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German Pages 80 [88] Year 1982
HERAUSGEBER HUBERT FEGER
C. F. G R A U M A N N KLAUS HOLZKAMP MARTIN IRLE
B A N D 12 1981 HEFT 2
V E R L A G HANS H U B E R BERN STUTTGART WIEN
Zeitschrift für Sozialpsychologie 1981, Band 12, Heft 2 INHALT
Zu diesem Heft G R A U M A N N , C. F.: Laudatio für Serge Moscovici M O S C O V I C I , S.: Bewußte und unbewußte Einflüsse in der Kommunikation
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Theorie und Methoden
Zielideen einer utopisch-moralischen Psychologie Konkurriert Schachters Emotionstheorie mit der Theorie James' ^ Z E L I N K A , F. F.: Kodierzuverlässigkeit: Der Paarkoeffizient PZ GROEBEN,
N.:
104
OSWALD, M . :
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Empirie ABELE, A . & GIESCHE,
S.: Kognitionen über Straftäter bei Justizvollzugs-
beamten
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Literatur
Neuerscheinungen
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Titel und Abstracta
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Nachrichten und Mitteilungen
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Autoren
168
Copyright 1981 Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Wien Herstellung: Satzatelier Paul Stegmann, Bern Printed in Switzerland Library o f Congress Catalog Card N u m b e r 78-126626 Die Zeitschrift für Sozialpsychologie wird in Social Sciences Citation Current Contents/ Social and Behavioral Sciences erfaßt.
Index (SSC1) und
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Zeitschrift für Sozialpsychologie 1981
Zu diesem Heft Als geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift für Sozialpsychologie freue ich mich, diesem Heft zwei Beiträge besonderer Art voranstellen zu können. Seit einiger Zeit wird ein von dem Verleger Dr. HUBERT BURDA gestifteter Preis für Kommunikationsforschung verliehen, mit dem im vergangenen Jahr erstmals ein Sozialpsychologe und zwar SERGE MOSCOVICI (Paris) ausgezeichnet wurde. Dem Kommitee zur Preisverleihung gehören an:
BERNHARD BADURA, CARL FRIEDRICH G R A U MANN, W E R N E R KALTEFLEITER u n d WOLFGANG LANGENBUCHER.
Wenn auch sowohl Laudatio als auch Festvortrag an ein breites Publikum von Sozialpsychologen, Politikern und Journalisten gerichtet waren, glaube ich doch, daß sie auch in unserer Zeitschrift eine Diskussion über die von MOSCOVICI behandelten Bereiche auslösen B H könnten. H.Feger I J
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Laudatio für SERGE
Graumann: Laudatio für Serge Moscovici
MOSCOVICI
CARL F R I E D R I C H G R A U M A N N
Preisträger 1 9 8 0 des Preises für Kommunikationsforschung «in M É D I A S res», ist der erste Psychologe, dem dieser Preis zugesprochen wird. Doch der Sozialwissenschaftler, der mit diesem Preis geehrt werden soll, ist, gerade auch als Kommunikationsforscher, mehr als nur Psychologe. Sicher, sein wissenschaftlicher Werdegang, den wir, stellvertretend für den Lebenslauf, vita nennen, weist ihn von seinem Lizentiat und Diplom in den Jahren 1 9 4 8 / 1 9 4 9 und 1950 über das Doktorat 1961 bis zu seiner heutigen Funktion als Directeur d'Études an der renommierten Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales als professionellen Psychologen aus, was etwa achtzig Monographien, Kapitel und Artikel über psychologische - zumeist sozialpsychologische - Fragestellungen eindrucksvoll bestätigen. Doch schon die Charakterisierung als Sozialpsychologe ist zu eng, versteht man darunter, was dieser Begriff in den meisten Ländern, so auch in der Bundesrepublik, meint. S E R G E MOSCOVICI gehört mit zu den Begründern und ist wohl der prominenteste Vertreter der französischen «Soziopsychologie», die eine sehr viel engere Verbindung von Soziologie und Psychologie darstellt, als dies international in West und Ost üblich ist. Ich komme auf ein die Öffentlichkeit angehendes Merkmal dieser «Soziopsychologie» zurück. Hier sei nur vermerkt, daß S E R G E Moscovici sich im Laufe seiner wissenschaftlichen Tätigkeit auch einer Reihe soziologischer Fragen gewidmet hat, vor allem den Themen des sozialen Wandels und der Soziologie des Wissens. Was die meisten seiner psychologischen und soziologischen Arbeiten gemeinsam haben, ist diese Thematik der Veränderung. Wandel oder Veränderung in einem noch fundamentaleren Sinn bildet schließlich einen dritten und vierten Forschungsbereich, den der Wissenschaftsgeschichte, speziell der Naturwissenschaften, und den, diese noch fundierenden, der Geschichte des menschlichen Verständnisses (und der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit) der Natur. Mit diesen Arbeiten, die einen großen Teil seines SERGE MOSCOVICI,
Oeuvre ausmachen, ergänzt der Historiker die Arbeit des empirischen Sozialforschers. Es ist selten genug, daß wie bei SERGE Moscovici dies ein und dieselbe Person ist. Ich habe Ihnen die großen Themen des Werkes Moscovicis zuerst genannt, um Ihnen zweierlei verständlich zu machen: Erstens, daß die manchen vielleicht verwirrende Fülle und Mannigfaltigkeit der Bibliographie von einer - so glaube ich - klaren geistigen Ordnung durchdrungen ist, und zweitens, warum die Jury diesen Wissenschaftler zum diesjährigen Träger des Preises für Kommunikationsforschung ausgewählt hat. Wenn ich sagte, daß sich, quasi wie ein Leitmotiv, die Thematik der Veränderung und des sozialen Wandels durch die psychologischen, soziologischen und historischen Arbeiten Moscovicis hindurchzieht, dann muß ich jetzt hinzufügen, daß dieser Wandel primär als geistiger zu verstehen ist. Die Geschichte der Natur (Essai sur l'histoire humaine de la nature) von 1 9 6 8 , 1 9 7 7 2 (deren deutsche Übersetzung in Vorbereitung ist), will als eine Geschichte unseres Naturverständnisses und der daraus resultierenden Konzeptionen von Natur- und Sozialwissenschaften bis hin zur Idee einer politischen Technologie gelesen werden. «La société contre nature» von 1972 versucht den traditionellen Gegensatz von Natur und Gesellschaft aus dem Ursprung der Kultur und - in diesem Sinne - der Menschwerdung gegen den um sich greifenden Zoomorphismus erneut zu überdenken. Bis hin zu dem 1978 erschienenen Gespräch über die Frage «Warum die Ökologen Politik machen?» durchzieht die entsprechenden Arbeiten Moscovicis die Überzeugung, daß das zwanzigste Jahrhundert unser Verhältnis zur Natur problematisiert, so wie das neunzehnte das Verhältnis zur Gesellschaft, kurz: die soziale Frage, thematisiert hatte, das achtzehnte Jahrhundert durch die «politische Frage» bewegt worden war. «La question naturelle», die Frage des Naturalismus, aber auch die ökologische Frage, hat begonnen, die Humanwissenschaften zu verän-
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dem, von der mit D A R W I N beginnenden Diskussion um die Natur des Menschen bis hin zur Möglichkeit einer Humanethologie und Soziobiologie, und ihre Methodologie zu fordern mit dem Aufsuchen des Menschen in «natürlichen Situationen», im Alltag, in vivo, was ohne die Entwicklung «naturalistischer Verfahren» nicht gut möglich ist. Im Alltag selbst, im sozialen und politischen, werden «Naturalisten» und «Ökologen», gleich ob als «Grüne» oder nicht mehr ganz so Grüne, politisch aktiv - zwar eine Minderheit, partei- und wahlpolitisch fast hoffnungslos, aber wie andere soziale, politische und ethnische Minoritäten bis hin zu den «Wilden» des Terrors und der Anarchie (MOSCOVICI, 1 9 7 4 ) nicht wirkungslos. Wie aber wirken sie? Sie sehen, wie bei SERGE MOSCOVICI die Problemkreise sich durchdringen und in ein Forschungsfeld eingehen: «Sozialer Wandel durch Minoritäten», so der Titel der zuerst 1977 in englischer, dann 1979 in französischer und deutscher Sprache erschienenen sozialpsychologischen Forschungsmonographie; sie untersucht die indirekte und langfristige Wirkung der Minoritäten auf die herrschende Mehrheit, vor allem da, wo Mehrheit und Medien, oft erleichtert, feststellen, daß ein direkter und unmittelbar wirksamer Einfluß der entsprechenden Minderheit nicht zu befürchten ist. Hier greifen Moscovicis historische Interpretation und experimentelle Methodik in optimaler Form ineinander. Hier liegt auch der Hauptgrund für die Verleihung des Preises. SERGE MOSCOVICI hat die wissenschaftliche Erforschung sozialer Kommunikation in eine neue Perspektive gerückt, die sich längst als äußerst fruchtbar erwiesen hat. Wurde bisher soziale Kommunikation primär untersucht unter dem Eindruck des offenkundigen Einflusses der Maj orität und ihrer Möglichkeiten sozialer Kontrolle (einschließlich Medienkontrolle), so ist durch die Arbeiten von Moscovici und seinen Mitarbeitern neben die manifeste Kommunikation der latente Einfluß gesetzt worden, der, wie experimentell und historisch nachgewiesen werden kann, von aktiven Minderheiten und Individuen ausgeht. Daß Moscovici dabei nicht nur - und nicht einmal in erster Linie an Dissidenten im real existierenden Sozialismus denkt, sondern an die vielen «Alternativen» (alternativ zur Industriegesellschaft, alternativ zum staatlichen Zentralismus, alternativ zur totalen
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Verwaltung, alternativ zum großen Nationalstaat, alternativ zu den «staatstragenden Parteien»), macht seine Wissenschaft für den, der noch zuhören kann, politisch und sozial bedeutsam. Eine der wichtigsten Manifestationen sozialen Einflusses in der modernen Gesellschaft ist die Vermittlung und Ausbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und Theorien. Wiederum erweist sich SERGE MOSCOVICI als ein brillanter Analytiker der Kommunikation, wenn er den von D Ü R K HEIM entlehnten und soziopsychologisch präzisierten Begriff der «sozialen Vorstellung» am Beispiel der Diffusion und Rezeption der Psychoanalyse einführt und dadurch die soziale Konstruktion einer Wissenschaft in der Öffentlichkeit, hier: der französischen Presse, verdeutlicht (La Psychoanalyse: Son image et son public. 1 9 7 6 2 ) . Die Fruchtbarkeit dieses Ansatzes bezeugen Nachfolgeuntersuchungen, etwa über die soziale Vorstellung der Frau (P.H.Chombart de Lauwe), des Kindes (M. J.Chombart de Lauwe), der Kultur (Kaes), der Krankheit (Herzlich) und zuletzt des Weibertratsches (Aebischer). Hier wie in anderen Bereichen sozialpsychologischer Kommunikationsforschung, etwa der Analyse von Kommunikationsnetzen in kleineren Gruppen oder der Sozialpsychologie der Sprache, geht es S E R G E MOSCOVICI darum, eine traditionelle Forschungsperspektive - in der Regel die immer noch vorherrschende des Behaviorismus - aufzubrechen, um Innovation, begrifflich wie methodisch, zu ermöglichen. Die Geschichte der Wissenschaft, die Entwicklung des Denkens, ist nicht nur Forschungsgegenstand für den Sozialwissenschaftler und Historiker Moscovici - er betreibt sie auch selbst, wo immer er die Möglichkeit für einen Durchbruch sieht. Und dies, so meine ich, für die Jury sprechen zu dürfen, ist die letzte Rechtfertigung für die Verleihung des Kommunikationspreises «in M E D I A S res», nicht nur den zu ehren, der in kreativer Weise Innovation als die eigentliche «Unruhe» effektiver Kommunikation zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung macht, sondern, in derselben Person, denjenigen, der sie in seinem eigenen wissenschaftlichen Tun realisiert und damit auf unsere Zeit und unsere Gesellschaft wirkt. Und das als ein letztes Wort zur Charakterisierung des Mannes, den wir mit dieser Preisverlei-
92 hung ehren wollen. Wer wie MOSCOVICI die kommunikative Potenz nicht nur der aktiven Minderheit, sondern auch die des aktiven Einzelnen beschrieben und aufgeklärt hat, dem stellt sich in Theorie und Praxis die Frage der Partizipation des Bürgers in einem demokratischen Staatswesen an politischen und gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen, ohne darüber politischer « P r o f i » werden zu müssen oder sich auf den periodischen Gang zur Urne beschränkt zu sehen. Auch hier, glaube ich, praktiziert SERGE M o s c o -
Graumann: Laudatio für Serge Moscovici
VICIE die so rare 1\igend der Selbstanwendung selbstgewonnener humanwissenschaftlicher Erkenntnisse, und vielleicht erleichtert dies das intellektuelle Klima seiner selbstgewählten geistigen Heimat Frankreich: Er stellt sich als wahrer Soziopsychologe mit seinen Erkenntnissen den Fragen, die der politische und soziale Alltag, meist über die Medien, an ihn richtet, und er tritt, soweit ich das Interviews entneh- T I men konnte, ohne Umschweife ein «dans ^ ^ le vif du problème» - in médias res. ^HE
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Bewußte und unbewußte Einflüsse in der Kommunikation SERGE MOSCOVICI V o m V e r f a s s e r a u t o r i s i e r t e Ü b e r s e t z u n g a u s d e m F r a n z ö s i s c h e n v o n ALEXANDRE METRAUX u n d MICHAEL SOMMER, H e i d e l b e r g
1. Der Aufstand der Minderheiten Sie üben einen spannenden Beruf aus, und viele von Ihnen ergreifen ihn, weil er zwei unterscheidbare und gegensätzliche Funktionen hat: eine offensichtliche der Kommunikation und der Informationsweitergabe zwischen den am sozialen Spiel Beteiligten und eine verborgene der Einflußnahme, der Beeinflussung oder - wie man früher sagte - der Suggestion. Einem jeden ist klar, daß die Massenkommunikationsmittel janusköpfig sind: Auf der einen, der rationalen Seite, haben wir das Gesicht, das in den Tag blickt und sich mit der Erziehung und der Weitergabe verfügbarer Kenntnisse für ein breites Publikum befaßt, auf der anderen, der irrationalen, das Gesicht, das in die Nacht schaut, eher unberechenbar und wie das Antlitz eines Zauberers, der mit Worten und Bildern, mit Individuen, Gruppen und selbst mit jenen, die sich dieser Magie zu bedienen wissen, seine Zauberkünste vollbringt. Es ist nicht möglich, die beiden Aspekte zu isolieren, sowenig es möglich ist, Vorder- und Rückseite einer Münze zu trennen. Ganz gleich, in welchem Medium er sich ausdrückt, der Journalist ist homo faber und homo magus zugleich, vielleicht der letzte Erbe des homo magus in der modernen Gesellschaft, unter der Schutzherrschaft des Doktor Faustus, des Helden eines Ihrer nationalen Mythen. Und daran kann keiner etwas ändern, auch wenn er wollte. In den vergangenen Jahren haben meine Vorgänger an diesem Platz, den einzunehmen ich heute die Ehre habe, verschiedene Aspekte der Kommunikation behandelt. Mit der ihnen allgemein zuerkannten Meisterschaft haben sie das soziologische Bild der Kommunikation gezeichnet. Dieses Jahr hat die Jury durch ihre Wahl - so nehme ich an - die Aufmerksamkeit auf einen wenig bekannten und geringes Ansehen genießenden Aspekt der Kommunikation lenken wollen - auf den Einfluß, auf die Wirkung der Bilder und
Wörter, kurz: der Botschaften aller Art auf jeden von uns. Die Jury hatte es damit wohl auf die Ausleuchtung jener Aspekte der Psychologie abgesehen, die die Menschen willentlich oder unwillentlich verwenden, wenn sie andere Menschen überreden und deren Meinungen und Verhaltensweisen zu ändern versuchen. Ein Forscher hat selten die Gelegenheit, die Ergebnisse seiner Arbeiten einem Publikum vorzustellen, das berufshalber eben jene Phänomene verursacht, die er als Forscher analysiert. Und da ich glücklicherweise diese Gelgenheit habe, werde ich Ihnen einige Schlußfolgerungen darlegen, die ich aus meiner Forschung über dieses Gebiet der Sie unmittelbar angehenden Psychologie gezogen habe. Bevor ich aber damit beginne, möchte ich eine Bemerkung zur heutigen Feier anbringen. Meines Erachtens nehmen wir an einem Ereignis teil, das weit über meine Untersuchungen und meine Person hinaus von Bedeutung ist. Mit der Verleihung des Preises in M E D I A S res an mich haben der Stifter und die Jury einen Europäer geehrt und seinen Namen in eine illustre Reihe aufgenommen. Sie wissen so gut wie ich, oder vielleicht besser als ich, unter welchen Umständen unterschiedliche totalitäre Systeme Menschen aus unseren Universitäten verjagt und das Leben aus unseren Laboratorien verbannt haben. Diese Systeme haben in Europa die Sozialwissenschaften, darunter die Sozialpsychologie, schwer zurückgeworfen. Zum Wiederaufbau der Universitäten und der Laboratorien, zur Wiedererweckung des geistigen Lebens in einer Umgebung, die einer Wüste glich, bedurfte es danach der harten Arbeit mindestens zweier Generationen. Ich sage mit Bedacht: zweier Generationen, denn zuerst mußte der Abstand, der sich inzwischen zu den USA ergeben hatte, abgebaut werden, und dann mußten Forscher gefördert werden, die sich mit ihren Ideen an die Spitze der Forschung stellen und als Avantgarde ihres jeweiligen Gebiets auftreten
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Moscovici: Bewußte und unbewußte Einflüsse in der Kommunikation
konnten. Den Preis, der mir heute verliehen wird, nehme ich im Namen aller Forscher und Lehrenden entgegen, deren Anstrengung es unserem Kontinent ermöglicht, in der internationalen Sozialwissenschaft wieder eine Rolle zu spielen. Und so danke ich in aller Aufrichtigkeit und Schlichtheit der Jury, die mit ihrer Wahl diesen Neubeginn unseres Faches auch öffentlich bekundet. W i r bringen dem Phänomen der Minderheiten ein gewisses Interesse entgegen und werden dies in der Zukunft vermehrt tun müssen. Es gibt dafür einen sehr allgemeinen Grund, über den ich kurz sprechen möchte, wobei ich Ihre Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Entwicklung und die beiden Daten, die sie eingrenzen, richten werde. U m 1890, also gegen Ende des letzten Jahrhunderts, wurden die Psychologen durch das relativ unerwartete Auftreten eines neuen Faktors im gesellschaftlichen und politischen Leben überrascht, nämlich durch das Auftreten der Massen. Der Zusammenbruch des Ancien Régime, die fortschreitende Industrialisierung, die zunehmende Verstädterung der ländlichen Bevölkerung, die Entstehung eines mächtigen Pressewesens, der Gewerkschaften und fortschrittlichen politischen Parteien hatten eine gemeinsame Wirkung: Sie konzentrierten eine große Zahl von Individuen und brachten sie in Bewegung, schufen also jene Menschenmenge, die zugleich erschreckt und fasziniert. Es entstand ein neuer Menschentyp - der Massenmensch - und ein neuer gesellschaftlicher Zustand - die Massengesellschaft. W i e Sie wissen, hat der französische Psychologe G U S T A V E L E B O N das Zeitalter der Massen angekündigt. Etwas später veröffentlichte der spanische Philosoph ORTEGA y GASSET sein
berühmtes Werk Der Aufstand der Massen, und FREUD selbst widmete dem Phänomen der Masse mehrere Abhandlungen. Die Psychologie der Masse wurde entwickelt, um dieses Zeitalter zu verstehen und dem Aufstand der Massen entgegenzuwirken. Ihr Gegenstand war es, die Metamorphose von Individuen in eine Masse zu studieren und die Emotionen, Denkweisen und auch die Gewalttätigkeit einer solchen Masse zu erklär e n . F ü r BINET, TARDE, L E B O N , F R E U D u n d a n -
dere ging es darum, den vorher unbekannten und nicht beachteten Mechanismus der Beeinflussung und Ansteckung zu ergründen. So entstand eine Theorie der Beeinflussung, der allmählichen
Ansteckung von Individuum zu Individuum, ebenso wie eine Theorie der Beeinflussung und Ansteckung aus der Distanz, die über die K o m munikationsmittel, insbesondere die Presse wirkt. Selbst das Bild einer Kultur und der Massenkommunikation entstand aus solchen Umständen heraus; es entspricht alles in allem dem uns heute geläufigen. Vor etwa zwanzig Jahren waren ein Bruch und eine Tendenzwende zu beobachten. Nach und nach haben Alters- und Geschlechtsgruppen (Frauen, Junge, Studenten) und früher als abweichend qualifizierte Gruppen (etwa Homosexuelle, Strafgefangene) damit angefangen, ihre Zuschauerrolle aufzugeben, sich zu gesellschaftlichen Akteuren zu wandeln und sich in der kulturellen und politischen Welt zu behaupten. Sie waren nicht die einzigen. Ethnische Gruppen, deren Auflösung man glaubte beobachten zu können, und ökologische Gruppen treten mehr und mehr in Erscheinung und behaüpten sich auf die gleiche Weise. Alle diese Strömungen haben folgendes gemeinsam: den Willen, eine Alternative zur Massengesellschaft aufzubauen, die Ablehnung der Anonymität dieser Gesellschaft und den Wunsch, im Rahmen einer wirklichen Demokratie die ihnen fehlende Identität zu finden. W i r sind - um ein Wort ORTEGA y GASSETS ZU paraphrasieren - inzwischen zu Zeugen des Aufstandes der Minderheiten geworden. Trotz aller ihn kennzeichnenden Schwankungen handelt es sich nicht - so die begründete Annahme - um einen vorübergehenden Aufstand, denn seine Ursachen sind nicht in wechselhaften Umständen, sondern in der Gesellschaftsstruktur zu finden. Dieser Aufstand hängt zusammen mit dem allgemeinen Anstieg des Bildungsgrades, der zunehmenden Bedeutsamkeit von Schulen, Universitäten und Forschungsstellen in unserer Gesellschaft und nicht zuletzt mit der Intensivierung der Kommunikation, die das Bewußtmachen von Frustrationen ebenso erleichtert wie das von Ungerechtigkeiten, die durch die Beschleunigung technischer Entwicklungen und durch die damit einhergehenden endemischen Krisen entstehen. Zudem führt in einer Gesellschaft, in der Originalität und Individualität sozusagen ökonomische Notwendigkeiten sind, die Vermassung zu einem Widerspruch. Die bürokratische Routine wird zum Hindernis und die Dampfwalze der Vereinheitlichung zu einem politischen Irrtum.
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Kein Wunder also, daß sich Gruppen bilden, die solche Notwendigkeiten verteidigen und auf den Zwang zentralisierter und rationeller Planung reagieren, die zwangsläufig ihr Gegenteil produziert, nämlich nicht verplante, das heißt periphere, nicht rationelle Räume, die ja in den Augen vieler Freiheitsräume sind. Wenn sich diese zentralisierte Planung mit politischer Repression verbindet, bringt sie - und ich drücke mich hier sehr zurückhaltend aus - auf ebenso natürliche Weise Abweichungen hervor wie die unfehlbaren Kirchen die Häresie. Ohne Zweifel haben diese unterschiedlichen Bewegungen Vorbilder im ästhetischen Bereich. Sie sind inspiriert von den verschiedenen avantgardistischen Strömungen vom Surrealismus über das Bauhaus und den Expressionismus bis hin zur Pop-Art. Durch ihre Verwandtschaft mit den Formen der modernen politischen Aktion haben diese avantgardistischen Strömungen den Boden vorbereitet für das, was man im Gegensatz zur Kultur der Mehrheiten oder der Massen die Werte und die Kultur der Minderheiten nennen müßte. Was auch immer der Wert dieser groben Andeutungen sein mag, eins können wir festhalten: Im Osten wie im Westen haben es die Regierungen mit dem Phänomen der Minderheiten zu tun, das hier die extreme Gestalt des Terrorismus annimmt, dort die der Dissidenz. Und wie früher beim Auftreten der Massen auf der europäischen Geschichtsszene heißt die Antwort der Regierungen: kriminalisieren und psychiatrieren. Die Massenpsychologie entstand aus der kritischen Auseinandersetzung mit dieser der Neuartigkeit der Situation gegenüber völlig blinden Reaktion. Die Psychologie von damals hatte zu zeigen versucht, daß diese Situation normal sei und daß man sie wissenschaftlich untersuchen müsse, um eine kulturelle und politische Lösung zu finden. Man kann die vorgeschlagenen Lösungen ablehnen - ich für meinen Teil tue das - , aber nicht die damals eingeschlagene Vorgehensweise. Unter Berücksichtigung der schon angedeuteten Veränderungen habe ich vorgeschlagen - und tue das immer noch - , eine Psychologie der Minderheiten zu entwickeln. Die Minderheiten sind heute ein ganz normaler Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens. Ich bin der Überzeugung, daß alle an der Kommunikation, der Politik und dem gesellschaftlichen Handeln interessierten Men-
schen die Welt aus der Perspektive der Minderheiten und nicht mehr nur ausschließlich aus der Perspektive der Mehrheiten oder der einheitlichen Massen betrachten sollten, wie sie das bislang getan haben. Und was immer man von den Minderheiten denken mag, sie sind eine elementare Gegebenheit unserer Wirklichkeit. Das ist die geschichtliche Entwicklung, die uns, wenn ihre Bedeutung einmal erkannt ist, verpflichtet, mit einer neuen Perspektive an das Phänomen des sozialen Einflusses heranzugehen.
2. Schweigende Mehrheiten und lärmende Minderheiten Jede Forschung beginnt mit einem Rätsel. Meine Arbeit begann mit dem folgenden: Wie kann eine Minderheit die Mehrheit für sich gewinnen und zur Übernahme ihrer Meinung veranlassen? Oder anders: Warum gelingt es einem Individuum, das sich eigentlich mit der Masse verschmelzen und von dem von ihr ausgehenden Konformitätsdruck erdrückt werden sollte, die Gruppe, zu der es gehört, zu einem Meinungswandel zu veranlassen? Derartige Tatsachen sind nicht zu bezweifeln, und jeder von uns kann sie beobachten. Wenn sie dennoch rätselhaft sind, dann vor allem deshalb, weil sie noch keiner Analyse unterzogen wurden, die diesen Namen verdient. Aber es gibt noch einen anderen Grund: Die gängigen Theorien stehen alle unter dem Einfluß der Massenpsychologie und lassen die genannten Tatsachen außer acht; für sie sind die rätselhaften Tatsachen einfach unmöglich, also gibt es sie nicht. Diese Theorien versuchen zu erklären, wie sich kollektive Überzeugungen aufdrängen und sich in der öffentlichen Meinung verfestigen. Sie fragen sich nicht, was einen Wandel dieser Meinung bewirkt. Alle setzen voraus, daß wir durch die Mehrheit oder die große Anzahl beeinflußt werden, und wir verneigen uns vor der Kompetenz jener, die im Besitz von Informationen sind, nicht weniger als vor der Macht oder der Autorität der Quelle, die ein vorgefertigtes Urteil liefert. Kurzum, unsere Meinung ändert sich unter dem Einfluß derjenigen, von denen wir auf diese oder jene Weise abhängig sind. So scheint eine abweichende, unterdrückte oder heterodoxe Minderheit auf den ersten Blick kaum die Möglichkeit zu besitzen, ihren Stand-
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punkt durchzusetzen, denn sie verfügt über keinen der genannten Vorteile. Es ist nur logisch, daß man sich so wenig um sie gekümmert hat. Trotz dieser offensichtlichen Ohnmacht der Minderheiten bleibt die Frage: Wie übt eine Minderheit (die hin und wieder aus nur einem Individuum bestehen kann) einen Einfluß aus? Es gibt Einzelfälle, in denen eine Minderheit über eigene Mittel verfügt, ein bestimmtes Prestige oder eine gewisse Macht besitzt; solche Vorteile stellen für die Mitglieder dieser Minderheit eine große Hilfe bei ihrem Versuch der Einflußnahme dar. Im allgemeinen ist dies aber nicht der Fall und auch nicht die interessanteste Situation. Um dieses Problem zu lösen, mußte man zuerst erkennen, daß die Faktoren der Zahl, der Hierarchie, der Kompetenz, der Information wider Erwarten lediglich eine untergeordnete Rolle spielen. In Wirklichkeit wird der Einflußprozeß durch subtilere, psychische Faktoren bestimmt. Ich kann an dieser Stelle weder auf die Einzelheiten eingehen, die zu diesem Schluß geführt haben, noch das theoretische Modell umfassend darstellen, das ich in der Folge vorgeschlagen habe. Es scheint mir aber notwendig, Ihnen anhand von Beispielen einige Merkmale dieser Theorie zu beschreiben, damit Sie sich von ihr ein allgemeines Bild machen können. Jene, die den Roman gelesen oder den Film gesehen haben, werden sich bestimmt an den Oberst Nicholson aus Die Brücke am River Kwai erinnern. Dieser Offizier wurde zu spartanischer Disziplin erzogen; auch hat er einen ausgeprägten Sinn für seine Würde. Als Gefangener wehrt er sich entschieden gegen die Anmaßung des Siegers, ihn als britischen Offizier mit erniedrigender Arbeit zu beschäftigen. Unempfindlich gegen Drohungen und Bestrafung wiederholt er unablässig seine Argumente, die er unter allen denkbaren Umständen und gegenüber jedermann aufrechterhält. Nach mehreren Versuchen, ihn zum Nachgeben zu überreden, sehen selbst seine Mitgefangenen die Aussichtslosigkeit solcher Versuche ein. Nicht nur gehorchen die anderen Offiziere seinen Befehlen, die durch keine weltliche Macht mehr gestützt werden, sondern die Soldaten erdulden auch die ihnen zugefügten Grausamkeiten, denn «das Beispiel des Hauptmann Nicholson war für sie berauschender als das Bier oder der Whisky, den sie entbehren mußten». Auf der anderen Seite sieht man den Gegner, den
Hauptmann Saito, der nicht weiß, wie er auf eine derartige Sturheit reagieren soll, und der mit jedem Tag seine Fassung mehr verliert, in geistige Umnachtung gerät, bis er keinen anderen Ausweg mehr sieht, als dem entschlossenen und faszinierenden Gefangenen nachzugeben. Diese fiktiven Personen und der Verlauf der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen veranschaulichen die Haupteigenschaft des Vorbildes und der von ihm ausgelösten Reaktion. Konformität stellt sich üblicherweise deshalb ein, weil die abweichende Minderheit weder eine feste Position einnimmt noch eine Meinung stark vertritt. Die Alternative dazu ist, daß die Minderheit stark und unabhängig bleibt und damit der Mehrheit ihr Wert- und Meinungssystem aufzwingt. Anders gesagt: Eine kleine, aber entschlossene Minderheit kann, gerade weil sie eine eigene Auffassung vertritt, ein wohlumschriebenes Ziel verfolgt und kohärent handelt, einer Mehrheit ihr eigenes Wert- und Überzeugungssystem einpflanzen. Man kann verschiedene Bedingungen des Einflusses der Minderheit unterscheiden: a) Es wird eine «verbotene», «abweichende» Position vertreten, die zu einem gegebenen Zeitpunkt gesellschaftlich relevant ist. Das war im Falle Solschenizyns die Einstellung zu den Konzentrationslagern. b) Man besitzt die materiellen und geistigen Mittel, die es erlauben, die Folgen einer Stellungnahme zu tragen und in den sich daraus ergebenden Konflikt einzutreten. c) Man hat die Möglichkeit, einen Konflikt zu provozieren, obwohl die Mehrheit diesen Konflikt meidet oder ablehnt. Das heißt einerseits, daß man sich ganz für die eigene Sache einsetzt und sich mit der eigenen Position so weit identifiziert, daß jeder Rückzug und jede Unsicherheit ausgeschlossen sind. Das heißt andererseits, daß jeder Kompromiß ausgeschlagen wird, obwohl der Kompromiß die einfachste Konfliktlösungsmöglichkeit darstellt. Dabei wird das Risiko eingegangen, die' Mehrheitsmeinung zu beleidigen und zu entlarven. d) Die Kompromißlosigkeit, die den Minderheiteneinfluß auszeichnet, führt dazu, daß die Mehrheit in Zugzwang kommt. Psychologisch gesehen schafft die Kompromißlosigkeit eine nichtreziproke Beziehung. Weil die Min-
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derheit jedes Nachgeben ablehnt, scheint die Lösung des Konflikts nunmehr nur noch vom Nachgeben der Mehrheit abzuhängen, e) Der Erfolg der Beeinflussungsversuche hängt weniger von der Zahl, der Kompetenz usw. der gesellschaftlichen Akteure ab als von deren Verhaltensstil. Was heißt das? Schlicht und einfach dies, daß wir andere eher durch die Art und Weise überzeugen, wie wir uns verhalten und unseren Standpunkt - er mag extrem sein oder nicht - vertreten, als durch den Umstand, daß wir im Namen von 10000 Personen sprechen, daß wir zwei oder fünfzehn sind oder daß wir Spezialisten sind oder Ansehen genießen. Ein solcher Umstand mag sich vorteilhaft auswirken, ist aber nicht entscheidend. In einem alten Streifen, Twelve Angry Men, sah man - was wir auch in einem Laborversuch gezeigt haben - , wie ein Individuum, das von der Richtigkeit einer Sache überzeugt war und sich konsistent danach verhielt, die Überzeugung des Geschworenengerichts um 180 Grad drehen konnte (vgl. PAPASTAMON, 1979). Doch werde ich zur Veranschaulichung des Gesagten ein Ihnen wohl näherliegendes Beispiel wählen. In ihrem bemerkenswerten Buch, Die Schweigespirale, das wie jedes Werk dieser Art den von der Massenpsychologie angenommenen Konformismusdruck unterstellt, stellt ELISABETH NOELLE-NEUMANN fest, daß das Meinungsklima weniger durch die Zahl als durch das Schweigen und Reden bestimmt ist. Nach dem von mir vorgeschlagenen Modell neigt die Mehrheit zum Schweigen aus Angst, einen Konflikt auszulösen, während die Minderheiten sprechen, da sie dem Konflikt nicht aus dem Weg gehen können, wenn sie einen für sich vorteilhaften Meinungswandel bewirken wollen. Viel wichtiger ist jedoch in diesem Zusammenhang die Art und Weise, in der gesprochen oder geschwiegen wird. Es gibt beredtes Schweigen und nichtssagende Worte, und es gibt abwehrende und bejahende Äußerungen. Wir haben in unseren Experimenten beobachtet, daß ein für die Minderheit günstiger Meinungsumschwung weniger durch die Qualität als durch den Extremitätsgrad und die Konsistenzausprägung der Äußerungen zustande kommt. Wenn ein Individuum oder eine Gruppe mit Beeinflussungsabsichten diese Bedingungen ge-
97 nau erfüllt - ganz unabhängig davon, ob es sich um den fiktiven Oberst Nicholson oder eine wirkliche Gruppe, etwa die Kommunistische Partei Frankreichs, handelt - , dann ist die Öffentlichkeit, bestehend aus Anhängern und Gegnern, zwischen Bewunderung und Abneigung hin und her gerissen und weiß nicht, wie sie das Verhalten des Individuums oder der Gruppe einschätzen soll. Sie weiß nicht, ob sie das Individuum oder die Gruppe als Helden verehren oder als Unverantwortliche verachten soll, und fragt sich, ob es nicht besser wäre, wenn das Individuum oder die Gruppe so bald wie möglich verschwände, selbst wenn sie dadurch zu Märtyrern würden. Das sture Verhalten eines Individuums oder einer Gruppe mag dabei der Öffentlichkeit ganz und gar absurd erscheinen. Und dennoch kann dieselbe Öffentlichkeit fasziniert sein und unbewußt unter dem Einfluß dieser konsistenten und entschlossenen Minderheit stehen. Wir haben es hier mit einem bis zum heutigen Tag noch nicht vollständig gelösten Rätsel zu tun, das eng verknüpft ist mit der symbolischen Natur unserer Verhaltensweisen und unserer Worte wie auch mit der Bedeutung, die diese Verhaltensweisen und Worte in unserer Kultur haben. Das ist der Grund, warum ein zu Extremen neigendes Individuum wahrhaftiger, ein gewöhnliche Kompromisse ablehnendes Individuum mutiger, ein die gleichen Argumente wiederholendes Individuum überzeugter und engagierter erscheint. Man wird einem solchen Individuum Gefolgschaft leisten, denn durch seine Hartnäckigkeit macht es sich zu einem nachahmenswerten Vorbild. Ausgehend von diesen Gedanken haben wir ein ganzes Bündel von Hypothesen entwickelt und Experimente mit genauer Zielsetzung durchgeführt. Es konnte nachgewiesen werden, daß in der Tat die Fähigkeit zur Konfliktauslösung und der Verhaltensstil (Konsistenz, Extremismus usw.) einen wesentlichen Teilbereich des sozialen Einflusses erklären. Dagegen spielen die Faktoren der Anzahl und der Hierarchie im Falle der Minderheiten eine untergeordnete Rolle. Selbst wenn die Mehrheit ihnen alle Kompetenz abspricht, können Minderheiten überzeugend wirken, wenn sie ihren Standpunkt mit Entschlossenheit vertreten. Zum allgemeinen Erstaunen haben Forscher gezeigt, daß der Konformitätsdruck innerhalb einer Gruppe die Aussichten eines abweichenden Individuums, die Mehrheits-
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meinung zu ändern, nicht mindert. Im Gegenteil, die Aussichten steigen: Der Einfluß des Abweichenden auf die Gruppe ist um so größer, je größer der Konformitätsdruck ist. Sollte sich dieses Ergebnis bestätigen, wäre daraus zu folgern, daß eine geschlossene Gesellschaft ihre Mitglieder nicht nur gegen den Einfluß von Minderheiten immunisieren kann, sondern daß sie sie durch den Konformitätsdruck für solche Wirkungen nur noch anfälliger macht. In die gleiche Richtung weist eine Reihe von Untersuchungen, in denen die Entscheidung eines Gremiums oder eines Geschworenengerichts simuliert wurde und die gezeigt hat, daß eine Minderheit, sofern sie ihre Position entschieden vertritt, einen Konsens darüber herbeiführen kann (vgl. M U G N Y , 1975). Daß die Anwensenheit einer derartigen Minderheit für eine schöpferische und originelle Gesellschaft notwendig ist, wird Ihnen nicht neu sein. Einerseits haben viele Experimente über die Phänomene der Kommunikation die Wirksamkeit der von Minderheiten ausgehenden Botschaften bestätigt, soweit diese den genannten Bedingungen der Konsistenz usw. entsprachen. Verschiedene Untersuchungen haben gezeigt, daß das Bild einer Minderheit, auch wenn es negativ ist, kein Hindernis für eine bedeutsame Beeinflussung ist. Andererseits ist klar geworden, daß, wenn - allgemein gesprochen - abweichende Individuen wenig Sympathie genießen, sie dennoch Bewunderung hervorrufen und als besser beurteilt werden als die konformistische Mehrheit. Hierin steckt übrigens ein Dilemma: Soll man sich für die Sympathie oder das Ansehen entscheiden, da man beides zugleich ja nicht haben kann? Alle, die das Risiko zu mißfallen auf sich genommen haben, um einen ihnen gerecht oder richtig erscheinenden Standpunkt durchzusetzen, wußten und wissen darüber Bescheid; wir können hier CATO, GALILEI und ganz allgemein die Urheber revolutionärer Entdeckungen anführen. Jedenfalls erklärt dieses Dilemma die Faszination und die Macht einer entschlossenen Minderheit, es ist eine der Quellen des Minderheiteneinflusses. Alle diese Untersuchungen - nur einige wenige werden hier genannt - werfen ein neues Licht auf den Einflußmechanismus, eine Perspektive, die dem gesunden Menschenverstand und der Praxis eher entsprechen dürfte. Diese Untersuchungen bilden die Grundlage einer Psychologie der aktiven Minderheiten, die
noch keineswegs ausgereift ist. Ganz bestimmt aber brechen sie endgültig mit dem überholten Bild vom Menschen als einem konformistischen Tier.
3. Die wahren «hidden persuaders» Geben wir doch zu, daß die Idee des Einflusses in uns stets den Gedanken an die Hypnose, also eine ohne unser Bewußtsein auf uns wirkende Handlung, nach sich zieht. Es überrascht uns nicht, wenn man oft von versteckter Überredung spricht, und wenn Psychologen die Bedingungen herauszuarbeiten suchen, unter denen Bilder oder Botschaften, die von den Individuen nicht wahrgenommen werden, dennoch einen Einfluß auf deren Urteilsbildung nehmen. Man hat Werbefachleute sogar die Behauptung aufstellen gehört, daß Slogans oder Bilder, die so kurz auf den Bildschirm oder die Leinwand projiziert werden, daß sie der Zuschauer gar nicht bewußt bemerkt, den Absatz verbessern. Die eingehende Kritik der verschiedenen Untersuchungen über die «unterschwellige Wahrnehmung» hat den weisen Schluß nahegelegt, daß es einen solchen verborgenen Einfluß nicht gibt (GILLIG & G R E E N W A L D , 1974). Ohne irgendeine Vorannahme und auf unerwarteten Umwegen wurde ich veranlaßt, diesen Schluß, an den ich, wie jedermann, fest geglaubt hatte, in Frage zu stellen. Je weiter meine Studien vorankamen, desto mehr drängte sich die Überzeugung auf: Ja, es gibt hidden persuaders, es gibt eine verborgene Überredung, nämlich die der aktiven Minderheiten. Nicht deshalb, weil deren Aktivität verborgen wäre, sondern weil sie auf uns einwirkt, ohne daß wir uns dessen bewußt werden. Um diesen Sachverhalt besser zu verstehen, schlage ich vor, von zwei gegensätzlichen Effekten auszugehen, die in mehreren Untersuchungen beobachtet wurden. Zuerst ist festzustellen, daß Personen, die in einer öffentlichen Situation beeinflußt wurden, angesichts einer Mehrheit dazu neigen, in einer privaten Situation zu ihrer ursprünglichen Meinung zurückzukehren. Angesichts einer Minderheit bleiben die in einer öffentlichen Situation beeinflußten Personen bei ihrer Meinung. Das heißt, daß jene, die in der ersten Situation nicht beeinflußt zu werden schienen, in der zweiten Situation tatsächlich beein-
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flußt wurden. Es sieht so aus, als ob das Subjekt dem Druck der Mehrheit äußerlich nachgibt, in seinem Innern aber Widerstand leistet. Dagegen widersteht das Subjekt dem äußeren Druck einer Minderheit, gibt ihm innerlich jedoch nach. Schließlich geht das äußere Nachgeben gegenüber der Minderheit auch mit einem inneren Nachgeben einher. Dann ist eine Art Verschiebung festzustellen: Die Mehrheiten haben die Tendenz, einen direkt mit ihren Botschaften zusammenhängenden Einfluß auszuüben. Dagegen wirkt der Einfluß der Minderheiten über die mit der Botschaft assoziierten, aber nicht direkt darin enthaltenen Meinungen. Wenn z.B. die von der Mehrheit gesandte Botschaft eine Einstellungsänderung zum Militärdienst bezweckt, wird sie auf die Einstellung der Öffentlichkeit zum Militärdienst wirken. Die gleiche Botschaft aus dem Munde der Minderheit wird zwar die Einstellungen der Öffentlichkeit zum Krieg, zum Staat erheblich, jedoch die Einstellungen zum Militärdienst selbst nur sehr geringfügig ändern. Wir müssen also zwischen den unmittelbaren und den mittelbaren Auswirkungen unterscheiden. Beide Beobachtungsergebnisse legen den Schluß nahe, daß die Minderheiten einen indirekten, verborgenen, meist unbeachteten Einfluß ausüben. Gewiß wurden diese Beobachtungen in einem durch Hypothesen umschriebenen Zusammenhang erklärt, aber ich glaube, daß es besser ist, einfach die Tatsachen sprechen zu lassen. Solche im Labor hergestellten Tatsachen haben ihre Grenzen, sind aber interessant, weil sie unter vereinfachten Bedingungen Phänomene verständlich machen, die in der komplexen Wirklichkeit oft unsichtbar sind. Ich möchte dies an drei Beispielen veranschaulichen, wobei ich versuche, meine Darstellung möglichst allgemeinverständlich zu halten. Das erste Beispiel stammt aus einer Versuchsreihe, die in der Schweiz über die Wirkung von Kommunikationen durchgeführt wurde. Gemessen wurde die Einstellung von Personen vor und nach der Aufnahme einer Botschaft, um das Ausmaß der Einstellungsänderung zu erfassen. Die Botschaften betrafen Umweltprobleme und simulierten eine Meinungskampagne zu diesem Thema. Wie Sie sich vorstellen können, wurde unter bestimmten Bedingungen die Botschaft der Mehrheit zugeschrieben, unter anderen Bedingungen einer mehr oder weniger extremen Min-
99 derheit. Ein Ergebnis zeigte sich mit großer Regelmäßigkeit: Je extremer oder je rigider eine Minderheit ist, desto weniger Einfluß übt sie auf die direkt in der Botschaft angesprochenen Meinungen aus; und um so stärker ist ihr Einfluß auf die mit der Botschaft assoziierten Meinungen. Mit anderen Worten: Selbst wenn der direkte Einfluß unbedeutend ist, ist der indirekte sehr groß. Man wird ferner erkennen, daß die Wirkung der Mehrheit auf die direkt in der Botschaft angesprochenen Einstellungen positiv, auf die nicht direkt angesprochenen dagegen negativ ist. Im Falle der Minderheiten gewinnt man den Eindruck eines subtilen Bumerang-Effekts oder eines offensichtlichen Verschiebungs-Effekts. Die Minderheit klopft ihren Nagel sehr fest in die Meinungswand, aber der Nagel dringt schräg in die Wand ein und schafft gerade dort Risse, wo es nicht erwartet wurde. Man könnte auch sagen, daß die Leute zwar die Botschaft ablehnen, da sie mit der geforderten Einstellung nicht übereinstimmen, aber durch die Botschaft dennoch in benachbarten Bereichen beeinflußt werden. In unserem Fall konnte man die Zurückhaltung gegenüber einem von einer extremen Umweltbewegung stammenden Vorschlag beobachten. Das verhinderte j edoch nicht, daß die Leute nunmehr davon ausgingen, daß Individuen in diesem Lebensbereich eine bestimmte Verantwortung tragen sollten, daß die Industrie nicht alles zur Abwendung von Schäden tut usf. Im zweiten Beispiel geht es um einen direkten Vergleich zwischen dem Mehrheits- und dem Minderheitseinfluß. Sie kennen alle das Phänomen der sozialen Kryptomnesie: Ein Subjekt vergißt, daß ein von ihm geäußerter Gedanke oder Satz nicht von ihm ist, sondern von einer anderen Person irgendwo aufgegriffen wurde. Diese Art ungewollten Plagiats ist sehr häufig zu beobachten. Während des Zweiten Weltkrieges haben amerikanische Forscher entdeckt, daß dieses Phänomen in der Kommunikation selbst auftritt. Unter dem Stichwort «sleeper effect» haben sie herausgearbeitet, daß eine Botschaft, die zum Zeitpunkt ihrer Sendung keinerlei Effekt hat, mit zeitlicher Verzögerung, z.B. zwei Wochen oder sogar zwei Monate nach der Sendung wirken kann. Dabei vergessen die Leute die Quelle und die Tatsache, daß sie ihnen mißfallen hat. Sie erinnern sich nur an den Inhalt und ändern ihre
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Meinung in diese Richtung. Wir haben einen analogen Versuch durchgeführt, bei dem Versuchspersonen eine Botschaft über die Ökologie erhielten. Gemessen wurde die Meinungsänderung nach einer Zeitspanne von drei bis vier Wochen; wir wollten herausfinden, was die Versuchspersonen behalten hatten. Anders als die amerikanischen Forscher haben wir die Botschaft einmal einer Mehrheit, dann einer flexiblen oder einer rigiden Minderheit zugeschrieben. Den «flexiblen» Stil repräsentierte eine Botschaft, die den Versuchspersonen mit folgendem Wortlaut vorgelegt wurde: «Verpflichten wir die Industrie, Automobile mit umweltfreundlichen Abgasfiltern zu bauen!» In rigidem Stil lautete die Botschaft so: «Schließen wir die Fabriken, die die Vorschriften nicht einhalten!»
ptome konvertieren (vgl. MOSCOVICI, 1980).
Beleg nur wenige Zahlen: Im ersten Fall wird die Quelle durch eine von drei Versuchspersonen richtig identifiziert, im zweiten Fall durch zwei von drei Versuchspersonen (vgl. Moscovici et al., 1979). Diese Art von Erkenntnissen könnte vielleicht einen neuen Zugang zum Verständnis der durch Massenmedien verbreiteten Informationen eröffnen, über die ELIHU KATZ an dieser Stelle gesprochen hat. Ich wette, daß Informationen, die von einer «Autorität» oder einer «Mehrheit» stammen, schlechter behalten und wiedererkannt werden. Anders gesagt, diese Informationen bringen beim Hörer viel weniger geistige Aktivität in Gang, und zwar nicht wegen des Inhalts, sondern wegen der Herkunft der Informationen. Unsere Analysen werden stets mit Einschränkungen versehen und korrigiert werden müssen, denn die Daten, mit denen wir in den Sozialwissenschaften arbeiten, leiden an der gleichen Schwäche wie die, mit denen in der Medizin, der Meteorologie usw. gearbeitet wird. Das, was wir heute als wahr ansehen, ist morgen vielleicht nur noch halbwahr. Wenn man auch mit solchen Einschränkungen und Korrekturen rechnen muß, so glaube ich doch mit gutem Grund davon ausgehen zu können, daß die Minderheiten unsere Gedanken und Verhaltensweisen indirekt und auf Umwegen verändern, und zwar gerade dort, wo sie es nicht beabsichtigt haben, und zu einem Zeitpunkt, den wir uns selbst nicht aussuchen können. Wenn es der studentischen und der feministischen Bewegung nifht gelungen ist, uns zu überzeugen und den größeren Teil der Nation auf den Weg der Revolution zu locken, so haben sie dennoch das Weltbild, das Verhalten, die Beziehungen zwischen Studenten und Professoren, zwischen den Geschlechtern usw. tiefgreifend verändert. Gewiß, man hat nicht für sie gestimmt, aber man hat ihre Meinung übernommen, und zwar in Punkten, die ihnen nicht wesentlich erschienen.
Was uns allerdings noch mehr überrascht, ist folgendes: Fordert man die Versuchspersonen auf, sich an Quelle und Inhalt der Botschaft zu erinnern, erhält man eine psychologisch immer noch rätselhafte Antwort. Die Versuchspersonen erinnern sich verhältnismäßig schlecht an den Namen und den Inhalt, wenn die Quelle der Botschaft eine Mehrheit ist, dagegen verhältnismäßig gut, wenn die Quelle eine Minderheit ist. Als
Die Annahme unmittelbarer Wirkung und die Illusion von Stabilität verhindern oft, daß wir die Einflußwellen innerhalb der Gesellschaft wahrnehmen. Wenn wir die Wahlabsichten erheben oder die Zugehörigkeit von Personen zu einer Religion erfassen, stellen wir heute ungefähr die gleichen Anteile an Sozialisten, Konservativen und Katholiken fest wie vor dreißig Jahren. Aber fragen Sie die Katholiken oder die Konservativen
Die Ergebnisse bestätigen das, was Sie bereits wissen. Dennoch sind sie für uns heute noch verwirrend. Man konnte in der Tat feststellen, daß die Versuchspersonen drei Wochen nach dem Empfang der Mehrheitsbotschaft ihre Meinung im Sinne dieser Botschaft geändert hatten; sie entfernten sich von dieser Botschaft, indem sie bei den indirekten und assoziativ damit verbundenen Einstellungen auf ihren früheren individuellen Standpunkt zurückkehrten. Wenn auch die Minorität einen ähnlichen Effekt auf die explizit angesprochenen Meinungen hatte, so produzierte doch nur die rigide Minderheitsbotschaft einen echten sleeper effect, d.h. eine verzögerte Meinungsänderung. Das Verschiebungsphänomen läßt sich auch an diesem Fall beobachten: Man macht einer Botschaft gegenüber keinerlei Konzession, weil man weiß, daß sie von einer abweichenden Gruppe stammt, und dennoch hinterläßt die Botschaft eine Spur, die um so tiefer ist, je extremer die Botschaft ist. Wir haben es hier mit einer Konversion auf der sozialen Ebene zu tun, die analog zu der auf der psychischen Ebene verläuft, wo psychische in somatische Sym-
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nach dem, was sie denken oder befürworten, und Sie werden feststellen, daß es genau das ist, was früher als Ketzerei oder Anathema galt: die Sozialgesetzgebung, die Geburtenkontrolle, die Priesterehe usw. Man behält das Etikett, das nun aber für etwas ganz anderes steht, nämlich für eine Meinung, die sich unter der Wirkung heterodoxer und diskreter Einflüsse völlig verändert hat. Alle diese Versuche geben uns ermutigende Hinweise. Aus ihnen kann aber nicht geschlossen werden, daß die Individuen selbst unter einem unbewußten und verborgenen Einfluß stehen. Um einen derartigen Einfluß nachweisen zu können, muß man die Ebene der verbalen Kommunikation verlassen und Änderungen nonverbaler, das heißt perzeptiver Art provozieren. Ohne Ihre Geduld auf die Probe stellen zu wollen, möchte ich Ihnen als drittes und letztes Beispiel ein anderes Experiment beschreiben, das mir überzeugend erscheint. In einem alten Buch über den tierischen Magnetismus haben die beiden französischen Psychologen BINET und F E R E versucht, durch halluzinierte Farben gleiche Verhaltensreaktionen auszulösen wie durch wirkliche Farben. Sie zeigten hypnotisierten Versuchspersonen ein weißes Blatt Papier und suggerierten ihnen, es sei rot. Waren die Versuchspersonen auf das suggerierte Rot fixiert, zeigte man ihnen ein zweites weißes Blatt und fragte sie, was sie sähen. Alle antworteten, daß sie das zweite, weiße Blatt grün sähen. Um die Bedeutung dieses Versuches verstehen zu können, müssen Sie sich daran erinnern, daß man, wenn man einen roten oder blauen Farbfleck über einen bestimmten Zeitraum betrachtet, bei nachträglicher Fixierung einer weißen Oberfläche nicht etwa weiß sieht, sondern die Komplementärfarbe der vorher gesehenen Farbe, also grün oder gelb. Das nennt man ein chromatisches Nachbild. BINET und F E R E stellten also fest, daß unter Hypnose halluzinierte Farben chromatische Nachbilder bewirken, als ob es sich um wirkliche Farben handelte (vgl. BINET & F E RE, 1 8 8 7 ) .
Ausgehend von dieser von vielen Forschern bezweifelten Feststellung haben wir ein Experiment aufgebaut - ohne Hypnose natürlich - , das auf unser Problem zugeschnitten ist (vgl. MoscoVICI & PERSONNAZ, 1 9 8 0 ) . In einem Laboratorium werden Versuchspersonen eine Reihe blauer
101 Diapositive gezeigt. Ein Eingeweihter des Versuchsleiters, der je nach Fall eine Minderheit oder eine Mehrheit repräsentiert, behauptet konsequent, daß die Diapositive grün sind. Jedesmal wenn die Versuchspersonen ein blaues Diapositiv gesehen, das Farburteil des Eingeweihten gehört und selbst ausgesagt haben, ob das Diapositiv grün oder blau ist, werden sie aufgefordert, auf einer Farbskala die Farbe anzugeben, die der auf der Leinwand gesehenen entspricht. Wir wissen bereits, daß die unmittelbar nach der Reizdarbietung gesehene Farbe die Komplementärfarbe ist. In unserem Fall wäre dies entweder Gelborange als Komplementärfarbe von Blau, oder Rotviolett als Komplementärfarbe von Grün. Wären die Versuchspersonen lediglich auf der verbalen und bewußten und nicht auf der perzeptiven und unbewußten Ebene beeinflußt, dann müßte die von ihnen auf der Farbskala angegebene Farbe gelblich getönt sein, da die Reizvorlage blau ist. Wenn dagegen ein unbewußter und perzeptiver Einfluß stattfindet, müßte die angegebene Komplementärfarbe rötlich getönt sein, weil die Versuchspersonen das Wort «grün» hören. Gegen jeden Versuch läßt sich etwas einwenden, und kein Versuch liefert unbezweifelbare Ergebnisse (vgl. DOMS & AVERMAET, 1 9 8 0 ; R I C H A R D et al., 1 9 8 0 ) . Das hier berichtete Experiment macht dabei keine Ausnahme. Wir haben indes das Glück gehabt, unsere Hypothese bestätigen zu können, nach der der von einer konsequenten Minderheit ausgehende Einfluß das Farbsehen eines Individuums modifiziert, ohne daß dieses sich dessen bewußt ist, während der von einer konsequenten Mehrheit ausgehende Einfluß nicht systematisch den gleichen Effekt hervorbringt. Es zeigt sich zudem, daß der Einfluß der Quelle größer ist, wenn sie abwesend als wenn sie anwesend ist. Wie Sie sehen, ist es möglich, bei Individuen im Wachzustand die gleichen Wirkungen zu erzielen, wie sie BINET und F E R E an Versuchspersonen in hypnotischem Somnambulismus, also unter Ausschaltung des Bewußtseins, demonstriert haben. Eine Person, die dem Einfluß einer Minderheit ausgesetzt ist, welche behauptet, daß ein blaues Diapositivbild grün ist, beginnt nach und nach, ein grünes Bild zu sehen, nennt es aber weiterhin blau. Diese Wirkung stellt sich aber nicht unbedingt ein, wenn der Einfluß von einer Mehrheit ausgeübt wird. Kanadische Forscher (vgl. H A N C O C K & SORRENTINO, 1 9 8 0 ) haben nachge-
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wiesen, daß - in Übereinstimmung mit unserer Hypothese - jemand das Sehen von Farben noch mehr verändert, wenn er Verdacht schöpft, beeinflußt zu werden. Anders gesagt, die abwehrende Behauptung, daß die Minderheit die Meinung zu «manipulieren» beabsichtigt, macht es der Minderheit nicht etwa schwerer, sondern sogar noch einfacher. Ich verweile nicht länger bei den technischen Aspekten dieses Experiments und bei den Herausforderungen, die es für die gängigen Wahrnehmungstheorien darstellt. Ich glaube, den Versuch ausführlich genug beschrieben zu haben, um die Existenz dieser durch Suggestion einer anderen Person erzielten Wahrnehmungsveränderungen als sehr wahrscheinlich erscheinen zu lassen, Veränderungen, die sich latent vollziehen und denen wir uns nicht entziehen können, da man ja nicht weiß, wann und wie sie stattfinden. Wir mögen uns zwar widersetzen, dieselben Sätze wie immer von uns geben und auch für wahr halten - ebenso wie die Versuchspersonen das Wort «blau» verwendeten - , dennoch spielt sich in unserem Gehirn ohne unser Wissen ein anderswo ausgelöster Prozeß ab, der den Sinn des Wortes «blau» und die Bedeutung des von uns Gesehenen wandelt. Dies also die kleine Auswahl von Beweisen, die Ihnen die Möglichkeiten eines verborgenen und nur schlecht zu verhindernden Einflusses vor Augen führen. Dieser Einfluß geht vor allem, aber nicht ausschließlich, von Minderheiten aus, - ob sie wollen oder nicht, sie sind hiddenpersuaders. Das ist ihre Stärke, aber auch ihre Schwäche. Wenn Sie mich fragen würden, welchen praktischen Schluß ich aus dieser Feststellung ziehe, würde ich antworten: Wenn die Botschaft einer Mehrheit keine sichtbaren Wirkungen hervorbringt, hat sie vermutlich auch keine unsichtbaren Effekte. Wenn es sich jedoch um eine Minderheit handelt, signalisiert das Fehlen von sichtbarer Wirkung meist die Existenz unsichtbarer Effekte.
Abschließende Bemerkungen Ich habe selbstverständlich nicht die Absicht, mein Thema und alle Tatsachen, über die wir in diesem Bereich verfügen, heute erschöpfend zu behandeln. Aber wenn sich das skizzierte theore-
tische Modell in der Z u k u n f t bewähren sollte, wird es uns erlauben, etwas für uns noch Verwunderliches zu erklären, nämlich wie die Minderheiten sozusagen über die gesellschaftliche Inkubation ihrer Sprache und ihrer Verhaltensweisen agieren - durch eine Inkubation, die der eines Virus im Organismus oder der einer Idee im Kopf eines Forschers vergleichbar ist. In einer ersten Phase können sie - wie unsere Experimente nahelegen - den üblichen Widerstand gegen Überredung brechen und unsere Einstellungen, unsere Auffassungen indirekt, diskret und unter Umgehung unseres Bewußtseins modifizieren. Die abweichenden Botschaften - sie mögen konsistent oder extrem sein - zirkulieren während einer gewissen Zeit, breiten sich im Sozialkörper aus, anscheinend ohne daß sich etwas verändert und ohne daß eine Veränderung bemerkt würde. So haben die Versuchspersonen in unseren Experimenten ein Diapositiv, das sie bereits grün zu sehen begonnen hatten, weiterhin «blau» genannt. Als man ihnen das sagte, protestierten sie, weil sie nicht wußten, was in ihnen und mit ihnen geschah. Nach der Theorie würde sich in der zweiten Phase jedes Individuum seiner neuen Einstellungen und Wahrnehmungen bewußt werden und sich in der privaten Sphäre abweichend äußern, ohne zu wissen, daß die anderen Individuen einem ähnlichen Druck ausgesetzt waren und eine ähnliche Entwicklung durchgemacht haben. Jeder behält dabei die früheren, den überlieferten Normen entsprechenden Verhaltensweisen bei, als wäre nichts geschehen. In einem Dorf z.B., wo das Kartenspiel Verbreitung findet, beginnt ein jeder, zu Hause zu spielen, obgleich alle das Spielen als verrucht und mit den moralischen Werten unvereinbar beurteilen. Dies ist die Phase der pluralistischen Unwissenheit. In ihr geht das individuelle Wissen über die bewirkte Wandlung einher mit dem gesellschaftlichen Nichtwissen darüber. Die Effekte des verborgenen Einflusses werden für alle erst dann offensichtlich, wenn die Inkubationszeit beendet ist. Dann erscheinen die neuen - aber auch verbotenen - Ideen und Verhaltensweisen plötzlich an der Oberfläche mit einer Geschwindigkeit, die alle, Staatsmänner, Ö f fentlichkeit und Wissenschaftler, überrascht. Nichts deutete auf sie hin, niemand hat sie kommen sehen. Man denke hier nur an das plötzliche A u f k o m m e n der Studentenbewegung im Mai
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1968. Frankreich langweilte sich, so schien es, und es geschah nichts. Erinnern Sie sich auch an die Kopflosigkeit der französischen Politiker, angefangen mit DE GAULLE. Die dritte Phase des Einflußprozesses ist also die der plötzlichen Blüte und der schnellen Verbreitung bis dahin minoritärer Meinungen in allen Kanälen der Gemeinschaft. Praktisch über Nacht geht der Einflußprozeß vom latenten in den manifesten Zustand über. Dies offenbart eine Grenze der Massenmedien. Aus offensichtlichen theoretischen Gründen können die Massenmedien weder die Inkubation noch die Zirkulation heterodoxer Einstellungen und Verhaltensweisen unterbinden. Die großen Medien sprechen im Namen der schweigenden Mehrheit oder der Autorität. Sie bringen vorwiegend Unterwürfigkeit hervor, bewirken eine äußerliche Zustimmung ohne jede innere Überzeugung, reichen aber normalerweise nicht bis dorthin, wo verborgene, wenn nicht unbewußte Einflüsse wirken. Weil sie nicht Vorsorgen können, wie man in der Sprache der Mediziner sagt, das heißt, weil sie nicht im voraus handeln können, versuchen die Massenmedien im nachhinein die abweichenden Tendenzen zu entschärfen und zu meistern, ja sogar zu banalisieren, indem sie sie von der Sphäre der Minderheit in die Sphäre der Mehrheit herüberziehen. In Frankreich sagt man dazu «récupération» - Beseitigung durch Neuverwertung. Hier zeigt sich auch die perverse - dieser Ausdruck ist ja sehr in Mode - Wirkung der Medien. Es wird das Gegenteil von dem erreicht, was man beabsichtigt hat. Dadurch, daß die Massenmedien allem Neuen und Abweichenden viel Raum schenken, legitimieren sie der Reihe nach alle Minderheiten und lassen es so zu einer pluralistischen Unwissenheit gar nicht erst kommen. Sie erlauben es vielen Leuten, recht schnell zu erkennen, daß sie nicht die einzigen mit dieser Vorliebe oder dieser Abneigung sind. Auf diese Weise verkürzen die Medien die Inkubationszeit und beschleunigen das Auftreten der inkubierten Meinung oder Verhaltensweise. So können sich die unterschiedlichsten Minderheiten miteinander verbünden und erkennen, daß sie in einem bis dahin unbekannten Umfang und in einer Rekordzeit innerhalb eines Landes so etwas wie eine Mehrheit gebildet haben. Ich habe Gelegenheit gehabt, dieses Phänomen bei der Entstehung
der Ökologie- und Anti-Atom-Bewegungen in Frankreich zu beobachten. Daß ein solcher Effekt existiert und die ihm von uns zuerkannte Bedeutung besitzt und daß das Phänomen der récupération in den vergangenen Jahren so o f t diskutiert wurde, belegt den Übergang von einer Epoche, in welcher die von der Massenpsychologie (und -Soziologie) gestellten Fragen vorherrschten, in eine Epoche, in der die Fragen der Psychologie (und hoffentlich auch der Soziologie) der aktiven Minderheiten im Vordergrund stehen. Ich für meinen Teil glaube, daß eher dieser Übergang und weniger die technischen Entdeckungen sowohl zu den Metamorphosen unserer Kommunikationsformen als auch zu einer in den vergangenen hundert Jahren nicht geahnten Kreativität geführt hat. Da ich freilich die Wissenschaft nicht gegen die Prophétie eintauschen möchte, halte ich hier inne, bevor ich mich auf ein so gefährliches Terrain wage. Ich würde mich freuen, nun vom Monolog zum Dialog übergehen und mich Ihren Fragen stellen zu können.
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influence of the minority on perception: A note on a possible alternative exploration. Journal of Experimental Social Psychology, 16, 293-301.
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Groeben: Zielideen einer utopisch-moralischen Psychologie
Theorie und Methoden Zielideen einer utopisch-moralischen Psychologie* NORBERT GROEBEN Psychologisches Institut der Universität Heidelberg Ausgehend von einer Kritik des Postulats der Werturteilsfreiheit werden regulative Zielideen auch für den Entdeckungszusammenhang psychologischer Konstrukte und Theorien entwickelt; diese Ideen sind als eine erste Ausarbeitung des Zielkriteriums (in construct components or sub-constructs) as a way of generating psychological constructs which point to fascinating positive possibilities for human development. Using the concept of «application to one-self> (-argument) the moral principle attempts to eliminate potentially inhumane, i.e. unnecessarily hurtful research and theoretising. The guiding concepts are related to each other inasmuch as it is only together that they can fulfil their postulates, that is represent a concept of polar integration based on self-application.
1.
rung konzipiert werden kann (vgl. GROEBEN & SCHEELE, 1977, p. 125ff.). Völlig damit in Übereinstimmung trifft auch für psychologische Wissenschaft zu, was für Alltagssprache ein normales Phänomen ist (von dem die Wissenschaftssprache allerdings im oben genannten unrealistischen Wissenschaftsverständnis werden soll): daß Konstrukte in wechselnder Gewichtung Verbindungen zwischen deskriptiven und wertenden Begriffsdimensionen darstellen. Für den umgangssprachlichen Gebrauch von Begriffen wie (intelligent, aggressiv, überlegen» wird dies gewöhnlich sofort zugestanden, für die wissenschaftssprachliche Verwendung vehement abgestritten. Vielmehr, so lautet die naive Werturteilsfreiheits-These, müßten und würden diese präskriptiven Begriffsdimensionen für den wissenschaftssprachlichen Gebrauch eines solchen Terms gerade eliminiert (werden). Daß gerade z. B. durch den Kontrast zu der umgangssprachlichen negativen Wertung positive Wertungsdi-
Ausgangsbasis: Jenseits einer reduktionistischen Wertungsfurcht
Das Postulat der Werturteilsfreiheit für die empirischen Wissenschaften hat, zumindest für die Psychologie, zu einer inadäquaten Reflexion der Wissenschaftler über ihr eigenes Handeln geführt: nämlich der Theorie, daß es möglich sei und daß es auch tatsächlich durchgeführt werde: psychologische Konstrukte gänzlich ohne Wertungsdimensionen