Zeitschrift für Sozialpsychologie: Band 20, Heft 2 1989 [Reprint 2021 ed.]
 9783112470183, 9783112470176

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G E R O L D M IK U L A AMÉLIE MUMMENDEY B E R N H A R D ORTH

B A N D 20 1989 H EFT 2

V E R L A G HANS HUBER BERN S T U T T G A R T T O R O N T O

Zeitschrift für Sozialpsychologie Gegründet von: Hubert Feger Klaus Holzkamp Carl Friedrich Graumann Martin Irle Wissenschaftlicher Beirat: Günter Albrecht Hans-Werner Bierhoff Mario von Cranach Helmut Crott Dieter Frey Volker Gadenne Franz Urban Pappi Peter Petzold John Rijsman Peter Schönbach Wolfgang Stroebe Arnold Upmeyer Rolf Ziegler

Copyright 1989 Verlag Hans Huber Bern Stuttgart Toronto Herstellung: Lang Druck AG, Liebefeld Printed in Switzerland Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft Library of Congress Catalog Card Number 78-126626 Die Zeitschrift für Sozialpsychologie wird in Social Sciences Citation Index (SSCI) und Current Contents / Social and Behavioral Sciences erfaßt

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989, Band 20 Heft 2 INHALT Zu diesem Heft Nachruf auf

LEON

67 68

FESTINGER

Theorie und Methoden MEEUS, W. und RAAIJMAKERS, Q.: Autoritätsgehorsam in Experimenten des Milgram-Typs: Eine Forschungsübersicht VAN DER KLOOT, W . & SLOOFF, N.: Die Bedeutungsstruktur von 2 8 1 Persönlichkeitsadjektiven

70 86

Empirie DIEHL, M.: Dichotomie und Diskriminierung: Die Auswirkungen von Kreuzkategorisierungen auf die Diskriminierung im Paradigma der minimalen Gruppen NIKETTA, R.: Das eigene Geschlecht mit den Augen des anderen Geschlechts sehen: Gibt es bei Attraktivitätsschätzungen geschlechtsspezifische Unterschiede?

103

Literatur Rezensionen

111

HIPPLER, H . J.; SCHWARZ,

N. & SUDMAN,

S. 1 9 8 7 .

92

Social Information Processing and Survey

Methodology Kognitive Sozialpsychologie und Umfrageforschung: Flüchtiges Rendezvous oder intime Beziehung? 111 ALLERBECK, K . : Kodifizierung der Umfrageforschung? 116 FIEDLER, K . :

Neuerscheinungen

119

Titel und Abstracta

120

Nachrichten und Mitteilungen

123

Autoren

126

Verlag Hans Huber, Bern Stuttgart Toronto

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989, 67

67

Zu diesem Heft Seit Beginn ihres zwanzigsten Jahrgangs hat die Zeitschrift für Sozialpsychologie einen wissenschaftlichen Beirat. Die Herausgeber ließen sich bei ihren Überlegungen über die Zusammensetzung eines solchen Gremiums von zwei Gesichtspunkten leiten: Der zentralen Zielsetzung der Zeitschrift entsprechend, nämlich Breite und Vielfalt der sozialpsychologischen Forschung im deutschen Sprachraum zu repräsentieren, gehören dem Beirat Vertreter des Fachs Sozialpsychologie nicht nur aus der Bundesrepublik, sondern auch aus einigen Nachbarländern an. Um die Bezüge zu Fragestellungen anderer Disziplinen, wie sie in der sozialpsychologischen Forschung gegeben oder erwünscht sind, zu pflegen, wurden

darüberhinaus für diesen Beirat Repräsentanten enger Nachbardisziplinen, nämlich der Soziologie und der Wissenschaftstheorie bzw. Methodologie gewonnen. Ganz allgemein verbindet sich mit einem solchen Gremium die Erwartung, zur Reputation einer Zeitschrift beizutragen. Ganz konkret erwarten wir, daß insbesondere die hier ausgewählten Beiratsmitglieder mit dazubeitragen, den Kreis unserer potentiellen Autoren und Rezipienten zu erweitern. Ich danke deshalb allen Kollegen, daß sie unserer Bitte, diesem Gremium anzugehören und für die Zeitschrift zu wirken, nachgekommen sind. AMÉLIE MUMMENDEY

H

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Nachruf geboren am 8. Mai 1919 in New York City, hat die Vollendung des 70. Lebensjahres und den Antritt seines Ruhestandes nicht mehr erreicht. Am 11. Februar ist er zu Hause im New Yorker «Village» ohne Schmerzen, leise und still eingeschlafen. Im Oktober 1988 verabschiedete er sich am Ende unseres Besuches von meiner Frau und mir mit einer emotionalen Expressivität, die wir bei ihm nicht kannten. Er mußte schon wissen, was Ärzte, denen er mißtraute, noch nicht wissen konnten. Er war der Sohn von Einwanderern, die den Pogromen in Osteuropa entwichen waren. Die Hester Street unterhalb der «Lower East Side», in der er selbst nicht aufwuchs, war der Prototyp des Habitats seiner Kindheit; sie ist heute nicht wiederzuerkennen, aber er belebte ihre Geschichte so greifbar wie der gleichnamige Spielfilm. Nach einem Grundstudium am «City College of New York« (B. S. 1939) setzte er sein Studium an der «State University of Iowa» fort (M.A. 1940, Ph.D. 1942). Er wurde der bedeutendste Schüler von KURT L E W I N . Schüler zu sein, hieß für ihn, unabhängig zu werden und in eigener theoretischer Originalität die Wissenschaft voranzutreiben. LEON FESTINGER,

Von 1943 bis 1945 war er «senior statistician» bei der Auswahl von Piloten der US Air Force. Seine frühen Arbeiten waren statistischen Tests gewidmet und erschienen in der «Psychometrica». Gleichzeitig betrieb er theoretische und empirische Entscheidungsforschung. Schon 1942 (Ph. D.-Dissertation) und 1943 (mit DORWIN CARTWRIGHT) errang er Publikationschancen im «Psychological Review» für seine «quantitative theory of decision». In den frühen 50er Jahren zählte er zu den prominenten Experten der Methoden der empirischen Sozialforschung, in Labor* und Feldforschung. Die Wende von herkömmlicher Soziometrie zur Netzwerkanalyse leitete er 1949 ein. 1945 wurde er Assistant Professor am MIT und mit dem Umzug des «Research Center for Group Dynamics» nach Ann Arbor (nach dem Tode von KURT L E W I N ) 1 9 4 8 Associate Professor an der «University of Michigan» und Programm-

Direktor des «Research Center». In diese Periode fällt seine Forschung und die seiner Mitarbeiter zur «Informal Social Communication». Schon 1950 ist er hiermit wieder Autor des «Psychological Review». Von 1951-1955 war er dann Professor an der «University of Minnesota». Er war erst 35 Jahre alt, als er 1954 seine dritte Theorie zu sozialen Vergleichsprozessen - samt extensiver empirischer Forschung publizierte. In Minneapolis bahnte sich schon die vierte Theorie, die der kognitiven Dissonanz, an (1956: «When prophecy fails»). Von 1955 bis 1968 lehrte und forschte er an der Stanford University. Weitere drei Bücher und viele Aufsätze zur Theorie kognitiver Dissonanz erschienen. Aber noch in Stanford kündigte sich eine neue Periode seiner Forschungsinteressen an. 1965 publizierte er, wieder im «Psychological Review» (noch einmal 1974), seine erste Arbeit zur Wahrnehmungspsychologie: «Information about spatial location based on knowledge about efference». LEON FESTINGER war schon aus der sozialpsychologischen Forschung ausgeschieden, als er 1968 in die «Graduate Faculty» der «New School for Social Research», der «University in Exile», in New York City eintrat. 1983 («The Human Legacy») kehrte er auf seine Weise in die Sozialwissenschaften zurück, als Sozialpsychologe der Paläontologie und Archäologie: «Things that would have sent me jumping and shouting in my youth now left me calm and judgmental. And my lack of enthusiasm kept reminding me of that despised adjective, aging» (aus der «Introduction»). 1979 hatte er sein wahrnehmungspsychologisches Labor geschlossen. LEON FESTINGER gründete und war Vorsitzender des «Committee on Transnational Social Psychology», das die Gründung der «European Association of Experimental Social Psychology» initiierte. Mehr als jeder andere hat er für die Institutionalisierung der Sozialpsychologie, ob in Europa (West und Ost!), in Mittel- und Südamerika oder in Japan geleistet. Er war Mitglied und dann «Fellow» der «American Academy of Arts und Sciences». 1959 schon wurde ihm der «Distinguished Scientific Contribution Award» von

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989, 6 8 - 6 9

der «American Psychological Association» verliehen. Am 24. November 1977 verliehen ihm die Fakultäten für Sozialwissenschaften und für Philosophie, Psychologie und Erziehungswissenschaft der Universität Mannheim den Grad eines Dr. phil. honoris causa. Ohne seinen Rat und ohne seine Ermutigung hätte sich der Sonderforschungsbereich 24 «Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung» (1968-1983) nicht so er-

69 folgreich entwickeln können. Seine Frau Trudy, in Frankfurt geboren und dort als Kind einige Monate vor dem Zugriff der Gestapo versteckt gehalten, betrat anläßlich dieser Ehrung nach 38 Jahren ausnahmsweise noch einmal deutschen Boden, um bei ihrem Mann zu sein. Ihre und seine Freunde werden sie nicht allein lassen. M A R T I N IRLE

H

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Meeus/Raaijmakers: Autoritätsgehorsam

Theorie und Methode Autoritätsgehorsam in Experimenten des Milgram-Typs: Eine Forschungsübersicht WIM MEEUS u n d QUINTEN RAAIJMAKERS Fakultät für Sozialwissenschaften, Universität Utrecht, Niederlande Es wird eine Übersicht über die Forschung zum Autoritätsgehorsam gegeben. Die in verschiedenen Ländern dazu durchgeführten Untersuchungen zeigen, daß das Niveau des Autoritätsgehorsams konsistent hoch liegt. Eine Analyse des B a s i s e x p e r i m e n t s v o n MILGRAM (MIIGRAM, 1974) e r g i b t , d a ß

dies auf den Status des Versuchsleiters und die Art des jeweiligen sozialen Einflusses zurückzuführen ist sowie auf den Mangel an Orientierungshilfen für die Versuchsperson («Reduktion») im Gehorsamskonflikt. Es sind keine systematischen Beziehungen zwischen Persönlichkeitsmerkmalen und Gehorsam gefunden worden. Die hohe Bereitschaft zum Autoritätsgehorsam kann nicht als Effekt von «demand characteristics» erklärt werden. Experimente zum Autoritätsgehorsam können ferner nicht pauschal als unethisch angesehen werden. Im Paradigma des administrativen Gehorsams (MEEUS & RAAIJMAKERS, 1986) w u r d e ein h o h e s G e h o r s a m s -

An overview is given of obedience research. Research done in a number of countries shows that the level of obedience is consistenly high. Analysis of MIIGRAM'S baseline experiment (MILGRAM, 1974) shows that this is due to the status of the experimenter, the type of social influence involved, and to the lack of resources of the subject («Reduktion») to take a stand in the obedience conflict. No systematic relationships have been found between personality characteristics and obedience. The high level of obedience cannot be explained as an effect of demand characteristics. Furthermore, obedience experiments cannot be regarded as simply unethical. In the paradigm of administrative obedience (MEEUS & RAAIJMAKERS, 1986) a high level of obedience was found, also when the «Reduktion» of the subject had been eliminated. The level of obedience dropped strongly when the subjects anticipated they could be the victim of obedience themselves.

niveau gefunden, auch wenn die «Reduktion» der Probanden eliminiert war. Das Niveau sank erheblich, wenn die Versuchsperson antizipierte, durch ihren Gehorsam selbst zum Opfer werden zu können.

Das erste veröffentlichte Experiment zum Autoritätsgehorsam stammt von LANDIS ( 1 9 2 4 ) . Im Rahmen einer Untersuchung emotionaler Reaktionen wies er seine Versuchspersonen an, eine Ratte zu köpfen: 71% der Versuchspersonen folgten der Anweisung. Gegenstand der Untersuchung war nicht Autoritätsgehorsam; die quantitative Erfassung des Gehorsams erfolgte eher zufällig. In der wissenschaftliche Literatur wurde diesem Ergebnis unter dem Aspekt des Gehorsams deshalb keine weitere Beachtung geschenkt.

abgaben, hörten sie, wie einige Konföderierte ein objektiv falsches Urteil nannten. ASCH stellte fest, daß viele Probanden dem falschen Urteil der Mehrheit folgten. MILGRAM bezweifelt, daß das Experiment von ASCH wirklich Konformität mißt. Es sei recht unbedenklich, sich bei einer solch trivialen Aufgabe der Meinung der Mehrheit anzuschließen. Würde dies auch geschehen, wenn für die Versuchsperson wirklich etwas auf dem Spiel stände? MILGRAM entwirft ein Design, bei dem die Versuchspersonen jemandem Elek-

Etwa 40 Jahre später scheint sich die Geschichte zu wiederholen. Der junge Amerikaner Stanley MILGRAM beschäftigt sich, ausgehend von den Untersuchungen ASCHS ( 1 9 5 6 ) , mit Konformitätsforschung. Er hat Zweifel an der Validität der Methode von ASCH. Bekanntlich sollten Versuchspersonen dort Längenvergleiche an Standardlinien vornehmen. Bevor sie ihr Urteil

troschocks verabreichen (TAVRIS, 1974). Er er-

wartet, daß zunächst nur wenige Personen bereit sind, dies auf Anweisung des Versuchsleiters zu tun, und will untersuchen, ob die Versuchsperson ihre Haltung ändert, wenn sie mit einer Mehrheit konfrontiert wird, die dazu bereit ist. MILGRAM kommt jedoch nicht dazu, den Einfluß der Mehrheit zu erforschen: Die meisten Probanden ge-

71

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989, 70-85

horchen ohnehin allein dem Versuchsleiter! Wie bei LANDIS ist MILGRAMS Befund ein zufälliges Resultat. Hiermit hört jedoch die Übereinkunft zwischen LANDIS und MILGRAM auf. MILGRAMS Experimente zum Autoritätsgehorsam wurden zum Gegenstand einer ausführlichen wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion. Das Thema diente als Vorlage für Filme und Theaterstücke. Ein Film, von MILGRAM selbst produziert, zeigt experimentelle Sitzungen; er wurde und wird in der ganzen Welt gezeigt. In der Sozialpsychologie gehören die Experimente MILGRAMS inzwischen zu den Klassikern; dies wird belegt durch die Anzahl der Zitate im Social Sciences Citation Index, durch die Aufmerksamkeit, die den Experimenten in Readern (SHIMA, 1 9 7 7 ) und in Büchern (PERLMAN & LIPSEY, 1 9 7 8 ) gewidmet wird und durch die Einschätzungen von Editoren führender sozialpsychologischer Zeitschriften (DIAMOND & MORTON, 1 9 7 8 ) . Zwei Themen stehen bei der durch MILGRAMS Arbeit angeregten Diskussion im Vordergrund: a) Validität experimenteller Ergebnisse und der Einfluß von «demand characteristics» darauf, b) ethische Zulässigkeit von Betrug im Experiment. In diesem Artikel geben wir eine Übersicht über die Forschung zum Autoritätsgehorsam. Anschließend legen wir die wichtigsten Resultate der eigenen Experimentreihe zum administrativen Gehorsam vor.

1. Der Gehorsamskonflikt im Experiment von MILGRAM

Experiment zum Autoritätsgehorsam hat eine feste soziale, durch drei Personen definierte Struktur. Die Autorität wird durch den Versuchsleiter (X) des psychologischen Experiments gebildet, der der Versuchsperson (Y) den Auftrag gibt, dem Opfer (Z) eine Prüfung abzunehmen und ihm Elektroschocks zu verabreichen. Der Versuchsperson wird mitgeteilt, der Auftrag sei wissenschaftlich legitimiert, der Forscher wolle wissen, ob Strafe - in Form von Elektroschocks - Lernerfolge verbessere. Nach jedem Fehler des Opfers soll ihm die Versuchsperson einen Schock verabreichen und die Intensität des Schocks jedesmal um 15 Volt erhöhen: beim ersten Fehler 15 Volt, beim zweiten 30 Volt usw. Das MILGRAMS

Opfer, ein Konföderierter, ist angewiesen, 30 Fehler zu machen. Wenn die Versuchsperson bereit ist, 30 Schocks, ansteigend von 15 bis 450 Volt, auszuteilen, wird sie von MILGRAM als gehorsam qualifiziert. In MILGRAMS Basisexperiment ( 1 9 6 3 ) erwiesen sich 65% der Probanden als gehorsam. Er wiederholte dieses Experiment, geringfügig variiert, viermal: andere Personen in den Rollen von Versuchsleiter und Opfer, nur weibliche Versuchspersonen, anderer Protest des Opfers (zweimal). Es ergab sich in allen Fällen ein dem ersten Experiment ähnlicher Prozentsatz gehorsamer Personen. Das Experiment wurde in verschiedenen Ländern mit unterschiedlichsten Versuchspersonen repliziert; in den USA (BOCK, 1 9 7 2 ; BOCK & WARREN,

Costanzo,

1972; BURLEY & MCGUINESS, 1976;

HOLLAND,

1967;

1977;

ROSENHAN,

in Austrain Jordanien (SHAin Spanien (MIRANDA,

1 9 6 9 ; ROSENHAN & MANTELL, 1 9 6 7 ) ,

lien (KILHAM &

MANN, 1974),

NAB&YAHYA, 1 9 7 7 , 1 9 7 8 ) ,

CABALLERO, GÓMEZ & ZAMORANO, 1981) u n d i n

der Bundesrepublik Deutschland

(MANTELL,

1971). In keiner dieser Untersuchungen wurde ein zu MILGRAM unterschiedlicher Prozentsatz gehorsamer Probanden gefunden; auch nicht im Experiment von ANCOMA & PAREYSON (19711972) in Italien, das im Design geringfügig von den oben genannten abweicht. Wir dürfen also folgern, daß der Prozentsatz gehorsamer Versuchspersonen im Basisexperiment von MILGRAM eine konstante und kulturübergreifende Gegebenheit ist. Ein weiteres durchgängig beobachtbares Ergebnis ist, daß Menschen von sich selbst behaupten, sie hätten als Teilnehmer am Basisexperiment von MILGRAM sich den Anweisungen des Versuchsleiters widersetzt. Bis heute ist dies durch mindestens 19 Experimente belegt worden. In einem solchen Experiment zum erwarteten Verhalten wird der Versuchsperson das Verfahren des Experimentes zum Autoritätsgehorsam genau beschrieben; anschließend beantwortet sie die Frage, ob sie gehorsam wäre oder nicht. Untersuchungen dieser Art sind mit Universitätsdozenten (MILGRAM, 1963), Erwachsenen (MILGRAM, 1965a), Psychiatern (MILGRAM, 1974) und Studenten (MILGRAM, 1965a, 1974; UMAEUS & LÜCK,

1968;

SHERIDAN

&

FREEDMAN, KING,

1 9 6 9 ; MIXON,

1972;

MILLER,

1971;

GILLEN,

SCHENKER & RADLOVE, 1974; SHALALA,

1974)

72

ausgeführt worden. In 18 der 19 Untersuchungen erwarteten weniger als 10% der Probanden, daß sie selbst gehorchen würden. Die einzige Ausnahme bildet das Experiment von MIXON (1971); eine Erklärung hierfür ist schwer zu geben. Die Resultate dieser Untersuchungen zu erwartetem Verhalten liefern eine mögliche Erklärung für die große Beachtung, die den Experimenten von MILGRAM gewidmet wird: Das hohe Maß an Autoritätsgehorsam ist eine unerwartete und deshalb aufsehenerregende Gegebenheit. Übrigens zeigt die Untersuchung von KRONER ( 1 9 8 6 ) , daß Studenten die Gehorsamsquote der verschiedenen Experimentvariationen (siehe Punkt 2) ziemlich genau vorhersagen konnten, nachdem sie die Versuchsanordnung von MILGRAM ausführlich studiert hatten. Wie läßt sich der konsistent hohe Gehorsam im Experiment von MILGRAM erklären? Die genaue situative Analyse des Experiments liefert eine Antwort: Es ist, anders als vielfach behauptet (RIJSMAN, 1 9 8 3 , p. 7 3 ) , völlig folgerichtig, daß die Versuchsperson mit ihrer experimentellen Aufgabe beginnt. Das Opfer zeigt nämlich Bereitschaft, sich den Schocks zu unterziehen; es setzt sich ohne Protest auf den «elektrischen Stuhl», nachdem ihm der Versuchsleiter versichert hat, die Schocks seien zwar schmerzhaft, aber nicht gefährlich. Für die Versuchsperson besteht insofern kein Grund, die Teilnahme zu verweigern. Erst im Laufe des Experiments ändert sich dies; für die Versuchsperson bildet sich ein Konflikt heraus. Sie muß sich entscheiden, ob sie den Aufforderungen des Versuchsleiters oder dem Interesse des Opfers folgen will. Der Versuchsleiter fordert, weiter Schocks auszuteilen. Das Opfer protestiert gegen die Schocks und verlangt, daß die Versuchsperson damit aufhört. Für sie liegt also eine Konfliktsituation vor - mit Versuchsleiter und Opfer als gegenseitigen Widersachern. Die Versuchsperson nimmt eine Zwischenstellung ein und muß Partei ergreifen. Hier stellt sich die Frage: Welche Merkmale der Situation und der Position der Versuchsperson führen zu Gehorsam bzw. Ungehorsam gegenüber der Autorität.

Meeus/Raaijmakers: Autoritätsgehorsam

1.1 Die

Konfliktsituation

Es gibt drei Gründe für Autoritätsgehorsam. 1. Der Status des Versuchsleiters ist höher als der des Opfers. Die Autorität des Versuchsleiters liegt in seiner Rolle als Wissenschaftler im eigenen Labor. Das Opfer hat den gleichen Status wie die Versuchsperson. 2. Der Versuchsleiter hat einen direkteren Einfluß als das Opfer auf die Versuchsperson. Er befindet sich im selben Raum wie der Proband, während sich das Opfer in einem benachbarten Raum aufhält. 3. Der Versuchsleiter wahrt während des ganzen Experiments eine konsistente Haltung gegenüber dem Schockverfahren. Er gibt konsequent den Auftrag, Elektroschocks auszuteilen. Das Opfer dagegen ändert während des Experiments seine Meinung. Zunächst stimmt es den Schocks zu, im Verlauf des Experiments protestiert es dagegen. Der Protest des Opfers gegen die Schocks ist für die Versuchsperson der wichtigste Grund, nicht zu gehorchen. Unsere Analyse des Protests zeigt, daß sich vier Stufen unterscheiden lassen. Auf die Schocks zwischen 75 und 135 Volt wählt das Opfer Protest 1: Es widersetzt sich den Schocks nicht explizit, äußert aber Schmerz. Bei elektrischen Spannungen zwischen 150 und 285 Volt gebraucht es Protest 2: Es fordert, das Austeilen der Schocks zu beenden. Nach den Schocks von 300 und 315 Volt Protest 3: Das Opfer fordert ein Ende der Bestrafung und weigert sich, weitere Testfragen zu beantworten, die die Versuchsperson ihm stellt. Ab 330 Volt zeigt das Opfer den impliziten Protest 4: Es schweigt und reagiert nicht länger auf die Schocks. Es erweckt den Eindruck, bewußtlos zu sein, sich eventuell einen Dauerschaden zugezogen zu haben oder tot zu sein. Mit Protest 1,2 und 3 widersetzt sich das Opfer schmerzhaften Schocks, mit Protest 4 möglichen letalen Schocks. Für die Proteste gegen die schmerzhaften wie auch die letalen Schocks gilt, daß sie den Autoritätsgehorsam der Versuchsperson stark reduzieren. Dies geht aus Pilotstudien MILGRAMS (1961, 1964b und 1965b) hervor, in denen das Opfer nicht protestierte: Fast alle Versuchspersonen gehorchten; während der Anteil autoritätsgehorsamer Probanden im Basisexpe-

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riment 65% betrug (90% der Autoritätsungehorsamen manifestierten ihren Ungehorsam nach Protest 1, 2 oder 3, 10% nach Protest 4).

73 2. Soziale Orientierung. Die Versuchsperson befindet sich in sozialer Isolation. Nur der Versuchsleiter hält sich im selben Raum wie sie auf; neben ihm hat sie niemanden, an dem sie sich orientieren kann.

1.2 Die Position der Versuchsperson Kennzeichnend für die Position der Versuchsperson ist, daß sie keine Möglichkeit hat, sich gründlich und kritisch auf die Konfliktsituation vorzubereiten und sich in ihr zu orientieren. 1. Kognitive Orientierung. Der Versuchsperson ist es unmöglich, den experimentellen Konflikt zu antizipieren und über die Konsequenzen ihres Handelns nachzudenken. Innerhalb der ersten zehn Minuten des Experiments gerät sie in die Konfliktsituation, sie wird von dem Konflikt gleichsam überfallen. Auch während des weiteren Verlaufs der Untersuchung findet sie kaum Gelegenheit, über den Konflikt nachzudenken. Sie ist völlig davon in Anspruch genommen, Testfragen zu stellen, die Antworten des Opfers zu beurteilen und Schocks zu verabreichen. Besondere Aufmerksamkeit sollte man dem Austeilen der letalen Schocks (ab 330 Volt) schenken. Der Versuchsperson ist unklar, ob diese Schocks tödlich sind oder nicht. Opfer und Versuchsleiter machen widersprüchliche Angaben dazu. Durch Protest 4 suggeriert das Opfer, die Schocks seien letal. Der Versuchsleiter fordert die Versuchsperson jedoch auf weiterzumachen, die Schocks seien nicht gefährlich: «Although the shocks may be painful, there is no permanent tissue damage, so please go on» (MILGRAM, 1 9 7 4 , p. 21). Außerdem ermöglicht die Quantifizierung der Elektroschocks durch die Voltangaben keine eindeutige Einschätzung ihrer Gefährlichkeit. Die Schalter, mit denen die Versuchsperson die Schocks von 120 bis 225 Volt verabreicht, sind mit «strong shock» bzw. «intense shock» etikettiert. Dies weicht von der gewöhnlichen Bedeutung ab, die elektrischen Spannungen dieser Größenordnung zukommt. Abhängig davon, wo in Amerika (oder Europa) man lebt, gelten Spannungen von 110 oder 225 Volt nämlich als tödlich. Die Versuchsperson vermißt also eine objektive Norm, mit der sie die Auswirkungen der Schocks vorhersagen könnte.

3. Moralische Orientierung. Zu wissenschaftlichen Zwecken soll die Versuchsperson Elektroschocks verabreichen: Die Beziehung zwischen Strafe und Lernerfolg soll geklärt werden. Sie muß sich zwischen dem Belang der Wissenschaft und dem des Opfers entscheiden. Im ersten Fall soll sie alle Schocks austeilen, im zweiten soll sie vorzeitig damit aufhören. Dieses moralische Dilemma ist neu für sie. Sie verfügt diesbezüglich über keine feste moralische Norm. 4. Commitment. In zweifacher Hinsicht erfolgt eine Bindung der Versuchsperson an den Versuchsleiter. 1.) Sie erhält von ihm eine Instruktion. Dadurch bildet sich zwischen beiden eine Beziehung, man kann von beginnender Gruppenbildung sprechen (MILGRAM, 1974, p. 39; BACK, 1979, p. 291). Diese macht es der Versuchsperson schwer, ihre experimentelle Aufgabe nicht auszuführen; es läge ein Bruch der durch die Instruktion getroffenen Vereinbarung vor. 2.) Alle Versuchspersonen sind zunächst bereit, Schocks auszuteilen, und fahren - mit wenigen Ausnahmen - damit bis zum 150-Völt-Schock fort, dem Punkt, an dem das Opfer vehement zu protestieren beginnt (Protest 2). Bis dahin hat die Versuchsperson schon zehn Schocks verabreicht. Wenn sie das Austeilen der Schocks an dieser Stelle beendet, bricht sie mit ihrem eigenen Handeln und übt so implizit Kritik an sich selbst. Je länger sie also die Proteste des Opfers ignoriert und mit ihrer Aufgabe fortfährt, desto schwieriger wird es für sie, ungehorsam zu werden. GILBERT (1981, p. 694) spricht in diesem Zusammenhang von der «finger-on-the-switch»1Technik. Der Autoritätsgehorsam im MILGRAM-Experiment wird allmählich aufgebaut, ähnlich wie die Konformität im «foot-in-the-door»-Experiment von FREEDMAN & FRÄSER (1966). Die Analyse der Konfliktsituation und der Position der Versuchsperson liefert eine Erklärung für den hohen Autoritätsgehorsam im Basisexperiment MILGRAMS. Der Versuchsleiter hat mehr Einfluß auf das Opfer, er hat einen höheren Status, kann die Versuchsperson direkter beeinflus-

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Meeus/Raaijmakers: Autoritätsgehorsam

sen und nimmt eine konsistentere Haltung ein. Das Opfer kann nur Protest zum Ausdruck bringen. Aber auch dagegen kann der Versuchsleiter einen erheblichen Einfluß geltend machen: Die schmerzhaften Schocks sind durch die Einwilligung des Opfers zu Beginn des Experiments legitimiert; fatale Folgen der Schocks verneint er. Da die Versuchsperson kaum in der Lage ist, zum Experiment einen kritischen Standpunkt einzunehmen, läßt sie sich durch den in diesem Konflikt stärksten Einfluß leiten, den des Versuchsleiters.

1.3 Wie erlebt der Proband den Gehorsamskonflikt? Es ist bemerkenswert, daß man sich in der Forschung zum Autoritätsgehorsam fast ausschließlich mit der beobachtbaren Gehorsamkeitsreaktion befaßt hat. Der Prozeß des Gehorsamskonflikts und das subjektive Erleben der Versuchsperson in diesem Konflikt sind bisher kaum erforscht worden. MILGRAM ( 1 9 7 4 ) u n d MANTELL & PANZARELLA

untersuchten die Attribution von Verantwortung; ELMS & MILGRAM ( 1 9 6 6 ) , MILGRAM ( 1 9 6 7 ) und COSTANZO ( 1 9 7 6 ) forderten ihre Versuchspersonen auf, das Opfer nach mehreren Kriterien zu beurteilen. Die Ergebnisse der verschiedenen Untersuchungen zur Attributon von Verantwortung stimmen nicht miteinander überein. Die Untersuchung von MILGRAM zeigt, daß gehorsame Versuchspersonen die eigene Verantwortung für das Austeilen der Schocks und die Verantwortung des Versuchsleiters gleich hoch einstuften. MANTELL & PANZARELLA berichten, die Versuchspersonen hielten den Auftraggeber für mehr verantwortlich als sich selbst. Ein konsistenteres Bild zeigen die Untersuchungen zum Urteil über das Opfer. Die drei Studien stellen übereinstimmend fest, gehorsame Versuchspersonen haben nach dem Experiment ein negativeres Urteil über das Opfer als ungehorsame. ELMS & MILGRAM vermerken darüber hinaus, daß bei gehorsamen Probanden das negative Bild vom Opfer mit einem positiven Urteil über den Versuchsleiter einhergeht. Unsere Schlußfolgerung lautet: Versuchspersonen, die sich autoritätsgehorsam verhalten, (1976)

verfügen über verschiedene Möglichkeiten, ihr Verhalten zu legitimieren. Zum einen verweisen sie darauf, für das ganze Geschehen nicht verantwortlich zu sein, zum anderen beurteilen sie das Opfer negativ und implizieren, es habe die Elektroschocks verdient oder sei selbst daran schuld. Uns ist nur eine einzige Observationsstudie zu einem Gehorsamsexperiment bekannt, die von MANTELL & PANZARELLA ( 1 9 7 7 ) . Aus ihr geht hervor, daß die Versuchspersonen fast jeden Gesprächskontakt zum Opfer vermieden. Den Versuchsleiter sprachen sie regelmäßig an, sie baten um Richtlinien, übten Kritik an dem Verfahren und weigerten sich weiterzumachen. Die meisten Versuchspersonen, gehorsame wie ungehorsame, protestierten gegen das Geschehen, vor allem, wenn das Opfer zum erstenmal forderte, man möge mit den Schocks aufhören (Protest 2). Dieses Ergebnis stimmt mit den Befunden unserer sekundären Analyse, die den Effekt des Protestes auf den Autoritätsgehorsam untersucht, überein. Unsere Analyse bezieht sich auf die vier Basisexperimente von MILGRAM, in denen derselbe Protest wie in der Untersuchung von MANTELL & PANZARELLA ( 1 9 7 7 ) verwendet wurde. Wir untersuchten, wieviel Prozent der autoritätsungehorsam Versuchspersonen nach Protest 1 ungehorsam wurden, wieviel Prozent nach Protest 2 usw. Es stellte sich heraus, daß Protest 2 am effektivsten war: 63% des Ungehorsams gegenüber der Versuchsleiterautorität entstand nach diesem Protest. Die entsprechenden Werte zu den Protesten 3, 4 und 1 lauten 19%, 11% bzw. 7%. Protest 2 löste also den eindeutig meisten Widerstand und Autoritätsungehorsam aus. Aus den angeführten Untersuchungen geht hervor, daß die Versuchspersonen den Auftrag nicht unkritisch, mechanisch ausführen. Die meisten von ihnen protestieren gegen die Anweisungen des Versuchsleiters, und viele fühlen sich selbst stets verantwortlich für das eigene Handeln. Der Autoritätsgehorsam wird in einer Konfliktsituation erzwungen. Versuchspersonen, die die Anweisungen des Versuchsleiters gehorsam befolgen, haben die Neigung, ihren Gehorsam nach dem Experiment zu legitimieren.

Zeitschrift f ü r Sozialpsychologie 1989, 7 0 - 8 5

2. Experimentelle Variationen zum Basisexperiment In unserer Analyse des Basisexperiments von unterscheiden wir die Konfliktsituation und die Position der Versuchsperson. Die Gültigkeit dieser Analyse kann mit Hilfe der verschiedenen experimentellen Variationen zum Basisexperiment untersucht werden. Es stellt sich nämlich heraus, daß sich fast alle experimentellen Variationen auf einen der von uns herausgearbeiteten Faktoren in der Konfliktsituation und der Position der Versuchsperson beziehen. Mehrere Variationen des Basisexperiments sind möglich: Der physisch-räumliche Aufbau, die Art des Experiments, die Anzahl der in der experimentellen Situation beteiligten Personen, die Position der Versuchsperson usw. können verändert werden. MILGRAM

2.1 Variationen in bezug auf die Konfliktsituation 1. Status der Beeinflussungsquelle. Den Effekt dieses Faktors hat MILGRAM in mehreren Experimenten geprüft. In einem Fall glich er den Status des Versuchsleiters demjenigen der Versuchsperson an (MILGRAM, 1 9 7 4 , Experiment 13): Der Gehorsam sank auf 20%. Trat eine «normale» Person als Versuchsleiter auf, die gleichzeitig die Rolle des Opfers übernahm (Experiment 14), leistete keine Versuchsperson dem Versuchsleiter Gehorsam (0%). Im Einklang damit stehen die Resultate von SHALALA ( 1 9 7 4 ) : Einem einfachen Soldaten als Versuchsleiter verweigerten mehr Versuchspersonen (in diesem Fall Wehrpflichtige) den Gehorsam als einem Oberstleutnant. Hieraus ist zu folgern: Der hohe Status des Versuchsleiters in Kombination mit dem niedrigen des Opfers kann als Ursache für den hohen Autoritätsgehorsam im Basisexperiment MILGRAMS angesehen werden. Eine Nuancierung erfährt diese Folgerung angesichts der Resultate aus Experiment 1 6 von MILGRAM. Hier traten zwei Wissenschaftler auf; einer übernahm die Rolle des Versuchsleiters, ein zweiter die des Opfers. Gehorsam: 65%. Trotz hohen Status des Opfers blieb der Gehorsam gegenüber dem Versuchsleiter hoch. Folglich ist hoher Status des Versuchsleiters eine hinreichende Bedingung für hohe Gehorsamkeit ihm gegenüber.

75 2. Direkte versus indirekte soziale Beeinflussung. In Experiment 7 von MILGRAM wurde der Versuchsleiter, nachdem der seine Anweisungen gegeben hatte, weggerufen. Er betonte, die Versuchsperson müsse alle Schocks verabreichen, und wiederholte dies telefonisch während des Verfahrens. Sein Einfluß wurde weniger direkt und weniger stark: Nur 20% der Probanden gehorchten ihm. Eine Replikation von SHALALA (1974) brachte dasselbe Resultat. In zwei Untersuchungen gestaltete MILGRAM den Einfluß des Opfers direkter. In Experiment 3 befand sich das Opfer mit Versuchsperson und Versuchsleiter im selben Raum und konnte durch Face-to-face-Kontakt gegen die Schocks protestieren; der Gehorsam sank auf 40%. Bei Experiment 4 protestierte das Opfer auch physisch gegen die Elektroschocks. Bei jedem Schock sollte das Opfer durch die Versuchsperson gezwungen werden, die Hand auf die Schocktafel zu legen; der Gehorsam sank auf 30%. Der hohe Autoritätsgehorsam in MILGRAMS Basisexperiment ist also die Folge sowohl der direkten Beeinflussungsweise durch den Versuchsleiter als auch der indirekten durch das Opfer. 3. Konsistente versus inkonsistente Einstellung in bezug auf das Schockverfahren. In Experiment 15 variierte MILGRAM die Haltung des Versuchsleiters. Zwei Versuchsleiter traten auf. Nach dem 150-Volt-Schock forderte ein Versuchsleiter den Abbruch des Versuchs, der andere befahl der Versuchsperson weiterzumachen; Gehorsam: 0%. In Experiment 9 sorgt MILGRAM für Konsistenz der Einstellung des Opfers. Zu Beginn erklärte das Opfer, nur unter der Bedingung teilzunehmen, daß das Experiment sofort beendet würde, sobald es darum bitten würde. Der Versuchsleiter zeigte sich damit einverstanden. Wenn also das Opfer während des Experiments forderte, mit den Schocks aufzuhören, verhielt es sich konsistent. Unter dieser Bedingung nahm der Gehorsam zwar ab, aber nicht signifikant. Der hohe Autoritätsgehorsam im Basisexperiment ist folglich auf die konsistente Einstellung des Versuchsleiters, nicht auf die inkonsistente des Opfers zurückzuführen.

Meeus/Raaijmakers: Autoritätsgehorsam

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2.2 Variationen der Position der Versuchsperson

3. Gehorsam und Persönlichkeit

1. Soziale Orientierung. In Experiment 17 variierte MILGRAM die soziale Orientierung der Versuchsperson. Sie führte zusammen mit zwei anderen (eingeweihten) Vpn ihre Aufgabe aus. Zu einem festgesetzten Zeitpunkt weigerten sich die beiden anderen, den Auftrag weiter auszuführen. So demonstrierten sie, daß sie die Aufgabe verwerflich fanden und es möglich ist, sich ihr effektiv zu widersetzen. Dies hatte einen starken Effekt: Der Gehorsam gegenüber dem Versuchsleiter sank auf 1 0 % . Replikationen von KUDIRKA ( 1 9 6 5 ) und POWERS & G E E N ( 1 9 7 2 ) zeigen vergleichbare Resultate. MANTELL ( 1 9 7 1 ) und ROSENHAN ( 1 9 6 9 ) entwarfen ein ähnliches Design: Die Versuchsperson sah im voraus eine experimentelle Sitzung, in der sich jemand weigerte zu gehorchen. Dies führte zu einer wenigen großen, aber doch signifikanten Verringerung (ca. 30%) des Autoritätsgehorsams.

Etwa 15 Studien sind uns bekannt, in denen die Beziehung zwischen Merkmalen der Versuchsperson und ihrem Autoritätsgehorsam untersucht worden ist.

2. Commitment. Der Effekt von Commitment ist nach dem MILGRAM-Verfahren zwar nicht untersucht worden, wohl aber in einem Aggressionsexperiment nach dem gleichartigen BussVerfahren (LARSEN et al., 1 9 7 6 ) . Die Versuchsperson bekam vor dem Experiment einige Minuten lang Gelegenheit, das Opfer kennenzulernen. So konnte sie nicht nur zum Versuchsleiter, sondern auch zum Opfer im voraus eine Beziehung entwickeln. Dies führte zu einer signifikant verringerten Anzahl dem Opfer verabreichter Schocks. Die Ergebnisse der beschriebenen experimentellen Variationen unterstützen die Resultate unserer Analyse des Gehorsamskonflikts. Der hohe Autoritätsgehorsam im Basisexperiment von MILGRAM ist Folge des hohen Status des Versuchsleiters, der direkten und konsistenten Art, in der der Versuchsleiter, und der indirekten Art, in der das Opfer die Versuchsperson beeinflussen. Ferner läßt sich der Gehorsam auf mangelnde Möglichkeiten für die Versuchsperson zu sozialer Orientierung sowie auf ihr Commitment dem Versuchsleiter gegenüber zurückführen. Keine endgültige Aussage kann wegen fehlender Erfahrungswerte über den Einfluß kognitiver und moralischer Orientierung gemacht werden.

Sozioökonomische Merkmale. MILGRAM p. 2 0 5 ) berichtet, daß Rasse, Glaube, Bildungsniveau und Beruf den Autoritätsgehorsam nicht beeinflussen. Ohne Einfluß sind nach MANTELL & PANZARELLA ( 1 9 7 6 ) ebenso Alter, Einkommen und Bildungsniveau. Am ausführlichsten ist die Beziehung zwischen Geschlecht und Gehorsam untersucht worden (BOCK, 1 9 7 2 ; 1.

(1974,

BOCK & WARREN, 1 9 7 2 ; COSTANZO, 1 9 7 6 ; KILHAM & M A N N , 1 9 7 4 ; SHANAB & YAHYA, 1 9 7 7 , SHERIDAN & KING, 1 9 7 2 ; WEST u . a . , 1 9 7 5 ) .

die Studien

von

1978; Nur

sowie SHERIDAN & KING weisen einen Effekt des Geschlechts auf den Autoritätsgehorsam nach; erstere zeigen, daß Frauen weniger bereit waren als Männer, Schocks zu verabreichen. Dieses Ergebnis kann allerdings auch als Opfer-Effekt erklärt werden: Weibliche Versuchspersonen sollten Frauen einen Schock austeilen, männliche Männern. In der Untersuchung von SHERIDAN & KING verabreichten Frauen mehr Schocks als Männer; dafür haben wir keine Erklärung. KILHAM

&

MANN

2. Persönlichkeitsmerkmale. Die folgenden Persönlichkeitsmerkmale sind daraufhin untersucht worden, ob sie eine Auswirkung auf den Autoritätsgehorsam haben: das Persönlichkeitsprofil, erfaßt durch die regulären MMPI-Persönlichkeitsskalen (ELMS & MILGRAM, 1 9 6 6 ) ; Selbstbild und Niveau der psycho-sexuellen Entwicklung, gemessen mittels selbstentwickelter Skalen (ANCOMA & PAREYSON, 1 9 7 1 - 1 9 7 2 ) ; Niveau der Identitätsentwicklung, gemessen mit dem Identitäts-Status-Interview von MARCIA ( P O D D , 1 9 7 2 ) ; soziale Intelligenz, erfaßt durch den Test von Moss u.a. (BURLEY & M C G U I N E S S , 1 9 7 7 ) . Nur die letztgenannte Untersuchung weist einen Effekt nach: Sozial intelligente Personen waren in geringerem Maße gehorsam, sie zeigten eine relative, nicht jedoch absolute Verringerung ihrer Bereitschaft zum Autoritätsgehorsam. Sozial intelligente Versuchspersonen teilten weniger Schocks aus; es gab jedoch nicht weniger soziale intelligente Versuchspersonen, die den Auftrag bis zum Schluß ausführten.

Zeitschrift für Sozialpsychologie 1989, 7 0 - 8 5

3. Autoritarismus und moralische Entwicklung. Die Persönlichkeitsmerkmale Autoritarismus und moralische Entwicklung werden hier separat abgehandelt, weil gerade sie in bedeutsamer Beziehung zum Autoritätsgehorsam stehen dürften. ELMS & MILGRAM (1966) berichten, daß ein hoher Score auf der F-Skala mit erhöhtem Autoritätsgehorsam korreliert. Bei Berücksichtigung der Variable Bildungsniveau stellt sich der Unterschied zwischen Autoritätsgehorsamen und Nicht-Autoritätsgehorsamen jedoch als nur gering signifikant heraus: .05