220 78 38MB
German Pages 124 [128] Year 1990
ISSN 0044-3409 • Z. Psychol. • Leipzig • 197 (1989) 1 • S. 1 - 1 2 0
ZEITSCHRIFT FÜR
PSYCHOLOGIE mit Zeitschrift für angewandte Psychologie
Schriftleitung F r i e d h a r t K l i x , B e r l i n • W i n f r i e d H a c k e r , D r e s d e n • E l k e v a n d e r Meer, B e r l i n Redaktion:
J ü r g e n Mehl, Berlin • Friedrich K u k l a , Berlin
Unter Mitwirkung
von
J . E. Azcoaga (Buenos Aires) P . B. Baltes (Berlin/West) N. Bisehof (Zürich) A. A. Bodaljow (Moskau) H . Dörner (Bamberg) J . Engelkamp (Saarbrücken) P. Fraisse (Paris) H.-G Geißler (Leipzig) D, J . Herrmann (New York) A. Kossakowski (Berlin) D. ICovâc (Bratislava) B. F. Lomow (Moskau)
D. Magnusson (Stockholm) K . Pawlik (Hamburg) P. Petzold (Jena) T. Radil (Prag) H . - D . Rosier (Rostock) E. Roth (Salzburg) H.-D. Schmidt (Berlin) L. S. Svetkova (Moskau) H . Sydow (Berlin) B. M. Velichkowsky (Moskau) M. Wertheimer (Boulder) G. d'Ydewalle (Leuven)
YEB J O H A N N
AMBROSIUS
BARTH
LEIPZIG
Inhalt Krause, W. (Jena). Über menschliches Denken — Denken als Ordnungsbildung. Mit 20 Abb
1
Goede, Karin (Berlin). Möglichkeiten und Grenzen junger Kinder bei der Herstellung einer Inklusionsrelation zwischen Begriffen. Mit 7 Abb
31
Schliebs, U. W. (Berlin). Repräsentation und Verarbeitung temporaler Information Leim Satzverstehen. Mit 10 Abb
49
Richter, M.; Schmidt, H. D.; Zemlin, Claudia (Berlin). Natürliche Inferenzen von Vorschulkindern als Funktion unterschiedlicher kognitiver Representations- und Operationsformen. Mit 4 Abb. . .
65
Dormann, Susanne; lliebsch 11. (Berlin). Persönlichkeitseigenschaften in ereignisbezogenen Potentialen (ERP). Mit 3 Abb
79
Luuterbach, W. (Frankfurt/M.). Zur Prüfbarkcit komplexer Theorien über Konflikte, Neurosen und ihre Therapie, am Beispiel der Theorie der Bezüge Mjasisdew's. Mit 2 Abb
87
llübner, R. (Regensburg). Ein dynamisches Modell der Lautheitsadaptation. Mit 3 Abb
97
Buchbesprechungen
30, 48, 86, 108
ZEITSCHRIFT
FÜR
PSYCHOLOGIE
Band 197, 1989
Heft 1
mit Zeitschrift für angewandte Psychologie Z. Psychol. 197 (1989) 1 - 3 0
Band 103 Y E B J . A. Barth, Leipzig
Aus der Sektion Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Über menschliches Denken — Denken als Ordnungsbildung Antrittsvorlesung an der Gesellschaftswissenschaftlichen Fakultät der Jena, gehalten am 1. März 1988
Friedrich-Schiller-Universität
Yon W. Krause Mit 20 Abbildungen
Denken ist seit zweieinhalb Jahrtausenden Domäne der Philosophie, aber erst seit 100 Jahren Gegenstand experimentalpsychologischer Forschung. Noch bis zum heutigen Tage ist das Unbehagen spürbar, das die damalige junge Wissenschaft der Psychologie bei dem Bemühen empfand, im experimentellen Verfahren einen so traditionsbeladenen und noch dazu schwer faßbaren Gegenstand aufzugreifen. Für viele bleibt Denken ein nichtwissenschaftlicher Begriff. „Denken" gibt oft den Titel ab für viele Vorträge; wohler fühlt sich der V ortragende aber erst, wenn er — unter dem Mantel dieses Titels — von Begriffsbildung und Problemlösen, vom Textverstehen und vom Schlußfolgern, von Gedächtnisstrukturen und Informationsverarbeitung sprechen kann. Um einen Beitrag zur Analyse von Denkprozessen zu leisten, wollen wir eines der wesentlichsten Prinzipien im Denken genauer analysieren: das Prinzip der Ordnungsbildung. Dabei geht es uns weniger um eine Bestandsaufnahme als vielmehr um eine neue Sichtweise der Einordnung von Denkprozessen in allgemeinere Zusammenhänge der Naturwissenschaften. Unter Ordnungsbildung verstehen wir das Ordnen von Information als eine entscheidende Grundlage zur Bewältigung von Denkanforderungen. Es kann sich dabei sowohl um das Umordnen vorhandenen Wissens, um das Einordnen neuer Information in vorhandenes Wissen als auch um das Ordnen neuer Information handeln. Wir wollen Denken als Ordnungsbildung im Rahmen von Problemlösungsprozessen betrachten. Dabei werden wir zeigen, daß diese Betrachtungsweise in alten Ideen wurzelt, genereller Natur ist und neue Analysemöglichkeiten eröffnet. Von verschiedenen Ansätzen zur Analyse von Denkprozessen gehen wir zunächst aus.
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Z. Psychol. 197-i
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Z. Psychol. 197 (1989) 1
1. Ansätze zur Analyse von Denkprozessen Graumann (1965) kennzeichnet die beiden analytischen Einheiten der Psychologie der Jahrhundertwende, aus denen heraus sich die Denkpsychologie entwickelt hat, als „Empfindung" und „Vorstellung". „Empfindungen" waren die Bausteine der sinnlichen Erfahrung, „Vorstellungen" die Bausteine der höheren kognitiven Prozesse. Denken sollte dann durch eine assoziative — und später gerichtete — Verknüpfung von Vorstellungen darstellbar sein. Damit taucht bereits die Idee der Einheitenbildung auf. Mit Otto Selz (1913) stellen die Einheiten des Denkprozesses strukturelle Beziehungen zwischen den Gedanken und nicht bloß eine Abfolge von bestimmten Reaktionen dar; mehr noch, der Denkprozeß schließt eine Lücke im strukturellen Kontext und folgt nicht nur einer Assoziationskette. Köhler (1919) untersucht Denken vermittels einer Strukturanalyse. Die Gestalt psychologen kennzeichnen Denken als Umstrukturierung. Duncker (1935) analysiert Denkprozesse unter dem Aspekt einer Strategieanalyse und klärt wesentliche Prinzipien wie die der Konflikt-, Material- und Zielanalyse oder das Ausgehen vom Gesuchten bzw. vom Gegebenen auf. Mit diesen frühen experimentellen Ansätzen sind zwei für unsere Betrachtungsweise wesentliche Begriffe vorweggenommen: Einheitenbildung
und
Strukturbildung.
Gescheitert sind diese Forschungsarbeiten letztendlich an der Methode. Wenngleich man zur damaligen Zeit in der Psychologie bereits in der Lage war, Reaktionszeiten im Bereich von 1 ms zu messen, wurde die Methode der Retrospektion benutzt. Das Problem einer exakten Meßbarkeit und damit Vorhersage von Denkabläufen konnte nicht gelöst werden. Denken wird häufig als Abstraktion gekennzeichnet. Graumann (1965) beschreibt Aspekte des Denkens: im Absehen vom Partikulären des anschaulich in Wahrnehmung und Vorst ellung Gegebenen kommen wir zum Allgemeinen und damit in die Lage, uns von etwas einen Begriff zu machen. Durch die zusammenfassende Funktion des Begriffes, der zum Hauptwerkzeug des Denkens wird, fassen wir Gegenstände zu Klassen zusammen, kann Denken wesentlich zu einer Ordnungsleistung werden. Diese Beschreibung deckt sich durchaus in weiten Teilen mit unseren Intensionen, nur müßte man es eben messen können. 1.1. Denken und
Zustandstransformation
Mit diesem Ansatz (vgl. Tab. I) wird Problemlösen als Transformation (p eines Zustandes zt in einen Zustand zi+1 im Problemraum P dargestellt. Der Problemraum wird durch das Paar (Z, H)z beschrieben. Dabei ist Z die Menge der Zustände und Hz die Menge der Morphismen. Tab. I.
Zustandstransformation und Problemraum
Problemraum
Zustandstransformation
P = (Z, Hz) mit 2; gZ
(z;)
K r a u s e , Über menschliches D e n k e n
3
Mit der auf F . K l i x zurückgehenden These Anfang der sechziger J a h r e , daß Denken nur dann untersucht werden kann, wenn Denkabläufe in Handlungsabläufe umsetzbar sind, gab es einen entscheidenden Fortschritt in der Meßbarkeit von Denkabläufen. Vor genau 25 J a h r e n erschien der Beitrag von Klix, Neumann, Seeber und Sydow: „Die algorithmische Beschreibung des Lösungsprinzips einer Denkanforderung" in der Zeitschrift für Psychologie, der diese These bestätigte. Sydow (1970) konnte in seiner Dissertation zeigen, daß sich im Laufe des Lösungsprozesses die subjektive Metrik der objektiven Metrik eines Problemraumes anpaßt. Während zu Beginn eines Lösungsprozesses eine starke Abhängigkeit der subjektiven Metrik vom Anfangszustand und ein geringer Einfluß des objektiven Abstandes zum Zielzustand zu beobachten ist, kehrt sich dieses Verhältnis im Laufe des Lösungsprozesses gerade um. Darin zeigt sich die Abhängigkeit des Denkprozesses vom Gegebenen und Gesuchten, wie es Duncker (1935) formulierte, die sich im Laufe des Lösungsprozesses zugunsten des Gesuchten verändert. Grundlegende Prinzipien sind durch diesen Ansatz aufgedeckt worden: das Prinzip der Teilzielbildung, das Minimalitätsprinzip beim Strategieerwerb, Entscheidungsstrukturen des Strategiewechsels u. v. a. Die Strategieanalyse ist auch zur Messung geistiger Leistungen unter differentiellem Aspekt genutzt worden. So konnten Klix und Goede (1968) zeigen, daß der größere Lernanstieg im Problemlösen bei mathematisch Hochbegabten im Vergleich zu Normalschülern auf die frühzeitige Anwendung der Teilzielbildung (also einer globalen Strategie) zurückzuführen ist. Engemann (1974) hat die Ausbildung und den Wechsel von Strategien im Problemlösen zur Prüfung der Schulreifefähigkeit bei Kindern eingesetzt und Gundlach und Schulz (1987) konnten mit diesem Konzept Bedingungen für den Leistungsvorteil im Gruppenproblemlösen gegenüber dem individuellen Problemlosen aufklären. Bei aller Genauigkeit, mit der diese Analyse von Denkprozessen betrieben wird, bleibt ein Aspekt unberührt: Denken beginnt mit dem Verstehen des Problems, bevor die erste Handlung vollzogen wird. Dem Handlungsablauf geht die Abbildung der externen Repräsentation in eine interne kognitive Struktur und deren mögliche Transformation voraus. 1.2. Denken
und
Strukturtransformation
Es soll ein reibungsfreies Getriebe konstruiert werden. Die Suche im Bereich der Öle und F e t t e führt höchstens zu einem reibungsarmen Getriebe und erfüllt die Forderung nicht. Ein Ingenieur kommt auf den mutigen Gedanken, den Bereich der Öle und F e t t e zu verlassen und die abstoßende magnetische Kraftwirkung gleichnamiger Pole im elektromagnetischen Feld auszunutzen. Zum Schleifen von Bleiglas muß Kühlflüssigkeil zwischen die Schleifscheibe und das Schleifgut gegeben werden. J e m a n d kommt auf die Idee, die Schleifscheibe mit Bohrungen zu versehen, durch die die Kühlflüssigkeit tropft. Offensichtlich ist das nur eine Kompromißlösung, denn man kann nicht gleichzeitig die Schleiffläche und die Flüssigkeitszufuhr maximieren. Eine bessere Lösung besteht darin, die Schleifscheibe aus einem Eisblock zu fertigen, der feinkörnigen Sand enthält. Die beim Schleifen entstehende Wärme bringt den Eisblock zum Schmelzen und sorgt damit für Kühlflüssigkeit bei maximaler Schleiffläche.
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Z. Psychol. 197 (1989) 1
Wenngleich wir von der Analyse von Denkanforderungen dieser Art noch weit entfernt sind, so läßt sich doch so viel sagen: Herkömmliche, im Langzeitgedächtnis gespeicherte Begriffsstrukturen müssen aufgebrochen und mit anderen Begriffen bzw. Begriffsstrukturen (Im nachfolgenden T e x t wird der Ausdruck kognitive Strukturen verwendet.) verknüpft werden. Der Gedanke der Problemraumerweiterung (Krause, 1977) drängt sich hier auf. Vor dem Hintergrund solcher Überlegungen fassen wir Problemlösen als Ausbildung und Transformation kognitiver Strukturen auf. Dabei beziehen wir uns auf den von K l i x und B . Krause (1969) in die psychologische Literatur eingeführten Strukturbegriff und die Bildung und Transformation von Strukturen, wie sie von Sommerfeld (1986) beschrieben wurden. Eine Struktur G ist das Paar (V, E ) : G = (V, E ) bzw. das Tupel G = ( V , E , f , g, W v , W E ) mit
V = endliche Menge EgVxV W v , W E = endliche, nichtleere Menge f ; V =>Wy = Abbildung von V in W v g : E=>W E = Abbildung von E in W E .
Die Menge V ist die Elementcmenge der Struktur G, die Menge E ist die Menge der in G verknüpften Elementepaare. Die Mengen W v bzw. W E sind Mengen möglicher Interpretationen der Elemente bzw. ihrer Verknüpfungen, z. B . Merkmale und Relationen, aber auch Bewertungen von Elementen bzw. Bewertungen von Elementepaaren. Die Elemente können Worte, Begriffe, Operationen, Aussagen, Text- oder Bildausschnitte, auch Personen, Personengruppen und v. a. m. sein. Auch über die Relationen ist keine Einschränkung getroffen. Es können assoziative oder semantische Relationen zwischen Begriffen, durch Regeln induzierte Relationen, Relationen zwischen Text- und Bildausschnitten, analoge Relationen zwischen Funktionsprinzipien (Hesse, 1988), Relationen zwischen Personen und Personengruppen u. a. sein. In unserer Betrachtung sind Strukturen im allgemeinen Wort- oder Begriffsnetze. Eine Strukturtransformation 0 bewirkt dann allgemein die Änderung einer Struktur G ; in eine Struktur G i + 1 : G 1 + 1 = j
Zeichnungen von 8 Tieren wurden in Triaden einem 4jährigen Mädchen, einem 5jährigen Mädchen, zwei 7jährigen J u n g e n , einem 14jährigen J u n g e n und einem 32jährigen wissenschaftlich gebildeten Erwachsenen vorgelegt (Abb. 1). Im Tripelvergleich war anzugeben, welche zwei Tiere mehr zusammengehören als das jeweilige dritte. Aus den Daten wurde eine Ähnlichkeitsmatrix konstruiert, die Ausgangspunkt für eine hierarchische Clusteranalyse nach Johnson (1967) war. Die nachfolgende Abbildung zeigt die Baumstrukturen als Resultat der hierarchischen Clusteranalyse. Der Interpretation von Klix (1976) folgend wird mit diesem B e f u n d deutlich, — daß die kognitive Repräsentation dieser Lebewesen bereits in den frühesten Alters— stufen hierarchisch in ihrem A u f b a u i s t ; . — daß die Differenziertheit der im Gedächtnis repräsentierten Struktur mit zunehmendem Alter nicht wesentlich zunimmt und — daß die wesentliche Veränderung mit Alter und geistiger Differenziertheit in den Merkmalen (und nicht in der Strukturierung der Objekte) stattfindet. Während in den frühesten Entwicklungsabschnitten der Begriffsbildung Klassifizierungsmerkmale wie „ h ü b s c h " , „kann beißen" usw. relevant sind, treten in späteren Phasen solche Oberbegriffe wie „Reptilien", „ I n s e k t e n " , usw. auf.
Krause, Über menschliches Denken Mädchen, 5 Jahre
Mädchen,4Jahre
fliegen
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Junge, 7 -Jahre
Junge, 7 Jahre
kann schwimmen ¡Reptilien fliegen ^ W llnsekten Kd Sk
lieh kann sie halten
langer Schwanz Sw Kd
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Erwachsener, 32 Jahre
Junge, 14 Jahre
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A b b . 2. Hierarchische S t r u k t u r der Tierwelt in Abhängigkeit v o m Alter der Versuchspersonen (nach Michon, 1972)
Die Beispiele belegen die Slrukturierung von begrifflichem Wissen. Bevor wir auf die Strukturierung als Ausdruck von Ordnungsbildung im Denken eingehen, wollen wir zeigen, daß „Strukturierung" nicht etwas Singuläres erfaßt, sondern typische Geschehnisse abbildet. Dabei wollen wir zuerst — Ordnungsbildung durch Strukturierung in der belebten wie unbelebten Natur als ein generelles Prinzip der Organisation darstellen (Abschnitt 2.1.) und sodann zeigen, daß — zwischen Eigenschaften kognitiver Strukturen und den Eigenschaften von Strukturen der belebten wie unbelebten Natur bestimmte Analogien bestehen (Abschnitt 2.2.).
8
Z . P s y c h o l . 197 (1988) 1
2.1. Ordnungsbildung außerhalb der Psychologie 2.1.1. Ordnungsbildung in Biologie und Physik Die Bildung geordneter Strukturen aus anfänglich undifferenzierten Medien ist eines der erstaunlichsten Phänomene und zugleich eines der fundamentalsten Probleme der Naturwissenschaften. Es ist dabei zunächst irrelevant, ob wir die symmetrische Anordnung der Bausteine im Kristallgitter, die räumliche Struktur eines Proteins, die Struktur und Strukturbildung beim Tabakmosaikvirus oder das Mustereines Sternenbildes betrachten. Spätestens mit Darwins Evolutionshypothese 1859 wurde deutlich: infolge des Wechselspiels von Selektion und Mutation nimmt der Organisationsgrad biologischer Systeme ständig zu. In der Physik scheint die tägliche Erfahrung eher das Gegenteil zu bestätigen, daß nämlich bei physikalischen Prozessen Strukturen abgebaut werden: Ein Tropfen Tinte zerfließt rasch durch Konvektion. Zwei verschieden warme Körper gleichen durch Wärmeleitung ihre Temperatur aus. Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, 1850 von Clausius aufgestellt, beschreibt diesen irreversiblen Naturprozeß in isolierten Systemen. Zwanzig Jahre später konnte Boltzmann zeigen, daß die Entropie S ein Maß für die molekulare Unordnung ist und daß ihr Anwachsen die Tendenz eines Systems zur Annahme des wahrscheinlichsten Zustandes ausdrückt, eine Tendenz zur größten „Unordnung". Das Boltzmannsche Gesetz der Entropiezunahme in isolierten Systemen ist einfach ein Gesetz zunehmender Desorganisation: dS/dteO (mit S = Entropie und t = Zeit). An einem einfachen Beispiel läßt sich das verdeutlichen (Prigogine, 1982). Wir betrachten einen Behälter, der durch eine Wand in zwei gleich große Abteile unterteilt ist. min.
Im thermodynamischen Gleichgewicht bzw. in dessen Nähe liegende stationäre Zustände sind automatisch stabil, da eine beliebige Auslenkung wegen der Tendenz zur Verkleinerung von P sofort rückgängig gemacht wird (Eberling. 1982). Strukturen im thermodynamischen Gleichgewicht nennt man konservative Strukturen, Strukturen in dessen Nähe lineare Nichtgleichgewichtsstrukturen. Sie sind von statischer Natur. Sic sind durch ein absolutes (Gleichgewichtsstrukturen) oder durch ein relatives (lineares Nichtgleichge-
Abb. 5. Xatiirliche Schneekristalle (Auswahl aus den von W . A. B e n t l e y und W. J . l i u m p h r e y zusammengestellten Photographien, nach Eigen, 1975)
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Z. Psycho!. 197 (1989) 1
wichtsstrukturen) Extremum thermodynamischer Funktionen fixiert. Konservative Strukturen bzw. lineare Nichtgleichgewichtsstrukturen sind z. B. — die Schneekristalle (Abb. 5) — die Struktur von Nukleinsäuren und Proteinen, wie die Struktur des Hämoglobinmoleküls, die aus konservativen Kraftwirkungen resultiert, die die räumliche Lage aller atomaren Bausteine fixieren. — die Struktur von bestimmten Virusarten (z. B . Tabakmosaikvirus, Abb. 6)
Abb. 6. Struktur des Tabakmosaikvirus. Das Virusprotein liegt in neutraler Lösung in scheibenförmigen Aggregaten vor (links oben). Durch Ansäuern lagern sich diese zu kleinen und im Verlauf von 15 min (oben Mitte) zu größeren Helices zusammen, die noch durch Fehlstellen unterbrochen sind. Nach ca. 18 Stunden (rechts oben) ist das Strukturgefüge perfekt. In der unteren Bildhälfte ist der Verlauf der Aggregation schematisch dargestellt (nach Eigen, 1975)
Sie alle zeichnen sich durch eine hohe Stabilität aus. Konservative Strukturen bzw. lineare Nichtgleichgewichtsstrukturen allein reichen nicht aus, Evolution (und damit auch Strukturänderung) — zumindest im Sinne der Thermodynamik — zu erklären. Aufgrund ihrer Eigenschaften kehren sie bei Auslenkung stets wieder in den stationären stabilen Zustand minimaler Entropieproduktion zurück. Evolutionsprozesse — und damit Ordnungsbildung — ist — zumindest in dem charakterisierten Sinn der Thermodynamik — nur bei großen Abweichungen vom thermodynamis chen Gleichgewicht möglich. Nichtlineare Nichtgleichgewichtsstrukturen sind mit einer hohen Entropiedissipation verbunden. Diese auf Prigogine zurückgehenden dissipativen Strukturen kennzeichnen Ordnungsbildung fernab vom thermodynamischen Gleichgcwicht. Zu ihrer Erzeugung und Aufrechterhaltung ist hochwertige Energie erforderlich. Sie sind nur unter gewissen Bedingungen stabil und zerfallen, wenn die Zufuhr hochwertiger Energie unterbrochen wird. Beispiele für dissipative Strukturen aus der Physik und der Biologie sind z. B.
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Krause, Über menschliches Denken
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Abb. 16. Prozentuale Anzahl von Versuchspersonen, die 1, 2 oder 3 Klassen bei unterschiedlichen Anforderungen (Sortieren und Fragenbeantworten) aber gleichem Informationsangebot nutzen. Die in beiden Anforderungen bestimmten Häufigkeitsverteilungen unterscheiden sich signifikant. Die im Sortierversuch beobachteten Strukturen sind mit den gelehrten identisch. Zur Fragenbeantwortung wird offenbar umstrukturiert (zweidimensionale Darstellung des Materials). Bei dreidimensionaler Darstellung ergibt sich ein analoges Resultat
Merkmalen zurückgeführt, die als eine untere Abschätzung zur Beschreibung der S t r u k t u r S notwendig ist: Lbeh(S) = f(nbeh(S)). Zur Berechnung des Prozeßaufwandes wird als eine Möglichkeit unterstellt, daß der Prozeßaufwand für die Nutzung einer S t r u k t u r S bei der Anforderungsbewältigung A der Prozeßzeit tproz (S, A) (Zeit zur Fragenbeantwortung) bei der Nutzung dieser S t r u k t u r zur Anforderungsbewältigung proportional i s t : Lproz(S, A) = f(tproz(S, A ) ) . B e i der Lösung von Ordnungsproblemen kann der so betrachtete Prozeßaufwand durch die Operationszeiten tid, tcod, tzu, tvergl für Identifikation, Codierung, Klassenzuweisung und Vergleich von Mustern oder Elementen struktureller Informationseinheiten (Sommerfeld, 1986) zurückgeführt werden. E i n e spezielle Analyse ergibt für die charakterisierte konstruktive Serie in zweidimensionaler Darstellung, daß Unterschiede insbesondere in der Codierungszeit auftreten: Lproz(S, A) = f ( t c o d ) . Die Codierungszeit bezieht sich im wesentlichen auf die Zeit für die Umcodierung von einer zweidimensionalen in eine dreidimensionale Darstellung. Nach den Berechnungen des kognitiven Aufwandes (ausführlich beschreiben in Sommerfeld, 1987) für kognitive
Krause, Über menschliches Denken
25
Strukturen, die auf unterschiedlichen Klassenanzahlen basieren, ergibt sich, daß der Aufwand bei der Nutzung von zwei Klassen geringer ist als bei der Nutzung der gelehrten drei Klassen: L(2, A ) < L ( 3 , A) (Die Struktur S wird hier durch die Klassenanzahl charakterisiert. So bezeichnet L(2, A) bzw. L(3, A) den kognitiven Aufwand bei der Nutzung von 2 bzw. 3 Klassen zur Bewältigung der Anforderung A.) Die Abbildung 17 zeigt die Strukturierung jeder einzelnen Versuchsperson beim inferentiellen Schließen. In der Matrix sind die möglichen KlassengrenM,
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1 Punkt
0 Punkte
positive Bekräftigung
positive Bekräftigung
Nennung des Werkzeugs
I
Abb. 2.
1
I
Frage- und Bewertungsmodus für die Aufgaben der Bild- und Sprachvariante
70
Z. Psychol. 197 (1989) 1
Vorlage der Bilder, Herstellung der Ausgangssituation i Anforderung :
So, nun mach' mal mit den Sachen genau das, was die Susi auf den Bildern m a c h t !
Kind spielt Situation nach?
Frage :
Was macht denn die Susi auf den Bildern?
-Handlung beschrieben (Kind oder VI)
Instrument angefordert oder selbst genommen? -ja
Hilfe:
Wenn Du es genauso machst wie Susi, brauchst Du noch was!
Instrument angefordert oder selbst genommen?
I
ja
2 Punkte positive Bekräftigung Abb. 3.
1 !..
1 Punkt positive
nein
I i
0 Punkte Zeigen des
Frage- und Bewertungsmodus für die Aufgaben der Handlungsvariante
Leistungsbewertung. - Abbildung 2 dokumentiert den Frage- und Bewertungsmodus für die Aufgaben der Bild- und Sprachvariante. Abbildung 3 vermittelt die analogen Regeln für die Handlungsvariante (der links oben gekennzeichnete Rücklauf wurde nur einmal realisiert; wenn dann kein Effekt erzielt wurde, brach der VI den Versuch ab). Im Bedarfsfalle wurden alle Fragen und Aufforderungen einmal wiederholt. Wenn das Kind auf die Frage „Was ist denn da passiert?" (Abb. 2) sofort das richtige Instrument nannte, erhielt
Richter; u. a. Natürliche Inferenzen von Vorschulkindern
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es die volle Punktzahl (2 Punkte). Wenn das Kind beim Lösen der Aufgaben der Handlungsvariante zögerte, die Instrumente selbst zu nehmen, wurde es vom VI aufgefordert, dies zu tun. Probanden; Versuchsplan. — Es handelte sich um eine anfallende Stichprobe (n=108) aus 3 Berliner Kindergärten. Ausgeschlossen aus den Versuchen blieben lediglich Kinder, deren intellektuelles Leistungsvermögen von den Kindergärtnerinnen als sehr niedrig eingeschätzt wurde (Oligophrenie-Verdacht) oder bei denen extreme soziale und sprachliche Kommunikationsprobleme in der Versuchssituation zu erwarten waren. Wir untersuchten 3 Altersgruppen: Gruppe I (3; 1—3; 8), Gruppe II (3; 9—4; 8), Gruppe III (5; 9—6; 3), jeweils n = 36. Aus zeitökonomischen Gründen mußte die zwischen II und III liegende Altersgruppe ausgespart werden. Der Versuchsplan für jede Altersgruppe sah folgendermaßen aus: Anzahl d. Items
Abfolge d. Varianten/Anzahl der Kinder
3 3 3
Sprache Bild Handlung
Handlung Bild Sprache
Bild Handlung
Block 1 n = 12
Block 2 n = 12
Block 3 n = 12
-
Der Versuchsplan gestattete zum einen die Auswertung der Ergebnisse zwischen den unabhängigen Teilstichproben auf den Ebenen Handlung — Bild — Sprache (Zeilen des Plans) Zum anderen ließ der Plan eine Auswertung der abhängigen Ergebnisse auf den 3 Ebenen innerhalb einer Teilstichprobe zu (Spalten des Plans = Blöcke). Dadurch konnte überprüft werden, ob sich die blockspezifische Variantenfolge auf die erzielten Leistungen im Sinne von Lerneffekten auswirkt. Das interessierte vor allem mit Bezug auf die Sprachvariante mit ihren entgegengesetzten Positionen in den Blöcken 1 und 2. In Hinsicht auf die Versuchsdurchführung ist noch folgendes wesentlich. Die 9 Items (jeweils 3 pro Ebene) wurden so konstruiert, daß sie auf allen Ebenen anwendbar waren. Die Reihenfolge ihrer Darbietung für die einzelnen Probanden wurde durch eine Zufallsziehung ermittelt. Damit gingen alle Items in die Daten der 3 Ebenen gleichwertig ein; Trendwirkungen (durch Items mit geringer oder hoher Schwierigkeit) wurden weitgehend ausgeschaltet. Um andere Störeinflüsse zu vermeiden, wurde die Reihenfolge der Anforderungen (Blöcke) fortlaufend gewechselt, d. h.: nachdem ein Kind die Items der ersten Spalte erhielt (Sprache/Bild/Handlung), bekam das nächste Kind die Items von Block 2, die darauffolgende Vp diejenigen des dritten Blocks usf. In der dritten Spalte des Versuchsplans ist das letzte Feld nicht ausgefüllt. Das bedeutet: Kinder des Blocks 3 erhielten nur Items auf den Ebenen Bild und Handlung. Dazu haben wir uns entschlossen, weil die Ergebnisse, die nach „Abarbeitung" dieses Feldes erzielt worden wären, kaum eine sinnvolle Interpretation der Leistungen auf der Sprachebene zulassen.
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Z. Psycliol. 197 (1989) 1
Ergebnisse Wir hatten erwartet, daß sich alle Altersgruppen hinsichtlich der Gesamt punktwerte — über alle Varianten hinweg — voneinander unterscheiden. Das traf aber nicht zu. Die Gruppe I der etwa 3jährigen erreichte 42 % der maximalen Punktzahl; die analogen Werte für die Gruppen II und III (etwa 4 und 6 Jahre alt) betrugen 53,5 % und 86 %. Nur diese letzte Differenz ist signifikant (1 %-Niveau; approximativer Chi-Quadrat-Test; Krause u. Metzler, 1983, S. 145). Als Konsequenz des in der Einleitung als Hypothese formulierten Entwicklungstrends hatten wir angenommen, die Schwierigkeitsrangreihe Sprachvariante==-Bildvariante=Handlungsvariante würde nicht in allen Altersgruppen gleichartig in Erscheinung treten, dies wegen der mit zunehmendem Alter eintretenden Nivellierung. Wie die Daten der Abbildung 4 zeigen, traf diese Annahme zu. Die Punktzahlen bei den 3 Varianten gleichen sich mit wachsendem Alter immer mehr an. In der Altersgruppe I war der Unterschied zwischen der Sprach- und Bildvariante signifikant (5 %-Niveau), zwischen der Bild- und Handlungsvariante jedoch schon nicht mehr (trotz des beträchtlichen Unterschieds). Die Differenz zwischen Sprach-und Handlungsvariante war hochsignifikant'(l %-Niveaur). Demgegenüber ließ sich für die Altersgruppe II nur ein einziger signifikanter Unterschied zwischen Sprach- und Handlungsebene feststellen, und in der Gruppe III gab es überhaupt keine signifikanten Differenzen mehr.
Abb. 4. Lösungshäufigkeiten in Abhängigkeit vom Alter und von den Operations-/Repräsentationsebenen (H = Handlungsvariante, B = Bildvariante, S = Sprachvariante)
Wir verglichen die Leistungspunkte zwischen den Altersgruppen mit Bezug auf die 3 Repräsentations- und Operationsebenen. Das blieb für die Gruppen I und II ohne Ergebnis, d. h. auf keiner Ebene wurde ein nennenswerter Entwicklungsfortschritt erzielt. Die Gruppen II und III jedoch wichen auf jeder Ebene signifikant voneinander ab. Wir hatten es für möglich gehalten, daß sich — zumindest in den Altersgruppen I und II — Unterschiede bei der Inferenzanforderung auf sprachlicher Ebene nachweisen lassen je nachdem, ob diese Anforderung im Block an erster oder an letzter Stelle steht. Die ent-
Richter u. a., Natürliche Inferenzen von Vorschulkindern
73
sprechenden Daten (15,2 % versus 22,2 % der maximalen Punktzahl in Gruppe I, 25,0 % versus 37,5 % in Gruppe II, 76,0 % versus 90,2 % in Gruppe III — jeweils Block 1 versus Block 2) verwiesen zwar auf eine Tendenz der Lösungserleichterung durch die Stufung der Anforderungen des Blocks 2; aber die Differenzen erwiesen sich in keinem Falle als signifikant. Auch die jeweiligen Gesamtleistungen, d. h. Punktwerte für alle Varianten, zwischen den beiden Blöcken unterschieden sich nicht signifikant voneinander. Tab. I. Lösungshäufigkeiten der Items (Instrumente), ermittelt über alle Altersgruppen und Versuchsblöcke (in %) Instrument
Lösungshäufigkeit
Schere Messer Strohhalm Pinsel Schraubenschlüssel Streichhölzer Buntstifte Nadel mit Faden Kamm
52,1 52,1 55,2 55,2 62,5 70,8 77,1 77,1 78,1
Wie die Daten der Tabelle I belegen, waren die verwendeten Items (Instrumente) mit Bezug auf den Schwierigkeitsgrad nicht homogen. Welche Bedingungen dafür verantwortlich waren, ist von unseren Untersuchungen her nicht zu entscheiden. Es wäre notwendig, vor allem im Falle diagnostisch orientierter Anwendungen, über systematische Variationen von Instrument-Klassen zu fundierten Aussagen zu gelangen. Es mag verwundern, daß wir uns entschlossen, auch die unter pädagogischem Aspekt problematischen Instrumente Messer und Streichhölzer einzubeziehen. Dazu ist folgendes zu sagen. Die Itemkonstruktion mußte mehreren Forderungen zugleich gerecht werden: eindeutige bildliche Darstellbarkeit, Realisierbarkeit der Handlungsvariante unter Kindergartenbedingungen (und zwar in einem Raum, nicht im Freien), Vermeidung allzu aufwendiger Hilfestellungen durch den VI, möglichst hoher Bekanntheitsgrad. Außerdem interessierte uns der Einfluß der o. g. „Tabu-Instrumente". So kam es zu den 9 Items. In Absprache mit den Kindergärtnerinnen wurden Messer und Schere abgestumpft und eine leere Streichholzschachtel benutzt.'
Auf der Grundlage einer Sstufigen Ratingskala schätzten die Kindergärtnerinnen die „intellektuelle Leistungsfähigkeit" der Probanden ihrer Gruppe ein (Stufen: sehr niedrig/ niedrig/mittel/hoch/sehr hoch), so daß es möglich war, eine Rangkorrelation zwischen dieser Einschätzung und den erreichten Leistungspunkten in den Inferenzaufgaben zu berechnen. Das geschah mit Hilfe des Spearman-Koeffizienten (Krause u. Metzler, 1983, S. 205). Auf Grund der relativ hohen Anzahl von Bindungen (ranggleiche Weite) innerhalb der Stichproben wurde eine korrigierte Schätzformel für r benutzt. Die verwendete Testgröße genügte einer t-Verteilung mit n-2 Freiheitsgraden (ebenda, S. 207 f.).
Wir ermittelten eine sinkende Korrelation mit steigendem Alter: Gruppe I: r = 0,71; Gruppe I I : r = 0,57; Gruppe I I I : r = 0,45 (sämtliche Korrelationen signifikant). Obwohl
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die Intelligenzbewertung relativ oberflächlich war, meinen wir doch, die Befunde als Indikator für den differentiell-psychologischen Nutzen unserer Inferenzanforderungen vor allem im Altersbereich der 3—4jährigen interpretieren zu dürfen. Aber auch hier wäre es natürlich erforderlich (vor allem im Vorfeld diagnostischer Applikationen), diese Zusammenhänge gründlicher zu analysieren. Das dürfte insbesondere für den Fall gelten, daß Inferenzleistungen mit intellektueller Hochbegabung in Beziehung gebracht werden (vgl. dazu Lehwald u. Friedrich, 1987).
Diskussion Es dürfte kein Zweifel darüber bestehen, daß unsere Untersuchungsergebnisse diejenigen Theoriebildungstendenzen verifizieren, welche auf eine entwicklungsabhängige Überschichtung der aktionalen durch die ikonische und schließlich begrifflich-symbolische Ebene kognitiver Repräsentationen und Operationen im Kleinkind- und Kindergartenalter hinauslaufen — dies im Sinne der (im Einleitungsabschnitt charakterisierten) Konzeptionen von Piaget, Bruner, Galperin u. a. Als Bestätigung dieser Ansätze fällt vor allem unser Hauptbefund ins Gewicht: Natürliche Instrument-Inferenzen von Kindern dieser Entwicklungsphase weisen zunächst (bei den etwa 3jährigen) eine starke (lösungserleichternde bzw. -erschwerende) Abhängigkeit von den Anforderungsebenen auf, während diese Abhängigkeit bei den etwa 6jährigen weitgehend entfällt. Dieser Nivellierungstrend leitet sich vor allem aus intensiven Entwicklungsvorgängen ab, die im Falle der von uns untersuchten Inferenzen insbesondere den Alterszeitraum zwischen dem 4. und 6. Lebensjahr betreffen und auf der ikonischen, vor allem aber auf der begrifflich-symbolischen (Sprach-)Ebene zu lokalisieren sind. Für eine genauere Interpretation dieses Befundes müssen die bislang nur grob differenzierten Anforderungstypen (gemeint ist die Unterscheidung der Handlungs-, Bild- und Sprachvariante) detaillierter gekennzeichnet werden. Das führt zu folgenden Resultaten: Die Handlungsvariante ist (abgesehen von dem hier zu vernachlässigenden Anteil des.' Instruktionsverständnisses) in Wahrheit eine Bild-Handlungs-Variante, und das aus mehreren Gründen. Die Ausgangsinformation wird zunächst in Bildform angeboten. Danach überträgt das Kind die Bildinformation auf den praktisch-gegenständlichen Bereich realer Objekte, mit denen es manipulieren kann, so daß Objektbeziehungen hergestellt und damit neue Informationen erzeugt werden. Außerdem stehen permanent multimodale sensorische Rückmeldungen für die Verarbeitung zur Verfügung. Zusätzlich hat das Kind fortlaufend visuell gestützte Vergleiche zwischen Bildinformation und „vergegenständlichter" Information durchzuführen. Ferner kommt hinzu: Die Inferenz kann das unmittelbar zugängliche Angebot einer Auswahlmenge von Instrumenten in Anspruch nehmen, die visuell geprüft und verglichen, angefaßt, in die Hand genommen, weggelegt werden können. Und schließlich entfällt der Zwang, die Inferenz mit sprachlichen Mitteln auszudrücken. Das alles bedeutet: Die Handlungsvariante stellt als Grundlage der natürlichen Inferenz ein Maximum an ereignis- uncl geschehensbezogener sensorisch-perzeptwer Information zur Verfügung, das als solches einen hohen Redundanzgrad aufweist und sprachliche Umkodierungen überflüssig macht. Diese Tatsachen dürften verantwortlich dafür
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sein, daß die jüngsten Kinder unserer Stichprobe etwa 65 % der maximalen Punktwerte erreichen. (Dabei sehen wir ab von Zusatzinformationen, die über die Kommunikation Kind — VI außerdem noch verfügbar sein können.) Möglicherweise spielt —im Sinne einer motivationalen Lösungsbegünstigung — auch noch die Nähe der Anforderung zu vertrauten manipulationsintensiven Spielen eine Rolle. Die Bildvariante zeichnet sich demgegenüber durch eine erhebliche Einschränkung des Informationsangebots aus, das nur den visuellen Kanal benutzt und — als Folge der Bildgestaltung — auf elementare geschehensrelevante Basisinformationen reduziert ist. Die Inferenz setzt voraus, gespeichertes Wissen in Gestalt von Vorstellungen zu aktivieren und auf die Ebene des Bildlich-Anschaulichen zu transferieren, d. h . : hier kommen nichtperzeptive Komponenten ins Spiel. Im Gegensatz zur Handlungsvariante ist der Suchraum für das Finden des Instruments nicht durch eine vorgegebene sichtbare Auswahlmenge eingegrenzt. Da eine Umsetzung der Bildinformation auf die aktionale Ebene ausbleibt, entfallen manipulationsgebundene Informationen (und auch Motivationen). Schließlich muß die Inferenz sprachlich formuliert werden, beansprucht also das begrifflich-symbolische Niveau. Somit erweist sich die Bildvariante als Mischung perzeptiver, kognitiver und sprachlicher Komponenten. Die Sprachvariante ist die einzige, welche von der Anforderung her auf einer Ebene angesiedelt ist, nämlich auf der begrifflich-symbolischen. Die Ausgangsinformation wird rein sprachlich vermittelt. Sie muß vom Kind in Vorstellungen verwandelt werden, die ein „inneres B i l d " der beiden zu vergleichenden „offenen" Situationen erzeugen. Der (auf die zu findenden Aktionen und Instrumente zugeschnittene) interne Suchrauin ist nicht begrenzt. Schließlich bedarf die Inferenz der sprachlichen Belegung der (nunmehr per Ergänzung „geschlossenen") kognitiven Struktur. Das alles dürfte — abgesehen von dem motivationalen Handicap nicht zugelassener Veranschaulichung und Vergegenständlichung — hinreichen, um den hohen Schwierigkeitsgrad der hier geforderten Inferenzleistung von den Bedingungen her zu erklären. Unsere Untersuchungsbefunde verdeutlichen, wie wichtig es ist, bei der Bewertung von Entwicklungsniveaus der geistigen Leistungsfähigkeit alle kognitiven Repräsentationsund Operationsebenen zu beachten und nicht einseitig die eine oder andere zu bevorzugen. Um kognitive Leistungspotenzen von Klein- und Kindergartenkindern objektiv beurteilen zu können, muß die — in unserem Falle praktisch-anschauliche oder anschaulich-bildhafte oder sprachbegrifflich-symbolische — Anforderungsspezifik in Rechnung gestellt werden. Auch Bulldock und Gelman (1971) und Sommerville und Mitarb. (1979) erhoben Befunde über kognitive Leistungen im Bereich der Ivausalattribuierung und des logischen Schließens mit manipulierbarein Versuchsmaterial, die weit über dem Niveau lagen, das mit verbalen Items zu verzeichnen war. Poddjakow (1981) hält es für notwendig, die interindividuellen Differenzen auf jeder Ebene in Rechnung zu stellen und sich für die Diskrepanzen zu interessieren, die es zwischen den Entwicklungsniveaus der Ebenen bei ein und demselben Kind geben kann. Außerdem hält er die Überbewertung des begrifflichverbalen Denkens für falsch, da zwar einerseits das praktisch-anschauliche und anschaulich-bildhafte Denken Grundlagen für die Entwicklung des begrifflich-verbalen Denkens bereitstellen, andererseits aber die relative Eigenständigkeit der höchsten Ebene zu be-
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achten ist. (In diesem Zusammenhang sei auf die Bedeutung der Wechselbeziehungen — genauer: Umkodierungen — zwischen den E b e n e n für die Entwicklung des kreativen Denkens verwiesen, wie sie K l i x , 1983, hervorhebt.) So gesehen, ist es notwendig, im R a h m e n der Intelligenzdiagnostik des Klein- und Vorschulkindes zu einer systematischen Einschätzung der ebenenspezifischen geistigen Fähigkeiten vorzustoßen, beispielsweise im K o n t e x t der (durchaus denkbaren) Entwicklung von „Inferenztests". Das könnte nicht nur einer gezielten Diagnostik von hochbegabten Klein- und Vorschulkindern, sondern mehr noch von geistig retardierten Kindern dieser Altersstufen zugute kommen, um Fördermaßnahmen zu programmieren und zu realisieren, die wiederum ebenenspezifisch sind. Im R a h m e n einer solchen Diagnostik empfiehlt es sich auch, im Sinne eines Abtastens der „Zone der nächsten Entwicklung" (Wvgotski, 1 9 6 4 ; D a y , 1983) nicht nur den aktuellen Status der völlig eigenständigen kindlichen Inferenzleistung zu erheben, sondern von der natürlichen unterstützenden Kommunikation Kind — Erzieher auszugehen und sie in der diagnostischen Situation und Urteilsfindung abzubilden. Das bedeutet: Analog zu dem von uns angewandten „adaptiven" Leistungs-Punktsystem (und auf der Linie aktueller Lerntest-Verfahrenskonstruktionen) wären Bedingungen zu schaffen, die es dem Kind erlauben, Zusatzinformationen — entweder in F o r m von Vl-Hinweisen oder von eigenen Erfahrungen während des „Abarbeitens" der Items — für die Lösung der Anforderungen zu nutzen und den Grad dieser Nutzung in die diagnostische Bewertung einzubeziehen (vgl. dazu u. a. Pippig, 1 9 8 0 ; Guthke, 1986). Unsere Befunde über das „Nachhinken" der verbalisierten Inferenzen bei den 3—4jährigen (verglichen mit den handelnd entäußerten) dürften sich auch aus Eigenheiten der Sprachentwicklung erklären lassen. Erinnert sei hier an die Experimente von Braine und Wells (1978) und von Hardy und Braine (1981), die auf die Dominanz der Aklorkategorie in der Sprache verweisen, so daß ein Instrument, zur nicht explizit genannten Teilkomponente (Subkategorie) des Aktors werden kann. Bloom und L a h e y (1978; zit. n. Szagun, 1980) berichten über formale Probleme der sprachlichen Kennzeichnung der Instrumentbenutzung, die Kinder veranlassen können, selten darüber zu sprechen, obwohl sie ihnen vertraut ist. In unseren Versuchen könnten Bedingungen, wie sie von den genannten Autoren gefunden wurden, als Hemmfaktoren der sprachlichen Fixierung einer kognitiv bewältigten Inferenz in Erscheinung getreten sein. Unsere Untersuchungen lassen sich (von der Methodik und den Befunden her) in einen größeren Zusammenhang einbetten, der die Anthropogenese des Homo faber und die Ontogenese des Kindes gleichermaßen umfaßt — beide Entwicklungslinien unter dem Aspekt der „Werkzeugintelligenz". Die Wissenschaftsgeschichte der Abbildung dieser Genese beginnt mit Köhlers Entdeckung der einsichtigen Herstellung und Nutzung von Werkzeugen durch Pongiden. WTas diese Tiere tun, das vollzieht sich in den bauplanbedingten Grenzen des Naturwesens Schimpanse, das seine „organkompatiblen" Werkzeuge (Keiler, 1987) als „Material der schlichtesten Art und der einfachsten funktionellen E i g e n s c h a f t e n " (Köhler, 1917, S. 131) lediglich unter dem Situationsdruck aktueller elementarer Bedürfnisse zu finden und einzusetzen vermag, also weit entfernt von der antizipierenden Vorsorge des werkzeugproduzierenden und -anwendenden Kulturwesens Mensch. Mit ihr ist auch das Kind der von uns untersuchten Altersgruppen noch nicht befaßt. E s steht —
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e b e n s o wie d a s K l e i n k i n d , d a s T a s s e u n d L ö f f e l g e b r a u c h e n lernt — v o r der A u f g a b e , die F u n k t i o n der in seiner U m w e l t
existierenden
Instrumente
(„in die eine große
Anzahl
feiner funktioneller G e s i c h t s p u n k t e s o z u s a g e n hineingearbeitet i s t " ; e b e n d a , S . 130) im K o n t e x t einer helfenden K o m m u n i k a t i o n Erzieher — K i n d m e h r oder minder eigenständig zu begreifen u n d als „ F u n k t i o n s w i s s e n " a b r u f b e r e i t i m Gedächtnis zu speichern.
Unsere
B e f u n d e geben A u s k u n f t darüber, unter welchen B e d i n g u n g e n 3—6jährige K i n d e r
im-
s t a n d e sind, dieses Funktionswissen inferentiell — u n d also geistig-produktiv — zu aktivieren. S o m i t h a b e n wir d e n j e n i g e n S e k t o r der f r ü h e n „ V e r g e s e l l s c h a f t u n g des I n d i v i d u u m s " m i t e r f a ß t , w e l c h e r d a s H i n e i n w a c h s e n in die k u l t u r s p e z i f i s c h e T e c h n o l o g i e a b b i l d e t — sicherlich auch als Vorstufe viel späterer (und nicht nur professioneller)
Innovationen
im Bereich der Projektierung, Herstellung u n d N u t z u n g v o n W e r k z e u g e n auf allen E b e n e n der gesellschaftlichen Produktion.
Zusammenfassung Bezogen auf die Theorie der ontogenetischen Überschichtung aktionaler, ikonischer und begrifflich-symbolischer kognitiver Repräsentationen/Operationen, werden Methodik und Ergebnisse von Experimenten über die Erzeugung natürlicher Instrument-Inferenzen durch Vorschulkinder referiert. Während in der jüngsten Stichprobe (etwa 3jährige) die Inferenzleistungen in Abhängigkeit von den 3 Repräsentationsebenen stark variieren (die Leistungen verschlechtern sich kontinuierlich mit dem „Aufsteigen" zur ikonischen und vor allem begrifflich-symbolischen Ebene), treten bei den etwa 6jährigen diese Differenzen nicht mehr in Erscheinung. Theoretische und praktisch-diagnostische Konsequenzen dieses Befundes werden diskutiert.
Summary Referring to the theory of ontogenetic stratification of actional, iconic, and conceptual (symbolic) cognitive representations/operations, methods and results of experiments on natural instrument-inferences are represented. Within the sample of youngest children (about 3 years old) the frequencies of solution depended on the level of cognitive representations/operations, whereas these differences disappeared within the sample of older children (about 6 years old). Theoretical and practical (e.g. diagnostic) consequences of this result are discussed. Pe3F0Me MCXORH H3 T e o p H H OHTOREHETIWECKORO H a c j i o e i i H H a K i ^ i i o i i a j i L H w x , H K O H i m e c K i i x H IIOHHTHÜHO-CHMBOJIH-
lecKiix irpeHCTaBJieHHii/onepaiiHÄ, aBTopti H3JiaraioT MeTo^HKy H peayjitTaTti aitcnepHMeHTOB no renepnpoBaHHK) ecTecTBeHHbix HHCTpyMeHTajibHbix HH$epeHi;Hii y ReTeft noniKonbHoro B03pacTa. B TO BpeMH nan B rpynne TpexneTHHx jjeTeit reHepupoBamie HH$epeHi;Hit CHJIBHO Bapi>HpyeT B 3ABHCIIM0CTH OT Tpex ypoBHeit perrpeseiiTaijHH (pe3ynbTaTu nocjiep;oBaTejibHo yxyamaiOTCH no Mepe «Bocxo/KAEIMN» K HKOHH«tecKOMy H, ocoßeHHo, K noHHTHitHo-ciiMBOHH^ecKOMy ypoBHio), 3TH pa3JimiHH He HaßnioHaioTCH B rpynne raecTHJieTHHX noitMTyeMMX. II3 BTHX pe3yjibTaT0B flejiaiOTCH TeopeTHiecmie H npaKTHKop;narHocTHKHMe MexaHH3MH MHTepHHHHBiiftyajiLHoft BapnaßentHocTH bbi3b&hhhx noTeHnaajiob. 36 HOibiTyeMtix pemanH b yMe MaTeMaTiwecKiie 3amaiH. IIpii noMonjH cnaSoro aJieKTpiwecKoro paaHpaHteHHH kojkh HOitiTyeMOMy cooßmajiocb o npaBUJibHocm ran oidhScmhocth pemeHHH (CTiiMyjiti nonoHttiTejibiiofi h oTpimaTenbHoft oöpaTHoft cbh3h). ITpoHaBOfliuiacb oßpaßoTKa noTeHmianoB, BbisBaH-
D o r m a n n ; Hiebsch, Persönlichkeitseigenschaften in ereignisbezogenen Potentialen
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HHx 9THMH ciirnajiaMn. JlMHocTHbie KaiecTBa, CBHsainitie c ypoBH6M nciiximecnoit paßoTocnocoÖHocra, aKTyajiH3npyeMtie 3KcnepHMeHTaJii.iioft ciiTy anlieft, 0Ka3BiBa»T BJiMHinie Ha $opMy BIT. y ciimhoctcíí c pa3HtiM OTHoniGHHGM K ycnexy h ouiHÖKaM HaSjiwaaeTCH pa3JiiMiie b $opMe noTempianoB, BH3BaHHux CTHMyitaMH nonoJKHTeJibHoít h OTpimaTenbHoii oCpaTHOft cbh3h.
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V E B J . A. Barth, Leipzig
Buchbesprechung Callebaut, W.: Pinxten, R. (Hrsg.): Evolulionary Epistemology. A Multiparadigm Program. 458 S., 19 Abb., 5 Tab., 2 3 x 1 6 cm. Dordrecht — Boston — Lancaster—Tokyo: D. Reidel Publishing Company 1987. Synthese Library, Vol. 190. Leinen, 168.- f . Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die von den Herausgebern 1984 in Gent veranstaltet wurde, hat aber in seinen Beiträgen aktuellen eigenständigen Charakter. Dabei wird zugleich deutlich, daß sich zu diesem Problemkreis bereits mehrere Entwicklungslinien herausgebildet haben, was einmal mehr die Bedeutung der „Evolutionären Erkenntnistheorie" erkennen läßt. Im ersten Abschnitt wird der „Background" angesprochen, wobei die beiden Herausgeber Stellung beziehen zu Aspekten der Philosophie, der Natur- und Sozialwissenschaften. J . Prigogine setzt sich mit dem Entropie-Begriff auseinander. Plotkin, Thom und Heyes erörtern in getrennten Beiträgen Fragen der Grenzgebiete, bis zum Thema „Bewußtsein" bei Tieren. Der zweite Hauptabschnitt setzt sich mit evolutionären Ansätzen in Wissenschaft und Technik auseinander, wobei D. Campbell, Boon, Cetina, Vollmer, Clark und Caporael zu Wort kommen. Im dritten Teil wird das Konzept von Piaget in Beiträgen von Gillieron, A. Miller, Lamontagne und Apostel zur Diskussion gestellt. Es folgt „Extensions and Application" mit Beiträgen von Schell/De Waele, v. Bendegen, Vandamme und v..Parijs, sieht in der „ E E " ein selbstreferentielles System. Campbell sieht in der „ E E " eine Akzeptanz des Baldwin/Ashby-Programms einer allgemeinen Selektionstheorie, die sich ja substantiell von biologischen Konzepten als generelle Modelle der Evolution von Wissen und Wissenschaften unterscheidet. Vollmer will den Gedanken von Riedl über ratiomorphe kognitive Prinzipien (Hypothese der Ubereinstimmung) durch eine „Hypothese der Unterscheidung" ergänzen, nach der ein Erkenntnisapparat versucht, bereits erkannte Differenzen durch weitere Merkmale zu erweitern. Der Band ist angereichert mit Erörterungen aktueller Problemstellungen, die weit über die Grenzen bestimmter Disziplinen hinausgehen. Die Fülle und der oft tieflotende Inhalt der 19 Einzelbeiträge kann hier nicht nachvollzogen werden: Das Buch ist lesenswert, anregend, auch wo es Widerspruch provoziert, denn es steht außer Frage: Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist ein „Multi-ParadigmenProgramm" von noch nicht überschaubarer Tragweite. G. Tembrock (Berlin)
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V E B J . A. Barth, Leipzig
Buchbesprechung Callebaut, W.: Pinxten, R. (Hrsg.): Evolulionary Epistemology. A Multiparadigm Program. 458 S., 19 Abb., 5 Tab., 2 3 x 1 6 cm. Dordrecht — Boston — Lancaster—Tokyo: D. Reidel Publishing Company 1987. Synthese Library, Vol. 190. Leinen, 168.- f . Der vorliegende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die von den Herausgebern 1984 in Gent veranstaltet wurde, hat aber in seinen Beiträgen aktuellen eigenständigen Charakter. Dabei wird zugleich deutlich, daß sich zu diesem Problemkreis bereits mehrere Entwicklungslinien herausgebildet haben, was einmal mehr die Bedeutung der „Evolutionären Erkenntnistheorie" erkennen läßt. Im ersten Abschnitt wird der „Background" angesprochen, wobei die beiden Herausgeber Stellung beziehen zu Aspekten der Philosophie, der Natur- und Sozialwissenschaften. J . Prigogine setzt sich mit dem Entropie-Begriff auseinander. Plotkin, Thom und Heyes erörtern in getrennten Beiträgen Fragen der Grenzgebiete, bis zum Thema „Bewußtsein" bei Tieren. Der zweite Hauptabschnitt setzt sich mit evolutionären Ansätzen in Wissenschaft und Technik auseinander, wobei D. Campbell, Boon, Cetina, Vollmer, Clark und Caporael zu Wort kommen. Im dritten Teil wird das Konzept von Piaget in Beiträgen von Gillieron, A. Miller, Lamontagne und Apostel zur Diskussion gestellt. Es folgt „Extensions and Application" mit Beiträgen von Schell/De Waele, v. Bendegen, Vandamme und v..Parijs, sieht in der „ E E " ein selbstreferentielles System. Campbell sieht in der „ E E " eine Akzeptanz des Baldwin/Ashby-Programms einer allgemeinen Selektionstheorie, die sich ja substantiell von biologischen Konzepten als generelle Modelle der Evolution von Wissen und Wissenschaften unterscheidet. Vollmer will den Gedanken von Riedl über ratiomorphe kognitive Prinzipien (Hypothese der Ubereinstimmung) durch eine „Hypothese der Unterscheidung" ergänzen, nach der ein Erkenntnisapparat versucht, bereits erkannte Differenzen durch weitere Merkmale zu erweitern. Der Band ist angereichert mit Erörterungen aktueller Problemstellungen, die weit über die Grenzen bestimmter Disziplinen hinausgehen. Die Fülle und der oft tieflotende Inhalt der 19 Einzelbeiträge kann hier nicht nachvollzogen werden: Das Buch ist lesenswert, anregend, auch wo es Widerspruch provoziert, denn es steht außer Frage: Die Evolutionäre Erkenntnistheorie ist ein „Multi-ParadigmenProgramm" von noch nicht überschaubarer Tragweite. G. Tembrock (Berlin)
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V E B J . A. B a r t h , Leipzig
Aus dem Institut für Psychologie der J.-W.-Goethe-Universität F r a n k f u r t / M .
Zur Prüfbarkeit komplexer Theorien über Konflikte, Neurosen und ihre Therapie, a m Beispiel der Theorie der Bezüge Mjasiscew's Von W. Lauterbach Mit 2 Abbildungen
Einleitung Die Theorien tiefen-psychologischer, humanistischer und systemiseher Therapieansätze sind meist derart generell und flexibel formuliert, daß mit ihren Begriffen alle Störungen im Nachhinein erklärbar sind und die Validität ihrer kausalen Annahmen und ihrer therapeutischen Interventionen empirisch scheinbar kaum zu prüfen ist. Die Diskrepanz zwischen ihrer Verbreitung und Bedeutung in der klinischen Praxis einerseits und ihre geringe Bedeutung in der universitären Forschung, sowie ihrer empirischen Fundierung und Korrektur andererseits ist deshalb oft unverantwortlich groß. In allen diesen Theorien spielen neben anderen Faktoren intra-individuelle Konflikte eine wesentliche Rolle; auf die empirische Prüfung der Art, Funktion und Wichtigkeit dieser Konflikte bei der Genese und Therapie neurotischer Störungen beschränken sich die hier dargestellten, methodischen Überlegungen. Warum wird die Möglichkeit, die Rolle von Konflikten in einem komplexen Neurosenund Therapiemodell zu prüfen, gerade am Beispiel der in deutschsprachigen Gebieten noch wenig bekannten „Leningrader Schule", der „pathogenetischen Psychotherapie" nach Mjasiscew, dargestellt? Erstens ist dieser Ansatz für andere in sofern repräsentativ, als er jene „Allgemeingültigkeit a posteriori" beansprucht, die die empirische Überprüfung tiefenpsychologischer Theorien so schwer m a c h t ; auch sind die wesentlichen inhaltlichen Aussagen anderer Schulen unschwer in seine Sprache zu übertragen, weil er lediglich eine Struktur anbietet, in die konkrete Inhalte individuell erst eingefügt werden können und müssen (Mjasiscew kannte die tiefenpsychologischen Theorien seiner Zeit). Zweitens ist die primär inhaltsfreie Struktur der sozialpsychologisch orientierten „pathogenetischen Psychotherapie" klar und übersichtlich; sie bietet sich der empirischen Überprüfung durch die primär ebenfalls inhaltsfreie und ebenfalls sozialpsychologisch begründete Konfliktmessung strukturell als Beispiel geradezu an. Der Kurzdarstellung der hier wichtigen Merkmale des pathogenetischen Ansatzes sei vorausgeschickt, daß dieser Ansatz eine große (wohl bald dominierende) Bedeutung als die theoretische Grundlage der sowjetischen Einzel- und Gruppentherapie hat ( D F G , 1986), in die auch die westlichen Therapiemethoden gut integriert werden können. Weil er darüberhinaus den Menschen nicht als Einzelperson, sondern als Zentrum seiner verschiedenartigen Bezüge zur sozialen Umwelt begreift, geht er bereits von systemischen Zusammenhängen aus und muß diese nicht als Verkomplizierung der Ausgangsannahmen erst hinzufügen.
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Die Persönlichkeit als ein System von Bezügen Die „pathogenetische", tiefenpsychologisch/sozialpsychologisch orientierte Theorie zur Erklärung der Entstehung und Therapie von neurotischen Störungen wurde von Wladimir Nikolajewic Mjasiscew (bis zu seinem Tode 1973 Leiter des Leningrader Bechterew Instituts) entwickelt. Mjasiscew richtet die Aufmerksamkeit des Psychotherapeuten auf die Persönlichkeit und die vielfältigen Bezüge des Menschen - wobei das System seiner Bezüge bereits die Persönlichkeit darstellt. Worin besteht Mjasiscews Ansatz im Wesentlichen? Seine Schriften wurden bislang nicht ins Deutsche übertragen; die Darstellung seiner Theorie und Therapie stützt sich deshalb im Wesentlichen auf die Darstellungen von Lauterbach (1978) und Hartmann (1987), die sich ihrerseits auf umfängliche Originalliteratur, darunter auf Mjasiscew (1960) und Karvasarskij (1985) stützen (vgl. auch die sowjetischen Beiträge in Höck (1981)). Der wichtigste, ja universelle Begriff der sozialpsychologischen Persönlichkeits-, Neurosenund („pathogenetisch" genannten) Therapietheorie von Mjasiscew ist der der „Otnoscenije" (pl.-ija: Beziehung, Verhältnis, Zusammenhang, Hinsicht), der hier mit „ B e z u g " übersetzt wird. Als „ B e z ü g e " gelten alle Einstellungen, Werte und Bezüge, die den Menschen, das Subjekt, mit Objekten verbinden — nämlich mit seiner sozialen, dinglichen und kulturellen Umwelt, sowie mit sich selbst. Der generelle Begriff differenziert sich, wenn die Art des Bezugs inhaltlich konkretisiert wird und bestimmte Komponenten, Teilbezüge und Aspekte hervorgehoben werden. Wesentliche Bezüge eines Menschen sind seine affektiven, familiären, sozialen, beruflichen usw. Beziehungen. Doch sind in diesem System nicht nur die zwischenmenschlichen Bezüge wichtig. Persönlich wichtige Bezüge hat die Persönlichkeit auch zu kulturellen und gesellschaftlichen Werten, Normen und Zielen, zu Begriffen wie Leistung, Pflicht, Hobby, Bedürfnisse, Interessen, Familie etc. Mit anderen Worten, zu allen Aspekten des menschlichen Lebens kann die Persönlichkeit einen Bezug entwickeln. Bedürfnisse sind beispielsweise deshalb Bezüge, weil alle Grundbedingungen eines Bezugs erfüllt sind: es gibt ein Subjekt, das ein Bedürfnis hat, ein Objekt, auf das das Bedürfnis gerichtet ist und eine Verbindung zwischen ihnen, einen Bezug zwischen Subjekt und Objekt. Den Bezügen schreibt Mjasiscew, wie ursprünglich auch Freud seinen Begriffen, eine bestimmte neuro-dynamische Struktur zu, die im Falle des Bedürfnisses erlebt wird als ein Sich-Hingezogen-Fühlen und als ein Sich-des-Objekts-BemächtigenWollens. Im Gegensatz zu manchen tiefenpsychologischen Theorien sind in dieser Persönlichkeitstheorie nicht bestimmte inhaltlich beschriebene (z. B . ödipale), sondern generell strukturelle Bezüge wesentlich. Inhaltlich gefüllt und analysiert werden die Bezüge nur im Einzelfall, nicht zur Darstellung des Persönlichkeitssystems als solchem. Das System der persönlichen Bezüge entwickelt sich aufgrund der Erfahrungen des Individuums und ist damit geprägt von den persönlichen und gesellschaftlichen Bedingungen. Dabei werden jedoch nicht alle möglichen Bezüge hergestellt, sondern das Individuum hebt einige Bezüge gegenüber anderen möglichen hervor — es selegiert sie, bevor es sie integriert. Die Aktivität des Individuums beschränkt sich nicht auf die Selektion und Bewertung der
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möglichen Bezüge, sondern es wirkt, auch aktiv auf seine Umwelt ein. es beteiligt sich an ihrer aktiven Gestaltung und damit auch seiner eigenen Struktur. Gesellschaftliche, kulturelle usw. Werte beeinflussen die Bildung und Selektion der individuellen Bezüge. Andererseits haben diesen Bezüge auch Einfluß auf die Wertungen und können sie verändern. Im Prinzip sind dem Individuum seine Bezüge bewußt und es ist sich seiner selbst bewußt. Das bedeutet aber nichl, daß wirklich alle inneren und äußeren Bezüge dem Individuum zu jeder Zeit klar bewußt sind oder waren. E s gibt verschiedene Grade der Bewußtheit von Bezügen; auch die noch nicht bewußten Bezüge sind wirksam und stehen in Wechselwirkungen mit den bewußten. Die Persönlichkeit des Menschen ist demnach ein in der Lebensentwicklung sich bildendes und veränderndes, in sich dynamisches, sich selbst bewertendes, in aktiver und selektiver Wechselwirkung mit seiner Umwelt stehendes System von mehr oder weniger bewußten Bezügen. Neurosen: Konflikte im System der Bezüge Neurosen sind im System der Bezüge begründet. Weil dieses System sich langsam entwickelt, sind auch seine Störungen, die Neurosen, entwicklungsgeschichtlich im Individuum begründet; traumatische Situationen begründen keine Neurose, können aber Unzulänglichkeiten im System der Bezüge deutlich werden lassen. Vor allem Konflikte sind Ursache von neurotischen Störungen. Wesentliche Konfliktsituationen entstehen daraus, daß wesentliche Bezüge in Widerspruch zueinander stehen, unvereinbar sind: konkret z. B . dadurch, daß Bedürfnisse, Forderungen, Wünsche nicht erfüllt werden, die Fähigkeiten der Person nicht ausreichen und die Widerstände der Umwelt zu groß sind, die Persönlichkeit Züge aufweist, die sie permanent in Schwierigkeiten bringen (sie ist zu aggressiv, zu anspruchsvoll, hypersensibel), oder dadurch, daß sie selbst oder ihre Umwelt Forderungen an sie stellen, die sie nicht erfüllen kann. Ist eine Person mit Erlebnissen oder Lebensumständen konfrontiert, die in Widerspruch zu ihren Fähigkeiten, Einstellungen, Bedürfnissen, Interessen oder sonstigen Bezügen stehen, so können im „Normal"fall die Widersprüche zu einer Erweiterung, Verbesserung und einer den Umständen angemessenen Neustrukturierung des Systems der Bezüge, zu einer Weiterentwicklung der Persönlichkeit, führen. Wenn es also der Person gelingt, ihren Konflikt produktiv zu lösen, dann werden die ursprünglich konflikthaften Erfahrungen in einer differenzierteren oder erweiterten Persönlichkeit aufgehoben, gelöst oder zumindest verringert. Wenn die Persönlichkeit die zur Bewältigung der Konflikte notwendigen Fähigkeiten jedoch nicht hat, oder wenn das Ausmaß der Probleme diese Fähigkeiten übersteigt, d. h. die betroffenen und zu modifizierenden oder zu differenzierenden Bezüge zu stabil, die Zahl und die Größe der zu lösenden Konflikte zu groß, oder die Fähigkeiten der Person und ihre Flexibilität zu gering sind, dann entsteht eine pathogene Situation, und das System der Bezüge ist und bleibt den Realitäten der Person unangemessen. Ein Konflikt führt also dann zu Störungen, wenn unter den gegebenen Umständen eine rationale, produktive Lösung nicht möglich ist und die Person ihre Bezüge (Einstellungen, Ansprüche etc.) auch nicht den Gegebenheiten anpassen kann.
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Zwar richtet, wie schon gesagt, Mjasiscew sein Interesse auf alle Bezüge des Patienten, doch für bestimmte Neurosearten erwartet er bestimmte Konfliktkonstellationen. Bei Neurasthenien erwartet er einen Widerspruch zwischen dem, was dem Individuum möglich ist, was es kann, und dem, was es selbst und was seine Umwelt von ihm erwarten, also einen Konflikt zwischen Anspruch und eigenen Kräften, der zunächst zur Verausgabung und dann Erschöpfung aller Kräfte führt. Hysterie ist für Mjasiscew Ausdruck für den Widerspruch zwischen den eigenen Wünschen, Absichten und Bedürfnissen und den realen Möglichkeiten, sie zu befriedigen; Zwangsneurose hingegen wird beherrscht vom Konflikt zwischen unvereinbaren inneren Tendenzen und Bedürfnissen, zwischen denen das Individuum dann oszilliert. Diese bemerkenswert konkreten Hypothesen scheinen allerdings weder überprüft zu sein noch auf die Therapie konkreten Einfluß auszuüben. Inhaltliche Thesen zu den Ursprüngen von Konflikten, etwa bezüglich bestimmter unbewußter Wünscheanden gegengeschlechtlichen Elternteil, werden in dieser Theorie nicht aufgestellt. Zusammenfassend ist eine Neurose nach Mjasiscew also eine psychogene Erkrankung, der Konflikte innerhalb der Persönlichkeit oder zwischen der Persönlichkeit und wichtigen Realitätsaspekten zugrunde liegen, und deren rationale und produktive Lösung mißlungen ist. Wichtige Mißerfolge und Verluste, unerfüllte wichtige Bedürfnisse führen in Verbindung mit der Unfähigkeit, eine rationale, produktive und nicht nur einseitig-subjektive Lösung zu finden, zu einer psychischen und physiologischen Desorganisation der Persönlichkeit. Ist Mjasiscews Neurosentheorie prüf bar? Mjasiscews Theorie von den verschiedenartigen Bezügen des Individuums und den lösbaren oder noch nicht lösbaren Konflikten zwischen ihnen ist sehr flexibel auf den einzelnen Therapiefall anwendbar und kann kaum in Widerspruch zu den individuellen Gegebenheiten eines Patienten treten; sie richtet lediglich das Augenmerk des Therapeuten auf die Rolle bestimmter Informationen und Konfliktmöglichkeiten, impliziert aber kein spezielles Therapeutenverhalten (wie etwa die Gesprächspsychotherapie). Deshalb kann sie gemeinsame theoretische Grundlage für eine Vielfalt von Therapiemethoden sein. Infolge dieser Eigenschaften hat die Theorie in der sowjetischen Psychotherapie eine starke Verbreitung erfahren, insbesondere auch als Grundlage für Gruppenpsychotherapie, in der Konflikte in den sozialen Bezügen sowohl erlebt als auch bearbeitet werden können. Hinzu kommt, daß Mjasiscews Neurose- und Therapietheorie auch gut geeignet ist, systemische Zusammenhänge zu beschreiben, also Konflikte, die sich infolge der wechselseitigen, konflikthaften Bezüge zwischen Personen in einer Gruppe oder einer Familie (!) entwickeln und „aufschaukeln", denn diese Persönlichkeiten sind bereits als die Summen ihrer Bezüge definiert, und es werden nicht individuell und bezugslos verstandene Persönlichkeiten erst miteinander in Beziehungen treten. Die therapeutisch-praktische Flexibilität impliziert natürlich, ähnlich wie die Flexibilität anderer tiefenpsychologischer Ansätze, daß die Theorie empirisch kaum prüfbar und damit wissenschaftlich wenig wert ist. Wenn die Konflikte einer Person, sowie deren Ausmaß, erst während der Therapie analysierbar sind, und solange es kein valides Außenkriterium außerhalb der therapeutischen Beziehung gibt, ist eine empirische Prüfung von
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Mjasiscews Theorie k a u m möglich. K o n f l i k t e finden sich bei jedem Patienten, aber auch bei j e d e m a n d e r e n ! Doch lassen sich aus dieser Neurosentheorie durchaus konkrete Vorhersagen (Hypothesen) ableiten, die p r ü f b a r wären. Die H y p o t h e s e n können sich beziehen auf Konfliktsiär/cen, sowie strukturelle Konüiktschwerpunkte (etwa bezüglich der K o n f l i k t e infolge übersteigerter Ansprüche an sich selbst). Zur Messung der K o n f l i k t s t ä r k e inhaltlich umgrenzter kognitiver Felder und ihrer Konfliktprofile erscheint eine Methode geeignet, deren Prinzip eben die Messung der Widersprüchlichkciten eines komplexen S y s t e m s vielfältiger Bezüge, also intra-individueller K o n f l i k t e ist ( L a u t e r b a c h , 1987). D a b e i geht es nicht um das Aufspüren von Problemen und K o n f l i k t t h e m e n — diese A u f g a b e ist nur in psychotherapeutischen Gesprächen zu lösen — sondern um die P r ü f u n g von Hypothesen durch Messung von vorgegebenen, potentiellen intra-individuellen Konflikten. Gemessen wird die relative, innere Widersprüchlichkeit der B e z ü g e oder Relationen in einem kognitiven Feld, dessen wesentliche B e s t a n d t e i l e in klinischen, systematischen Gesprächen ausgewählt wurden (gruppenzentriert oder idiographisch), und die die K o n f l i k t t h e m e n einer einzelnen Person oder die einer G r u p p e von Personen repräsentieren. Mit „ K o n f l i k t " sind d a b e i nicht widrige U m s t ä n d e oder feindliche Personen gemeint , sondern Ambivalenzen, AnnäherungsYermeidungskonflikte, Widersprüchlichkeiten und Unvereinbarkeiten zwischen den verschiedenen Bezügen einer Person (soweit sie in das kognitive Feld einbezogen wurden). An dieser Stelle sollen die methodischen Grundlagen der intra-individuellen Konfliktm e s s u n g und die /Konflikt-7est-/vonstruktionsmethode ( K T K ) nicht im Detail wiederholt werden ( L a u t e r b a c h , 1987). E s g e n ü g t , ihr Prinzip und ihre Verbindung zur Theorie von Mjasiscew, sowie deren wechselseitige E r g ä n z u n g darzustellen. Die B e r e c h n u n g von K o n f l i k t e n K o n f l i k t ist definiert als die relative Widersprüchlichkeit der Gedanken, Meinungen und Einstellungen innerhalb eines begrenzten, kognitiven Feldes. E i n kognitives Feld besteht aus einer Anzahl von Begriffsinhalten und den Wechselbeziehungen zwischen ihnen. Die B e g r i f f e sind vorstellbar als K n o t e n eines kognitiven Netzwerks, in dem jeder Begriff (oder K n o t e n ) mit jedem anderen durch zwei gerichtete Relationen verbunden ist. Natürlich spielen im L e b e n und Denken eines Menschen auch andere Begriffsinhalte eine Rolle, die nicht in die K o n f l i k t m e s s u n g einbezogen s i n d ; gemessen werden kann immer nur in einem Ausschnitt der R e a l i t ä t , in der Annahme, daß der Ausschnitt r e p r ä s e n t a t i v für d a s gemeinte G a n z e ist. In Abbildung 1 sind aus einem kognitiven Netzwerk beispielhaft drei Begriffe und ihre Relationen herausgenommen u n d inhaltlich bezeichnet : „ I c h " , d. h. die befragte Person selbst, „ S c h w a n g e r s c h a f t " und „ S e l b s t v e r w i r k l i c h u n g " (in einem S c h w a n g e r s c h a f t s F r a g e b o g e n genauer definiert als „ d a s S t r e b e n nach Verwirklichung eigener F ä h i g k e i t e n , B e d ü r f n i s s e u n d I d e a l e " ) . In dieser Triade von Begriffen sind sechs Relationen möglich (durch die Pfeile angedeutet), die die Einstellungen der Person zu den j e zwei Begriffen, sowie ihre Meinung zu deren Einflüssen aufeinander darstellen. Die Einstellungen und Meinungen werden im F r a g e b o g e n erfragt, sind als s u b j e k t i v wertende Einstellung (Nr. 1
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A
Schwangerschaf f
// \ y/t // jc/1 -m—
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,
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Selbstveruirklichung
Abb. 1. Die zwischen drei Begriffen möglichen Relationen, sowie ihre Formulierung in F r a g e f o r m : 1: Ist das Erleben einer Schwangerschaft für eine F r a u ein anzustrebendes oder abzulehnendes Ziel? 2 : W ä r e eine derzeitige Schwangerschaft für mich eher bereichernd oder belastend? 3 : Würde sich eine Schwangerschaft bereichernd oder belastend auf meine Selbstverwirklichung auswirken ? 4 : Wie würde sich meine Art der Selbstverwirklichung auf das Erleben einer Schw angerschaft auswirken? (bereichernd/belastend) 5 : Strebe ich Selbstverwirklichung an oder lehne ich sie ah? 6 : Habe ich die Möglichkeit zu Selbstverwirklichung oder wird sie verhindert? Die Antworten werden auf einer kontinuierlichen, vom negativen zum positiven Pol reichenden S k a l a angekreuzt.
und 5) oder als wertneutrale Meinung über den Einfluß des einen Begriffs auf den anderen formuliert. (Lauterbach, 1988) Die Richtung und Ausprägung der Relationen weiden von den Befragten auf einer kontinuierlichen Antwortskala mit einem negativen und positiven Pol angegeben. Im wertneutralen Sinn „negative" Einflüsse sind: belasten, einschränken, verhindern, ausschließen usw.; „positive" Einflüsse sind: bereichern, erweitern, fördern, zu etwas führen usw. Wertneutral bedeutet, daß z . B . „verhindern" immer als negative Relation angesehen wird — unabhängig davon, ob jeweils „ I c h " diese Verhinderung gut oder schlecht findet. (Die Uberzeugung „Eine Uberdosis Heroin führt zum Tod" meint eine positive Relation zwischen den Begriffen „Überdosis" und „Tod".) Wie die wertneutral erfaßte Relation von der Person bewertet wird, ist dennoch bekannt und wird berücksichtigt, weil die affektive Einstellung der Person zum beeinflußten Begriff ebenfalls erfragt worden ist (erwünschte/ unerwünschte Relationen, vgl. Lauterbach, 1987). Die Widersprüchlichkeit oder Unvereinbarkeit der Antworten auf diese Fragen ergibt sich im triadischen Vergleich von je drei Einstellungen und Meinungen. Ein Beispiel aus dem Thema „Schwangerschaftskonflikt": „ I c h " empfinde das Erleben von „Schwangerschaft" als etwas positives (positive Relation); „ I c h " strebe auch „Selbstverwirklichung" an (ebenfalls eine positive Relation). Wenn „ I c h " nun meine, daß „Schwangersein" die „Selbstverwirklichung" erweitert (positive Relation), dann ist diese Triade in sich psycho-logisch widerspruchsfrei; wenn „ I c h " hingegen meine, daß „Schwangerschaft" die „Selbstverwirklichung" eher einschränkt (negative Relation, wie in Abb. 2 notiert), dann ist dieser triadische Ausschnitt des kognitiven Systems in sich psycho-logisch widersprüchlich, also ein Konfliktefcmmi. E s ist, generell gesagt, für eine Person („Ich") widerspruchs/rei zu meinen, daß zwei von ihr als negativ bewertete Begriffsinhalte sich gegenseitig fördern („Kriminelle und Drogenhändler helfen einander"), aber es enthält kognitiven Konflikt zu meinen, daß zwei ne-
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gativ bewertete Begriffsinhalte einander hemmen („Prostitution verringert die Zahl der Vergewaltigungen"). Es ist auch widerspruchsfrei zu meinen, daß zwei positiv verbundene Begriffsinhalte einen dritten befürworten („Beide Ehepartner befürworten einen Urlaub an der Ostsee"), aber es enthält ein Konfliktelement zu sehen, daß sie widersprüchliche Ziele haben („Der Ehemann möchte Geld für den Kauf eines Autos zurücklegen, die Frau ist dagegen"), oder auch, daß zwei negativ aufeinander bezogene Begriffrinhalte gegen einen dritten sind („Zwei Erzfeinde kämpfen gemeinsam gegen einen Dritten"). Schwangerschaft
Selbstverwirklichung
Abb. 2. mi
.
.
Eine im Sinne Heiders (1946, 1958) imbalancierte Triade . .
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t zwei positiven und einer negativen Relation
Die Vielfalt der möglichen Konstellationen verwirrt. Was ist den konflikthaften Kognitionen gemeinsam und worin unterscheiden sie sich von den widerspruchsfreien? In der gestaltpsychologisch beeinflußten Sozialpsychologie hat der Autor des Triadenmodells, Fritz Heider (1946, 1958), diese Frage mathematisch beantwortet: Wenn die Anzahl der negativen Relationen einer Triade von Kognitionen und Einstellungen ungerade (also 1 oder 3) ist, dann ist die Triade psycho-logisch widersprüchlich (oder imbalanciert). Ist die Anzahl der negativen Relationen nicht ungerade (also 0 oder 2), dann ist die Triade psychologisch widerspruchsfrei (oder balanciert). Mit diesem formalen Modell läßt sich — unabhängig von den Inhalten — feststellen, ob die Einstellungen und Meinungen in sich widersprüchlich oder widerspruchsfrei sind. In einem kognitiven Netzwerk aus n (z. B . 10) Begriffen sind n (n — 1) (also z. B . 90) Relationen möglich, aus denen n(n — l) (n — 2) (also z. B . 720) Triaden gebildet werden können. Jede der Triaden kann widerspruchsfrei oder aber widersprüchlich sein. Das Ausmaß an Widersprüchlichkeit (Imbalance, i) einer Triade wird berechnet durch Multiplikation der Ausprägung der drei beteiligten Relationen (die Ausprägung gibt an, wie stark — nach Meinung der befragten Person — ein Begriffsinhalt den anderen positiv oder negativ beeinflußt) und der (ebenfalls erfragten) subjektiven Wichtigkeit der Begriffe der Triade. Auf die gleiche Weise wird das Ausmaß der Balance (b) einer in sich widerspruchsfreien Triade berechnet. Die Summen der so berechneten Imbalancen (I) und Balancen (B) einer kognitiven Struktur aus vielen Triaden werden dann zueinander in Beziehung gesetzt, um die in dieser Struktur insgesamt enthaltene relative Widersprüchlichkeit, d. h. ihren Konflikt (C) zu berechnen: C = I/(B + I) Derj Konfliktwert C kann zwischen C = 0,00 (für 'absolute Widerspruchsfreiheit) und C = 1,00 (für maximale Widersprüchlichkeit) variieren. Auch für Teilmengen der kognitiven Strukturen sind Konfliktwerte zu berechnen. Neben dein Konfliktwert der Gesamtstruktur ist besonders wichtig der Konfliktwert, den jedes
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der Elemente (also jeder Begriff) in die Struktur einbringt, denn damit können inhaltliche Konfliktschwerpunkte im kognitiven Feld identifiziert werden. Noch detaillierter lassen sich Konfliktwerte berechnen für die vermuteten Auswirkungen eines Begriffs auf alle anderen, für die Einflüsse, denen ein Begriff von Seiten der anderen unterliegt oder auch für den Konflikt, den eine einzelne Meinung oder Einstellung in das kognitive Feld einbringt. Auf diese Weise läßt sich für eine Person aufgrund ihrer Antworten in einem Fragebogen vom Computer eine detaillierte Konfliktanalyse für ein kognitives Feld erstellen und in Matrizenform ausdrucken. Vergleich des Konflikttest-Modells mit der Neurosentheorie der Bezüge Die Aussagen der Persönlichkeits-, Neurosen- und Therapietheorie von Mjasiscew stimmen in ihren wesentlichen Teilen mit den theoretischen Grundlagen der Konflikt-Test-Konstruktionsmethode ( K T K ) überein. S t a t t von „Bezügen" spricht man in der K T K von „Relationen". In Konflikttests gemessen werden vor allem Ambivalenzen, Widersprüche, Annäherungs-Vermeidungskonflikte und Unvereinbarkeiten. Im erweiterten, umgangssprachlichen Sinne meint man mit „Konflikten" aber auch eindeutig negativ bewertete Umstände, Hindernisse, Verluste, deren Ablehnung keine (Ambivalenz-) Konflikte im engeren Sinne beinhalten. Solche Konflikte spielen in Mjasiscews Neurosentheorie ebenfalls eine Rolle. In dem Modell der K T K werden sie in den sogenannten Ich-Dyaden erfaßt (Lauterbach, 1988), in denen sich Widersprüche zwischen dem Soll und dem Ist, der wertenden Einstellung und der Realität einer Person bezüglich eines Begriffsinhalts widerspiegeln. Der wichtigste Begriff in jedem kognitiven Feld ist „ I c h " , die befragte Person selbst; ihre Bezüge zu den übrigen Begriffen werden erfragt. Wie sehr diese Bezüge zueinander in Widerspruch stehen, wird hier nicht vom einfühlsamen Therapeuten, sondern im Rahmen des kognitiven Feldes vom „psycho-logischen" Modell der K T K , letztendlich vom Computer, festgestellt und quantifiziert. Die Einschränkung „im Rahmen des kognitiven Feldes" ist keine geringe; durch sie wird die Objektivität der Konfliktmessung erkauft, und im Rahmen von hypothesenprüfender Forschung ist sie akzeptabel. Die Konflikte der Persönlichkeit als der Gesamtheit aller Bezüge zu messen, kann sie nicht beanspruchen. Zwar werden im Gegensatz zu der Selektivität der Bezüge einer Person im Modell der K T K zwischen allen Begriffen Bezüge hergestellt und erfragt, doch kann die Person Bezüge als schwach oder nicht existent beschreiben, sie kann auch Begriffen des kognitiven Feldes eine für sie nur geringe subjektive Wichtigkeit zuschreiben, womit deren Einfluß auf den gemessenen Konfliktwert entsprechend reduziert wird. Die K T K setzt ebensowenig wie Mjasiscews Theorie voraus, daß alle Bezüge jederzeit bewußt, wohl aber, daß sie auf Anfrage bewußtseinsfähig und beantwortbar sind. Konflikte infolge nicht bewußtseins/a/uger Bezüge entgehen ihr. Nicht vorausgesetzt wird von der K T K , daß die Widersprüchlichkeit der Bezüge bewußt oder auch nur bewußtseinsfähig ist. Weil es nicht der Zweck dieses Artikels ist, Hypothesen aus Mjasiscews Neurosentheorie der Bezüge abzuleiten oder Versuchspläne zu ihrer Überprüfung zu entwickeln, soll nur auf einige Möglichkeiten hingewiesen werden.
Lauterbach, Zur Theorie neurotischer Konflikte
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Wenn Mjasiscews Annahme richtig ist, daß zwischen den Bezügen (otnoscenija) von Neurose-Patienten mehr oder stärkere Widersprüche bestehen, als bei nicht-Patienten, dann sollten bei ihnen höhere Konfliktwerte zu messen sein. In einer Reihe von Untersuchungen konnte bereits bestätigt werden, daß Gruppen mit erhöhtem Lebensstreß bedeutend höhere Kopfliktwerte aufwiesen (Lauterbach, 1987). Die Neurosentheorie impliziert auch, daß die Patienten unter der nicht aufhebbaren Widersprüchlichkeit ihrer Bezüge leiden; auch dieser Zusammenhang kann geprüft werden. In mehreren Untersuchungen wurde bereits ein sehr deutlicher, negativer Zusammenhang zwischen Konflikthöhe und emotionalem Wohlbefinden festgestellt (Lauterbach, 1975, 1987). Die o. e. spezifischen Hypothesen über die Rolle besonderer Konfliktarten bei Neurasthenikern etc. lassen sich mit Konflikttests, in denen Konfliklschwerpunkte auch hinsichtlich bestimmter Bezüge meßbar sind, gegen Altemativ-Hypothesen prüfen. Aus den sozialpsychologisch-kognitiven Annahmen der K T K ergeben sich ferner Hypothesen und Möglichkeiten, die die pathogenetische Therapie methodisch bereichern könnten; eine der in der sozialpsychologischen Forschung bestätigten Hypothesen besagt, daß inkonsistente, also mit den übrigen in Widerspruch stehende Bezüge, nicht nur Spannung verursachen, sondern sich auch leichter verändern (lassen), also instabiler sind. Aus einem, die Konflikthaftigkeit einzelner Bezüge differenzierenden Konflikt profil wäre demzufolge abzulesen, welche Bezüge (bezogen auf das kognitive Feld) stabil (d. h. konfliktfrei) und welche instabil sind. Bezüge, die (unangemessen und) instabil sind, sollten sich leichter therapeutisch ändern lassen, als stabile, während stabile (unangemessene) Bezüge vielleicht zunächst durch die Veränderung anderer Bezüge destabilisiert werden müssen, bevor sie therapeutisch veränderbar sind. Aus den Konfliktuntersuchungen der vergangenen Jahre haben sich therapierelevante Ergebnisse und Fragestellungen ergeben, doch fehlte eine psychotherapeutische Theorie zur Ableitung therapeutisch integrierter Hypothesen, eine Theorie, also, wie sie mit Mjasiscews Modell gegeben scheint. Eine Kooperation zwischen Konflikt-Therapeuten und Konflikt-Forschern steht noch aus. Zusammenfassung Viele tiefenpsychologische Theorien über die Entstehung und Therapie von neurotischen Störungen lieben die Bedeutung von intra-individuellen Konflikten hervor, doch sind ihre Hypothesen empirisch meist nicht testbar. Die sozialpsychologisch begründete, tiefenpsychologische Theorie der „Leningrader Schule" der Psychotherapie nach W. N. Mjasisöew (Lauterbach, 1978) sieht in Konflikten zwischen den Bezügen des Menschen zu seiner sozialen, dinglichen und kulturellen Umwelt die Ursachen für Neurosen. An dieser Persönlichkeits-, Neurosen- und Therapietheorie wird gezeigt, wie Hypothesen über die neurotisierende Rolle von intra-iudividuellen Konflikten niil Ililfe von Konflikttests (Lauterbach, 1987) geprüft werden können.
Summary Most psycho-dynamic theories eniphasize the role of intra-personal conflicts iu the aetiology and therapy of neurotic disorders, lmt very few can be enipirically tesled. Tlie social psychological and psychodynamic "pathogenetic" theory of the "Leningrad School" of psychotherapy according to Mjasisöew (Lauterbach,
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1984) maintains that conflicts between a person's.relations with his social, material and cultural environment m a y be the cause of his neurosis. This theory is used to demonstrate that psychodynamic hypotheses about the role of intra-personal conflicts can be empirically tested with the help of " t e s t s of conf l i c t " (Lauterbach, 1987).
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HceHHio. Ha 6a3e aToil TeopHH jih^hocth, HeBposoB h hx :ieqennH noKa3tiBaeTCH, KaK c noMombio TecTa koh(J)jihktob (JlayTepSax, 1987) mojkho npoBepHTb rnnoTe:3i,i o neBpoTii3npyiomeft pojin iiHTpanH^HBHJlyajItHUX KOH(|lJIHKTOB. Literatur D F G : Bericht an die Deutsche Forschungsgemeinschaft über einen wissenschaftlichen Aufenthalt in der U d S S R im Rahmen der Vereinbarung über die wissenschaftliche Zusammenarbeit (Th. K u s s m a n n , D. Schulte, W. Lauterbach, 0 . Ewert). 1986. Hartmann, K . : Gruppenpsychotherapie in der Sowjetunion: Grundlagen, Anwendung, Einordnung. Diplomarbeit im F B Psychologie der Universität. Trier 1987. Heider, F . : Attitude and cognitive organization. J . Psychol. 2 (1946) 107—112. Heider, F . : The Psychology of Interpersonal Relations. New Y o r k : Wiley & Sons 1958. (Deutsch: Psychologie der Interpersonalen Beziehungen. S t u t t g a r t : Klett 1977). Höck, K . (Hrsg.): Referate des II. Gruppentherapeutischen Symposiums 1981, Sonderheft 9/81. Berlin 1981. K a r v a s a r s k i j , B . D . : Psichoterapija. Leningrad: Medicina 1985. Lauterbach, W.: Psychotherapie in der Sowjetunion. Methoden und Perspektiven. München: Urban & Schwarzenberg 1978 (Soviet Psychotherapy, Oxford: Pergamon 1984). Lauterbach, W.: Covariation of Conflict and Mood in Depression. Br. J . Soc. Clin. Psychol. 14 (1975) 49-53. Lauterbach, W.: Intra-individuelle Konfliktmessung. Diagnostica 33 (1987) 319—338. Lauterbach, W . : Die Konstruktion von Konfliktfragebögen. Arbeiten aus dem Institut für Psychologie der J.-W.-Goethe-Universitüt. Frankfurt/M. 1988. Mjasisöew, W. N . : Liönost i nevrosy (Persönlichkeit und Neurosen). Leningrad 1960. Eingegangen am 11. 4. 1988 Anschr. d. Verf.: Prof. Dr. W. Lautcrbach Institut für Psychologie der J.-W.-Goethe-Universität Georg-Voigt-Str. 8, D - 6000 Frankfurt/M. 11
V E B J . A. Barth. Leipzig
Z. Psycho!. 197 (1989) 97-107 Aus dem Institut für Psychologie der Universität Regensburg
Ein dynamisches Modell der Lautheitsadaptation Yon R. Hübner Mit 3 Abbildungen
Einleitung Betrachtet man die bis jetzt erbrachten Ergebnisse zur Lautheitsadaptation, dann zeigt sich ein sehr heterogenes Bild. Eine Vielzahl verschiedener Methoden ist angewendet worden, um den Verlauf der Adaptation zu ermitteln. Aber anstatt mehr Klarheit zu schaffen, führte jede Methode zu eigenen Besultaten, die untereinander kaum vergleichbar sind und sich z. T. widersprechen (für eine Übersicht siehe Elliot und Fräser, 1970; Scharf, 1983; Small, 1963). Eine der ältesten dieser Methoden ist die simultane dichotische Lautheitsjustierung (siniuhaneous dichotic loudness balance) (SDLB). Sie wurde lange Zeit bevorzugt, weil dabei keine Unterbrechung des adaptierenden Reizes erforderlich ist. Von dieser Methode gibt es mehrere Varianten. Eine ist die wiederholte S D L B (rSDLB) Methode. Sie wurde von Hood (1950) eingeführt und sei an einem Beispiel erläutert. unadaptierte Periode
adaptierende Periode
r n n i—
Testohr
n n n n n,n n
Vergleiehsohr
Zeit
Abb. 1. Schematische Darstellung der „repeated simultaneous dichotic loudness banlance" (rSDLB-Methode)
Einem Ohr (Testohr) wird ein Schallreiz (Testreiz) mit einer bestimmten Intensität dargeboten. Dem anderen Ohr (Vergleichsohr) wird ein Reiz (Vergleichsreiz) dargeboten, der so eingestellt werden soll, daß Test- und Vergleichsreiz gleich laut sind (s. Abb. 1). Von kurzen Pausen unterbrochen wird dieser Vorgang mehrmals wiederholt. Ein normalhöriger Proband stellt in der Regel für den Vergleichsreiz dieselbe Intensität ein wie die des Testreizes. Der Testreiz wird nun nicht mehr unterbrochen (Adaptationsperiode), während der Vergleichsreiz periodisch wiederkehrt, wobei jedesmal eine Einstellung des Vergleichsreizes erfolgt. Nach einiger Zeit wird dann der Proband für den Vergleichsreiz eine geringere Intensität einstellen. Die Intensitätsdifferenz zwischen Test- und Vergleichsreiz wird dann als Maß für die bis dahin erfolgte Adaptation genommen. In Abbildung 2 sind zwei Verlaufskurven dargestellt, die mit dieser Methode von Hood (1950) erhoben wurden. Sie machen deutlich, daß die Adaptation im Verlaufe der Zeit einen asymptotischen Zustand erreicht, der von der Intensität des Testreizes abhängt. 7
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10
40 dB
20 dB
-O
3
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50
2 3 4 Dauer in Minuten
5
Abb. 2. Verlauf der Lautheitsadaptation bei Testreizen mit 40 und 80 dB (SPL) (nach Hood, 1950). Erhebung der Daten mit der rSDLB-Methode
E i n e andere V a r i a n t e der S D L B - M e t h o d e e r l a u b t den P r o b a n d e n während der A d a p t a tionsperiode nur a m E n d e eine J u s t i e r u n g ( s S D L B ) . Man würde erwarten, d a ß das Ausm a ß der e r m i t t e l t e n A d a p t a t i o n m i t dieser V a r i a n t e ähnlich ausfällt. Dies ist a b e r n i c h t der F a l l . W i e E x p e r i m e n t e zeigen, ist die A d a p t a t i o n wesentlich geringer als bei der r S D L B Methode. F e r n e r wurde eine U n a b h ä n g i g k e i t von der D a u e r der Adaptationsperiode gefunden (vgl. F r ä s e r und E l l i o t , 1 9 7 0 ; P e t t y , F r ä s e r und E l l i o t , 1 9 7 0 ; S t o c k i n g e r und S t u d e b a k e r , 1 9 6 8 ; S t o k i n g e r , Cooper und Meissner, 1 9 7 2 ) . S t o c k i n g e r und S t u d e b a k e r (1968) haben die r S D L B - M e t h o d e mit der s S D L B - M e t h o d e bei Verwendung eines Testreizes mit einer F r e q u e n z von 1 0 0 0 Hz und 8 0 d B ( S P L ) verglichen. Die r S D L B - M e t h o d e führte zu einer A d a p t a t i o n von 2 6 d B im Gegensatz zu nur 13 d B bei der s S D L B - M e t h o d e . Als Ursache für diese Differenzen werden die häufiger a u f t r e t e n d e n Vergleichsreize b e i der r S D L B angesehen. Diese E r g e b n i s s e h a b e n die V e r m u t u n g nahegelegt, daß das A u s m a ß der A d a p t a t i o n v o n der D a u e r der Reizung im k o n t r a l a t e r a l e n O h r a b h ä n g t . Ahaus, S t o k i n g e r und W y l d e (1975) h a b e n speziell diese V e r m u t u n g e x p e r i m e n t e l l überprüft. S i e verwendeten einen Testreiz m i t 1 0 0 0 H z und 6 0 d B ( S P L ) . Die Adaptationszeit betrug 5 min. Variiert wurden die An-Aus(on-off)-Zeiten
des
Vergleichsreizes
(in m s : 2 0 0 : 2 0 0 , 5 0 0 : 5 0 0 ,
800:800,
2 0 0 : 8 0 0 und 8 0 0 : 2 0 0 ) . Die E r g e b n i s s e zeigen, daß mit zunehmendem A n - A n t e i l auch die A d a p t a t i o n zunahm. B e i einem A n - A n t e i l von 2 0 % betrug sie im D u r c h s c h n i t t 14 d B und bei 8 0 % 2 8 d B . Diese und ähnliche Ergebnisse führten zu der H y p o t h e s e , daß L a u t h e i l s a d a p t a t i o n nur bei simultaner k o n t r a l a t e r a l e r Reizung s t a t t f i n d e t . U m dies nachzuweisen, wurde n a c h Verfahren gesucht, die eine I n t e r a k t i o n zwischen Test- und Vergleichsohr ausschließen. E i n e Möglichkeit ist, monaurale Methoden dafür zu verwenden. E i n e monaurale Methode, die in jüngerer Zeit häufig angewendet wurde, ist das sogenannte „successive magnitude e s l i m a t i o n " ( S M E ) . S o h a t t e n in den E x p e r i m e n t e n von F i s h k e n , Arpiño, T e s t a und S c h a r f (1977) und S c h a r f und H o r t o n (1978) die P r o b a n d e n zu b e s t i m m ten Zeiten innerhalb einer 2 - bis 3minütigen D a r b i e t u n g der R e i z e so Zahlen zu n e n n e n , d a ß sie deren L a u t h e i t wiedergaben. W i e e r w a r t e t , k o n n t e bei I n t e n s i t ä t e n von m e h r als 3 0 d B ( S L ) u n g e a c h t e t der F r e q u e n z keine A b n a h m e der L a u t h e i t nachgewiesen werden. Die S M E - M e t h o d e b i e t e t auch die Möglichkeit, monaurale R e i z d a r b i e t u n g e n mit binauralen zu vergleichen. S o b e r i c h t e t S c h a r f (1983) von Ergebnissen, wonach mit der S M E Methode bei m o n a u r a l e r D a r b i e t u n g keine A d a p t a t i o n bei Reizen mit einer I n t e n s i t ä t
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von mehr als 30 dB (SPL) nachgewiesen werden konnte. B o t man jedoch dem kontralateralen Ohr einen durch Pausen unterbrochenen Reiz (I-Reiz) — ähnlich wie bei der s S D L B Methode — dar, so führt das auch bei intensiveren Testreizen zu Adaptation. Im Zusammenhang mit diesen Ergebnissen wurde von Botte, Canevet und Scharf (1982) der Begriff der induzierten Lautheitsadaptation geschaffen. Danach wird eine Lautheitsadaptation durch einen kontralateralen Reiz über zentrale Mechanismen induziert. Ein der induzierten Lautheitsadaptation allerdings widersprechendes Ergebnis brachte ein Experiment von Canevet, Scharfund Botte (1983). Sie boten einen Testreiz mit 1000 Hz und 60 dB (SPL) zusammen mit einem I-Reiz für 3 min dar. Dann wurde der I-Reiz abgeschaltet und 20 s später der Testreiz kurz für 30 s unterbrochen, um danach ohne den I-Reiz bis 8 min fort gesetzt zu werden. Nach der Unterbrechung des Testreizes war eine vollständige Erholung von der Adaptation zu verzeichnen. Allerdings setzte sie dann bei der Fortsetzung des Testreizes wieder ein, obwohl jetzt kein I-Reiz mehr vorhanden war. Nach Canevet und Mitarb. (1983) ist die Readaptation auch dann vorhanden, wenn die Pause 2 min beträgt. Gegen die These der induzierten Laulheitsadaptation sprechen auch Ergebnisse, die zeigen, daß Adaptation nicht nur bei einer unterbrochenen kontralateralen Reizung auftritt, sondern auch bei ipsilateraler Reizveränderung. Weiler, Sandman und Pederson (1981) haben argumentiert, daß das Ausbleiben der Adaptation bei der SME-Methode auf das Fehlen eines Referenzreizes zurückzuführen sei und nicht auf eine binaurale Interaktion. Um dies zu erhärten, haben sie einen Reiz mit einer Intensität von 60 dB (SPL) und einer Frequenz von 1000 Hz monaural dargeboten. Alle 30 s wurde die Intensität für 5 s um 20 dB erhöht. Die Probanden hatten anhand von SME die Lautheit des Reizes vor, während und nach der Intensitätserhöhung zu beurteilen. Als Ergebnis zeigte sich eine signifikante Adaptation, im Gegensatz zur Kontrollbedingung ohne Intensitätserhöhung. Weiler und Cobb (1982) variierten die Dauer der Intensitätserhöhung um 20 dB von 0,5 über 1—5 s. Zwischen den Erhöhungen lag ein Zeitraum von ca. 25 s. Eine signifikante Adaptation ergab sich hier nur bei einer Erhöhungsdauer von 5 und 1 s. Mit dem Fehlen eines Referenzreizes als Ursache für das Fehlen der Adaptation bei der SME-Methode argumentieren auch Hood und Wade (1982), die mit einer ähnlichen Methode wie Weiler und Cobb (1982) Adaptation nachgewiesen haben. Auch Canevet et al. (1983) haben gezeigt, daß eine regelmäßige, kurzfristige Erhöhung der Intensität eines monaural dargebotenen Reizes zu einer Adaptation führt. Sie erhöhten einen Reiz mit 1000 Hz und 60 dB (SPL) alle 30 s für 1 oder 5 s auf 65 oder 80 dB (SPL). In allen Bedingungen zeigte sich Adaptation. Sie nahm sowohl mit der Dauer der Erhöhung als auch mit der Größe der Erhöhung zu. Damit haben sie die Ergebnisse von Weiler und Cobb (1982) bestätigt. Eine Reihe- weiterer Bestätigungen lassen sich anführen (vgl. z. B. Canevet, Scharf und Botte, 1985; Charron und Botte, 1987; Sandman, Weiler und Pederson, 1982). Durch diese verschiedenen Interpretationen der Ergebnisse wird deutlich, daß hinsichtlich der verwendeten Maße ein Validitätsproblem besteht. Bei allen, durch die verschiedenen Methoden bedingten Maßen wird von Adaptation gesprochen. Ob aber alle Maße tatsächlich mit einer Lautheitsveränderung in Zusammenhang stehen, ist fraglich, be-
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100
sonders bei der SME-Methode, worauf auch Weiler und Mitarb. (1981) hinweisen. Verschiedene Ergebnisse scheinen die Hypothese zu unterstützen, daß sich durch eine Darbietung von kontralateralen Reizen oder durch ipsilaterale Intensitätsveränderungen die Beurteilungsgrundlage ändert, zumal die SME-Methode hohe Ansprüche an die Probanden stellt. Die Frage, ob eine Variation der Reizintensitäten oder eine kontralaterale Reizung als Auslöser für eine Adaptation angesehen werden können, oder ob sie lediglich eine notwendige Beurteilungsgrundlage für die Probanden darstellen, kann nicht unabhängig von einer Definition des Begriffs „Adaptation" beantwortet werden. Da dies ein quantitativer Begriff ist, kann er letztendlich nur exakt durch eine Meßvorschrift definiert werden. Diese soll im Rahmen der Meßtheorie durch die Angabe eines meßtheoretischen Modells in der vorliegenden Arbeit angegeben werden. Da es zur Beschreibung der Lautheitsadaptation angemessen ist, ein dynamisches Modell anzugeben, die Meßtheorie dafür aber noch keine Strukturen zur Verfügung stellt, wurde sie von Hübner (1989) entsprechend erweitert. Mit dieser neuen Definition ist noch ein weiterer Vorteil verbunden, der deutlich wird, wenn man die vorhandene Literatur zur Lautheitsadaptation betrachtet. Dabei ist nämlich ein Mangel an formalen, insbesondere an dynamischen Modellen für die Lautheitsadaptation zu entdecken. Normalerweise ist es angebracht, bei der Modellierung dynamischer Vorgänge systemtheoretische Methoden zu verwenden. Allerdings treten dabei in der Psychologie Schwierigkeiten auf, weil von den Ein- und Ausgabemengen des zu modellierenden Systems bestimmte Eigenschaften gefordert werden, die nur schwierig zu überprüfen sind. Hübner (1989) hat deshalb eine Methode entwickelt, mit der auf meßtheoretischer Grundlage allein mit Hilfe des Paarvergleichs auf der Menge der Eingabefolgen bestimmte lineare Systeme identifiziert werden können, und die diese Schwierigkeiten beseitigt. Ein meßtheoretisches Modell Das Modell beruht auf einer Verallgemeinerung des additiv verbundenen Messens. Hier soll nur der für diese Arbeit relevante Spezialfall betrachtet werden (für die Details siehe Hübner, 1989). Es wird hypostasiert, daß die zum Zeitpunkt t empfundene Lautheit von der Intensität des Reizes zum Zeitpunkt t und von der Intensität der Reize zu früheren Zeitpunkten t— 1, t—2, ... , t—{n—i.) in noch näher zu spezifizierender Weise abhängt. Sei