 8 3 . Die objektive Sicht des Rechtsschutzbedürfnisses findet einen Anhalt i n § 90 Abs. 2 S. 2 BVerfGG und § 93 a Abs. 4 BVerfGG 8 4 . § 90 Abs. 2 S. 2 gestattet eine Ausnahme von der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde bei einer „allgemeinen Bedeutung", § 93 a Abs. 4 läßt für die A n nahme einer Verfassungsbeschwerde ausreichend sein, wenn zwei Richter der Auffassung sind, daß von der Entscheidung die „ K l ä rung einer verfassungsrechtlichen Frage" zu erwarten ist. Diese objektiven Merkmale werden dem objektiven Bezug der Verfassungsbeschwerde gerecht. Sie erlauben es dem BVerfG aber nicht, den subjektiven Charakter der Verfassungsbeschwerde bei der Bestimmung des Rechtsschutzbedürfnisses außer acht zu lassen. Uber ein rein objektiv zu wertendes Rechtsschutzbedürfnis, das an die sub77 Goessl, S. 172. Gegen diese Annahme Spanner, Festschr. Jahrreiß (1964), S. 411 (417 f.), m i t dem Hinweis auf die Bestrittenheit der Prämisse. 78 Kritisch zu diesem Verständnis des Rechtsschutzbedürfnisses insbes. Pohle, Festschr. Lent, S. 195 (bes. 210 f.). 7 » Zembsch, S. 119; Lechner, §24, A n m . B I 3 i ; vgl. auch Goessl, S. 177, der m i t der h. M. die Anwendbarkeit des Rechtsschutzbedürfnisses i m Organstreitverfahren bejaht. so Gem. A r t . 93 Abs. 1 Nr. 4 GG, § 13 Nr. 8, §§ 68 ff., 71 ff. BVerfGG. 81 Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 67 (1976), S. 305 m. N. i n Fn. 12. 82 Lipphardt, S. 484, sieht es f ü r die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde als ausreichend an, w e n n ein einziger Anknüpfungspunkt einen subjektiven Bezug aufweist. Vgl. auch P. Häberle, J Z 1976, S. 379, 382, zur „ O b j e k t i v i e r u n g " des Rechtsschutzbedürfnisses. 83 Z u nennen ist hier insbes. die Rspr. des B V e r f G zu A r t . 2 1 GG, die m i t ihrem extensiven Verständnis (vgl. Lipphardt, S. 484; P. Häberle, S. 382) dem Bürger den Weg der Verfassungsbeschwerde über eine Verletzung des A r t . 2 I GG eröffnet, s. dazu noch unter 4.3.3. Fn. 52. 84 Dazu Chr.-Fr. Menger, S. 306. Diesen objektiven Merkmalen stehen aber, w i e Menger ebenfalls ausführt, gleichwertige subjektivrechtliche Alternativen gegenüber.
3.3. Das Hechtsschutzbedürfnis i m Verfassungsbesch werde verfahren
73
jektive Rechtsverletzung immer geringere Anforderungen stellt, kann sich das BVerfG nicht von seiner Antragsabhängigkeit i m Rahmen der geltenden Verfahrensordnung lösen 85 . Die Anwendung von Objektivierungstechniken 86 , d. h. Techniken, sich i m jeweiligen Verfassungsprozeß von den konkreten Antrags- und Beschwerdeberechtigten, ihren A n trägen und ihren Rechtsschutzinteressen unabhängiger zu machen, ist zwar aus der Sicht des BVerfG heraus verständlich, sie darf aber nicht dazu führen, daß sich das Gericht auf diesem Umweg seinen Kompetenzbereich erweitert 8 7 . Die dem BVerfG durch das GG zugewiesene Machtfülle ist auch unter dem Gesichtspunkt seiner Legitimation nur zu rechtfertigen, wenn es an Sachentscheidungsvoraussetzungen und die Anträge der Beteiligten gebunden bleibt 8 8 . I n der eingangs angesprochenen Entscheidung stellt das BVerfG nicht ausschließlich auf die Qualität des Rechtsschutzbedürfnisses als Α. P. ab, sondern argumentiert aus dem BVerfGG heraus. Darüber hinaus macht der Vergleich m i t entsprechenden Prozeßsituationen anderer Verfahrensordnungen und der Nachweis aus der einschlägigen Rechtsprechung und Literatur die Übernahme eines sog. Α. P. zumindest rational kontrollierbar und ermöglicht so mehr Transparenz der verfahrensrechtlichen Judikatur des BVerfG. Zu beachten ist weiter, daß das Gericht die Anwendbarkeit Α. P. i n der angesprochenen Entscheidung i n zweifacher Hinsicht einschränkt 89 . Zum einen darf eine gesetzliche Regelung des Problems i m BVerfGG nicht vorhanden sein. Hier hebt das Gericht die an und für sich selbstverständliche Subsidiarität der Anwendung Α. P. i m Verhältnis zu Gesetzesvorschriften hervor. Zum anderen muß der Rückgriff auf Α. P. den Verfahrensztuecken des BVerfGG entsprechen. Das Gericht hätte an dieser Stelle aufzeigen können, daß diese Verfahrenszwecke nicht (allgemein) aus der Prozeßordnung des BVerfGG zu bestimmen sind, sondern nur i n Zusammenschau m i t den materiellen Zielsetzungen des Verfassungsprozeßrechts insgesamt entwickelt werden können. Betont werden muß weiter, daß die Formel von der „Entsprechung der Verfahrenszwecke" dem BVerfG 85 Kritisch gegenüber entsprechenden Tendenzen des B V e r f G zur Ausdehnung des Streitgegenstandes Chr.-Fr. Menger, ebd., S. 311; Zuck, JuS 1975, S. 695 ff. — s. auch zur ähnlichen Problematik bei der behaupteten Geltung der Offizialmaxime oben unter 2.4.1. — A u f derselben L i n i e liegt das Vorgehen des B V e r f G bei der Festlegung der Bindungswirkung seiner Entscheidungen, soweit es pauschal alle Gründe i n die Bindungswirkung einschließt (vgl. BVerfGE 36, 1 [36]). Auch hier versucht das Gericht, den Wirkungsbereich seiner Entscheidungen zu erweitern. Z u r Problematik s. unter 3.6.1. m. Fn. 138. ββ P. Häberle, J Z 1976, S. 381 f. 87 a. A . insoweit w o h l P. Häberle, ebd., S. 382. 88 Z u r demokratischen Legitimation des B V e r f G s. unter 4.2.6. 8 » BVerfGE 33, 247 (261).
7 4 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
einen weiten Freiraum bei der Ausgestaltung des Verfahrensrechts eröffnet. 3.3.3. Grundrechtsverstoß in Entscheidungsgründen (BVerfGE 8,222 (224))
Das BVerfG verwirft eine Verfassungsbeschwerde u. a. deshalb 90 , weil es an der Sachurteilsvoraussetzung einer Beschwer 91 , dem unmittelbaren, aktuellen Selbstbetroffensein des Beschwerdeführers 92 , fehlt. Rechtsausführungen i n den Gründen einer gerichtlichen Entscheidung stellten keine Beschwer i. S. d. § 90 Abs. 1 BVerfGG dar. Das Gericht beruft sich dabei auf einen Rechtsgrundsatz, der i m Verfahrensrecht allgemein anerkannt sei 93 . Diesen Grundsatz wendet es auf die Verfassungsbeschwerde mit der Begründung an, daß sie „ i n erster Linie dem Rechtsschutz des einzelnen gegenüber der Staatsgewalt" diene 94 . Die Argumentation des Gerichts w i r f t zunächst die Frage nach Möglichkeiten und Voraussetzungen eines Grundrechtsverstoßes durch die Gründe einer gerichtlichen Entscheidung auf, des weiteren ist die Uberzeugungskraft seiner Überlegungen zu untersuchen. Auch das BVerfG geht davon aus, daß Entscheidungsgründe einen Grundrechtsverstoß beinhalten können 9 5 . I m Anschluß an eine frühere Entscheidung9® legt es dar 9 7 , daß es aber i n aller Regel bei dem Grundsatz bleiben müsse, daß eine Beschwer sich nur aus dem Entscheidungstenor ergeben könne, da dieser allein verbindlich bestimme, welche Rechtsfolge auf Grund des festgestellten Sachverhaltes eintrete 9 8 . I n diesem Zusammenhang ist abschließend noch eine weitere Entscheidung «ο BVerfGE 8, 222 (224); s. dazu auch E. Schumann, Verfassungs- und Menschenrechtsbeschwerde, S. 104. 91 Bei der Beschwer handelt es sich u m eine Erscheinungsform des Rechtsschutzbedürfnisses (Bettermann, Z Z P 82 [1969], S. 24 [26]), nämlich der Individualisierung des allgemeinen Begriffs des Rechtsschutzbedürfnisses (Zuck, Verfassungsbeschwerde, Rdnr. 155). — s. weiter Erichsen, V e r w A r c h 67, S. 187 ff. — Jetzt: Spanner, Die Beschwerdebefugnis bei der Verfassungsbeschwerde, B V e r f G u n d GG, Bd. I , S. 374 ff. 92 Vgl. z.B. BVerfGE 18, 1 (10f.); Zuck, ebd., Rdnr. 155. 93 Davon gehen Brox, Z Z P 81 (1968), S. 379 (382) u n d Bettermann, Z Z P 82, S. 26, aus. 94 BVerfGE 8, 222 (225) — Auch an dieser Stelle w i r d der Interpretationsgesichtspunkt der subjektiven Rechtsschutzfunktion eingeführt. 95 BVerfGE 28, 151 (160 f.) — Strafturteil; s. schon BVerfGE 15, 283 (286) — Scheidungsurteil — dazu Zeuner, Rechtliches Gehör, materielles Recht u n d Urteilswirkungen, S. 21 ff. 9β BVerfGE 6, 7 (9 f.). 97 BVerfGE 28, 151 (160). 98 s. auch Schmidt, N J W 1975, S. 289 (291), zu der Frage, i n w i e w e i t bei der Verfassungsbeschwerde gegen die A r t der Begründung v o n freisprechenden Strafurteilen v o m Erfordernis der materiellen Bedeutung f ü r den konkreten Rechtsfall abzugehen ist.
3.3. Das
echtsschutzbedürfnis i m Verfassungsbeschwerdeverfahren
75
des Gerichts anzuführen 99 . Hier verwarf es eine Verfassungsbeschwerde als insoweit unzulässig, weil die fraglichen Ausführungen i n den Entscheidungsgründen den Beschwerdeführer nicht verletzten. 3.3.4. Eigene Stellungnahme
Das BVerfG hat, wie oben gezeigt, die Ablehnung der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde an dem Erfordernis der „Beschwer" festgemacht. Damit ist die grundsätzliche Frage aufgeworfen, wann eine Beschwer durch Gründe einer gerichtlichen Entscheidung vorliegen kann. Die Beschwer ist Bestandteil des allgemeinen Rechtsschutzbedürfnisses 100 . Sie w i r d als dessen besondere, individuelle Ausprägung verstanden 101 . Ausgehend von der subjektiven Rechtsschutzfunktion der Verfassungsbeschwerde ist das Vorliegen eines Rechtsschutzbedürfnisses und damit einer Beschwer auch hier Sachentscheidungsvoraussetzung, obwohl sie als Zulässigkeitsvoraussetzung i m Gesetz nicht ausdrücklich genannt w i r d 1 0 2 . Beschwer bedeutet eine objektiv zu erfassende Belastung durch den grundrechtswidrigen A k t der öffentlichen Gew a l t 1 0 3 . Diese Belastung kann auch i n den Gründen einer gerichtlichen Entscheidung liegen, wenn die Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) eines am Verfahren formell Beteiligten i n Betracht kommt. Bei der Rüge der Verletzung der Menschenwürde erübrigt sich der Nachweis einer zusätzlichen Beschwer 104 . Halten sich ansonsten die einschlägigen Erklärungen des Gerichts als Feststellungen, Würdigungen, Bewertungen im funktionalen Rahmen des Verfahrens 1 0 8 (unter Beachtung des rechtlichen Gehörs — A r t . 103 Abs. 1 GG), so können durch sie die Grundrechte der Betroffenen allerdings nicht beeinträchtigt werden. I m übrigen führt praktisch jede Außerachtlassung der i n den Grundrechtsnormen des GG zum Ausdruck gekommenen objektiven Wertentscheidungen durch ein Gericht zur Verletzung eines Grundrechts des einzelnen. Das ist nämlich auch dann der Fall, wenn die Grundrechte i m zugrundeliegenden materiellrechtlichen Verhältnis nicht »» BVerfGE 34, 384 (395). 100 R. Schneider, S. 55. 101 So a u d i Brox t Z Z P 81, S. 406, f ü r den Zivilprozeß; vgl. i m übrigen oben Fn. 91. 102 Bei der Beschwer handelt es sich zugleich u m ein Element der Begründetheit (Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 67, S. 306). 103 So R. Schneider, S. 55. — Der Beschwerdeführer hat für das Vorliegen der Beschwer die Behauptungslast. Z u den Anforderungen, die an diese i m einzelnen zu stellen sind, s. Erichsen, V e r w A r c h 67, S. 188. !04 R. Schneider, S. 56. los Jacobs, J Z 1971, S. 279 (283).
7 6 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
unmittelbar gelten, wie das für Streitigkeiten zwischen Privatpersonen gilt. Letztlich steht damit allen (Zivil-)Prozeßbeteiligten ein „grundrechtlich gewährleisteter Anspruch auf ,Richtigkeit' der richterlichen Entscheidung" 1 0 6 i m Hinblick auf die Beachtung der grundgesetzlichen Wertentscheidungen zu. Die vom BVerfG vor allem i n den sog. D r i t t wirkungsfällen vertretene Auffassung 1 0 7 eröffnet wegen der umfassenden grundrechtlichen Gewährleistungen des GG eine Uberprüfung aller zivilgerichtlichen Entscheidungen i m Hinblick auf ihre Grundrechtsmäßigkeit i m Wege der Verfassungsbeschwerde 108 . Maßgebend für die Grundrechtsverletzung durch eine gerichtliche Entscheidung ist die Ebene Gericht—Prozeßpartei. Die Verletzung von Grundrechten eines am Verfahren formell Beteiligten reduziert sich dann auf die Frage der Beachtung der Verfahrensgrundrechte (Art. 101, 1031 GG), insbesondere auf die Gewährleistung des Anspruchs auf rechtliches Gehör. Entscheidend für diesen Anspruch ist der Grad der Betroffenheit i n einer materiellrechtlichen Position 1 0 9 . Zwar bleibt die nähere Ausgestaltung des rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) den einzelnen Verfahrensordnungen überlassen 110 . Sie hängt aber wiederum entscheidend von der materiellrechtlichen Position des Betroffenen und des Umfangs des Eingriffs i n diese ab. Entsprechendes gilt für diejenigen, die nicht formell am Verfahren beteiligt sind. Auch sie können trotz ihrer Nichtbeteiligung beschwert sein. Der Begriff der Beschwer i m Verfassungsbeschwerdeverfahren stellt nicht nur auf die formelle Beschwer eines Verfahrensbeteiligten ab, sondern er erfaßt auch die materielle Beschwer. Sie kann zum einen i n der Verletzung der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) liegen 1 1 1 . Zum anderen kann auch hier der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) gegeben sein. Gerade bei den Drittbeteiligten ist für die Zuerkennung des rechtlichen Gehörs nicht der Schluß von der Ausgestaltung der verfahrensrechtlichen Position her zu ziehen. Maßgeblich für die Einräumung eines Anhörungsrechts ist der Grad der Betroffenheit i n der materiellen Position. Diese Aussage mag zwar für die übliche Praxis i m Prozeßrecht zunächst problematisch erscheinen 112 , sie ist aber die notwendige Konsequenz eines von der materiellen Verfassung ausgehenden Verständnisses der Interpretation des Verfassungsprozeßrechts, i n concreto der „Beschwer" als Sachentscheidungsvoraussetzung der Verfassungsbeschwerde, ιοβ So Erichsen, StaatsR u n d VerfGbarkeit I, S. 65. io? BVerfGE 7, 198 (207); 18, 85 (92); 25, 256 (263 ff.); 30, 173 (187 f.). io» 109 no m us
Erichsen, S. 66. v g l . Zeuner, S. 24 ff., 56. BVerfGE 18, 399 (405); B a y V e r f G H BayVBl. 1975, S. 585 (586). So R. Schneider, S. 57. Vgl. dazu auch R. Schneider, S. 57.
3.5. Geltung neuer Verfahrensvorschriften
77
3.4. Die Mündlichkeit der Widerspruchsverhandlung bei der einstweiligen Anordnung gem. § 32 BVerfGG (BVerfGE 32, 345 (346)) Zur Mündlichkeit der Verhandlung nach einem Widerspruch gegen eine einstweilige Anordnung des BVerfG (§32 Abs. 3 S. 3 BVerfGG) legt das Gericht dar 1 1 3 , daß die gesetzliche Regelung nach Sinn und Zusammenhang einen zulässigen Widerspruch voraussetze. Nach der Begründung unter systematischen und teleologischen Kriterien verweist es weiter auf einen allgemeinen Grundsatz des Prozeßrechts entsprechenden Inhalts. Es führt so seiner Argumentation einen weiteren Begründungsaspekt hinzu. 3.5. Geltung neuer Verfahrensvorschriften für anhängige Verfahren (BVerfGE 1, 4) Bereits i n einer ganz frühen Entscheidung zum Verfassungsprozeßrecht stützt sich das BVerfG auf die Geltung eines A. P. 1 1 4 . Es zeigt auf, daß nach allgemeinen Grundsätzen des Verfahrensrechts neue Verfahrensvorschriften auch für anhängige Verfahren gelten. Rechtskräftig abgeschlossene Verfahren würden davon nicht mehr berührt. Es belegt die Geltung des Α. P. mit Nachweisen aus der Rspr. der Verwaltungsgerichte und aus der zivil- und verwaltungsprozessualen Literatur. Es verwirft daher eine Verfassungsbeschwerde, die sich gegen Gerichtsurteile wandte, die vor Einführung der Verfassungsbeschwerde durch das BVerfGG rechtskräftig geworden waren 1 1 5 . I n einer weiteren Entscheidung zu diesem Problemkreis führt das Gericht aus 1 1 6 , daß der allgemeine Grundsatz nicht anzuwenden sei, wenn sich aus neuem Recht etwas anderes ergebe 117 . Dieser Hinweis des Gerichts macht deutlich, daß es eine Qualifizierung der Α. P. als Rechtsnormen durchaus i n Betracht zieht, sogar von ihrer Normqualität ausgeht. Denn seine Bemerkung, daß der Grundsatz nicht eingreife, wenn sich aus neuem Recht etwas anderes ergebe, setzt voraus, daß Α. P. gesetzlichen Regelungen auch vorgehen könnten. Das BVerfG erliegt an dieser Stelle nicht den sich aus einem derartigen Verständnis von Allgemeinen Prozeßgrundsätzen erwachsenden Gefahren, die zu einer Zurückdrängung der gesetzlichen Regelung hinter die Α. P. führen könnten. Damit sind diese lis BVerfGE 32, 345 (346); entsprechend BVerfGE 35, 12 (14). 114 BVerfGE 1, 4. us BVerfGE 1, 4 (5); i n E l , 433 (435) bezeichnet das B V e r f G sein entsprechendes Vorgehen bereits als ständige Rechtsprechung. lie BVerfGE 6, 55 (61) — zu § 80 Abs. 4 a. F. BVerfGG. il? I n BVerfGE 11, 139 (146 f.) — Kostenrechtsnovelle — bezieht sich das Gericht ebenfalls auf einen entsprechenden Grundsatz. Dieser entspringt hier einer „einhelligen u n d gefestigten Rechtsprechung und Lehre".
7 8 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
Gefährdungen des (Verfahrens-)Gesetzes aber nicht für immer beiseite geschoben. Eine materiellrechtlich bestimmte Interpretation von Verfassungsprozeßrecht verringert sie zumindest, trotz der angenommenen Geltung von Α. P. Auch spätere Entscheidungen des BVerfG legen die dargestellte Rechtsprechung zugrunde 1 1 8 , ohne allerdings immer auf den angesprochenen A. P. zurückgreifen 110 .
3.6. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des BVerfG Das BVerfG greift i n einem weiteren Fall zur Abstützung seiner Argumentation auf einen „allgemeinen Grundsatz des Prozeßrechts" zurück 1 2 0 . Angesprochen ist der Umfang der Bindungswirkung seiner Entscheidungen. Anlaß waren erneute Vorlagen von Gerichten i m Verfahren der konkreten Normenkontrolle nach A r t . 100 Abs. 1 GG, obwohl das BVerfG die Verfassungsmäßigkeit der zu überprüfenden Norm bereits i n einem früheren Verfahren bejaht hatte. Das Gericht führt aus: „Die Rechtskraft einer gerichtlichen Entscheidung bezieht sich stets auf den Zeitpunkt, i n dem die Entscheidung ergeht. Sie erfaßt also nicht solche Veränderungen, die erst später eintreten. Denn jede gerichtliche Erkenntnis geht von den zu seiner Zeit bestehenden Verhältnissen aus. Deshalb hindert die Rechtskraft auch nicht die Berufung auf neue Tatsachen, die erst nach der früheren Entscheidung entstanden sind. Dieser allgemeine Grundsatz des Prozeßrechts findet auch i n verschiedenen Vorschriften des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes eine Stütze (vgl. §§ 41, 47, 96 BVerfGG)." Die vom BVerfG vorgenommene Bezugnahme auf diesen Α. P. trägt wenig zur Klärung der Problematik bei. Das soll i m folgenden belegt werden. Der entscheidende Gesichtspunkt ist, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen das BVerfG eine Norm erneut überprüfen kann, obwohl es ζ. B. i n einem früheren Normenkontrollverfahren die Verfassungsmäßigkeit dieser Vorschrift bejaht hatte 1 2 1 . Die Beantwortung 118
BVerfGE 24, 33 (55): „einhellige Ansicht" — zum Ausschluß der V e r fassungsbeschwerde durch Gesetz, u» BVerfGE 39, 156 (167) zum Strafprozeßrecht. 120 BVerfGE 33, 199 (203 f.) — dazu Wenig, DVB1. 1973, S. 345 ff.; zur Bindung des B V e r f G an seine Entscheidungen vgl. bereits E 20, 56 (87 f.). Danach k a n n aus den §§ 96, 41 B V e r f G G kein allgemeiner verfahrensrechtlicher Grundsatz hergeleitet werden. — s. jetzt a u d i BVerfGE 39, 169 ff. = N J W 1975, S. 919 m. A n m . v o n Zuck, ebd., S. 922. 121 s. dazu v o r allem H. G. Rupp, Festschr. Kern, S. 403 ff.; Brox, Festschr. Geiger, S. 809 ff.; Zuck, N J W 1975, S. 907 ff.; Maassen, N J W 1975, S. 1343 ff.;
3.6. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des B V e r f G
79
dieser Frage führt i n zentrale Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem Grundgesetz. Angesprochen ist der Umfang des Innovationspotentials der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit. Die Frage läßt sich demgemäß nicht isoliert aus prozeßrechtlichen Regeln beantworten, sondern muß i n den größeren Zusammenhang des grundsätzlichen Verständnisses des Verfassungsprozeßrechts und der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit allgemein gestellt werden. Dieser notwendige Ansatz w i r d i n einem späteren Abschnitt der A r b e i t 1 2 2 ausführlich behandelt. Er kann deshalb an dieser Stelle nur stichwortartig dargelegt werden. Das (Vor-)Verständnis von Verfassungsprozeßrecht ist von ausschlaggebender Bedeutung jedenfalls dann, wenn man das Prozeßrecht nicht als „rein technisches Recht" 1 2 3 betrachtet, sondern es, wie hier, bestimmt sieht durch seine Zuordnung zum materiellen Recht (der Verfassung). Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht können nicht isoliert behandelt werden. Ein „dynamisches" Verständnis der Verfassung 1 2 4 und damit auch des Verfassungsprozeßrechts w i r d eine umfassende „Selbstbindung" des BVerfG nicht bejahen und eine „Selbstbindung" überhaupt nur unter strengen Modilitäten zulassen können. Diese verwehrte es nämlich der Verfassungsgerichtsbarkeit, sich aktuellen Entwicklungen der Verfassung und ihrer Wirklichkeit zu stellen. Die Beschränkung des Umfangs der Selbstbindung dient damit der A u f rechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit 1 2 6 . 3.6.1. Die materielle Rechtskraft als Ausgangspunkt der Bindungswirkung
Für die konkrete Untersuchung des Ausmaßes der Selbstbindung muß auf das Institut der materiellen Rechtskraft i m Verfassungsprozeßrecht abgestellt werden 1 2 6 . Z u fragen ist nach dem Umfang der materiellen speziell zur Bindungswirkung von Entscheidungen i m Verfassungsbeschwerdeverfahren s. Endemann, Festschr. G. Müller, S. 21 ff. — Jetzt: Vogel, Rechtsk r a f t u n d Gesetzeskraft der Entscheidungen des BVerfG, B V e r f G u n d GG, Bd. I , S. 568 ff. 122 Dazu unter 5. 123 So früher f ü r das Zivilprozeßrecht Fr. Stein, Grundriß des Zivilprozeßrechts u n d des Konkursrechts, V o r w o r t zur 1. Aufl.; gegen diese Sicht F. Baur, Gutachten f ü r den 42. Dt. Juristentag, S. 7 Fn. 2 a. 1 2 4 s. dazu näher unter 5.3. 125 Zuck, ebd., S. 910, macht diesen Zusammenhang zwischen materiellem (Verfassungs-)Recht u n d dem formellen Recht der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht deutlich genug. Seine Zurückführung der „Eigenständigkeit" des Verfassungsprozeßrechts auf den politischen Charakter des Verfassungsrechts beleuchtet n u r einen T e i l der Problematik. i2e Materielle u n d formelle Rechtskraft sind i m B V e r f G G nicht ausdrücklich angesprochen worden. Sinn des Instituts der Rechtskraft ist es, widersprechende Urteile über ein u n d dieselbe Sache zu verhüten (Schwab, JuS 1976, S. 69 [74]). Insofern w i r d man davon ausgehen können, daß die
8 0 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
R e c h t s k r a f t , i h r e n s u b j e k t i v e n u n d o b j e k t i v e n Grenzen, i h r e m B e z u g z u r (allgemeinen) B i n d u n g s w i r k u n g des § 31 A b s . 1 B V e r f G G u n d z u r Gesetzeskraft v o n verfassungsgerichtlichen E n t s c h e i d u n g e n gem. § 31 Abs. 2 B V e r f G G . V o r a u s s e t z u n g d e r m a t e r i e l l e n R e c h t s k r a f t ist d i e formelle Rechtsk r a f t , d. h. d i e U n a n f e c h t b a r k e i t einer g e r i c h t l i c h e n E n t s c h e i d u n g 1 2 7 . U n t e r m a t e r i e l l e r R e c h t s k r a f t w i r d d i e rechtliche M a ß g e b l i c h k e i t des Gegenstandes d e r f o r m e l l r e c h t s k r ä f t i g e n E n t s c h e i d u n g eines Gerichts verstanden. D i e E n t s c h e i d u n g e n des Bundesverfassungsgerichts s i n d n i c h t a n f e c h t b a r 1 2 8 . Sie w e r d e n d a h e r f o r m e l l r e c h t s k r ä f t i g 1 2 9 . Sie erwachsen auch i n m a t e r i e l l e r R e c h t s k r a f t 1 3 0 . Diese w i r k t z u m e i n e n f ü r u n d gegen d i e B e t e i l i g t e n des Verfassungsprozesses, sie b i n d e t aber z u m a n d e r e n das G e r i c h t s e l b s t 1 3 1 , d. h., sie i s t v o n i h m v o n A m t s w e g e n z u beachten. D i e B i n d u n g des G e r i c h t s d u r c h d i e m a t e r i e l l e R e c h t s k r a f t m u ß v o n d e r B i n d u n g s W i r k u n g gem. § 31 A b s . 1 B V e r f G G u n t e r s c h i e d e n w e r d e n 1 3 2 . D i e Bindung, die i h r e Begründung i n der Letztentscheidungsk o m p e t e n z des B V e r f G i n F r a g e n d e r V e r f a s s u n g s a u s l e g u n g findet 133, e r s t r e c k t sich nach der herrschenden M e i n u n g ü b e r d i e objektiven Anwendbarkeit des Instituts der Rechtskraft auch i m Verfassungsprozeßrecht aus der gerichtlichen F u n k t i o n des BVerfG, friedensstiftend zu w i r k e n , folgt (so auch Maassen, S. 1344). Schick, N J W 1975, S. 2169 (2172), bezeichnet die Rechtskraft i n diesem Zusammenhang als „allgemeines prozeßrechtliches I n s t i t u t " . — Auch an dieser Stelle w i r d das Fehlen einer spezifischen Theorie des Verfassungsprozeßrechts deutlich. 127 Die materielle Rechtskraft w i r d nach der i n der Zivilprozeßrechtslit. herrschenden prozessualen Rechtskrafttheorie als I n s t i t u t verstanden, das n u r prozessuaie W i r k u n g e n zeitigt. Das rechtskräftige U r t e i l hat danach keine Auswirkungen auf das materielle Recht. Urteilskollisionen werden durch das Verbot einer neuen Klage m i t demselben Streitgegenstand v e r mieden — ne bis i n idem — (zum ganzen m i t Darstellungen des Streitstandes und Nachw. aus Rspr. u. L i t . Schwab, S. 73 f.). Von einer Verbindung der materiellen u n d prozessualen Rechtskrafttheorien gehen Schumann / Leipold, Stein/Jonas, ZPO, §322, A n m . I I I , 5, aus I n diesem Sinne auch die A u f fassung von Bruns, Zivilprozeßrecht, S. 395 f. 128 v g l . Maunz i n Maunz / Sigloch, § 31, Rdnr. 6. 129
Ganz h. M.; s. z.B. Zuck, S. 908 m. N.; Maassen, S. 1344. Die materielle Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen bejahend: BVerfGE 4, 31 (38); 5, 34 (37 f.); 20, 56 (86); Maunz t §31, Rdnr. 7; Lechner, §31, zu Abs. 1 (S. 299); Brinckmann, Das entscheidungserhebliche Gesetz, S. 148; Brox, S. 813 ff.; Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (337); Maassen, S. 1344; Zuck, S. 908; a. A. z.B. Friesenhahn, Festschr. Ambrosini, S. 697, der die materielle Rechtskraft n u r auf kontradiktorische Streitigkeiten beziehen w i l l ; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 294 ff., m i t einer Beschränkung auf die Fälle der §§ 41, 61 u n d 96 BVerfGG. ist Brox, S. 814; Zuck, S. 908. 132 Brinckmann, S. 149; Zuck, S. 908; ders., JuS 1975, S. 695 (697); dazu auch Schick, N J W 1975, S. 2169 (2175). iss BVerfGE 40, 88 (94); Schick, S. 2172. 130
3.6. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des B V e r f G
81
Grenzen der Rechtskraft, b e i der n u r der Tenor der Entscheidung i n R e c h t s k r a f t e r w ä c h s t 1 3 4 , h i n a u s auch a u f d i e d i e E n t s c h e i d u n g t r a g e n d e n G r ü n d e 1 3 5 . I n s o w e i t u n t e r s c h e i d e t sich d i e W i r k u n g des § 31 A b s . 1 v o n d e r a l l e i n a u f d e r m a t e r i e l l e n R e c h t s k r a f t b e r u h e n d e n B i n d u n g , die sich n u r a u f d e n E n t s c h e i d u n g s t e n o r bezieht. I m s u b j e k t i v e n B e r e i c h e r w e i t e r t § 31 I B V e r f G G d e n U m f a n g d e r B i n d u n g s w i r k u n g aus d e r m a t e r i e l l e n R e c h t s k r a f t , — w o b e i s t r i t t i g ist, ob d i e B i n d u n g s w i r k u n g a u f d e r m a t e r i e l l e n R e c h t s k r a f t b e r u h t 1 3 6 , — a u f d i e O r g a n e des Staates auch i n d e n F ä l l e n , i n denen die E n t s c h e i d u n g e n des Gerichts n i c h t i n Gesetzeskraft e r w a c h s e n 1 3 7 . H i e r i n b e s t e h t d e r U n t e r s c h i e d z u r Gesetzesk r a f t des § 31 A b s . 2 B V e r f G G , d e r a l l e u n t e r l i e g e n 1 3 8 . D i e h. M . v e r s t e h t u n t e r d e r S e l b s t b i n d u n g des B V e r f G n u r seine B i n d u n g a n d i e m a t e r i e l l e R e c h t s k r a f t verfassungsgerichtlicher E n t s c h e i d u n g e n 1 3 9 . A n s o n s t e n w i r d nach dieser A u f f a s s u n g das G e r i c h t n i c h t v o n d e n W i r k u n g e n des § 31 B V e r f G G erfaßt. D i e S e l b s t b i n d u n g w i r d d a n n als a u f g e h o b e n a n g e s e h e n 1 4 0 , w e n n neue Tatsachen oder eine 134 Lechner, § 31, zu Abs. 1 (S. 229). 135 BVerfGE 19, 377 (391 f.); 20, 56 (87); 24, 289 (297); 40, 88 (93); so auch B V e r w G E 18, 177 (179); 24, 1 (2); Friesenhahn, Festschr. Abrosini, S. 670 (700); Geiger, Wandlungen der rechtsstaatlichen Verwaltung, S.120f.; s. a u d i Brinckmann, S. 150 m. w . N.; a. A. Imboden, Festschr. H. Huber, S. 133 (146); Wenig, DVB1. 1973, S. 345 (347); Hoffmann-Riem, insbes. S. 362; Wilke / Koch, JZ 1975, S. 233 (238). 136 v g l . einerseits bejahend Brox, S. 814; andererseits verneinend Zuck, S. 908; Hoffmann-Riem, S. 362. — Der Umfang der B i n d u n g s w i r k u n g ist eines der großen ungelösten Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit. So w i r d die Bindungswirkung i n i h r e m Umfang von den beiden letztgenannten Autoren vollkommen unterschiedlich beurteilt. Zuck w i l l die Bindung über den Verfahrensgegenstand hinaus auf alle gleichgelagerten Fälle ausdehnen. Hoffmann-Riem, S. 364, verneint eine Erstreckung der Bindungswirkung auf Parallel- sowie Verbund- u n d Folgefälle. — Interessant ist i n diesem Zusammenhang der von Schick, S. 2172, vorgeschlagene Lösungsweg, den Umfang der Bindung durch eine verfassungsgerichtliche Entscheidung zu erfassen. Schick differenziert zwischen einem s t r i k t bindenden Entscheidungskern, einem Entscheidungshof m i t weniger strenger Bindung u n d nicht bindenden Passagen. Diese Klassifizierung dürfte auch der tatsächlichen W i r k u n g verfassungsgerichtlicher Entscheidungen entsprechen. — Je näher die Gründe am Entscheidungskern liegen, desto größere Anforderungen werden an ihre Aussageklarheit u n d die Begrenzung durch die Entscheidungsfrage gestellt. Der Entscheidungsgegenstand ( = Streitgegenstand) ist es nämlich, der den Entscheidungskern bestimmt. 137 So auch Maassen, S. 1345. iss Kritisch zur Bedeutung der Gesetzeskraft des § 31 I I B V e r f G G : Scheuner, DÖV 1954, S. 641 (645); Friesenhahn, Festschr. Ambrosini, S. 702 ff. Die Problematik der Bindungswirkung liegt v o r allem darin, daß das B V e r f G i m Wege einer Kopplungsklausel pauschal alle Gründe i n die Bindungsw i r k u n g einschließen k a n n u n d auch einschließt (vgl. ζ. B. BVerfGE 36, 1 [36]) — gegen dieses Vorgehen m i t guten Gründen Wilke / Koch, S. 234 ff. 13® Vgl. Zuck, S. 909 m. N. i n Fn. 45; Maassen, S. 1345. 140 So ausdrücklich Zuck, S. 909 m. N. 6 Engelmann
8 2 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
Änderung der Rechtslage oder eine Änderung der allgemeinen Rechtsauffassung gegeben ist 1 4 1 . Für die Frage des Umfangs und der Voraussetzungen der Selbstbildung sind i n letzter Zeit i n der Literatur drei Lösungsansichten vorgetragen worden. 3.6.2. Abhängigkeit des Ausmaßes der Selbstbindung vom Streitgegenstand
Die von Brox vertretene Auffassung 1 4 2 setzt sich m i t der Selbstbindung des BVerfG i n Normenkontroll- und Verfassungsbeschwerdeverfahren auseinander. Brox geht vom Institut der materiellen Rechtsk r a f t 1 4 3 aus und legt dar, daß nur der Tenor einer Entscheidung in materieller Rechtskraft erwächst 144 . Der Tenor richtet sich wiederum nach dem der Entscheidung zugrundeliegenden Streitgegenstand 146 . I m Verfassungsprozeßrecht gibt es keinen einheitlichen, übergreifenden Streitgegenstand. Dieser muß vielmehr für jede verfassungsgerichtliche Verfahrensart gesondert bestimmt werden 1 4 6 . Abzuheben ist dabei nicht auf einen materiellrechtlichen Anspruch, sondern auf den i m Verfahren gestellten Antrag und den antragsbegründenden Sachverhalt 1 4 7 . Für die Normenkontrollverfahren folgt daraus, daß der Streitgegenstand von der verfassungsrechtlichen Norm, an der überprüft wird, und von der zur Überprüfung gestellten Norm einfachen Rechts gebildet wird148. 141 A l l e i n diesem Zusammenhang aufgestellten Voraussetzungen verlangen umfassende Analysen der gesellschaftlichen Verhältnisse. Z u den Schwierigkeiten, die sich bei der Bestimmung eines Begriffs w i e dem des „sozialen Wandels", der n u r durch Einbeziehung der Sozialwissenschaften erfaßt werden kann, f ü r die Rechtsprechung ergeben, s. Fiedler, Sozialer Wandel — Verfassungswandel — Rechtsprechung, S. 65 ff. 142 Brox, S. 809 ff. 143 Umstritten ist, ob Normenkontrollentscheidungen überhaupt rechtskraftfähig sind. Bejahend: BVerfGE 33, 199 (203); Brox, S. 810, 816; Zuck, S. 908; a. Α.: B a y V e r f G H 5, 166 (182 ff.) u n d st. Rspr. (vgl. Nachweise bei Brox, S. 810, Fn. 9); Wenig, S. 346 f. s. schon Friesenhahn, Festschr. Ambrosini, S. 697. 144 Brox, S. 815. 145
Vgl. Brox, S. 819; s. auch Goessl, S. 195: „Der Entscheidungsgegenstand bestimmt den objektiven Umfang der materiellen Rechtskraft." i 4 « Dazu auch Hoffmann-Riem, S. 348, 362 (hinsichtlich der B i n d u n g s w i r kung m i t einer Differenzierung zwischen Streit- u n d Entscheidungsgegenstand); Leibholz / Ruppr echt, vor §17, Rdnr. 2, die i m übrigen f ü r die Verwendung des Begriffs „Verfahrens-" statt Streitgegenstand votieren. 147 Vgl. Maunz, Maunz / Sigloch, §13, Rdnr. 11 m. N.; Leibholz / Ruppr echt, vor § 17, Rdnr. 2; Wenig, S. 348. 148 s. Brox, S. 820; Schmitz, S. 70; i m Ergebnis ebenso Wenig, S. 348. Bei der v o m B V e r f G i n E 20, 56 (86) vertretenen Auffassung, Gegenstand des Normenkontrollverfahrens seien „weder der A n t r a g noch die Anregungen
3.6. Die B i n d u n g s w i r k u n g v o n Entscheidungen des B V e r f G
83
Nach B r o x 1 4 9 unterliegt nun der Streitgegenstand und damit auch die materielle Rechtskraft einer Entscheidung zeitlichen Begrenzungen 15°. 151 M i t dem Abstellen auf das Zeitmoment kann nicht gemeint sein, daß eine Entscheidung des Gerichts allein wegen Zeitablaufs hinfällig wird, obwohl der Streitgegenstand derselbe geblieben ist. N u r können die sich i n der Zeit ergebenden Einwirkungen verschiedenster A r t den Streitgegenstand „umformen". Ausschlaggebend ist daher, unter welchen Voraussetzungen von einem neuen Streitgegenstand gesprochen und damit ein neues (Normenkontroll-)Verfahren zugelassen werden kann, wenn die zu überprüfende einfachgesetzliche und die einschlägige Verfassungsnorm — und das ist der kritische Punkt — jedenfalls ihrem Wortlaut nach 1 5 2 unverändert geblieben sind 1 5 3 . Bei dèr Veränderung der Rechtslage, also Veränderungen i m Normtext der i n Betracht kommenden Normen, liegt auf jeden Fall ein neuer Streitgegenstand vor. Ein neuer Streitgegenstand kann aber auch angenommen werden bei Einführung neuer Tatsachen bzw. einer wesentlichen Änderung des Lebenssachverhaltes 154 . Die vom BVerfG zu interpretierenden, sich aus dem Normtext ergebenden Normprogramme werden bestimmt durch die von ihnen erfaßten Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit. Das ergibt sich aus einer „wirklichkeitsorientierten" Verfassungsinterpretation 155 . Jede Interpretation von Recht hat auszugehen von einer Norm mit ihrem Normtext. Auch bei unterschiedlicher Auslegung verändert sich dieser nicht. Der Normtext als Gegenstand der Betrachtung, der i m wesentlichen das Normprogramm beinhaltet, bleibt derselbe. Er erhält aber erst seinen spezifischen Aussagewert i m Zusammenhang m i t der durch die Norm geformten Wirklichkeit. M i t der Einbeziehung des vom Normprogramm erfaßten Ausschnittes aus
u n d Rechtsbehauptungen der Antragsteller, sondern allein die von subj e k t i v e n Rechten u n d Rechtsauffassungen unabhängige Frage, ob ein bestimmter Rechtssatz gültig oder ungültig ist . . h a n d e l t es sich w o h l lediglich u m eine terminologische Differenzierung, deren sachliche Ausw i r k u n g gering erscheint. 149 S. 821. iso Ablehnend Wenig, S. 348. 151 Grundsätzlich zur Einbindung der Zeit i n die Interpretation von Verfassungsrecht: P. Häberle, Zeit u n d Verfassung, ZfP 21 (1974), S. I I I ff. s. weiter Kloepfer, Verfassung u n d Zeit, Der Staat 13 (1974), S. 457 ff. 152 Wenig, S. 349, h ä l t eine Änderung des Wortlauts f ü r notwendig. iss Bei dem v o m B V e r f G aufgestellten Erfordernis, daß vorgetragene neue Tatsachen geeignet sein müssen, eine von der früheren abweichende E n t scheidung des Gerichts zu ermöglichen — so BVerfGE 33, 199 (204), dazu Zuck, S. 909 — handelt es sich nicht u m eine Voraussetzung der Zulässigkeit, sondern u m eine Frage der Begründetheit. 154 BVerfGE 33, 199 (203); Brox, S. 822; Zuck, S. 909 m. N. 155 Vgl. P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (124) m . N . 6*
8 4 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
dem Gesamtbereich der Lebensverhältnisse, dem Norm ber eich 156, verändern sich die Ergebnisse der Norm interpretation 157. Der Normtext ist dabei Rahmen und Maßstab jeder Interpretation 1 5 8 . Er hat eine Grenzfunktion inne, die vom Interpreten nicht mißachtet werden darf 1 5 9 . Die Wirklichkeit w i r d so i n die zu prüfende Norm miteinbezogen. Bei dem Bestehen neuer Tatsachen bzw. dem Wandel des zugrundeliegenden Lebenssachverhaltes besteht trotz unveränderten Wortlauts keine Identität der Normen und damit auch keine des Streitgegenstandes. Die materielle Rechtskraft kann der erneuten Uberprüfung einer Norm nicht mehr entgegengehalten werden. Dies gilt auch für einen Wandel der allgemeinen Rechtsauffassung 160 . Er ist dann anzunehmen, wenn sich das inter pretatorische Verständnis der i n Betracht kommenden Verfassungsnormen 161 bzw. der zu überprüfenden Normen i n einem so starken Maße geändert hat, daß von einem neuen Inhalt der Normen ausgegangen werden muß. Das Vorliegen eines Wandels hat eine Analyse der Wirklichkeit i n Gestalt der interessierten Öffentlichkeit, der Fachliteratur, der Rechtsprechungstendenzen der Gerichte etc. zu ergeben 162 . Diese Entwicklung gerade der Verfassung über und durch fortlaufende Interpretation ist aber nur i m Rahmen der Normtextes, der die unabänderliche Grenze jeder verfassungsmäßigen Interpretation darstellt, möglich. Textkorrigierende Interpretation 1 6 3 wäre wegen der Bindung der Rechtsprechung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3, 97 Abs. 1 GG) 1 6 4 verfassungswidrig. Auch ein interpretatorisches Neuverständnis der fraglichen Norm bedingt einen neuen Streitgegenstand. Trotz unveränderten Normwortlauts bindet die materielle Rechtskraft der früheren Entscheidung das BVerfG nicht mehr 1 6 5 . 156 Die N o r m u n d das von der N o r m zu Ordnende, also der Zusammenhang von Sein und Sollen, verbinden sich i m Begriff des Normbereichs. 157 s. dazu F. Müller, Normbereiche von Einzelgrundrechten i n der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, S. 9 m. w. N. ; ders., Juristische Methodik, S. 107; Hesse, Grundzüge, S. 19; zu Hesses Verständnis von Verfassungsinterpretation Ekk. Stein, Festschr. Menzel, S. 3 (4 ff.). — Aus der Rspr. s. BVerfGE 34, 269 (288 f.). 158 Hesse, ebd., S. 30; F. Müller, N o r m s t r u k t u r u n d Normativität, S. 151 u. ö. 159 vgl. f. Müller, Normstruktur, S. 158.
160 Offen gelassen von BVerfGE 33, 199 (203); Brox, S. 822, bejaht i n diesem Falle das Vorliegen eines neuen Streitgegenstandes. lei Z u m Problem s. P. Häberle, ZfP 21, S. 129 f. 162 Hier ist der methodische Ansatz von P. Häberle, J Z 1975, S. 297 ff., fruchtbar zu machen, der die an der Verfassungsinterpretation faktisch u n d rechtlich Beteiligten m i t einbezieht. 163 Z u m gesetzeskorrigierenden Richterrecht: J. Ipsen, Richterrecht u n d Verfassung, S. 91 ff.; Chr. Starck, Die B i n d u n g des Richters an Gesetz u n d Verfassung, V V D S t R L 34 (1976), S. 43 (76 ff.). 164 Dazu Merten, DVB1. 1975. S. 677 ff.; H.-P. Schneider, D Ö V 1975, S. 443 ff.
3.6. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des B V e r f G
85
Diese Lösung, die sich aus dem methodischen Verständnis der Interpretation von Verfassungsrecht ergibt, w i r d gestützt durch einen Blick auf die Aufgaben der Verfassungsgerichtsbarkeit: Bei einem Wandel der allgemeinen Hechtsauffassung muß der Verfassungsgerichtsbarkeit ein Weg offen stehen, sich der Wirklichkeit der Verfassung zu stellen und diese in die Verfassungsrechtsprechung einzubinden. Das gelingt nur, wenn dem Gericht nicht der Zugang zu neuen Problemen durch die Rechtskraft früherer Entscheidungen versperrt wird. 3.6.3. Umfassendere Selbstbindung des Bundesverfassungsgerichts
I n eine andere Stoßrichtung als die Untersuchung von Brox, der lediglich auf die Bindung durch die materielle Rechtskraft abstellt, zielen die Auffassungen von Maassen und Zuck. Beide wollen die Bindung des BVerfG an seine Entscheidungen über den sich aus der materiellen Rechtskraft ergebenden Umfang hinaus ausdehnen. Maassen m geht ebenfalls davon aus, daß das BVerfG nur „ i n dem relativ engen Rahmen der materiellen Rechtskraft" an seine Entscheidungen gebunden ist. Er begründet sein Ergebnis vorrangig m i t einer „ganzheitlichen Auslegung" 1 6 7 des BVerfGG, indem er zur Interpretation des § 31 BVerfGG den § 16 BVerfGG heranzieht. § 16 setzt die grundsätzliche Möglichkeit voraus, daß ein Senat des BVerfG von der i n einer Entscheidung enthaltenen Rechtsauffassung des anderen Senates abweichen kann. Entgegen Maassen besagt § 16 aber gerade nichts darüber, ob die Bindung des einen Senates durch die materielle Rechtskraft verfassungsgerichtlicher Entscheidungen hervorgerufen w i r d oder ob sie auf einer weitergehenden Bindungswirkung aus § 31 BVerfGG beruht. Maassen befürwortet nun eine Selbstbindung des Gerichts auch i n den Fällen, i n denen es dem Gesetzgeber einen präzisierten und befristeten Gesetzgebungsauftrag erteilt hat 1 6 8 . Diese Bindung habe eine zeitliche und eine inhaltliche Komponente. Die Zeitkomponente reiche zum einen bis zum Ablauf der gestellten Frist. Zudem sei das Gericht an die Wege, die es dem Gesetzgeber i n seiner Begründung aufgezeigt und die dieser beschritten habe, gebunden. Das folge aus dem vom BVerfG aus der Verfassung hergeleiteten Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zwischen Verfassungsorganen, dem auch das Gericht unterliege 1 6 9 . les Gegen eine Berücksichtigung des Wandels durch Interpretation i n diesem Zusammenhang Leibholz/ Ruppr echt, Komm., Nachtrag, §31, zu A n m . 1, Rdnr. 1; reserviert Hoffmann-Riem, S. 343 Fn. 34. ιββ Maassen, N J W 1975, S. 1343 ff. 167
Z u m Prinzip der „ganzheitlichen Auslegung" s. unter 5.2.2. les s. 1346 f.
86
3. Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
Noch weiter als Maassen geht Zuck 110. Er propagiert eine Bindung des BVerfG im weiteren Sinne. Diese beziehe sich nicht wie die aus der materiellen Rechtskraft folgende nur auf denselben Verfahrensgegenstand, sondern auch auf dieselbe Rechtsfrage. Durchbrechungen dieser Bindung könnten nur i n dem für die Rechtskraftbindung geltenden Voraussetzungen erfolgen. Die Notwendigkeit dieser weiten Bindung ergäbe sich aus dem Status des BVerfG als oberstem Hüter der Verfassung und als Verfassungsorgan und aus der grundsätzlichen Bedeutsamkeit der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen. 3.6.4. Eigener Lösungsvorschlag
Bei dem Problem der Bindungswirkung von verfassungsgerichtlichen Entscheidungen handelt es sich u m eine der Grundsatzfragen der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit, nämlich der nach dem Stellenwert des Einflusses der Verfassungsgerichtsbarkeit auf die Entwicklung der Verfassung. Dieser Aspekt steht hinter der kontroversen Diskussion. Er durchzieht aber auch alle anderen wichtigen Problembereiche: so die Überlegungen, inwieweit Verfassungsgerichtsbarkeit „echte" Gerichtsbarkeit darstellt und inwieweit sich ihre Prüfzuständigkeit nur auf „rechtliche Streitigkeiten" erstreckt 171 . Er zeigt sich bei den Untersuchungen zum judicial self-restraint des BVerfG und darin, ob das BVerfG die politischen Folgen seiner Entscheidungen mitberücksichtigen muß 1 7 2 . Das alles sind Fragen, die sich i m Rahmen der Interpretation von Verfassungsprozeßrechtsnormen stellen. Es wäre aber verfehlt, sie aus dem Verfassungsprozeßrecht allein heraus beantworten zu wollen. Sie können nur vor dem Hintergrund eines funktional zu bestimmenden 173 Gesamtkräfteparallelogramms der Verfassungsorgane Bundesregierung, Bundestag, Bundesrat einerseits und Bundesverfassungsgericht andererseits 174 einer Lösung zugeführt werden. I m Hinblick auf diesen Zusammenhang ergibt sich, daß eine Entscheidung des BVerfG m i t ihrer Verfassungsauslegung die konkrete Verfassungsstreitigkeit verbindlich abschließt. Ebenso wie die Entscheidungen des Gesetzgebers der K r i t i k offenstehen und der Änderung auf Grund einer anderen verfassungsmäßigen Interpretation zugäng169
S. 1347. Z u diesem „Grundsatz des organfreundlichen Verhaltens" s. noch später unter 4.5. " ο Zuck, N J W 1975, S. 907 ff.; s. auch ders., N J W 1975, S. 922 (Urteilsanm.). 171 Dazu unter Gliederungspunkt 4. 172 s. unter 4.6. 173 Z u m funktionellrechtlichen Ansatz Ehmke, W D S t R L 20 (1963), S. 53 (73 f.); Hesse, Grundzüge, S. 29, 32 f.; P. Häberle, J Z 1975, S. 297. 174 Dafür ist auch wichtig, inwiefern das B V e r f G ein oberstes Verfassungsorgan ist. Dazu die Untersuchung unter 4.2.
3.6. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des B V e r f G
87
lieh sind 1 7 5 , so können die Entscheidungen des BVerfG nicht für die Ewigkeit binden. Sie bedürfen auf der anderen Seite aber einer gewissen Konstanz. Zwischen diesen Polen der Beweglichkeit — und damit der Funktionsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit — und der Rechtssicherheit ist ein Ausgleich jeweils im konkreten Einzelfall zu suchen. Verzichtet w i r d somit auf eine abstrakte Festlegung der Bindungswirkung. Entsprechend dieser Ausgangsbasis ergeben sich Folgerungen auf den beiden angesprochenen Ebenen: Das Gericht muß an seine Entscheidungen i m Grundsatz gebunden sein. Es kann sich von ihnen nur unter den für die Durchbrechung der materiellen Rechtskraft aufgestellten Voraussetzungen lösen 176 . Neben diesem Offenhalten der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit für die Entwicklungen der Wirklichkeit ist das Gericht auf der Ebene der Rechtssicherheit mehr als bisher i n die Pflicht zu nehmen. Das Gericht sollte auch der Bindung an die tragenden Rechtsausführungen seiner Entscheidungen unterliegen 1 7 7 . Ein einmal proklamierter Verfassungsgrundsatz kann nicht von heute auf morgen aufgehoben und das entsprechende Handeln des Gesetzgebers für verfassungswidrig erklärt werden. Dies ist wegen der für die Funktionsfähigkeit des Gerichts notwendigen Sachautorität, die sich allein bei einer gewissen Konstanz der Rechtsprechung einstellt, geboten. Zudem ist das BVerfG gehalten, die Interessenlage anderer Verfassungsorgane m i t zu berücksichtigen. Daraus folgt, daß bei anstehenden Änderungen der Rechtsprechung den „betroffenen" Verfassungsorganen, vor allem dem Bundestag, ausreichend Zeit gelassen wird, sich auf die neue Rechtslage einzustellen. Wegen des bisher schon konstatierten Öffentlichkeitsdefizits der Verfassungsrechtsprechung 178 , das durch die Abgeschlossenheit des gerichtlichen Verfahrens verstärkt wird, bedarf es besonderer „Vorwarnungsinstrumente", u m die betroffenen Verfassungsorgane, aber nicht nur sie, auf eine anstehende Änderung der Judikatur einzustimmen. Eine gewisse Funktion erfüllt i n diesem Rahmen das Sondervotum nach § 30 Abs. 2 BVerfGG, das i n abweichender Begründung bzw. Entscheidung andere, ggf. überzeugendere Argumente zur Diskussion stellt. Daneben ist vor allem an die bisherige Verfahrenspraxis des Gerichts zu denken, die Unvereinbarkeit einer Regelung m i t dem GG gegenwärtig n o d i nicht festzustellen 179 . Diese 175 F ü r verfassungsgerichtliche K r i t i k i n diesem Sinne auch Roth, JuS 1975, S. 617 (621). i™ Dazu oben unter 3.6.1. 177 So eindringlich auch Friesenhahn, Festschr. Ambrosini, S. 701. 178 Dazu schon oben unter 2.5.1. i™ Zuletzt BVerfGE 39, 169 (185). s. auch ebd., S. 194, wo das B V e r f G ausdrücklich berücksichtigt, daß sich der Gesetzgeber nach der früheren Entscheidung des B V e r f G auf die Verfassungsmäßigkeit der N o r m einstellen konnte.
8 8 3 .
Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
behutsamen Vorankündigungen erlauben es insbesondere dem Gesetzgeber, i n angemessener Zeit verfassungsmäßige Regelungen bereitzustellen. Unter Beachtung dieses „Vorverständnisses" von der notwendigen Begrenzung der Bindungswirkung lassen sich i m BVerfGG konkrete Anhaltspunkte dafür finden, daß die Entscheidungen des BVerfG nicht zeitlich unbeschränkt gelten müssen und sollen. Zunächst ist an den materiellrechtlichen Aspekt 1 8 0 der begrenzten Amtszeit der Bundes Verfassungsrichter (§ 4 Abs. 1 BVerfGG: Amtszeit von zwölf Jahren) und den Ausschluß ihrer Wiederwahl (§ 4 Abs. 2 BVerfGG) zu denken. Die Ausübung des Bundesverfassungsrichteramtes auf Lebenszeit ist vom Gesetzgeber deshalb nicht eingeführt worden, u m die Angleichung der Rechtsprechung an die Entwicklung der allgemeinen Lebensverhältnisse offenzuhalten 181 . A u f derselben Linie liegt der Ausschluß der Wiederwahl. Eine erstarrte und damit der Wirklichkeit u. U. nicht mehr gerecht werdende Rechtsprechung kann auf dem Weg über eine neue Zusammensetzung des Gerichts aufgebrochen und damit modifiziert werden 1 8 2 . Die angeführten Bestimmungen sprechen per se gegen die unbegrenzte Gültigkeitsdauer verfassungsgerichtlicher Entscheidungen. Weiter ist auf § 16 BVerfGG zu verweisen 1 8 3 . Die Vorschrift stellt auf den Konfliktfall ab, daß der eine Senat des BVerfG von der Rechtsprechung des anderen Senates abweichen w i l l . Diese Regelung ist zwar zum einen nur notwendige Konsequenz der Ausgestaltung des BVerfG als Gericht mit zwei Spruchkörpern. Sie setzt darüber hinaus auch incidenter die grundsätzliche Änderungsmöglichkeit der Rechtsprechung i n einer Frage der Verfassungsauslegung voraus. Daneben bietet die Publizität des Sondervotums (§ 30 Abs. 2 BVerfGG), wie P. Häberle hervorhebt, einen „Ansatz für geänderte Verfassungsinterpretation (über geänderte Öffentlichkeitskristallisationen)" 1 8 4 und impliziert die Nichtbindung des BVerfG an seine Rechtsprechung. Ebenfalls aus § 30 Abs. 2 BVerfGG zieht Hoffmann-Riem 185 Folgerungen für den Umfang der Bindungswirkung. Er sieht wegen der gesetzlichen Zulassung des Sondervotums und die dadurch u. U. möglichen mehreren Ebenen der Entscheidungsbegründung die Bindung an 180 Uber die theoretische Begründung der Einbindung des materiellen Rechts i n die Interpretation des Verfassungsprozeßrechts s. unter 5. 181 Lechner, § 4, zu Abs. 1. 182 I n diesem Sinne auch Ermacora, A l l g . Staatslehre, 2. Teilbd., S. 784. 183 Maassen, S. 1347. 184 p . Häberle, ZfP 21, S. 120 Fn.69; vgl. auch ders., J Z 1975, S. 297 (303). 186 Hoffmann-Riem, S. 356.
3.6. Die Bindungswirkung von Entscheidungen des B V e r f G
89
die Entscheidungsgründe ausgeschlossen, da es dann die Entscheidungsgründe nicht gebe. Gegen die Tendenz des BVerfG, den tragenden Gründen seiner Entscheidungen Bindungswirkung zuzusprechen 186 , wendet sich Endemann unter Hinweis auf § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG 1 8 7 . Wenn der Gesetzgeber von einer Bindung an die Entscheidungsgründe ausgegangen wäre, sei das Wiederholungsverbot des § 95 I 2 BVerfGG unnötig. Aus dem Vorgesagten ergibt sich: Das BVerfG w i r d weder durch die BindungsWirkung des § 311 BVerfGG noch durch die Gesetzeskraft gem. § 31 I I BVerfGG an seine Entscheidungen i n der A r t gebunden, daß es nicht mehr von ihnen abweichen dürfte. Die Selbstbindung des BVerfG beruht also nicht unmittelbar auf § 31 BVerfGG. Dessen absolute Bindung, die keine Durchbrechung erlaubt, richtet sich u. a. nur an Verfassungsorgane, die der Letztentscheidungskompetenz des BVerfG untergeordnet sind, nicht an das BVerfG. Dies ergibt sich aus den dargestellten Vorschriften des Verfassungsprozeßrechts, die von der Möglichkeit eines Abweichens des BVerfG von seinen Entscheidungen ausgehen. Die Bindungswirkung des § 311 BVerfGG und ihr Umfang ist aber für die Bestimmung der Selbstbindung des Gerichts heranzuziehen, da die Selbstbindung auf der Seite des BVerfG das die Bindungswirkung auf der Seite derer, die ihr unterliegen, notwendig ergänzende Gegenstück ist. Die Bindungs Wirkung des § 311 BVerfGG w i r k t auf das BVerfG zurück. Die Selbstbindung des Gerichts beruht damit nicht vorrangig auf der materiellen Rechtskraft der Entscheidungen, die lediglich als Ausgangsbasis für die Bindungs Wirkung des § 311 eine Rolle spielt. Da die von der materiellen Rechtskraft erzeugte Bindung durch § 31 umfassend erweitert wird, t r i t t die Bedeutung der materiellen Rechtskraft und ihrer Bindung i m verfassungsgerichtlichen Verfahren zurück. Gerade die auf § 31 Abs. 1 und 2 beruhende Bindungswirkung begründet zum wesentlichen Teil die überragende Stellung des BVerfG i m Verfassungsgefüge. — Als Gegenstück dieser Bindungsw i r k u n g erstreckt sich die Selbstbindung des BVerfG auch nur soweit. wie der Umfang der Bindungswirkung reicht. Besteht also eine Bindung gem. § 311 an die tragenden Gründe einer Entscheidung, so ist auch das BVerfG an sie, jedenfalls grundsätzlich, gebunden. — Aus der oben skizzierten Bedeutung der Verfassungsgerichtsbarkeit i m Gesamtgefüge der Verfassung ergibt sich, daß das BVerfG beim Vorliegen noch näher zu bestimmender Gründe von der Bindung an seine eigenen Entscheidungen befreit sein muß. Eine Bindung des BVerfG besteht jedenfalls — i n Ubereinstimmung mit der überwiegenden 186
s. die Nachweise oben unter 3.6.1., Fn. 135. ι 8 7 Endemann, Festschr. G. Müller, S. 21 (24).
90
3. Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
Meinung i n der Literatur — dann nicht mehr, wenn die Entscheidungen des BVerfG deshalb keine Wirkungen mehr zeitigen, weil sich neue Tatsachen ergeben haben, sich die Rechtslage oder die allgemeine Rechtsauffassung geändert hat. — Das BVerfG ist — aus Gründen der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes der betroffenen Verfassungsorgane — bei bevorstehenden Änderungen seiner Rechtsprechung gehalten, diese, soweit möglich, langfristig anzukündigen. Eine Selbstbindung des BVerfG i m beschriebenen Umfang garantiert ausreichende Rechtssicherheit, erlaubt aber zugleich ein behutsames Anpassen der Rechtsprechung an die Wirklichkeit der Verfassung. 3.6.5. Ergebnis
Als Ergebnis der vorstehenden Ausführungen ist festzuhalten, daß der Rückgriff i n der Ausgangsentscheidung (E 33, 199 (203 f.)) auf A l l gemeine Prozeßgrundsätze als solcher zur Klärung der entscheidenden Fragen nichts beitragen konnte. Für die Bestimmung des Umfangs der Bindungswirkung ist vielmehr bei einem Verständnis von Verfassungsprozeßrecht anzusetzen, daß seine Interpretation an die Grundprinzipien der Verfassung(sinterpretation) anbindet. Verfassungsprozeßrecht w i r d somit ein Instrument zur Aktualisierung der Verfassung.
3.7. Ablehnung des Rückgriffs auf Allgemeine Prozeßgrundsätze Das BVerfG lehnt i n anderen Entscheidungen den Rückgriff auf Α. P. bzw. Grundsätze anderer Verfahrensordnungen ab 1 8 8 . So führt es zum Institut der perpetuatio fori aus, daß „Grundsätze aus anderen Verfahrensarten auf die Verfassungsgerichtsbarkeit nicht ohne weiteres Anwendung finden können" 1 8 9 . Das BVerfG stellt hier selbst die Voraussetzung auf, daß es für die Anwendbarkeit Α. P. i m Verfassungsprozeßrecht zumindest des Nachweises der Geeignetheit bedürfe. Offen bleibt, an welchen inhaltlichen Maßstäben sich die Geeignetheit der Α. P. erweist. I n weiteren Entscheidungen 190 verneint das BVerfG die Möglichkeit des Rückgriffs auf Α. P. wegen der abschließenden gesetzlichen Regelung des BVerfGG. 188 BVerfGE 1, 108 (109): Die Grundsätze des Strafprozesses können i m verfassungsgerichtlichen Verfahren keine Anwendung finden» 189 BVerfGE 6, 376 (383). leo BVerfGE 2, 300 (306); vgl. auch E 4, 31 (37); i n E 18, 133 (134 f.) geht das B V e r f G auf die Frage der Geltung eines allgemeinen Verfahrensgrundsatzes der Kostenerstattung nicht abschließend ein.
3.8. Grundsätze der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit
91
3.8. Rückgriff auf „Grundsätze der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit" (BVerfGE 3, 267 (269 f.)) I n den größeren Problemzusammenhang der vorliegenden Arbeit fällt auch der Rückgriff des BVerfG auf „Grundsätze der Staatsrechtslehre der Weimarer Z e i t " 1 9 1 . Das BVerfG sah sich zumindest i n der Anfangsphase seiner Rechtsprechungstätigkeit zu diesem Rückgriff gezwungen, u m eine Grundlage für die Bearbeitung des „juristischen Neulandes" Grundgesetz zu haben. I n Frage stand die verfassungsgerichtliche Durchsetzbarkeit von Rechten eines i n einem Bundesland eingegliederten, also untergegangenen Landes aus einem Staatsvertrag, den es zuvor i m Hinblick auf seine Eingliederung m i t dem zukünftigen Rechtsnachfolger geschlossen hatte19® und aus dem sich i n der Regel Ansprüche für eine weiterbestehende Gebietskörperschaft, ζ. B. eine Kreisstadt oder einen Landkreis, ergaben. Eine Bejahung der Zuständigkeit des BVerfG für diesen Streit zwischen dem Nachfolgeland und der aus dem Vertrag berechtigten Gebietskörperschaft w a r überhaupt nur i m Rahmen der Vorschrift des Art. 931 Nr. 4 GG i . V . m . §13 Nr. 8, §§ 71 ff. BVerfGG möglich. Damit w a r zugleich die materiellrechtliche Bewertung der i n Frage stehenden Staatsverträge vorgezeichnet. Die rechtstheoretisch durchaus vertretbare Qualifizierung als Verträge zugunsten D r i t t e r 1 9 3 war ausgeschlossen, da die berechtigten Dritten, die noch bestehenden Gebietskörperschaften unterhalb der Landesebene, nicht Parteien eines entsprechenden Verfassungsstreites sein konnten. Das BVerfG mußte also, u m seine Zuständigkeit zu begründen, „eine A r t demokratischer Prozeßstandschaft" 194 für das untergegangene Land durch diejenigen Selbstverwaltungskörperschaften annehmen, i n denen die Bevölkerung des untergegangenen Landes inzwischen organisiert ist. Hier zeigen sich m i t voller Deutlichkeit die Auswirkungen, die die Interpretation von (Verfassungs-)Prozeßrecht auf die Auslegung des materiellen (Verfassungs-)Rechts haben kann. Die Auslegung des Prozeßrechts, hier der Vorschrift des § 71 I Nr. 2 BVerfGG, präjudiziert die Auslegung des materiellen Rechts, obwohl gerade das Verfassungsprozeßrecht mehr vom materiellen Recht her ausgelegt werden muß 1 9 5 . iei Z u r Schließung von Lücken i m G G durch vergleichende Heranziehung des Rechtszustandes unter der W R V G. Hoffmann, J Z 1961, S. 193 (199). 192 BVerfGE 3, 267 (279f.); zur Rechtsquelle der Rechtsprechung des Staatsgerichtshofes f ü r das Dt. Reich: Lechner, v o r §17, A n m . A. — Z u m Problem: Leisner, Der Bund-Länder-Streit v o r dem BVerfG, B V e r f G und GG, Bd. I, S. 260 (284 f.). ι®» Dazu ausführlich H. Schneider, Festschr. H. Schäfer, S. 25 (32 f.). H. Schneider, S. 33. 195 Z u diesem Zusammenhang zwischen Verfassungs- u n d Verfassungsprozeßrecht noch näher unter 5.
92
3. Allgemeine Prozeßgrundsätze u n d Verfassungsprozeßrecht
Entsprechend seiner Zielsetzung bejaht das BVerfG für die geschilderten Fälle seine Zuständigkeit und bezeichnet es, anschließend an Entscheidungen des RStGH, als einen „ f ü r ein geschlossenes Rechtsschutzsystem unentbehrlichen Grundsatz", daß das untergegangene Land insoweit als fortbestehend behandelt werden müsse, als es u m die Rechtsfolgen der Eingliederung gehe 196 . Ebenso argumentiert das Gericht i n E 4, 250 (268). Es bejaht unter Bezugnahme auf den dargestellten Grundsatz seine Zuständigkeit und die Aktivlegitimation der A n tragsteller 1 9 7 . Später stellt es nicht mehr auf den Grundsatz der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit ab, sondern führt nur noch seine eigene Judikatur an 1 9 6 . Die Rechtsprechung des RStGH bzw. der Grundsatz der Staatsrechtslehre der Weimarer Zeit w i r d vom BVerfG als gesicherte Erkenntnisquelle angesehen, auf die ein Rückgriff durchaus möglich ist 1 9 9 . Die Bezugnahme auf den Grundsatz hat aber i m Ergebnis keine große Bedeutung. Sie dient i n erster Linie nur der zusätzlichen Absicherung der Begründung. Die entscheidenden Lösungskriterien entwickelt das Gericht aus der Zusammenschau der A r t . 93 Abs. 1 Nr. 3 und 4 GG, nach denen das Gericht für alle verfassungsrechtlichen Streitigkeiten i m föderativen Bereich zumindest subsidiär zuständig sein sollte 2 0 0 .
3.9. Gesamtergebnis Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts müssen als Ausdruck einer grundlegenden Verfahrensgestaltung ihren Niederschlag i n Einzelregelungen des BVerfGG gefunden haben. Diese spezifisch verfassungsprozessuale Sicht der Prozeßgrundsätze hat eine Reihe von Konsequenzen. Zum einen bedarf es immer des detaillierten Nachweises der Geltung des Grundsatzes. Soweit sich i m Gesetz keine Anhaltspunkte ermitteln lassen, die für die Geltung eines bestimmten Grundsatzes sprechen, kann dieser nicht, wie es hier für die Dispositions- bzw. Offizialmaxime vertreten worden ist, i m Verfassungsprozeßrecht angewendet werden. Zum zweiten folgt daraus, daß bei der Annahme der Geltung von Grundsätzen nicht deren (meistens) zivilprozessualer Begriffsinhalt m i t auf das Verfassungsprozeßrecht zu übertragen ist. Maßstab ihrer inhaltlichen Festlegung ist das Verfassungsprozeßrecht, das 196 z u r Problematik ff. Schneider, S. 33 ff. i»7 Ebenso BVerfGE 13, 54 (86). 198 BVerfGE 22, 221 (231); 34, 216 (226); 38, 231 (237). 199 Kritisch zum entsprechenden Vorgehen des B V e r f G i n seiner W a h l rechts j u d i k a t u r Lipphardt, S. 181 f. 200
S. 93.
Z u m Ganzen s. noch Lechner, §13 Ziff. 8, A n m . 4 b ; vgl. auch Goessl,
3.9. Gesamtergebnis
93
wiederum i m Lichte der Verfassung interpretiert werden muß. Drittens ist bei einer Reihe von Prozeßgrundsätzen deren verfassungsrechtlicher Gehalt herauszufiltern, d. h., die Prozeßgrundsätze sind zu konstitutionalisieren (konstitutionelle Verfahrensprinzipien). Dieser Vorgang hat zu einer neuen Bewertung der wichtigsten Prozeßgrundsätze geführt. Für die Grundsätze der Mündlichkeit und Öffentlichkeit ist der Bezug zur Verfassung hergestellt und ihr Verfassungsgehalt dargelegt worden. Das Inbeziehungsetzen des Untersuchungsgrundsatzes zum Verfassungsrecht ergab (in Zusammenhang m i t anderen Vorschriften des BVerfGG) den Nachweis seiner überragenden Bedeutung für die Funktionsfähigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit. Der Untersuchungsgrundsatz und das Verfassungsprozeßrecht insgesamt als informationsoffenes Recht verlangen den Ausbau des Informationsinstrumentariums des BVerfG, auch über eine Einbeziehung der vom jeweiligen Verfahren (nur) materiell Betroffenen. Auch die vom BVerfG angewendeten A. P., deren Bestehen jeweils aus mehr als einer Verfahrensordnung nachzuweisen ist, dienen der Weiterentwicklung und Verrechtlichung des Verfassungsprozeßrechts. Voraussetzung ihrer rezeptiven Übernahme ist aber ebenfalls, daß sie an den Zielsetzungen des Verfassungsprozeßrechts und denen des zugehörigen materiellen (Verfassungs-)Rechts ausgerichtet werden. Dieser Ansatz führt ζ. B. zu einer differenzierten Bewertung der i m Verfassungsprozeßrecht zu praktizierenden Formenstrenge. Des weiteren w i r d eine für die Funktionsfähigkeit der „Sache" Verfassungsgerichtsbarkeit so entscheidende Frage wie die nach der (Selbst-)Bindung des BVerfG durch eigene Entscheidungen nicht unter Berufung auf einen Α. P. zu beantworten sein. Das übersteigt deren Leistungsfähigkeit i m Verfassungsprozeßrecht. Die Frage kann nur aus dem Gesamtzusammenhang der Verfassungsgerichtsbarkeit heraus einer Lösung zugeführt werden. Grundsätzliche Überlegungen und einschlägige Regelungen des BVerfGG sprechen für eine beschränkte Selbstbindung des BVerfG durch seine Entscheidungen.
4. Der Doppelstatus des BVerfG und seine Auswirkungen Die notwendige theoretische Begründung der hier vertretenen materiellrechtlichen Interpretation von Verfassungsprozeßrecht 1 erfordert ein Eingehen auf die institutionelle Ausgangslage der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit unter dem GG. Die Institution BVerfG steht auf zwei Füßen, der Eigenschaft als Gerichtshof des Bundes (Art. 92 GG, § 1 Abs. 1 BVerfGG) und der als oberstes Verfassungsorgan i m Bund (§ 1 Abs. 1 BVerfGG) 2 . Bedeutung und Auswirkung jeder dieser Aspekte für sich, aber auch ihr Ineinandergreifen, das als Ganzes erst die Eigenart der Institution ausmacht, manche ihrer „Besonderheiten" erklärt und die Grundlage für ein materielles Verständnis des Verfassungsprozeßrechts bilden kann, sind i m einzelnen umstritten (gewesen). 4.1. Das BVerfG als „echtes" Gericht Das BVerfG ist — über die formelle Zugehörigkeit zur Gerichtsbarkeit i. S. d. A r t . 92 GG hinaus — ein echtes Gericht. Es erläßt autoritative und damit verbindliche, verselbständigte Entscheidungen i n Fällen bestrittenen oder verletzten Rechts i n einem besonderen Verfahren 3 , 1
s. schon oben unter 3.5., 3.6. u. ö. 2 Vgl. BVerfGE 40, 356 (361) = N J W 1976, S. 283 m. A n m . von Zuck, ebd., S. 285. 3 So die w o h l heute überwiegend vertretene Bestimmung des materiellen Rechtsprechungsbegriffs m i t einer Verknüpfung formaler u n d materieller Elemente, s. insbesondere Scheuner, Festschr. Smend 1952, S. 268 (278). I m Anschluß daran Hesse, Grundzüge (8. Aufl.), S. 221, 226; H.-P. Schneider, DÖV 1975, S. 443 (447). Vgl. auch Billing , S. 36, 39. — s. jetzt Chr. Starch, V V D S t R L 34 (1976), S. 43 (65 f.); zustimmend Scheuner, W D S t R L 34 (1976), S. 96 (Diskussion). — Das B V e r f G hat noch nicht abschließend zum Begriff der „rechtsprechenden Gewalt" i n A r t . 92 G G Stellung genommen. Es geht auch von einem materiellen Rechtsprechungsbegriff aus, den es bestimmt sieht durch die „traditionellen Kernbereiche der Rechtsprechung"; so insbes. BVerfGE 22, 49 (78) — dazu kritisch Cordier, N J W 1967, S. 2141 (2142); weiter Menger ! Erichsen, V e r w A r c h 59 (1968), S. 67 (70 ff.); H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht u n d Verfassungsrecht, S. 9 m. Fn. 8; s. a u d i BVerfGE 27, 18 (28); 8, 197 (207); 12, 264 (274). Nicht geklärt ist der Vorbehaltsbereich der Rspr. als materieller F u n k t i o n i n BVerfGE 30, 1 (28 f.) — kritisch dazu P. Häberle, J Z 1971, S. 145 (152 f.). — Zurückhaltend dagegen zur Grenzziehungsfunktion eines materiellen Rechtsprechungsbegriffs, der vorrangig auf die Entscheidung des Einzelfalles abstellt, J. Ipsen Λ S. 32 f., unter Hinweis
4.1. Das B V e r f G als „echtes" Gericht
95
bezogen auf die Verfassung als Gegenstand seiner Entscheidungen. Das Bundesverfassungsgericht übt daher materielle Rechtsprechung aus 4 . Nach der hier vertretenen Auffassung sind die Entscheidungen des BVerfG über die Verfassungsmäßigkeit der i h m unterbreiteten Sachverhalte zugleich rechtliche als auch politische Entscheidungen 5 , denn das durch die Entscheidung konkretisierte (Verfassungs-)Recht ist eine Erscheinungsform der Politik und von dieser abhängig, wie umgekehrt Politik ihrerseits an das Recht gebunden ist®. Es ist „politisches Recht" 7 , denn es ist 1. Ausdruck „politischer und (Recht des Politischen).
gesellschaftlicher
Machtverhältnisse"
2. Es setzt „dem politischen Recht seinerseits Maß und Ziel" (Recht für das Politische) 8 . 3. „Es hat Formen und Verfahren der politischen Willensbildung zum Gegenstand" (Recht über das Politische). Da Recht unmittelbar Ausdruck von Politik® ist, enthält auch jede Interpretation von Recht eine politische Entscheidung (J. Esser 10). I m Gegenstand des Verfassungsrechts, dem Politischen 11 , m i t seinem großen Interpretationsspielraum, den es wegen seiner Struktur notwendig gewährt, w i r d der politische Charakter jeder Interpretation deutlich. Aus Anlaß von Verfassungsstreitigkeiten aktualisiert sich das Aufeinanderbezogensein von Recht und Politik in der Funktion Verdarauf, daß die „positivrechtliche Ausgestaltung des Revisionsverfahrens u n d die durch Gerichtsverfassungs- u n d Prozeßgesetze den Großen Senaten eingeräumte Befugnis zur Rechtsfortbildung außer acht" gelassen w i r d (S. 33). 4 h. M., vgl. z.B. Wintrich, B a y V B l . 1956, S. 97 (98); Maunz, M D H , A r t . 94, Rdnr. 2; Fr. Klein, BVerfG, S. 11 f.; Seuffert, N J W 1969, S. 1369; Knöpfte, Die Verfassung des BayVerfGH, S. 61 Fn. 158; kritisch zur F u n k t i o n des B V e r f G als Gericht: Massing, Der CDU-Staat, Bd. 1, S. 211 ff. s. jetzt Chr. Starck, S. 67, 74 ff., nach dem das B V e r f G n u r teilweise Rechtsprechung ausübt. Soweit es Gesetze auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüfe u n d über die Geltung anderer allgemeiner Rechtsnormen autoritativ entscheide, sei es funktionell am Gesetzgebungsverfahren beteiligt. — Distanziert aber Scheuner, W D S t R L 34 (1976), S. 99 (Disk.). « Grundsätzlich dazu P. Häberle, DVB1. 1973, S. 388 f.; vgl. auch Ermacora, Allgem. Staatslehre, 2. Teilbd., S. 761. β P. Häberle, ebd., S. 388. 7 I m Anschluß an H.-P. Schneider, Die Verfassung, Aufgabe u n d S t r u k t u r , AöR Beiheft 1 (1974), S. 64 (71 f.) — Kritisch gegenüber der „zwielichtigen Kategorie des politischen Rechts' " : Hesse, Grundzüge, S. 228. » Ebenso Billing, S. 51; vgl. auch Stern, Festschr. Jahrreiß (1974), S. 271 (281); Merten, DVB1. 1975, S. 677. » Nach Grimm, JuS 1969, S. 501 (502) ist Recht „geronnene P o l i t i k " . Kritisch dazu J. Ipsen, S. 212. 10 J. Esser, Vorverständnis u n d Methodenwahl, S. 197 u. ö. 11 Weiterführend dazu Billing, S. 67.
96
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
fassungsgerichtsbarkeit 12 i n besonders klarer Weise („Politik durch Verfassungsinterpretation") 13 . Die Verfassungsgerichtsbarkeit steht i m Schnittpunkt des Koordinatensystems von Recht und Politik 1 4 . Ihre Funktion bleibt aber materielle Rechtsprechung. Die gegen die Einordnung der Verfassungsgerichtsbarkeit i n die Kategorie der materiellen Rechtsprechung früher stark vertretene K r i t i k m i t einer antagonistischen Auffassung von Recht und Politik fand ihren Ausdruck in dem bekannten Wort von C. Schmitt, durch die Verfassungsjustiz werde nicht etwa die Politik juridifiziert, sondern die Justiz politisiert 1 5 . Diese — fragwürdige — Gegenüberstellung 16 von Recht und Politik kann heute zwar als überwunden angesehen werden. Das dahinterstehende „Trennungsdenken" 1 7 w i r k t sich aber noch i n der oft nachvollzogenen Differenzierung von Leibholz 16 aus. Dieser unterscheidet zwischen den „politischen Streitigkeiten" (Streitigkeiten um das Recht), die der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht unterstellt werden könnten, und „politischen Rechtsstreitigkeiten", die ihrer Kontrolle unterlägen 19 . Die diesem Verständnis zugrundeliegende, schon Jahrzehnte diskutierte Vorstellung über das Verhältnis von Recht und P o l i t i k 2 0 kann an dieser Stelle nicht i n voller Breite auf12 Diese Einsicht führte bei der Besetzung des B a y V e r f G H zu der V e r ankerung einer starken Beteiligung von Politikern. Dazu Knöpfle, Die Verfassung des BayVerfGH, S.47ff. 13 P. Häberle, AöR 98 (1973), S. 119 (127). 14 Entsprechend auch Leibholz, DVB1. 1974, S. 396: „Das Bundesverfassungsgericht i m Schnittpunkt von P o l i t i k u n d Recht." 1 5 C. Schmitt, Das Reichsgericht als H ü t e r der Verfassung, i n : Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 63 (98). Vgl. auch Forsthoff, Der Staat der Industriegesellschaft, S. 126 f. 16 P. Häberle, DVB1. 1973, S. 388 (389). 17 Zuck, N J W 1976, S. 285, spricht i n diesem Zusammenhang von „ T r e n nungsideologie". ι» Leibholz, zuletzt i n : Das B V e r f G 1951 - 1971, S. 31 (39); i h m folgend Fr. Klein, BVerfG, S. 20 f. — Ganz i. S. der überkommenen Lehre auch Zembsch, S. 32 f. — Die Klassifizierung von Leibholz, das Politische gehöre einer dynamisch-irrationalen Sphäre, das Recht dagegen einer statischrationalen an (ebd., S. 31 [36], i m Anschluß daran auch Maunz, M D H , A r t . 94 Rdnr. 2) beschreibt durchaus zutreffend Symptome der verschiedenen Wirkungsbereiche. Recht u n d Rechtsanwendung sollten allein schon wegen des bei ihnen bestehenden Begründungszwangs rationaler sein als es P o l i t i k u n d ihre Erscheinungsformen heute sind. N u r können diese Symptome nicht als Begründung des Trennungsdenkens ausreichen. — Vgl. auch BVerfGE 2, 79 (96), w o das Gericht ausführt, es sei unrichtig zu behaupten, daß politische Entscheidungen i n die Hand des Gerichts gelegt seien. Das B V e r f G habe n u r die Aufgabe, das rechtliche Vorfeld f ü r politische Entscheidungen zu klären, die allein den gesetzgebenden Körperschaften zukommen. — Z u m „Verzicht" des BVerfG, P o l i t i k zu treiben, s. auch BVerfGE 36, 1 (14 f.). i» Nach Ridder, Festschr. A. A r n d t , S. 323 (326 Fn. 26), basiert die U n t e r scheidung von Leibholz auf der Vorstellung v o m unpolitischen Charakter der rechtsanwendenden Normalrechtsprechung.
4.2. Das B V e r f G als oberstes Verfassungsorgan
97
genommen werden. Eines jedoch ist festzuhalten: Der Begriff des Politischen hat sich — i n diesem wie i n anderem Zusammenhang — einer Festlegung, die Anspruch auf weitgehende Übereinstimmung hätte erheben können, entzogen 21 . Er, der — bezogen auf die Verfassungsgerichtsbarkeit — vorwiegend als „Kampfbegriff" 2 2 gegen diese verwendet worden ist, eignet sich wegen seiner Unschärfe nicht als K r i terium zur Abgrenzung der Funktion „Verfassungsgerichtsbarkeit" gegenüber anderen Staatsfunktionen. Die hinter der Diskussion u m den politischen Charakter verfassungsgerichtlicher Entscheidungen stehende Frage ist die nach dem Einfluß, der einem Verfassungsgericht auf die Staatsleitung eingeräumt werden soll. Hat sich eine Verfassung wie die des GG einmal für eine starke Verfassungsgerichtsbarkeit entschieden, so handelt es sich bei dem Streit u m den Charakter der Entscheidungen letztlich u m einen Scheinkonflikt. Auch soweit die Entscheidungen des BVerfG politische Momente enthalten, sind sie zu akzeptieren. Der Vorbehaltsbereich der Verfassungsgerichtsbarkeit kann nicht unter Rückgriff auf „das Politische", sondern muß vielmehr unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Funktionszuweisung und unter Abstellung auf Organisation, Verfahrensarten und Normstrukturen bestimmt werden 2 8 . Was das BVerfG neben dem Gegenstand seiner Rechtsprechung vor allem von den übrigen obersten Gerichtshöfen des Bundes abhebt, ist seine besondere Verfassungsfunktion, seine Eigenschaft als oberstes Verfassungsorgan 24 . 4.2. Das BVerfG als oberstes Verfassungsorgan Die zweite Komponente der Doppelfunktion 25 des BVerfG neben der Gerichtsqualität besteht i n seiner Eigenschaft als oberstes Verfassungsorgan des Bundes. Ihre Voraussetzungen 26 , Bedeutungserheblichkeit 27 20 Dazu P. Häberle, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 2 ff. — s. weiter Billing, S. 51; Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der A u s wärtigen Gewalt, S. 122; Zeitler, Verfassungsgericht u n d völkerrechtlicher Vertrag, S. 162, jeweils m. ζ. N. 21 So auch Maunz, M D H , A r t . 59, Rdnr. 15. 22 Vgl. den Hinweis v o n Merten, DVB1. 1975, S. 677 (679). s. auch Kriele, N J W 1976, S. 777. 2 3 Dazu H.-P. Schneider, DÖV 1975, S. 443 (448 f.). 24 So BVerfGE 7, 1 (14). a. A . gegenüber dieser Differenzierung F. Werner, i n : Recht i m Wandel, S. 91 (110). 2 ® V o n „Doppelfunktion" sprechen z.B.: Leibholz, PVS 3 (1962), S. 13 (18); ders., DVB1. 1974, S. 396; Maunz, i n Maunz / Sigloch, §1, Rdnr. 8; Zuck, ZRP 1973, S. 233. 26 Eine systematische Untersuchung hinsichtlich der Verfassungsorganqualität des B V e r f G hat, soweit ersichtlich, erstmals A. Sattler, Die Rechts-
7 Engelmann
98
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
u n d d i e m ö g l i c h e n K o n s e q u e n z e n f ü r V e r f a h r e n u n d Rechtsprechung des B V e r f G l i e g e n z u m i n d e s t t e i l w e i s e n o c h i m u n k l a r e n . Es s i n d d a h e r zunächst d i e M e r k m a l e d e r V e r f a s s u n g s o r g a n q u a l i t ä t
des B V e r f G
zu
erörtern. 4.2.1. Der Begriff „Verfassungsorgan" Das G G selbst k e n n t d e n B e g r i f f des Verfassungsorgans 28 n i c h t , sond e r n l e d i g l i c h d i e T e r m i n i „ O r g a n " ( A r t . 20 A b s . 2 S. 2 GG) b z w . „ B u n desorgan" ( A r t . 93 A b s . 1 N r . 1 GG). Z w i s c h e n diesen B e g r i f f e n i n d e r h i s t o r i s c h b e d i n g t e n T e r m i n o l o g i e des G G u n d d e m des „ V e r f a s s u n g s o r g a n s " besteht a b e r k e i n sachlicher U n t e r s c h i e d 2 9 . D i e B e z e i c h n u n g „ V e r f a s s u n g s o r g a n " u m s c h r e i b t i n e t w a das, w a s f r ü h e r als „ u n m i t t e l bares S t a a t s o r g a n " oder „ H a u p t o r g a n " b e n a n n t w o r d e n i s t 3 0 . D e r B e g r i f f des Verfassungsorgans erscheint d e m g e g e n ü b e r als d e r geeignetste, d a i n i h m z u m A u s d r u c k k o m m t , daß d i e Verfassung, i n deren Rahmen sich d i e S t a a t s g e w a l t i n d e r res p u b l i c a des G G e n t f a l t e t , d i e S t a a t s g e w a l t k o n s t i t u i e r t 3 1 . Verfassungsorgane sind somit v o n der Verfass u n g i m R a h m e n d e r d u r c h sie k o n s t i t u i e r t e n O r d n u n g geschaffene O r g a n e 3 2 . D i e K r i t e r i e n , d i e f ü r d i e Eigenschaft als V e r f a s s u n g s o r g a n 3 3 Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassungsorgan u n d Gericht, Diss. Göttingen 1955, vorgenommen. V o n großer Bedeutung ist weiter die Abhandlung v o n Lauf er, Festschr. Leibholz, 2. Bd., S. 427 (449 ff.). Diese liegt auch den Ausführungen v o n Laufer, Verfassungsgerichtsbarkeit u n d politischer Prozeß, S. 293 ff., zugrunde. 27 K r i t i s c h gegenüber dem Begriff des Verfassungsorgans Hesse, S. 264 Fn. 1; F. Werner, S. 110. 28 Z u den verschiedenen Organbegriffen u n d ihren Voraussetzungen vgl. die Darstellung v o n Ermacora, S. 924 ff. 2 » So Goessl, S. 101. so BVerfG, Statusbericht, JöR 6 (1957), S.196f. m . w . N . ; Lauf er, V e r fassungsgerichtsbarkeit, S. 296; Billing, S. 74; s. auch Ermacora, S. 929; Fr. Klein, BVerfG, S. 13. 31 „Oberste" Verfassungsorgane i n dem hier verstandenen Sinne sind i m m e r zugleich staatliche Organe, also Einrichtungen, die durch staatliches Recht i n die Organisation des Staates miteinbezogen sind (dazu Goessl, S. 97). D a m i t kommen die politischen Parteien nicht als oberste Verfassungsorgane i n Betracht. Sie w i r k e n zwar als Zwischenglieder zwischen dem einzelnen u n d dem Staat maßgeblich an der politischen Willensbildung des Volkes m i t (Hesse, W D S t R L 17 [1959], S. 11 [19]; vgl. dazu auch H. Trautmann, I n n e r parteiliche Demokratie i m Parteienstaat, S. 40 ff.). Sie sind aber nicht i n die staatliche Organisation eingegliedert (BVerfGE 1, 208 [255]; 20, 56 [101]) u n d daher keine „Staatsorgane" i m herkömmlichen Sinne (unzutreffend insoweit Giese, AöR 80 [1955/56], S. 377 ff., der aus der Anerkennung der Parteien als verfassungsrechtlicher I n s t i t u t i o n ihre Staatsorganqualität folgert; dagegen schon Hesse, S. 40 Fn. 78; s. weiter Zwirner, AöR 93 [1968], S. 81 [115 m. Fn. 95]). Die Verfassungsorganqualität der Parteien (davon geht i n st. Rspr. das B V e r f G aus, vgl. BVerfGE 20, 56 [101]; 27, 10 [17]) ist neuerdings u m s t r i t t e n (dagegen Lipphardt, S. 233, 536 Fn. 318, 574 Fn. 423 u. ö.; ebenso F. Müller, N o r m s t r u k t u r , S. 140). Vgl. jetzt: Lorenz, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 225 (248 ff.). 32 Die a m Wortsinn ansetzende K r i t i k Hesses, W D S t R L 17 (1959), S. 11 (40), die Verfassung könne keine Organe haben, erscheint als zu vordergründig.
4.2. Das B V e r f G als oberstes Verfassungsorgan
99
e r f ü l l t sein müssen, s i n d noch n i c h t scharf u m r i s s e n 3 4 . D i e v o m B V e r f G i m S t a t u s b e r i c h t i m A n s c h l u ß a n R. Smend z u g r u n d e g e l e g t e D e f i n i t i o n 3 5 e r m ö g l i c h t n u r u n v o l l k o m m e n e i n e A b g r e n z u n g d e r sog. obersten V e r fassungsorgane gegenüber a n d e r e n O r g a n e n 3 6 . I n § 1 A b s . 1 B V e r f G G 3 7 w i r d das B u n d e s v e r f a s s u n g s g e r i c h t j e d e n f a l l s als V e r f a s s u n g s o r g a n 3 8 b e z e i c h n e t 3 9 . E i n V e r g l e i c h seiner S t e l l u n g m i t d e r v o n a n d e r e n O r g a n e n des B u n d e s l ä ß t Rückschlüsse a u f d i e Eigenschaften zu, d i e e i n O r g a n z u m obersten V e r f a s s u n g s o r g a n machen. 4.2.2. Konstituierung des Verfassungsorgans durch das Grundgesetz A l s w i c h t i g s t e V o r a u s s e t z u n g f ü r e i n e Q u a l i f i z i e r u n g als V e r f a s s u n g s o r g a n müssen sich B e s t a n d 4 0 u n d d a m i t N o t w e n d i g k e i t 4 1 des O r g a n s aus d e m G G selbst ergeben. N u r das O r g a n , das d u r c h d i e V e r f a s s u n g k o n 33 Der Begriff ist fester Bestandteil der verfassungsgerichtlichen Rspr., vgl. ζ. B. BVerfGE 8, 104 (114 f.); 12, 45 (54); 13, 54 (95); 19, 377 (384); 27, 10 (17); 40, 287 (291). — Lipphardt, S. 536 Fn. 318, folgert aus BVerfGE 8, 104 (114), daß das B V e r f G stets „Staatsorgan" meine, w e n n es „Verfassungsorgan" sage. I n Bezug auf die Parteien bezwecke ihre Bezeichnung als Verfassungsorgane, sie v o m Bereich des Gesellschaftlichen abzusetzen. H i n t e r der Gleichsetzung der Begriffe stehe ein dualistisches Verständnis von Staat u n d Gesellschaft. — I n der L i t . werden die Begriffe Staats- bzw. V e r fassungsorgan w e i t h i n synonym verwendet (vgl. z . B . Ridder, Festschr. A . A r n d t , S. 323 [324, 331]). 34 Hesse, Grundzüge, 6. Aufl., S. 260, spricht v o n „relativer Unschärfe"; 8. Aufl., S. 264 Fn. 1: „ u n k l a r e r Begriff". 35 Das B V e r f G sieht als Verfassungsorgane die Organe an, „deren E n t stehen, Bestehen u n d verfassungsmäßige Tätigkeit recht eigentlich den Staat konstituieren u n d seine Einheit sichern" (Statusbericht, JöR 6, S. 198). 36 So sind, u m ein M e r k m a l der o. a. Definition aufzugreifen, alle Staatsorgane aufgerufen, die staatliche Integration zu verwirklichen. Auch der Hinweis auf die recht eigentliche Konstituierung des Staates durch Bestehen u n d Tätigwerden der Organe f ü h r t k a u m zu einer präziseren begrifflichen Festlegung (so auch Leibholz, PVS 3 [1962], S. 13 [19]). 3 ? Der Begriff w i r d weiter i n den §§ 22 Abs. 1, 31 Abs. 1, 82 Abs. 2, 94 Abs. 1 B V e r f G G verwendet. Der Verfassungsorganbegriff i m B V e r f G G ist ein einheitlicher. Die insoweit v o n F. Werner, Recht i m Wandel, S. 91 (110), vorgetragene gegenteilige Ansicht findet i m Gesetz keinen A n h a l t . 38 Die Offenlassung des Status des B V e r f G i m GG ist n u r auf G r u n d der Situation i m Zeitpunkt der Entstehung des G G verständlich, bleibt aber angesichts der umfangreichen zugewiesenen Kompetenzen erstaunlich. Vgl. Maunz, M D H , A r t . 94, Rdnr. 2. 3 » So u. a. BVerfG, i n : Statusbericht, JöR 6 (1957) S. 194 (198, 206); Leibholz, ebd., S. 112 (127 f.); ders., PVS 3 (1962), S. 13 (19); Geiger, Komm., § 1, A n m . 1; Lechner, § 1 Anm. 2; Maunz, Maunz / Sigloch, §1, Rdnr. 8; Ehmke, W D S t R L 20 (1963), S. 53 (67); Lauf er, Festschr. Leibholz, 2. Bd., S.427 (445); ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 293 ff.; Hesse, Grundzüge, 8. Aufl., S. 264; Massing, Der CDU-Staat, Bd. 1, S. 211; Billing, S. 74; Zembsch, S. 31; Blumenwitz, DVB1. 1976, S. 464. 4 Maunz, i n Maunz / Sigloch, § 1, Rdnr. 8. 41 Lechner, § 1, A n m . 2. 7*
100
4. Der Doppelstatus des BVerfG u n d seine Auswirkungen
stituiert wird, kann auch Verfassung sor gan sein 42 . Dieses formelle Element der Begriffsbildung ist für sich allein ohne spezifischen Aussagewert 43 , da i n der verfaßten Ordnung des GG alle Organe zumindest mittelbar durch die Verfassung geschaffen werden. Für die i n Frage stehenden Organe ist deshalb eine unmittelbare Konstituierung zu fordern; d. h. i n diesem Zusammenhang, daß das Organ von der Verfassung selbst vorausgesetzt w i r d 4 4 . Das BVerfG ist beim Inkrafttreten des GG eine Institution gewesen, die erst von anderen Organen eingerichtet werden mußte. Ohne Erfüllung des Verfassungsauftrages des A r t . 94 Abs. 2 GG konnte das Gericht weder konstituiert werden noch sich selbst konstituieren noch konnte es tätig werden 4 5 . Für die geforderte Unmittelbarkeit der Konstituierung ist aber ausreichend, daß sich die Voraussetzung für die Existenz der Institution wie beim BVerfG aus der Verfassung selbst ergeben (haben). Sie hingen nicht von der Kreation durch andere Organe ab 4 e . Das BVerfG erfüllt damit die Voraussetzung einer unmittelbaren Konstituierung. 4.2.3. Gleichordnung der obersten Verfassungsorgane
Die durch das GG konstituierten Organe dürfen — i m Rahmen ihrer Zuständigkeit — nicht einem anderen Organ untergeordnet sein 47 . Oberste Verfassungsorgane sind verfassungsrechtlich gleichgeordnet 48 , ohne daß diese „koordinierte Gleichordnung" 4 ® wechselseitige Einflußmöglichkeiten unterschiedlichster A r t ausschlösse50. Aus der Kontrolle, die das BVerfG i m Rahmen seiner Kompetenzen ausübt, folgt nicht seine „Suprematie" gegenüber anderen Verfassungsorganen 01 . Das 42 Vgl. dazu BVerfG, Statusbericht, S. 197; Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 297; Wahl, Stellvertretung i m Verfassungsrecht, S. 106. 43 Goessl, S. 95 m. Fn. 377. 44 U n m i t t e l b a r durch das GG werden eine Reihe von Organen w i e der Ständige Ausschuß (Art. 45 GG), die Bundesversammlung (Art. 54 GG), die Bundesregierung (Art. 62), der Bundesrat (Art. 50 GG) u . a . verfaßt, Organe höchst unterschiedlicher Qualität u n d Bedeutung f ü r den Staat, so daß sich von daher eine weitere Differenzierung anbietet. Stern, B K , A r t . 94, Rdnr. 95; Maunz i n Maunz / Sigloch, Vorbem., Rdnr. 33. 46 Lauf er, Festschr. Leibholz, 2. Bd., S. 449; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 297. 4 ? Geiger, § 1, A n m . 1; Lechner, § 1, A n m . 2: . . . „ m i t wesentlich autonomer F u n k t i o n i m Verfassungsleben"; vgl. weiter Wahl, S. 95. 4 » Goessl, S. 96; Maunz, M D H , A r t . 94 Rdnr. 3. 4 » Maunz, ebd., A r t . 94, Rdnr. 3; vgl. auch Fr. Klein, BVerfG, S. 14. 50 Eine F o r m der Einflußnahme durch Bundestag u n d Bundesrat über die W a h l der Bundesverfassungsrichter liegt auf der Hand. 51 Nicht zutreffend ist es daher, v o n einer „Suprematie" des B V e r f G (so Geiger, D Ö V 1952, S. 481) auszugehen. Dagegen schon Friesenhahn, ZSR N F Bd. 73 (1954), S. 129 (159); Leibholz, PVS 3 (1962), S. 13 (19); Ehmke, V V D S t R L 20 (1963), S. 53 (67).
4.2. Das B V e r f G als oberstes Verfassungsorgan
101
zeigt sich i n f o l g e n d e m : Das G e r i c h t k a n n n i c h t v o n sich aus, e x officio, t ä t i g w e r d e n , es b e d a r f des Anstoßes v o n a u ß e n d u r c h e i n e n — b e grenzten — Kreis v o n Antragsberechtigten. I m Zusammenhang d a m i t steht, daß d e r Z u g a n g z u m B V e r f G n i c h t d u r c h e i n e verfassungsg e r i c h t l i c h e G e n e r a l k l a u s e l e r ö f f n e t w i r d . E i n fest u m r i s s e n e r , a l l e r dings auch recht umfassender K o m p e t e n z k a t a l o g b e s c h r ä n k t seinen Zuständigkeitsbereich 52. Sein Verfahren sowie Voraussetzungen u n d F o l g e n seiner E n t s c h e i d u n g e n s i n d i m w e s e n t l i c h e n d u r c h das B V e r f G G vorgeschrieben. L e d i g l i c h i n d e m so abgesteckten R a h m e n i s t das B V e r f G i n A u s f ü l l u n g seiner K o m p e t e n z e n b e i d e r A u s l e g u n g der V e r f a s s u n g d e n a n d e r e n obersten V e r f a s s u n g s o r g a n e n ü b e r g e o r d n e t 5 3 . Das B V e r f G i s t also n e b e n d e n a n d e r e n m ö g l i c h e n o b e r s t e n V e r fassungsorganen, n ä m l i c h B u n d e s t a g , - r a t , - p r ä s i d e n t u n d - r e g i e r u n g , gleichgeordnet u n d - b e r e c h t i g t 5 4 . 4.2.4. Kompetenzzuweisung aus der Verfassung W e i t e r e s K r i t e r i u m f ü r die Verfassungsorganeigenschaft i s t die Z u w e i s u n g d e r K o m p e t e n z e n des Organs u n m i t t e l b a r aus d e r V e r f a s s u n g 5 5 . Diese d a r f n i c h t v o n d e r E n t s c h e i d u n g a n d e r e r Verfassungsorgane a b hängen56. 52 Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit geht aber i n eine andere Richtung, nämlich i n die der totalen Überprüfbarkeit aller staatlichen A k t e auf ihre Verfassungsmäßigkeit. Wie Marcie , Verfassung u n d Verfassungsgericht, S. 109, schon relativ f r ü h feststellte, ist durch die Rspr. des B V e r f G zu A r t . 2 1 GG u n d zu dem Begriff der „verfassungsmäßigen Ordnung" i n A r t . 2 I G G (grundlegend BVerfGE 6, 32 [36 ff.] — Elfes-Urteil) jedem Glied des Staats Verbandes der Weg geöffnet, als „ H ü t e r der Verfassung" aufzutreten. Nach Marcie ist das der richtige Weg, denn erst durch das republikanische Zusammenwirken von Verfassungsgericht u n d von allen Staatsbürgern werde die Suprematie der Verfassung gesichert. — Eine weitere Überprüfungsmöglichkeit eröffnet sich das B V e r f G m i t seiner Rspr. zu den Grundwertentscheidungen des GG, die als allgemeine Interpretationsprinzipien bei der Anwendung einfachen Rechts zu beachten sein sollen (dazu Geiger, B a y V B l . 1974, S. 297 ff.). 53 Der verfassungsrechtlichen Gleichordnung entspricht i m organisatorischen Bereich die Selbständigkeit u n d Unabhängigkeit eines Verfassungsorgans. Diese hat das B V e r f G nach anfänglichen Schwierigkeiten inzwischen erlangt. Dazu gehört, daß das B V e r f G sich selbst verwaltet, einen eigenen Haushalt besitzt, die Verfassungsrichter keinen Dienstvorgesetzten haben, s. dazu i m einzelnen Lauf er, Festschr. Leibholz, 2. Bd., S. 453 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 312 ff.; weiter H. Säcker, Das Bundesverfassungsgericht, S. 19 f. 54 So auch v.d.Heydte, Festschr. Geiger, S. 909; Fromme, Demokratisches System u n d politische Praxis, S. 202 (203). 55 Z u dieser Voraussetzung BVerfG, Statusbericht, JöR 6 (1957), S. 194 (197); Lechner, § 1, A n m . 1 ; Lauf er, Festschr. Leibholz, Bd. 2, S. 449. 56 Dieser Gesichtspunkt steht i n engem Zusammenhang m i t dem K r i t e r i u m der Gleichordnung.
1 0 2 4 .
Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
Die Kompetenzen des BVerfG ergeben sich aus dem GG. I m übrigen ist wenigstens ein Mindeststandard an verfassungsgerichtlichen Zuständigkeiten, zu denken ist an den Grundrechtsschutz und an Streitigkeiten aus dem föderativen Bereich, verfassungskräftig abgesichert 57 . 4.2.5. Die Bedeutung des Organs für die Verfassungsordnung Ein weiteres wichtiges Merkmal für die Eigenschaft als „oberstes" Verfassungsorgan und zugleich das Kriterium, das diese von anderen Verfassungsorganen unterscheidet, ist die Bedeutung des Organs für die Verfassungsordnung. Das oberste Verfassungsorgan muß — i m Zusammenwirken m i t anderen Organen — das Verfassungsgefüge prägen 58 . Diese Relevanz kommt nur den Organen zu, bei deren Fehlen der konstituierte Staat von Grund auf umgestaltet würde 5 9 . Das BVerfG drückt, i m Gegensatz zu anderen Organen wie dem Ständigen Ausschuß (Art. 45 GG), dem Gemeinsamen Ausschuß (Art. 53 a GG), der verfaßten Ordnung des GG seinen Stempel auf. Durch die Existenz der Verfassungsgerichtsbarkeit w i r d die Normativität der Verfassung i n größerem Umfang gewahrt als i n einer Ordnung ohne eine derartige Institution® 0 . Das Gericht n i m m t zudem am staatlichen Willensbildungsprozeß auf höchster Ebene 61 dadurch teil, daß i h m ein wesentlicher Teil der Staatsgewalt zur Ausübung übertragen ist 6 2 : Es entscheidet ζ. B. über die Verfassungsmäßigkeit von Rechtssätzen und bei Streitigkeiten aus dem föderativen Bereich 63 . Es beeinflußt i n Wahrnehmung seiner Funktion 6 4 die politische Ordnung der ganzen res publica 6 5 . Dabei kann nicht nur auf den Umfang der Kompetenzen des BVerfG abgestellt werden. Vielmehr ist die befriedende, integrierende Funktion, die das Gericht auf Grund seiner Rechtsprechungspraxis i m politischen Gemeinwesen erlangt hat, das ausschlaggebende Moment 6 6 . 67
Z u m Problem s. Maunz i n Maunz / Sigloch, § 1, Rdnr. 11. ss Goessl, S. 96. 59 Vgl. Ermacora, S. 928. 60 s. Hesse, Grundzüge, S. 226. ei Wintrich, B a y V B l . 1956, S. 132; Leibholz / Rupprecht, Einleitung, Rdnr. 2. 62 Scheuner, DVB1. 1952, S. 294 (298). 63 s. Knöpfte, Die Verfassung des BayVerfGH, S. 12. — I n dem besonderen Charakter der Streitigkeiten vor dem B V e r f G (Streitigkeiten zwischen V e r fassungsorganen, Prüfung der Verfassungsmäßigkeit v o n Normen) u n d i n der teilweisen Gesetzeskraft der Entscheidungen sieht Schiaich, ZZP 86 (1973), S. 227 (228), die Verfassungsorganqualität des B V e r f G begründet. 64 A. Arndt, DVB1. 1951, S. 298; Geiger, § 1, A n m . 1. 65 Lauf er, Festschr. Leibholz, 2. Bd., S. 451. 66 Dazu Kriele, N J W 1976, S. 777 (779). Insofern unterscheidet sich das B V e r f G v o n den anderen obersten Bundesgerichten. Kritisch gegenüber dieser Differenzierung F. Werner, Recht i m Wandel, S. 111.
4.2. Das BVerfG als oberstes Verfassungsorgan
103
4.2.6. Die demokratische Legitimation des BVerfG Das BVerfG n i m m t an dem staatlichen Willensbildungsprozeß auf höchster Ebene teil. Es stellt sich die grundsätzliche Frage, inwieweit diese Stufe der Ausübung hoheitlicher Gewalt m i t dem Demokratiegebot des GG i n Einklang zu bringen ist. Damit sind zwei Überlegungen angesprochen, die nach der demokratischen Legitimation der Organträger 6 7 und die nach ihrer demokratischen Kontrolle 6 8 . I n diesem Zusammenhang interessiert nur die erste Frage, inwieweit nämlich das BVerfG als Entscheidungsträger der demokratischen Legitimation bedarf. A r t . 20 Abs. 2 S. 1 GG ( „ A l l e Staatsgewalt geht vom Volke aus.") verdeutlicht i n klassischer Formulierung, daß das V o l k der oberste Souverän i m Staat ist. Das gesamte staatliche Handeln muß danach i n irgendeiner Form auf eine Willensäußerung des Volkes, die sich i n Wahlen bzw. i n der Willensbildung der vom Volk berufenen Repräsentanten manifestiert 6 9 , zurückzuführen sein. Diese Voraussetzung gilt i n besonderem Maße für die Einsetzung oberster Verfassungs- bzw. Staatsorgane. Je mehr Einfluß das Organ auf Grund seiner Stellung i m Staatsganzen auszuüben bestimmt ist, u m so unmittelbarer hat die Legitimationskette zu sein 70 . Die entscheidenden Faktoren i n der verfaßten politischen Ordnung des GG bedürfen daher einer möglichst direkten Legitimation, die i n der Regel auch eine direkte demokratische Kontrolle gewährleistet. M. a. W., eine Legitimation 3. oder 4. Grades, abgeleitet von einem Organ, dessen Legitimation wiederum von einem Organ herrührt, das einem Verfassungsorgan nachgeordnet ist, wäre als Basis einer demokratischen Legitimation des BVerfG nicht ausreichend 71 . I n concreto ergibt sich für das Wahlverfahren 7 2 zum BVerfG, dessen Ausgestaltung für die Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit von großer Bedeutung ist, daß die vom Bundesrat gem. A r t . 94 Abs. 1 S. 2 GG, § 5 Abs. 1, § 7 BVerfGG zu wählenden Verfassungsrichter i n unmittelbarer e? Z u r demokratischen Legitimation des Richters allgemein s. die D a r stellung v o n J. Ipsen, S. 199 ff. m. w . N. Vgl. auch Kriele, S. 778. — Jetzt: Kröger, Richterwahl, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 76 ff. 68 Dazu Schuppert, S. 212 ff. 6» Klein, Maunz / Sigloch, §5, Rdnr. 3; Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 189, 207, 210 f.; Stern, B K , A r t . 94, Rdnr. 62, 65; Billing, S. 93 f. m . w . N . ; s. weiter Jahn, B V e r f G i m 3. Jahrzehnt, S. 68; Geiger, ebd., S. 73. 70 Billing, S. 95; zustimmend Schuppert, S. 214. 71 Z u r entsprechenden Problematik f ü r die I n s t i t u t i o n des Bundespräsidenten vgl. Seidel, Der Bundespräsident als Träger der auswärtigen Gewalt, S. 143 ff. 72 Vgl. dazu schon die v o n Kelsen, W D S t R L 5 (1929), S. 30 (56 f.), entwickelten Vorstellungen.
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4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine A u s w i r k u n g e n
Wahl (§ 7 BVerfGG) bestimmt werden. Da der Bundesrat selbst nach dem GG als ausreichend demokratisch legitimiertes Organ (vgl. A r t . 51 GG) ausgewiesen ist, ergeben sich gegen die direkte Wahl der Richter durch den Bundesrat unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation keine Bedenken. Nicht ganz so unproblematisch stellt sich das gem. § 6 BVerfGG praktizierte Wahlverfahren des Bundestages dar 7 3 . Der Bundestag wählt die von i h m zu bestimmenden Verfassungsrichter nicht i n unmittelbarer Wahl, sondern durch ein von i h m gebildetes Wahlmännergremium 74 (§ 6 Abs. 2 BVerfGG). Eine unmittelbare demokratische Legitimation des BVerfG könnte somit durch die Zwischenschaltung des Wahlmännergremiums des Bundestages aufgehoben sein. Demgegenüber werden an die Legitimation der Bundesverfassungsrichter keine so strengen Anforderungen zu stellen sein. Neben den überzeugenden sachlichen Gründen (leichtere Handhabung, größere Vertraulichkeit), die für diese A r t der Wahl sprechen, findet sie ihre Berechtigung i n der Gerichtsfunktion des BVerfG. Als Gericht unterliegt es i n weiten Bereichen den Direktiven des Gesetzgebers. Die Rechtsausübung des BVerfG ist eingebunden i n das gerichtliche Verfahren und w i r d bestimmt durch eine Verfahrensregelung, die nicht von i h m selbst, sondern vom Gesetzgeber geschaffen worden ist (BVerfGG). Zudem ist es nicht als frei agierendes Organ i m politischen Raum tätig. Weiter ist es durch die notwendige Wahl einer Anzahl von Bundesrichtern i n das BVerfG (§ 2 Abs. 3 BVerfGG) anders strukturiert als die übrigen Verfassungsorgane, für deren Mitgliedschaft auch nicht besondere sachliche Voraussetzungen (vgl. § 3 Abs. 2 BVerfGG) erfüllt sein müssen. Die zwar unter dem Gesichtspunkt der demokratischen Legitimation nicht optimale, aber doch „,demokratienahe' A r t der Richterbestellung" 79 läßt Bedenken gegen die demokratische Legitimation 7 6 der Bundesverfassungsrichter nicht durchgreifen. Sie ist durch das i m GG (Art. 941 2) und BVerfGG (§§ 5 ff.) normierte Wahlverfahren ausreichend gewährleistet 77 .
73
Keine Bedenken hegt i n dieser Hinsicht Schuppert, S. 214. 74 D a r i n könnte ein möglicher Verfassungsverstoß (Art. 94 I 2 GG — „durch den Bundestag") liegen. Vgl. Thoma, Gutachten, JöR 6 (1957), S. 161 (188); zum Ganzen Lechner, § 6, zu Abs. 1. 7ß So Oppermann, W D S t R L 34 (1976), S. 109 (Disk.). 76 j . Ipsen, S. 203, sieht die Bundesverfassungsrichter i m Gegensatz zu anderen Richtern als ausreichend demokratisch legitimiert an. Entsprechend auch Pawlowski, D Ö V 1976, S. 505 (509). 77 I m Ergebnis ebenso: Billing, S. 95; Schuppert, S. 214.
4.3. Konkrete Konsequenzen der Doppelfunktion
105
4.2.7. Ergebnis
Das BVerfG erfüllt, i m Vergleich zu anderen in der Verfassung genannten Organen, besondere qualifizierende Voraussetzungen, die es mit gleichrangigen Organen wie Bundestag, -rat, -präsident und -regierung gemein hat. Diese Organgruppe hebt sich auf Grund ihrer Qualifikation von den anderen durch die Verfassung konstituierten Organen ab. Wie die übrigen genannten Organe ist daher auch das BVerfG 7 8 ein oberstes Verfassungsorgan. 4.3. Konkrete Konsequenzen der Doppelfunktion Das BVerfG ist zugleich Gericht und oberstes Verfassungsorgan. Diese Funktionen, vereinigt i n einer Institution, widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. Die Verfassungsorganqualität ist zwar der Gerichtsfunktion gleichrangig, die Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit w i r d aber geprägt durch ihre gerichtliche Funktion. I n der L i t . sind die Konsequenzen aus der Doppelfunktion des Gerichts nicht ausreichend untersucht worden 7 9 . Das mag daher kommen, daß der „Kampf" des BVerfG um seinen Verfassungsorganstatus 80 den Blick zu sehr auf die rein organisatorischen Auswirkungen der Verfassungsorganqualität, die zugleich sinnfälligster Ausdruck dieser Eigenschaft sind, fixiert hat. Auswirkungen der Doppelfunktion lassen sich in allen drei der Verfassungsgerichtsbarkeit zuzuordnenden Sachbereichen feststellen. Es ist dies zunächst der organisatorische Bereich, zu dem auch die innere Organisation des Gerichts zu zählen ist, dann der Verfahrensbereich, der die Tätigkeit des BVerfG während des laufenden Verfahrens umfaßt und schließlich der Entscheidungsbereich, i n den die Voraussetzungen der Entscheidungsfindung und die Durchsetzung der Entscheidung fallen. 78 Offen ist noch, welche „Formation" des B V e r f G als oberstes Verfassungsorgan einzustufen ist: das Plenum und/oder jeder der beiden Senate des Gerichts. — Je i n i h r e m Zuständigkeitsbereich bilden das Plenum u n d die beiden Senate „das Bundesverfassungsgericht". (So auch BVerfGE 2, 79 [95]; 7, 17 [18]; s. weiter 1, 14 [29]; Maunz, Maunz / Sigloch, §2, Rdnr. 1; entgegen Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 321, der n u r dem Plenum des B V e r f G die Qualität als oberstes Verfassungsorgan zusteht. Der Schluß Laufers von der Zuständigkeit zur Regelung der inneren Ordnung auf die Vorrangstellung des Plenums u n d damit auf dessen Verfassungsorgancharakter t r i f f t eben n u r f ü r dessen Zuständigkeit zu. Vgl. jetzt zur Zuständigkeit des Plenums §§ 1, 2, 3, 16 I, 47, 48, 49 - 54, 56 - 58 GeschOBVerfG v o m 2. 9.1975 [BGBl. I, Nr. 109, S. 2515 ff.]). 7 » Ansätze bei Zembsch, S. 32, sowie bei Schiaich, ZZP 86 (1973), S. 227 (228). — Aus der Verfassungsorganqualität des B V e r f G folgert Schick, N J W 1975, S. 2169 (2173), das Recht des BVerfG, über den eigentlichen Entscheidungsgegenstand hinauszugreifen. so s. den Statusbericht i n JöR 6 (1957), S. 109 ff.
106
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen 4.4. A u s w i r k u n g e n i m organisatorischen Bereich
Das BVerfG hat die auch für sein Selbstverständnis wichtigste Folge der Verfassungsorganqualität durchgesetzt: Es ist i m organisatorischen Bereich unabhängig® 1. Eine weitere Konsequenz der Verfassungsorganqualität auf der innerorganisatorischen Ebene könnte die Geschäftsordnungsautonomie (GO-Autonomie) sein. Die Frage ist deshalb von besonderem Interesse, w e i l die GO-Autonomie als Voraussetzung der Verfassungsorganqualität angesehen und aus einer Begrenzung der Autonomie auf eine Beschränkung der Verfassungsorganqualität geschlossen worden ist®2. Die GO-Autonomie erstreckt sich nach ganz überwiegender Meinung i n Rspr. und L i t . nicht über den internen Dienstbetrieb hinaus auf das gerichtliche Verfahren, auf die Prozeßtätigkeit 8 3 . Das Recht des Verfahrens vor dem BVerfG ist vielmehr gem. A r t . 94 Abs. 2 GG durch Bundesgesetz (BVerfGG) geregelt. Nach der Auffassung von Schiaich ist damit die Verfassungsorganqualität des BVerfG stark eingeschränkt 84 . Diese These setzt Verschiedenes voraus: Zunächst müßte die GOAutonomie konstitutives Element der Verfassungsorganeigenschaft sein. Denn n u r unter dieser Voraussetzung kann ihre Einschränkung die Verfassungsorganqualität des BVerfG begrenzen. Zudem müßte der Bereich des sog. Verfahrensrechts zur Geschäftsordnungsmaterie zu zählen sein. Weiter wäre zu fragen, ob es überhaupt die GO-Autonomie und nicht immer n u r die spezifische Autonomie eines bestimmten Verfassungsorgans gibt, so daß sich von daher nicht die Frage nach einer unbeschränkbaren Autonomie stellt. 4.4.1. Geschäftsordnungsautonomie als Konsequenz der Verfassungsorganqualität A l l e n obersten Verfassungsorganen, die von ihrer Struktur als Kollegialorgan her i n Betracht kommen — m i t Ausnahme des BVerfG — w i r d auf Grund ausdrücklicher Normierung i m Grundgesetz 85 die Kompetenz bescheinigt, sich eine Geschäftsordnung i n eigener Verantwortung zu geben. Nach h. M. handelt es sich dabei u m Autonomie der
ei Dazu oben unter 4.2.4., Fn. 53.
82 Schiaich, S. 228. 83 Nachw. s. unter 4.4.2.
84 Schiaich, S. 228. 85 Bundestag: A r t . 401 2 GG; Bundesrat: A r t . 52 I I I 2 GG; Bundesregierung: A r t . 64 S. 4 GG.
4.4. Auswirkungen i m organisatorischen Bereich
107
Verfassungsorgane 86 , bei den Geschäftsordnungen also um autonome Satzungen 87 . Für das BVerfG stellt sich die Frage, ob i h m die Geschäftsordnungskompetenz ohne entsprechende Normierung kraft seiner Verfassungsorganqualität zusteht oder ob es einer besonderen, ggf. stillschweigend erteilten Ermächtigung (durch das GG oder das BVerfGG) bedarf 8 8 . Es ist das notwendige Hecht eines obersten Verfassungsorgans, ohne Beteiligung anderer Verfassungsorgane die Regeln zu setzen, die es bei dem Verfahren der Selbstorganisation beachten w i l l 8 9 . Über die Einschaltung anderer Verfassungsorgane bei dem Erlaß von Geschäftsordnungen, etwa durch die Beteiligung der Exekutive an der Schaffung der Geschäftsordnung des Bundestages, ergäben sich Einwirkungsmöglichkeiten der Organe untereinander, die durch die Funktionsaufteilung des GG nicht abgesichert sind. Bei der GO-Autonomie handelt es sich somit u m eine originäre Kompetenz der insoweit unabhängigen obersten Verfassungsorgane 90 . Die entsprechenden Bestimmungen des GG haben nur deklaratorischen Charakter. Schon aus der Gleichordnung des BVerfG m i t den anderen obersten Verfassungsorganen ergibt sich seine Kompetenz zum Erlaß einer Geschäftsordnung 91 . Auch ein 86 Z u r Frage der Rechtsqualität von Geschäftsordnungen als autonomes Recht: Bejahend: Reifenberg, Die Bundes Verfassungsorgane u n d ihre Geschäftsordnungen, S. 36 ff.; Maunz, M D H , A r t . 40, Rdnr. 21 m. N. aus der älteren L i t . ; Lechner, vor §17, A n m . A (S. 169); Appoldt, Die öffentlichen Anhörungen („Hearings") des Dt. Bundestages, S. 83; Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 330; Wand, Festschr. G. Müller, S. 567; aus der Rspr.: BVerfGE 1, 144 (148); B a y V e r f G H 6, 136 (143); BayVerfGH, B a y V B l . 1976, S. 431 (433); HambVerfG, DVB1. 1976, S.444 (446); gegen die Qualifizierung als autonome Satzung K . F. Arndt, Parlamentarische Geschäftsordnungsautonomie u n d autonomes Parlamentsrecht, S. 156 ff. 87 Nach einer i m Vordringen befindlichen Meinung paßt die Kennzeichnung als autonome Satzung nicht auf die Geschäftsordnungen v o n Verfassungsorganen, da nicht eigene Angelegenheiten der Verfassungsorgane geregelt, sondern staatliche Kompetenzen wahrgenommen werden. So vor allem E.-W. Böckenförde, Die Organisationsgewalt i m Bereich der Regierung, S. 120 ff., m i t dem Begriff der „Verfassungssatzung"; i m Anschluß an Böckenförde: Starck, AöR 92 (1967), S.449; Wahl, S. 93 ff.; Steiger, O r ganisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, S. 43 ff., m i t der Kennzeichnung als „eigenerzeugtes internes Organisationsrecht" (S. 44). 88 i n diesem Sinne auch Reifenberg, S. 4; vgl. weiter Lechner, vor §17, A n m . A (S. 169). 89 s. Maunz, M D H , A r t . 40 Rdnr. 16. — Ausgenommen v o n der Betrachtung ist die Besonderheit der Geschäftsverteilungskompetenz gem. § 14 Abs. 4 BVerfGG. Dazu Zembsch, S.46f.; Wand, S. 567. — Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit der Vorschrift (wegen A r t . 10112 GG) bei Maunz, A r t . 94, Rdnr. 10. — Z u § 14 B V e r f G G : Sattler, Die Zuständigkeit der Senate u n d die Sicherung der Einheitlichkeit der Rspr., B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 104 ff. 90 So auch Wand, S. 566. 91 Reifenberg, S. 32; Wand, S. 566; Zembsch, S. 45.
108
4. Der Doppelstatus des BVerfG und seine Auswirkungen
V e r g l e i c h m i t d e r einschlägigen R e g e l u n g des § 23 S t G H G u n t e r der W R V 9 2 u n d d i e H e r a n z i e h u n g der M a t e r i a l i e n z u m B V e r f G G 9 3 sprechen f ü r d i e G O - A u t o n o m i e als F o l g e d e r V e r f a s s u n g s o r g a n q u a l i t ä t . A u c h später, i m 4. Gesetz z u r Ä n d e r u n g des B V e r f G G v . 21.12.1970 ( B G B l . I, S. 1765), h a t d e r Gesetzgeber d a r a u f v e r z i c h t e t , e i n e n g e p l a n t e n § 16 a B V e r f G G ü b e r d i e Geschäftsordnungskompetenz, d e r n a c h A u f f a s s u n g des P l e n u m s des B V e r f G o h n e h i n n u r d e k l a r a t o r i s c h e n C h a r a k t e r geh a b t hätte, aufzunehmen 94. D e m B V e r f G wächst daher i n Ü b e r e i n s t i m m u n g m i t den S t i m m e n i n d e r L i t e r a t u r k r a f t seiner V e r f a s s u n g s o r g a n q u a l i t ä t d i e o r i g i n ä r e G e s c h ä f t s o r d n u n g s k o m p e t e n z z u 9 5 . Es h a n d e l t sich u m eine verfassungsu n m i t t e l b a r e Zuständigkeit 9 ®. D i e G O - A u t o n o m i e i s t n i c h t V o r a u s setzung, s o n d e r n K o n s e q u e n z der V e r f a s s u n g s o r g a n q u a l i t ä t des B V e r f G . 4.4.2. Sachlicher Umfang der GO-Autonomie W e i t e r steht d e r sachliche U m f a n g d e r G e s c h ä f t s o r d n u n g s a u t o n o m i e des B V e r f G 9 7 z u r D i s k u s s i o n . U n k l a r h e i t e n i n dieser H i n s i c h t s i n d v o r a l l e m d u r c h die V e r w e n d u n g d e r B e g r i f f e d e r „ ä u ß e r e n Geschäftso r d n u n g " 9 8 u n d der „ V e r f a h r e n s a u t o n o m i e " 9 9 entstanden. I h n e n b e i 92
Dazu Reifenberg, S. 33; Zembsch, S. 45 f. Bei den Beratungen des B V e r f G G i m Rechtsausschuß des Bundestages ist eine Vorschrift über die Geschäftsordnungskompetenz des B V e r f G gestrichen worden, w e i l diese „selbstverständlich" sei. s. die Darstellung v o n Zembsch, S. 45; Wand, S. 566; Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 329; vgl. auch Reifenberg, S. 32. 94 Nach den damals geäußerten Vorstellungen der Bundesregierung waren Geschäftsordnungsregelungen durch das B V e r f G über den internen Geschäftsgang hinaus verfassungsrechtlich bedenklich, da dem B V e r f G nicht w i e anderen Verfassungsorganen i n der Verfassung die Geschäftsordnungsautonomie zugewiesen werde. — Der Rechtsausschuß des Bundestages ließ es bei seiner Empfehlung zur Streichung des § 16 a B V e r f G G ausdrücklich offen, ob dem B V e r f G bereits auf G r u n d seiner Verfassungsorganqualität eine Geschäftsordnungskompetenz zustehe (BT-Drucks. VI/1471, S. 4 [1970]). Vgl. zur Regelung des § 16 a noch Leibholz, 6. Dt. BT, 5. Ausschuß, W o r t protokoll der 13. Sitzung v o m 23.4.1970, S. 127 f. — Z u m Ganzen s. den Bericht „Geschäftsordnung des Bundesverfassungsgerichts", JuS 1976, S. 63. 95 Lauf er, S. 329; Lechner läßt die Ausgangsfrage offen. 96 Steiger, S. 44, f ü r den Bundestag. 97 Dazu ausführlich Wand, S. 567 ff. 98 Lechner, v o r § 17, A n m . A (S. 169), versteht darunter die „ F o r t b i l d u n g des Verfahrensrechts durch die Rechtsprechung". Die Verwendung des Begriffs der Geschäftsordnung i n diesem Zusammenhang erweckt den unzutreffenden Eindruck, als ob es sich bei dem Bereich des Verfahrensrechts u m ursprüngliche GO-Materie handele. — F ü r eine Verabschiedung des Begriffs schon Reifenberg, S. 56. 99 Der von Lechner, vor § 17, A n m . A (begrenzte „Verfahrensautonomie"), geprägte, von Zembsch i n seiner A r b e i t „Verfahrensautonomie des Bundesverfassungsgerichts" wieder nachhaltig ins Bewußtsein gerückte Begriff erfreut sich zunehmender Beliebtheit (vgl. schon G. Wolf, DVB1. 1966, S. 884 93
4.4. Auswirkungen i m organisatorischen Bereich
109
d e n i s t g e m e i n s a m , daß sie ü b e r d e n Bereich, d e r d u r c h d i e G O - A u t o n o m i e abgedeckt w i r d , e i n e n w e i t e r e n Regelungsbereich des B V e r f G anerkennen. N a c h ganz h . M . erstreckt sich d e r R e g e l u n g s u m f a n g d e r Geschäftsordnungen m i t den durch die unterschiedliche O r g a n s t r u k t u r bedingt e n D i f f e r e n z i e r u n g e n i m e i n z e l n e n n u r a u f d e n internen Bereich des K o l l e g i a l o r g a n s (inneres O r g a n i s a t i o n s r e c h t ) 1 0 0 , z w i s c h e n dessen M i t glieder durch die Geschäftsordnungen B i n d u n g e n erzeugt w e r d e n s o l l e n 1 0 1 . N u r u n t e r i h n e n s o l l Recht geschaffen w e r d e n 1 0 2 . D i e R e c h t setzungskompetenz k a n n n i c h t ü b e r d e n i n t e r n e n B e r e i c h u n d ü b e r d i e ausschließliche B i n d u n g d e r O r g a n m i t g l i e d e r a u s g e d e h n t w e r d e n . L e d i g l i c h i n diesem U m f a n g i s t auch m i t d e r Z u e r k e n n u n g d e r A u t o nomie an die Verfassungsorgane eine i m R a h m e n der grundgesetzlichen Funktionsaufteilung vertretbare Lösung gefunden worden. Daraus f o l g t , daß j e d e n f a l l s n i c h t m e h r d i e R e g e l u n g e n z u r Geschäftsordnungsm a t e r i e g e z ä h l t w e r d e n k ö n n e n , d i e das V e r f a h r e n des B V e r f G n a c h außen, seine P r o z e ß t ä t i g k e i t , b e t r e f f e n 1 0 3 . B e i diesem V e r s t ä n d n i s der G O - A u t o n o m i e des B V e r f G w i r d sie, da sich d i e Regelungsbereiche [885]; weiter Goerlich, J Z 1975, S. 583; ff. Säcker, N J W 1976, S. 25 Fn. 6, unter Berufung auf BVerfGE 2, 79 [83]. — Skeptisch hingegen Endemann, Bespr. von Zembsch, Verfahrensautonomie des BVerfG, i n : D Ö V 1972, S. 69 [70] u n d Schiaich, S. 230 ff.). Der Begriff der Verfahrensautonomie soll diejenigen richterlichen Erkenntnisse zu prozessualen Fragen umfassen, „deren Beantwortung der Gesetzgeber bewußt dem Bundesverfassungsgericht überlassen hat, Verfahrensgestaltungen des Bundesverfassungsgerichts, die nicht m i t den herkömmlichen Methoden richterlicher Rechtsfindung — insbesondere Auslegung u n d Rechtsfortbildung praeter legem — bewältigt werden k ö n nen" (Zembsch, S. 109). — Bei dem m i t dem Begriff der Verfahrensautonomie umschriebenen Bereich handelt es sich schlicht u m eine Kategorie des „Richterrechts" (dazu J. Ipsen, Richterrecht u n d Verfassung, u n d Chr. Starck, V V D S t R L 34 [1976], S. 43 [69 f., 76 ff.]). Das Gericht t r i t t auf G r u n d seiner Entscheidungskompetenz an die Stelle des bewußt oder unbewußt untätig gebliebenen Gesetzgebers u n d entwickelt „richterrechtliches Verfahrensrecht" von F a l l zu F a l l i m laufenden Verfahren durch Richterspruch (s. dazu schon Reifenberg, S. 55 f.). Diese Befugnis des B V e r f G unterscheidet sich qualitativ i n keiner Weise v o n der entsprechenden Kompetenz anderer Gerichte (dazu Chr. Starck, S. 70). Auch die von Säcker, S. 25 Fn. 6, angeführte Entscheidung des B V e r f G trägt nichts zur Begründung einer eigenen Kategorie der V e r fahrensautonomie bei. Das B V e r f G erläutert hier seine Ermächtigung, sein Verfahren(srecht) zu entwickeln. Diese Ermächtigung gründet sich aber auf die aus der richterlichen Entscheidungskompetenz fließenden Befugnis zur Setzung von Richterrecht. Der Begriff der Verfahrensautonomie umschreibt damit n u r das v o n B V e r f G i m Verfahrensbereich geschaffene Richterrecht. Z u r Vermeidung v o n Unklarheiten ist seine Verwendung abzulehnen. loo HambVerfG, DVB1. 1976, S.446; Reifenberg, S.4; Maunz, M D H , A r t . 40, Rdnr. 18; Wand, S. 568; Zembsch, S. 44; K. F. Arndt, S. 64 f.; Lechner, vor § 17, A n m . A (S. 169); Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 330; Appoldt, S. 84; Steiger, S. 40; s. auch Leibholz / Rupprecht, §16, Rdnr. 1. ιοί Wand, S. 567 m. w . N. 102 Reifenberg, S. 45; Lauf er, S. 330. los Wand, S. 568; a. A. insoweit Schiaich, S. 228.
no
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
nicht überschneiden, auch nicht von der Normierung des Verfahrensbereiches durch den Gesetzgeber eingeschränkt 104 . 4.4.3. Die Geschäftsordnung des BVerfG vom 2. September 1975 Nach fast 25jährigem Bestehen des BVerfG hat sich nun das Plen u m 1 0 5 des Gerichts m i t Beschluß vom 3. J u l i 1975 eine Geschäftsordnung gegeben, die unter dem Datum des 2. Sept. 1975 bekanntgemacht worden ist 1 0 6 . A n i h r können die Zusammenhänge, die bei der Behandlung der Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts offengelegt worden sind, überprüft bzw. verdeutlicht werden. Die GeschOBVerfG 107 ist i n zwei Teile gegliedert, wobei Teil A die organisatorischen Vorschriften umfaßt (§§ 1 - 19) und Teil Β (§§ 20 - 68) „Verfahrensergänzende Vorschriften" enthält. I n der Geschäftsordnung geht das Gericht nicht ausdrücklich auf seine Stellung als oberstes Verfassungsorgan ein, legt sie aber, wie § 19 zeigt, i n der auf seine Stellung als oberstes kollegiales Verfassungsorgan verwiesen wird, als selbstverständlich zugrunde. Bei den Vorschriften der GeschO ist zum einen zwischen den Vorschriften, die sich auf die originäre Geschäftsordnungskompetenz des BVerfG gründen 1 0 8 , und den Regeln, die auf dem Plenum gesetzlich zugewiesenen Kompetenzen beruhen, zu differenzieren 109 . Zum anderen ist zwischen konstitutiven Vorschriften der GeschO und nur deklaratorischen, bei denen lediglich gesetzlich dem Plenum zugewiesene Kompetenzen wiederholt werden, zu unterscheiden. 4.4.3.1. Die organisatorischen Vorschriften
der GeschO
Hauptsächlich die §§ 1, 2, 5, 6 GeschOBVerfG grenzen die Zuständigkeiten des Präsidenten des BVerfG und des Plenums i m organisato104 Die GeschO eines Verfassungsorgans steht, w i e ihre Kennzeichnung als autonome Satzung besagt, unterhalb v o n Verfassung u n d Gesetz (Appoldt, S. 82; Wand, S. 568; Maunz, M D H , A r t . 40, Rdnr. 22). A l s zusätzliche Schranken der GeschO des B V e r f G treten hinzu die Zugehörigkeit einer A n gelegenheit zur Rechtsprechung u n d die richterlichen Rechte v o n V e r fassungsrichtern (Wand, S. 568). 105
H i e r ist das Plenum als Verfassungsorgan tätig geworden. ioe Veröffentlicht i n BGBl. I, Nr. 109 v. 24. 9.1975, S. 2515 ff. 107 Dazu auch der Überblick von H. Säcker, N J W 1976, S. 25 f. los Dag sind d i e Normierungen des Teiles A der GeschO, des Titels 1 (§§ 2 0 - 3 7 : Z u m Verfahren der Senate) u n d der T i t e l 8 u n d 9 des Teiles B. io» Darunter fallen die unter T e i l Β : Verfahrensergänzende Vorschriften, T i t e l 2 - 7 , erfaßten Regeln. — Die Bezeichnung des Teiles Β m i t „ V e r fahrensergänzende Vorschriften" täuscht. Es beziehen sich nämlich nicht alle Einzelabschnitte auf das Verfahren v o n oder vor dem VBerfG, sondern T i t e l 7 z.B. ( § § 5 6 - 5 8 GeschOBVerfG) b e t r i f f t das Wahlverfahren zum B V e r f G und damit das Statusrecht des Gerichts.
4.4. A u s w i r k u n g e n i m organisatorischen Bereich
111
rischen Bereich voneinander ab. Uber die dem Präsidenten durch Gesetz zugewiesenen Befugnisse 110 hinaus leitet dieser die Verwaltung des Gerichts (§ 1 Abs. 3, §§ 14, 15) und führt die Beschlüsse des Plenums i n dessen Auftrag aus (§ 1 Abs. 3). Das Plenum ist somit die maßgebliche Instanz für die Selbstverwaltungsangelegenheiten des Gerichts. Es bleibt für die innere und äußere Verwaltung „allzuständig" 1 1 1 , kann aber, wie geschehen, seine Befugnisse an den Präsidenten oder an von i h m gebildete Ausschüsse zur Ausübung übertragen. Die Stellung des Präsidenten ist — i m Vergleich zu der von Präsidenten anderer Verfassungsgerichte 112 — nicht stark. Er hat die Funktion eines primus inter pares inné. Von den organisatorischen Vorschriften sind weiter die über die Errichtung von Ständigen Ausschüssen (§ 3) und die über die Außenvertretung 1 1 3 des Gerichts als wichtig zu benennen. I n den §§ 7, 8, 10, 11 werden die sich aus dem Status der Bundesverfassungsrichter ergebenden einzelnen Ausdifferenzierungen der Stellung vorgenommen. I n § 13 ist Zuweisung und Tätigkeitsbereich des wissenschaftlichen M i t arbeiters am BVerfG erfaßt. Die Einrichtung des wiss. Mitarbeiters w i r d damit wenigstens über die bloße Stellenzuweisung i m Haushaltsplan hinaus durch eine normative Regelung abgesichert 114 . I n diesem Zusammenhang stellt § 25 GeschOBVerfG klar, daß nur die an der Entscheidung mitwirkenden Richter an der Beratung teilnehmen dürfen, so daß eine unmittelbare Einfiußnahme von wiss. Mitarbeitern während der Beratung entfällt. Deren Tätigkeit ist auf das Vorfeld der Entscheidung beschränkt. Die wiss. Mitarbeiter nehmen insoweit keine richterlichen Befugnisse w a h r 1 1 5 . 4.4.3.2. Die verfahrensergänzenden
Vorschriften
der GeschO
Die §§ 20 - 37 der GeschO erfassen die richterliche Tätigkeit der Senate, soweit sie sich auf den internen Dienstbetrieb beschränkt, m i t Bestimmungen über Geschäftsverteilung, Beratungstermine, Zustellungsverfahren, Entscheidungsvorbereitungen, Anberaumung und Durchführung einer mündlichen Verhandlung. no Nach § 176 B B G ist der Präsident oberste Dienstbehörde f ü r die Beamten des BVerfG. i n s. Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 321. I i 2 Z u r Stellung des Präsidenten des B a y V e r f G H s. unten bei u n d i n Fn. 124. us §5 GeschOBVerfG. 114 Z u r Stellung des wiss. Mitarbeiters allgemein: Bichelmeir, Der j u richtische Hilfsarbeiter an den obersten deutschen Gerichten, 1971; s. weiter Knöpfte, Die Verfassung des BayVerfGH, S. 18 m. Fn. 29. us Dazu Knöpfte, S. 81.
112
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine A u s w i r k u n g e n
Eine wichtige Ergänzung und Erweiterimg der Vorschriften des BVerfGG enthält §22 Abs. 3 der GeschOBVerfG. Danach kann das BVerfG (d. h. einer der Senate) auch i n anderen Fällen als denen der konkreten Normenkontrolle (§ 13 Nr. 11 BVerfGG) Anhörungsersuchen an oberste Gerichtshöfe des Bundes und an oberste Landesgerichte stellen. Durch diese Vorschrift erschließt sich das Gericht eine weitere Informationsmöglichkeit über die eng begrenzte Norm des § 82 Abs. 4 BVerfGG hinaus. Es setzt sich dadurch eher i n die Lage, das Wirken einer Norm i n der Verfassungswirklichkeit zu beurteilen. M i t dieser Ausweitung des Informationsinstruments der Anhörung trägt das Plenum des Gerichts der Bedeutung einer umfassenden Informationsmöglichkeit für seine Rechtsprechung i. S. einer ständigen Verfeinerung des Instrumentariums Rechnung. Entsprechendes gilt für die Regelung des § 40 Abs. 1 GeschOBVerfG, durch die der Berichterstatter der Ausschüsse nach § 93 a Abs. 2 BVerfGG ermächtigt wird, außer von den i n § 94 BVerfGG genannten Äußerungsberechtigten auch Stellungnahmen Dritter einzuholen. Diese Vorschrift w i r d so zu verstehen sein, daß der Kreis der am Verfassungsprozeß Beteiligten über die formell auch auf die materiell Beteiligten 1 1 6 erstreckt werden kann 1 1 7 . Von Interesse ist i n diesem Zusammenhang weiter die Regelung der Gutachterbestellung i n § 22 Abs. 4. Der Vorsitzende eines Senates kann danach Persönlichkeiten m i t besonderen Kenntnissen auf einem Gebiet ersuchen, Gutachten zu einer entscheidungserheblichen Frage zu erstellen. Damit ist der Personenkreis der Sachverständigen und i h r Einsatz über die Vorschrift des § 28 BVerfGG hinaus konkretisiert. Die angeführten Vorschriften der GeschOBVerfG, insbes. die des § 22 Abs. 3 und des § 40 Abs. 1, unterstützen die i m Zusammenhang m i t der Auslegung der Prozeßgrundsätze erörterte und befürwortete Notwendigkeit einer umfassenden Information des BVerfG. Uber eine Öffnung der Verfahren für materiell Betroffene und für die am Prozeß der konkreten Verfassungsinterpretation Beteiligten werden die Voraussetzungen für eine wirklichkeitsnahe und damit auch wirklichkeitsgerechte Auslegung von Verfassungsrecht geschaffen. Die Geschäftsordnung als sensibles Instrument des BVerfG setzt i n dieser Hinsicht deutliche Wegzeichen. I n dem Zusammenhang ist auch festzuhalten, 116
s. dazu oben unter 3.4.4. Z u erinnern ist an ein I n s t i t u t des Verfahrensrechts des US-SupremeCourt, die amicus curiae briefs, das entsprechende Möglichkeiten eröffnet. Hier handelt es sich u m die Zulassung v o n Schriftsätzen von nicht am Prozeß beteiligten D r i t t e n als Möglichkeit der Repräsentation von Gruppeninteressen (Haller, Supreme Court u n d P o l i t i k i n den USA, S. 108 f., 342 f.; dazu P. Häberle, DVB1. 1973, S. 388 [389]). 117
4.4. Auswirkungen i m organisatorischen Bereich
113
daß die erwähnten Vorschriften den Rahmen des reinen Geschäftsordnungsrechts insofern sprengen, als sie sich nicht ausschließlich auf den internen Bereich beschränken. Wie an anderer Stelle schon hervorgehoben, eröffnet die Beteiligung am Verfahren erhöhte Einwirkungschancen für den konkreten Prozeß(ausgang). Vermehrte Partizipation schlägt sich i n der Entscheidung nieder. Die angesprochenen GeschORegeln gewährleisten pluralistische Meinungsvielfalt und ermöglichen eine höhere Konsensfähigkeit der Entscheidungen des BVerfG. Dem BVerfG steht daher die Befugnis zu, i m Rahmen seiner GO-Autonomie sein Informationsinstrumentarium behutsam auszuweiten. Weitere Vorschriften der GeschOBVerfG betreffen die öffentliche Bekanntgabe gerichtlicher Entscheidungen (§ 32), deren Praxis wegen der vielfachen Vorinformationen über Entscheidungen i n letzter Zeit i n Mißkredit gekommen ist 1 1 8 , und Einzelfragen der internen Arbeitsorganisation 119 . 4.4.3.3. Vergleich mit Geschäftsordnungen anderer (Verfassungs-)Gerichte M i t der Geschäftsordnung des BVerfG können die Geschäftsordnung des Bundesgerichtshofes 120 gem. § 140 GVG und des Bundesarbeits118 Dazu die Pressemitteilung des B V e r f G zur vorzeitigen Bekanntgabe der Entscheidung zur Diätenbesteuerung, N J W 1975, Nr. 48, Umschlagseite I I . 119 Die T i t e l des Abschnitts Β enthalten, bis auf die Schlußvorschriften der §§ 59 - 68, die Konkretisierungen der i m B V e r f G G angeführten K o m petenzen des Plenums. — Die §§38 bis 41 haben die Regelung des V e r fahrens der Dreier-Ausschüsse gem. § 93 a Abs. 2 B V e r f G G zum Inhalt, wobei v o n Interesse ist, daß auch die Entscheidungen über den möglichen Ausschluß u n d die Befangenheit eines Richters des Dreier-Ausschusses u n d die Frage der Zulassung eines Beistandes diesem G r e m i u m übertragen ist. Der Dreier-Ausschuß w i r k t auch insoweit als verselbständigter Spruchkörper (dazu, daß auch der Dreier-Ausschuß „das" B V e r f G ist, s. Leibholz I Rupprecht, § 93 a, Rdnr. 5, m. ζ. N.). Die §§ 42 - 46 GeschOBVerfG regeln das Verfahren i m Ausschuß nach § 14 Abs. 5 B V e r f G G (Festlegung der Zuständigkeit eines Senates bei Zweifeln über Zuständigkeit) u n d die §§47, 48 das Verfahren i m Plenum gem. § 16 B V e r f G G (Plenarentscheidung zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rspr.). — Eine Frage, die über den internen Geschäftsbetrieb hinausgreift u n d die Statusrechte der Verfassungsrichter betrifft, w i r d i n den §§ 49 - 54 geregelt. Sie zeigen die Voraussetzungen f ü r Einleitung u n d Durchführung des Verfahrens zur Amtsenthebung eines Richters auf. Da das B V e r f G ein oberstes Verfassungsorgan ist, steht auch n u r i h m selbst das Recht zu, einen seiner Richter während dessen Amtszeit abzuberufen. Das entsprechende Verfahren ist daher gem. § 105 B V e r f G G dem Plenum des Gerichts übertragen. — Die N o r m des § 55 ersetzt die bisher gültige Verfahrensordnung f ü r die Abgabe eines Sondervotums gem. § 30 Abs. 2 BVerfGG. Die Bestimmungen der §§ 56 - 58 haben das Verfahren gem. § 7 a BVerfGG zum Inhalt. 120 B A n Z Nr. 83 v o m 30. 4.1952 m i t Änderung durch Bek. v o m 15.4.1970 (BAnZ Nr. 74) u n d v o m 21. 6.1971 (BAnZ Nr. 114).
8 Engelmann
114
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
gerichts 121 gem. § 44 Abs. 2 A r b G G nicht auf eine Ebene gestellt werden. Diese enthalten lediglich Regeln über die Arbeitsverteilung bei den Gerichten 1 2 2 und entsprechen daher inhaltlich nicht den Geschäftsordnungen von Verfassungsorganen. Sie sind vielmehr Justizverwaltungsvorschriften 123 . Von ihrer Qualität her durchaus m i t der Geschäftsordnung des BVerfG gleichzusetzen ist dagegen die des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes. Eine direkte Gegenüberstellung erscheint hier aber aus anderen Gründen nicht sinnvoll, da S t r u k t u r 1 2 4 und Organisation des Gerichtshofes gegenüber denen des BVerfG völlig anders gelagert sind und auch der Zuständigkeitsbereich z.B. m i t der Gewährung der Popularklage erheblich differiert 1 2 6 . Zum anderen sind zahlreiche Bestimmungen der Geschäftsordnung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes von tiefgreifenderer Bedeutung für das Verfahren als die Bestimmungen der GeschOBVerfG. Das i n Ausführung des A r t . 69 Bayer. Verf. ergangene VerfGHG enthält i n § 23 die Ermächtigungsgrundlage für den Präsidenten des VerfGH, das Verfahren und den Geschäftsgang des Gerichts subsidiär durch eine Geschäftsordnung zu regeln, die der Genehmigung des Landtages bedarf. Demgemäß ist eine Geschäftsordnung erlassen worden 1 2 6 . Sie enthält Vorschriften über die Bildung der Spruchkörper (§§ 1 bis 6) und ergänzende Bestimmungen für das Verfahren (§§ 7 ff.). Zumindest § 9 Abs. 1 und § 48 GeschO (Bestimmungen über Prozeßvertretung und Auferlegung eines Prozeßvertreters i n Verfassungsbeschwerdesachen) sind als materielle Rechtssätze 127 zu werten. I n § 26 GeschO w i r d die subsidiäre Geltung der VwGO und der ZPO angeordnet. Bedeutung haben weiter die Vorschriften der GeschO über die sog. kleine Besetzung des Gerichts 128 . Dieser kurze Überblick zeigt schon, daß die Geschäftsordnungen des BVerfG und des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes 121 B A n Z Nr. 76 v o m 21.4.1960 m i t Änderung durch Bek. v o m 10. 8.1976 (BAnZ Nr. 154). 122 So auch Reifenberg, S. 57. 123 Lauf er, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 320. 124 Die Tätigkeit am V e r f G H w i r d von Berufsrichtern i m Nebenamt ausgeübt. — Die Zusammensetzung wechselt m i t dem Gegenstand der Entscheidung (vgl. Th. Meder, BayVerf, Komm., A r t . 68, Rdnr. 2). Die nichtberufsrichterlichen Mitglieder können parlamentarischen Körperschaften (Landtag, Senat) angehören (dazu Knöpfle, Die Verfassung des BayVerfGH, S. 47 ff.; Th. Meder, A r t . 68, Rdnr. 8). — Der Präsident des V e r f G H hat eine überragende Stellung (s. Knöpfle, S. 16). 125 A r t . 98 S. 4 BayVerf; s. weiter A r t . 60 ff. BayVerf. 126 GeschO des V e r f G H f ü r den Freistaat Bayern v o m 15. J u l i 1963 (GVB1. S. 151) m i t Änderung v o m 18. Febr. 1966 (GVB1. S. 159). 127 B a y V e r f G H 6, 136 (143); 15, 41 (42): GeschO ist eine Rechtsnorm i m Rang einer Verordnung; f ü r die Verfassungsmäßigkeit weiter: Knöpfle, S. 16; Th. Meder, A r t . 69, Rdnr. 2. 128 Dazu Th. Meder, A r t . 69, Rdnr. 2.
4.4. A u s w i r k u n g e n i m organisatorischen Bereich
115
erheblich voneinander abweichen. Dahinter steckt nicht zuletzt ein unterschiedliches Verständnis der „Sache" Verfassungsgerichtsbarkeit. Die GeschO des BVerfG jedenfalls konkretisiert m i t verbindlicher Innenwirkung zulässigerweise Verfahrensvorschriften des BVerfGG. Durch die Einräumung dieser Möglichkeit unterscheidet sich das Verfassungsprozeßrecht und seine Handhabung deutlich von anderen Verfahrensordnungen und ihrer Konkretisierung durch die entsprechenden obersten Gerichtshöfe des Bundes. 4.4.3Λ. Würdigung
der GeschOBVerfG
Wenn i n der Literatur von der allgemeinen Bedeutung der Geschäftsordnungen von Verfassungsorganen gesprochen wird, dann ist i n erster Linie die GeschO des Bundestages Ansatzpunkt für diese Aussagen 129 . Das Geschäftsordnungsrecht des BVerfG entfaltet notwendigerweise nicht die gleiche Brisanz wie das des Bundestages, da bei dem Gericht von der Organstruktur und -organisation und der Anzahl der Organmitglieder her nicht i n dem Umfang entsprechende Initiativ-, Abstimmungs- und Beteiligungsrechte wie beim Bundestag zur Regelung anstehen. Trotzdem darf die Relevanz des Geschäftsordnungsrechts des BVerfG nicht unterschätzt werden, ergeben sich doch aus i h m Hinweise für die künftige Entwicklung und Ausgestaltung des Verfahrens und der Institution Verfassungsgerichtsbarkeit. So enthalten die angesprochenen Regelungen der §§ 22 Abs. 3 und 40 Abs. 1 GeschOBVerfG deutliche Hinweise für ein Bemühen des Gerichts, durch Einbeziehung weiterer an der Verfassungsinterpretation Beteiligter und Betroffener seine Entscheidungen über die bloße Streitentscheidung zwischen den Verfahrensparteien hinaus allgemein konsensfähiger zu machen. 4.4.3.5. Ergebnis Die Doppelfunktion des BVerfG als Gericht und oberstes Verfassungsorgan hat Konsequenzen i m organisatorischen Bereich der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit. Neben der bereits erwähnten organisatorischen Unabhängigkeit ist hier auch das Recht zur inneren Selbstorganisation einzuordnen, das seinen Ausdruck i n der Geschäftsordnungsautonomie des BVerfG findet. Die 1975 erlassene GeschOBVerfG ist auf ihre Aussage hinsichtlich der Konkretisierung des Verfassungsprozeßrechts untersucht worden. Die GeschO als sensiblere Materie, die die Entwicklungen des Verfassungsprozeßrechts vorbereitet und i m 129 v g l . ζ. β . Wahl, S. 93, 102: „sekundäres" bzw. „ergänzendes Verfassungsrecht"; Appoldt, S. 84: „angewandtes Verfassungsrecht" m i t mittelbar v e r fassungsgestaltender W i r k u n g . 8*
116
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
voraus sichtbar macht, zeigt, wie das Gericht die i m BVerfGG enthaltenen Informationsinstrumente (Anhörung von Gerichten, Äußerungsberechtigung Dritter, Übertragung von Gutachterstellungen auf Persönlichkeiten m i t besonderen Kenntnissen auf einem Gebiet) ausweitet und verfeinert. Dieser Vorgang, mit dem das Gericht sein Prozeßrecht konkretisiert, verdeutlicht die Sonderstellung des BVerfG und seiner Verfahrensordnung. Die organisatorischen Grundlagen des BVerfG weichen auf Grund seiner Doppelfunktion erheblich von denen anderer oberster Gerichtshöfe des Bundes ab. Besonderheiten i m organisatorischen Bereich haben zumeist Auswirkungen i m Verfahrens- und Entscheidungsbereich 130 , so daß von daher die Grundlegung eines materiellrechtlichen Verständnisses des Verfassungsprozeßrechts i n Betracht zu ziehen ist. 4.5. Auswirkungen im Verfahrensbereich Folgerungen aus der Doppelfunktion ergeben sich auch i m Verfahrensbereich. M i t i h m ist der gesamte Ablauf des Verfahrens von der Einleitung bis zum Erlaß der Entscheidung gemeint. Eine Auswirkung der zwei Status des BVerfG i m Verfahrensbereich ist schon aufgezeigt worden. Es ist die Verpflichtung des Gerichts zu mehr Publizität i m verfassungsgerichtlichen Verfahren allgemein 1 3 1 , die an der Verfassungsorganqualität des BVerfG ausgerichtet ist. Darüberhinaus können sich weitere Verpflichtungen des BVerfG während des laufenden Verfahrens aus einem organschaftlichen Grundverhältnis 1 3 2 ergeben. Bei den Beziehungen der Verfassungsorgane untereinander gibt es eine Zone, die von rechtlichen Normierungen nicht erfaßt wird. Diese zwischenorganschaftlichen Verbindungen unterhalb der Schwelle der rechtlichen Qualität sind für die Zusammenarbeit der Organe von Wichtigkeit, zeigt sich doch i n ihrer Ausgestaltung die Bereitschaft 130 z u r R ü c k w i r k u n g der Organisation eines Gerichts auf seine Rechtsprechung s. Knöpfte, S. 20. Vgl. auch Roellecke, P o l i t i k u n d Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 23. s. weiter J. Ipsen, S. 203, m i t dem Hinweis, das Berufungsverfahren zum B V e r f G sei proportional der Kompetenz des Gerichts ausgestaltet. Er schließt daraus auf eine Befugnis des B V e r f G zu w e i t tragenden sozialgestalterischen Entscheidungen (S. 204). J. Ipsen zieht hier i m übrigen Argumente aus dem Verfassungsrichterwahlverfahren zur Interpretation des Verfassungsprozeßrechts heran. 131
Dazu oben unter 2.5.5. Erste Hinweise zu diesem Pflichtenkreis sind von Knöpfte, DVB1. 1966, S. 713 (715), unter Bezugnahme auf E. Kaufmann, V V D S t R L 9 (1952), S. 1 (15), gegeben worden. E r versteht das Grundverhältnis zwischen den Verfassungsorganen als „ungeschriebene verfassungsrechtliche Pflicht zur loyalen Zusammenarbeit". Vgl. auch Wahl, S. 101, der das Fehlen einer Theorie über die Beziehungen der Verfassungsorgane beklagt. 132
4 . . Auswirkungen i m
117
rahenereich
zur Kooperation. Sie können als Grundverhältnis bezeichnet werden. Das BVerfG hat anläßlich des Gesamtverfahrens über die Verfassungsmäßigkeit des Grundlagenvertrages mehrfach auf die Beziehungen zwischen den Verfassungsorganen abgestellt 133 . Diese Rechtsprechung ergibt zusammengefaßt folgendes: 1. Zwischen den obersten Verfassungsorganen besteht ein Grundverhältnis, aus dem ein entsprechender „Verfassungsgrundsatz" folgt. 2. Aus diesem Grundverhältnis erwachsen Verpflichtungen fassungsrechtliches Gebot") und Verbote.
(„ver-
3. Das Grundverhältnis hat Grenzen, die von den verantwortlichen Verfassungsorganen selbst zu bestimmen sind. 4. Das Organ muß für die aus einer Überschreitung der Grenzen sich möglicherweise ergebenden Folgen einstehen. 5. I n diesem Zusammenhang w i r d auch auf die Bindungen der jeweiligen Verfassungsorgane durch den „Verfassungsgrundsatz vom bundesfreundlichen Verhalten" Bezug genommen. Der Grundsatz des bundesfreundlichen und der des „organfreundlichen Verhaltens" ähneln sich also. Der
Grundsatz
des
organfreundlichen
Verhaltens
umschreibt
so,
ähnlich wie auf der Ebene Bund/Länder, das Gebot zur Zusammenarbeit, zur Koordination, zur Rücksichtnahme und M i t w i r k u n g bei der Erfüllung der Organaufgaben. Konkret für die Beziehungen Bundesregierung (Exekutive) und BVerfG folgt daraus für die Exekutive, daß diese ein beim BVerfG anhängiges Verfahren nicht überspielen und durch ihre Maßnahmen nicht ein Urteil des BVerfG u m seine W i r kungen bringen darf 1 3 4 . Für das BVerfG ergibt sich als Konsequenz aus dem Grundverhältnis zwischen den Organen, daß es i n dem Fall eines drohenden Verfassungskonfliktes gehalten ist, sein Verfahren auf jede mögliche Weise zu beschleunigen 135 . Bedenken erheben sich allerdings wegen der Justiziabilität des Grundsatzes des organfreundlichen Verhaltens 1 3 6 . Er erscheint als zu unbestimmt, u m aus i h m konkrete rechtliche Folgerungen zu ziehen. So stellt sich insbesondere die Frage, ob eine an sich verfassungsmäßige Maßnahme eines Verfassungsorgans allein deshalb verfassungswidrig sein kann, weil das 133 BVerfGE 35, 257 (261 f.), fast wörtlich ebenso BVerfGE 36, 1 (15); vgl. auch BVerfGE 35, 193 (199): „Oberste Verfassungsorgane haben von V e r fassungs wegen aufeinander Rücksicht zu nehmen". Dazu Blumenwitz, DVB1. 1976, S. 464 (467). 134 BVerfGE 35, 257 (261). 135 BVerfGE 35, 257 (261). 136 Hier gelten i m Prinzip die gleichen Überlegungen, w i e Hesse, G r u n d züge, S. 108 f., sie zum Grundsatz des bundesfreundlidhen Verhaltens angestellt hat.
118
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine Auswirkungen
Organ gegen den angeführten Verfassungsgrundsatz verstoßen hat. Schon dieses Anreißen der Problematik zeigt, daß kaum ein Fall denkbar ist, i n dem der Grundsatz für die Verfassungsgerichtsbarkeit entscheidungsrelevant sein kann. Soweit er aber auf das atmosphärische Verhältnis zwischen den Verfassungsorganen beschränkt w i r d und das sich aus der Ordnung des GG ergebende Gebot der Zusammenarbeit umschreibt, erfüllt er seinen Zweck. Eines jedenfalls bleibt festzuhalten: Auch i m Verfahrensbereich unterliegt das BVerfG aufgrund seiner Doppelfunktion besonderen Verpflichtungen, denen andere oberste Gerichtshöfe des Bundes nicht unterworfen sind. 4.6. Auswirkungen im Entscheidungsbereich Ein Aspekt des Entscheidungsbereiches 137 , nämlich die Verpflichtung des BVerfG, die Folgen seiner Entscheidungen in besonderem Maße mitzuberücksichtigen, unterscheidet das BVerfG ebenfalls von den anderen Bundesgerichten 138 . Diese Verpflichtung w i r d unter Zugrundelegung verschiedener methodischer Ansätze begründet. Bachof 139 schließt die Folgenorientierung aus pragmatischen Überlegungen zur Bedeutung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und der Verantwortung für das Gemeinwohl. P. Häberle 140 sieht folgen-, wirklichkeits- und öffentlichkeitsorientierte Interpretation als Elemente der gemeinwohlbezogenen Auslegung 1 4 1 . Schuppert 142 wählt Allgemein zu den Grenzen, die sich aus der Doppelfunktion des B V e r f G f ü r seine Tätigkeit ergeben sollen: Seuffert, N J W 1969, S. 1369 (1370). Seuffert differenziert an H a n d der B i n d u n g s w i r k u n g der Entscheidungen des B V e r f G w i e folgt: Gericht m i t Rechtskraft, Verfassungsorgan m i t Gesetzeskraft. Die Letztentscheidungskompetenz m i t der Folge der Gesetzeskraft v o n Entscheidungen gehört aber nach der hier vertretenen Auffassung zur Rechtsprechungsfunktion. Die von Seuffert konkret daraus gezogenen Folgerungen wie, das B V e r f G als unabhängiges Gericht könne nicht an Stelle des Gesetzgebers entscheiden, ergeben sich begründeter aus funktionell-rechtlichen Überlegungen. Bachof, S u m m u m ius summa iniuria, S. 41 (43). " β Bachof, S. 43, 56. wo s. etwa D Ö V 1966, S. 660 (662); ders., ZfP 21 (1974), S. 111 (124 m . N . i n Fn. 91). 141 Lipphardt, S. 282 f., v e r w i r f t , insoweit gegen P. Häberle, D Ö V 1966, S. 660 (662), gerichtet, eine „wirklichkeitsorientierte u n d sachbezogene I n t e r pretation", die die „Rechtsfindung v o m Ergebnis her" ohne weiteres als legitimes H i l f s m i t t e l i n Betracht zieht. L i p p h a r d t w i l l m i t dieser Wendung den normativen Gehalt der Verfassungsnormen absichern. Er verkennt dabei, daß es keinen abstrakten normativen Gehalt von Normen an sich gibt, sondern daß diese ihre N o r m a t i v i t ä t i n der W i r k l i c h k e i t entfalten. Der normative Gehalt der Verfassung w i r d v o n der W i r k l i c h k e i t mitgeprägt. Die Berücksichtigung der W i r k l i c h k e i t bei der Auslegung von Normen ist ein Mittel, die N o r m a t i v i t ä t der Verfassung zu bewahren.
4 . . Auswirkungen i m
ntschenereich
119
einen funktionsspezifischen Ansatz. Gesetzesanwendung durch den Richter enthalte immer ein Stück punktueller Rechtsfortbildung 143 . Von daher bestehe eine besondere Verpflichtung des Richters und speziell des Verfassungsrichters, die soziale Wirklichkeit i n den Rechtsfindungsvorgang miteinzubeziehen. H. Säcker iU leitet die Berücksichtigung der politischen Folgen durch das BVerfG aus dem Gebot der richterlichen Selbstbeschränkung (judicial self-restraint) ab 1 4 5 . Allen Begründungen ist gemeinsam, daß sie dem BVerfG eine erhöhte Verpflichtung zur Berücksichtigung der politischen Folgen seiner Entscheidungen attestieren 146 . Ein wichtiges Begründungselement bleibt aber i m Hintergrund: die entsprechende Verpflichtung des BVerfG aus seiner Verfassungsorganqualität 147 . Dem BVerfG sind durch die Verfassung Befugnisse zugewiesen, deren Ausübung es an der Staatsleitung teilnehmen lassen 148 . Dies ist zugleich ein K r i t e r i u m seiner Verfassungsorganqualität. Wer wie andere oberste Verfassungsorgane (ζ. B. Bundestag und Bundesregierung) das Staatsganze mitgestaltet, für den besteht die Verpflichtung, das Wohl des Staatsganzen bei seinen Entscheidungen mitzuberücksichtigen. Das BVerfG ist insoweit als Verfassungsorgan i n die Pflicht genommen. M. a. W., eine Stellung m i t einem derartigen Einfluß w i r d unter dem GG nur einem Organ eingeräumt, das den Bindungen unterliegt, die sich aus dieser Stellung ergeben. Diese Funktion des BVerfG, sein Status als oberstes Verfassungsorgan, bedingt eine folgenorientierte Interpretation der Verfassung. 142 Schuppert, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Auswärtigen Gewalt, S. 115 ff. 143 Schuppert, S. 156 f. 144 H. Säcker, BVerfG, S. 18. ι 4 » H. Säcker, ebd., S. 17, wertet den Grundsatz des j u d i c i a l self-restraint als den Verzicht des BVerfG, P o l i t i k zu treiben. I n dieser Zurückführung des j u d i c i a l self-restraint w i r k t das Trennungsschema von Recht u n d P o l i t i k m i t . Sie k a n n aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß sich der Gestaltungsraum des B V e r f G u n d damit auch die i m Begriff des j u d i c i a l self-restraint eigentlich angesprochene Frage, unter welchen Voraussetzungen es den, anderen Verfassungsorganen zustehenden Gestaltungsraum bestimmen bzw. begrenzen kann, n u r über funktionellrechtliche Überlegungen näher eingrenzen läßt. Daß es insoweit keine „Verfassungsgerichts-Diktatur" (Fromme) geben kann, dafür sorgt letztlich schon der Einfluß der anderen V e r fassungsorgane auf die W a h l der Richter u n d auf die Ausgestaltung des Verfahrensrechts (Fromme, Demokratisches System u n d politische Praxis, S. 203). Die Kategorien Recht u n d P o l i t i k sind jedenfalls zur Bestimmung der den einzelnen Funktionen zuzuordnenden Gestaltungsräume nicht geeignet. ΐ4β Die Verpflichtung des (Verfassungs-)Richters zur Folgenanalyse bejaht auch Ekk. Stein, Festschr. Menzel, S. 3 (10 f. m. N. i n Fn. 34); s. weiter Pawlowski, D Ö V 1976, S. 505 (509 f.). 147 Sie w i r d lediglich von Bachof, S. 56, angesprochen. 148 Dazu oben unter 4.2.5.
120
4. Der Doppelstatus des B V e r f G u n d seine A u s w i r k u n g e n
4.7. Keine Bindung des BVerfG an Art. 95 Abs. 3 GG Hinzu kommt ein weiterer Gesichtspunkt, der die Sonderstellung des BVerfG i m Verhältnis zu den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes verdeutlicht. Indiz für die Eigenständigkeit des BVerfG i n der Auslegung seines Verfahrensrechts ist A r t . 95 Abs. 3 GG 1 4 9 , der die Voraussetzungen für die Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung normiert 1 5 0 . Das BVerfG w i r d von Art. 95 I I I GG — zu Recht — nicht erfaßt. Bei Entscheidungen über die Auslegung von Bundesrecht, auch wenn nicht dessen Verfassungsmäßigkeit zur Frage steht, ist es an die Entscheidungen der i n A r t . 95 I I I genannten obersten Gerichtshöfe des Bundes zu entsprechenden Rechtsfragen nicht gebunden. Das BVerfG legt z.B. Bundesrecht aus, sofern es sich u m eine Vorfrage nicht verfassungsrechtlicher A r t handelt 1 5 1 . Es ermittelt weiter den Inhalt einer zur Nachprüfung gestellten Norm selbständig 152 und interpretiert insoweit einfaches Gesetzesrecht. Bei den Normen des BVerfGG, die vom BVerfG auszulegen sind, handelt es sich ebenfalls u m unterverfassungsrechtliches Gesetzesrecht des Bundes. Obwohl das BVerfG vielfach einfaches Gesetzesrecht interpretiert, ist es bei Entscheidungsdivergenzen nicht gezwungen, den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen, obwohl eine Einbeziehung des BVerfG durch die Verfassung denkbar gewesen wäre 1 5 3 . Das BVerfG ist deshalb nicht an die von den obersten Gerichtshöfen des Bundes vorgenommene Auslegung einfachen Gesetzesrechts gebunden. Die durch A r t . 95 I I I GG i. V. m. dem Ausführungsgesetz festgeschriebene Koordination der Rspr. erfaßt das BVerfG nicht. Das Gericht kann daher auch, ohne durch die einschlägige Judikatur der obersten Gerichtshöfe beschränkt zu sein, sein Verfahrensrecht insoweit frei auslegen, als i n i h m Rechtsbegriffe enthalten sind, die mit denen anderer Verfahrensordnungen übereinstimmen.
149 i n der Fassung des 16. Ä n d G v. 18. 6.1968 (BGBl. I S. 657). 1 5 0 i. V. m. dem Gesetz zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes v. 19. 6.1968 (BGBl. I S. 661). 151 Dieser Prüfung k a n n sich das B V e r f G nicht entziehen — vgl. BVerfGE 2, 105 (110); 35, 14 (21). 152 s. BVerfGE 7, 45 (50); 8, 210 (217); 10, 340 (345); 17, 155 (163 f.); 17, 306 (311); 18, 70 (80). iss v g l . v.Doemming / Füßlein / Matz, Entstehungsgeschichte der A r t . des GG, JöR 1 (1951), S. 698, nach denen i n den Beratungen der Ausschüsse des Parlamentar. Rates die Frage zunächst offen gelassen worden war, ob das B V e r f G dem damals geplanten obersten Bundesgericht i n einschlägigen Fällen vorlegen müsse; s. auch Holtkotten, B K , A r t . 95, A n m . I, S. 76.
4.8. Ergebnis
121
4.8. Ergebnis I m organisatorischen, i m Verfahrens- und i m Entscheidungsbereich des BVerfG waren Konsequenzen aus seiner Doppelfunktion als Gericht und als oberstes Verfassungsorgan festzustellen. Sie machten die Unterschiede zwischen dem BVerfG und den anderen obersten Gerichtshöfen des Bundes deutlich. So wie jede Rechtsmaterie ihre spezifische Auslegungsmethode fordert, „die von Funktion, Wesen und Wertsystem dieses Rechtsgebietes auszugehen h a t " 1 5 4 , so verlangt jeder Gerichtszweig sein spezifisches Prozeßrecht, das — von grundlegenden gemeinsamen Regeln bei verwandten Gerichtszweigen abgesehen — den Besonderheiten der materiellen Rechtlage entspricht. Aufbauend auf den dargestellten Besonderheiten der Funktion Verfassungsgerichtsbarkeit ist der Zugang zu einer Interpretation des Verfassungsprozeßrechts eröffnet, die i n Ausrichtung auf das durch es zu konkretisierende Verfassungsrecht zu erfolgen hat.
Bachof, S. 45.
5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts Das hier vertretene materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts 1 besagt folgendes: Bei der Interpretation auslegungsfähiger Normen des Verfassungsprozeßrechts ist nicht allein auf deren verfahrensrechtlichen Regelungsbereich abzustellen. Vielmehr muß das durch eine Auslegung des Verfassungsprozeßrechts beeinflußte materielle Recht der Verfassung berücksichtigt werden. Notwendig ist bei der Interpretation des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht nur ein Denken von diesem Rechtsgebiet her, sondern es ist auch vom materiellen Recht der Verfassung her auszulegen. Das materielle Verständnis harmonisiert die Interpretation von Verfassungs- und Verfassungsprozeßrechts durch eine materielle Auslegung des Prozeßrechts (Harmonisierung durch Interpretation). Das aus dem materiellen Verständnis fließende Interpretationsprinzip ist eine Auslegungsregel unter anderen, die den Kanon der bekannten Auslegungsprinzipien ergänzt. Die materiellrechtliche 2 Interpretation von Verfassungsprozeßrecht, auf deren Notwendigkeit aus konkreten Anlässen bereits mehrfach hingewiesen worden ist 3 , bezieht sich i n der Begründung nicht allein auf die festgestellten Besonderheiten des BVerfG i n Organisation, Verfahrens- und Entscheidungsbereich i m Verhältnis zu anderen Gerichtszweigen. Diese „Eigenheiten" der Verfassungsgerichtsbarkeit bilden nur die Basis für eine theoretisch fundierte Begründung des materiellen Verständnisses insoweit, als diese i m Verhältnis zu anderen Verfahrensordnungen eine abweichende Handhabung des Verfassungsprozeßrechts vertretbar sein läßt. Argumente für ein materielles Verständnis des Verfassungsprozeßrechts sollen auf der Ebene formelles — materielles Recht, weiter aus der Qualität des Verfassungsprozeßrechts als materiellem Verfassungsrecht und aus einem einheitlichen 1 I m Anschluß an P. Häberle, Die Eigenständigkeit des Verfassungsprozeßrechts, J Z 1973, S. 451 ff.; vgl. aus jüngerer Zeit ders., J Z 1975, S. 297 (304); J Z 1976, S. 377 (378). Häberle insoweit folgend: Zuck, ZRP 1973, S. 233 (237); J Z 1974, S. 361 (364); N J W 1975, S. 907 (910). — Ablehnend gegenüber der v o n Häberle vertretenen These: E. Schumann, J Z 1973, S. 484 ff.; L. Schäfer, B a y V B l . 1973, S.477 (478); distanziert Zeitler, V e r fassungsgericht u n d völkerrechtlicher Vertrag, S. 214 m. Fn. 128. — Dazu jetzt: Knöpfle, Besetzung der Richterbank, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 142 (152 ff.). 2 Die Begriffe „materiell" u n d „materiellrechtlich" werden hier als Synonyme verstanden. 3 Vgl. ζ. B. unter 2.4.5., 3.3.
5.1. Strukturelle Abhängigkeit des formellen v o m materiellen Recht
123
„dynamischen" Verständnis von Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht gewonnen werden. 5.1. Die strukturelle Abhängigkeit des formellen vom materiellen Redit Das erste Glied der Argumentationskette für die Begründung der materiellen Interpretation des Verfassungsprozeßrechts ergibt sich aus der Gegensätzlichkeit von materiellem Recht (Verfassungsrecht) und formellen Recht (Verfassungsprozeßrecht) 4. A u f der nachzuweisenden Vorrangstellung des materiellen Rechts beruht die strukturelle A b hängigkeit des formellen vom materiellen Recht. Für diesen Ansatz sind zunächst die Kriterien einer Unterscheidung 5 zwischen materiellem und formellem Recht festzulegen. 5.1.1. Die Differenzierung zwischen materiellem und formellem Recht
Bei dem i n Frage stehenden formellen Recht handelt es sich u m das Verfahrensrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit. Nach A r t . 94 Abs. 2 GG regelt der Bundesgesetzgeber „Verfassung und Verfahren" des BVerfG. Dies ist i m BVerfGG geschehen. Konkret ist also zu untersuchen, welche Normen des BVerfGG zum Verfahrensrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit gehören. Dem Begriff des „Verfahrens" i n A r t . 94 I I GG ist bisher, vorwiegend unter Berufung auf historische Gegebenheiten, alles zugeordnet worden, was „herkömmlich i n Verfahrensgesetzen geregelt w i r d " 6 . Darunter fällt das Zustandekommen der Entscheidung, die nähere Ausgestaltung der einzelnen Verfahrensarten ebenso wie die Regelung der W i r k k r a f t der Entscheidungen und die Vollstreckung 7 . Nicht zum Verfahrensrecht gehört die Schaffung materieller Normen 8 . Die Unterteilung i n materielles und formelles Recht ist nicht Selbstzweck, sondern hat durchaus praktische Konsequenzen 9 . Die Kriterien 4 Die Bezeichnung des Verfahrensrechts als formelles Recht geht zurück auf Neuner, Privatrecht u n d Prozeßrecht, S. 7 ff. (dazu Minnerop, Materielles Recht u n d einstweiliger Rechtsschutz, S. 14 f.). 5 Die — heute überwiegend vertretene — Trennung von materiellem u n d formellem Recht ist das Ergebnis v o n Bemühungen der Zivilprozeßrechtswissenschaft, die die Anerkennung des Zivilprozeßrechts als selbständiges Rechtsgebiet verfocht (vgl. Minnerop, S. 11 ff. m. N.; Ar ens, A c P 173 [1973], S. 250). β Maunz, Maunz / Sigloch, Vorbem., Rdnr. 22. 7 Stern, B K , A r t . 94, Rdnr. 116; Maunz, ebd., Rdnr. 33. 8 Stern, ebd., Rdnr. 117. 9 So erfordert i m zivilgerichtlichen Revisionsverfahren §55911 ZPO f ü r Verfahrensmängel eine ausdrückliche Rüge gem. §§ 554, 556 ZPO (s. Minnerop, S. 22, m. w.Beisp.).
124
5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
der Zuordnung sind aber final bestimmt durch den von ihr zu erfüllenden Zweck 10 . Insoweit kann eine Bestimmung des Verfahrensrechts hauptsächlich unter Zugrundelegung historisch bedingter Gesichtspunkte nicht befriedigen. Auch eine etwa vom Gesetzgeber vorgenommene Einteilung i n materielles und formelles Recht ist für eine Beurteilung unter systematischen Kriterien allein nicht ausschlaggebend11. Sie hat lediglich Indizcharakter. Einer Zurechnung zu einem bestimmten Bereich stehen auch nicht Gesetzesbefehl und -folge entgegen, da sie durch diese nicht verändert werden 1 2 . Das maßgebliche K r i t e r i u m für eine Abgrenzung ist die unterschiedliche Aufgabe des materiellen Rechts einerseits und des Verfahrensrechts andererseits 13 . Bei der Abgrenzung ist — bezogen auf den Gegenstand dieser Untersuchung — anzuknüpfen an dem Verfassungsprozeß als notwendigem Gegenstand des Verfassungsprozeßrechts 14 . Entscheidendes Merkmal des Prozesses ist sein verfahrensmäßiger Ablauf. Es kommt so zu einer Betonung der Verfahrenselemente und damit zu einer funktionalen Betrachtung: Der Prozeß ist dadurch gekennzeichnet, daß er vor einem Gericht i n einem bestimmten Verfahren durchgeführt und auf den Abschluß durch eine gerichtliche Entscheidung ausgerichtet ist 1 5 . Zum Prozeßrecht gehören daher alle Normen, die ein Verfahren von oder vor einem Gericht regeln, das eine gerichtliche Entscheidung bezweckt 16 . Unerheblich für diese Zuordnung ist, ob die fraglichen Normen an materiellrechtliche Tat bestände anschließen oder m i t materiell- bzw. prozeßrechtlichen Sanktionen bewehrt sind 1 7 . Die Vorschriften können darüberhinaus zugleich einen Verfahrens- sowie einen materiellrechtlichen Inhalt haben 18 . 10 Minnerop, S. 22 f. Minnerop, S. 25 Fn. 81; Arens, S. 252; vgl. weiter W. Henckel, Prozeßrecht u n d materielles Recht, S. 5, der als Beispiel § 2039 B G B anführt. Diese N o r m ist v o m Gesetzgeber ausschließlich materiellrechtlich gesehen worden, aus i h r folgt aber prozessual die Zuerkennung der Prozeßführungsbefugnis des Miterben. 12 W. Henckel, S. 5. 13 s. dazu Minnerop, S. 26. 1 4 Bei der Bestimmung dessen, was der Prozeß eigentlich ist, muß zwischen dem Prozeß als Gegenstand der Betrachtung (W. Henckel, S. 6, nennt es das „Wesen" des Prozesses) u n d dem m i t dem Prozeß nicht identischen Prozeßzweck unterschieden werden (Bötticher, Z Z P 85 [1972], S. 1 [25]). 15 Vgl. W. Henckel, S. 8. — Diese auf W. Henckel zurückgehende Formulierung ist zwar relativ formal (Arens, S. 253), ist jedoch i n diesem Z u sammenhang als ausreichend anzusehen (kritisch dagegen auch Minnerop, S. 27). — Z u m justizförmigen Verfahren s. Chr. Starck, W D S t R L 34 (1976), S. 43 (67 f.). 16 W. Henckel, S. 9, 21; Bötticher, S. 26. i? W. Henckel, S. 10; i n diesem Sinne auch BVerfGE 37, 363 (390 f.). So ausdrücklich auch BVerfGE 37, 363 (391). 11
5.1. Strukturelle Abhängigkeit des formellen v o m materiellen Recht
125
Angewendet auf das Verfahrensrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit bedeutet diese Festlegung, daß unter den Begriff des Verfassungsprozeßrechts alle Normen fallen, die ein auf eine Entscheidung von oder vor einem Verfassungsgericht gerichtetes Verfahren regeln 19 . Das gilt von den Zuständigkeitsvoraussetzungen und Antragsberechtigungen bis zu den Entscheidungswirkungen. Z u m Verfahrensrecht sind daher die Regelungen der §§ 17 bis 96 BVerfGG zu zählen, die fortan als Verfassungsprozeßrecht bezeichnet werden 2 0 . Nach dem hier vertretenen engen Verfassungsprozeßrechtsbegriff gehört das i m BVerfGG geregelte Recht der „Verfassung" des BVerfG (Art. 94 I I GG), sein Statusrecht 21 , nicht mehr zum Verfahrensrecht. Die Normen, die das Statusrecht beinhalten, regeln kein Verfahren von oder vor dem BVerfG. I h r Wirkungsbereich erstreckt sich nicht auf die gerichtliche Entscheidung. Sie sind daher dem materiellen Recht zuzuschreiben. 5.1.2. Das (Spannungs-)Verhältnis zwischen materiellem und formellem Redit Weiter ist das für die Interpretation des formellen Rechts bedeutsame Verhältnis des materiellen zum Verfahrensrecht zu bestimmen. Z w i schen dem materiellen und dem i h m zuzuordnenden Verfahrensrecht bestehen vielfältige Querverbindungen 22 . Das Verfahrensrecht ist dabei vom materiellen Recht nicht unabhängig 23 , sondern oft bis ins Detail Ausdruck der i h m zuzuordnenden materiellrechtlichen Grundlage 24 . 19 Z u r Bestimmung des materiellen Rechts vgl. auch die Definition v o n W. Henckel Λ S. 21. so Unter den Begriff des Verfahrensrechts sind auch an sich die V o r schriften über die Zuständigkeiten des B V e r f G einzuordnen, da sie das Verfahren vor dem Gericht eröffnen. Sie sind aber aus dem Regelungsbereich der Kompetenznorm des A r t . 94 I I G G auszuklammern, da A r t . 93 I I GG, der n u r Zuständigkeitserweiterungen durch den Gesetzgeber gestattet, i n soweit lex specialis gegenüber A r t . 94 I I GG ist (im Ergebnis ebenso: Stern, A r t . 94, Rdnr. 107, 113, 117; Maunz, Maunz / Sigloch, Vorbem., Rdnr. 33; Goessl, S. 77). A r t . 94 I I wiederum ist lex specialis gegenüber A r t . 74 Nr. 1 G G (vgl. Zembsch, S.43). 21 Darunter fallen „alle Materien, die m i t Errichtung, Einrichtung u n d Status, Organisation u n d Geschäftsverteilung, Richterbesetzung, -berufung u n d -abberufung u n d ihrer Rechtsstellung sowie der Gerichtsverwaltung zusammenhängen" (Stern, A r t . 94, Rdnr. 112; vgl. auch Maunz, Vorbem., Rdnr. 33; v. Eichborn, Die Bestimmungen über die W a h l der Bundesverfassungsrichter als Verfassungsproblem, S. 18, w i l l den Begriff der „ V e r fassung" i n A r t . 94 I I G G auf Einrichtung oder Errichtung des B V e r f G beschränkt wissen, so daß das Wahlverfahren nach § 6 B V e r f G G nicht unter A r t . 94 I I G G fällt.). 22 Vgl. A. Blomeyer, AcP 159 (1960/61), S. 385 (405), der gegen die „Eigenständigkeit" des Prozeßrechts unter Ignorierung seiner funktionellen A b hängigkeit v o m materiellen Recht votiert. 23 Gegen eine Selbständigkeit des Verfahrensrechts v o m materiellen Recht auch Renck, JuS 1966, S. 273 (275 m. Fn. 14); Grunsky, Grundlagen, S. 15.
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5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
Diese p r ä g t d i e z u g e h ö r i g e V e r f a h r e n s o r d n u n g 2 5 . Es w ä r e a l l e r d i n g s eine v e r k ü r z t e B e t r a c h t u n g s w e i s e , w e n n m a n u n t e r B e t o n u n g d e r A b h ä n g i g k e i t d e r Regelungsbereiche 2 8 d i e W e c h s e l w i r k u n g e n z w i s c h e n m a t e r i e l l e m u n d V e r f a h r e n s r e c h t u n b e r ü c k s i c h t i g t l i e ß e 2 7 . Das v i e l schichtige ( S p a n n u n g s - ) V e r h ä l t n i s 2 8 zwischen d e n b e i d e n Rechtskreisen i s t k e i n e E i n b a h n s t r a ß e , d i e b e i m m a t e r i e l l e n Recht b e g i n n t u n d b e i m f o r m e l l e n a u f h ö r t . Es l ä ß t sich ebenfalls n i c h t a u f eine Z w e c k - M i t t e l R e l a t i o n z w i s c h e n m a t e r i e l l e m u n d f o r m e l l e m Recht z u r ü c k f ü h r e n 2 9 . Z w i s c h e n b e i d e n Rechtsgebieten s o l l e n auch E i n f l u ß m ö g l i c h k e i t e n b e stehen. M a t e r i e l l e s u n d f o r m e l l e s Recht s i n d b e i d e r I n t e r p r e t a t i o n des m a t e r i e l l e n u n d des f o r m e l l e n Rechts i n e i n e r Gesamtschau z u sehen. A n s a t z p u n k t d e r A u s l e g u n g m u ß i n b e i d e n F ä l l e n aber das m a t e r i e l l e Recht s e i n 3 0 , d a m i t eine V e r a b s o l u t i e r u n g des v e r f a h r e n s r e c h t l i c h e n I n t e r p r e t a t i o n s s t a n d p u n k t e s u n t e r b l e i b t . Sicher k o m m t d i e strukturelle Interdependenz 31 zwischen m a t e r i e l l e m u n d V e r f a h r e n s 32 recht i n den einzelnen Rechtsmaterien unterschiedlich stark z u m 24 Kniesch, M D R 1954, S. 5; F. Baur, S u m m u m ius summa iniuria, S. 97 (106); Gaul, A c P 168 (1968), S. 27 (51); Hagen, Allgemeine Verfahrenslehre, S. 30, 103; W. Henckel, Gerechtigkeitswert, S. 11; H. Henkel, Strafverfahrensrecht, S. 17, f ü r den Strafprozeß. 25 Grunsky, Z Z P 85 (1972), S. 373 (386 f.). 2β s. jetzt ff. ff. Rupp, AöR 101 (1976), S. 161 (197 Fn. 106): „Eine solche materiellrechtliche Konzeption schlägt sich . . . auch materiellrechtlich nieder . . . " . 27 Dazu Lerche, Z Z P 78 (1965), S. 1 (3). — K r i t i s c h gegenüber der E r kenntnis v o n der wechselseitigen E i n w i r k u n g zwischen formellem u n d materiellem Recht Minnerop, S. 10. 28 ff. ff. Rupp, S. 186: „ . . . die gesamte Prozeßrechtslehre findet zu der Einsicht zurück, daß materielles u n d prozessuales Recht k e i n getrenntes Dasein führen, vielmehr einander zugeordnet sind u n d sich gegenseitig durchdringen u n d bedingen." 2ö Z w a r w i r d das Prozeßrecht allgemein als das M i t t e l zur Feststellung u n d Durchsetzung des materiellen Rechts angesehen (dazu Noll, Gesetzgebungslehre, S. 108 f.), weiter w i r d über das M e r k m a l des Prozeßzwecks versucht, das Verhältnis von materiellem u n d Prozeßrecht zu bestimmen (so auch Jauernig, JuS 1971, S. 329 ff.), dabei w i r d jedoch nicht ausreichend beachtet, daß Zwecke i m m e r m i t verschiedenen M i t t e l n erreicht werden können. Gerade die Unterschiede zwischen den einzelnen M i t t e l n sind oft v o n entscheidender Bedeutung. Darüberhinaus liegt (auch) f ü r die Rechtswissenschaft die Schwierigkeit darin, zwischen Zweck u n d M i t t e l zu u n t e r scheiden (Noll, S. 108 m. w. N.), festzustellen, was n u n jeweils Zweck u n d was M i t t e l ist (zur Problematik der Vermischung der Ebenen v o n Zweck u n d M i t t e l s. Lipphardt, S. 352). M i t t e l führen ebenso zur Vorauswahl der Zwecke, w i e bei der Festlegung des Zwecks die M i t t e l berücksichtigt werden. 3° Vgl. auch Schmitz, S. 46: „Je mehr eine prozessuale Regelung v o m materiellen Recht abhängig ist, umso weniger ist ihre Übertragung auf ein anderes Verfahren geboten." Obermayer, DVB1. 1965, S. 625; i h m folgend V.Engelhardt, Rechtsschutz gegen Rechtsnormen, S. 123. 82 Bötticher, S. 2, spricht v o n der „ I n f r a s t r u k t u r " der Verfahrensordnungen, Jauernig, S. 329 v o n „existentieller Abhängigkeit" des Verfahrensrechts.
5.1. Strukturelle Abhängigkeit des formellen v o m materiellen Recht
127
Ausdruck, sicher ist aber auch, daß eine strukturelle Abhängigkeit für alle Verfahrensordnungen nachgewiesen werden kann. Ein Beispiel für die „materielle Determiniertheit" 3 3 einer Verfahrensordnung ist das Recht des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), das „ i m Zusammenhang m i t dem materiellen Recht der Daseinsvorsorge gesehen werden muß, dem es dient" 3 4 . Daraus schließt das BVerfG auf eine Ausgestaltung auch des Verfahrensrechts als Schutzrecht 35 für den Einzelnen. Zielsetzung des materiellen Rechts und des Verfahrensrechts entsprechen sich also. Das formelle muß i m Hinblick auf das materielle Recht ausgelegt werden 3 6 . Hier w i r d bereits deutlich, daß der funktionelle Zusammenhang 37 zwischen materiellem und formellem Recht Auswirkungen auf die Interpretation verfassungsprozeßrechtlicher Normen haben muß. Kenntnis und Berücksichtigung des materiellen Rechts ist eine notwendige Voraussetzung zur Lösung prozessualer Probleme, wie umgekehrt die Kenntnis des Prozeßrechts Bedingung für die Erfassung materiellrechtlicher Probleme sein kann 3 8 . Das materielle (Verfassungs-)Recht bildet i m Rahmen der Interpretation das „Vorverständnis" des (Verfassungs-)Prozeßrechts. 5.1.3. Problematik der verfahrensbedingten Interpretation des materiellen Rechts Die Abhängigkeit des formellen vom materiellen Recht w i r d i n der Praxis der Rechtsprechung oft i n ihr Gegenteil verkehrt. M. a. W., das formelle Recht präjudiziert die Interpretation des materiellen Rechts 39 . Dem (Verfassungs-)Richter stellt sich die zu entscheidende Sachfrage ss So f ü r das Verwaltungsprozeßrecht Obermayer, S. 625. 34 BVerfGE 9, 124 (133). 35 Danach ist das formelle Recht der Sozialgerichtsbarkeit, „ — obwohl als Streitverfahren ausgebildet — v o m Gesetzgeber i n seiner gesamten Anlage von vornherein als Schutzrecht gedacht u n d gestaltet" (so BVerfGE 9, 124 [133]). 36 Vgl. auch BVerfGE 31, 306 (308); 36, 298 (306), w o das B V e r f G ausführt, daß die arbeitsrechtlichen Streitigkeiten sich i n ihrer verfahrensmäßigen Behandlung von den übrigen zivilrechtlichen Streitigkeiten fortentwickelt haben u n d nicht mehr uneingeschränkt als Zivilprozesse angesehen werden können. Arbeitsrechtliche Streitigkeiten werden v o n besonderen Gerichten nach einer besonderen Prozeßordnung entschieden. — Der G r u n d liegt i n der notwendigen stärkeren Berücksichtigung der materiellrechtlichen Ausgangssituation. 37 Begriff von F. Baur, S. 106. 38 Grunsky, Z Z P 85 (1972), S. 387. 39 p . Häberle, AöR 99 (1974), S. 437 (445 Fn. 41, 459, 460: „Die Anlage u n d die jeweilige Ausgestaltung des Verfahrens determiniert u n d präjudiziert i n erheblicher Weise die Inhalte, die als Resultat hervorgebracht werden.").
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5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
eingekleidet i n ein formellrechtliches Gewand 4 0 . Von der Logik seines Vorgehens her ist der Verfassungsrichter, u m dessen Interpretationspotential es hier vorrangig geht, gezwungen, zuerst die relevanten prozessualen Aspekte der Verfassungsstreitigkeit zu untersuchen. Schon i n diesem Stadium fallen Vorentscheidungen für die spätere materiellrechtliche Prüfung, denn u m eine materiellrechtliche Problematik aufzugreifen, bedarf es zuvor ihrer Einordnung i n eine bestimmte Verfahrensart des dem Richter vorgegebenen Verfahrensschemas. Vorwirkungen des Verfahrensrechts auf die Auslegung materiellen Rechts lassen sich abstrakt und auch konkret, an Beispielen aus der Rechtsprechung des BVerfG, belegen. 5.1.3.1. Vorwirkungen des formellen Rechts auf die Interpretation materiellen Rechts Vor- und Auswirkungen des Verfahrensrechts auf die Interpretation des materiellen Rechts ergeben sich i n allen Stadien des Ablaufs eines Verfassungsprozesses. So ist die Entscheidung über die Zulässigkeit einer konkreten Verfahrensart wegen der verschiedenen Voraussetzungen, u. a. beim Rechtsschutzbedürfnis, bei der Beachtung von Fristen, von Belang. Darüberhinaus ist die Verfahrensart für den Prüfungsmaßstab des BVerfG von ausschlaggebender Bedeutung. Erstreckt er sich bei den Verfassungsbeschwerden auf die Verletzung von Grundrechten, so folgt daraus, daß Anträge der Beschwerdeführer, auch und insbesondere objektives Verfassungsrecht sei verletzt, vom Gericht lediglich als Anregungen betrachtet werden, die nicht beschieden werden müssen 41 . — I m Organstreit kann nicht die Verletzung von Grundrechten gerügt werden, während i n den Normenkontrollverfahren die materielle Prüfung nicht durch verfahrensmäßige Begrenzungen beschränkt w i r d 4 2 . — Die subjektiven Verfahren der Verfassungsgerichtsbarkeit stellen auch an die materiellrechtliche Argumentation andere Anforderungen als die objektivrechtlichen 43 . — I n diesem Zusammenhang ist ferner von Interesse, inwieweit das Prozeßrecht bzw. sein Hauptinterpret, das BVerfG, die Änderung von verfahrenseinleitenden Anträgen ge40 s. P. Häberle, S. 459 Fn. 92: „rechtsgestaltende W i r k u n g des Verfahrens." 41 s. z.B. BVerfGE 1, 264 (271); 3, 58 (74); 6, 376 (385); Leibholz / Rupprecht, § 90, Rdnr. 68. — Allerdings werden die zwischen den einzelnen V e r fahrensarten bestehenden Unterschiede i n der jüngeren Rspr. des B V e r f G zunehmend nivelliert — kritisch insoweit gegenüber dem Diätenurteil des B V e r f G i n E 40, 296 ff. insbesondere Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 67 (1976), S. 303 ff. s. auch P. Häberle, J Z 1976, S. 377 (382). 42 Z u m ganzen auch Lipphardt, S. 504. 43 s . Lipphardt,
S. 465.
5.1. Strukturelle Abhängigkeit des formellen v o m materiellen Recht
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stattet. Über die Zu- bzw. Nichtzulassung einer Antragsänderung 44 befindet das Gericht bereits i n diesem Stadium, ob es überhaupt zur Prüfung einer materiellrechtlichen Frage kommt. Entsprechendes gilt für die Handhabung der Antragsumdeutung 4 5 . Macht das Gericht von dieser i m Verfahrensrecht angelegten Möglichkeit nur restriktiv Gebrauch, verwehrt es ggf. den Zugang zu materiellrechtlichen Problemen. Läßt es Antragsänderungen bzw. -umdeutungen i n weitem Rahmen zu, eröffnet es sich unter Umständen erst die Möglichkeit zur Entscheidung materiellrechtlicher Fragen. Es kann so seinen Einwirkungsbereich durchaus erweitern 4 6 . 5.1.3.2. Nachweis der verfahrensbedingten Interpretation materiellen Rechts in der Rechtsprechung des BVerfG Bereits oben 47 ist i m Hinblick auf die rechtliche Qualifizierung der Staatsverträge zwischen „alten" und neu geschaffenen Ländern nachgewiesen worden, daß das BVerfG i n Auslegung des materiellen Rechts eine A r t „Prozeßstandschaft" der berechtigten Gebietskörperschaften angenommen hat, u m so überhaupt das verfassungsgerichtliche Verfahren eröffnen zu können. Der Nachweis verfahrensbedingter Interpretation materiellen Rechts kann auch für Fälle aus der Judikatur des BVerfG zur Chancengleichheit der Parteien unter Bezugnahme auf die Arbeit von Lipphardt 48 geführt werden. Die Rechtsprechung des BVerfG zu dieser Frage ist widersprüchlich 49 . Das läßt sich nicht allein auf die anfangs gespaltene Zuständigkeit der beiden Senate des BVerfG zurückführen, sondern es ist — zumindest auch — Konsequenz einer zu sehr auf die verfahrensrechtlichen Möglichkeiten abstellenden Interpretation von Verfassungsrecht. Insbesondere die Zuweisung verschiedener Verfahrensarten für die Geltendmachung der verfassungsmäßigen Rechte der 44 Z u den Voraussetzungen der Antragsänderung s. BVerfGE 13, 54 (94); Leibholz / Ruppr echt, vor §17, Rdnr. 3, A n m . d; Lechner, v o r §17, A n m . Β I I 2 b (S. 172 f.); Klein, Maunz / Sigloch, vor §17, Rdnr. 8. Insbesondere über das K r i t e r i u m der „Zweckmäßigkeit" (BVerfGE 13, 54 [94]) der A n tragsänderung fließen materielle Gesichtspunkte i n die Bewertung ein. « BVerfGE 1, 14 (39); 8, 28 (35); 23, 146 (150); Leibholz ! Ruppr echt, v o r § 17, Rdnr. 3 A n m . g; Lechner, vor § 17, A n m . Β I I 1 (S. 170). — Z u Objektivierungstendenzen i n der Rspr. des B V e r f G zur Antragsumdeutung s. P. Häberle, JZ 1976, S. 382 unter Hinweis auf Lipphardt, S. 394 m. Fn. 131. 4 6 Ä h n l i c h liegt das Problem bei der Zulassung von Hilfsanträgen; dazu Lechner, v o r § 17, A n m . Β I I 2 b (S. 172 f.). 4 ? Unter 3.7. 48 Lipphardt, Die Gleichheit der politischen Parteien vor der öffentlichen Gewalt. 4 » Lipphardt, S. 690 f.
9 Engelmann
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5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
Parteien bedarf der K r i t i k 5 0 . Sie ist i n maßgeblichem Umfang ausschließlich verfahrensbedingt 51 . Das BVerfG konnte sich bisher nicht grundsätzlich über die materiellrechtliche Stellung der Parteien i n der Ordnung des GG klar werden. Ihnen w i r d eine Doppelposition zugewiesen. Für einen Teil ihres Tätigwerdens, soweit sie i m Bereich von Wahlen agieren, werden sie als Verfassungsorgane angesehen. Das gilt aber nur insoweit, als sie ihren eigenen verfassungsrechtlichen Status als Verfassungsorgan gegenüber anderen Verfassungsorganen verteidigen müssen 52 . Daraus erfolgt prozessual ihre Zulassung zum Organstreitverfahren. Ansonsten verweist das BVerfG die Parteien „aus dem inneren Bereich des Verfassungslebens" i n den gesellschaftlich-politischen Raum. Die Beeinträchtigung ihrer Rechte durch die öffentliche Gewalt i n diesem Sektor können die Parteien ausschließlich i m Wege der Verfassungsbeschwerde und nicht mehr i m Organstreitverfahren geltend machen 53 . Die Unsicherheit des Gerichts i n der Beurteilung der materiellrechtlichen Ausgangslage, insbesonder die Frage nach dem Status der Parteien — Grundrechtsträgerschaft oder organschaftlicher Status — und die nach dem verfassungsrechtlichen Standort der Chancengleichheit (Art. 21, 38 oder 3 GG), führen zu verfahrensbedingten Lösungen 54 , durch die wiederum materiellrechtliche Fragen mitentschieden werden. Eine Schwierigkeit des Gerichts für die verfassungsrechtliche Zuordnung der Chancengleichheit der politischen Parteien lag darin, bei Verfassungsbeschwerden die Verletzung eigener Rechte der Beschwerdeführer auf Chancengleichheit auch i n den Fällen zu begründen, i n denen Wahlgesetze der Länder auf ihre Vereinbarkeit m i t dem grundgesetzlichen Grundsatz der Chancengleichheit zu überprüfen waren 5 5 . Für den Bund hatte das Gericht die Chancengleichheit i n A r t . 38 Abs. 1 GG, dessen Verletzung gem. A r t . 941 Nr. 4 a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG mit der Verfassungsbeschwerde angegriffen werden kann, abgesichert gesehen. Die entsprechende Verpflichtung der Länder aus A r t . 28 Abs. 1 S. 2 GG gibt aber nach der Judikatur des BVerfG dem Einzelnen kein subjektives Recht. Das Gericht mußte daher die Wahlrechtsgleichheit dem A r t . 3 GG unterstellen, u m überhaupt einen Prüfungsmaßstab zu haben 56 . so Lechner, § 13 Ziff. 5, A n m . 13 d, bb (S. 97), bezeichnet sie insgesamt als „ w e n i g eindeutig". Lipphardt, S. 169, 244, 503, 691 u. ö. s2 Lipphardt, S. 468 f. m. ausführl. Nachw. «3 Vgl. Lipphardt, S. 214 ff. m. w. N. 54 s. Lipphardt, S. 226. w Lipphardt, S. 173 m. w. N.; s. auch Frowein, AöR 99 (1974), S. 72 (81). δβ Lipphardt, S. 173.
5.2. Verfassungsprozeßrecht als materielles Verfassungsrecht
131
Ein weiterer Aspekt verfahrensbedingter Argumentation zeigt sich i n den „Sendezeitentscheidungen" des BVerfG 5 7 . Hier w i r d den politischen Parteien die bereits früher für gleichgelagerten Situationen zugestandene Verfassungsorganqualität auf die Fälle beschränkt, i n denen ihnen diese bzw. die aus i h r folgenden Rechte von einem Verfassungsorgan streitig gemacht werden. Der Status einer politischen Partei kann aber, wie Lipphardt zutreffend ausführt, nicht von dem Status des sie beeinträchtigenden Gegners abhängen. Der ursprünglichen Zuerkennung der Verfassungsorganqualität der Parteien lag nicht eine materiellrechtliche Sicht zugrunde. Sie beruhte auf verfahrensrechtlichen Überlegungen 58 . Vor der Frage der gerichtlichen Durchsetzbarkeit von Rechten muß die Klärung der materiellrechtlichen Position stehen. 5.1.4. Ergebnis
Zwischen materiellem und dem i h m zuzuordnenden formellen Recht besteht ein funktionaler Zusammenhang, der eine strukturelle Abhängigkeit des formellen Rechts bedingt. Seine sachgerechte Interpretation macht das Miteinbeziehen des materiellen Rechts erforderlich. Diese Prämisse w i r d i n der Praxis der Rechtsprechung teilweise i n i h r Gegenteil verkehrt. M i t der Aufbereitung des materiellen Rechts i m Verfahren werden i n und über das Verfahrensrecht materiellrechtliche Fragen (vor)entschieden. Materielles Recht erfährt eine verfahrensbedingte Interpretation. Dabei darf aus Verfahrens(rechts)zwängen keine „Zwangsjacke" für das materielle Recht erwachsen. Einer ausschließlich verfahrensmäßigen Sicht der Interpretation materiellen Rechts w i r d durch eine materielle Interpretation des Verfahrensrechts vorgebeugt. Die materielle Interpretation des Verfassungsprozeßrechts gleicht den Substanzverlust, dem materielles Recht i m Verfahren unterliegt, wieder aus. Sie beruht aber nicht allein auf der dargestellten strukturellen Abhängigkeit des Verfassungsprozeßrechts vom Verfassungsrecht auf der Ebene formelles — materielles Recht. Sie w i r d auch gefordert auf Grund einer „ganzheitlichen" Auslegung des Verfassungsrechts. 5.2. Verfassungsprozeßrecht als materielles Verfassungsrecht Ein weiteres Argument für die Annahme einer materiellrechtlichen Interpretation des Verfassungsprozeßrechts kann sich aus seiner Rechtsqualität als materielles Verfassungsrecht i. V. m. dem Interpretationsprinzip der „Einheit der Verfassung" ergeben. 57 Ders., S. 227 ff. m. N. aus der Rspr. 58 Lipphardt, S. 228. 9*
132
5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
5.2.1. Die Zugehörigkeit des Verfassungsprozeßrechts zum materiellen Verfassungsrecht Das Verfassungsprozeßrecht kann von seiner Bedeutung und seiner Funktion her als materielles Verfassungsrecht einzustufen sein. Die Kennzeichnung als materielles Verfassungsrecht bei kodifizierten Verfassungen bezieht sich auf das Verhältnis zur formellen Verfassung 59 , die i n der förmlichen (geschriebenen) Verfassungsurkunde niedergelegt ist 6 0 . Neben dem i n der formellen Verfassung des GG enthaltenen Verfassungsrecht besteht noch weiteres, nämlich materielles Verfassungsrecht 61 . Z u dem das gesamte Verfassungsrecht umfassenden „Verfassungsrechtskreis" 62 gehört zum einen somit das formelle und das es ergänzende ungeschriebene Verfassungsrecht, das dem formellen zugerechnet wird. Welche Materien als materielles Verfassungsrecht weiter zum Verfassungsrechtskreis zählen und nach welchen Kriterien sich die Zugehörigkeit richtet, ist bisher nicht abschließend geklärt 6 3 . Formelles und materielles Verfassungsrecht brauchen sich jedenfalls nicht zu decken, formelles Verfassungsrecht kann auch materielles Verwaltungsrecht sein 64 . Die Bestimmung des materiellen Verfassungsrechts hängt vom zugrundeliegendem Verfassungsbegriff und -Verständnis ab 65 . Materielle Verfassung i n diesem Zusammenhang ist die „rechtliche Grundordnung des Staates" 66 , ohne Rücksicht auf Inhalt und A r t des Zustandekommens der Vorschriften 67 . Sie umfaßt alle grundlegenden Normen 6 8 und Leitprinzipien, die als Integrationsmechanismen wirksam sind und nach denen staatliche Aufgaben wahrgenommen werden 6 9 , unabhängig δ» Stern, A r t . 99, Rdnr. 16. 60 Herzog, Allgem. Staatslehre, S. 310; G. Hoff mann, i n : Verfassungsrecht, S. 11 (13). 61 Herb. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 292; Badura, A r t . Verfassung, Evangel. Staatslexikon, Sp. 2707 (2712). 62 Der Begriff stammt von Friesenhahn, HdbStR I I , S. 524. es I n diesem Sinne auch Herb. Krüger, Festschr. Scheuner, S. 285. 64 Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 66 (1975), S. 169 (173) m. ζ. N. 65 Z u beachten ist, daß es nicht den Verfassungsbegriff m i t ausschließlichem Geltungsanspruch gibt, sondern daß dieser je nach Aufgabenstellung u n d Zielsetzung unterschiedlich festgelegt werden kann. — Z u r rechtlichen Bedeutung verschiedener Verfassungsbegriffsansätze s. G. Hoffmann, S. 14 f. 66 Kägi, Die Verfassung als rechtliche Grundordnung des Staates; s. weiter Hesse, Grundzüge, S. 5, 11. 67 Badura, Sp. 2711. β» Vgl. R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 32: „ . . . die politischen Grundentscheidungen des Staaten"; Herzog, Staatslehre, S. 309: „ . . . die grundsätzlichen Rechtsnormen." 60 s. G. Hoff mann, S. 13 : Verfassung i m materiellen Sinne ist „die Gesamtheit der Regeln über die Organisation u n d die L e i t u n g des Staates, über die B i l d u n g u n d den Aufgabenkreis der obersten Staatsorgane, über
5.2. Verfassungsprozeßrecht als materielles Verfassungsrecht
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davon, ob sie i n der formellen Verfassung enthalten sind. Konkret werden zum materiellen Verfassungsrecht auch die nicht i m formellen Verfassungsrang stehenden Rechtssätze, die auf die Kreation, Konstituierung und Organisation von Verfassungsorganen bezogen sind, gerechnet 70 . Es sind Wahlgesetze, Geschäftsordnungen von obersten Verfassungsorganen, Parteien- und Richterwahlgesetze 71 . Als Ansatzpunkt für die Zugehörigkeit zum materiellen Recht dient das K r i t e r i u m der „grundlegenden Bedeutung" für das Staatsganze. Dieser Begriff eröffnet vielfache Interpretationsmöglichkeiten. Er ist daher unter Rückgriff auf die Regeln der formellen Verfassung einzugrenzen. Nur die Materien, die von der formellen Verfassung vorausgesetzt und bedingt sind und bei denen es sich zugleich u m zentrale Fragen der politischen Struktur handelt, dürfen dem materiellen Verfassungsrecht zugeordnet werden. I n der formellen Verfassung sind Voraussetzungen für die Entstehung materiellen Verfassungsrechts aufgezeigt. Von ihr w i r d die Kompetenz zum Erlaß materiellen Verfassungsrechts konstitutiv an den Bundestag i n seiner Funktion als Legislative (Beisp.: A r t . 38 Abs. 3 GG — Bundeswahlgesetz) erteilt, sie weist — deklaratorisch — den obersten Verfassungsorganen die Befugnis zum Erlaß materiellen Verfassungsrechts zu (Geschäftsordnungsautonomie). Aus der bisherigen Erörterung des materiellen Verfassungsrechtsbegriffs ist bewußt die noch nicht abschließend geklärte Frage nach dem Spannungsverhältnis von Verfassungs- und Gesetzesrecht 72 ausgeklammert worden. Es handelt sich dabei vor allem u m die Überlegungen, welchen „Verdichtungen" von (Gesetzes-)Recht Verfassungsrang zuerkannt werden muß 7 3 . Abgestellt w i r d hierbei nicht auf das K r i t e r i u m der „grundlegenden Bedeutung", sondern auf den Grad der Ausfüllung der Verfassung durch an sie i n Form von Rechtssätzen, der einschlägigen Judikatur und der Rechtsverwirklichung i m Alltag die B i l d u n g des Staatswillens durch Zusammenwirken der Staatsorgane, über die grundlegenden Staatseinrichtungen sowie über die Begründung u n d den I n h a l t des Staat-Bürger-Verhältnisses". — s. weiter: Hesse, G r u n d züge, S. 11 f.; Badura, Sp. 2712; Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 66, S. 174. 70 Stern, A r t . 99, Rdnr. 16; zur „Gesamtverfassung" s. auch R. Zippelius, S. 32. 71 Vgl. Maunz, M D H , A r t . 93, Rdnr. 4; Goessl, S. 100 m. Fn. 401; Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 66, S. 173. 72 Zur Diskussion s. P. Häberle, Die Wesensgehaltgarantie, 1. Aufl., S. 175 ff., 180 ff., 210 ff., 213 ff., 219 ff. bezüglich des Zusammenhangs v o n Grundrechten u n d Gesetzesrecht; ders., Die Wesensgehaltgarantie, 2. Aufl., Vorwort, S. V I ; Leisner, V o n der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze zur Gesetzmäßigkeit der Verfassung; Lerche, Festgabe Maunz, S. 285 (286 ff.); weiter i n diesem Zusammenhang Herb. Krüger, Festschr. Scheuner, S. 285 (305 f.). 73 Dazu Herb. Krüger, S. 285 ff.; weiter P. Häberle, öffentliches Interesse, S. 442.
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5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
heranwachsende Rechtsmaterien, wobei insbesondere die Möglichkeit der Kreation von materiellem Verfassungsrecht durch den Gesetzgeber Interesse verdient. Funktion der Legislative i n ihrer Zuordnung zur Verfassung ist es, diese über deren konkretisierungsfähige und -bedürftige Begriffe zu gestalten und auszufüllen 74 . Erst durch die Tätigkeit des Gesetzgebers, der die Verfassungsnormen i n seinen Gesetzen maßgeblich (vor)interpretiert, w i r d die Verfassung i n weiten Bereichen Wirklichkeit 7 5 . Diese Sicht hat zur Folge, daß sich die Verfassung i n erheblichem Umfang als das Konzentrat von unterverfassungsrechtlichen Normen darstellt 7 6 . U m sie als den Unterbau der Verfassung i n diese miteinzubeziehen, bedürfte es einen weiten materiellen Verfassungsbegriffes, der davon ausginge, daß auch die wesentlichen unterverfassungsrechtlichen Kodifikationen zumindest i n ihrer Substanz zur Verfassung zu zählen sind 7 7 . Damit würden diese Normen über die von ihnen geordnete Wirklichkeit zum Verfassungsinhalt. Die so vorgenommene Einbindung der Normenkonzentrate i n die Verfassung ist problematisch. Es stellt sich sofort die Frage nach den Grenzen dieser Beeinflussung des Verfassungsinhaltes durch Gesetze bzw. Gesetzgebung i m Wege einer „nachholenden Verfassungsgebung" 78 . Abgesehen von den Bedenken, die gegen eine dann mögliche unvermittelte Neu- und Umdeutung durch die Legislative sprechen 79 , ist eine zu weitgehende Hineinziehung des Gehalts gesetzlicher Regelungen i n die Verfassungsnormen zu vermeiden, w i l l man der Gefahr begegnen, die „offene" Verfassung durch den verfassungsausfüllenden Gesetzesinhalt zu einer „geschlossenen" zu machen. Eine derartige Auffassung widerspräche auch dem Verständnis der Verfassung als „kontinuierlichem Prozeß" 8 0 und würde zu ihrer „Versteinerung" führen. Eine i m Ergebnis dadurch bedingte nur „gesetzeskonforme" Auslegung 8 1 bedeutete die Aufgabe der normativen K r a f t der Verfassung. 74 p . Häberle, Wesensgehaltgarantie, 1. Aufl., S. 175, 183 ff.; i m Anschluß daran Hesse, ebd., S. 129. 75 p . Häberle, ebd., S. 210. 7β Lerche, S. 286. 77 i n diesem Sinne w o h l O V G Münster, N J W 1974, S. 1671, das den einfachen Gesetzgeber f ü r ermächtigt hält, Lücken des materiellen Verfassungsrechts zu schließen — kritisch dazu Bethge, N J W 1975, S. 77; Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 66, S. 174. 78 Lerche, S. 287. 79 s. dazu Lerche, S. 292 ff., m i t der Absicherung des „strukturellen Gehalts" der Verfassung durch das Erfordernis der qualifizierten Mehrheit des A r t . 79 Abs. 2 GG, wobei freilich offen bleibt, was unter dem Begriff des „strukturellen Gehalts" zu verstehen ist. 80 Lerche, S. 294. 81 Dagegen auch F. Müller, Juristische Methodik, S. 148.
5.2. Verfassungsprozeßrecht als materielles Verfassungsrecht
135
Verfassungsnormen bedürfen der immerwährenden Vervollständigung 8 2 . Sie stellen sich als Verfassungserwartungen 83 dar. Die Ausfüllung durch eine konkrete Normsubstanz kann immer nur eine Möglichkeit der Erwartungserfüllung u. a. sein. Die Normsubstanz ist nur der Unterbau der Verfassung, der allerdings für ihre Geltung eine tragende Funktion erfüllt. Darüber hinaus ist der Gesetzgeber nur ein Verfassungsinterpret unter anderen. Sein Interpretationspotential darf nicht verabsolutiert werden. Aus einer — teilweisen — Ausfüllung der Verfassung durch den Gesetzgeber folgt für die Verfassungstheorie nicht die Notwendigkeit, dem Ergebnis der legislatorischen Bemühungen Verfassungsrang zuzuerkennen. Aus den vorgetragenen Gründen ist die Auffüllung des Verfassungsinhaltes durch ein Normenkonzentrat abzulehnen. Nach der oben vorgenommenen Bestimmung der Kriterien für eine Eigenschaft als materielles Verfassungsrecht ist noch auf die Grenzfunktion des formellen Verfassungsrechts hinzuweisen. Es bildet den übergeordneten Rahmen des materiellen Verfassungsrechts. Dieses kann formelles Verfassungsrecht nicht derogieren. Änderungen der formellen Verfassung können nicht i m Wege der Verfassungsergänzung durch materielles Verfassungsrecht vorgenommen werden, da sie lediglich i m dafür vorgeschriebenen Verfahren erfolgen dürfen 8 4 . Materielles Verfassungsrecht kann auch das formelle nicht überlagern und nur i n den Bereichen entstehen, i n denen die formelle Verfassung keine Regelungen enthält. Als „sekundäres Verfassungsrecht" geht es dem formellem i m Rang nach (Vorrang der formellen Verfassung) 85 . Jede andere Auffassung würde die Normativität der formellen Verfassung aufheben. Materielles Verfassungsrecht hat aber zugleich i m Hinblick auf das Recht der geschriebenen Verfassung eine bedeutsame Funktion. Es ist ein „Erprobungsfeld" für künftiges formelles Verfassungsrecht 86 und kann das formelle Verfassungsrecht von morgen sein. Nach diesen Zwischenbemerkungen ist nun die Ausgangsfrage nach der Qualität des Verfassungsprozeßrechts als materiellem Verfassungsrecht zu beantworten. Das Verfassungsprozeßrecht enthält i m wesentlichen die Grundregeln für das Verfahren des obersten Verfassungsorgans BVerfG. Damit entspricht es i n seiner Bedeutung dem Geschäftsordnungsrecht der anderen Verfassungsorgane und ist i n den klassischen Bereich materiellen Verfassungsrechts einzustufen. Verfassungsprozeß82 Herb. Krüger, Festschr. Scheuner, S. 302. 83 Herb. Krüger, ebd., S. 302 ff. 84 Ermacora, Allgem. Staatslehre, 2. Teilbd., S. 1121. 85 So für ungeschriebenes Verfassungsrecht Hesse, Grundzüge, S. 15, 30 m. N. 8β Das gilt insbesondere f ü r die Geschäftsordnungen der obersten Verfassungsorgane.
136
5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
recht e r g ä n z t i n w i c h t i g e n P u n k t e n das f o r m e l l e Verfassungsrecht, i n d e m es i n h a l t l i c h e R i c h t p u n k t e z u r A u s f ü l l u n g d e r verfassungsgerichtlichen Kompetenzen bereitstellt 87. I h m k o m m t grundsätzliche Bedeutung zu. Es w i r d d a h e r als e i n „Verfassungsgesetz i m m a t e r i e l l e n S i n n e " 8 8 verstanden89. 5.2.2. Die „ganzheitliche Auslegung" des Verfassungsprozeßrechts als Aspekt der materiellen Interpretation D e r Q u a l i f i z i e r u n g des fassungsrecht s t e h t n i c h t Gesetzesrang h a n d e l t . Es erfaßt 90 und unterliegt setzgebers 9 1 . 87
Verfassungsprozeßrechts als m a t e r i e l l e m V e r entgegen, daß es sich u m Recht i m einfachen w i r d n i c h t v o n d e r G a r a n t i e des A r t . 79 I I G G v o n d a h e r d e r D i s p o s i t i o n s b e f u g n i s des G e -
Scheuner, Demokratisches System u n d politische Praxis, S. 143 (145), f ü r den Bundestag. 88 F ü r das ganze BVerfGG: v. Merkatz, Sitzungsberichte des l . D t . Bundestages, 112. Sitzung, S. 4218; Laforet, a.a.O., 114. Sitzung, S. 4287; Bucher, Verhdlg. des 2. Dt. Bundestages, Stenogr. Berichte Bd. 27, S. 5934; Geiger, Komm., Einleitungsformel, S. 1; Reifenberg, Die Bundesverfassungsorgane u n d ihre Geschäftsordnungen, S. 27; Badura, Sp. 2712. I m Hinblick auf das Prozeß recht: P. Häberle, J Z 1973, S.451. — F ü r die §§39 Abs. 1 S. 3, 79 B V e r f G G wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung Schmitt Glaeser, M i ß brauch u n d V e r w i r k u n g von Grundrechten i m politischen Meinungskampf, S. 166. 8 » Das i m B V e r f G G normierte Statusrecht des B V e r f G ist ebenfalls als materielles Verfassungsrecht zu qualifizieren. Neben der grundlegenden Bedeutung, die i h m zuzusprechen ist, zeigt das bereits ein Vergleich m i t der Regelung des Statusrechts anderer oberster Verfassungsorgane, das i m G G verankert ist (so auch Goessl, S. 99 f.). 90 Die Unterscheidung zwischen formellem u n d materiellem Verfassungsrecht hat auch i m verfassungsgerichtlichen Verfahren Bedeutung. Nach § 93 a Abs. 4 B V e r f G G (früher: § 91 a) w i r d u. a. eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, wenn v o n i h r „die K l ä r u n g einer v e r fassungsrechtlichen Frage zu erwarten ist". Entgegen einer i m Schrifttum vertretenen Ansicht (E. Schumann, Verfassungs- u n d Menschenrechtsbeschwerde, S. 49 m. Fn. 10; Grundmann, D Ö V 1965, S. 184; w o h l auch Faller, J Z 1959, S. 663 [665]) sind verfassungsprozeßrechtliche Fragen nicht v e r fassungsrechtliche Fragen i. S. d. § 93 a I V BVerfGG. Hier w i r d der U n t e r schied zwischen formellem Verfassungsrecht, das nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht, u n d materiellem wirksam. Da die Verfassungsgerichtsbarkeit vorrangig zum Schutz formellen Verfassungsrechts berufen ist, können ausschließlich verfassungsprozeßrechtliche Fragen nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein (so i m Ergebnis auch Rupprecht, J Z 1970, S. 207 [210]; R. Schneider, ZZP 79 [1966], S. 1 [69 m. Fn. 124]). — Die Frage, welcher Verfassungsbegriff — der formelle oder der materielle — anzuwenden ist, hat auch f ü r den Terminus der öffentlichrechtlichen Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher A r t i. S. d. § 40 Abs. 1 V w G O Relevanz. Anders als bei § 93 a Abs. 4 B V e r f G G w i r d zur Bestimmung der verfassungsrechtlichen Streitigkeit gem. § 401 V w G O v o n der Zielrichtung des v e r waltungsgerichtlichen Rechtsschutzes her auf die materielle Verfassung zurückzugreifen sein, öffentlichrechtliche Streitigkeiten verfassungsrechtlicher A r t sind auch Streitigkeiten über rechtliche Beziehungen, die dem V e r -
5.2. Verfassungsprozeßrecht als materielles Verfassungsrecht
137
A u f d e r E b e n e d e r I n t e r p r e t a t i o n a l l e r d i n g s k a n n aus d e r gleichen R e c h t s q u a l i t ä t z u f o l g e r n sein, daß beide Rechtsgebiete v o n der A u s legungsmaxime der „ E i n h e i t der Verfassung" 92 erfaßt werden u n d s o m i t „ g a n z h e i t l i c h " 9 3 auszulegen sind. Das P r i n z i p d e r „ E i n h e i t d e r V e r f a s s u n g " d r ü c k t aus, daß b e i d e r V e r f a s s u n g s k o n k r e t i s i e r u n g n i c h t a u f die E i n z e l r e g e l u n g g e b l i c k t w e r d e n d a r f . Es m u ß v i e l m e h r d e r Gesamtzusammenhang berücksichtigt werden, i n den die Einzelregelung z u s t e l l e n i s t 9 4 . Das I n t e r p r e t a t i o n s p r i n z i p b e s c h r ä n k t sich n i c h t a u f d i e f o r m e l l e Verfassung, s o n d e r n erfaßt das gesamte Verfassungsrecht. Das g i l t entsprechend auch f ü r a n d e r e P r i n z i p i e n d e r V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n . B e i d e r A u s l e g u n g des Verfassungsprozeßrechts s i n d s o m i t a l l e 9 5 , auch d i e i m f o r m e l l e n Verfassungsrecht angelegten, L ö s u n g s g e s i c h t s p u n k t e f r u c h t b a r z u machen. W e g e n des Vorrangs der formellen fassungsrecht i m materiellen Sinne angehören. Ebenfalls auf das materielle Verfassungsrechtsverhältnis abstellend: O V G Münster, N J W 1974, S. 1671; BVerwG, N J W 1976, S. 637; Uie, Verwaltungsprozeßrecht, S. 39; Martens, Die Praxis des Verwaltungsprozesses, S. 27; Chr.-Fr. Menger, V e r w A r c h 66, S. 172 f.; Bethge, N J W 1975, S.77; zurückhaltend: Kopp, V w G O , §40, A n m . 4. 01 So allgemein für das materielle Verfassungsrecht i m Gesetzesrang G. Hoff mann, S. 15; für das Statusrecht des B V e r f G Maunz, M D H , A r t . 94, Rdnr. 1. — Der Versuch v. Eichborns, S. 61 ff., den Wahlvorschriften der §§ 6 V, 7 BVerfGG eine erhöhte Bestandsgarantie zuzusprechen, vermag nicht zu überzeugen. v. Eichborn sieht diese begründet i n dem materiellen Gehalt der V o r schriften, die eine zweckmäßige Erschwerung des Wahlverfahrens zur Erreichung einer weitestgehenden Unabhängigkeit des Gerichts darstellten (S. 57). Die erhöhte Bestandsgarantie ergebe sich aus den politischen Willenserklärungen der Parteien bei der Verabschiedung des B V e r f G G m i t qualifizierter Mehrheit u n d aus der Respektierung dieses Willens i n der politischen Praxis (S. 74 ff.). Gegen v. Eichborn ist darauf hinzuweisen, daß der Gesetzgeber, dem nicht auf G r u n d einer zufälligen oder auch gewollten qualifizierten Mehrheit per se ein besonderer Rang zukommt, das B V e r f G G trotz seines materiellen Verfassungscharakters bewußt i n die Disposition des einfachen Gesetzgebers gestellt bzw. belassen hat. Diese Tatsache k a n n nicht i m Wege einer erhöhten Bestandsgarantie umgangen werden. Bestand u n d F u n k t i o n des B V e r f G sind vielmehr durch ein funktionales Verständnis (auch) der Wahlvorschriften zu sichern. Das bestehende u n d i m GG verankerte Gleichgewicht zwischen den einzelnen Machtfaktoren, i n das auch das B V e r f G eingebaut ist, darf nicht über eine Manipulation der Wahlvorschriften zum B V e r f G zerstört werden (so i m Ergebnis auch Billing , S. 137). 92 Hesse, Grundzüge, S. 28; s. auch G. Hoff mann, S. 29 f.; Hartisch, S. 134, der das Prinzip der „Einheit der Verfassung" als wichtigsten Grundsatz der Verfassungsinterpretation wertet. Kritisch dagegen F. Müller, Methodik, S. 155 ff. 93 I n einem anderen Sinne versteht P. Häberle die „ganzheitliche Auslegung" des Verfassungsprozeßrechts i n J Z 1976, S. 377 (380). Ganzheitlich bezieht sich danach n u r auf die Normen des BVerfGG, b r i n g t aber nicht die Vorschriften des GG als materielles Verfassungsrecht ins Spiel. 94 Hesse, ebd., S. 28; F. Müller, S. 156; P. Häberle, öffentliches Interesse, S. 282, zur ganzheitlichen Auslegung. 95 Aus diesem Ansatz heraus ist das Statusrecht des B V e r f G als materielles Verfassungsrecht für die Interpretation des Verfassungsprozeßrechts heranzuziehen.
138
5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
Verfassung 96 ist aber die Interpretation des Verfassungsprozeßrechts i m m e r i n Ausrichtung auf das formelle Verfassungsrecht vorzunehmen. Formelles Verfassungsrecht ist Maßstab u n d Begrenzung der I n t e r pretation des Verfassungsprozeßrechts. D a m i t schließt sich der Kreis zur materiellen Interpretation des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit. Auch über das P r i n zip der „Einheit der Verfassung" ist eine materiellrechtliche Auslegung des Verfassungsprozeßrechts geboten. 5.2.3. „Normierungszusammenhang" zwischen Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht M a n kann das hier dargelegte Verhältnis zwischen Verfassungsund Verfassungsprozeßrecht i m Anschluß an H.Bogs auch als „ N o r mierungszusammenhang" bezeichnen 97 . D a m i t ist gemeint, daß Verfassungssätze f ü r den Sinn des einfachen Gesetzes besonders dann mitbestimmend sind, w e n n dieses eine allgemeine Regelung der Verfassung näher ausführt. Das t r i f f t nach H. Bogs v o r allem auch für den „besonders dichten" Normierungszusammenhang zwischen den V o r schriften des G G über die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes u n d den sie näher ausführenden Normen des B V e r f G G zu 9 8 . Aus dem Normierungszusammenhang folgt, daß eine verfassungskonforme Auslegung sich zugleich als gesetzessystematische ausweist 9 9 , beide Auslegungsprinzipien also übereinstimmen. Die Rückführung des von H. Bogs erkannten besonderen Zusammenhangs zwischen den beiden Rechtsgebieten auf die Tatsache, daß der Bundesgesetzgeber ein Ausführungsgesetz zum G G erläßt, erscheint als zu vordergründig. I h r ist entgegenzuhalten, daß letztlich alle Gesetze i n Ausführung des G G ergehen. Zudem bezieht sich die Ansicht v o n H. Bogs w o h l n u r auf einen begrenzten T e i l der N o r m e n des BVerfGG, da er einen Normierungszusammenhang lediglich i n bezug auf die das GG ausfüllenden Vorschriften des B V e r f G G annimmt. Trotz der nicht v ö l l i g überzeugenden Begründung bleibt die von H. Bogs festgestellte Tatsache des (Normierungs-)Zusammenhangs zwischen Verfassung u n d Verfassungsprozeßrecht bestehen. Sie stützt die These von der N o t wendigkeit einer Zusammenschau der beiden Rechtsgebiete, von einer materiellen Interpretation des Verfassungsprozeßrechts.
oe Hesse, S. H. Bogs, 98 H. Bogs, 99 H. Bogst 97
15, 30. Die verfassungskonforme S. 142. S. 143.
Auslegung von Gesetzen, S. 142.
5.
D a m i e
Verständnis
Verfassungsprozeßrecht
5.3. Dynamisches Verständnis von Verfassungsprozeßredit Z u den zwei Begründungsebenen, auf denen bisher die Notwendigkeit einer materiellrechtlichen Interpretation des Verfassungsprozeßrechts nachgewiesen worden ist, kommt als dritte die des Verfassungsverständnisses hinzu, das Auswirkungen auf das Verständnis des Verfassungsprozeßrechts und seine Auslegung hat. 5.3.1. Verfassungsprozeßredit als „konkretisiertes Verfassungsrecht"
Zwischen Verfassungs- und Verfassungsprozeßrecht besteht ein besonderer Verständniszusammenhang. D. h., ein bestimmtes methodisches Verständnis der Verfassung schlägt auf das Verständnis des Verfassungsprozeßrechts durch. Dieser Kontext erklärt sich aus der (Haupt-)Funktion der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie beinhaltet den unmittelbaren Schutz und Gewährleistung des formellen Verfassungsrechts 100 . Alle Verfahrensarten der Verfassungsgerichtsbarkeit, so unterschiedlich sie auch strukturiert sind, haben (auch) zum Ziel, die Beachtung der Verfassung zu sichern, sie gegen Ein- und Ubergriffe zu schützen 101 . Die Aufgabe stellt sich dem BVerfG i m verfassungsgerichtlichen Verfahren, i n dem es die Verfassung konkretisiert. Das geschieht über die Arbeit m i t dem Verfassungsprozeßrecht. A u f Grund dieser Konkretisierungsfunktion ist das Verfahrensrecht selbst unmittelbarer Ausdruck verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen. Verfassungsprozeßrecht ist „konkretisiertes Verfassungsrecht" 102 . Diese Aussage muß von der Erkenntnis unterschieden werden, daß Verfahrensrecht allgemein den rechtsstaatlichen Anforderungen des GG genügen muß. Es ist der Bezugspunkt 1 0 3 für alle Garantien der io» s. schon Kelsen, W D S t R L 5 (1929), S.30: Verfassungsgerichtsbarkeit ist „eine gerichtliche Garantie der Verfassung"; weiter Drath, W D S t R L 9 (1952), S. 17 (20); Holtkotten, B K , A r t . 93, A n m . I I A l a . Vgl. auch die dem Heidelberger K o l l o q u i u m über Verfassungsgerichtsbarkeit zugrundeliegende Definition: „Verfassungsgerichtsbarkeit ist jedes gerichtliche Verfahren, das die Einhaltung der Verfassung u n m i t t e l b a r gewährleisten soll" (H. Mosler, Verfassungsgerichtsbarkeit i n der Gegenwart, S. X I I ) ; — i m Anschluß daran: Billing , S. 40 m . w . N . ; Kutscher, Festschr. G. Müller, S. 161 (162). 101 Z u m ganzen auch Billing, S. 41. 102 p . Häberle, J Z 1973, S. 451; J Z 1976, S. 377; Zuck, N J W 1975, S. 907 (910 Fn. 62). io» I n diesem Sinne sprechen v o m Verfahrensrecht als angewandtem, konkretisiertem Verfassungsrecht: Brüggemann, S. 135; Habscheid, JR 1958, S. 367; ders., Gedächtnisschrift f ü r H. Peters, S. 835; Henkel, Strafverfahrensrecht, V o r w o r t — f ü r den Strafprozeß; Viel Becker, Verwaltungsverfahren i m Rechtsstaat, S. 4, i n A b w a n d l u n g des Wortes von F. Werner, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht" (DVB1. 1959, S. 527 ff.) — dazu auch E. W. Fuß, WissR 5 (1972), S. 97 (99); Gaul, A c P 168 (1968), S.27; Kopp, Verfassungsrecht u n d Verwaltungsverfahrensrecht, S. 5; Eb. Schmidt, L e h r komm. zur StPO, T e i l I , S. 146.
140
5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
Verfassung 104 , nicht nur der verfassungskräftig abgesicherten Prozeßgrundrechte 1 0 5 (Art. 101 - 104 GG) 1 0 6 . Das Verständnis des Verfassungsprozeßrechts hängt wegen seiner Konkretisierungsfunktion von dem des Verfassungsrechts ab. Daher ist das hier vertretene Verfassungsverständnis offenzulegen und anschließend zu untersuchen, inwieweit das (Vor-)Verständnis von Verfassungsrecht eine materiellrechtliche Interpretation des Verfassungsprozeßrechts bedingt. 5.3.2. Der „dynamische" Aspekt der Verfassung
Ausgehend von einem Verständnis der Verfassung als der „rechtlichen Grundordnung des Gemeinwesens" 107 stellt sich die Frage nach ihrem Wirken i n der Zeit, inwieweit sie also das Bestehende festschreibt oder Entwicklungen i m staatlichen, öffentlichen und gesellschaftlichen Bereich einzufangen sucht. Die A n t w o r t auf die Frage kann nicht „Ja" oder „Nein" lauten, sondern hat sich i m Bereich zwischen diesen Polen zu bewegen. Eine Verfassung muß auch für die Zukunft offen sein, da sie die Wirklichkeit normiert und doch zugleich von ihr abhängt 1 0 8 . Die Ausrichtung auf die Zukunft bedingt ein „dynamisches Verfassungsverständnis" 109 , eine Betonung des Prozeßhaften der Verfassung 110 104 Die Verwendung des Begriffs „konkretisiertes Verfassungsrecht" weitet sich aus. Sie t r i f f t wegen des dargelegten Zusammenhangs zwischen V e r fassungs- u n d Gesetzesrecht auch für andere Rechtsbereiche zu. F ü r das Arbeitsrecht jetzt Achterberg, J Z 1975, S. 713 (715, 721). 105 Vgl. dazu Dürig, M D H , A r t . 103, Rdnr. 3. Z u ihrer Bedeutung als „objektive Verfahrensgrundsätze, die f ü r jedes gerichtliche Verfahren gelten": BVerfGE 6, 45 (49f.); 13, 132 (140); 21, 362 (373); 25, 158 (166); Lorenz, S. 227, 230. loe Z u r Gestaltungsfunktion der Grundrechte für gerichtliche Verfahren s. BVerfGE 35, 382 (406). 107 s. dazu schon oben unter Fn. 66; vgl. auch Scheuner, Recht, Staat, Wirtschaft, Bd. Π Ι , S. 132. los Vgl. Hesse, Grundzüge, S. 12. ίο» y o n der Verfassung „als immerfort wandelnder Aufgabe", als „lebendigem System, das nie stillsteht", als „Prozeß" gehen aus: Smend, Verfassung u n d Verfassungsrecht, i n : Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., S. 119 (241 f.); Scheuner, A r t . Verfassung, i n : Staatslexikon, hrsg. v. d. Görresgesellschaft, Bd. 8, S. 117 (119, 125 f.); ders., D Ö V 1957, S. 634; Hesse, Normative K r a f t der Verfassung, S. 13 f.; ders., Grundzüge, S. 16 f., unter Hervorhebung der Notwendigkeit einer Zuordnung von Starrheit u n d Beweglichkeit der Verfassung; Ehmke, W D S t R L 20 (1963), S. 53 (65): „Weite u n d D y n a m i k " der Verfassung; P. Häberle, Wesensgehaltgarantie, S. 215, unter Betonung der Zuordnung von dynamischen u n d statischen Elementen der Verfassung; ders., ZfP 21 (1974), S. 111 (115, 116); Lerche, Festgabe Maunz, S.285 (286).
no s. zum Verfassungsverständnis auch die „Verfassungsdebatte" des Dt. Bundestages v o m 14./15.2.1974: „Verfassung als dynamischer Prozeß" (Abg. Hirsch, Verhdlg. des Dt. BT, Bd. 86, S. 5030); das GG ist „nichts
5.
D a m i e
Verständnis
Verfassungsprozeßrecht
gegenüber dem bewahrenden, dem statischen Element 1 1 1 . Damit ist aber nur ein Aspekt des vielschichtigen Verfassungsbegriffs angesprochen. Insbesondere unterschlägt eine Hervorhebung der Dynamik nicht die inhaltliche Direktiven, die i m Begriff der Verfassung als „Grundordnung" angelegt sind. Das Verständnis der Verfassung als „Prozeß" bedingt nicht den Verzicht auf materielle Inhalte. Die normativen Gewährleistungen der Verfassung stehen für Entwicklungen i n Gegenwart und Zukunft offen 1 1 2 . Der notwendigen Fortschreibung durch sich ändernde Interpretation sind die Verfassungsnormen unterschiedlich stark zugänglich 113 . Grundsätzlich müssen aber alle Verfassungsnormen der gewandelten sozialen Wirklichkeit neu erschlossen werden. Das Problem der richtigen Zuordnung von Statik und Dynamik ist der wesentliche Punkt bei einem Verstehen der Verfassung als Prozeß. Der Vergleich mit dem gerichtlichen Verfahren bringt treffend das i h m Eigentümliche zum Ausdruck: Wie das gerichtliche Verfahren entwickelt sich Verfassungsrecht Schritt für Schritt. 5.3.3. Auswirkungen des Verfassungsverständnisses auf das Verfassungsprozeßrecht Das Verständnis des Verfassungsprozeßrechts ist angekoppelt an das des Verfassungsrechts. Ein Verstehen der Verfassung als Prozeß fordert zugleich ein dynamisches Verständnis des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit. Es muß gegenüber der Verfassung und ihrer sich ändernden Wirklichkeit offen sein. Es kann und darf nicht auf Grund seiner Regeln der Verfassungsgerichtsbarkeit den Zugang zum Verfassungsrecht versperren, die Verfassungsentwicklung blockieren. Zwar kennt Prozeßrecht durchaus legitime „Selbstzwecke" 114 , aber diese Zwecksetzungen dürfen dem Verfassungsgericht keine Hindernisse durch eine ausschließlich prozeßrechtsorientierte Interpretation auf dem Weg zur materiellen Rechtsdurchsetzung bereiten. Das Verfassungsprozeßrecht darf gegenüber der Verfassung kein „Eigenleben" führen. Die Konkretisierungsfunktion, die das Verfahrensrecht i m Hinblick auf das Verfassungsrecht inne hat, läßt völlig differierende Ausrichtungen der beiden Rechtsgebiete nicht zu. Dynamisches Verfassungsverständliis und ein — vorwiegend — statisch gesehenes Verfassungsprozeßrecht Abgeschlossenes, sondern der Weiterentwicklung ebenso fähig w i e bed ü r f t i g " (Min. H. Maier, a.a.O., S. 5090). 111 Gegen ein dynamisches Verfassungsverständnis H. Klein, Die G r u n d rechte i m demokratischen Staat, S. 32, 47 m. Fn. 76 (kritisch dazu P. Häberle, DÖV 1974, S. 343 [344 F n . 9 ] ) ; Stern, Festschr. Jahrreiß (1974), S. 271 (279). 112 Scheuner, Festschr. Scupin, S. 323 (338 f.). na Scheuner, ebd., S. 338 m. Beisp. h 4 Das unterstreicht auch Noll, Gesetzgebungslehre, S. 108 f.
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5. Das materielle Verständnis des Verfassungsprozeßrechts
wären Widersprüche. I m Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander setzt das Verfassungsrecht die Orientierungsdaten für die Interpretation des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit. Insoweit ist das BVerfG gerade nicht „Herr des Verfahrens" 11 ®, sondern bei seiner Auslegung an die Zielsetzungen des GG gebunden. Ein offenes und dynamisches Verfassungsverständnis findet seine Entsprechung i m Verständnis des Verfassungsprozeßrechts 116 , das auch von daher i m Lichte der Verfassung zu interpretieren ist.
5.4. Ergebnis Der Nachweis der Notwendigkeit der materiellen Interpretation von Verfassungsprozeßrecht ist auf allen drei Argumentationsebenen geführt worden. Die Ergebnisse widersprechen sich nicht, sondern ergänzen sich. A u f der Ebene der Funktionsbereiche des Rechts, nämlich der Trennung i n materielles und formelles Recht, ist die strukturelle Abhängigkeit des Verfahrensrechts vom materiellen Recht belegt worden. Sie zeitigt Auswirkungen auf die Interpretation des formellen Rechts und bedingt deren Anbindung an das materielle Recht. Diese für alle Verfahrensordnungen geltende Aussage w i r d durch einen zweiten Begründungsaspekt verstärkt, der speziell für das Verhältnis Verfassung Verfassungsprozeßrecht einschlägig ist. Er knüpft an der Rechtsqualität des Verfassungsprozeßrechts als (materiellem) Verfassungsrecht an. Für formelles und materielles Verfassungsrecht gilt, ebenso wie die anderen Prinzipien der Verfassungsinterpretation, der Grundsatz der Einheit der Verfassung. Die Verfassung und das Verfahrensrecht der Verfassungsgerichtsbarkeit sind „ganzheitlich" auszulegen. Wegen des Vorrangs der formellen Verfassung ist die ganzheitliche Auslegung des materiellen Verfassungsrechts, hier des Verfassungsprozeßrechts, an der formellen Verfassung auszurichten. Auch auf der dritten Ebene läßt sich die Sachgerechtigkeit einer materiellrechtlichen Interpretation von Verfassungsprozeßrecht nachweisen. Das hier vertretene Verständnis der Verfassung als Prozeß hat eine dynamische Sicht des VerfassungsSo aber BVerfGE 13, 54 (94); Klein, Maunz / Sigloch, v o r §17, Rdnr. 16; Zuck, ZZP 78 (1965), S. 323 (334). K r i t i s c h dagegen Schmitz, S. 75 f. 116 Gegen eine „ S t a t i k " des Verfassungsrechts u n d f ü r die Notwendigkeit der dynamischen Verfassungsrechtsprechung Dolzer, Die staatstheoretische u n d staatsrechtliche Stellung des Bundesverfassungsgerichts, S. 46; eine unerträgliche Erstarrung der Verfassungsrechtsprechung lehnt Brox, Festschr. Geiger, S. 809 (815), ab. V o n der Beeinflussung der „Offenheit u n d D y n a m i k der Verfassungsrechtsentwicklung" i m Zusammenhang m i t v e r fassungsprozessualen Fragen spricht auch Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), S. 335 (336).
5.4. Ergebnis
143
prozeßrechts zur Folge. Verfassungsprozeßrecht konkretisiert die Verfassung i m Verfahren. Es ist daher selbst „konkretisiertes Verfassungsrecht". Sein Verständnis darf dem der Verfassung nicht entgegenstehen. Verfassungsprozeßrecht kann insoweit kein Eigenleben führen. Auch aus diesem Grunde setzt formelles Verfassungsrecht die Orientierungsdaten für die Interpretation des Verfassungsprozeßrechts, ist seine materiellrechtliche Auslegung geboten. Einer insoweit verselbständigten Sicht des Verfassungsprozeßrechts i n Relation zu anderen Verfahrensordnungen widersprechen die i n den letzten Jahren intensivierten Bestrebungen 117 zur Vereinheitlichung der drei verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen VwGO, FGO und SGG nicht 1 1 8 . Eine Vereinheitlichung setzt das Vorhandensein eines i n wesentlichen Belangen übereinstimmenden Grundmusters voraus. Das Verfassungsprozeßrecht bildet, bedingt durch seine Abhängigkeit vom Verfassungsrecht auf mehreren Ebenen und verstärkt durch die besondere Organisation des es interpretierenden Gerichts und dessen Verfassungsorganqualität, die auch Rückwirkungen auf das Verfahrensrecht zeitigt, einen so starken eigenen Block i m Verhältnis zu anderen öffentlichrechtlichen Verfahrensordnungen, daß es insoweit eine Sonderstellung einnimmt. Hinzu kommt, daß auch die subjektiven verfassungsgerichtlichen Verfahren nicht allein dem Schutz subjektiver Rechte dienen, so daß von daher eine Vereinheitlichung des Verfassungsprozeßrechts m i t anderen Verfahrensordnungen aus Gründen der Rechtsklarheit und Rechtssicherheit nicht zwingend geboten erscheint. Das BVerfGG ist daher bewußt von den einschlägigen Untersuchungen ausgenommen worden 1 1 9 .
u? Vorbereitet durch den v o n Ule initiierten sog. „Speyerer E n t w u r f " ( E n t w u r f eines Verwaltungsgerichtsgesetzes zur Vereinheitlichung der V e r waltungsgerichtsordnung, der Finanzgerichtsordnung u n d des Sozialgerichtsgesetzes, Schriftenreihe der Hochschule Speyer, B e r l i n 1969. Vgl. auch schon Knauer, Z u r Vereinheitlichung der verwaltungsgerichtlichen Verfahrensordnungen, Diss. Göttingen 1968) hatte der Bundesminister der Justiz 1970 einen Ausschuß zur Vereinheitlichung des Verfahrensrechts auf den genannten Gebieten einberufen, der i m Sept. 1976 seinen Vorschlag zur Vereinheitlichung der drei Verfahrensordnungen vorlegte. ue Aus der L i t . vgl. dazu: W. Henckel, AöR 97 (1972), S. 445 ff.; F. Werner, DVB1. 1969, S. 914; Chr.-Fr. Menger, JZ 1970, S.79f.; Bachof, D Ö V 1970, S. 356 f.; Rohwer-Kahlmann, SGb 1968, S. 269 ff.; Ule, SGb 1975, S. 473 ff. H® s. Knoll, Die Angleichung der deutschen Verfahrensgesetze, S. 4; Knauer, S. 4.
6. Konkretisierungen der materiellen Interpretation Das materielle Interpretationsprinzip ist ein Prinzip der Verfassungsprozeßrechtsinterpretation unter anderen 1 . Es ergänzt den Kanon der bestehenden Auslegungsregeln 2 . Sein Wirkungsbereich kann sich mit dem anderer Prinzipien, dem der verfassungskonformen Auslegung und dem der funktionellen Richtigkeit, überschneiden. Von diesen ist es abzugrenzen. 6.1. Abgrenzung zu anderen Interpretationsprinzipien Wie die materielle Interpretation dient auch die verfassungskonforme Auslegung 3 der „möglichst weitgehenden Durchsetzung verfassungsrechtlicher Prinzipien" 4 . Beide Grundsätze wollen die Wertungen der Verfassung gegenüber dem Gesetzesrecht v o l l zum Tragen bringen. Sie unterscheiden sich aber i n Ausgangspunkt und Intention 5 . Ansatz der verfassungskonformen Auslegung ist i m Gegensatz zur materiellen nur die „an sich" verfassungswidrige Norm, die vom BVerfG dann nicht als nichtig erklärt wird, wenn i h r ein Sinn gegeben werden kann, der sie m i t der Verfassung vereinbar sein läßt. Die Zielrichtung der verfassungskonformen Auslegung liegt auf der Vermeidung einer totalen Gesetzeskassation durch das Verfassungsgericht?. Der maßgebliche Unterschied zwischen beiden Prinzipien besteht i n folgen1 Z u r Anwendbarkeit der Prinzipien der Verfassungsinterpretation i m Verfassungsprozeßrecht s. bereits unter 5.2.2., 5.4. 2 Z u diesen Hesse, Grundzüge, S.28ff.; P. Häberle, ZfP 21 (1974), S. 111 (121 ff.). 3 Dazu z.B. BVerfGE 2, 266 (288); 19, 1 (5); 36, 126 (135f.); weiter Wintrich, Festschr. Laforet, S. 227 (249); Spanner, AöR 91 (1966), S. 503 ff.; H. Bogs, S. 15 ff.; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 329 ff.; Göldner, Verfassungsprinzip u n d Privatrechtsnorm i n der verfassungskonformen Auslegung u n d Rechtsfortbildung, S. 43 ff.; J. Ipsen, Richterrecht u n d V e r fassung, S. 167 ff., m i t einer zusammenfassenden Darstellung der Rspr. des BVerfG. 4 Maunz, Maunz / Sigloch, Vorbem. Rdnr. 18. 5 V o n der teleologischen Interpretation unterscheidet sich die materiellrechtliche Auslegung insofern, als sie m i t der Ausrichtung der Interpretation des Verfassungsprozeßrechts auf die Verfassung die Zwecke angibt, die bei der Auslegung des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit maßgebend sein sollen. β H.
Bogs,
S.
16.
6.2. Ansatzpunkte f ü r die materielle Interpretation
145
dem: Die verfassungskonforme Auslegung ist das Interpretationsprinzip für den Ausnahmefall der möglichen Verfassungswidrigkeit einer Norm. Das materiellrechtliche Verständnis des Verfassungsprozeßrechts ist das Interpretationsprinzip für den Normalfall zur „Harmonisierung" von Verfassung und Verfassungsprozeßrecht. Unter diesen Vorzeichen ergänzen sich verfassungskonforme und materiellrechtliche Interpretation. Das funktionellrechtliche Interpretationsprinzip 7 ist i n einem weiteren Sinne ein Anwendungsfall der hier dargestellten materiellrechtlichen Interpretation des Verfassungsprozeßrechts. Es stellt auf die von der Verfassung zugewiesenen staatlichen Funktionen ab, die nicht durch Auslegung verschoben werden dürfen 8 . Damit ist auch ein Aspekt der materiellen Auslegung angesprochen. Diese erfaßt i m Gegensatz zu dem ausschließlich an die Funktionsverteilung der Verfassung anknüpfenden funktionellrechtlichen Prinzip die Gesamtheit der Normen der formellen Verfassung. Die Prinzipien überschneiden sich i n der Anwendung. Zwischen ihnen besteht aber eine relevante Differenz.
6.2. Ansatzpunkte für die materielle Interpretation
Die Normen bzw. ihre Begriffe und die Institute des Verfassungsprozeßrechts sind die Ansatzpunkte einer materiellrechtlichen Interpretation. Ihre Determination durch das Hecht der formellen Verfassung ist unterschiedlich stark. Der Grad der Einwirkung hängt davon ab, i n welchem Umfang sich Bestimmungen des materiellen Rechts auf Begriffe und Institute des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit auswirken, inwieweit diese an das Recht der formellen Verfassung anknüpfen. 6.2.1. Anknüpfung der materiellen Interpretation an Einzelbestimmungen
Die materielle Interpretation bezieht sich auf das gesamte Verfassungsprozeßrecht. Sie erfaßt auch die Regelungen, die wie die für Fristen, Zustellungen und Ladungen 9 , mehr auf formale Handhabung 7 Z u r Funktionalität als Interpretationsprinzip Ehmke, W D S t R L 20 (1963), S. 53 (73 ff.); Hesse, Grundzüge, S. 29; F. Müller, Methodik, S. 154; P. Häberle, J Z 1975, S. 297. s Hesse, S. 29. 9 Nach Spanner, Das BVerfG, S. 33 m. w. N., sind i m Verfassungsprozeßrecht die f ü r Fristen u n d Zustellungen i n anderen Verfahrensordnungen geltenden Vorschriften anwendbar. — Vgl. auch § 9 der GeschO des B a d - W ü r t t S t G H , i n dem für Zustellungen u n d Ladungen die Anwendbarkeit der einschlägigen ZPO-Vorschriften bestimmt w i r d ; ebenso §§22, 23 GeschOBayVerfGH f ü r 10 Engelmann
146
6. Konkretisierungen der materiellen Interpretation
angelegt sind. Diese Vorschriften haben vorwiegend Ordnungsfunktionen 1 0 , wobei die Gleichmäßigkeit der Rechtsanwendung i n diesen Fällen eher einen größeren Stellenwert einnimmt als der sachliche Gehalt der Regelung 11 . M i t der dargelegten Einschränkung w i r k t sich der materiellrechtliche Ansatz bei ihnen ebenfalls aus. Auch wenn es sich u m Vorschriften handelt, die gleichlautend i n anderen Verfahrensordnungen vorkommen, versperrt das nicht den Zugang zu einer materiellrechtlichen Interpretation. So bedingt die unterschiedliche Ausgestaltung der einzelnen Verfahrensarten der Verfassungsgerichtsbarkeit eine dieser entsprechende differenzierende Konkretisierung der i m Verfassungsprozeß einschlägigen Formalien. Die Offenheit des Verfassungsprozeßrechts für künftige Entwicklungen der Verfassung erfordert eine Handhabung der Formalien durch den Verfassungsrichter, die den materiellen Zielsetzungen der einzelnen Verfahrensart und des Verfassungsprozeßrechts insgesamt entspricht. Materiellrechtliche Interpretation hat zur Folge, daß für die Begriffe des Verfassungsprozeßrechts ein diesen gemäßer Begriffsinhalt gefunden werden muß. Die Konkretisierung dieses Begriffes und seine spezifische Auslegung i n anderen Verfahrensordnungen ist zwar ebenfalls ein Ausschnitt der Wirklichkeit der Verfassungsprozeßrechtsnorm und insofern relevant für ihre Auslegung. Das die Interpretation beherrschende Element ist aber das zugehörige materielle Recht, das von der Auslegung der Verfahrensnormen erfaßt wird. Das BVerfG hat i n zahlreichen Entscheidungen das Verfassungsprozeßrecht i m Hinblick auf das materielle Recht der Verfassung ausgelegt 12 . Z u nennen sind die Entscheidungen zur Prozeßfähigkeit von Beschwerdeführern bei der Verfassungsbeschwerde, die von der Ausgestaltung des geltend gemachten Grundrechts abhängig gemacht wird, zur Ausgestaltung des Rechtsschutzbedürfnisses, über die Fähigkeit von Parteien zur Teilnahme am verfassungsgerichtlichen Verfahren, zur verfahrensrechtlichen Stellung von Abgeordneten und Fraktionen. Weiter ist die Rspr. zum Begriff der Verfassungsstreitigkeit, zur Auslegung von A r t . 100 Abs. 1 und 2 GG 1 3 , Zustellungen, Ladungen u n d Fristen. — F. Baur, Gutachten f ü r den 42. Dt. Juristentag, S. 5 (7 Fn. 2 a), hält gerade i m Bereich der Formalien eine Angleichung der verschiedenen Verfahrensordnungen i n w e i t e m Umfang f ü r möglich. i ° BVerfGE 4, 31 (36): Fristen als formale Ordnungsvorschriften. 11 So auch Stratenwerth, Festschr. Germann, S. 257 (265). 12 Dazu die Untersuchung v o n P. Häberle, J Z 1976, S. 377 (378) m. ζ. N. über die i m folgenden angeführten Beispiele. Z u r materiellen Determinierung des Verfahrens u n d einzelner Verfahrensvorschriften: Lorenz, B V e r f G u n d GG, Bd. I, S. 225 (239, 241, 256). 18
Auch die sog. Prozeßrechtsbestimmungen der Verfassung sind nach der hier dargelegten Auffassung dem materiellen Recht der Verfassung zuzurechnen.
6.2. Ansatzpunkte für die materielle Interpretation
147
zur Frage der Erweiterung des Kreises der nach A r t . 93 Abs. 1 Nr. 2 GG Antragsberechtigten und zu anderen Problemkreisen 14 anzuführen. Unmittelbarer Bezug zum materiellen Recht der Verfassung haben neben den bereits i m Rahmen dieser Arbeit erwähnten Begriffen wie denen des „Beteiligten" i n § 20 BVerfGG, „Schriftlichkeit der Anträge" und „Begründungspflicht" i n § 23 Abs. 1, „der zur Erforschung der Wahrheit erforderliche Beweis" i n § 26 Abs. 1 BVerfGG vor allem folgende Merkmale von Normen des BVerfGG: §19 Abs. 1: Besorgnis der Befangenheit 15 ; § 28 Abs. 2: Wohl des Bundes oder eines Landes 1 6 ; § 32 Abs. 1: Abwehr schwerer Nachteile, Verhinderung drohender Gewalt, anderer wichtiger Grund; §33 Abs. 1: für Entscheidung von Bedeutung sein; § 35: i m Einzelfall A r t und Weise der Vollstreckung regeln; §41: Stützung auf neue Tatsachen; §63: m i t eigenen Rechten ausgestattete Organe; §65 Abs. 1: Bedeutung für die Abgrenzung von Zuständigkeiten; §90 Abs. 2: allgemeine Bedeutung der Verfassungsbeschwerde, schwerer und unabwendbarer Nachteil; §94 Abs. 5: keine weitere Förderung des Verfahrens zu erwarten. Das sind typische Beispiele für Begriffe des Verfassungsprozeßrechts, die über das Verfassungsprozeßrecht hinausweisen und offenkundig nur i m Hinblick auf die Verfassung und damit materiellrechtlich ausgelegt werden können. Aber auch die Begriffe und Institute des Verfassungsprozeßrechts, die der materiellen Interpretation nicht so zugänglich erscheinen, entfalten ihre spezifisch verfassungsprozeßrechtliche Sinngebung erst i m Verfahren der Konkretisierung des Prozeßrechts unter Ausrichtung auf die Verfassung. Je nach ihrem materiellrechtlichen Bezug sind daher auch gleichlautende Begriffe des Verfassungsprozeßrechts durchaus einer „sinnvariablen Interpretation" 1 7 zugänglich 18 .
14 Vgl. noch die Beispiele v o n P. Häberle, ebd., Fn. 21, 25 - 27. « s. P. Häberle, J Z 1973, S. 451 (452 f.). io Z u der hier stattfindenden punktuellen Einschaltung des Verfassungsgerichts i n die Bestimmung des Gemeinwohls P. Häberle, öffentliches Interesse, S. 121 f. 17 Der Begriff der „ S i n n v a r i a b i l i t ä t " stammt von J. Hechel, V e r w A r c h 37 (1932), S. 280 (282): „Die oben erwähnte Formel ist nämlich eine ,sinnvariierende Formel·, die je nach dem systematischen Zusammenhang, i n dem sie gebraucht w i r d , trotz desselben Wortlauts eine verschiedene Bedeutung besitzt. Sie spricht sozusagen auf verschiedene Tonsysteme m i t verschiedenem K l a n g an." — Z u r Sinn Variabilität von Verfassungsnormen auch P. Lerche, Werbung u n d Verfassung, S. 80 f.; ders., Festgabe Maunz, S. 285; P. Häberle, W D S t R L 30 (1972), S. 43 (69 m. Fn.101: „ . . . jedes Grundrecht ist ,sinnvariaber zu lesen".); vgl. weiter Lipphardt, S. 297 ff. 1 8 s. dazu Goessl, S. 205; E. Schumann, J Z 1973, S. 484 (489), der v o n der Relativität der Verfassungsprozeßrechtsbegriffe spricht.
10·
148
6. Konkretisierungen der materiellen Interpretation 6.2.2. Prozeßgrundsätze und Allgemeine Prozeßgrundsätze als „Einbruchsteilen" materieller Interpretation i m Verfassungsprozeßrecht
Prozeßgrundsätze sowie Allgemeine Prozeßgrundsätze bedürfen ebenfalls der Einbeziehung i n die materiellrechtliche Interpretation. Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts haben, soweit ihre Geltung nicht auf einer bestimmten Einzelvorschrift des BVerfGG beruht, sie also über Einzelregelungen hinausgreifen und als Grundsatzentscheidungen für das Verfassungsprozeßrecht deklariert werden, keinen Normcharakter. Sie sind als Rechtsprinzipien einzustufen m i t der Folge, daß sie als allgemeine Wertungsmaßstäbe zwar noch nicht zu Recht verdichtet sind, aber Rechtfertigungsgründe für ihre Konkretisierung i n Rechtsregeln durch die Rechtsprechung bilden 1 9 . Die Prozeßgrundsätze enthalten als Rechtsprinzipien den Grund und das K r i t e r i u m der einzelnen normativen Weisung 20 . Das gilt jedenfalls für die Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts, die entweder i m Gesetz direkt angesprochen oder aber aus der ratio legis zu schließen sind 2 1 . Der normative Bezug der Α. P. liegt dagegen nicht i n der entsprechenden Weise offen. Gerade ihre Verwendung ist vielschichtig. Es findet sich eine als bloße Auslegungshilfe bzw. als -argument. Daneben werden Α. P. auch als normative Größe bzw. als Normersatz herangezogen. Ebenso wie die Prozeßgrundsätze dürfen sie aber nicht von der Rechtsprechung des BVerfG als Ermächtigung zu eigenschöpferischer Verfahrensgestaltung verstanden werden 2 2 . Sie sind nicht der „Mantel", m i t dem — über eine angebliche Herleitung aus einem „Rechtsbegriff" Prozeßgrundsatz — das Moment der eigenen Verfahrensgestaltung durch das BVerfG zugedeckt werden kann. Die Prozeßgrundsätze, soweit sie Rechtsprinzipien sind, und Α. P. können somit (nur) als Leitlinien 2 3 , als richtungsgebende Maßstäbe rechtlicher Normierung 2 4 verstanden werden. Von daher sind sie auch mitbestimmend für die Interpretation von Normen und für die Lückenfüllung i m Verfassungsprozeßrecht. Sie dürfen aber nicht isoliert pro19 I m Anschluß an Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, S. 207, 410 f.; zu (allgemeinen u n d besonderen) Rechtsgrundsätzen s. insbes. H. Heller, Staatslehre, S. 222 ff., 255 ff.; H. J. Wolff , Festschr. W. Jellinek, S. 33 (37 ff.); ders., i n : H. J. W o l f f / O . Bachof, V e r w R I, § 25 I a 1, 2; dazu auch Dreier, Festschr. H. J. Wolff, S. 3 (11). 20 j . Esser, Grundsatz u n d Norm, S. 52, 94. 21 Larenz, S. 411. 22 Rechtsgrundsätze gelten n u r subsidiär. Vgl. H. J. Wolff , V e r w R I, § 25 12 c. 23 s. Grunsky, Grundlagen, S. 16 ff. 24 Larenz, S. 410.
6.2. Ansatzpunkte f ü r die materielle Interpretation
149
zeßrechtlich i n die Auslegung eingeführt werden. Als allgemeine Wertungsmaßstäbe sind sie „Einbruchstellen" des materiellen Rechts i n das Verfassungsprozeßrecht. Prozeßrecht bezieht sich i n Einzelgestaltung und Grundgedanken auf das materielle Recht. Prozeßgrundsätze verdeutlichen die materiellrechtlich zu bestimmenden und bestimmten Grundgedanken. Ihnen kommt für eine spezifische Theorie der Interpretation des Verfassungsprozeßrechts erhöhte Relevanz zu.
7. Schlußbetrachtung I n der vorliegenden Arbeit ist der Versuch unternommen worden, die bisher nur punktuell erörterten Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts und die i n der Literatur kaum vertiefte Verwendung Allgemeiner Prozeßgrundsätze i n eine spezifisch verfassungsprozeßrechtliche Theorie der Interpretation des Verfahrensrechts der Verfassungsgerichtsbarkeit einzufügen. Dieser Ansatz bot sich an, nachdem festgestellt worden ist, daß der Doppelstatus des BVerfG als Gericht und als oberstes Verfassungsorgan sich direkt auf seine Rechtsprechungstätigkeit auswirkt. Von daher rechtfertigen sich bei der Interpretation von Recht auch Unterschiede zu anderen Gerichten. Grundlage dieser verfassungsprozeßrechtlichen Theorie ist die materielle Sicht des Verfassungsprozeßrechts, seine Auslegung unter Einbeziehung des materiellen Rechts der (formellen) Verfassung. Sie ist aus drei Aspekten begründet: der strukturellen Abhängigkeit des formellen (Verfassungsprozeß-)Rechts vom materiellen (Verfassungs-)Recht, der Qualität des Verfassungsprozeßrechts als materiellem Verfassungsrecht i. V. m. dem Interpretationsprinzip der „Einheit der Verfassung" und schließlich aus der Einsicht, daß das Verständnis des Verfassungsprozeßrechts an das hier vertretene „dynamische" Verständnis der Verfassung angekoppelt ist. Die Beachtung des materiellen Interpretationsprinzips gewährleistet die notwendige Anbindung der Verfassungsprozeßrechtsinterpretation an die der Verfassung. Angestrebt w i r d nicht eine Angleichung der Auslegung des Verfassungsprozeßrechts an die anderer Verfahrensordnungen i. S. einer „Einheit der Prozeßrechtsordnung" 1 , sondern die Einheit von Verfassungs- und Verfassungsprozeßrechtsinterpretation. Die aufgestellte Interpretationsmaxime ist dabei notwendiges Korrelat zur Freiheit des BVerfG bei der Konkretisierung seines Verfahrensrechts. Die Untersuchung der Prozeßgrundsätze des Verfassungsprozeßrechts hat ihren Bezug zum materiellen Recht der Verfassimg deutlich gemacht. Die wichtigsten Grundsätze wie das Prinzip der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des verfassungsgerichtlichen Verfahrens sowie der Untersuchungsgrundsatz sind als Ausdruck verfassungsrechtlicher Wertentscheidungen erkannt und konstitutionalisiert worden (konstitutionelle Verfahrensprinzipien). Die Bedeutung anderer Grundsätze ist dagegen 1
So aber
E.
Schumann,
J Z 1974, S. 484 (489).
7. Schlußbetrachtung
151
relativiert bzw. ihre Geltung i m Verfassungsprozeßrecht ist verneint worden (Dispositions-/Offizialmaxime). A n ihre Stelle traten die Begriffe der materiellrechtlich bestimmten Schutzfunktion der einzelnen Verfahrensarten, die durch ihre unterschiedliche Ausgestaltung Rückschlüsse auf die Regelung offener Fragen des Verfassungsprozeßrechts zulassen. Bei der Behandlung der Prozeßgrundsätze ist offenkundig geworden, daß ein Grundzug des verfassungsgerichtlichen Verfahrensrechts i n seiner Informationsoffenheit besteht. Das notwendige Informationsbedürfnis des BVerfG bedingt die Einbeziehung einer Reihe weiterer Verfahrensbeteiligter i n das Verfahren (Verfassungsprozeßrecht als Partizipationsrecht) und den Ausbau des Informationsinstrumentariums des Gerichts i n der GeschOBVerfG. Die vom BVerfG vorgenommene Verwendung Α. P. ist i n ihrer Bedeutung für die Interpretation des Verfassungsprozeßrechts auf eine vertretbare Größe zurückgeführt worden. Α. P. sind allenfalls Argumentationshilfen, nicht aber verselbständigter Normersatz. Wie die Prozeßgrundsätze sind auch sie typische „Einbruchstellen" des Verfassungsrechts i n die Auslegung des Verfassungsprozeßrechts. Eine materielle Interpretation des Verfassungsprozeßrechts, sein Verständnis als „konkretisiertes Verfassungsrecht" ist Voraussetzung und Bestandteil einer materiell-prozessualen Theorie von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit 2 .
2 P.
Häberle,
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zur