Zeiten erzählen: Ansätze – Aspekte – Analysen 9783110429473, 9783110437805

Time and narrative are inseparably connected: there can be no narrative without time, and no time without narrative. Bey

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German Pages 584 [586] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Zeit und Erzählen – eine Skizze
I. Methodische Zugänge
Computerphilologische Analyse. „Tagging in a huge meadow of time“ – Analysen der Zeit in Erzähltexten mit Hilfe des Programms CATMA (Computer Aided Textual Markup and Analysis)
Zeit und Possible Worlds Theory. Eskapismus in ‚mögliche Zeiten‘ in Jack Londons The Star Rover
Zeit im Text – Möglichkeiten der formalen Historisierung. Zur Relation von Zeit und Ich-Erzähler in Grimmelshausens Simplicissimus und Schnabels Insel Felsenburg
Zeit im Kontext. Rhetorik, Allegorie und erzählte Zeit in Grimmelshausens simplicianischen Schriften
II. Mediale und generische Differenzen
Zeit in der Lyrik. ‚Zäsuriertes Erzählen‘ als intermittentes Narrativ der Lyrik
Zeit im Drama. Max Frischs Die Chinesische Mauer als ein Spiel mit Präzipitation, Gegenwärtigkeit und Simultaneität
Zeit und Film. ‚Zeitkreise‘ in Christopher Nolans Memento
Zeit in der Malerei. ‚Ein Pferd hat zwanzig Beine‘ – Über Simultaneität in Futurismus und Kubismus
III. Zeit als relationale Kategorie
III.a Diegetische Dimension: Elemente und Struktur der erzählten Welt
Zeit und Ereignis. Zum Zusammenhang von Ereigniskonfiguration und Textkohärenz in deutschsprachigen Reiseberichten über die frühe Sowjetunion
Zeit und Raum. Romantische Leichen im Keller des Realismus oder: Adalbert Stifters Ein Gang durch die Katakomben
Zeit und Figur. Die Konfiguration der Figur durch die Zeit als temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs Stiller
III.b Erzählerische Dimension: Vermittlungsinstanzen und Perspektivierung
Tempus – Fiktion – Narration. Kevin Vennemanns Erzählen im Präsens
Zeit und Erzählperspektive. Am Beispiel von F. M. Dostoevskijs Roman Der Jüngling
Zeit und Stimme. Zeitliche Verankerung des Erzählens in À la recherche du temps perdu
Zeit und Polyphonie. Zum Verhältnis von verdoppelter Zeit und verdoppelter ‚Stimmen‘ in Erzähltexten von Leo Perutz und Ambrose Bierce
III.c Semantische Dimension: Verfahren und Effekte
Präsenz. „…une substance coule, se répand…“ – Präsenzeffekte bei Nathalie Sarraute
Simultaneität. Die Aporien des Jetzt und „der unzeitliche Raum der Erzählung als Text“ – eine Simultaneität von Zeiten in Laurence Sternes Tristram Shandy
Atemporalität. Techniken und Effekte des Zeitlosen im literarischen Expressionismus (Paul Adler, Robert Müller)
Poetologien des Wartens. Robert Musils Die Vollendung der Liebe und der ‚waiting plot‘ um 1900
Erinnern/Erzählen – Literatur/Film. Mit Anmerkungen zum Film Fight Club
Anhang
Über die Autorinnen und Autoren
Personen- und Werkregister
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Zeiten erzählen: Ansätze – Aspekte – Analysen
 9783110429473, 9783110437805

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Zeiten erzählen

Narratologia Contributions to Narrative Theory

Edited by Fotis Jannidis, Matı´as Martı´nez, John Pier Wolf Schmid (executive editor) Editorial Board Catherine Emmott, Monika Fludernik ´ Jose´ Angel Garcı´a Landa, Inke Gunia, Peter Hühn Manfred Jahn, Markus Kuhn, Uri Margolin Jan Christoph Meister, Ansgar Nünning Marie-Laure Ryan, Jean-Marie Schaeffer Michael Scheffel, Sabine Schlickers, Jörg Schönert

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De Gruyter

Zeiten erzählen Ansätze  Aspekte  Analysen

Herausgegeben von Antonius Weixler Lukas Werner

De Gruyter

ISBN 978-3-11-043780-5 e-ISBN (PDF) 978-3-11-042947-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-042951-0 ISSN 1612-8427 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.  2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck  Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Dank Dass man ein Buch in Händen halten kann, verdankt sich immer einer ganzen Reihe von Personen und einer Vielzahl von helfenden Händen, die auf ganz unterschiedliche Weise zum Gelingen eines Projekts beitragen. Danken möchten wir deshalb dem Zentrum für Graduiertenstudien (ZGS) und dem Zentrum für Erzählforschung (ZEF) an der Bergischen Universität Wuppertal dafür, dass sie im Sommer 2011 das zweite Graduiertenforum Narratologie „Zeit(en) erzählen. Narrative Verfahren – komplexe Konfigurationen“ ermöglicht und uns bei der Umsetzung unterstützt haben. Danken möchten wir auch den Herausgebern von Narratologia für die Aufnahme dieses Bandes in ihre Reihe. Vor allem aber danken wir den TeilnehmerInnen der Tagung sowie allen anderen BeiträgerInnen des Bandes dafür, dass sie sich auf die Idee dieses Buches eingelassen haben. Antonius Weixler und Lukas Werner Wuppertal, im Juli 2015

Inhaltsverzeichnis ANTONIUS WEIXLER/LUKAS WERNER Zeit und Erzählen – eine Skizze ...............................................................

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I. Methodische Zugänge LENA SCHÜCH Computerphilologische Analyse. „Tagging in a huge meadow of time“ – Analysen der Zeit in Erzähltexten mit Hilfe des Programms CATMA..............................

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CHRISTOPH BARTSCH Zeit und Possible Worlds Theory. Eskapismus in ‚mögliche Zeiten‘ in Jack Londons The Star Rover .......

53

LUKAS WERNER Zeit im Text – Möglichkeiten der formalen Historisierung. Zur Relation von Zeit und Ich-Erzähler in Grimmelshausens Simplicissimus und Schnabels Insel Felsenburg ............

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JANA MAROSZOVÁ Zeit im Kontext. Rhetorik, Allegorie und erzählte Zeit in Grimmelshausens simplicianischen Schriften ....................................

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II. Mediale und generische Differenzen FRAUKE BODE Zeit in der Lyrik. ‚Zäsuriertes Erzählen‘ als intermittentes Narrativ der Lyrik ................

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ANTONIUS WEIXLER Zeit im Drama. Max Frischs Die Chinesische Mauer als ein Spiel mit Präzipitation, Gegenwärtigkeit und Simultaneität..................................

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Inhaltsverzeichnis

STEPHAN BRÖSSEL Zeit und Film. ‚Zeitkreise‘ in Christopher Nolans Memento ............................................

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ANTONIUS WEIXLER Zeit in der Malerei. ‚Ein Pferd hat zwanzig Beine‘ – Über Simultaneität in Futurismus und Kubismus ...........................................

205

III. Zeit als relationale Kategorie III.a Diegetische Dimension: Elemente und Struktur der erzählten Welt MATTHIAS AUMÜLLER Zeit und Ereignis. Zum Zusammenhang von Ereigniskonfiguration und Textkohärenz in deutschsprachigen Reiseberichten über die frühe Sowjetunion ......

233

KAI SPANKE Zeit und Raum. Romantische Leichen im Keller des Realismus oder: Adalbert Stifters Ein Gang durch die Katakomben ......................................

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CARMEN LĂCAN Zeit und Figur. Die Konfiguration der Figur durch die Zeit als temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs Stiller .......................

291

III.b Erzählerische Dimension: Vermittlungsinstanzen und Perspektivierung ARMEN AVANESSIAN/ANKE HENNIG Tempus – Fiktion – Narration. Kevin Vennemanns Erzählen im Präsens ...............................................

319

WOLF SCHMID Zeit und Erzählperspektive. Am Beispiel von F. M. Dostoevskijs Roman Der Jüngling.....................

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Inhaltsverzeichnis

IX

MATEI CHIHAIA/BIRTE FRITSCH Zeit und Stimme. Zeitliche Verankerung des Erzählens in À la recherche du temps perdu...

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STEFANIE ROGGENBUCK Zeit und Polyphonie. Zum Verhältnis von verdoppelter Zeit und verdoppelter ‚Stimmen‘ in Erzähltexten von Leo Perutz und Ambrose Bierce .......

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III.c Semantische Dimension: Verfahren und Effekte BERIT CALLSEN Präsenz. „…une substance coule, se répand…“ – Präsenzeffekte bei Nathalie Sarraute...................................................................................

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JULIAN HANEBECK Simultaneität. Die Aporien des Jetzt und „der unzeitliche Raum der Erzählung als Text“ – eine Simultaneität von Zeiten in Laurence Sternes Tristram Shandy ..............................................................

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CHRISTOPH GARDIAN Atemporalität. Techniken und Effekte des Zeitlosen im literarischen Expressionismus (Paul Adler, Robert Müller) ...........

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ANDREA ERWIG Poetologien des Wartens. Robert Musils Die Vollendung der Liebe und der ‚waiting plot‘ um 1900 ................................................................................

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MANFRED WEINBERG Erinnern/Erzählen – Literatur/Film. Mit Anmerkungen zum Film Fight Club ..................................................

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Anhang Autorinnen und Autoren ........................................................................... Personen- und Werkregister ......................................................................

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ANTONIUS WEIXLER/LUKAS WERNER (Wuppertal)

Zeit und Erzählen – eine Skizze 1. Dimensionen der erzähltheoretischen Auseinandersetzung 1 – 1.1 Erzählte Zeit – Zeit als narrativer Inhalt von Erzählungen 5 – 1.2 Erzählzeit – Zeit des Erzählens 9 – 1.3 Die Zeit des narrativen Aktes 11 – 1.4 Erzähltheoretische Desiderate 13 – 2. Zeiten erzählen – Konzept und Aufbau des Bandes und der Artikel 15 – 2.1 Methodische Zugänge 16 – 2.2 Mediale und generische Differenzen 17 – 2.3 Zeit als relationale Kategorie 18 – 2.4 Aufbau des Bandes und Struktur der Artikel 19 – 2.5 These: von der Zeit zu den Zeiten 21

1. Dimensionen der erzähltheoretischen Auseinandersetzung Zeit und Erzählen sind untrennbar verschränkt. Ohne Zeit gibt es kein Erzählen und ohne Erzählen keine Zeit. In Thomas Manns Zauberberg (1924) bringt dies der reflektierende Erzähler auf den Punkt, wenn er räsoniert: „Die Zeit ist das Element der Erzählung, wie sie das Element des Lebens ist, – unlösbar damit verbunden, wie mit den Körpern im Raum“.1 Das Zusammenspiel von Zeit und Erzählen ist grundlegend und existentiell, Literatur und Leben sind dabei nicht als Gegensätze zu begreifen, vielmehr greifen sie auf vielschichtige Weise ineinander – wie Paul Ricœur mit seiner Theorie der dreifachen mimesis umfassend darlegte.2 Die Verschränkung von Zeit und Erzählen ist nicht allein auf das systemische Bedingungsverhältnis beschränkt, denn die Zeit bringt ein breites Spektrum von ästhetischen Phänomenen hervor, wie schon ein erster sondierender Blick auf historisch und poetisch recht unterschiedliche Erzähltexte zeigt. In achtzehn Kapiteln wird in James Joyces Ulysses (1922) vom 16. Juni 1904 erzählt; im anonym erschienenen Dil Ulenspiegel (um 1515) wird in Dutzenden von Episoden das Leben des schalkhaften Titelhelden entfaltet; und J.R.R. Tolkien entwirft in seiner Trilogie The Lord of the Rings (1954–1955) ein epochenumspannendes Panorama einer einzigartig frem-

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Thomas Mann: Der Zauberberg. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. III. Frankfurt a. M. 1990, S. 748, Hervorhebung im Original. Vgl. Paul Ricœur: Temps et récit. 3 Bde. Paris 1983–1985.

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Antonius Weixler/Lukas Werner

den Welt. Präsentiert werden in diesen Erzähltexten zeitlich ungleich zugeschnittene Teile fiktionaler Welten: ein Tag, ein Menschenleben, eine Weltgeschichte. Der erzählerische Raum, der den berichteten Ereignissen zugestanden wird, variiert dabei. Die Geschichten über Till Eulenspiegel wird man innerhalb einiger Stunden lesen können. Im Druck von 1515 ist es ein Leben im handhabbaren Format von 130 Blatt mit einer Vielzahl von Holzschnitten. Bei Joyce und Tolkien jedoch stößt man bei einem solchen Versuch schnell an die eigenen Grenzen. Die Geschichte einer Welt sprengt in der Rezeption, was nicht weiter verwundern vermag, den Rahmen eines Tages; aber auch die besonders kunstvolle Darstellung eines Tages im Ulysses, in der Erstausgabe auf immerhin über 730 Seiten ausgebreitet, entzieht sich der Möglichkeit, in wenigen Stunden rezipiert zu werden. Die in den drei Romanen erzählten Ereignisse werden mit ihrer Materialisation zum sprachlichen Text unterschiedlich gerafft oder – weitaus seltener – über ihre angenommene, erfahrungsmäßige Dauer hinaus gedehnt. Ganz unabhängig davon, wie umfangreich die erzählte Zeit dieser Geschichten und der Raum, der ihr zugesprochen wird, sind, bildet die Zeit jene Dimension der erzählten Welt, in der sich alles ereignet – sei es das Herumirren Leopold Blooms durch Dublin, die Streiche Eulenspiegels oder die Schlachten um Mittelerde. Die erzählte Zeit selbst wird aus wechselnden zeitlichen Perspektiven geschildert. Der sich hinter einem „N.“ versteckende Erzähler des Dil Ulenspiegel berichtet, „wie vorzeiten“ ein gewitzter Bauernsohn aus dem Braunschweigischen Herzogtum seine Abenteuer bestritt.3 In der Darstellung von Eulenspiegels listig-lustigen Albernheiten dominiert denn auch die distanzierende Retrospektive des Präteritums. In jenen Passagen des Ulysses aber, in denen das Geschehen unvermittelt über die Gedankengänge der Figuren präsentiert wird, verschwindet diese temporale Distanz. Das Präsens lässt die Gedanken gegenwärtig werden mit dem Akt des Erzählens. Die Romane differieren nicht ausschließlich im Hinblick auf den Umfang der erzählten Zeit und die temporalen Perspektiven, sondern auch im Hinblick auf die Bedeutung, die Zeit für die Komposition des jeweiligen Romans zukommt. Liegt Zeit als Dimension den erzählten Welten des Dil Ulenspiegel und des Lord of the Rings zugrunde, ohne eine allzu prominente Rolle zu spielen, ist sie in Joyces Roman „selbst, als solche, an und für sich zum Inhalt der Erzählung, zu ihrem Gegenstand“ geworden.4 Sie ist „nicht mehr

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Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Mit 87 Holzschnitten. Hrsg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 2001, S. 7. Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans [1955]. Frankfurt a. M. 1986, S. 9, Hervorhebung im Original.

Zeit und Erzählen – eine Skizze

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Objekt der Erzählung, sondern Subjekt und ‚donnée immédiate‘ der Romanwirklichkeit“, wie es Hans Robert Jauß formuliert.5 Zeit bildet zwar immer den unscheinbaren Hintergrund der Handlung, gleichsam ihr verdecktes Apriori, avanciert im sogenannten Zeit-Roman aber zum thematischen Zentrum. Zu den großen Zeit-Romanen des beginnenden 20. Jahrhunderts zählen bekanntermaßen Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913–1927), Manns Zauberberg und Joyces Ulysses. Den Begriff „Zeitroman“, so erläutert Mann das Programm dieses Romantyps in seiner programmatischen Princeton-Einführung zum Zauberberg, versteht er „einmal historisch, indem [der Roman, A. W/L. W.] das innere Bild einer Epoche, der europäischen Vorkriegszeit, zu entwerfen versucht, dann aber, weil die reine Zeit selbst sein Gegenstand ist, den er nicht nur als Erfahrung seines Helden, sondern auch in und durch sich selbst behandelt“.6 Für Hans Castorp wird die Zeit des Berghofs zu einer anderen. Anstatt der geplanten sieben Wochen bleibt er sieben Jahre im Sanatorium, vergisst die fortlaufende Zeit des Flachlandes und damit auch sein Alter: Er „wußte nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei!“,7 so muss er sich eingestehen. In Manns Roman geht es also – jenseits der konstitutiven Rolle von Zeit – auch um ein subjektives Zeitempfinden, das Till Eulenspiegel in dieser radikalen Form völlig fremd ist. Vielmehr scheint Eulenspiegel als Figur während seiner Abenteuer aus der Zeit zu fallen, denn die erlebten Episoden gehen an ihm spurlos vorbei. Biographisch konturiert sind allein die Ränder seines Lebens: Geburt und Kindheit einerseits und sein Tod andererseits.8 Diese kursorischen Bemerkungen zeigen, in wie unterschiedlichem Sinne Zeit und Erzählen verquickt sein können. Die erzählte Geschichte vollzieht sich in der Zeit; der Akt des Erzählens hat einen Zeitpunkt, an dem er stattfindet; und der Erzählakt sowie der Rezeptionsprozess nehmen Zeit in Anspruch. Darüber hinaus kann Zeit für den Roman kompo-

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Jauß (Anm. 4), S. 49. Thomas Mann: „Einführung in den ‚Zauberberg‘. Für Studenten der Universität Princeton“. In: Ders.: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden. Bd. XI: Reden und Aufsätze 3. Frankfurt a. M. 1990, S. 602–617, hier S. 611 f. Im Zauberberg selbst unterscheidet Mann zwischen zwei weiteren Zeitdimensionen, die der Erzählung zu eigen sind und die der ‚Zeitroman‘ in besonderem Maße herausstellt: auf der einen Seite die „musikalisch-reale“ Zeit, die den „Ablauf“ und die „Erscheinung“ der Erzählung „bedingt“, auf der anderen Seite die Zeit des „Inhalts“, „die perspektivisch ist, und zwar in so verschiedenem Maße, daß die imaginäre Zeit der Erzählung fast, ja völlig mit ihrer musikalischen zusammenfallen, sich aber auch sternenweit von ihr entfernen kann“ (Mann [Anm. 1], S. 748 f.). Mann (Anm. 1), S. 751. Vgl. Johannes Klaus Kipf: „Episodizität und narrative Makrostruktur. Überlegungen zur Struktur der ältesten deutschen Schelmenromane und einiger Schwankromane“. In: Jan Mohr/Michael Waltenberger (Hrsg.): Das Syntagma des Pikaresken. Heidelberg 2014, S. 71– 101, bes. S. 84.

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Antonius Weixler/Lukas Werner

sitorische Relevanz besitzen; sie kann als Aspekt der Wahrnehmung thematisiert sein oder auch in ihrem Zusammenspiel mit Figurenkonzeptionen bedeutsam werden – diese Reihe ließe sich freilich noch mit anderen Beispielen fortführen. In unterschiedlichem Umfang wurden diese Aspekte im Rahmen genuin erzähltheoretischer und allgemein literaturwissenschaftlicher Fragestellungen diskutiert. Zeit-Romane, die das Wechselverhältnis zwischen verschiedenen Zeitdimensionen explizit thematisieren, wirkten durch ihre elaborierte Auseinandersetzung mit unterschiedlichen temporalen Phänomenen auf die Erzählforschung zurück. Auffälligerweise basieren nämlich die wegweisenden Arbeiten Käte Hamburgers, Paul Ricœurs oder Gérard Genettes u. a. auf einer Analyse von eben diesen klassischen ZeitRomanen. Die Erzählforschung interessierte sich aus dem breiten Feld von temporalen Phänomenen bislang vor allem für drei genuin erzählerische Dimensionen der Verschränkung von Zeit und Erzählen. Für diese lieferte Genette ein umfassendes Beschreibungsmodell. Er differenziert drei Textebenen, die sich durch eine je eigene Zeit auszeichnen: erstens die Geschichte (histoire) als „narrative[r] Inhalt“, zweitens die Erzählung (récit) als „narrative[r] Text“ und drittens die Narration (narration) als der „produzierende[ ] narrative[ ] Akt“.9 Entsprechend ist aus analytischer Perspektive zwischen, erstens, der „erzählten“ oder „diegetischen Zeit“,10 zweitens, der „Erzählzeit“,11 wie sie im Textumfang vorliegt, und drittens, der Zeit des narrativen Aktes, die die temporale Position der ‚Stimme‘ beschreibt, zu unterscheiden. Für sein Modell griff Genette teils auf ältere Arbeiten der Erzählforschung zurück und baute sie zu einem System aus, das den Ausgangspunkt einer fortwährenden Ausdifferenzierung bildete.12 Durch pragmatische Versionen des Genette’schen Instrumentariums im Allgemeinen und seiner Zeitkategorien im Besonderen, wie sie in nun-

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Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München S. 16. Der Begriff der ‚diegetischen Zeit‘ geht auf Etienne Souriau zurück: „Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie“ [1951]. In: montage/av 6/2 (1997), S. 140–157, bes. S. 148. Vgl. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“ [1948]. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 269–286. Vgl. Alfonso de Toro: Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman: Am Beispiel von G. García Márquez’ „Cien años de soledad“, M. Vargas Llosas „La casa verde“ und A. Robbe-Grillets „La maison de rendez-vous“. Tübingen 1986, S. 26–52; Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York 2011, S. 195–270. 21998,

Zeit und Erzählen – eine Skizze

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mehr fast unzähligen ‚Einführungen in die Narratologie/Erzähltheorie‘ vorliegen,13 erlangte sein Modell verbindlichen Referenzstatus. Zwar knüpfen die in diesem Band versammelten Beiträge ebenfalls teils daran an, doch soll der Blick auch über Genette hinausgehen. Dort, wo es sich anbietet, mit den Begriffen Genettes zu arbeiten, wird auf diese zurückgegriffen oder sie bilden den Ausgangspunkt der Ausdifferenzierung; dort aber, wo zum Beispiel aufgrund von historischen oder medialen Differenzen ein anderer Zugriff naheliegt, wird dieser als komplementärer verfolgt. Anhand der drei Dimensionen – erzählte Zeit, Erzählzeit und Zeit des narrativen Aktes – wollen wir im Folgenden zunächst die erzähltheoretischen Kernkonzepte von Zeit mit einigen historischen Seitenblicken skizzieren (Punkte 1.1 bis 1.3).14 Vor dem Hintergrund der dadurch sichtbar werdenden Desiderate (1.4) erläutern wir in einem zweiten Schritt die Konzeption dieses Bandes sowie die ihm zugrunde liegenden Thesen (Punkte 2.1 bis 2.5). 1.1 Erzählte Zeit – Zeit als narrativer Inhalt von Erzählungen Erzählen gründet – die einschlägigen Definitionsversuche des Narrativen erreichen bei allen Kontroversen hierin weitgehend Übereinstimmung – auf der Sukzession von Ereignissen, die in einem grundlegenden Sinne dem Schema ‚dann und dann‘ folgen und die darüber hinaus durch kausale Verbindungen miteinander in Beziehung gesetzt werden können:15 Diese Argumente finden sich in wissenschaftsgeschichtlich ganz verschiedenen Kontexten, so bei Boris V. Tomaševskij, in E. M. Forsters Ausführungen zu story und plot sowie in David Hermans kognitivem Entwurf einer Narratologie.16 Ein Blick auf die Forschung macht indes deutlich, dass die erzählte Zeit nicht nur für die Definition des Erzählens (und damit auch für die Bestimmung des eigentlichen Gegenstandsbereichs der Narratologie) eine unabdingbare Rolle spielt, sondern ganz unterschiedli-

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Vgl. Jörg Schönert: „Zum Status und zur disziplinären Reichweite von Narratologie“. In: Vittoria Borsò/Christoph Kann (Hrsg.): Geschichtsdarstellung. Medien – Methoden – Strategien. Köln/Weimar/Wien 2004, S. 131–143, bes. S. 138. Eine umfassende historisch-systematische Darstellung liefet der Artikel im Living Handbook of Narratology, vgl. Michael Scheffel/Antonius Weixler/Lukas Werner: „Time“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL = http://www.lhn.unihamburg.de/article/time [letzter Zugriff: 7.4.2014]. Vgl. die Überblicksdarstellungen bei Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 3., erw. u. überarb. Aufl. Berlin/Boston 2014, S. 1–43; H. Porter Abbott: „Narrativity“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL = http://www.lhn.unihamburg.de/article/narrativity [letzter Zugriff: 7.4.2014]. Vgl. David Herman: Basic Elements of Narrative. Oxford 2009, bes. S. 18 f. und S. 92–97.

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Antonius Weixler/Lukas Werner

che Aspekte erzählender Texte und ihrer Analyse berührt. Sie ist (a) ein konstitutives Element der erzählten Welt; sie basiert (b) auf der sprachlichen Evokation sowie dem Zusammenspiel mit anderen Elementen der erzählten Welt; und die erzählte Zeit dient (c) als Referenzparameter, um Abweichungsfiguren zwischen histoire und discours zu bestimmen. Diese drei Punkte seien kurz erläutert. (a) Ruth Ronen, die aus der Perspektive der possible worlds theory argumentiert, versteht eine erzählte Welt als eine „Konstellation von raumzeitlich verbundenen Elementen“: Raum und Zeit erweisen sich als die konstitutiven Dimensionen einer ‚Welt‘.17 Die Zeit gibt damit einerseits den Rahmen vor für die Gestaltung von Ereignissen, Figuren und deren Handlungen. Andererseits und gleichzeitig wird sie selbst aufgrund ihres relationalen Charakters im Zusammenspiel mit diesen Elementen überhaupt erst modelliert. In theoretischer Hinsicht ist diese ‚erzählinterne‘ Zeit als von der extrafiktionalen (d. h. ‚realen‘ oder „externe[n]“18) Zeit vollkommen unabhängig zu verstehen, weshalb sie nach ganz eigenen Regeln, die von denjenigen der realen Welt abweichen, funktionieren kann.19 Ein Beispiel liefert Michail M. Bachtin mit der „Abenteuerzeit“ des griechischen Liebes- und Abenteuerromans, die eine „außerzeitliche[ ] Spanne“ darstellt, da sie „im Leben der Helden und in ihren Charakteren keinerlei Spur hinterläßt“.20 Auch wenn es in einzelnen Abenteuern mitunter darauf ankommt, auf die Sekunde genau am richtigen Ort zu sein, handelt es sich insgesamt dennoch um eine „leere Zeit“,21 da sie folgenlos bleibt. Bachtins Untersuchung legt den Schluss nahe, dass derartige Abweichungen von unserem intuitiven Zeitverständnis eher ein Phänomen älterer Erzähltexte sind und somit auf historisch-kulturelle Differenzen

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Für Ronen sind raumzeitliche Abweichungen die Grundlage für die Annahme von zu unterscheidenden ‚Welten‘, so argumentiert sie: „Since a world is a constellation of spatiotemporally linked elements, temporal relations can serve as a primary criterion for drawing the dividing line between worlds: when elements cease to be spatiotemporally related, they must be attributed to separate worlds“ (Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 199), Hervorhebung im Original. Alfonso de Toro unterscheidet zwischen einer „externe[n]“ Zeit, die die „Zeit außerhalb des Textes“ ist, und einer „interne[n]“ Zeit, die der „Zeit im Text“ entspricht (Toro [Anm. 12], S. 29), Hervorhebung im Original. Vgl. Ronen (Anm. 17), S. 202; vgl. hierzu auch Viktor Šklovskij: „Der parodistische Roman. Sternes ‚Tristram Shandy‘“ [1921]. In: Jurij Striedter (Hrsg.): Texte der Russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969, S. 244–299, hier S. 263: „Die ‚literarische‘ Zeit ist reine Übereinkunft, ihre Gesetze sind nicht mit denen der prosaischen Zeit identisch.“ Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008, S. 13, Hervorhebung im Original. Bachtin (Anm. 20), S. 14 f.

Zeit und Erzählen – eine Skizze

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zurückzuführen sind. Doch auch in neuerer Literatur findet man temporale Besonderheiten, die man bei der Lektüre nicht als Irritation (im Sinne eines ‚Fehlers‘) wahrnimmt: Beispielsweise die Tatsache, dass es in Gabriel García Márquez’ Roman Cien años de soledad (1967) eine Kammer gibt, in der es immer Montag und März ist. Ausschlaggebend ist hier das zugrunde liegende poetische Programm und nicht die historisch-kulturelle Spezifität. Erzähltexte aber, die ein im weitesten Sinne realistisches Programm verfolgen, orientieren sich eng an Alltagsvorstellungen von Zeit, die immer die Rezeptionsfolie bilden. Alfonso de Toro versteht deshalb die „reale Aktzeit“, die Teil der „interne[n] Zeit“ des Romans ist und einen Aspekt der histoire umfasst, als „eine an die empirisch historisch externe Zeit pragmatisch gebundene Zeit“.22 Und auch Ronen geht von einer ‚grundsätzlichen Analogie‘ zwischen der Zeit der realen und der Zeit der erzählten Welt aus.23 Wie auch immer die Zeit der erzählten Welt ausgestaltet sein mag, sie ist nicht per se vorhanden, sondern wird durch Sprache hervorgebracht. (b) Zeit muss durch bestimmte Verfahren erzeugt werden. So stellte sich Käte Hamburger gegen die Auffassung, Zeit unabhängig von ihrer jeweiligen Gestaltung in einem Erzähltext als „‚transzendentale Bedingung‘“ zu verstehen. Ihr zufolge ist Zeit nur dann gegeben, wenn sie konkret erzeugt wird. Wenn dies nicht der Fall ist, existiert sie nach Hamburger nicht: „Ist die Zeit nicht begrifflich oder bildlich angegeben, so ist sie nicht in der Erzählung. Denn in der Dichtung ist nur was erzählt ist. Nur dann gibt es erzählte Zeit, wenn sie explizite erzählt ist […].“24 Zu den Zeit evozierenden Verfahren zählen in einem sehr basalen Sinne die Verwendung eines Tempus, das die zeitliche Relation zwischen den Ereignissen und der Erzählsituation bestimmt, von Temporaladverbien, durch die ein Ereignis hinsichtlich seines Zeitpunkts, seiner Dauer und Häufigkeit bestimmt wird, sowie von Konjunktionen und Präpositionen, wie sie auch die Alltagsprache kennt. Zu den evozierenden Verfahren zählen ferner stärker literarische Techniken wie der Einsatz von Metaphern und Leitmotiven. Die Vielfältigkeit der Evokationsmöglichkeiten rückte in den erzähltheoretischen Diskussionen nur begrenzt in den Fokus. Boris V. Tomaševskij untersuchte in seiner Theorie der Literatur (erst-

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De Toro (Anm. 12), S. 30, Hervorhebung im Original; als Gegenkonzept zur „realen Aktzeit“ fungiert bei de Toro die „fiktionale Aktzeit“, die „eine auf sich selbst bezogene und im künstlerischen Text immanent konstituierte, referenzlose, pragmatisch ungebundene Zeit“ ist (Toro [Anm. 12], S. 30). Vgl. Ronen (Anm. 17), S. 200. Käte Hamburger: „Die Zeitlosigkeit der Dichtung“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 29 (1955), S. 413–426, hier S. 418, Hervorhebung im Original.

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Antonius Weixler/Lukas Werner

mals 1925) Zeit einerseits als ein konstitutives Element der ‚Fabel‘ und andererseits entwickelte er ein analytisches Begriffsinstrumentarium für temporale Aspekte des „Sujetaufbaus“.25 Im Rahmen seiner Beschäftigung mit der Fabel unterscheidet er drei Evokationstechniken von Zeit: Sie kann erstens durch ‚absolute‘ (z. B. ‚am 12. November 2012‘) oder ‚relative‘ (‚nach fünf Jahren‘) „Datierung[en]“, zweitens explizit durch Hinweise auf „Zeiträume“ bzw. Zeitperioden (‚sie sprachen zwei Stunden‘) und drittens implizit durch den „Eindruck von […] Dauer“ erzeugt werden, der durch erzählte Ereignisse vermittelt wird.26 Alfonso de Toro hingegen unterscheidet in seiner Weiterentwicklung des Genette’schen Modells grundsätzlich zwischen zwei Arten der Zeit-Erzeugung: So versteht er „[u]nter punktueller Zeitkonkretisation […] die genaue, fast chronometrische zeitliche Fixierung eines Ereignisses“ (wie etwa ‚nach drei Wochen‘ oder ‚der erste Monat‘) und unter „nicht-punktuelle[r] Zeitkonkretisation“ eine explizite oder implizite „vage, metaphorische Situierung“ in der Zeit.27 Die Aussage etwa „X hatte schöne schwarze Haare, jetzt ist sie grau“ markiert das Vergehen von Zeit auf eine nicht-punktuelle und metaphorische Weise.28 Neben den eben aufgelisteten expliziten und impliziten, absoluten und relativen Formen der Evokation wird Zeit auch durch das Zusammenspiel mit Raumaspekten, Ereignissen, Figuren sowie Plotstrukturen modelliert. Diesen Zusammenhang hat zwar Bachtin an historischen Lektüren gezeigt, doch ist dies – trotz der wissenschaftlichen Popularität und Ubiquität des ‚Chronotopos‘-Begriffs – nie in die systematischen Überlegungen der Erzähltheorie aufgenommen worden. Programmatisch heißt es bei ihm: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar […]. 29

Die ‚Abenteuerzeit‘ des spätantiken Romans als ein historischer Chronotopos impliziert eine relativ stabile, fast schematische Plotstruktur (Liebe des jungen Paares – gefahrenvolle Trennung der Liebenden – glückliche

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Boris V. Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931) hrsg. u. eingel. von Klaus-Dieter Seemann, aus dem Russ. übers. von Ulrich Werner. Wiesbaden 1985, S. 226. Bei der Analyse des Sujetaufbaus nimmt Tomaševskij auch erstmals eine Differenzierung zwischen „Fabelzeit“ und „Erzählzeit“ vor. Unter „Fabelzeit“ versteht Tomaševskij „die hypothetische Zeit, in der sich die dargelegten Ereignisse vollziehen“, unter „Erzählzeit […] die Zeit, die das Lesen des Werkes einnimmt […]; sie deckt sich mit dem Begriff des Werkumfangs“ (S. 226, Hervorhebung im Original). Tomaševskij (Anm. 25), S. 226. De Toro (Anm. 12), S. 49. De Toro (Anm. 12), S. 50. Bachtin (Anm. 20), S. 7.

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Zusammenführung30), durch die der Eindruck entsteht, dass die beiden liebenden Protagonisten gleichsam außerhalb der Zeit stehen, denn die mitunter lebensbedrohlichen Ereignisse sind folgenlos. Insgesamt fällt die erzähltheoretische Auseinandersetzung mit der Evokation von erzählter Zeit und ihren Formen dürftig aus – ein Umstand, der nicht als schlichte Forschungslücke zu werten ist, sondern als ein methodisches Desiderat. (c) Denn auch wenn die Erzähltheorie bislang keine Theorie der erzählten Zeit vorgelegt hat, fungiert die erzählte Zeit als jener Referenzparameter, mittels dessen Abweichungen zwischen „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ definiert und begrifflich gefasst werden. Eine Vielzahl analytischer Zugriffe auf temporale Phänomene basiert auf dieser Dichotomie oder einer ihrer Variationen: Meir Sternberg etwa spricht von „represented time“ und „representational time“,31 Seymour Chatman von „discourse-time“ und „story-time“32 und de Toro von „Textzeit“ und „Aktzeit“.33 Nur anhand einer fixen Vorstellung davon, welche Eigenschaften die erzählte Zeit besitzt, wird die Artifizialität der Erzählzeit sichtbar – wie dies konkret funktioniert, sei im Folgenden gezeigt. 1.2 Erzählzeit – Zeit des Erzählens Die Erzählzeit ist die Zeit, die eine Erzählinstanz benötigt, eine Geschichte zu erzählen, oder die ein Rezipient dafür braucht, eine Geschichte zu lesen. Hierbei handelt es sich um ein abgeleitetes Zeitphänomen, da die Dauer des Erzähl- bzw. Lesevorgangs in der Literatur34 üblicherweise mit räumlichen Maßeinheiten (und nicht mittels einer Uhr) gemessen wird. Man setzt (a) eine präsupponierte erzählte Zeit ins Verhältnis zur (b) ‚Pseudo-Zeit‘ des Diskurses, um (c) die temporalen Aspekte eines Erzähltextes mit Begriffen erfassen zu können. (a) Der etablierten Unterscheidung von „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ sowie allen ihren Variationen liegt eine zumeist nicht reflektierte, folgenreiche Prämisse zugrunde. Denn als Standardmodell wird eine monoton verlaufende, lineare und überall gültige Zeit gesetzt, ohne dass man sich ihrer im Rahmen der Theoriebildung angenommen hätte.35 Die

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Ausführlicher dazu Bachtin (Anm. 20), S. 10 f. Meir Sternberg: Expositional Modes and Temporal Ordering in Fiction. Baltimore 1978, S. 14. Vgl. Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1978, S. 62–84. Vgl. de Toro (Anm. 12), S. 29–31. Im Film dagegen wird die Erzählzeit tatsächlich durch eine zeitliche Maßeinheit gemessen. Vgl. Monika Fludernik: „Chronology. Time, Tense and Experientiality in Narrative“. In: Language and Literature 12 (2003), S. 117–134, bes. S. 117 f.; Lukas Werner: „Zeit“. In:

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Erzählzeit zeichnet sich aber dadurch aus, dass sie von diesem Standardfall abweicht. Die Erzähltheorie hat sich bisher kaum für Formen der erzählten Zeit interessiert, die nicht diesem Modell entsprechen und die damit auch, wenigstens in Teilen, das Begriffsgefüge zur Erfassung temporaler Phänomene fragwürdig erscheinen lassen. Eine Ausnahme bildet die Debatte zwischen Brian Richardson und Dan Shen (dazu mehr im Zusammenhang mit den Forschungsdesideraten). (b) Kontrastiert wird die angenommene erzählte Zeit mit der nur bedingt in einem temporalen Sinne quantifizierbaren Erzählzeit. Man behilft sich, indem man bei der Analyse die räumliche Extension des Textes für seine zeitliche Dimension setzt. Günther Müller rechtfertigt dies durch den Hinweis, dass bei der Bemessung der „Erzählzeit“ eine „Uebertragung des Zeitlichen ins Räumliche“ sinnvoll ist: „Es macht daher keinen grundsätzlichen Unterschied, wenn man die Erzählzeit nicht nach Minuten, sondern nach der Zahl der Druckseiten eines Werks mißt“.36 Ähnlich argumentiert Roland Barthes in Le discours de l’histoire (1967).37 Für Genette existiert die schriftliche Erzählung generell „im Raum und als Raum“ und die Erzählzeit stellt diejenige Zeit dar, die es braucht, diesen Raum zu „durchlaufen oder zu durchmessen“. Aus dieser Beobachtung leitet er ab, dass der Text seine discours-Zeit „metonymisch von [der] Lektüre empfängt“ und dass es sich dabei um eine „Pseudo-Zeit“ handelt.38 (c) Für die Analyse der Ordnungs-, Dauer- und Frequenz-Relationen zwischen der erzählten Zeit und Erzählzeit setzte sich Genettes Systematik durch, die er mittels der Erweiterung und Neugliederung älterer Forschungsbeiträge erarbeitete (u. a. von Günther Müller, Eberhard Lämmert und Christian Metz39). Das Modell ist bekannt: Unter Ordnung versteht Genette die auch der Rhetorik bekannten Abweichungen in der Chronologie, die er unter dem Oberbegriff „Anachronie“ weiter in „Analepsen“ und „Prolepsen“ differenziert. Die Deformationen der Dauer nennt Genette „Anisochronie“ und unterscheidet vier Relationsarten: „Summary“, „Pause“, „Ellipse“ und „Szene“. Die Frequenz schließlich benennt die

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Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart 2012, S. 150–158, bes. S. 150 f. Günther Müller: „Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung 1946“. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. v. Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 247–268, hier S. 257; vgl. Tomaševskij (Anm. 25), S. 226. Roland Barthes spricht beiläufig von der sogenannten „Papierzeit“, vgl. Roland Barthes: „Der Diskurs der Geschichte“ [1967]. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a. M. 2006, S. 149–163, S. 152, vgl. hierzu auch Genette (Anm. 9), S. 62, Anm. 2. Genette (Anm. 9), S. 22, Hervorhebung im Original. Genette bezieht sich explizit auf Eberhard Lämmerts Bauformen des Erzählens (1955), Christian Metz’ Essais sur la signification au cinéma (1968) und Günther Müllers Arbeiten.

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Wiederholungsbeziehungen zwischen Ereignis und Erzählung. Genette differenziert hier die Modi des „singulativen“, „repetitiven“ und „iterativen“ Erzählens.40 Dieses Modell – hier nur in seinen Grundzügen skizziert – ist Ausgangspunkt von Erweiterungen und medialen Übertragungen. De Toro ergänzt Genettes Modell, indem er noch weiter zwischen „expliziten“ und „impliziten“ Anachronien unterscheidet und zudem noch Zeitphänomene wie die explizite oder implizite „Zeitpermutation“, „Zeitverflechtung“, „Zeitüberlagerung“ und „Synchronie“ sowie „Zeitzirkularität“ und „Simultaneität“ berücksichtigt.41 Und Seymour Chatman wie Markus Kuhn übertragen Genettes Systematik auf den Film.42 Eine Vielzahl von Untersuchungen belegt, ungeachtet der etwas schiefen methodischen Grundlage, die aus den Punkten (a) und (b) resultiert, den heuristischen Wert dieses analytischen Instrumentariums. 1.3 Die Zeit des narrativen Aktes Neben der Zeit der Geschichte und der Zeitspanne, die das Erzählen braucht, gibt es als dritten temporalen Aspekt den Zeitpunkt, an dem das Erzählen stattfindet. Genette konstatiert, dass es „so gut wie unmöglich ist“, eine Geschichte zu erzählen und „sie nicht zeitlich in bezug auf [den] narrativen Akt zu situieren“.43 Er unterscheidet vier Typen der „Zeit der Narration“:44 Die „spätere Narration“ als die „häufigste“ und „klassische Position der Erzählung in Vergangenheitsform“, die „frühere Narration […], die im allgemeinen im Futur steht“, die „gleichzeitige Narration“ als eine zumeist durch das Präsens markierte Erzählung sowie die „eingeschobene Narration“, die „zwischen die Momente der Handlung“ gefügt ist.45 Systematisch ist die Zeit der Narration der Kategorie ‚Stimme‘ zugeordnet und wird folglich oftmals implizit in Untersuchungen zu Perspektive und Point of View mitdiskutiert.46 Klassischerweise kombiniert eine Erzählung nämlich zwei unterschiedliche epistemische Zeitperspektiven: die „lebensweltlich-praktische“ Perspektive der Figuren sowie die „analy-

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Genette (Anm. 9), S. 21–114. De Toro (Anm. 12), S. 31–43. Vgl. Chatman (Anm. 32), S. 62–84; Kuhn (Anm. 12). Genette (Anm. 9), S. 153. Vgl. Genette (Anm. 9), S. 153–162. Genette (Anm. 9), S. 154 f., Hervorhebung im Original. Vgl. Boris A. Uspenskij: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform [1970]. Hrsg. v. Karl Eimermacher. Aus d. Russ. übers. v. Georg Mayer. Frankfurt a. M. 1975, S. 69–94; Schmid (Anm. 15), S. 122–127.

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tisch-retrospektive“ Perspektive der Erzählinstanz.47 Wolf Schmid nennt erstere „figurale Perspektive“ und letztere „narratoriale Perspektive“; der „Abstand“ zwischen beiden zeichnet sich u. a. durch eine „zeitliche Perspektive“ aus.48 Dietrich Weber konzipiert mit Karl Bühler die epistemischen Perspektiven von Erzähler und Protagonisten als zwei zu differenzierende „Orientierungszentren“ oder „Ich-Hier-Jetzt-Systeme“, in die die doppelte temporale Perspektive bereits durch das zweifach besetzte deiktische ‚Jetzt‘ eingeschrieben ist.49 Generell wird der Erzählakt als ein retrospektiver Vorgang der Sinn-Erzeugung verstanden. Indem die Erzählinstanz die abgeschlossene Handlung überblickt, kann sie sie zu einem geordneten Ganzen fügen. In Bezug auf fiktionale Literatur wird dieses Argument allerdings auch in Frage gestellt: Beispielsweise behauptet Käte Hamburger, dass es keine zeitliche Differenz per se zwischen Erzähltem und Erzählen gibt;50 eine Hypothese, die unter anderem von Ann Banfield sowie von Armen Avanessian und Anke Hennig geteilt wird.51 Mark Currie hat kürzlich die temporale Perspektive der Sinnerzeugung nicht als dominant restropektiven Prozess, sondern auch als prospektiven gedeutet. Im Hinblick auf das Standardmodell des Erzählens geht Currie nämlich mit Peter Brooks davon aus, dass der Prozess des Erzählens „in its mode of fictional storytelling and as a more general mode of making sense of the world“ paradoxerweise auf einer ‚Antizipation der Retrospektion‘ basiert.52 Als kritische Antwort auf Paul Ricœur entwickelt Currie eine Differenzierung von drei Arten der proleptischen Antizipation: ‚Prolepse 1‘ ist demnach eine narratologische Prolepse, die innerhalb der Raum-Zeit der Erzählung stattfindet und folglich Genettes Begriff entspricht. ‚Prolepse 2‘ ist eine strukturelle Prolepse, die sich zwischen dem Hier und Jetzt des Erzählten und der Raum-Zeit des Erzählers oder des Lesers manifestiert. Und ‚Prolepse 3‘ geht nach Currie über die textbasierte Narratologie – und damit auch über die Genette’sche Taxonomie – hinaus, indem der empirische Leser als Akteur integriert wird.53

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Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. u. aktual. Aufl. München 2012, S. 125. Schmid (Anm. 15), S. 122–129. Dietrich Weber: Erzählliteratur. Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk. Göttingen 1998, S. 43–48, Hervorhebung im Original; vgl. hierzu auch Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934. Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung [1957]. 2., stark veränd. Aufl. Stuttgart 1968. Vgl. Ann Banfield: Unspeakable Sentences. Narration and Representation in the Language of Fiction. Boston 1982; Armen Avanessian/Anke Hennig: Präsens. Poetik eines Tempus. Zürich 2012; Armen Avanessian/Anke Hennig (Hrsg.): Der Präsensroman. Berlin/Boston 2013. Mark Currie: About Time. Narrative, Fiction and the Philosophy of Time. Edinburgh 2007, S. 29, vgl. auch Peter Brooks: Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative. New York 1984, S. 23. Vgl. Currie (Anm. 52), S. 31.

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1.4 Erzähltheoretische Desiderate So differenziert das bestehende erzähltheoretische Instrumentarium auch ist, liegt seine konzeptuelle Schwäche doch in einer relativ starren Vorstellung von dem, welche Eigenschaften Zeit besitzt. Denn wie die Skizze deutlich macht, wird die erzähltheoretische Auseinandersetzung mit Zeit von einem gleichsam Newton’schen Konzept der ‚mathematischen Zeit‘ bestimmt. Die „absolute, wahre und mathematische Zeit verfliesst“, so Newtons pointierte Definition in den Principia Mathematica (1687), „an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig, und ohne Beziehung auf irgend einen äussern Gegenstand“.54 Denn nur, wenn man eine solche gleichförmige, überall geltende Zeit präsupponiert, lässt sich sinnvoll von der Umstellung zeitlicher Teile im Sinne des ordo artificialis und von Techniken der Raffung oder Dehnung sprechen, die – mit Viktor Šklovskij argumentiert – die künstlerischen (Entautomatisierungs-)Effekte literarischer Zeitgestaltung hervorbringen.55 Der heuristische Wert des Genette’schen Modells für eine Vielzahl von Analysen sei deshalb jedoch nicht in Abrede gestellt. Aber temporale Besonderheiten, die jenseits dieses basalen, aber simplen Konzepts von Zeit liegen, kommen so weder in den Blick noch spielen sie für das terminologische Rüstzeug der Erzählforschung eine Rolle. Zugleich verschließt sich die Erzählforschung bislang der semantischen Dimension temporaler Phänomene, die beispielsweise in Providenz und Kontingenz als Erklärungsmodellen56 ebenso enthalten ist wie in ‚Plötzlichkeit‘57 oder ‚Präsenz‘58 als ästhetischen Programmen. Die narratologischen Arbeiten David Hermans zur ‚polychronic narration‘59 und von Brian Richardson, der sich explizit Formen von „circular“, „contradictory“, „antinomic“, „differential“, „conflated“ oder „dual/multiple time“ widmet und nach den Konsequenzen dieser Zeitformen für das bestehen-

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Isaac Newton: Mathematische Principien der Naturlehre [1687]. Berlin 1872, S. 25, Hervorhebung im Original. Newton nennt die ‚mathematische Zeit‘ Dauer, diese grenzt er von der „relative[n], scheibare[n] und gewöhnliche[n] Zeit“ ab, die „ein fühlbares und äusserliches, entweder genaues oder ungleiches, Maass der Dauer [ist], dessen man sich gewöhnlich statt der wahren Zeit bedient, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr“ (S. 25). Hier kommt es uns nicht auf diese Details an, sondern vielmehr auf die Annahme, dass Zeit innerhalb dieses Modells losgelöst von allen Gegenständen, als überall geltend und gleichfömig gedacht wird. Vgl. Šklovskij (Anm. 19), S. 263. Vgl. Werner Frick: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Tübingen 1988. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Vgl. Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004. David Herman: „Limits of Order: Toward a Theory of Polychronic Narration“. In: Narrative 6 (1998), S. 72–95.

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de erzähltheoretische Theoriedesign fragt, bilden Ausnahmen.60 Neue Impulse setzt auch die von Jan Christoph Meister und Wilhelm Schernus herausgegebene Anthologie mit klassischen und neueren Texten zur Zeittheorie: Zusammengeführt werden philosophische, narratologische und computergestützte Ansätze, um Einsichten darüber zu erlangen, wie Zeit ‚funktioniert‘.61 Vorgestellt werden vier philosophisch perspektivierte Arbeiten, die dem Zusammenhang von Zeit und Tempusverwendung (Hans Reichenbach), Zeit, ‚Personalität‘ und Identität (Peter Bieri), der konstitutiven Verschränkung von Zeit und ‚Handeln‘ sowie ‚Reden‘ (Peter Janich) und der Auseinandersetzung mit McTaggarts These über die ‚unreality of time‘ (Robin Le Poidevin) gelten. Die sich anschließenden literatur- und sprachwissenschaftlichen Arbeiten von Günther Müller, Käte Hamburger, Eberhard Lämmert, Alfonso de Toro und Roland Harweg beleuchten die „Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst“ (Müller), die „Zeitlosigkeit der Dichtung“ (Hamburger) und die Bauformen des Erzählens (Lämmert). Jenseits dieser klassischen Arbeiten präsentiert der Textauszug von de Toro eine Weiterentwicklung des Genette’schen Modells und Roland Harwegs Ausführungen differenzieren Müllers Überlegungen weiter aus. Neue Impulse setzen vor allem die Beiträge von Jan Christoph Meister und Inderjeet Mani, die, zum einen, die Engführung von kognitiven/computergestützten Ansätzen und philosophischen Fragen vorführen, und, zum anderen, Zeit aus der Perspektive der Artificial Intelligence (AI) beleuchten. In historischer Langperspektive betrachtet, erweist sich das Genette’sche Standardmodell von Zeit nur als eine mögliche Form unter vielen. Es gilt also den Fokus auf jene Formen von Zeit zu lenken, die nicht dem gleichförmigen, linearen und allumfassenden Standardtypus entsprechen, und es gilt davon ausgehend, nach den konzeptuellen Konsequenzen für ein erweitertes erzähltheoretisches Modell von Zeit zu fragen. Die virulenten Fragen, die zugleich die Desiderate benennen, betreffen drei Punkte:

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Brian Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame“. In: Narrative 8/1 (2000), S. 23–42; Brian Richardson: „Beyond Story and Discourse: Narrative Time in Postmodern and Nonmimetic Fiction“. In: Ders. (Hrsg.): Narrative Dynamics. Essays on Time, Plot, Closure, and Frames. Columbus 2002, S. 47–63; kritisch zu Richardson Dan Shen: „Defense and Challenge: Reflections on the Relation between Story and Discourse“. In: Narrative 10 (2002), S. 222–243; Brian Richardson: „Some Antinomies of Narrative Temporality. A Response to Dan Shen “. In: Narrative 11 (2003), 234–236; Dan Shen: „What Do Temporal Antinomies Do to the StoryDiscourse Distinction? A Reply to Brian Richardson’s Response“. In: Narrative 11 (2003), S. 237–241. Jan Christoph Meister/Wilhelm Schernus (Hrsg.): Time. From Concept to Narrative Construct. A Reader. Berlin/Bosten 2011.

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1. die Konzeption von Zeit, die im Vergleich mit dem bestehenden Modell flexibler und zudem offen für semantische Programme sein muss, ohne dass man die Orientierung am begrifflichen Denken aufgibt; 2. die Historisierung von Zeit, die sich nicht in der diachronen Betrachtung vordefinierter erzählerischer Phänomene erschöpfen darf, sondern die Kategorien, mit denen sie arbeitet, selbst als historisch begreifen muss; 3. die generischen und medialen Eigenlogiken in der Gestaltung von Zeit, die – ungeachtet des Booms der inter- und transmedialen Narratologie – bislang nur bedingt in das Theoriedesign aufgenommen wurden. Erstrebenswert ist folglich ein flexibles, aber dennoch durch Begriffe strukturiertes Konzept von Zeit, das es erlaubt, unterschiedliche Formen von Zeit, ihre Semantiken sowie ihre Historizität und ihre mediale Bedingtheit zu erfassen. Als Ansatzpunkte für diese Herausforderungen können besonders jene Arbeiten dienen, die sich den medialen und generischen Eigenlogiken62 von Zeitvorstellungen widmen (übersehen werden sollen dabei freilich nicht die transmedialen Kontinuitäten) oder die ihr Augenmerk auf die historische Variabilität von Zeitvorstellungen richten. Denn gerade vor dem Hintergrund von historischer und medialer Alterität ist der Blick für die Funktionsweise der eigenen Zeitkonzepte geschärft,63 sodass zugleich die blinden Flecke der Theorie sichtbar werden. 2. Zeiten erzählen – Konzept und Aufbau des Bandes und der Artikel Der Band versteht sich als Versuch, systematisch zur Bearbeitung der skizzierten Desiderate beizutragen. Dabei verfolgen wir ein Drei-PunkteProgramm, in dem erstens eine methodenreflexive Perspektive auf Fragen

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Impulse für die unterschiedlichen generischen und medialen Perspektiven liefen u. a. Brian Richardson: „‚Time is Out of Joint‘. Narrative Models and the Temporality of the Drama“. In: Poetics Today 8 (1987), S. 299–309; Götz Pochat: Bild – Zeit. Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit. Wien u. a. 1996; Helen Powell: Stop the Clocks! Time and Narrative in Cinema. London 2012; Karin Kukkonen: „Space, Time, and Causality in Graphic Narratives: An Embodied Approach“. In: Daniel Stein/Jan-Noёl Thon (Hrsg.): From Comic Strips to Graphic Novels. Contributions to the Theory and History of Graphic Narrative. Berlin/Boston 2013, S. 49–66. Zu den Beiträgen, die die historische Alterität und teils auch Kontinuität von Zeitkonzepten in den Blick rücken, zählen u. a. Bachtin (Anm. 20); Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007; Irene J. F. de Jong/René Nünlist (Hrsg.): Time in Ancient Greek Literature. Leiden 2007; Udo Friedrich/Andreas Hammer/Christiane Witthöft (Hrsg.): Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2014.

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der Zeitgestaltung eingenommen wird; im Rahmen dessen, zweitens, die medialen und generischen Differenzen bei der Konzeption des analytischen Instrumentariums berücksichtigt werden sollen; und dem, drittens, ein in erzählerischer, diegetischer und semantischer Hinsicht relationales Verständnis von Zeit zugrunde liegt,64 das die Verschränkung von Zeit mit anderen Größen analytisch zu fassen versucht und so ihre Vielgestaltigkeit beschreibbar machen will. Welche konkreten Fragen kommen in diesem Zusammenhang auf? Und welche Aspekte von Erzählungen werden wichtig? 2.1 Methodische Zugänge Das erzähltheoretische Konzept von Zeit steht wenigstens zum Teil in der Tradition der rhetorischen Unterscheidung zwischen ordo naturalis und ordo artificialis.65 Wie die systematisch-historische Skizze andeutet, lässt sich die erzähltheoretische Auseinandersetzung mit Zeit von der Rhetorik über den Russischen Formalismus bis in die Gegenwart, zugespitzt formuliert, als Synthetisierungs- und Ausdifferenzierungsprozess bei gleichbleibenden Grundannahmen lesen. Damit wurde eine bestimmte Form von Zeit als maßgeblich verabsolutiert; sie ist in den etablierten erzähltheoretischen Kategorien präsupponiert. Die methodische Reflexion setzt dann ein, wenn man sich Zeit nicht mehr mit den bereitgestellten Begriffen nähert, sondern dafür entweder Begriffe aus anderen methodischen Kontexten nutzt, oder stärker von den konkreten Erzählphänomenen ausgeht. Anders gewendet bedeutet dies, dass man sich von der Ahistorizität der narratologischen Begriffe und damit von ihrer Universalität verabschiedet. Theorieimporte sind stets möglich und relativ einfach zu bewerkstelligen. Die Kategorien aber dezidiert vom Gegenstand her zu denken, wurde von Harald Haferland und Matthias Meyer im Rahmen einer ‚historischen

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Bereits die klassisch-strukturalistische Erzählforschung hat Zeit als eine relationale Größe verstanden, doch ging es dabei um das Zusammenspiel der verschiedenen narrativen Ebenen, aus dem die spezifische Temporalität eines Erzähltextes resultierte. Genette (Anm. 9), S. 19 f., Hervorhebung im Original: „Die Zeit und der Modus spielen beide auf der Ebene der Beziehung zwischen Geschichte und Erzählung, während die Stimme sowohl die Beziehung zwischen Narration und Erzählung wie die zwischen Narration und Geschichte umfaßt.“ Konzeptuell geht die Idee, Zeit als relationale Kategorie zu begreifen, auf den Versuch zurück, eine historische Narratologie der Zeit für die Frühe Neuzeit zu entwerfen und so die Spezifik frühneuzeitlicher Zeitvorstellungen, wie sie in Erzähltexte eingeschrieben sind, herauszuarbeiten, vgl. Lukas Werner: Erzählte Zeiten im Roman der Frühen Neuzeit. Eine historische Narratologie der Zeit (in Vorbereitung). Vgl. Ulrich Ernst: „Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie“. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 179–199.

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Narratologie‘ in Aussicht gestellt. Sie machen sich für eine ‚historische Narratologie‘ stark, „sei es, um ihr kategoriales Gerüst historisch gewendet zu sehen, oder sei es in der Erwartung, dass sich die kategorial fixierten Phänomene selbst als historisch entstanden erweisen lassen“.66 Beides – der Theorieimport und die historische Perspektive – kann dazu beitragen, die methodische Annäherung an Zeit so zu gestalten, dass sie offen wird für all jene Phänomene, die jenseits einer gleichförmigen und allumfassenden Zeit liegen. Zwei wichtige Fragen stellen sich: Welche Ansätze besitzen ein reflexives Potential, sodass sie Impulse für die Behandlung von Zeit geben können? Wie kann eine gegenstandsadäquate Form der Historisierung, die methodische Reflexion verspricht, aussehen? 2.2 Mediale und generische Differenzen Einen analogen Effekt kann man sich von der medien- und gattungsvergleichenden Perspektive erhoffen. Gotthold Ephraim Lessings Gegenüberstellung von bildender Kunst und Sprachkunst als Raum- und Zeitkunst mag den historischen Referenzpunkt für die klassischen Debatten bilden, doch liegt die langfristige Herausforderung sicherlich in der Integration der medialen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Geht es bei den medialen Differenzen um teils grundlegend andere Gestaltungsmöglichkeiten, denn je nach Medium stehen textuelle, visuelle und auditive Elemente zur Verfügung, so wird in den drei literarischen Großgattungen Zeit durch Sprache evoziert. Auch wenn ihnen das gleiche Material zur Verfügung steht, wird es unterschiedlich gestaltet. Dies gilt für die Großgattungen wie auch für Subgattungen. Bachtins Beispiel der temporalen Besonderheiten des antiken Liebes- und Abenteuerromans als ‚Abenteuerzeit‘ wurde bereits erwähnt.67 In welchen temporalen Aspekten gibt es Schnittmengen zwischen den unterschiedlichen medialen Narrativen und verschiedenen Gattungen? Und an welchen Stellen werden medien- und gattungsspezifische Konzepte von Zeit und generische Eigenlogiken sichtbar? – Das sind die ebenso grundsätzlichen wie virulenten Fragen.

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Harald Haferland/Matthias Meyer: „Einleitung“. In: Dies. (Hrsg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarbeit von Carmen Stange und Markus Greulich. Berlin/New York 2010, S. 1–15, hier S. 7. Zum Programm einer historischen Narratologie vgl. zudem Ansgar Nünning: „Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects“. In: Bernhard Reitz/Sigrid Rieuwerts (Hrsg.): Anglistentag. 1999 Mainz. Trier 2000, S. 345–373; Monika Fludernik: „The Diachronization of Narratology“. In: Narrative 11 (2003), S. 331–348. Bachtin (Anm. 20), S. 9–35.

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2.3 Zeit als relationale Kategorie Zeit als relationale Größe zu verstehen bedeutet, dass man im Rahmen systematischer Überlegungen die konstitutive Rolle des Erzählens berücksichtigt, die Verschränkung von Zeit mit anderen Elementen der erzählten Welt sowie die unterschiedlichen Formen der Thematisierung von Zeit. Dies sei kurz erläutert: Insofern der Erzählakt das Erzählte performativ hervorbringt, ist die Konstituierung des Erzählten nicht von den erzählerischen Grundoperationen trennbar. Auf welche Art und Weise werden Ereignisse verbunden? Und was hat die Art ihres Zusammenhangs mit den zugrundeliegenden Zeitvorstellungen zu tun? Welche Rolle spielt die Perspektive für die temporalen Effekte eines Textes? – Dies sind mögliche Fragen, die die erzählerische Dimension der Relationalität betreffen. Ereignisse indizieren das Vergehen von Zeit, denn in der Zustandsveränderung wird die Differenz zwischen zwei Zeitpunkten sichtbar.68 Als abstrakte Dimension liegt Zeit zwar der erzählten Welt zugrunde und modelliert die Ereignis- und Geschehensmöglichkeiten, aber greifbar ist sie nur dort, wo sie ‚Spuren‘ in der erzählten Welt hinterlässt. Ereignisse als dynamische Elemente der erzählten Welt vollziehen sich in Raum und Zeit. Aufgrund ihrer „besondere[n] strukturelle[n] Wesenheit“ bestimmt Zeit, so Herman Meyer, „die Gesamtstruktur des jeweiligen Erzählwerks“. Raum und Zeit sind deshalb „notwendige Elemente der erzählten Welt“,69 die als „korrelative[ ] epische[ ] Fügungskräfte[ ]“ die erzählte Welt formen.70 Raum und Zeit, das haben Bachtins Überlegungen zum Chronotopos gezeigt, können schwerlich separat gesehen werden: die „Zeit ergießt sich […] gleichsam in den Raum“.71 Auf „bestimmten Abschnitten des Raumes“ erfolgt eine „besondere[ ] Verdichtung und Konkretisierung der Kennzeichen der Zeit“. Insofern ist der „Chronotopos als die hauptsächliche Materialisierung der Zeit im Raum das Zentrum der gestalterischen Konkretisierung“.72 Welche Formen des Zusammenspiels zwischen Zeit und Elementen der erzählen Welt gibt es? Welche Elemente spielen

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Arthur C. Dantos Formel einer „erzählenden Erklärung“ zeigt den Zusammenhang von Zeit und Ereignis anschaulich, indem das Ereignis in einer temporalen Reihe von t-1 bis t-3 situiert wird: „(1) x ist F in t-1. (2) H ereignet sich mit x in t-2. (3) x ist G in t-3.“ (Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1980, S. 376). Herman Meyer: „Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 236–267, hier S. 236. Meyer (Anm. 69), S. 240. Bachtin (Anm. 20), S. 181. Bachtin (Anm. 20), S. 188.

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jenseits der engen Verbindung von Zeit und Raum eine Rolle? Und wie wird dergestalt Zeit modelliert? – Dies sind einige Fragen, die die diegetische Dimension der Relationalität von Zeit betreffen. Sowohl im Fall der erzählerischen wie der diegetischen Relationalität wird Zeit zwischen den Zeilen herausgelesen und als abstrakte Dimension rekonstruiert. Wie steht es aber um Formen ihrer expliziten und impliziten Thematisierung in Narrativen? Nur selten wird Zeit derart explizit auf ihre erzählerische Funktion hin befragt wie in Robert Musils Mann ohne Eigenschaften (1930–1932, teils posthum)73 oder in Thomas Manns Zauberberg.74 Aber es gibt eine Vielzahl von Motiven und Themen, die einen temporalen Kern besitzen. Immer dann, wenn beispielsweise Fragen der Erinnerung diskutiert werden, geht es zugleich auch um die dahinterstehenden Zeitkonzepte. Zu fragen wäre aus erzähltheoretischer Sicht: Welche virulenten Themen und Motive besitzen einen temporalen Nukleus? Und welche erzählerische Bedeutung kommt diesen im weitesten Sinne temporalen Motiven zu? – Dies sind jene Fragen, die man mit Blick auf die semantische Relationalität von Zeit stellen sollte. 2.4 Aufbau des Bandes und Struktur der Artikel Das skizzierte Drei-Punkte-Programm gibt die Grundstruktur des Bandes vor und die Artikel antworten auf die eben skizzierten Fragen. Die erste Sektion gilt den methodischen Zugängen (I); die zweite den medialen und generischen Eigenlogiken (II) und die dritte entfaltet die Relationalität von Zeit in drei Untersektionen, die jeweils der diegetischen (III.a), der erzählerischen (III.b) und der semantischen Dimension (III.c) gelten. Die einzelnen Artikel folgen einer Struktur, die darauf ausgelegt ist, erzähltheoretische Überlegungen und interpretatorische Anwendung zusammenzubringen (erschlossen werden die systematisch relevanten Aspekte durch die Inhaltsübersicht zu Beginn jedes Aufsatzes). Narratologisches wie erzähltheoretisches Nachdenken kann sich u. E. nicht in der reinen Theoretisierung erschöpfen, sondern muss sich immer am erzählenden Text/Medium abarbeiten und im Dialog mit diesem entstehen. Jeder Artikel besteht deshalb aus zwei Teilen. Im ersten Teil (I) werden die theoretischen Grundlagen skizziert; dies geschieht meist durch einen Forschungsüberblick oder durch eine eigene Systematik, die die einschlä-

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Beispielsweise im Kapitel „Heimweg“, in dem Ulrich über die temporalen und kausalen Verknüpfungen des Lebensfadens nachdenkt, vgl. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hrsg. v. Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 650. Besonders programmatisch ist das Unterkapitel „Strandspaziergang“, vgl. Mann (Anm. 7), S. 748–757.

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gigen Debatten berücksichtigt. Im zweiten Teil der Artikel (II) wird das heuristische Potential der vorgestellten bzw. entwickelten Systematik anhand einer exemplarischen Analyse vorgeführt. Die Untersuchungsgegenstände entfalten ein breites historisches, kulturelles und mediales Spektrum, um so der Vielfältigkeit der Phänomene Rechnung zu tragen: von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart, von der spanischen über die russische und englische bis hin zur deutschen und französischen Literatur und schließlich von der Literatur und Malerei bis zum Film. In der ersten Sektion des Bandes (I) werden vier aktuelle methodische Impulse vorgestellt, die je eigene Zugänge zu Zeit anbieten. Lena Schüch stellt einen computerphilologischen Zugriff vor, der das Genette’sche Instrumentarium operationalisiert und dessen heuristischen Wert sie anhand der Lektüre von William Faulkners A Rose for Emily (1930) vorführt. Aus der Perspektive der possible worlds theory fragt Christoph Bartsch nach der Zeitgestaltung in Jack Londons The Star Rover (1915). Mit Blick auf frühneuzeitliche Texte, die eine besondere Herausforderung für die Erzähltheorie darstellen, verhandeln Lukas Werner und Jana Maroszová die Möglichkeiten und Formen einer adäquaten Historisierung und beschreiten dabei ganz unterschiedliche Wege. Kontrastiert werden so ein kontextualisierender und ein vornehmlich formaler Historisierungsansatz. Die zweite Sektion gilt den generischen und medialen Differenzen sowie den Kontinuitäten in den Zeitvorstellungen. Frauke Bode richtet den Fokus auf Zeit in der Lyrik, dabei diskutiert sie Gedichte von Garcilaso de la Vega und Jaime Gil de Biedma. Den Zusammenhang von Zeit und Drama untersucht anhand von Max Frischs Die Chinesische Mauer (1946) Antonius Weixler. Der Großteil des Sammelbandes widmet sich Erzähltexten, sodass er als das expandierte dritte Glied in dieser Reihe fungiert. Jenseits der Gattungstrias untersucht Stephan Brössel Zeit im Film, insbesondere ihre komplexe Struktur in Christopher Nolans Memento (2000). Antonius Weixler hingegen fragt abschließend nach den Formen von Zeit in der Malerei sowie nach ihrer Bedeutung für die Futuristen und Kubisten. Die dritte Sektion gilt dem Zusammenspiel von Zeit mit anderen diegetischen Elementen (III.a), mit erzählerischen Grundoperationen (III.b) sowie mit Themen und Motiven (III.c). Matthias Aumüller verhandelt anhand von Reiseberichten über die frühe Sowjetunion das Zusammenspiel von Zeit und Ereignis. Der Verschränkung von Zeit und Raum und ihrer Konfiguration in Adalbert Stifters Ein Gang durch die Katakomben (1844) widmet sich Kai Spanke, während Carmen Lăcan sich des Verhältnisses von Zeit und Figur annimmt und nach den temporalen Bedingungen der Identitätskonstruktion in Max Frischs Stiller (1954) fragt. Im Zentrum der Auseinandersetzung mit den diegetischen Formen der Rela-

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tionalität stehen also Ereignis, Raum und Figur als die Grundelemente einer jeden erzählten Welt. Die erzählerische Relevanz des Tempus – insbesondere diejenige des Präsens – rücken in der nächsten Untersektion Armen Avanessian und Anke Hennig ins Zentrum. Indem Matei Chihaia und Birte Fritsch anhand von Marcel Prousts À la recherche du temps perdu (1913–1927) nach dem Verhältnis von Zeit und Stimme und Wolf Schmid anhand von F. M. Dostoevskijs Der Jüngling (1875) nach der Bedeutung der Erzählperspektive für temporale Effekte fragen, nehmen sie sich der erzählerischen Vermittlungsweisen an. Stefanie Roggenbuck untersucht die Folgen von Polyphonie als besonderer Form der Stimmgestaltung für die erzählte Zeit. Die letzte Untersektion schließlich widmet sich einigen Themen und Motiven, die eng mit Zeit verbunden sind, aber weniger strukturelle Aspekte betreffen, sondern vielmehr semantische. Berit Callsen greift mit ‚Präsenz‘ einen im aktuellen Forschungsdiskurs prominenten Aspekt heraus und untersucht Präsenzeffekte bei Nathalie Sarraute. Julian Hanebeck arbeitet die Aporien des Jetzt in Laurence Sternes Tristram Shandy (1759–1767) heraus und Christoph Gardian die Bedeutung der Atemporalität für den literarischen Expressionismus. Die Poetologie des Wartens und ihre erzählerische Bedeutung untersucht Andrea Erwig in Robert Musils Erzählung Die Vollendung der Liebe (1911). Der Beitrag von Manfred Weinberg, der das Augenmerk auf David Finchers Fight Club (1999) richtet, gilt dem Verhältnis von Erinnern und Erzählen sowie demjenigen von Literatur und Film. 2.5 These: von der Zeit zu Zeiten Vor dem Hintergrund des differenzierten Zugriffs auf Zeit und mit Blick auf die Vielfältigkeit des untersuchten Materials wird es mehr als schwierig, anhand der versammelten Beiträge die klassische Frage des Augustinus Quid est enim tempus? – „Denn was ist die ‚Zeit‘?“75 – auf Anhieb umfassend und präzise zu beantworten. Man wird wohl in dieselbe Verlegenheit kommen wie Augustinus; intuitiv scheint es klar zu sein, doch in dem Moment, in dem man eine Antwort auf diese Frage zu formulieren versucht, kann man es nicht. Wir machen aus dieser Not eine Tugend: Es kann im Folgenden nicht um Zeit als ein einheitliches und verbindliches Konzept gehen. Die eine Zeit – so die These, die den ge-

____________ 75

Augustinus: Bekenntnisse. Confessiones. Aus dem Lateinischen übersetzt von Joseph Bernhart. Hrsg. von Jörg Ulrich. Frankfurt a. M./Leipzig 2007, S. 275.

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samten Band durchzieht – gibt es nicht. Hat man die Fülle der temporalen Phänomene im Blick und versucht man über Zeit zu sprechen, so wird man schnell den Singular zugunsten des Plurals aufgeben müssen. Der Band widmet sich der methodisch, medial, generisch oder historisch bedingten Pluralität der Zeitformen. Erzählt wird nicht die Zeit – es werden Zeiten erzählt. Literatur Abbott, H. Porter: „Narrativity“. In: Peter Hühn u. a.: Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL = http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/narrativity [letzter Zugriff: 7.4.2014]. Augustinus: Bekenntnisse. Confessiones. Aus dem Lateinischen übersetzt von Joseph Bernhart. Hrsg. von Jörg Ulrich. Frankfurt a. M./Leipzig 2007. Avanessian, Armen/Hennig, Anke: Präsens. Poetik eines Tempus. Zürich 2012. Avanessian, Armen/Hennig, Anke (Hrsg.): Der Präsensroman. Berlin/Boston 2013. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008. Banfield, Ann: Unspeakable Sentences. Narration and Representation in the Language of Fiction. Boston 1982. Barthes, Roland: „Der Diskurs der Geschichte“ [1967]. In: Ders.: Das Rauschen der Sprache. Frankfurt a. M. 2006, S. 149–163. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Brooks, Peter: Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative. New York 1984. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934. Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1978. Currie, Mark: About Time. Narrative, Fiction and the Philosophy of Time. Edinburgh 2007. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1980. Ein kurtzweilig Lesen von Dil Ulenspiegel. Nach dem Druck von 1515. Mit 87 Holzschnitten. Hrsg. von Wolfgang Lindow. Stuttgart 2001. Ernst, Ulrich: „Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie“. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 179–199. Fludernik, Monika: „Chronology. Time, Tense and Experientiality in Narrative“. In: Language and Literature 12 (2003), S. 117–134. Fludernik, Monika: „The Diachronization of Narratology“. In: Narrative 11 (2003), S. 331–348. Frick, Werner: Providenz und Kontingenz. Untersuchungen zur Schicksalssemantik im deutschen und europäischen Roman des 17. und 18. Jahrhunderts. 2 Bde. Tübingen 1988. Friedrich, Udo/Hammer, Andreas/Witthöft, Christiane (Hrsg.): Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2014. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 21998.

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I. Methodische Zugänge

LENA SCHÜCH (Hamburg)

Computerphilologische Analyse. „Tagging in a huge meadow of time“ – Analysen der Zeit in Erzähltexten mit Hilfe des Programms CATMA (Computer Aided Textual Markup and Analysis)1 1. Computer Aided Textual Markup and Analysis (CATMA) 29 – 1.1 Zeit und Erzähltexte 29 – 1.2 Ebenen der (Erzähl-)Textanalyse mit CATMA 32 – 1.3 Zeit-Tagsets 34 – 2. „A Rose for Emily“ – Die Zeitstruktur als subjektive „huge meadow of time“ gegen das Voranschreiten der Zeit 39 – 3. Fazit und Reflexion des Verfahrens 48

Das erste, auf Pelletiers Initiative zustande gekommene Telefongespräch begann, obwohl Espinoza den Anruf erwartet hatte, ein wenig schleppend, als fiele es beiden schwer, einander zu sagen, was früher oder später gesagt werden musste. In den ersten zwanzig Minuten dominierten tragische Töne, wobei zehnmal das Wort Schicksal und vierundzwanzigmal das Wort Freundschaft fiel. Der Name von Liz Norton fiel fünfzigmal, davon neunmal vergebens. […] Das Wort Liebe fand zweimal Verwendung, bei jedem einmal. Das Wort Angst wurde sechsmal und das Wort Treue einmal verwendet (von Espinoza). Das Wort Entschlossenheit fiel zwölfmal […]. Das Wort Kategorie fand insgesamt, in Singular und Plural, neunmal Verwendung. Das Wort Strukturalismus einmal (bei Pelletier). […] Danach wurde das Gespräch flüssiger.2

Das, was in diesem literarischen Beispiel auf sehr kunstvolle und selbstreflexive Weise vorgeführt wird, ist eine abstrakte, fast nur auf Worthäufigkeiten beschränkte Beschreibung eines Gesprächs. Grundsätzlich könnte dies das Ergebnis einer einfachen computerphilologischen Text-Abfrage sein: Zeige mir alle Substantive, die signifikant häufig auftreten, in ihrem Kontext. Dies ist eine Operation, die häufig als erste Annäherung an den Text über die sog. word list vorgenommen wird,3 welche alle Vorkommnisse im Text nach ihren Häufigkeiten aufführt. Bei einer solchen Abfrage

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Für die vielen hilfreichen Hinweise zu diesem Beitrag und die Zusammenarbeit an den Tagsets danke ich Evelyn Gius. Roberto Bolaño: 2666. München 2004, S. 85 f. Vgl. Jan Christoph Meister: „Computational Approaches to Narrative“. In: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narratology. London/New York 2005, S. 78–80, hier S. 78.

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erhält man zunächst nur quantifizierbare Ergebnisse – nicht mehr, nicht weniger. Trotzdem eignen sich diese Schlüsselwörter und Wortfelder, die aufgerufen werden, schon für Interpretationshypothesen. Denn auch derjenige, der den Roman nicht kennt, kann aufgrund der gehäuften Nennung von „Liebe“, „Schicksal“, „Freundschaft“, „Angst“ und „Treue“ sowie des Namens „Liz Norton“ schließen, dass es sich bei diesem Telefongespräch zwischen zwei Männern vermutlich um eine vertrackte Dreiecksbeziehung handelt. Nicht zufällig wird auch der „Strukturalismus“ genannt, denn zum einen sind Pelletier und Espinoza Literaturwissenschaftler, zum anderen werden die Elemente des Systems über ihre Quantität hervorgehoben und müssen wie bei einer Analyse noch in ihren Kontext gesetzt, also qualitativ ausgewertet werden. Auch bei der computergestützten Textanalyse von Literatur kann die Methode der qualitativen Auswertung quantifizierbarer Ergebnisse eingesetzt werden. Auf diese Weise ist auch eine Annäherung an die Zeitstruktur eines Texts möglich, denn dieses Verfahren erleichtert das Erfassen, Sortieren und Auswerten von Zeitmanifestationen in Erzähltexten. Das Programm CATMA (Computer Aided Textual Markup and Analysis)4 bietet sich für eine computergestützte Textanalyse besonders an, denn der Vorteil dieser Software ist, dass sie auch Nutzer ohne Computer-Affinität einen schnellen Einstieg in die Analysemethode bietet und die Kenntnis von Programmier- oder Auszeichnungssprachen für die Arbeit mit dem Programm nicht notwendig ist. Im Folgenden stehen vor allem diese Fragen im Vordergrund: Wie kann man computergestützte Verfahren im Zusammenhang mit der Analyse von „Zeit“ in Erzähltexten verwenden? Wie kann ein Text mit MetaInformationen (sog. Markup) ausgezeichnet werden, um aussagekräftige Ergebnisse über die Zeit in einem Text zu erhalten? Hierbei werden zunächst auf der Grundlage gängiger narratologischer Zeit-Theorien Textauszeichnungskategorien (sog. Tags) entwickelt, die auf Erzähltexte allgemein anwendbar sind. Diese Tags werden danach in der Analyse des Erzähltextes A Rose for Emily5 (1931) von William Faulkner eingesetzt. Das heißt, der Text wird mit den vorher bestimmten Zeit-Kategorien ausge-

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Das Programm CATMA (www.catma.de) wurde an der Universität Hamburg entwickelt. Für diesen Beitrag wurde die Version 3.2 verwendet, die u. a. folgende Funktionen unterstützt: Anzeigen von einer Wortliste, Berechnung von Kollokationen, Definition von Tags (Auszeichnungskategorien) und hierarchischen Tagsets, Verwendung der Tags als (auch überlappendes) standoff-Markup (Auszeichnungen) im gewählten Text, Ausführen komplexer Abfragen mittels Query Builder, Distributionsanzeige, vgl. http://www.catma.de/ functionality [letzter Zugriff: 27.9.2011]. William Faulkner: „A Rose for Emily “. In: M. Thomas Inge (Hrsg.): A Rose for Emily. Columbus 1970, S. 9–16. Alle im Text folgenden Nachweise des Primärtextes beziehen sich auf diese Ausgabe.

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zeichnet, sodass anschließend Anfragen gestellt werden können, wie z. B.: An welcher Stelle im Text tauchen besonders viele Zeitinformationen auf und von welcher Art sind diese? Lassen sich Korrelationen zwischen verschiedenen Arten von Zeitinformationen finden? Über diese und ähnliche Fragen lassen sich Interpretationshypothesen finden, stützen und eventuell verfeinern, um sich dem Zeitkonzept des Textes anzunähern. 1. Computer Aided Textual Markup and Analysis (CATMA) 1.1 Zeit und Erzähltexte In der Erzähltheorie, die unter anderem die Auszeichnungskategorien für CATMA liefert, lassen sich drei grundsätzliche Perspektiven auf Zeit unterscheiden: (1) eine grammatisch-morphologische, (2) eine relationale, die sich auf das Verhältnis der Zeit von Diskurs- und Geschichtsebene bezieht, sowie (3) eine übergeordnete, philosophische:6 (1) Zeit stellt sich auf der Mikro-Ebene des Textes in Form von grammatischen und morphologischen Einheiten, sog. Zeit-Markern, dar. Dazu zählt zum einen die Verwendung von Zeitformen, wie dem Präteritum, Präsens und Futur, welche in literarischen Texten jedoch häufig nicht gemäß ihrer grammatischen Zeitbedeutung verwendet werden. Ein prominentes Beispiel ist das ‚epische Präteritum‘.7 Auch viele Formen der Präsensverwendung haben keinen zeitlichen Bezug, sondern werden beispielsweise für generelle, zeitlose Reflexionen verwendet (wie z. B. das generische Präsens). In experimentelleren Texten kann sich die Bedeutung von Zeitformen sogar verschieben, indem sie entgegen der Logik für andere Zeitstufen (beispielsweise die Verwendung von Präsens als Vergangenheitsform) verwendet werden.8 Zum anderen finden sich neben den Zeitformen an der Textoberfläche Zeitangaben, die sich in relative und nicht-relative9 bzw. implizite und explizite Typen kategorisieren

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Vgl. Monika Fludernik: „Time in Narrative“. In: David Herman/Manfred Jahn/MarieLaure Ryan (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York 2005, S. 608–612, hier S. 608. Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957, S. 61 f. Vgl. hierzu Uri Margolin: „Of What Is Past, Is Passing, or to Come; Temporality, Aspectuality, Modality and the Nature of Literary Narrative“. In: David Herman (Hrsg.): Narratologies. New Perspectives on Narrative Analysis. Columbus 1999, S. 142–166, sowie Monika Fludernik: „Chronology, Time, Tense and Experientiality in Narrative“. In: Language and Literature 12/2 (2003), S. 117–134. Annähernd sind relative und nicht-relative Zeitangaben auch in McTaggarts A- und B-line properties enthalten, vgl. Inderjeet Mani: „The Flow of Time in Narrative. An Artificial Intelligence Perspective“. In: Jan Christoph Meister/Wilhelm Schernus (Hrsg.): Time – From

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lassen.10 Nicht-relative, objektive Zeitangaben sind kalendarisch, wie etwa „am 7. Juli 2011“; relative Zeitangaben sind abhängig von einem deiktischen Zentrum als Referenzpunkt (beispielsweise von einer der Figuren oder vom Erzähler) und können in die Zukunft, Gegenwart („foreground deictics“) oder in die Vergangenheit verweisen („background deictics“).11 Darunter lassen sich ebenso vage, auf subjektiver Empfindung basierende Zeitangaben fassen, wie z. B. „viele Jahre sind vergangen“. Grundsätzlich wird in jeder fiktionalen Welt ein zeitlicher Referenzrahmen entwickelt, der nicht mit dem des Lesers oder des Autors übereinstimmt.12 (2) In Erzähltexten liegt eine „doppelte Zeitlichkeit“13 von Diskurs(discours) und Geschichtsebene (histoire) vor, d. h. es lassen sich eine Zeit des Erzählens und eine Zeit des Geschehens unterscheiden.14 Aus dem Verhältnis dieser zwei Ebenen zueinander ergeben sich drei grundsätzliche Analyse-Kategorien: ‚Dauer‘ (die Dauer eines Geschehens im Vergleich zu der Dauer der Darstellung im Text), ‚Frequenz‘ (die Häufigkeit, in der ein Geschehnis stattfindet, in Relation zur Häufigkeit, in der es erzählt wird) und ‚Ordnung‘ (die Reihenfolge, in der das Geschehen wiedergegeben wird). Letztere Kategorie prägt vor allem in der (klassi-

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Concept to Narrative Construct. A Reader. Berlin/New York 2011, S. 217–234, hier S. 218; zu McTaggarts A- und B-Linie vgl. J. Ellis McTaggart: „The Unreality of Time“. In: Mind 17 (1908), S. 457–474. Vgl. Alfonso de Toro: Die Zeitstruktur im Gegenwartsroman: am Beispiel von G.. García Márquez’ „Cien años de soledad “, M. Vargas Llosas „La casa verde“ und A. Robbe-Grillets „La maison de rendez-vous“. Tübingen 1986, S. 49 f.; bzw. Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar 2008, S. 154. Die Begriffe „foreground“ und „background“ werden hier anders definiert, als sie Roland Harweg verwendet. Harwegs „foreground“-Deixis bezieht sich generell auf die Deixis, während die „background“-Deixis anaphorische Ausdrücke beinhaltet, die sich auf die temporalen Koordinaten des Erzählers beziehen (vgl. hierzu Monika Fludernik: „Narrative Schemata and Temporal Anchoring“. In: Journal of Literary Semantics 21 [1992], S. 118–153, hier S. 124). Da bei dieser Definition jedoch nicht berücksichtigt wird, in welche zeitliche Richtung die Zeitausdrücke zeigen (also ob ins Vorher, Nachher oder Jetzt), wird bei den Tags (s. u.) zwischen Anaphorik und Deixis einerseits sowie der Zeigerichtung (background, foreground) andererseits differenziert. Denn für die Bestimmung der Zeitstruktur kann es relevant sein, ob sich beispielsweise eine bestimmte Zeigerichtung im Text häuft. Im Gegensatz zu Harwegs Modell, das die Begriffe „foreground“ und „background“ in Bezug auf die Figur räumlich begreift, werden sie bei diesem Ansatz in ihrer zeitlichen Bedeutung verwendet. Das heißt, es wird bei den Deiktika davon ausgegangen, was zeitlich vor und hinter der Figur liegt; bei den Anaphorika was vor oder nach dem Zeitpunkt liegt, auf den referiert wird (Roland Harweg: „Perfekt und Präteritum im gesprochenen Neuhochdeutsch. Zugleich ein Beitrag zur Theorie des nichtliterarischen Erzahlens.“ In: Orbis 24/1 [1975], S. 130–183). Vgl. Fludernik (Anm. 6), S. 611. Vgl. Lahn/Meister (Anm. 10), S. 136. Vgl. u. a. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998, S. 21–110; sowie Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1978.

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schen) Narratologie, wie mit Chronologie umgegangen wird:15 Auf der Ebene der Geschichte (histoire) sind die Geschehnisse in der chronologischen Reihenfolge angeordnet (ordo naturalis), auf der Ebene des Diskurses können sie in einer von der Chronologie abweichenden Anordnung (ordo artificialis) erzählt sein. Um diese Verschiebungen beschreiben zu können, nutzt Gérard Genette die inzwischen weit verbreiteten Begriffe „Analepse“ für den Rückgriff und „Prolepse“ für den Vorgriff.16 Darüber hinaus wird der Terminus „Simullepse“17 für zwei gleichzeitig stattfindende Geschehnisse verwendet. Hier zeigt sich: Zeit tritt im Erzählwerk nie allein in Erscheinung, sondern ist vor allem an Geschehnisse gebunden.18 Um die Zeitstruktur eines Textes zu ermitteln, schlägt Alfonso de Toro eine Segmentierung der Erzählung in Handlungssegmente und übergeordnete Handlungssequenzen (Erzählstränge) vor, um diese zur Rekonstruktion des Handlungsablaufs und der Ermittlung der Zeitstruktur von der Diskursebene auf die Geschichtsebene (annähernd) chronologisch anordnen zu können.19 Ausgenommen sind davon achronische Elemente,20 deren zeitliche Position aufgrund fehlender Zeitinformationen oder fehlender logischer Handlungszusammenhänge nicht eindeutig ermittelt werden kann. (3) In einem übergeordneten thematischen Zusammenhang erscheint Zeit als philosophisches Konzept, das man als organisierendes Prinzip und kognitives Konstrukt der menschlichen Wahrnehmung betrachtet.21 Es wird grundsätzlich zwischen der messbaren objektiven, linear verlaufenden Zeit und der psychologischen bzw. subjektiven Zeit unterschieden,22 die sich auf der morphologischen Ebene u. a. in Form von relativen und nicht-relativen Zeitangaben widerspiegeln. Die objektive, allgemeine Zeit zerfällt in disparate Augenblicke: Die Vergangenheit ist vorüber, die Zukunft ist noch nicht gekommen und die Gegenwart ist reduziert auf den Punkt, in dem die Vergangenheit mit der Zukunft verschmilzt.23 Aus diesem Grund ist die übliche Vorstellung von Zeit in der modernen west-

____________ 15 16 17

18 19 20 21 22 23

Vgl. Fludernik (Anm. 6), S. 609. Genette (Anm. 14), S. 32–54. Die Formulierung ist eine Ergänzung von Lahn/Meister (vgl. Anm. 10), S. 140, in Anlehnung an Ken Ireland: „Temporal Ordering“. In: David Herman/Manfred Jahn/ Marie-Laure Ryan (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narratology. London/New York 2005, S. 591–592, hier S. 592. Vgl. Mani (Anm. 9), S. 217. Vgl. de Toro (Anm. 10), S. 32–43. Vgl. Genette (Anm. 14), S. 54 f. Vgl. Ned Markosian: „Time“. In: Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2008, http://plato.stan ford.edu/entries/time [letzter Zugriff: 21.9.2011]. Vgl. Bradley Dowden: „Time“. In: Internet Encyclopedia of Philosophy, 2011, http://www.iep. utm.edu/time [letzter Zugriff: 21.9.2011]. Vgl. Peter Kunzmann (Hrsg.): dtv-Atlas Philosophie. München 2001, S. 71.

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lichen Kultur die einer einzelnen, geraden, nicht-verzweigten, durchgängigen Linie, die sich zu beiden Seiten ohne einen Anfang und ohne ein Ende erstreckt.24 Das subjektive Zeitempfinden hingegen ist meist nichtlinear angelegt und daher in der Darstellung das stärker von Widersprüchen geprägte sowie komplexere Konzept. Die Organisation subjektiver Erinnerungen etwa, die vielfach in der modernen Literatur thematisiert wird, ist in den meisten Fällen nicht chronologisch, sondern z. B. nach thematischen Aspekten organisiert. In diesen Fällen wird Zeit zumeist in Raummetaphern konzeptualisiert,25 was sich in vielen Formulierungen auf der Oberfläche des Textesniederschlägt (z. B. die metaphorische Umschreibung als „meadow“, wie noch im Folgenden zu sehen sein wird). 1.2 Ebenen der (Erzähl-)Textanalyse mit CATMA Für die computergestützte Analyse der Kategorie ‚Zeit‘ bietet es sich an, die Wortliste nach Begriffen zu durchsuchen, die mit dem Wortfeld ‚Zeit‘ eng in Verbindung stehen, also nach Zeitangaben wie Wochentagen, Monaten, Zeitdeiktika, Zeitadverbien usw. Auf diese Weise lässt sich in einem ersten Zugriff schon über die Häufigkeiten abschätzen, wie stark z. B. beispielsweise Geschehnisse zeitlich verortet sind, was für Zeiträume sie einnehmen, ob relative oder nicht-relative Zeitangaben dominieren. Denn lässt sich beispielsweise eine hohe Dichte an exakten, nicht relativen Daten finden, kann das ein Hinweis darauf sein, dass es sich um einen gewissenhaften Erzähler handelt, der die Geschehnisse sehr genau verorten möchte und eher die Rolle eines Chronisten übernimmt (oder zumindest dies versucht bzw. mit der Form des historischen Berichts spielt). Dominieren hingegen relative, deiktische Zeitangaben deutet das darauf hin, dass das Erzählte tendenziell auf der subjektiven Rekonstruktion einer Erinnerung beruht und die Erzählperspektive zu großen Teilen ‚figural‘ ist,26 also aus der zeitlichen Perspektive der handelnden Figur berichtet wird. Dabei muss es sich jedoch nicht zwangsläufig um einen heterodiegetischen Erzähler handeln, sondern es könnte auch ein dominanter homo- bzw. autodiegetischer Erzähler vorliegen, was in Kombination mit der Häufigkeit der auftretenden Personalpronomina ebenfalls

____________ 24 25 26

Vgl. Markosian (Anm. 21), Kap. 3. Vgl. Alfred Wollmann: „Der Ausdruck der Zeit durch Präpositionalphrasen und Tempus“. In: Werner Hüllen/Rainer Schulze (Hrsg.): Tempus, Zeit und Text. Heidelberg 1985, S. 137– 155, hier S. 137. Zu den Begriffen „figural“ und „Perspektive“ vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin 2005, S. 125–150.

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über die word list bzw. word cloud27 als visualisierte Wortliste (s. u.) ermittelt werden kann. Darüber hinaus kann man von den über signifikante Häufigkeiten ermittelten Schlüsselwörtern eines Textes ‚Kollokationen‘ abfragen lassen, d. h. Wörter, die im unmittelbaren Umfeld des jeweiligen Schlüsselwortes vorkommen. Über den sog. Z-score28 lässt sich ermitteln, wie signifikant diese Verbindung ist. Verknüpfungen mit Artikeln etwa haben einen niedrigen Z-score, weil sie häufiger vorkommen und daher üblicher sind. Ungewöhnliche, also signifikante Verbindungen weisen einen hohen ZScore auf. Auf diese Weise können bedeutungshafte Korrelationen bzw. Wortfelder um ein bestimmtes Schlüsselwort ermittelt werden, aus denen sich häufig Interpretationshypothesen formulieren lassen. Gehäufte Vorkommnisse von Ausdrücken wie „some time ago“, „always“ oder auch nur „time“ allein zeigen jedoch weder welche übergeordneten Zeit-Konzepte noch welche Zeitzusammenhänge (wie z. B. Aspekte der Ordnung) im Text vorliegen. Dazu ist das Verstehen und Interpretieren größerer Sinnzusammenhänge nötig, was nicht allein auf der Basis des Wortmaterials ermittelt werden kann.29 Aus diesem Grund muss zur weiterreichenden Analyse der Text ausgezeichnet werden, d. h. es müssen Metainformationen hinzugefügt werden,30 nach denen gezielt gesucht werden kann und die z. B. sagen: Hier liegt eine relative Zeitangabe, eine Analepse oder ein generisches Präsens vor. Um zu aussagekräftigen Ergebnissen zu gelangen, müssen in der computergestützten Textanalyse die drei oben genannten Perspektiven der Erzählforschung verbunden werden: Über das Isolieren von Zeitwörtern sowie Auszeichnen von vordefinierten Zeit-Markern im digitalisierten Text oder Korpus lassen sich zunächst die auf der Textoberfläche vorhandenen Zeitinformationen sammeln und klassifizieren.31 Auf diese Weise können im nächsten Schritt auf Grundlage der Auszeichnungen Aspekte der Zeitbehandlung identifiziert werden, wie z. B. Phänomene der Ordnung (Analepsen, Prolepsen). So ist es möglich, Schritt für Schritt die Zeitstruktur des Textes freizulegen und Korrelationen zwischen Zeit-

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Die Funktion zur Erstellung einer word cloud ist in CATMA selbst noch nicht enthalten. Es lassen sich dafür aber zum einen „Voyeur Tools“ (http://hermeneuti.ca/voyeur/tools# Cirrus) oder auch „Wordle“ (http://www.wordle.net) nutzen [letzter Zugriff: 19.10. 2011]. Der Z-Score bezeichnet eine statistische Methode, mit der die Signifikanz der Differenz zwischen der beobachteten und erwarteten Häufigkeit eines Elements im Text/Korpus ermittelt wird, vgl. Svenja Adolphs: Introducing Electronic Text Analysis. New York 2006, S. 140. Vgl. Meister (Anm. 3), S. 79 f. Vgl. Fotis Jannidis: „Was ist Computerphilologie?“. In: Jahrbuch für Computerphilologie 1 (1999), S. 39–60, hier S. 45, http://computerphilologie.uni-muenchen.de/jahrbuch/jb1/ja nnidis-1.html [letzter Zugriff: 28.9.2011]. Vgl. Adolphs (Anm. 28), S. 17–36.

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Markern und textinhärenten Zeitphänomenen zu erkennen. Aus der ermittelten spezifischen Zeitstruktur und -semantik wiederum lassen sich Rückschlüsse auf das übergeordnete, philosophische Zeit- und Erinnerungskonzept als essentieller Teil der Interpretation ziehen. Denn, wie u. a. Toro formulierte, ist die Zeitstruktur ein Teil der „Botschaft“ des zugrunde liegenden Prinzips eines narrativen Texts,32 wie sich auch in der folgenden Analyse zeigen wird. 1.3 Zeit-Tagsets Für die Textanalyse mit CATMA werden Metainformationen als sog. Tags definiert. Diese Tags können als thematische Sammlung in sog. Tagsets zusammengefasst und hierarchisch geordnet werden.33 CATMA ermöglicht es, verschiedene Ebenen an Tags im Text übereinander zu legen. Dadurch kann man z. B. beim Zeit-Tagging sowohl die Zeitinformationen auf der grammatisch-morphologischen Ebene als auch beispielsweise Phänomene der Ordnung auf der übergeordneten Ebene auszeichnen.34 Zunächst wurde die grammatisch-morphologische Ebene inklusive Zeitangaben auf das hierarchische Tagset ‚Time‘ abgebildet. Dieses Tagset ist weiter unterteilt in Zeitformen () und Zeitdaten (). Unter den ‚tenses‘ finden sich die drei Grundformen Gegenwart (), Vergangenheit () und Futur () sowie der Tag

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De Toro (Anm. 10), S. 5. Die hierarchische Anordnung der Tags im Tagset bringt einen großen Vorteil mit sich: Wird der Tag eines Unterasts verwendet, werden automatisch alle darüberliegenden Tags mitgetaggt. Wenn beispielsweise die Zeitangabe „damals“ als getaggt wird, ist sie entsprechend auch als , , und ausgezeichnet und kann unter all diesen Kategorien für eine spätere Abfrage verwendet werden. Das heißt, der Nutzer kann z. B. nach allen Vorkommnissen von im Text suchen und erhält dann als Ergebnis all diejenigen Wörter oder Wortgruppen, die als , , usw. bis zum untersten Ast getaggt sind. Darüber hinaus kann der Nutzer entscheiden, wie stark ausdifferenziert er Tags setzt: Will er z. B. die Zeitformen zunächst nur grammatisch bestimmen, weil er ihre temporale Verwendung (noch) nicht bestimmen kann, nutzt er lediglich die Tags der drei Zeitformen sowie die Verbformen auf der ersten Stufe der Hierarchie, ohne zwischen zeitlicher Unmarkiertheit und echter zeitlicher Markiertheit zu differenzieren. Bei dem Markup in CATMA handelt es sich um sog. standoff-Markup, bei dem die Auszeichnungen selbst nicht im Text, sondern in einem Extradokument (User Markup Document) gespeichert werden, das mittels einer eindeutigen Objektreferenz (numerische Anfangs-/Endposition der Bezugssequenz innerhalb der Gesamtzeichenkette) operiert. Dadurch ist es sowohl möglich, mehrere – sich evtl. widersprechende – User Markups übereinander zu legen, als auch überlappende Tags innerhalb desselben User Markups zu vergeben.

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, der die beiden Tags für die Verlaufsform und für die einfache Form beinhaltet. Letztere beiden Kategorien können je nach Bedarf zusätzlich getaggt werden.35 Im Deutschen wird die Verlaufsform zwar nicht über die grammatische Zeitform realisiert, jedoch in anderen Sprachen wie z. B. dem Englischen oder Russischen.36 Unter den Zeitformen und kann noch einmal bestimmt werden, ob es sich um eine Zeitform handelt, die wirklich die Zeitstufe anzeigt, die sie grammatisch markiert (, ) oder nicht. Unter jene ohne temporale Markiertheit fallen beim Präsens folgende Sonderformen: Das Erzählerpräsens () (der Erzähler thematisiert im Präsens den Akt des Erzählens), das generische Präsens () für allgemeine Reflexionen, das tabularische Präsens (, zur Beschreibung eines statischen Zustands), das historische oder dramatische Präsens (, zur Hervorhebung einer besonderen Passage und zur Spannungserzeugung) sowie das reproduzierende Präsens für Inhaltszusammenfassungen ().37 Als nicht-grammatischer Tempusgebrauch der Vergangenheit wird das „epische Präteritum“ genannt. Laut Käte Hamburger verliert das Präteritum in fiktionalen Texten „seine grammatische Funktion, das Vergangene zu bezeichnen“,38 da der Eindruck vermittelt werde, das Geschehen finde in einer fiktiven Gegenwart statt.39 Dies kann jedoch nur uneingeschränkt für das Erzählen eines

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In einer neueren Version des Programms werden die Tags inklusive der Untertags und sowie und (s. u.) keine Tags mehr, sondern Properties sein. Properties sind Merkmale, die an einen bestimmten Tag angehängt werden können. In diesem Fall würde das heißen, dass der Tag das Property „verb form“ erhält, für das man dann die Werte „simple“ oder „progressive“ auswählen kann. Diese Form vereinfacht das Taggen, da nicht extra ein neuer Tag gesetzt werden muss, sondern bei dem bestehenden nur das passende Property mit Wert ausgewählt werden muss, welches bzw. welche dann schon standardmäßig am Tag eingestellt sind. Hans Reichenbach: „The Tenses of Verbs“. In: Jan Christoph Meister/Wilhelm Schernus (Hrsg.): Time – From Concept to Narrative Construct. A Reader. Berlin/New York 2011, S. 1– 12, hier S. 3. Vgl. Lahn/Meister (Anm. 10), S. 152 f. Es ist strittig, ob etwa das historische bzw. dramatische Präsens seine zeitliche Bedeutung wirklich verliert, denn es könnte auch als die zeitliche Perspektive der handelnden Figur betrachtet werden, die in dem Fall wirklich einen Gegenwartsbezug hätte. Hamburger (Anm. 7), S. 61. Das Konzept des epischen Präteritums wurde vielfach diskutiert und kritisiert, so u. a. von Klaus Weimar, der argumentiert, dass das Präteritum auch in fiktionalen Texten mit heterodiegetischem Erzähler seine temporale Qualität nie ganz verliere, da der Erzähler nur schon Geschehenes erzählen könne. Der Gegenwartsbezug komme lediglich durch zwei verschiedene, sich überlagernde deiktische Referenzzentren zustande: dem des Erzählers und dem der handelnden Figur (vgl. Klaus Weimar: „Kritische Bemerkungen zur ‚Logik der Dichtung‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 [1974], S. 10–24, hier S. 20 f.). Trotz der Debatte um das epische Präteritum wird der Tag

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heterodiegetischen Erzählers gelten, da dieser sich in keinem zeitlichen Verhältnis zum Erzählten befindet.40

Abbildung 1: Tagset ‚Time‘

Der zweite große Ast des Tagsets ‚time‘, die Zeitangaben, teilt sich zunächst in implizite () und explizite () Zeitangaben. Die impliziten Zeitangaben beinhalten die indirekte und metaphorische Zeitbehandlung im Text: Mit werden die Angaben getaggt, die die Jahreszeiten sowie das Wetter betreffen, mit alle diejenigen, die sich auf bestimmte Ereignisse beziehen. Der Tag bezieht sich auf gesamtgesellschaftliche, zumeist generationsbedingte Veränderungen, die Bereiche wie Zeitgeist, Mode, technische Weiterentwicklungen und Moral betreffen. In A Rose for Emily heißt es zum Beispiel: „It was a big squarish house that once had been white, decorated with

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zur Verfügung gestellt, um markieren zu können, wenn eine Verwendung des Präteritums entgegen der grammatischen Markierung vorliegt oder vermutet wird. Vgl. Lahn/Meister (Anm. 10), S. 151.

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cupolas and spires and scrolled balconies in the heavily lightsome style of the seventies [...]“ (9, Hervorhebung von mir). Hier wird die generationenbedingte Veränderung mittels des architektonischen Stils vermittelt. Der -Tag ist für Zeichen, die das Vergehen von Zeit implizieren, wie z. B. das Ticken der Uhr, das Ergrauen der Haare, angelaufenes Silber usw.

Abbildung 2: Tagset ‚Time-relation_discours-histoire‘

Die direkten Zeitrepräsentationen werden zunächst in Zeitpunkt (, z. B. „am Mittag“), Zeitspanne (, z. B. „den ganzen Sommer lang“) und iterative Ausdrücke (, z. B. „immer“) aufgeteilt. Unter Zeitpunkt und Zeitspanne finden sich jeweils identische Tags: Es kann ausgewählt werden, ob relative oder nicht-relative Zeitangaben vorliegen. Die nicht-relativen, also erzähler- und figurenunabhängigen kalendarischen Zeitangaben können vollständig („7. Juli 2011“) oder unvollständig („am 7. Juli“) sein. Bei den relativen Zeitanga-

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ben hingegen, die von dem Standpunkt einer der Figuren oder des Erzählers abhängig sind, wird zwischen deiktischen („jetzt“, „gestern“) und anaphorischen („zu diesem Zeitpunkt“ o.Ä.) unterschieden. Die deiktischen können wiederum in Zukunft und Gegenwart verweisen () oder in die Vergangenheit () bzw. als Anaphorika Nachzeitigkeit (, z. B. „zwei Tage später“) bzw. Vorzeitigkeit (, z. B. „zwei Tage zuvor“).41 Eine Abbildung der Kategorien zur Beschreibung der Relationen von Geschichts- und Diskurszeit ergibt die in Abbildung 2 visualisierte hierarchische Struktur des Tagsets ‚Time-relation‘. Von dem Zweig „timerelation_discours-histoire“ abgehend sind die drei Kategorien der Zeitbehandlung nach Genette abgebildet: Ordnung (), Dauer () und Frequenz (). Die Kategorie teilt sich in die drei Unterkategorien Chronologie ( als Markierung für den Fall der chronologisch erzählten Erzählung) sowie Anachronie () und Achronie (). Die Anachronie wiederum erfasst Rückblicke (), Vorgriffe () und gleichzeitig stattfindende Vorgänge (). Prolepse und Analepse sind gemäß der Genette’schen Terminologie noch weiter in Reichweite () und Umfang () differenziert:42 Hier kann jeweils noch einmal zwischen externer und interner Prolepse/Analepse43 sowie kompletter oder partieller Analepse/Prolepse44 (in Relation zum Haupterzählstrang) unterschieden werden. Weiterhin können in Bezug auf die Reichweite auch Mischformen auftreten: Analepsen/Prolepsen können sich innerhalb des Haupthandlungsstrangs ereignen und zusätzlich über ihn hinausreichen () oder zeitlich vor dem Haupterzählungsstrang beginnen und dann in ihn hineinreichen ().45 Achronische Textsegmente, die zeitlich nicht (eindeutig) einzuordnen sind, können thematisch oder räumlich mit der Haupthandlung verbunden sein, was sich mit oder markieren lässt. Weiterhin werden unter Phänomenen der Dauer zeitdeckendes Erzählen () sowie unter nicht zeitdeckendes Erzählen ()

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Vgl. Anm. 11. Vgl. Genette (Anm. 14), S. 31–54. Interne Analepsen oder Prolepsen ‚passieren‘ innerhalb des Zeitraums des Haupterzählstrangs, externe zeitlich vor oder nach dem Haupterzählstrang. Komplette Analepsen ‚berühren‘ den Punkt des Haupterzählstrangs, an dem die Erzählung unterbrochen wurde, um die Analepse zu erzählen; partielle Analepsen enden an einem beliebigen Punkt, ohne an den Haupterzählstrang heranzureichen. Ausgezeichnet werden mit den Tags der Ordnung Sätze bzw. ganze Abschnitte. Vgl. Lahn/Meister (Anm. 10), S. 142.

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und die verschiedenen Formen der Zeitdehnung (, ), Zeitraffung () bis hin zur Auslassung ()46 gefasst. „Frequenz“ beinhaltet singulatives () bzw. multi-singulatives (), repetitives () und iteratives () Erzählen.47 Mit diesen Tags werden die jeweiligen Geschehnisse inklusive ihrer – wenn vorhandenen – Zeitausdrücke ausgezeichnet. Da die Segmentierung der Handlung eine wichtige Rolle für die Rekonstruktion des zeitlichen Ablaufs spielt, werden zusätzlich zu den beiden beschriebenen Tagsets ‚Time‘ und ‚Time-relation‘ Teile des Tagsets ‚Plot‘ für die Analyse genutzt. Wenn die verschiedenen Handlungsstränge und -segmente schon durch Tags markiert sind, können ihnen z. B. Kategorien der Ordnung nachträglich einfacher und schneller hinzugefügt werden. Die Handlungsstränge werden bei diesem Verfahren mit Buchstaben ausgezeichnet (), die Segmente mit dem Buchstaben ihres übergeordneten Handlungsstrangs sowie einer Zahl zur Nummerierung (). 2. A Rose for Emily – Die Zeitstruktur als subjektive „huge meadow of time“ gegen das Voranschreiten der Zeit Die Kurzgeschichte A Rose for Emily von William Faulkner ist bekannt für ihre komplexe Zeitstruktur, welche die literaturwissenschaftliche Forschung seit Jahrzehnten zu entschlüsseln versucht.48 Das Leben Emily Griersons, das seit dem Tod ihres Vaters aus den Fugen geraten ist, wird aus der Sicht der Bewohner des Ortes Jefferson, Mississippi, in nicht chronologischer Reihenfolge erzählt. Die Erzählung reicht zeitlich bis kurz nach ihren Tod, als herauskommt, dass sie den Leichnam ihres Liebhabers schon seit Jahren in ihrem Haus aufbewahrt hat. Um sich dem Text und an seinem Zeit-Konzept computergestützt zu nähern, kann man zuerst die Wortliste betrachten, oder in diesem Fall eine word cloud, die

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Die Ellipse kann in markierter () oder nicht markierter () Form vorkommen. Bei der markierten Ellipse wird die auf die Ellipse hinweisende Formulierung getaggt, bei der impliziten die Leerstelle zwischen zwei Segmenten, in der die Ellipse vermutet wird, vgl. Lahn/Meister (Anm. 10), S. 144. Vgl. Genette (Anm. 14), S. 81–90. Wie Laura Getty festhält, gab es mindestens 18 unterschiedliche Versuche, die Chronologie der Kurzgeschichte herzustellen, vgl. Laura J. Getty: „Faulkner’s A ROSE FOR EMILY“. In: The Explicator 63/4 (2005), S. 230–234, hier S. 230. Probleme der Bestimmung der Chronologie wurden u. a. auch von Moore detailliert behandelt, vgl. Gene M. Moore: „Of Time and its Mathematical Progression: Problems of Chronology in Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: Studies in Short Fiction 29/2 (1992), S. 195–204.

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anhand der Wortgröße die relationale Häufigkeit der Vorkommnisse im Text visualisiert.49

Abbildung 3: Word cloud der Kurzgeschichte A Rose for Emily mit hervorgehobenen Zeitwörtern.

Bei dieser Abbildung steht zunächst vor allem die Hauptfigur („Miss“, „Emily“) im Vordergrund, aber es sind auch schon einige mit Zeit verbundene Vorkommnisse zu erkennen, darunter auch das Wort „time“ selbst. Hervorgehoben (in schwarz) sind in der Grafik darüber hinaus die Wörter „years“, „week“, aber auch „day“, was zunächst einmal darauf hindeutet, dass es große, ungenau umschriebene Zeiträume gibt, die in mehrere kleinere weiter unterteilt werden. Dies ist noch nicht allzu überraschend, interessanter wird es aber, wenn man jene Kollokationen des Vorkommnisses „time“ mit hohem Z-Score betrachtet. Als statistisch seltene Verbindungen sind nämlich zwei Wörter besonders auffällig, „progression“ und „confusing“. Damit deuten sich schon zwei grundsätzliche und konträre Zeit-Konzepte an: das der linear verlaufenden objektiven Zeit sowie dasjenige der subjektiven, „verwirrenden“, nicht-linearen Zeit, das zumeist in der Erinnerung abgebildet wird. Tatsächlich stehen diese beiden Kollokationen in demselben Kontext, wie die Abfrage zeigt. Auf Emilys Beerdigung wird Folgendes beschrieben: […] the very old men—some in their brushed Confederate uniforms—on the porch and the lawn, talking of Miss Emily as if she had been a contemporary of theirs, believing that they had danced with her and courted her perhaps, confus-

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Diese Visualisierung wurde mit Hilfe des Voyeur Tools „Cirrus“ erstellt, http://herme neuti. ca/voyeur/tools#Cirrus [letzter Zugriff: 30.9.2011].

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ing time with its mathematical progression, as the old do, to whom all the past is not a diminishing road, but, instead, a huge meadow which no winter ever quite touches, divided from them now by the narrow bottleneck of the most recent decade of years. (S. 15 f., Hervorhebungen von mir)

Abbildung 4: Taggen in CATMA: Der Text in der Mitte wird über manuelles Markieren mit den definierten Tags des Tagsets (rechts) ausgezeichnet.

Dieses subjektive Konzept der Zeit als „huge meadow“, in der die Geschehnisse nicht linear, sondern als ein Nebeneinander von Verknüpfungen angelegt sind, beschreibt das poetische Konzept der Kurzgeschichte und bildet das Erinnerungsvermögen des Erzählers bzw. des Erzählerkollektivs ab, welche als Zeitgenossen Emilys ihr Leben verfolgt haben.

Abbildung 5: Die Distribution der Zeitangaben in A Rose for Emily.

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Darüber hinaus zeigt sich, dass „time“, wenn man betrachtet, in welchen Kontexten es erscheint, sich meist nur in sehr vagen oder relativen Zeitangaben an der Textoberfläche manifestiert, in Formulierungen wie „some time ago“ and „at that time“ usw. Und damit ist man bei einem generellen Problem: Auf der Wortebene wird nicht erfasst, was alles für Formulierungen und Kontexte mit dem Konzept in Verbindung stehen. Aus diesem Grund kann man weiterführende verwendbare Informationen aus der computergestützten Textanalyse nur über Tags generieren. Den Auszeichnungen kann man sich zunächst quantitativ nähern. Über eine sog. Distributionsanalyse, die die Verteilung ausgewählter Tags über den Text anzeigt, lässt sich zum einen ablesen, an welchen Stellen im Text eine Kategorie besonders häufig bzw. selten vorkommt. Zum anderen ist es möglich, bei der Abfrage mehrerer Tags mögliche Korrelationen zwischen den einzelnen Elementen festzustellen. Für die erste Distributionsanalyse wurden die getaggten Zeitangaben abgefragt. Bei diesem Graphen (Abbildung 5) bildet die x-Achse den Text von 0 bis 100 Prozent ab; die y-Achse zeigt die Anzahl der getaggten Vorkommnisse im Text. Aus der Grafik geht hervor, dass relative Zeitpunkte am häufigsten vertreten und viele davon geschehensbezogen sind. Von den nicht-relativen Zeitangaben gibt es jedoch nur einen in den ersten zehn Prozent des Textes. Dies ist eine einzige unvollständige Zeitangabe, nämlich das Jahr 1894; im Text heißt es „that day in 1894 when Colonel Sartoris remitted her taxes“ (9), was zeigt, dass diese Jahresangabe außerdem in eine relative, geschehensbezogene Zeitreferenz eingebunden ist. Wie schon angedeutet, gab es aufgrund dieses Datums vielerlei Versuche, die Geschehnisse der Erzählung chronologisch in einer Zeittafel zu erfassen. Zuletzt wurde in einem Ansatz von Jennifer Burg, Anne Boyle und Sheau-Dong Lang50 mit Hilfe von Constraint Logic Programming51 die Chronologie ermittelt – jedoch wurden auch hier textinterne Widersprüche deutlich, die nur interpretativ zu lösen waren.52 Viele der in der Erzählung genannten Ereignisse können gerade nicht genau datiert, also in das objektive Zeitsystem eingeordnet werden, was die Besonderheit der subjektiven Zeitdarstellung dieses Textes ausmacht. Bei der Analyse ist daher

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Jennifer Burg/Anne Boyle/Sheau-Dong Lang: „Using Constraint Logic Programming to Analyze the Chronology in ‚A Rose for Emily‘“. In: Computers and the Humanities 34/4 (2000), S. 377–392. Diese Methode beschreiben die Verfasser folgendermaßen: „Constraint logic programming is a declarative programming language paradigm that solves problems by enforcing constraints among variables. CLP’s ability to sort numeric variables that do not yet have definite values makes it possible to sort the events of ‘A Rose for Emily’ with only fragmented and relative time information“, Burg/Boyle/Lang (Anm. 50), S. 377. Burg/Boyle/Lang (Anm. 50), S. 385.

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vielmehr von Interesse, wie die Zeitstruktur beschaffen ist, d. h. in welcher Chronologie sich die Ereignisse vermutlich abgespielt haben (Geschichtsebene) und in welcher Reihenfolge sie im Vergleich dazu tatsächlich erzählt werden (Diskursebene). Mit Hilfe der erstellten Chronologie von Burg, Boyle und Lang53 sowie der getaggten Zeitangaben und Handlungssegmente im Text kann man die Zeitstruktur des Erzähltextes folgendermaßen rekonstruieren:54

Abbildung 6: Die Grafik zeigt die Anordnung der Handlungssegmente in der chronologischen Reihenfolge (Geschichtsebene, linke Spalte) sowie in der Reihenfolge des Diskurses (rechte Spalte).

In dieser Grafik (Abbildung 6) werden die einzelnen Handlungssegmente, die getaggt worden sind, einmal rechts in der Reihenfolge des discours, d. h. wie sie in der Erzählung vorkommen, aufgelistet. Daraus ließen sich die

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Burg/Boyle/Lang (Anm. 50), S. 387. Die Chronologie von Burg/Boyle/Lang (Anm. 50) wurde für das Schaubild insofern modifiziert, als die zwei aufeinander folgenden „periods of seclusion“ als eine zusammengefasst werden, weil sie auch auf der Diskursebene nacheinander erzählt werden. Darüber hinaus fehlt in der Chronologie das sehr wichtige Handlungssegment, in dem Emily das Gift in der Apotheke kauft. Außerdem werden Emilys „China painting lessons“ als einzelnes Handlungssegment begriffen, da sich auf dieses als relativer Zeitraum und Zeitpunkt bezogen wird (vgl. 13).

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relativen Zeitangaben isolieren und dazu verwenden, diese in die chronologische Reihenfolge der histoire auf der linken Seite zu bringen. Die Verschiebungen der Positionen wurden mit Pfeilen markiert. Daraus ergibt sich folgendes Bild: Obwohl der zeitliche Ablauf der Erzählung sehr chaotisch wirkt, wird sie in großen Teilen weitgehend chronologisch erzählt. Das eigentliche Ende der Geschichte – also der untere Block der histoire (von dem Steuererlass Emilys bis zu ihrem Tod) – ist einmal komplett nach oben an den Beginn der Erzählung ‚gewandert‘, wie man an den nach oben rechts zeigenden Pfeilen sehen kann. Der obere Block, also vom Tod von Emilys Vater bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihren Malunterricht aufgibt, wird ganz chronologisch am Ende erzählt, was an der Parallelität der nach unten rechts zeigenden Pfeile zu erkennen ist. Der Dreh- und Angelpunkt im wahrsten Sinne des Wortes ist der unangenehme Geruch, der von Emilys Haus kommt. Er hat seine Position auf der discours-Ebene kaum verändert, was Folgen hat. Da zu diesem Zeitpunkt noch nicht erzählt wurde, dass Emily ihren späteren Geliebten Homer Barron getroffen sowie Rattengift gekauft hat, was ja, wie man in der histoire-Reihenfolge sieht, zuvor stattfindet, bringt der Leser diese Ereignisse nicht in einen kausalen Zusammenhang. Umso stärker ist der Horror-Effekt am Ende der Geschichte, als deutlich wird, dass Homer als Leiche bis zu Emilys Tod in ihrem Bett lag. Diese Anordnung der Geschehnisse ist eine Form der Perspektivierung durch den Erzähler, der die Figur Emily auf diese Weise schützt, aber auch das eigene NichtHerstellen von Kausalität zum Zeitpunkt der Geschehnisse nachbildet. Gleichzeitig wird indirekt noch einmal bekräftigt, dass ‚Zeit‘ keine „diminishing road“ (15 f.) ist, wie im Zitat zuvor gesagt wurde. Denn dem Erzähler ist offenbar auch das länger Zurückliegende noch sehr präsent – auch wenn die Chronologie keine große Rolle für ihn zu spielen scheint. Vor allem handelt er thematisch (und nicht chronologisch) die fünf großen ‚unerhörten Begebenheiten‘ aus Emilys Leben ab, die auch in der Textaufteilung in fünf mit römischen Ziffern betitelten Segmenten abgebildet sind: Emilys Weigerung, die Steuern zu bezahlen (I), der unangenehme Geruch, der vom Haus ausgeht (II), das Auftreten Homers (III) und das Erwerben des Arsens (IV), die Entdeckung des toten Körpers in Emilys Wohnung (V). Die Frage ist folglich: Wenn die Makrostruktur der Handlung eigentlich verhältnismäßig simpel angelegt ist, wieso entsteht beim Lesen trotzdem der Eindruck, der ganze Ablauf sei komplett durcheinander geraten und schwer zu rekonstruieren? Wieso entsteht dieser Eindruck, obwohl die Segmente oberhalb und unterhalb dieses Wendepunkts „Smell from Emily’s House“ – mit Ausnahme kleinerer Einschübe – grundsätzlich chronologisch erzählt sind?

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Wie Abbildung 5 zeigt, ist die Anzahl relativer Zeitangaben für die vergleichsweise kurze Erzählung verhältnismäßig hoch (insgesamt 82 Vorkommnisse). Springt man von der Distributionsanalyse aus zu der Stelle im Text, an der die Vorkommnisse an relativen Zeitangaben sehr hoch sind,55 landet man im Text an der Stelle, wo die Episode mit dem unangenehmen Geruch aus Emilys Haus eingeleitet wird: So she vanquished them, horse and foot, just as she had vanquished their fathers thirty years before about the smell. That was two years after her father’s death and a short time after her sweetheart—the one we believed would marry her— had deserted her. After her father’s death she went out very little; after her sweetheart went away, people hardly saw her at all. A few of the ladies had the temerity to call, but were not received, and the only sign of life about the place was the Negro man—a young man then—going in and out with a market basket. (11, Hervorhebungen von mir)

Abbildung 7: Verteilung des Plusquamperfekts () im Vergleich zu Zeitangaben, die Vorzeitigkeit () oder Nachzeitigkeit () anzeigen.

Mit den relativen Zeitangaben wird nicht nur ein verwirrendes Geflecht von Vorher und Nachher aufgebaut, sondern es wird auch auf Geschehnisse rekurriert, die dem Leser zum Zeitpunkt der Erzählung noch gar nichts sagen: So wird „her sweetheart“ Homer Barron erst nach dieser Episode eingeführt, ebenso der unangenehme Geruch. Das heißt, der Leser hat noch keine Verbindung zu diesen Ereignissen aufgebaut, gleich-

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Dies ist in CATMA durch ein Klicken auf den höchsten Punkt der Kurve im Distribution Chart möglich.

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zeitig führt die Menge an Zeitinformationen, mit denen der Rezipient wegen der mangelnden Verortung wenig anfangen kann, eher zu einer Überforderung. Das bedeutet: Die Menge an Zeitinformationen führt den Leser weg vom Zeitpunkt des Geschehens hin zum Geschehen selbst. Dies hat den gleichen Effekt wie keine oder zu wenige Daten: Der Rezipient tendiert dazu, Geschehnisse, deren Zeitstruktur undurchsichtig sind, eher zu sequenzialisieren, also als ein Nacheinander zu verstehen. Das heißt, ihm erscheint es beispielsweise so, als habe Emily das Rattengift erst gekauft, nachdem Geruch von ihrem Haus ausgeht, weshalb ein kausaler Zusammenhang zunächst fern liegt. Diese Verschleierung des Zeitvergehens, die somit auch eine Irreführung des Lesers darstellt, ist insbesondere in Verbindung mit der ‚Dauer‘ zu beobachten: Es zeigt sich, dass die geschehensbezogenen Zeitangaben dort besonders hoch sind, wo Raffungen und Ellipsen auftreten; die Kurven verlaufen fast gleich. Das ist naheliegend, denn je mehr Geschehnisse in geraffter Darstellung auftreten, desto stärker sollten sie zeitlich verortet sein, damit es dem Rezipienten möglich ist, die zeitliche Struktur zu rekonstruieren. Dies ist in diesem Fall jedoch problematisch, da die stärkere Verortung auch hier eher zu einer Verwirrung führt, weil sie an Geschehnisse gebunden wird, die der Leser während des Leseprozesses nicht eindeutig positionieren kann. Auch die Zeitinformationen, die indirekt und vor allem auf metaphorische Weise anzeigen, dass Zeit vergeht (Tag ), sind eher so beschaffen, dass sie den Verfall von Emilys Besitz vorführen, aber keine neuen Informationen zur zeitlichen Strukturierung liefern. Es handelt sich hierbei um Formulierungen wie „tarnished silver“, „obscured“ und „faded“ (16), die in fast barocker Bildlichkeit die Vergänglichkeit des Hauses Grierson illustrieren. Sie sind vornehmlich motivischer Natur und treten, wie die Abfrage zeigt, nie in Zusammenhang mit der Person Emilys selbst auf, als wolle der Erzähler darstellen, dass die Zeit um Emily herum vergeht, sie selbst aber nicht von ihr berührt wird. So ergrauen zwar Emilys Haare, aber der Erzähler begreift dies entgegen der allgemeinen Auffassung nicht als ein Alterungssymptom: When we next saw Miss Emily, she had grown fat and her hair was turning gray. During the next few years it grew grayer and grayer until it attained an even pepper-and-salt iron-gray, when it ceased turning. Up to the day of her death at seventy-four it was still that vigorous iron-gray, like the hair of an active man. (14) She was sick for a long time. When we saw her again, her hair was cut short, making her look like a girl, with a vague resemblance to those angels in colored church windows—sort of tragic and serene […]. (12)

Beide Stellen erscheinen widersprüchlich. Die Veränderung, das Grauwerden ihres Haares, deutet in beiden Fällen das Vergehen einer langen

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Zeitspanne an, die nur vage zu fassen ist. Dennoch wertet der Erzähler diese Veränderung nicht als Altern. Im ersten Zitat wird das Haar als das eines aktiven Mannes beschrieben, im zweiten wird die neue Frisur sogar als Verjüngung gewertet: „making her look like a girl“,56 was im Widerspruch zur vergangenen Zeitspanne steht. Es zeigt sich abermals, dass der Erzähler anscheinend darzustellen versucht, dass Emily sich in einer Temporalität befindet, die von der linearen und objektiven abweicht. Mit diesen Zuweisungen bzw. mit seiner Erzählung insgesamt scheint er zu versuchen, das Vergehen der Zeit gleichsam aufzuhalten, was im Widerspruch zum unaufhörlichen Fortschreiten steht.

Abbildung 8: Verteilung der Tags (geschehensbezogene Zeitangaben) sowie (Raffung).

Doch nicht nur die vielfältigen Zeitangaben () führen zum Teil in die Irre. Es zeigt sich, dass die Zeitstruktur innerhalb der Handlungssegmente auch über die Verwendung der Zeitformen () noch weiter verkompliziert wird. Zum einen verdeutlicht die Distributionsanalyse, dass sehr häufig das Plusquamperfekt () verwendet wird, also innerhalb der Analepsen häufig noch einmal zurück geblickt wird. Gleichzeitig werden aber kaum Zeitangaben mit Vorzeitigkeitsmarkern (), also Formulierungen wie „thirty years before“ (11), verwendet; der Großteil der Zeitangaben ist so beschaffen, dass sie eine Nachzeitigkeit () anzeigen, d. h. Formulierungen wie z. B. „a short time after“. Auf der Mikro-Ebene des Textes

____________ 56

Vgl. Paul A. Harris: „In Search of Dead Time: Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: KronoScope 7 (2007), S. 169–183, hier S. 179.

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lässt sich hier die Tendenz erkennen, gegen das unweigerliche Fortschreiten der Zeit (das auch in der Linearität des Textes enthalten ist) u. a. über Zeitangaben der Nachzeitigkeit mit Hilfe des Plusquamperfektes als Vorzeitigkeitsmarker anzuarbeiten, oder anders formuliert: das Fortschreiten zu „bremsen“. 3. Fazit und Reflexion des Verfahrens Es wird also deutlich, dass zum einen eine Umstellung der Handlungssegmente auf der Makro-Ebene des Textes vorliegt, die durch die auffallend häufige Verwendung von Zeitangaben komplizierter erscheint als sie tatsächlich ist. In Wirklichkeit handelt der Erzähler vor allem die fünf besonders hervorstechenden ‚unerhörten Begebenheiten‘ aus Emilys Leben ab. Doch der chronologische Zusammenhang zwischen diesen Begebenheiten, die zeitlich nur leicht verschoben sind, wird explizit nicht hergestellt. Die achronologische Darstellung führt dazu, dass der Leser keine Kohärenz zwischen den einzelnen Handlungssequenzen herstellt, was den Horror-Effekt der Erzählung ausmacht. Denn auf diese Weise wird verhindert, dass der Rezipient schon vorher ahnt, was mit Homer Barron passiert sein könnte. Auf der Mikro-Ebene der Erzählung blickt der Erzähler jedoch z. B. noch innerhalb der Analepsen jeweils mit Hilfe des Plusquamperfekts vielfach zurück und baut ein großes Geflecht an Ereignissen mit Hilfe teils sehr verwirrender relativer Zeitangaben auf, die davon wegführen, wann etwas passiert ist, hin zu dem, was passiert ist. Das zwangsläufige Fortschreiten der Zeit („its mathematical progression“, 16) wird sowohl auf der Makro-Ebene (durch die Verschiebungen der Handlungssegmente auf Diskursebene) sowie auf der Mikro-Ebene (durch die Verwendung von Zeitdaten und Zeitformen) relativiert bzw. delinearisiert. Die Erinnerung wird im Erzählen in einer „huge meadow of time“ (16) organisiert. In verschiedenen Texten stechen unterschiedliche Phänomene aufgrund ihrer Quantität auf der Textoberfläche besonders hervor; bei A Rose for Emily ist es eindeutig die auffallend häufige Verwendung von relativen Zeitangaben. Die Analyse erfolgte allerdings nur anhand eines kleinen Teils der zeitlichen Informationen, die man in dem Text betrachten kann – wie bei der Beschreibung des Tagsets deutlich wurde, hätte weitaus mehr ausgezeichnet und abgefragt werden können.57 Zum Beispiel hätte man

____________ 57

Nicht alle mit dem Tagset möglichen Analysen können in jedem Text sinnvoll zur Anwendung kommen: Dominieren in einem Text achronische Elemente, wird es etwa nicht möglich sein, die Zeitstruktur zu untersuchen, wie es bei diesem Beispiel geschehen ist, sondern

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mit diesem Verfahren noch herausfinden können, wie die verschiedenen Formen von Analepsen markiert sind oder wie Formen der Frequenz mit Formen der Zeitpermutation korrelieren. Zusammenfassend lässt sich zu diesem Verfahren sagen, dass es nicht dazu gedacht ist, ein herkömmliches close-reading komplett zu ersetzen. Es soll vielmehr dabei helfen, die Beantwortung einer bestimmten Fragestellung zu unterstützen und Ergebnisse zu erhalten, die bei dem subjektiveren Zugang zum Text nicht immer sofort sichtbar werden. Zwar ist das Taggen zunächst mit zusätzlicher Arbeit verbunden, jedoch ergeben sich folgende Vorteile: Zum einen können Daten verarbeitet werden, die ein einzelner Rezipient nicht in der Schnelligkeit und Gründlichkeit erarbeiten könnte,58 und sei es einfach nur, dass man einzelne Zitate oder auch sprachstrukturelle Ähnlichkeiten sucht. Zum anderen ermöglicht der Ansatz darüber hinaus kollaboratives Taggen: Mit einem allgemeinen Basis-Tagset können verschiedene Nutzer auf die gleichen Beschreibungskategorien zurückgreifen und damit unterschiedliche Texte auszeichnen, wobei die Ergebnisse trotzdem vergleichbar bleiben. Wenn ein Korpus an Texten von verschiedenen Nutzern arbeitsteilig ausgezeichnet wird, können schließlich Aussagen zur Kategorie Zeit über eine größere Textmenge hinweg gemacht werden, was von einem einzelnen Interpreten sonst nicht zu leisten wäre. Außerdem können sich die Nutzer auf diese Weise gemeinsam mit Texten auseinandersetzen, vergleichen, wie und was sie getaggt haben und wie sich daraus verschiedene Interpretationshypothesen herleiten lassen. Überdies ist es häufig so, dass man bei diesem Verfahren seine Hypothesen neu formulieren oder verfeinern muss, weil sich teilweise unerwartete Resultate ergeben – wie eben auch im untersuchten Textbeispiel. Zu Beginn der Analyse war noch nicht deutlich, dass die Anordnung der Handlungssegmente nicht so stark von Zeitpermutation betroffen ist, wie es zunächst den Anschein hat, und auch in der Forschung ist das Phänomen offensichtlich nicht behandelt worden. Schon der Ansatz von Burg, Lang und Boyle hat gezeigt, dass bestimmte Fragestellungen, die die Zeitstruktur betreffen, offenbar nur über das computergestützte Verfahren abschließend gelöst werden können. Denn hier wird deutlich: Besonders bei Fragestellungen, zu deren Beantwortung eine große Menge an Teilinformationen, die über den ganzen Text verstreut sind, vonnöten ist, hilft das Verfahren, diese zu isolieren, zu sortieren und damit effektiv für die

____________ 58

man sollte sich dann vielmehr darauf konzentrieren, welche Zeitinformationen auftreten und welche anderen Möglichkeiten der atemporalen Verknüpfung verwendet werden. Vgl. Udo Kuckartz: Einführung in die computergestützte Analyse qualitativer Daten. Wiesbaden 2010, S. 13.

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Interpretation einzusetzen. Außerdem kann man, wie deutlich wurde, eine sehr grobe Strukturmuster mit Hilfe von beispielsweise der Distributionsanalyse ermitteln, gleichzeitig führt das Suchen von Korrelationen häufig zu Mechanismen, die sich auf der Mikro-Ebene abspielen, was eine sehr kleinteilige und genaue Analyse von bestimmten Phänomenen begünstigt. Häufig werden schon beim Taggen strukturelle Muster deutlich, die dann später über Abfragen noch einmal überprüft werden können. Auf diese Weise lassen sich ‚empirischere‘ Ergebnisse als beim normalen Leseprozess finden, auch wenn konstatiert werden muss: Die Auswahl und das Taggen selbst sind immer schon eine Form der Vorauswahl, Perspektivierung und Interpretation. Literatur Adolphs, Svenja: Introducing Electronic Text Analysis. New York 2006. Bolaño, Roberto: 2666. München 2004. Burg, Jennifer/Boyle, Anne/Lang, Sheau-Dong: „Using Constraint Logic Programming to Analyze the Chronology in ‚A Rose for Emily‘“. In: Computers and the Humanities 34/4 (2000), S. 377–392. Dorfmüller-Karpusa, Käthi: „The Expression of Time in Texts“. In: Werner Hüllen/ Rainer Schulze (Hrsg.): Tempus, Zeit und Text. Heidelberg 1985, S. 39–51. Dowden, Bradley: „Time“. In: Internet Encyclopedia of Philosophy, 2011, http://www.iep. utm.edu/time/ [letzter Zugriff: 21.9.2011]. Faulkner, William: „A Rose for Emily“. In: M. Thomas Inge (Hrsg.): A Rose for Emily. Columbus 1970, S. 9–16. Fludernik, Monika: „Narrative Schemata and Temporal Anchoring“. In: Journal of Literary Semantics 21 (1992), S. 118–153. Fludernik, Monika: „Chronology, Time, Tense and Experientiality in Narrative“. In: Language and Literature 12/2 (2003), S. 117–134. Fludernik, Monika: „Time in Narrative“. In: David Herman/Manfred Jahn/MarieLaure Ryan (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York 2005, S. 608–612. Getty, Laura J.: „Faulkner’s A ROSE FOR EMILY“. In: The Explicator 63/4 (2005), S. 230–234. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1957. Harris, Paul A.: „In Search of Dead Time: Faulkner’s ‚A Rose for Emily‘“. In: KronoScope 7 (2007), S. 169–183. Harweg, Roland: „Perfekt und Präteritum im gesprochenen Neuhochdeutsch. Zugleich ein Beitrag zur Theorie des nichtliterarischen Erzahlens“. In: Orbis 24/1 (1975), S. 130–183. Ireland, Ken: „Temporal Ordering“. In: David Herman/Manfred Jahn/Marie-Laure Ryan (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narratology. London/New York 2005, S. 591–592.

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Verwendete Software/Tools CATMA 3.2, Universität Hamburg, 2011, http://www.catma.de. Cirrus, Voyeur Tools, 2011, http://hermeneuti.ca/voyeur/tools#Cirrus.

CHRISTOPH BARTSCH (Wuppertal)

Zeit und Possible Worlds Theory. Eskapismus in ‚mögliche Zeiten‘ in Jack Londons The Star Rover 1. Zeit in der ‚possible worlds theory‘ 55 – 1.1 Mögliche Welten und Zeit – David Lewis’ modalrealistischer Ansatz 55 – 1.2 Erzählte Welten und Zeit in der ‚possible worlds theory‘ 57 – 2. Erzählte Zeit(en) in Jack Londons Gefängnisroman „The Star Rover“ 62 – 2.1 Gefängniswelt und Inhaftierungszeit(en) 62 – 2.2 Das Verhältnis von Welt, Zeit und Figur 65 – 2.3 Zuverlässig und unzuverlässig erzählte Zeit(en) 69 – 2.4 Figurale Fantasiezeit(en) als Katalysator von Plotstrukturen 72

Fiktionale Erzählungen entwerfen nicht nur Welten, sondern auch Zeiten, die diese Welten strukturieren. So sind die Ereignisse in Leo Tolstois Krieg und Frieden (1868/69) in den Jahren 1805 bis 1812 der französischrussischen Kriege angesiedelt, das Geschehen in Juli Zehs dystopischem Roman Corpus Delicti (2009) ist in das Jahr 2057 verlegt und in J.R.R. Tolkiens Lord of the Rings (1954/55) vernichtet der Hobbit Frodo den Ring Saurons am 25. März 3019 des dritten Zeitalters. Die Zeit in Tolstois Roman folgt dem historischen Zeitverlauf unserer wirklichen Welt, wohingegen die Zeit, von der Zehs Erzähler berichtet, als eine mögliche Zukunft unserer Welt inszeniert wird. Und während selbst die fiktive Zeitrechnung von Tolkiens Mittelerde einer uns vertrauten linear-progressiven Chronologie analog ist, entwirft Philip K. Dicks Counter-Clock World (1967) eine Weltzeit, die im Jahre 1986 plötzlich stehenbleibt, sich umkehrt und von da an rückwärts verläuft. Die Beschaffenheit fiktiver Welten zu untersuchen, ist seit den 1970er Jahren das Anliegen der possible worlds theory (PWT).1 Befragt man jedoch die narratologische PWT nach der Bedeutung von Zeit, wird deutlich, dass einerseits ‚Welt‘ als eine Konstellation raumzeitlich verbundener

____________ 1

Eine aktuelle Darstellung der PWT bietet Marie-Laure Ryan: „Possible Worlds“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg, http://www.lhn.uni-ham burg.de/article/possible-worlds [letzter Zugriff: 23.2.2015]. Einen wenngleich älteren so doch konzisen Überblick bietet Carola Surkamp: „Narratologie und ‚Possible-Worlds Theory‘. Narrative Texte als alternative Welten“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 153–185.

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Elemente verstanden wird,2 dass aber andererseits die einschlägigen Arbeiten von Thomas G. Pavel, Marie-Laure Ryan und Lubomír Doležel reflektierte Betrachtungen zur Zeit weitgehend aussparen.3 Diese Diskrepanz mag ihre Ursache darin haben, dass Zeit in der strukturalistischen Erzählforschung vor allem als eine zentrale Kategorie für die Analyse der erzählerischen Vermittlung (discours) gebraucht wird. Die Zeit der erzählten Geschichte (histoire), so wie sie sich in der kausal-sukzessiven Folge von Ereignissen manifestiert bzw. rekonstruieren lässt, ist meist nur insofern von Interesse, als sie als referentieller Parameter für die Beschreibung der Erzählzeit fungiert.4 Da sich PW-Ansätze als paradigmatische Abkehr von strukturalen Untersuchungsanliegen profilieren und stattdessen die semantischen Aspekte eines Textes ins Zentrum rücken,5 scheint die klassischnarratologische Kategorie der Zeit aus dem analytischen Fokus gefallen zu sein, ohne dass bislang eine theoriekonsistente Rekonzeptualisierung von Zeit vorgelegt worden ist. Die Grundannahme der PWT, dass fiktionale Erzählungen eigenständige Welten evozieren, impliziert die prinzipielle Alterität erzählter Zeiten: Werden erzählte Welten nicht in referentieller Abhängikeit von der realen Welt verstanden, müssen auch erzählte Zeiten als von der realen Zeit emanzipiert und temporale Qualitäten (wie Linearität, Progression etc.) als kontingent gedacht werden.6 So gewendet, verknüpft die Zeit innerhalb einer Erzählung nicht nur einzelne Ereignisse zu einer Geschichte, sondern sie ist viel mehr ein konstitutives Element der Diegese, also des erzählten Universums, in dem sich die Handlung vollzieht.7 Im Gegensatz zum strukturellen Begriff der ‚erzählten Zeit‘, der auf die Dauer der erzählten Geschichte Bezug nimmt,8 bietet sich der Begriff der ‚diegetischen Zeit‘an, um über die vordergründige Handlung hinaus auf die je spezifi-

____________ 2 3

4 5 6 7 8

Vgl. Ruth Ronen: Possible Worlds in Literary Theory. Cambridge 1994, S. 199. Vgl. auch Antonius Weixler/Lukas Werner: „Zeit und Erzählen – eine Skizze“ (in diesem Band), S. 6. Thomas G. Pavel: Fictional Worlds. Cambridge, MA/London 1986; Marie-Laure Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory. Bloomington u. a. 1991; Lubomir Doležel: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998. Eine Ausnahme ist Ronen (Anm. 2), die dem Aspekt der Zeit ein eigenes Kapitel widmet (S. 197–228). Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. 3., durchgesehene und korrigierte Aufl. München 2010. Zu diesen zählen unter anderem der ontologische Status einer erzählten Welt und ihr referentieller Bezug zur Wirklichkeit, der Wahrheitsgehalt fiktionaler Aussagen, die interne Plotdynamik und die Figurenidentität; vgl. Surkamp (Anm. 1). Vgl. Weixler/Werner (Anm. 2), S. 6. In Anlehnung an Genette (Anm. 4), S. 183: „Die Diegese ist mithin nicht die Geschichte, sondern das Universum, in dem sie spielt […]“. Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte und aktualisierte Aufl. München 2012, S. 33.

Zeit und Possible Worlds Theory

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sche Gemachtheit der erzählten Welt zu verweisen und ontologische Fragestellungen zu berücksichtigen.9 Die Tatsache, dass diegetische Zeiten trotz ihrer Bedeutung für die Beschaffenheit erzählter Welten nicht nur in der strukturalistischen Erzählforschung bislang ein „blinder Fleck“ geblieben,10 sondern ebenso wenig von der PWT systematisch untersucht worden sind, überrascht zudem insofern, als die analytische Philosophie, auf deren Konzepte sich die PWT stützt, im Rahmen ihrer Überlegungen etwa zur Ontologie, Kausalität, zu Modalitäten oder kontrafaktischen Konditionalen immer wieder grundlegende Probleme von Zeit diskutieren. Ausgehend von diesem Desiderat wird im Folgenden der Versuch unternommen, einige philosophische, vor allem von David K. Lewis vorgetragene Postulate, in die narratologische PWT einzubinden. Daran anschließend soll exemplarisch die komplexe Zeitkonfiguration der erzählten Welt in Jack Londons phantastischem Gefängnisroman The Star Rover (1915) analytisch erschlossenen werden. 1. Zeit in der possible worlds theory 1.1 Mögliche Welten und Zeit – David Lewis’ modalrealistischer Ansatz Das semantische Konzept möglicher Welten dient Modallogikern unter anderem als Grundlage, um den Gehalt modaler Aussagen im Hinblick auf ‚Notwendigkeit‘ (notwendig ist, was in allen möglichen Welten der Fall ist), ‚Möglichkeit‘ (möglich ist, was in wenigstens einer Welt der Fall ist) und ‚Unmöglichkeit‘ (unmöglich ist, was in keiner Welt der Fall ist) als wahr oder falsch zu qualifizieren. David K. Lewis (1941–2001), der populärste Vertreter des sog. ‚modalen Realismus‘, nimmt aufgrund seiner umstrittenen, aber einflussreichen Auffassung von der ‚tatsächlichen‘ Pluralität von Welten eine gewisse Sonderstellung ein. Nach Lewis müssen alle logisch möglichen Welten auch tatsächlich existieren, d. h. für jede Möglichkeit, wie eine Welt beschaffen sein könnte, gibt es eine Welt, die genau so beschaffen ist.11

____________ 9 10 11

Im Gegensatz zur hier vorgeschlagenen Differenzierung gebrauchen Weixler/Werner die Begriffe ‚erzählte Zeit‘ und ‚diegetische Zeit‘ synonym. Vgl. (Anm. 2), S. 4. Lukas Werner: „Zeit“. In: Matás Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart 2012, S. 150–158, hier S. 151. David Lewis: On the Plurality of Worlds [1986]. Oxford u. a. 2001, S. 2; David Lewis: „Possible Worlds“ [1973]. In: Michael J. Loux (Hrsg.): The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality. Ithaca/London 1979, S. 182–189, bes. S. 183; zur Diskussion dieser

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Während alternative Welten ‚nicht-aktualisierte‘ Welten sind, leben wir in der ‚aktualen‘ Welt. Das heißt nicht, dass unsere Welt anderen möglichen Welten gegenüber durch eine irgendwie besondere Beschaffenheit ausgezeichnet ist, vielmehr ist das Etikett ‚aktual‘ indexikalisch zu verstehen. Seine Bedeutung ist referentiell an den jeweiligen Kontext des Sprechakts gebunden. So wie temporale (‚jetzt‘, ‚gestern‘) oder lokale Deiktika (‚hier‘, ‚dort‘) erst durch die Identifizierung des sprechenden Subjekts als raumzeitlichen Referenzpunkt (Origo12) einen bestimmbaren Bezugswert erhalten‚ bezieht sich das Deiktikon ‚aktual‘ auf die Welt, die von einem Sprecher bewohnt wird. Die Bewohner anderer möglicher Welten dürfen mit gleichem Wahrheitsanspruch ihre eigene Welt als ‚aktual‘ und unsere Welt als ‚möglich‘ bezeichnen.13 Eine Welt ist nach Lewis eine maximale mereologische Summe von Dingen, die miteinander in einer raumzeitlichen Beziehung stehen. Diese Dinge, die er in Anspielung auf studentische Zimmergenossen (roommates) als worldmates bezeichnet,14 sind somit immer Teil genau einer, nämlich der durch sie konstituierten und sie beherbergenden Welt. Sind Entitäten nicht raumzeitlich untereinander verbunden, sondern isoliert, dann gehören sie separaten Welten an, zwischen denen es keine kausalen Interdependenzen geben kann.15 Jede Welt hat somit ihre eigene distinkte Raumzeit (beziehungsweise etwas, was sich noch analogisch als Raumzeit bezeichnen lässt).16 Lewis’ Theorie liegt die perdurantistische Auffassung zugrunde, dass eine Welt und die von ihr umfassten worldmates nicht nur aus räumlichen, sondern auch aus zeitlichen Teilen (temporal parts) bestehen, wobei jedes zeitliche Teil zu genau einem bestimmten Zeitpunkt existiert.17 Beispielsweise sind eine Raupe und ein Schmetterling jeweils ein unterschiedlicher zeitlicher Teil ein und desselben Insekts.18 Entsprechend werden auch

____________ 12 13

14 15 16 17 18

Grundbestimmung vgl. Wolfgang Schwarz: David Lewis. Metaphysik und Analyse. Paderborn 2009, S. 41 ff. Im Folgenden werden originale, fremdsprachige Ausdrücke, die in der Fachdiskussion standardisiert sind, in Klammern hinter meine Übersetzung der jeweiligen Begriffe gesetzt; es handelt sich hierbei nicht um Stellenzitate. Zur Verdeutlichung schlägt Lewis „this-worldly“ als Synonym für ‚aktual‘ vor, vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 92 f.; vgl. auch Lewis 1979 (Anm. 11), S. 184: „[T]he meaning we give to ‚present‘ is such that it is indexical, and refers at any time t to that time t itself“, entsprechend: „[T]he meaning we give to ‘actual’ is such that it refers at any world i to that world i itself“. Vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 69. Vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 70 f. und S. 78 ff. Vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 76. Vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 202, und Jiri Benovsky: Persistence Through Time, and Across Possible Worlds. Frankfurt a. M. u. a. 2009, S. 19. Vgl. Schwarz (Anm. 11), S. 36.

Zeit und Possible Worlds Theory

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menschliche Individuen als Summe zeitlicher Teile begriffen, die sich gewissermaßen durch kausale Dependenz zu einem Lebensfaden aneinander ketten – beim Menschen konstituieren sie die personale Identität.19 Allgemein gilt: Qualitative Unterschiede zwischen zeitlichen Teilen eines Dinges sind als Veränderungen (changes) beobachtbar, es kann sich also nur etwas verändern, was aus mindestens zwei zeitlichen Teilen besteht. Entsprechend sind Dinge innerhalb eines Augenblicks (moment) nicht weiter in zeitliche Teile dividierbar.20 Der modale Realismus geht des Weiteren von einem eternalistischen Zeitverständnis aus, demnach es keinen ontologischen Unterschied zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft gibt. Dinge erstrecken sich nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit, weshalb die Welt nicht nur drei-, sondern vierdimensional zu denken ist.21 Shakespeare existiert – nur nicht im gegenwärtigen zeitlichen Teil der aktualen Welt, auf den die Präsensform ‚existiert‘ quantifiziert. Wird der temporale Quantifikationsbereich auf einen anderen zeitlichen Teil der Welt, z. B. auf das Jahr 1591 beschränkt, trifft die Aussage zu. Während jedoch die Vergangenheit unveränderbar festgelegt ist, erscheint uns die Zukunft noch offen und beeinflussbar.22 Dennoch hat jede Welt ihre eigene Zukunft. Aber es gibt unzählige Welten, deren zeitliche Teile mit unserer aktualen Welt korrespondieren, also exzellente counterparts sind,23 jedoch ab einem bestimmten Zeitpunkt einen anderen Verlauf nehmen. Wenn wir darüber spekulieren, wie unsere Zukunft beschaffen sein könnte, spekulieren wir tatsächlich darüber, welche zeitlichen Teile aus der Vielzahl denkbarer Welten tatsächlich zu unserer Welt und welche zu anderen möglichen Welten gehören könnten.24 1.2 Erzählte Welten und Zeit in der possible worlds theory Erzählte Welten sollten, so Doležel, das basale Anliegen der Narratolgie sein. Denn ein Text ist nur dann narrativ, wenn er eine story (im Sinne einer Ereigniskette) erzählt, und stories sind gebunden an eine Welt, in der

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Vgl. Lewis (Anm. 11), S. 81. David Lewis: „The Paradoxes of Time Travel“ [1976]. In: Ders.: Philosophical Papers II. New York/Oxford 1986, S. 67–80, hier S. 68 f. Vgl. Benovsky (Anm. 17), S. 20f. Dieses scheinbar diametrale Verhältnis von Vor- und Nachzeitigkeit bezeichnet Lewis als „asymmetry of openness“. David Lewis: „Counterfactual Dependence and Time’s Arrow“ [1979]. In: Ders.: Philosophical Papers II. New York/Oxford 1986, S. 32–51, hier S. 36. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 70. Vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 208.

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die Ereignisse situiert sind. In der Taxonomie von possible worlds sieht Doležel die Möglichkeit, erzählte Welten zu beschreiben.25 Fiktive Welten, wie sie die Literatur entwirft, sind nämlich – sofern logisch konsistent26 – mögliche Welten in dem Sinne, dass sie alternative Zustände (alternative state of affairs) beschreiben. Lewis führt beispielsweise vor, dass der Wahrheitsgehalt fiktionaler Aussagen ähnlich kontrafaktischen Suppositionen analysiert werden kann.27 Bei der Analyse kontrafaktischer Aussagen operiert Lewis mit Ähnlichkeitsrelationen zwischen der aktualen Welt und den möglichen Welten, in denen kontrafaktische Sachverhalte gegeben sind. Übertragen auf die Bestimmung des Wahrheitsgehalts von Aussagen über eine fiktive Welt bedeutet dies (paraphrasiert) Folgendes: Eine Proposition p (z. B. „Sherlock Holmes wohnt näher an der Paddington Station als an der Waterloo Station“) über eine Fiktion f (die Welt der Sherlock Holmes-Romane) ist genau dann wahr, wenn mindestens eine mögliche Welt, in der f als anerkannte Tatsache erzählt wird und p wahr ist, unserer aktualen Welt ähnlicher ist als jede Welt, in der f als anerkannte Tatsache erzählt wird und p nicht wahr ist.28 Zum einen verweist p auf einen kontrafaktischen Sachverhalt, denn in unserer Welt lebt(e) kein Mann namens Sherlock Holmes in 221B Baker Street. Zum anderen lässt sich der Wahrheitsgehalt aber auch nicht durch die Sherlock Holmes-Fiktion selbst verifizieren, denn die Entfernungen zwischen Holmes’ Haus und den genannten Bahnhöfen werden in den Romanen nie erwähnt. Nach Lewis ist die Behauptung dennoch ‚fiktional wahr‘, denn wir gehen selbstverständlich davon aus, dass abgesehen von dem kontrafaktischen Sachverhalt, nach dem in 221B

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Vgl. Doležel (Anm. 3), S. 31. Auf die innerhalb der Erzählforschung geführte Diskussion, ob und inwieweit narrative – vor allem postmoderne – Texte logisch-unmögliche Welten evozieren können (also Welten, welche die logischen Bedingungen der Widerspruchsfreiheit [non-contradiction] und der ausgeschlossenen Mitte [excluded middle] nicht erfüllen), wird hier nicht weiter eingegangen. Beispiele für erzählte Welten mit unmöglichen bzw. paradoxalen Zeitkonfigurationen diskutiert Marie-Laure Ryan: „Temporal Paradoxes in Narrative“. In: Style 43/2 (2009), S. 142–164. Neue Impulse erhielt die Debatte zuletzt durch die sog. Unnatural Narratology. So differenziert Rüdiger Heinze – gemäß der etablierten Unterscheidung zwischen story und discourse – zwischen unnatürlichen Zeitszenarien auf der Ebene der Geschichte (z. B. der rückwärts gerichtete Zeitverlauf in der Welt von Martin Amis Time’s Arrow [1991]) und unnatürlichen Zeitkonfigurationen auf der Ebene des Erzählens (z. B. die rückwärts präsentierte Reihung von Episoden in Christopher Nolans Film Memento [2000]). Vgl. Rüdiger Heinze: „The Whirligig of Time: Toward a Poetics of Unnatural Temporality“. In: Jan Alber/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson (Hrsg.): A Poetics of Unnatural Narratives. Columbus 2013, S. 31–44, hier S. 34 f. David Lewis: „Truth in Fiction“. In: American Philosophical Quarterly 15/1 (1978), S. 37–46, hier S. 42; zur Kritik an Lewis’ Fiktionalitätskonzept vgl. Diane Proudfoot: „Possible Worlds Semantics and Fiction“. In: Journal of Philosophical Logic 35 (2006), S. 9–40. Lewis 2001 (Anm. 27), S. 42.

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Baker Street Sherlock Holmes wohnte, die Topografie von Holmes’ London der Topografie des wirklichen Londons um 1900 entspricht, wonach sich die Baker Street tatsächlich näher an der Paddington Station befindet. PW-Ansätze der Erzählforschung betrachten fiktive Welten ebenfalls nicht als mimetische Abbildungen der wirklichen Welt, sondern als alternative Welten, die zwar ontologisch autonom, jedoch nur auf der Folie der aktualen Welt (bzw. des historischen und kulturabhängigen Weltwissens des Lesers29) etabliert werden. Daher bezeichnet Umberto Eco fiktive Welten (selbst unmögliche Welten) als Parasiten der wirklichen Welt.30 Die vorausgesetze Übereinstimmung der Bedingungen und Gesetze fiktiver Welten mit denen unserer Welt bezeichnet Ryan als das Prinzip der minimalen Abweichung (principle of minimal departure):31 Leser kompensieren die notwendig gegebene Unvollständigkeit einer fikitven Welt32 durch die Annahme, dass die Einrichtung jener Welt ihrer aktualen Lebenswelt entspricht, sofern der Text selbst (bzw. die ihm obliegende, gegebenenfalls paratextuell markierte Gattungskonvention) keine Modifikationen explizit nahelegt oder im Verlauf der Lektüre zu retrospektiven Korrekturen veranlasst (z. B. durch das Eintreten unnatürlicher Ereignisse). Nach Doležel ist es dieses Zusammenspiel von leserseitiger Aktivität und der illokutionären Wirkung fiktionaler Texte als performative Sprechakte, das die besondere Gemachtheit fiktiver Welten gegenüber möglichen Ereignissen auszeichnet, die in historischen (also: faktualen) Diskursen verhandelt werden. „Fictional texts are performative: they call possible worlds into ficitonal existence“,33 wohingegen historische Texte konstativ sind, d. h. sie konstruieren mögliche Welten als Modelle der aktualen Vergangenheit, die eine überprüfbare Validität beanspruchen.34 Wenn fiktio-

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Vgl. Lewis (Anm. 27), S. 44. Umberto Eco: „Small Worlds“. In: Versus. Quaderni di Studi Semiotica 52 (1989). S. 53–70, hier S. 63. Ryan (Anm. 3), S. 48 ff. Vgl. Doležel (Anm. 3), S. 22. Im Gegensatz zur vollständigen Determiniertheit möglicher Welten in der logischen Semantik sind fiktive Welten unvollständig. Entsprechend sind die meisten Aussagen über fiktive Gegenstände aufgrund ontologischer Leerstellen unentscheidbar bzw. sinnlos (etwa ob Emma Bovary ein Mutternal auf ihrer linken Schulter hatte), während Aussagen über wirkliche Gegenstände nur aufgrund epistemischer Leerstellen nicht entschieden werden können (ob die historische Kleopatra ein solches Mal hatte, ist nicht unbestimmt, sondern lediglich unbekannt). Lubomir Doležel: Possible Worlds of Fiction and History. The Postmodern Stage. Baltimore 2010, S. 42; vgl. auch Doležel (Anm. 3), S. 146. Doležel (Anm. 33), S. 43. Anders gesagt, ein historischer Text repräsentiert eine Welt, die bereits vor dem Schreibakt existiert hat, ein fiktionaler Text hingegen erschafft eine Welt, die vor dem Schreibakt noch nicht existiert hat. Vgl. Doležel (Anm. 33), S. 42. An anderer Stelle unterscheidet Doležel zwischen „world-imaging texts (I-texts)“ und „world-constructing texts (C-texts)“: „Whereas for imaging texts the domain of reference is given, fictional texts stipulate their referential domain by creating a possible world“. Anm. 3, S. 26.

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nale (meist im epischen Präteritum gehaltene) Erzähltexte alternative Welten erschaffen, beschreiben sie folglich keine Situationen, die unter anderen geschichtlichen Bedingungen in unserer historischen Zeit hätten eintreten können, sondern sie konstituieren eine eigene, „unabhängige Parallelontologie“,35 deren raumzeitliche Organisation lediglich insofern als analog zur wirklichen Welt anzusehen ist, als die Art der Verbundenheit ihrer raumzeitlichen Teile miteinander korrespondieren (kann).36 Solch temporale Analogien zu realzeitlichen Parametern (sowohl kalendarisch, chronologisch als auch physikalisch-chronometrisch) stellen bei der Evokation fiktiver Welten eine der stabilsten Konstruktionsmechanismen dar.37 Bei der Behandlung fiktiver erzählter Welten als mögliche Welten müssen weitere konzeptuelle Unterschiede berücksichtigt werden: Inwieweit ist eine fiktive Welt autonom, die zum einen durch einen Text performativ hervorgebracht bzw. durch einen Rezipienten mental konstruiert wird und des Weiteren nur durch eine textinterne Vermittlungsinstanz zugänglich ist? Schließlich werden erzählte Welten im Gegensatz zu möglichen Welten in der Modallogik nicht ‚objektiv‘ festgesetzt, sondern durch einen/mehrere Erzähler bzw. eine/mehrere Figur/en perspektiviert. Der amerikanische Logiker Saul Aaron Kripke unterscheidet zwischen dem modalen Status der aktualen Welt (dem wirklichen Zustand der Welt) und der Modalität möglicher Welten (abstrakter Zustände dieser Welt).38 Mögliche Welten sind konstitutive Elemente einer Modellstruktur, in der unsere aktuale Welt referentiell privilegiert ist.39 Diese Anschauung – die oft als ‚moderater Realismus‘ bezeichnet wird – begreift mögliche Welten als „vollständige ‚Weisen, wie die Welt hätte sein können‘ oder Zustände oder Geschichten der gesamten Welt“40 und somit lediglich als Vorstellungen oder Beschreibungen, sprich ‚Stipulationen‘ kontrafaktischer Situationen.41 Ähnlich sind für Nicholas Rescher mögliche Welten von einem Subjekt imaginierte hypothetische Konstrukte und haben daher gegenüber

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Ronen (Anm. 2), S. 198. Vgl. Ronen (Anm. 2), S. 199. Vgl. Ronen (Anm. 2), S. 200. Vgl. Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit [Naming and Necessity, 1972]. Frankfurt a. M. 1981, S. 23–28. Vgl. Saul A. Kripke: „Semantical Considerations on Modal Logic“. In: Acta Philosophica Fennica 16 (1963), S. 83–94, hier S. 84. Zu Kripkes Modell bezogen auf fiktionstheoretische Überlegungen siehe Pavel (Anm. 3), S. 43–50. Kripke (Anm. 38), S. 26, Hervorhebung im Original. Kripke (Anm. 38), S. 54.

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der aktualen Welt einen untergeordneten ontologischen Status (minddependency).42 Ryan verbindet diese Sichtweise mit Lewis’ indexikalischem Verständnis von Aktualität und macht sich Kripkes Beschreibung eines Modalsystems zu eigen: Der literarische Text entwirft eine für den Leser kontrafaktische, aber aus textimmanenter Sicht eigene aktuale Welt (textual actual world, TAW), in die der Leser durch einen Akt deiktischer Rezentrierung imaginativ eintaucht (immersion) und die er zeitweilig als das ontologische Zentrum eines in sich geschlossenen Modalsystems anerkennt.43 Dieses System etabliert wiederum eine Menge an möglichen Welten, die vor allem durch die Wirklichkeitsauffassungen ihrer Bewohner (Figuren) bzw. der Erzählinstanzen repräsentiert sind. Diese privaten Welten (private domains) stimmen in unterschiedlichem Maße mit der TAW überein, unterhalten also graduell-divergente Ähnlichkeits- bzw. Zugänglichkeitsbeziehungen zur textuellen Wirklichkeit (accessibility relations).44 Während der Leser durch einen auktorialen Erzähler ein (in der Regel) zuverlässiges Bild der TAW vermittelt bekommt, kann das z. B. durch einen homodiegetischen oder intern-fokalisierenden Erzähler vermittelte ‚Weltbild‘ mehr oder weniger von der TAW abweichen, so dass die leserseitige Immersion nur in die virtuelle Welt einer Figurendomäne erfolgt und die eigentliche Beschaffenheit der textuellen Realität im fortschreitenden Lektüreakt rekonstruiert werden muss. Mögliche Welten werden in der Modallogik als mögliche ‚Zustände‘ der Welt aufgefasst. Jede logisch mögliche Proposition stipuliert mindestens eine mögliche Welt, in der sie wahr ist. Erzählte Welten werden jedoch durch eine ganze Textmenge von Propositionen festgesetzt, die durch den Leser in eine konsistente, widerspruchslose Einheit synthetisiert werden muss.45 Die aufgerufenen Zustände bzw. Sachverhalte werden durch die Etablierung einer Zeitstruktur zu ‚einer‘ möglichen Welt mit einer sinnhaften Abfolge jener Zustände kohäriert,46 indem diese zu zeitli-

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Nicholas Rescher: „The Ontology of the Possible“. In: Michael J. Loux (Hrsg.): The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality. Ithaca/London 1979, S. 166–181, hier S. 167. Ryan (Anm. 3), S. 18. Private Figurendomänen können unterschiedliche Typen von Subwelten umfassen: Wissenswelten (knowledge worlds), Wunschwelten (wish worlds), Wertewelten (obligation worlds), Glaubenswelten (belief worlds), intendierte Welten (intention worlds) und Fantasiewelten (fantasy worlds); vgl. Ryan (Anm. 3), S. 113–119. Károly Csúri: „Mögliche Welten, Kohärenztheorie der Wahrheit und literarische Erklärung“. In: Hans-Georg Werner/Eberhard Müske (Hrsg.): Strukturuntersuchung und Interpretation künstlerischer Texte. Halle 1991, S. 3–14, hier S. 6. Vgl. Umberto Eco: Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. [Lector in fabula. La cooperazione interpretative nei testi narrativi, 1979]. München 31998, S. 195.

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chen Teilen dieser Welt (im Sinne Lewis’) geordnet werden. Inkonsistenzen können des Weiteren aufgelöst werden durch den Umstand, dass eine erzählte Welt – wie oben gezeigt – in wiederum kohärente (Sub-)Welten wie etwa Figurendomänen partikularisiert sein kann, denen mitunter eigene Zeitstrukturen zugrunde liegen. Für die Initialisierung einer zustandsverändernden, sprich narrativen Dynamik setzt Ryans Plottheorie einen Konfliktzustand zwischen mindestens zwei Welten des narrativen Modalsystems voraus, z. B. zwischen der privaten Welt einer Figur und dem tatsächlichen Zustand der TAW oder zwischen konträren privaten Welten zweier Figuren.47 Ein Ereignis (bei Ryan: move) kommt dadurch zustande, dass eine Figur versucht, durch willentliches Handeln ihre private Welt mit der TAW in Übereinstimmung zu bringen, d. h. ihre eigene Vorstellung von der Wirklichkeit aus der Peripherie möglicher Welten näher an den aktualen baryzentrischen Kern des Modalsystems heranzuführen. Die Ereignishaftigkeit narrativer Texte manifestiert sich demnach nicht durch Zustandsveränderungen ‚innerhalb einer‘ erzählten Welt, sondern durch Zustandsveränderungen ‚zwischen‘ erzählten (Sub-)Welten bzw. innerhalb eines diegetischen Modaluniversums. So gewendet, darf die diegetische Zeit nicht auf die ‚manifesten‘ Ereignisse innerhalb der TAW reduziert werden – vielmehr muss sie als Bezugsparameter zahlreicher, mitunter konfligierender (Sub-)Zeiten herangezogen werden. 2. Erzählte Zeit(en) in Jack Londons Gefängnisroman The Star Rover 2.1 Gefängniswelt und Inhaftierungszeit(en) Die wenigen PWT-gestützten narratologischen Untersuchungen zur Kategorie Zeit setzen sich zumeist mit Fantasy-, Science Fiction- oder Zeitreiseromanen auseinander, also mit Texten, welche das Phänomen Zeit oft explizit zum thematischen Gegenstand haben.48 Auch in Jack Londons

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Ryan (Anm. 3), S. 119 ff. Vgl. die zahlreichen Textbeispiele für unnatürliche Zeiten, die Heinze anführt (Anm. 26). Gattungen wie Science Fiction oder Fantasy haben unnatürliche temporale Szenarien wie Zeitreisen bereits soweit konventionalisiert, dass solche Texte auf den Leser nicht mehr verfemdend wirken. Vgl. ebd. S. 35. Zudem sind einige Science Fiction-Erzählungen durch Hugh Everetts ‚Viele-Welten-Interpretation‘ (many-worlds interpretation) der Quantentheorie inspiriert, in der wiederum Gemeinsamkeiten zur Theorie möglicher Welten gesehen werden. Statt von einem kausal-linearen oder zyklischen Zeitverständnis geht dieser Ansatz von sich stets neu auffächernden Zeitsträngen aus, wobei jede Verzweigung eine mögliche Welt realisiert, die wiederum Ausgang für unendlich viele andere mögliche (Parallel-)Welten ist. Diese Idee eines Multiversums darf allerdings nicht mit Lewis’ Vorstellung einer Pluralität von Welten gleichgesetzt werden, vgl. Lewis 2001 (Anm. 11), S. 70 f. und

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(1876–1916) spätem Roman The Star Rover ist Zeit ein konstitutives Handlungselement, ihre ontologische Verquickung mit der erzählten Welt unterscheidet ihn jedoch signifikant von anderen ‚typischen‘ Zeitreiseromanen. Der Roman erlaubt keine Bestimmung ‚der‘ erzählten Zeit, vielmehr inszeniert er mehrere erzählte Zeiten mit unterschiedlicher Dauer und Ausrichtung, die sich wechselseitig beieinflussen oder gar amalgamieren. Der Roman beinhaltet die von einem fiktiven Herausgeber veröffentlichten Memoiren49 des zum Tode verurteilten Gefängnisinsassen Darrell Standing, vormalig Professor für Agronomie. Dieser Ich-Erzähler wartet in einer Todeszelle des US-Bundesgefängnisses Folsom auf seine Hinrichtung durch den Strang. Die letzten Stunden seines Lebens widmet er der schriftlichen Darlegung seiner vergangenen acht Haftjahre, um der gleichgültigen, in „Watte gepackten“ bürgerlichen Öffentlichkeit („dear, cottonwool citizen“, S. 52) die inhumanen Haftbedingungen seiner Zeit vor Augen zu führen.50 Aufgrund eines nicht weiter thematisierten Mordes an einem Universitätskollegen wird Standing zu lebenslanger Haft in das berüchtigte San Quentin State Prison, das älteste Gefängnis Kaliforniens, überführt. Dort wird er von einem Mitgefangenen, der sich bei der Direktion als Informant profilieren möchte, denunziert: Standing habe für einen geplanten Ausbruch mehrere Kilogramm Dynamit in die Strafvollzugsanstalt geschmuggelt und auf dem Gelände versteckt. Der aufgrund seiner intellektuellen Überlegenheit ohnehin stets vom Haftpersonal traktierte Standing wird daraufhin in eine unterirdische Isolationszelle gesperrt. Um von ihm den Aufenthaltsort des versteckten Dynamits – das tatsächlich nicht existiert – zu erfahren, wird er wiederholt und in immer ausgedehnteren Intervallen in die Zwangsjacke (the jacket) geschnürt: ein den gesam-

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208 f.; Lewis (Anm. 22), S. 44 f. Eine Gegenüberstellung der genannten Zugriffe bietet Marie-Laure Ryan: „From Parallel Universes to Possible Worlds. Ontological Pluralism in Physics, Narratology, and Narrative“. In: Poetics Today 27/4 (2006), S. 633–674. Zudem können Erzählungen, in denen sich Figuren zwischen unterschiedlichen parallelen Zeitsträngen bewegen können (z. B. Ray Bradburys „A Sound of Thunder“ [1953]), von solchen Texten unterschieden werden, die einen alternativen Geschichtsverlauf fingieren (z. B. Christoph Ransmayrs: Morbus Kitahara [1995]): „The former use time travel and other sf [science fiction] devices, whereas in the latter the only imaginative change is historical difference itself.“ Matt Hills: „Time, Possible Worlds, and Counterfactuals“. In: Mark Bould u. a. (Hrsg.): The Routledge Companion to Science Fiction. New York 2009, S. 433–441, hier S. 437. Der fiktive Herausgeber selbst tritt lediglich in einer Fußnote im neunzehnten Kapitel in Erscheinung, vgl. Jack London: The Star Rover. New York 1915, S. 285. Vgl. Jason Haslam: „‚Morality is a Social Fund‘. Jack London’s Strait-Jacket Ethics“. In: Hans-Helmuth Gander/Monika Fludernik/Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.): Bausteine zu einer Ethik des Strafens. Philosophische, juristische und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Würzburg 2008, S. 233–249.

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ten Körper umwickelndes, segeltuchartiges Laken, das sich ähnlich einem Korsett rückseitig festziehen lässt. Den stunden- oder gar tagelang in dieser ganzkörperlichen Immobilität verharrenden Sträfling quälen dabei bis zur Bewusstlosigkeit führende stenokardische Schmerzen. Von einem Gefangenen in der benachbarten Einzelzelle namens Ed Morrell, mit dem Standing während der ‚Erholungsstunden‘ außerhalb der Zwangsjackentortur durch Klopfzeichen kommuniziert, erlernt er jedoch bald eine geheime Technik: „the little death“ (S. 252). Diese ermöglicht es ihm, seinen Geist vorübergehend vom gemarterten Körper zu lösen und auf solch immaterielle Weise aus der Zelle und der Gegenwart zu entkommen. Er kehrt dabei in die Körper jener Menschen zurück, die sein unsterblicher Geist in früheren Leben bewohnt hat. Neben vielen anderen Astralwanderungen, die nur anekdotenhaft oder summarisch umrissen werden, erzählt Standing eingehend von seinen früheren Leben als niederländischer Seefahrer Adam Strang, der erst am koreanischen Königshof des 16. Jahrhunderts Karriere macht, nach einer Palastintrige jedoch als umherziehender Bettler endet; als der achtjährige Jesse Fancher, dessen Familie während des Utahkrieges einen in den amerikanischen Westen ziehenden Siedlertrack anführt und bei einem mormonischem Hinterhalt in den Mountain-Meadows ermordet wird; als Ragnar Lodbrog, ein Abgesandter Roms, der im antiken Palästina der Verurteilung Christi beiwohnt; als französischer Graf Guillaume de Sainte-Maure, der sich im mittelalterlichen Paris den intriganten Nachstellungen der Kurie erwehren muss; oder als englischer Seefahrer Daniel Foss, der nach einem Schiffbruch 1809 acht Jahre lang auf einer kargen, vom Ozean umtosten kleinen Felseninsel festsitzt. Als Standing schließlich bei einem Fluchtversuch einem Aufseher ins Gesicht schlägt, wird seine lebenslange Haftstrafe in ein Todesurteil umgewandelt, dessen Vollstreckung er nun (in der Erzählgegenwart) erwartet. Bereits in der Eröffnung seines Berichts macht der Erzähler deutlich, dass er nicht einfach eine Rekapitulation ‚der‘ Vergangenheit zu leisten verspricht: „I am Darrel Standing. They are going to take me out and hang me pretty soon. In the meantime I say my say, and write in these pages of the other times and places“ (S. 8). Während also Gegenwart (Zeitpunkt des Erzählens) und Zukunft (antizipierte Zeit nach dem Erzählen) raumzeitlich eindeutig bestimmt werden (gegenwärtiges Warten in der Todeszelle vs. künftige Exekution außerhalb der Todeszelle), ist die erzählte Vergangenheit, über die berichtet werden soll, in viele „andere Zeiten“ pluralisiert. Die erzählte Vergangenheit umfasst nicht nur die Zeit der Haftjahre, sondern durchmisst offenbar ein Kontinuum, das diesen Jahren enthoben ist:

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I was thirty-six years of age at the time [zum Zeitpunkt der Verurteilung]. I am now forty-four years old. I have spent the eight intervening years in the California State Prison of San Quentin. Five of these years I spent in the dark. Solitary confinement, they call it. Men who endure it, call it living death. But through these five years of death-in-live I managed to attain freedom such as few men have ever known. Closest confined of prisoners, not only did I range the world, but I ranged time. (S. 4)

Während sich die erzählte Zeit eines autobiografischen Erzählers gewöhnlich nur von dessen Geburt bis zur Erzählgegenwart erstreckt, erzählt Standing als Zeitzeuge von Zeiten, die weit vor seiner biografischen Existenz liegen. Eine weitere Besonderheit ist, dass er seine (fremden?) Erinnerungen an diese ‚Zeiten‘ wiederholt als Erinnerungen an andere ‚Welten‘ bezeichnet, beispielsweise vergleicht er eingangs sein fremdes Wissen um frühere Zeiten mit dem intuitiven Wissen von Kindern um Dinge, die nicht Bestandteil ihrer bisherigen Erfahrungen sein können: „These child glimpses are of other-worldness, of other-lifeness, of things that you had never seen in this particular world of your particular life. Then whence? Other lives? Other worlds?“ (S. 1 f.). 2.2 Das Verhältnis von Welt, Zeit und Figur „I write these lines today in the year of Our Lord 1913, and today, in the Year of Our Lord 1913, men are lying in the jacket in the dungeons of San Quentin“ (S. 59). Die Gegenwart des fiktiven Diskurses ist an die (zeitgenössische) Gegenwart der wirklichen Leserwelt angelehnt, d. h. die TAW des Romans unterhält vielzählige Zugänglichkeitsbeziehungen zur aktualen Welt des Lesers (AW) mit nur geringen Abweichungen, wie es für realistische bzw. historische Romane typisch ist.51 Alle basalen raumzeitlichen Teile der erzählten Welt sind denen der wirklichen Welt analog. So beziehen sich Toponyme (San Francisco, San Quentin, Folsom) und Zeitangaben auf Eigenschaften beider Welten, da der Text dem Leser gemäß dem Prinzip der minimalen Abweichung keine andere Interpretation nahelegt. Die Differenz zwischen Entitäten der AW und ihren Counterparts in der TAW ist in der Interaktion letzterer mit Elementen begründet, die genuin zur TAW gehören, aber nicht zur AW: Das FolsomGefängnis des Jahres 1913 in der Welt von The Star Rover etwa hat trotz aller Similarität eine zusätzliche Eigenschaft, die das Folsom-Gefängnis der AW im gleichen Jahr entbehrte – den Insassen Darrell Standing.

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Ryan (Anm. 3), S. 35 f.

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Standings worldmate Ed Morrell, von dem er die Fähigkeit zu Astralprojektionen erlernt, ist wiederum ein Counterpart des realen Häftlings Edward H. Morrell (1886–1946), für dessen Begnadigung sich der sozialistisch engagierte Jack London nachhaltig einsetzte. Nach seiner Freilassung 1909 hielt Morrell Vorträge über seine Inhaftierung in San Quentin und die dort praktizierten Martermethoden sowie seine spirituellen Erfahrungen. Auf seinen persönlichen Mitteilungen basieren im Wesentlichen Londons detaillierte Beschreibungen der Zustände in San Quentin und der Zwangsjackentortur.52 Die AW und die TAW weisen also eine breite Schnittmenge miteinander korrespondierender Sachverhalte auf. Bis auf wenige Ausnahmen53 sind wahre Propositionen in der AW gleichermaßen wahr in der TAW, aber Propositionen bezüglich TAW-spezifischer Sachverhalte (die Figur Darrell Standing und die mit ihm in Interaktion stehenden Entitäten) sind in der AW unbestimmt oder falsch. Dies bedeutet jedoch nicht, dass jene fiktiven Sachverhalte keine ‚reale‘ Relevanz besäßen: Wenn Standing abschließend resümiert, „I read hastily back through the many lives of many times and many places. I have never known cruelty more terrible, nor so terrible, as the cruelty of our prison system of today“ (S. 326), dann verweisen die Deiktika „our“ und „today“ eben nicht allein auf die Gegenwart der aktualen Textwelt, sondern auch auf die (zeitgenössische) aktuale Welt der Leser und die Missstände in den usamerikanischen Gefängnissen ihrer Zeit. Das Prinzip der minimalen Abweichung veranlasst den Leser nicht nur vorauszusetzen, dass die Ausstattung der TAW weitestgehend mit seiner Wirklichkeit korrespondiert, sondern dass ebenso die diegetische Zeit der TAW, die ich entsprechend als TAT (textual actual time) bezeichnen möchte, dem realweltlichen Zeitverlauf entspricht. Die TAW hat eine zur AW analoge Linearstruktur zeitlicher Teile. In der erzählten Welt darf die Existenz Shakespeares und Napoleons angenommen werden, obwohl beide nicht explizit erwähnt werden; daher akzeptiert der Leser problemlos Figuren wie Pilatus und Jesus oder die historisch verbürgte Familie Fancher, mit denen Standing während seiner Astralwanderungen interagiert. Während die Existenz Shakespeares also virtuell bleibt, wird die Existenz Jesu und des Fancher-Clans im Roman narrativ aktualisiert. Die

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Zum Entstehungszusammenhang von Londons Roman siehe Francis Lacassin: „On the Roads of the Night. A Search for the Origins of ‚The Star Rover‘“ [1976]. In: Jacqueline Tavernier-Courbin (Hrsg.): Critical Essays on Jack London. Boston, MA 1983, S. 180–194. Fiktive Welten unterscheiden sich auch darin von der wirklichen Welt, dass diese Welten die sie evozierenden Texte (beziehungsweise den sie konstituierenden Produktionsakt) als Elemente entbehren; es wäre für die Romanwelt von The Star Rover ein offenkundiger Kohärenzbruch, in ihr auch einen Autor Jack London anzunehmen, der den Roman The Star Rover mit dem Ich-Erzähler Darrell Standing erdichtet; vgl. Ryan (Anm. 3), S. 33.

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vielen vergangenen Zeiten, von denen Standing im Verlauf des Romans berichtet, fügen sich entsprechend kohärent in das implizite Bild einer Historie, das der leserseitigen Evokation der TAT stets latent unterliegt. Während der Zeitverlauf der TAW dem Zeitverlauf unserer aktualen Welt entspricht, lässt sich der biografische Zeitverlauf des Erzählers in keinster Weise mit unserem Weltwissen vereinbaren. Denn die autodiegetisch erzählte Zeit erstreckt sich nicht nur auf Standings achtjährige Haft (1905–1913), sondern eben auch auf Zeitabschnitte, die mitunter viele Jahrhunderte vor diesen Jahren liegen – eine Inkonsistenz, die konstitutiv für das Genre der Zeitreiseromane (time-travel stories) ist, zu welchem The Star Rover bisweilen gezählt wird.54 Lewis bestimmt eine Zeitreise analytisch als eine Diskrepanz zwischen zwei separaten Zeiten: Die Zeitspanne, die zwischen dem Zeitpunkt des Aufbruchs und dem Zeitpunkt der Ankunft des Zeitreisenden liegt, ist nicht gleich der Zeitspanne, die seine Reise andauert.55 Daher differenziert Lewis zwischen zwei Zeitdimensionen: der ‚personalen Zeit‘ (personal time) und der ‚äußeren Zeit‘ (external time).56 Normalerweise korrespondiert die personale Zeit des Subjekts mit der äußeren Weltzeit, der Lebenslauf mit dem Weltenlauf, beim Zeitreisenden jedoch sind eben diese beiden Zeiten divergent. Wenn jemand – wie Darrell Standing – in die Vergangenheit reist, folgt der zeitliche Teil der Ankunft (t2) zwar unmittelbar dem zeitlichen Teil des Aufbruchs (t1) in seiner personalen Zeit, jedoch liegt t2 im Kontinuum der äußeren Zeit vor t1.57 Lewis Unterscheidung lässt sich textanalytisch fruchtbar machen: Die äußere Zeit einer erzählten Welt kann als die diegetische Zeit verstanden werden, die ich bereits als TAT ausgezeichnet habe. Die personale Zeit verweist auf die Zeit, die an eine Figur der erzählten Welt gebunden ist, ihr gewissermaßen anhaftet, oder anders gewendet, sie verweist auf die zeitlichen Teile, deren Summe die personale Identität einer Figur ausmacht. Im Folgenden werde ich gegenstandskonform von ‚figuraler Zeit‘ sprechen. Aufgrund der autodiegetischen Erzählperspektive in The Star Rover hat der Leser lediglich unmittelbaren Zugang zu der figuralen Zeit der subweltlichen Domäne des Ich-Erzählers Darrell Standing. Die TAT bedarf der Rekonstruktion durch den Leser mittels analytisch-enthaltener

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Vgl. Kenneth Rivers: „Infinite Identities, Endless Environments. Jack London’s ‚The Star Rover‘“. In: Lamar Journal of the Humanities 23/2 (1997), S. 21–33, hier S. 24. Lewis (Anm. 20), S. 67 ff. Lewis (Anm. 20), S. 69. Die ‚personale Zeit‘ ist nicht zu verwechseln mit der Vorstellung einer ‚subjektiven Zeit‘, also einer persönlichen Wahrnehmung von Zeit(dauern); eher entspricht die ‚personale Zeit‘ der gemessenen Zeit einer Armbanduhr, die der Mensch sein gesamtes Leben hindurch trägt. Vgl. Lewis (Anm. 20), S. 70.

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Textinformationen und explizit erwähnter Chrononyme. So verortet Standing sich und seinen Diskurs mit dem fiktiven Adressaten (Zeitpunkt des Erzählens) in einem eindeutig markierten Teil der TAT, nämlich im Jahr 1913. Die autobiografischen Rückwendungen des Ich-Erzählers (die erzählte Zeit) können jedoch nur auf die figurale Zeitebene verweisen (im Gegensatz zu den analeptischen Rückwendungen eines auktorialen Erzählers, die auf der Ebene einer äußeren Zeit erfolgen), weswegen die temporale Kontinuität des Erzählten trotz der Zeitreisen linear verläuft. Der zeitliche Fluss auf figuraler Ebene kommt nie ins Stocken, egal in welchem zeitlichen Teil der TAW sich Standing jeweils befindet. Während seiner Metempsychosen verbleibt sein in der Zwangsjacke eingeschnürter Körper im Kontinuum der äußeren Zeit, der TAT, und unterliegt in Korrespondenz zu ihrer fortschreitenden Sukzession dem zunehmenden physischen Verfall, sein Geist jedoch schreitet auf seiner eigenen, davon unabhängigen figuralen Zeitebene fort. Die Zeitreisen Standings sind unter diesem Zugriff beschreibbar als Ambiguität mal korrelativer, mal divergierender Zeitrelationen: Wenn sich Standing (d. h. sein Geist) in seinem Körper und damit in der erzählten Gegenwart des Gefängnisses befindet, steht seine figurale Zeit in Korrespondenz zur TAT; wenn Standing losgelöst von seinem Körper in der Vergangenheit weilt, ist diese Korrespondenz aufgehoben; genauer: die äußere Vergangenheit wird erlebt als figurale Gegenwart. Standing offeriert eine Vorstellung der menschlichen Persönlichkeit, die Lewis’ Verständnis des Ichs als eine Summe zeitlicher Teile sehr nahe kommt, allerdings auf einer makrologischeren Ebene: Die Persönlichkeit, so Standing, ist die Gesamtheit aller dem gegenwärtigen Ich vorausgegangenen Existenzen: Since human personality is a growth, a sum of all previous existences added together, what possibility was there […] to break down my spirit in the inquisition of solitary? I am life that survived, a structure builded up through the ages of the past – and such a past! What were ten days and nights in the jacket to me? – to me, who had once been Daniel Foss, and for eight years learned patience in that school of rocks in the far South Ocean? (S. 282)

Die Passage macht zudem deutlich, dass sich die temporale Asymmetrie in The Star Rover noch um einiges komplexer darstellt, als bisher vorgeführt. Nicht allein divergieren figurale Zeit und äußere Zeit der erzählten Welt voneinander, sondern auch ihre jeweilige ‚Dauer‘: Daniel Foss verbringt fünf Jahre als Schiffbrüchiger auf der abgelegenen Meeresinsel, Adam Strang vagabundiert dreißig Jahre auf den Straßen Koreas – also erheblich ausgedehntere Zeiträume als die Gesamtdauer von Standings Zwangsjackenfixierungen. Bereits die Initialisierung eines metempsychotischen Zustandes wird von einer wahrgenommenen Zeitdehnung begleitet:

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The extension of time was equally remarkable. Only at long intervals did my heart beat. Again a whim came to me, and I counted the seconds, slow and sure, between my heart-beats. At first, as I clearly noted, over a hundred seconds intervened between beats. But as I continued to count the intervals extended so that I was made weary of counting. (S. 79 f.)

Die Intervalle von Standings figuraler Zeit sind nicht nur auf der Achse der TAT verschoben, sondern offenbar Teile disparater Zeitkontinua. Bevor nun diese Kontinua begrifflich näher bestimmt werden, gilt es, Standings figurale Zeiterlebnisse ontologisch genauer einzuordnen. 2.3 Zuverlässig und unzuverlässig erzählte Zeit(en) Aufgrund der autodiegetischen Erzählsituation hat – wie bereits dargelegt – der Leser keinen ungefilterten Zugang zur tatsächlichen Beschaffenheit der aktualen Textwelt, sondern lediglich mittelbaren Zugriff auf das subjektive Textweltbild des erzählenden Ichs. Standings Erfahrungen gelten offenbar auch in der TAW als unerhört, so dass er etwaigen Zweifeln an der Zuverlässigkeit seiner Schilderungen schon eingangs zuvorzukommen versucht: „It is time that I introduce myself. I am neither fool nor lunatic. I want you to know that, in order that you will believe the things I shall tell you“ (S. 3 f.). Es gibt allerdings begründete Zweifel an der hier explizit postulierten Zuverlässigkeit des Erzählers. Nicht etwa weil Standing den Leser bewusst zu täuschen trachtet, sondern weil die zermürbende Einzelhaft und die bewusstseinszehrenden Zwangsjackentorturen seine Wahrnehmung nachhaltig beeinflussen und sich seine Erlebnisse durchaus als bloße Einbildungen, als halluzinative Entrückungen interpretieren lassen: „Much of this time I was physically numb and mentally delirious. Also, by an effort of will, I managed to sleep away long hours“ (S. 60). Als kritische Figur innerhalb der erzählten Welt fungiert der Mitgefangene Jake Oppenheimer, der Standings Bericht über seine außerkörperlichen Erfahrungen keinen Glauben schenkt und als „fairy story“ (S. 67) und „pipe-dream“ (S. 209) abtut: „I ain’t saying you lied. I just say you get to dreaming and figuring in the jacket without knowing you’re doing it. I know you believe what you say, and that you think it happened; but it don’t buy nothing with me. You figure it, but you don’t know you figure it“ (S. 293). Oppenheimer rationalisiert Standings vermeintliches Detailwissen um historische Personen und Ereignisse als unbewusste Erinnerungen an Gespräche, historiografische Bücher, Museumsbesuche etc., die Standing lediglich im peripheren Gedächtnis gespeichert habe und die entstellt in den deliriösen Zuständen während seiner Zwangsjackenfolter an die Bewusstseinsoberfläche dringen:

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You don’t remember that you ever heard of it […]. But you must have just the same. Though you have forgotten about it, the information is in your brain all right, stored away for reference, only you’ve forgot where it is stored. You’ve got to get woozy in order to remember. (S. 294)

Somit lassen sich Standings Erlebnisse auch als eskapistische Phantasien lesen, um der quälenden Zuchthausgegenwart zumindest introversiv zu entkommen. Auffällig ist, dass von Morrell und Standing immer wieder der uneingeschränkte Glaube an die Möglichkeit von Metempsychosen als ihre Grundvoraussetzung hervorgehoben wird.58 Das alethische System der Parameter Notwendigkeit, Möglichkeit und Unmöglichkeit ist in The Star Rover auch auf eine epistemische Ebene der Faktoren Wissen, Glaube und Unkenntnis (knowledge, belief, ignorance)59 transponiert. Für die Berechtigung von Oppenheimers Ungläubigkeit spricht Standings häufige Hinwendung zu solch mentalen Fluchten, die sich bereits während seines Darbens in der Einzelhaft beobachten lassen: „In solitary one grows sick of oneself in his thoughts, and the only way to escape oneself is to sleep“ (S. 32), „and there was nothing to do, and my thoughts ran abominably on in vain speculations“ (S. 35). Wenn er nicht schläft, versinkt Standing in bewusst herbeigeführte Imaginationen, spielt beispielsweise mentale Schachpartien und wird, wie er selbst behauptet, zu einem „expert at this visualized game of memory“ (S. 33). Seine imaginierten Schachpartien erfordern eine Aufspaltung der eigenen Person in zwei antagonistische Ichs („to split my personality into two personalites“, ebd.), was die Pluralität der Ichs, die Standing in der Zwangsjacke zu inkarnieren glaubt, bereits vorwegzunehmen scheint. Seine Astralwanderungen lassen sich unter diesem Fokus als eine durch den Strafvollzug erzwungene Entindividualisierung und Persönlichkeitsdiffussion interpretieren.60 Und schon bevor Standing von Morrell die Fähigkeit erlernt, willentlich seinen Geist vom Körper zu lösen, betont er die Besonderheit seiner Träume, in die er während seiner Aufenthalte in der Zwangsjacke zunehmend versinkt: „During the first period of the jacket-inquisition I managed to sleep

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Vgl. Morrells Instruktionen: „If you don’t believe, then there’s nothing to it. The thing you must think and believe is that your body is one thing and your spirit is another thing. […] And thinking and believing all this you proceed to prove it by using your will. You make your body die“ (S. 67). Schließlich schafft es Standing vorgeblich sogar, kraft seines Willens auch außerhalb der Zwangsjacke andere Zeiten zu besuchen: „So, at will, and without the old torment, I was free to roam through time“ (S. 291). Doležel (Anm. 3), S. 114 und 126 ff. Dieser Interpretation folgt im Wesentlichen auch Rivers, der Standing eine „paranoic personality“ (S. 29) attestiert: „[…] what happens to Standing is that the sensory deprivation causes a shattering psychosis. His psyche is smashed into dozens of different personalities each going off to lead a separate life somewhere that there is an environment with which it can interact.“ Rivers (Anm. 54), S. 30.

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a great deal. My dreams were remarkable. Of course they were vivid and real, as most dreams are. What made them remarkable was their coherence and continuity“ (S. 63). Ob sich Standing tatsächlich regelmäßig auf Astralwanderschaft begibt oder ob seine Zeitreisen nur ein Produkt unbewusster mentaler Aktivitäten sind, bleibt bis zuletzt ungeklärt.61 Eine derartige ontologische Ambiguität ist bekanntlich nach Tzvetan Todorovs einflussreicher Definition konstitutiv für phantastische Literatur.62 Nach Ryan liegt dem Phantastischen die Unbestimmtheit der Ausprägung einer bestimmten Zugänglichkeitsrelation zwischen der wirklichen Welt und der erzählten Welt zugrunde, nämlich des Kriteriums der physikalischen Kompatibilität:63 Entweder unterliegt die TAW den gleichen Naturgesetzen wie die AW und wesentliche Aussagen des Erzählers sind unzuverlässig (hier: Metempsychosen sind unmöglich und Standing halluziniert) oder in der TAW gelten andere Gesetze als in der AW – dann kommuniziert ein zuverlässiger Erzähler eine aus Sicht des Lesers hybride, „unzuverlässige Welt“64 (hier: Astralprojektionen sind möglich und Standing nutzt sie tatsächlich). Der Leser wird zu der Unschlüssigkeit darüber verleitet, welche Propositionen des autodiegetischen Erzählers als ‚fiktional wahr‘ akzeptiert und in eine widerspruchslose, die aktuale Textwelt determinierende Menge von Sachverhalten integriert werden können und welche als inkonsistent, sprich ‚fiktional falsch‘ ausscheiden müssen. Gewendet auf das Paradigma der diegetischen Zeit: Es bleibt unentscheidbar, ob die Episoden von Standings vermeintlichen Reinkarnationen tatsächlich zeitliche Teile der aktualen Textweltvergangenheit sind oder zeitliche Teile einer als aktual erlebten, jedoch (fiktionsintern) kontrafaktischen, von Standing imaginierten Welt.65

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Beispielsweise scheinen die Nachforschungen des fiktiven Herausgebers der Wahrhaftigkeit von Standings Memoiren durchaus Evidenz zu verleihen: „Since the execution of Professor Darrell Standing […] we have written to Mr. Hosea Salsburty, Curator of the Philadelphia Museum, and, in reply, have received confirmation of the existence of the oar and the pamphlet“ (S. 285). Von dem besagten im Museum inventarisierten Ruderblatt aus dem Jahr 1821, auf dem Standings vermeintliches alter ego, der Schiffbrüchige Daniel Foss, eine eingeritzte Nachricht hinterlassen hat, konnte Standing angeblich nichts wissen, „for it is not on exhibition in the public rooms“ (S. 284). Tzvetan Todorov: Einführung in die fantastische Literatur [Introduction à la littérature fantastique, 1970]. München 1972, S. 26. Ryan (Anm. 3), S. 37. Alice Jedličková: „An Unreliable Narrator in an Unreliable World. Negotiating between Rhetorical Narratology, Cognitive Studies and Possible Worlds Theory“. In: Elke D’hoker/Gunther Martens (Hrsg.): Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel. Berlin 2008, S. 281–302, hier S. 297. In diesem Kontext wird deutlich, wie literaturtheoretische PW-Ansätze die Basisanliegen und Begrifflichkeiten der analytischen Philosophie großzügig modifizieren, um sie den Er-

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2.4 Figurale Fantasiezeit(en) als Katalysator von Plotstrukturen Liest man Standings Astralprojektionen als halluzinative Entrückungen und stellt in Rechnung, dass diese Erlebnisräume einer von der TAT abweichenden Zeitstruktur unterliegen, so lassen sich diese mit Ryan als ‚Fantasiewelten‘ (fantasy worlds, FW) klassifizieren.66 Während sonstige Figurendomänen bestimmte subjektbezogene Versionen der TAW etablieren (aufgrund des Wissens bzw. der Unkenntnis, des Glaubens, der Wünsche, Intentionen und des Pflichtbewusstseins einer Figur hinsichtlich ihrer aktualen Welt), entwirft eine FW eine eigenständige, wiederum aktuale (Sub-)Welt, die ihrerseits unterschiedliche Modalbeziehungen zu möglichen Welten unterhält.67 Zu denken ist an fiktionsinterne fiktionale Geschichten (Buch im Buch, Erzählungen von Figuren), Träume oder an Halluzinationen und Fantasien. Der mentale Akt immersiver, deiktischer Rezentrierung erfolgt in solchen Fällen (bewusst oder unbewusst) durch eine Figur (bzw. durch den Leser auf einer zweiten, übergeordneten Stufe). Dieser Prozess ist durch einen Wechsel nicht nur von modalen, sondern damit auch von raumzeitlichen Parametern bestimmt. Durch eine solche fiktionsinterne, mentale Transposition glaubt beispielsweise eine träumende Figur für die Dauer des Traumes an die Aktualität der geträumten Vorgänge, d. h. die Fantasiewelt tritt in der Wahrnehmung der Figur (und des Lesers) vorübergehend an die Stelle der TAW. Und eine solche Fantasiewelt unterliegt einer eigenen, von der TAT unabhängigen Raumzeit. Die oben konstatierte korrelative Ambiguität zwischen Standings figuraler Zeit und der äußeren Zeit lässt sich nun wie folgt spezifizieren: Seine figurale Zeit ist das kontinuierlich fortlaufende Scharnier zwischen ‚zwei‘ äußeren Zeitebenen – der äußeren Zeit der TAW und der äußeren Zeit seiner FWs. Allerdings kann er selbst diese Kontinuität nur von der ontologisch höheren Warte der TAW aus überblicken. Standing kann sich zwar an seine Erlebnisse in den FWs erinnern, umgekehrt wissen seine Avatare in den FWs jedoch nichts von einem Darrell Standing, was er als Erzähler mithilfe des kausal-chronologischen Verlaufs der TAT zu begründen versucht: Sein spontaner Eindruck während seiner ersten regressiven Inkarnation als Graf Guillaume de Sainte-Maure ist, dass „everything was the natural and the expected. I was I, be sure of that. But I was not Darrell Standing. […] Nor was I aware of any Darrell Standing – as I could not well be, considering that Darrell Standing was yet unborn

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fordernissen der Analyse fiktiver Welten anzupassen: Statt der Konturierung des ‚logisch‘ (Un-)Möglichen rücken vielmehr realweltliche Bedingungen des ‚physikalisch‘ (Un-)Möglichen in den Fokus der Betrachtungen. Ryan (Anm. 3), S. 119. Daher spricht Ryan (Anm. 3, S. 119) auch von „F-Universes“.

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and would not be born for centuries“ (S. 83, Hervorhebung im Original). Dies stellt die Traumhypothese jedoch nicht in Frage, sondern stützt sie im Wesentlichen: Auch ein geträumtes Ich weiß meistens nichts von dem träumenden Ich, während sich dieses nach dem Erwachen durchaus an das geträumte Ich erinnern kann. Da Fantasiewelten ihre eigene aktuale äußere Zeitstruktur etablieren und darüber hinaus mit einer eigenen modalen Peripherie alternativer Welten ausgestattet sind, kann es in ihnen auch zu Konstellationskonflikten kommen, die eine interne Plotdynamik initialisieren. Standings reinkarnierte Figuren werden mit existentiellen Widrigkeiten und Misszuständen konfrontiert, denen sie kraft ihres Handelns zu trotzen versuchen. Sie antizipieren mögliche, künftige Zustände (zeitliche Teile) ihrer aktualen Welt und setzen ihr Möglichstes daran, den für sie defizitären hic-et-nunc-Zustand zu ihrem Vorteil zu manipulieren und somit ihre TAW (also Standings F-Worlds, die sie bewohnen) den in ihren privaten Figurendomänen repräsentierten Vorstellungen von der Welt maximal anzunähern. Im Gegensatz zu seinen Avataren in den F-Welten hat der in der Zwangsjacke vegetierende Standing weder Hoffnungen, Pläne noch Ängste. Er hat notgedrungen resigniert und erträgt stoisch die ihm zugefügten Torturen. Er sieht für sich keine Zukunft, geschweige eine Möglichkeit, sie zu seinen Gunsten zu beeinflussen. Die ihn marternde Isolation und Folter würden nur aufhören, wenn er seinen Peinigern sagt, wo das Dynamit versteckt ist. Das Dynamit existiert aber de facto nicht, also ‚kann‘ er ihnen auch nicht sagen, wo es ist, und die Isolation und Folter werden weiter und weiter gehen: „[I]t seemed certain, if I did not do a miracle, […] that all the years of my life would be spent in the silent dark“ (S. 32). Da es für ihn keine reelle Hoffnung auf eine Veränderung seines gegenwärtigen Zustands gibt, scheint die Zeit zu einem fortwährend andauernden Moment komprimiert zu sein, zu einem gedehnten, von jeglicher Kontinuitätsstruktur losgelösten zeitlichen Teil. Das Gefängnis inszeniert einen atemporalen Mikrokosmos, eine heterotopische Enklave außerhalb der Welt und außerhalb der Zeit: „The world, so far as we were concerned, practically did not exist. It was more a ghost-world. Oppenheimer, for instance, had never seen an automobile or a motor-cycle. […] We were buried alive, the living dead“ (S. 162). Wenn Standing die Isolationshaft als „living grave“ (S. 37) bezeichnet, rekurriert er damit nicht (nur) auf die unterirdische Beklemmung, Dunkelheit und Stille seiner Einzelzelle. Und wenn er Mitgefangene, die sporadisch in die benachbarten Isolationszellen gepfercht werden, als „Dantes […] in our inferno“ (S. 163) bewillkommnet, bezieht er sich nicht (nur) auf die wiederholten, unentrinnbaren Folterschmerzen, sondern er verweist mit diesen Analogien auf

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postmortale Zeitlosigkeit. Die Zeit „in that dark hole of man’s inhumanity (S. 21) wird lediglich von den repetitiven Handlungen des Machtapparats strukturiert: „Time was marked by the regular changing of the guards“ (S. 32). Diese fortwährende Monotonie wird verstärkt durch die Deprivation von jeglichen Sinnesreizen in den unterirdischen „cells of silence“ (S. 29), „out of the sunshine and the light of day“ (S. 15) – selbst die Schmerzen wandeln sich in ganzkörperliche Taubheit. Der ‚Stillstand‘ der äußeren Zeit innerhalb des Gefängnisses droht auch Standings figurale Zeit erstarren zu lassen, deren Kontinuität für seine eigene Integrität jedoch notwendig ist: „Time was very heavy“ (S. 33), „one could only lie and think and think“ (S. 32), „and the hours were very long in solitary“ (S. 35). Da er das Darben in der Einzelhaft und vor allem in der Zwangsjacke als zeitlich entleert empfindet, flüchtet sich Standing in Fantasiewelten, die mit zeitlichen Teilen gefüllt und kontingent ausgerichtet sind, und in deren Kontinuitätsstruktur er den Faden seiner figuralen Zeit einspinnen kann. Um der Extension des Moments in der TAT zu entrinnen, erschafft Standing sich eigene Zeiten.68 Diese alternativen Welten samt ihrer zukunftsgerichteten Offenheit und potentiell realisierbaren Möglichkeiten erlauben es ihm, Ereignishaftigkeit zugunsten der Konturierung von Ersatzidentitäten zu erfahren. Die Leben in Standings F-Welten beinhalten Torturen und Drangsale, die denen seiner gegenwärtigen Situation in der Strafanstalt analog sind. Sie zeichnen sich jedoch dadurch aus, dass sie eine antizipierbare, mögliche Zukunft haben, in der die Dissonanz zwischen dem tatsächlichen Zustand der Welt und den in den Figurendomänen repräsentierten, erstrebten Zuständen der Welt aufgehoben werden kann. Und dieses korrelative Verweissystem der einzelnen Binnenepisoden sowohl untereinander als auch zwischen ihnen und der Rahmenwelt gibt dem Roman eine innere Kohärenz, die ihm meist abgesprochen wird:69 Wenn der Niederländer Adam Strang vierzig Jahre lang als Bettler über die staubigen Straßen der koreanischen Halbinsel streift, dann stets mit dem Ziel vor Augen, sich noch irgendwann an dem Verantwortlichen für sein trauriges Schicksal rächen zu können (was ihm in der Stunde seines Todes auch gelingt); Daniel Foss übersteht acht Jahre

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Bush unterscheidet in seiner psychoanalytisch ausgerichteten Analyse des Romans ähnlich zwischen der realen Zeit („real time“), der Gefängniszeit („prison time“) und Standings Traumzeit („dream time“). Diese Traumzeit sei einerseits an Standings Introspektionen des eigenen Unbewussten gebunden, andererseits seien ihre archetypischen Inhalte Bestandteil eines kollektiven Unbewussten und damit überzeitlich („transhistorical“). Glen Paul Bush: Rebellion, Time, and Death as Archetypical Structures in Jack London’s Novels: Martin Eden, The Iron Hell, The Star Rover. Saint Louis 1987, S. 68 ff. Zu den tendenziell negativen Urteilen der Literaturkritik über Londons Roman und dem Versuch einer Gegenpositionierung siehe Rivers (Anm. 54), S. 23 f.

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lang die Entbehrungen und physischen Widrigkeiten auf der Felseninsel in der Hoffnung, dass irgendwann ein vorbeifahrendes Schiff ihn erretten wird (was auch geschieht); Jesse Fancher durchzieht die lebensfeindliche Ödnis des amerikanischen Westens und erwehrt sich mit den anderen Siedlern lange den mormonischen Angreifern mit dem Ziel vor Augen, bald die erlösende, fruchtbare Westküste zu erreichen; und Graf Guillaume de Sainte-Maure gibt in seinem nächtlichen Degenduell mit den Häschern des Papstes der Gedanke Kraft, nach bestandenem Kampf seiner ihn erwartenden Geliebten, der Herzogin Philippa, in die Arme zu fallen.70 Standing flüchtet sich nicht in Wunschwelten, in denen er durch selbsttätiges und heroisches Handeln seine ‚reale‘, durch Passivität und Erduldung von Marter bestimmte Haftsituation imaginativ kompensiert (Jesse Fancher und Graf Guillaume etwa sterben bei ihren Unterfangen).71 Vielmehr ist es die sukzessiv fortschreitende und auf Zustandsveränderungen hin gerichtete Zeit dieser Fluchtwelten, die die bedeutungshafte Komplementärfunktion gegenüber der ‚zeitlosen‘ Gefängniswelt einnimmt. Entsprechend gelöst präsentiert sich Standing in der Erzählgegenwart der Todeszelle, denn diese ist wieder zeitlich gefüllt, die nahende Exekution markiert für Standing einen antizipierbaren, temporalen Fixpunkt (der ihn nicht nur von den Gefängnisqualen erlösen, sondern auch seinen unsterblichen Geist aus dem Gefängnis seines vergänglichen Körpers befreien wird). Zeit ist nun nicht mehr bis zu ihrer Selbstauflösung gedehnt, sondern der erzählende Standing bedauert abschließend gar: „I should like to tell more of those far days, but time in the present is short. Soon I shall pass“ (S. 313, Hervorhebung von C. B.).72 Zeit, so kann abschließend resümiert werden, ist in The Star Rover nicht allein eine objektive Konstituente der aktualen Welt, sondern eine innerpsychische Erfahrung des Subjekts, das immer nur einen ‚möglichen‘ Zugang zu dieser Welt und daher nur eine mögliche Perzeption von Zeit erlangen kann. Mit seinem letzten Roman nähert sich Jack London damit der Genese sowohl des zeitgenössischen Diskurses der Philosophie (Henri Bergson, Martin Heidegger) als auch der europäischen Erzählkunst der Moderne (Marcel Proust, Thomas Mann) an, die das subjektive Erleben

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Selbst nach seinem erneuten Erwachen in der Zwangsjacke bleiben Guillaumes Gedanken noch kurzzeitig in Standing präsent: „And in my brain the memory was strong that Philippa waited me in the big hall, and I was desirous to escape away back to the half a day and half a night I had just lived in old france“ (S. 103, Hervorhebung von C. B.). Hier setzt sich meine Analyse des Romans entscheidend von der Interpretation Rivers ab, vgl. Anm. 60. Vgl. auch S. 318: „I sit in my cell now, while the flies hum in the drowsy summer afternoon, and I know that my time is short. Soon will they apparel me in the shirt without a collar“ (Hervorhebung von C. B.).

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von Zeit(en) und Welt(en) zum Gegenstand ihrer Reflexionen und Romane machten. Mehr als diese Annäherung hat ihm sein früher Tod zumindest in dieser Welt nicht mehr gestattet. Literatur Benovsky, Jiri: Persistence Through Time, and Across Possible Worlds. Frankfurt a. M. u. a. 2009. Bush, Glen Paul: Rebellion, Time, and Death as Archetypical Structures in Jack London’s Novels: Martin Eden, The Iron Hell, The Star Rover. Saint Louis 1987. Csúri, Károly: „Mögliche Welten, Kohärenztheorie der Wahrheit und literarische Erklärung“. In: Hans-Georg Werner/Eberhard Müske (Hrsg.) Strukturuntersuchung und Interpretation künstlerischer Texte. Halle 1991, S. 3–14. Doležel, Lubomír: Heterocosmica. Fiction and Possible Worlds. Baltimore/London 1998. Doležel, Lubomír: Possible Worlds of Fiction and History. The Postmodern Stage. Baltimore 2010. Eco, Umberto: Lector in Fabula. Die Mitarbeit der Interpretation in erzählenden Texten. [Lector in fabula. La cooperazione interpretative nei testi narrativi, 1979]. München 31998. Eco, Umberto: „Small Worlds“. In: Versus. Quaderni di Studi Semiotica 52 (1989). S. 53– 70. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. 3., durchgesehene und korrigierte Aufl. München 2010. Haslam, Jason: „‚Morality is a Social Fund‘. Jack London’s Strait-Jacket Ethics“. In: Hans-Helmuth Gander/Monika Fludernik/Hans-Jörg Albrecht (Hrsg.): Bausteine zu einer Ethik des Strafens. Philosophische, juristische und literaturwissenschaftliche Perspektiven. Würzburg 2008, S. 233–249. Heinze, Rüdiger: „The Whirligig of Time: Toward a Poetics of Unnatural Temporality“. In: Jan Alber/Henrik Skov Nielsen/Brian Richardson (Hrsg.): A Poetics of Unnatural Narratives. Columbus 2013, S. 31–44. Hills, Matt: „Time, Possible Worlds, and Counterfactuals“. In: Mark Bould u. a. (Hrsg.): The Routledge Companion to Science Fiction. New York 2009, S. 433–441. Jedličková, Alice: „An Unreliable Narrator in an Unreliable World. Negotiating between Rhetorical Narratology, Cognitive Studies and Possible Worlds Theory“. In: Elke D’hoker/Gunther Martens (Hrsg.): Narrative Unreliability in the TwentiethCentury First-Person Novel. Berlin 2008, S. 281–302. Kripke, Saul A.: „Semantical Considerations on Modal Logic“. In: Acta Philosophica Fennica 16 (1963), S. 83–94. Kripke, Saul A.: Name und Notwendigkeit [Naming and Necessity, 1972]. Frankfurt a. M. 1981. Lacassin, Francis: „On the Roads of the Night. A Search for the Origins of ‚The Star Rover‘“ [1976]. In: Jacqueline Tavernier-Courbin (Hrsg.): Critical Essays on Jack London. Boston, MA 1983, S. 180–194. Lewis, David: „Possible Worlds“ [1973]. In: Michael J. Loux (Hrsg.): The Possible and the Actual. Readings in the Metaphysics of Modality. Ithaca/London 1979, S. 182–189. Lewis, David: „The Paradoxes of Time Travel“ [1976]. In: Ders.: Philosophical Papers II. New York/Oxford 1986, S. 67–80.

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LUKAS WERNER (Wuppertal)

Zeit im Text – Möglichkeiten der formalen Historisierung. Zur Relation von Zeit und Ich-Erzähler in Grimmelshausens Simplicissimus und Schnabels Insel Felsenburg 1. Möglichkeiten der formalen Historisierung 79 – 1.1 Historische Narratologie: Koordinaten eines Forschungsfeldes 79 – 1.2 Zeit als relationale Kategorie: Ein Schlüssel zur formalen Historisierung 84 – 1.3 Ich-Erzähler in systematischer wie historischer Perspektive 86 – 2. Ich und Zeit im „Simplicissimus Teutsch“ und in der „Insel Felsenburg“ 89 – 2.1 „Simplicissimus Teutsch“: Einfache Komposition, konkrete Zeit und liminales Zeitempfinden 90 – 2.2 „Insel Felsenburg“: Komplexe erzählerische Verschachtelung, kalendarische Verbindlichkeit und temporale Bemächtigung 94

1. Möglichkeiten der formalen Historisierung 1.1 Historische Narratologie: Koordinaten eines Forschungsfeldes Erzählt wurde immer schon, aber nicht immer auf dieselbe Weise. Diese simple Einsicht in die historische Diversität des Erzählens stellte die Narratologie als Wissenssystem vor neue Herausforderungen, denn hinterfragt wurde damit zweierlei: erstens die soziohistorische Autonomie literarischer Texte und zweitens die Annahme, das Begriffsinventar der Narratologie sei universell anwendbar. Die Forderung nach einer ‚historischen Narratologie‘ war die Konsequenz daraus:1 Der Terminus ‚historische Narratologie‘2 fungiert dabei als Sammelbegriff für verschiedene Ansätze, denen je eigene Erkenntnisinteressen zugrunde liegen, und die sich

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Vgl. Ansgar Nünning: „Towards a Cultural and Historical Narratology. A Survey of Diachronic Approaches, Concepts, and Research Projects“. In: Bernhard Reitz/Sigrid Rieuwerts (Hrsg.): Anglistentag. 1999 Mainz. Trier 2000, S. 345–373; Monika Fludernik: „The Diachronization of Narratology“. In: Narrative 11/3 (2003), S. 331–348. Vgl. Harald Haferland/Matthias Meyer (Hrsg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarbeit von Carmen Stange und Markus Greulich. Berlin/New York 2010. Die Bezeichnung ‚historische Narratologie‘ hat sich gegen den Terminus ‚kulturgeschichtliche Narratologie‘ durchgesetzt, vgl. Astrid Erll/Simone Roggendorf: „Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 73–113.

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Lukas Werner

unterschiedlich zur klassisch-strukturalistischen Narratologie positionieren. Je nachdem, was unter ‚Historizität‘ verstanden wird, wechselt der Fokus. Abstrahiert man die bestehenden Arbeiten zur historischen Narratologie, dann sind drei Forschungsprogramme zu unterscheiden:3 ein kontextualisierender Ansatz, ein formgeschichtlicher Ansatz und ein theoriegeschichtlicher Ansatz. Diese Ansätze verhalten sich ‚affirmativ‘, ‚komplementär‘ oder ‚revisionistisch‘ zum bestehenden narratologischen Begriffssystem.4 Jenseits von methodisch programmatischen Beiträgen ist die Zahl der textanalytischen Arbeiten, die sich explizit in das Forschungsprogramm einer historischen Narratologie einreihen, gering.5 Es gibt jedoch eine Vielzahl altphilologischer6 und mediävistischer7 Studien, von denen implizit wichtige Impulse für eine historische Narratologie im Allgemeinen und eine Historisierung von Zeit im Besonderen ausgehen. Die Argumentationsstruktur der folgenden Überlegungen, die das heuristische Potential einer formalen Historisierung zu erproben suchen, sei kurz umrissen: Der Aufsatz skizziert zunächst das Forschungsfeld der

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Erll und Roggendorf (Anm. 2) unterscheiden vier Praxisfelder einer kulturgeschichtlichen Narratologie, ohne sie aber systematisch in Relation zu setzen: 1) die „politische Dimension der Literatur“; 2) die „diachrone Dimension narrativer Formen“; 3) „[m]entalitätsgeschichtliche Ansätze“ und 4) „[f]unktionsgeschichtliche Ansätze“ (vgl. Erll/Roggendorf [Anm. 2], S. 85–106). Vgl. zu dieser Unterscheidung Lukas Werner: „Elemente einer historischen Narratologie. Armin Schulz’ ‚Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive‘“. In: IASL, http://www.iasl online.de/index.php?vorgang_id=3641 [letzter Zugriff: 8.3.2014]. Vgl. Barbara Schmitz: Prophetie und Königtum. Eine narratologisch-historische Methodologie entwickelt an den Königsbüchern. Tübingen 2008: Ausgehend vom ‚Autor‘ sucht Schmitz eine ‚historisch-kritische Narratologie‘ für die biblische Exegese fruchtbar zu machen, „die den textimmanenten Analyserahmen in methodisch reflektierter Weise überschreitet“ (S. 9). Fotis Jannidis hingegen versteht die ‚Figur‘ als Produkt der Rezeption des Lesers, der sie mit seinem Wissen und Verstehenshorizont mitgestaltet. Da sich im Laufe der Zeit der Leser (und damit auch die ‚Figur‘) wandelt, bedarf es der Rekonstruktion eines historischen Rezipienten (Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/ New York 2004). Vgl. u. a. Irene J. F. de Jong: A Narratological Commentary on the Odyssey. Cambridge 2001; Irene J. F. de Jong: Narrators and Focalizers. The Presentation of the Story in the ‚Iliad‘. London 22004; Irene J. F. de Jong/René Nünlist (Hrsg.): Time in Ancient Greek Literature. Leiden/ Boston 2007. Vgl. Evelyn Birge Vitz: Medieval Narrative and Modern Narratology. Subjects and Objects of Desire. New York/London 1989; Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘. Tübingen/Basel 2003; Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007; Haferland/Meyer (Anm. 2); Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin/Boston 2012; Florian Kragl/Christian Schneider (Hrsg.): Erzähllogiken in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Akten der Heidelberger Tagung vom 17. bis 19. Februar 2011. Heidelberg 2013; Udo Friedrich/Andreas Hammer/Christiane Witthöft (Hrsg.): Anfang und Ende. Formen narrativer Zeitmodellierung in der Vormoderne. Berlin 2014.

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‚historischen Narratologie‘ (1.1). Auf der Grundlage eines relationalen Verständnisses von erzählter Zeit (1.2) gelten die Überlegungen exemplarisch den besonderen erzählerischen Möglichkeiten von Ich-Erzählungen (1.3). Die Lektüre von Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) und Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (1731–1743) schließlich vergleicht das Wechselverhältnis zwischen IchErzähler und erzählter Zeit in beiden Romanen und verortet es in historischer Langperspektive (2.). Der kontextualisierende Ansatz. Ausgangspunkt von Ansgar Nünnings Programm einer cultural and historical narratology ist die Feststellung, dass mit dem Aufkommen der Narratologie Ende der 1960er Jahre die Kulturgeschichte (cultural history) auf der Strecke geblieben war. Nünning betont das produktive Potential einer Allianz von Narratologie und Kulturgeschichte, deren Ziel er darin sieht, „to contextualize literary fictions by situating them within the broader spectrum of discourses that constitute a given culture“.8 Zwei Dinge gibt Nünning dabei zu bedenken: Erstens warnt er davor, das ‚konzeptuelle Kind‘ der Narratologie, also ihr Begriffsinstrumentarium, gemeinsam mit dem ‚formalistischen Badewasser‘ auszugießen; gleichzeitig betont er, dass narratologische Schlüsselbegriffe einer Revision unterzogen werden müssten, bevor sie für einen kulturgeschichtlichen Ansatz funktionalisiert würden.9 Zweitens weist er darauf hin, dass ein Verständnis von Narrativen (narrative fictions) als „active cognitive forces in their own right“ den Blick darauf lenkt, wie formale Eigenschaften des Romans Grundannahmen und kulturelle Herausforderungen einer Epoche reflektieren und zugleich beeinflussen.10 Dies bedeutet konkret: „formal techniques are not just analysed as structural features of a text, but as narrative modes which are highly semantized and engaged in the process of cultural construction“.11 Jeder Literatur- und Kulturhistoriker könne, so sein Plädoyer, vom Begriffssystem der Narratologie mit seinen Möglichkeiten der Beschreibung profitieren, solange man im Sinne Clifford Geertz’ auf ‚dichte Beschreibung‘ (thick description) setze. Wenn es Nünning jenseits der soziohistorischen Kontextualisierung um formale Aspekte geht, rückt er sie – Fredric Jamesons Konzept der ideology of the form aufgreifend – in ihren kulturellen Funktionen ins Zentrum. Eine so konzipierte historische Narratologie diffundiert hin zu einer „cultural

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Nünning (Anm. 1), S. 357. Nünning (Anm. 1), S. 359 f.; vgl. S. 361. Nünning (Anm. 1), S. 360. Nünning (Anm. 1), S. 360.

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analysis“, wie sie von Mieke Bal stark gemacht wird.12 Den Hintergrund dieser Gegenstandserweiterung und des Bestrebens um die terminologische Revision bilden die vom cultural turn angeregte Diskussion um das Verhältnis von Kultur- und Literaturwissenschaft und die Debatte um den deskriptiven und interpretativen Charakter der Narratologie.13 Als problematisch im Rahmen des kontextualisierenden Ansatzes erweisen sich die Bestimmung und Operationalisierung des Verhältnisses zwischen Text und Kontext, besonders wenn man es zu einer dynamischen Relation auflöst, ohne klare analytische Begriffe aufgeben zu wollen. Der formgeschichtliche Ansatz. Im Unterschied zum kontextualisierenden Ansatz stellt eine formgeschichtliche Narratologie die „historische Semantik narrativer Formen“ ins Zentrum,14 ohne jedoch ihrer „Verwobenheit mit [dem] jeweiligen kulturellen Kontext“15 nachzugehen. Monika Fludernik skizziert eine Reihe möglicher Arbeitsfelder einer ‚diachronen Narratologie‘: Dazu zählen Aspekte der Gattungsgeschichte, der Wandel der Kommunikationssituationen und die Veränderungen im Einsatz von Metafiktion. Fludernik konzentiert ihr Programm auf Fragen danach, wann bestimmte Techniken zum ersten Mal auftauchen, wann sie zum gestalterischen Standardinventar gehören und wie sie (re)funktionalisiert werden.16 Die analytischen Kategorien, die größtenteils der klassischstrukturalistischen Narratologie entlehnt werden, sind bei einem solchen Ansatz gesetzt und werden in diachroner Perspektive angewendet. Bei diesem Theorieentwurf fällt es schwer, die Historizität der analytischen Kategorien zu integrieren, denn damit würde die Kontinuität des Gegenstands abhandenkommen. Der theoriegeschichtliche Ansatz. Ausgangspunkt des von Ulrich Ernst skizzierten theoriegeschichtlichen Ansatzes ist die Einsicht, dass die Nar-

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Vgl. Mieke Bal: „Close Reading Today. From Narratology to Cultural Analysis“. In: Walter Grünzweig/Andreas Solbach (Hrsg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext. Transcending Boundaries: Narratology in Context. Tübingen 1999, S. 19–40. Vgl. Oliver Jahraus: „Text, Kontext, Kultur. Zu einer zentralen Tendenz in den Entwicklungen in der Literaturtheorie von 1980–2000“. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 19– 44; Katrin Fischer: „Die Haug-Graevenitz-Debatte in der DVjs als Kontroverse um die Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft(en) und wissenschaftliches Argumentieren“. In: Ralf Klausnitzer/Carlos Spoerhase (Hrsg.): Kontroversen in der Literaturtheorie/Literaturtheorie in der Kontroverse. Berlin u. a. 2007, S. 485–504. Einen Überblick der Darby-FludernikKindt/Müller-Debatte gibt Roy Sommer: „‚Contextualism‘ Revisited. A Survey (and Defence) of Postcolonial and Intercultural Narratologies“. In: Journal of Literary Theory 1 (2007), S. 61–79. Matías Martínez: „Vielheit und Einheit des Erzählens? Möglichkeiten einer historischen Narratologie“. In: www.ivg2010.pl/index.php/page/Sektion-38 [letzter Zugriff: 1.2.2011]. Erll/Roggendorf (Anm. 3), S. 96. Vgl. Fludernik (Anm. 1); des Weiteren Monika Fludernik: Erzähltheorie. Eine Einführung. Darmstadt 32010, S. 124–133.

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ratologie „von einem modernen Standpunkt aus theoretisch und systematisch an den Gegenstand herangeh[t] und Kategorien entwickel[t]“.17 Deshalb stellt sich die Frage, „ob und inwieweit sich die Thesen und Ergebnisse der modernen Erzähltheorie auch historisch fundieren lassen“: Ziel ist es, anhand der Rekonstruktion poetologischer Diskurse eine „Theoriegeschichte der Narratologie von der Antike bis zur Neuzeit zu entwickeln“.18 Volker Mertens erweitert nochmals den Fokus einer so verstandenen historischen Narratologie, indem er zwischen der ‚expliziten‘ und ‚impliziten‘ Auseinandersetzung literarischer Texte mit der eigenen Gemachtheit unterscheidet. Beide Formen seien Bestandteil einer ‚Theoriegeschichte der Narratologie‘. Erstere nennt er „theoretische“, letztere „narrativierte“ Narratologie.19 Der Fokus einer so konzipierten historischen Narratologie reicht über den klassischen erzähltheoretischen Gegenstand – den literarischen Text und seine Funktionsweise – hinaus, denn zu ihrem Objekt werden ebenso Poetiken wie Rhetoriken als Orte der Reflexion narrativer Formen. Revisionistisch – komplementär – affirmativ. Quer zu diesen Differenzierungen liegt die Positionierung der historisierenden Zugriffe zum etablierten Theoriedesign. Revisionistische Ansätze verstehen das narratologische Begriffssystem selbst als Produkt eines historischen Textkorpus20 und versuchen seine Historizität und seine Bedingung im Textkorpus mitzudenken sowie für eine historisch angemessene Systematik produktiv zu machen.21 Komplementäre Ansätze ergänzen das gängige Theoriedesign: So entwickelt beispielsweise Armin Schulz mit Blick auf mittelalterliche Erzählungen eine histoire-Narratologie, denn es sei insofern „töricht, die Ebene der histoire mit interpretatorischer Mißachtung zu belegen“, als mittelalterliche Erzählliteratur grosso modo auf Handlung basiere und „überdeutlich in Anlehnung an bestehende literarische Schemata gestaltet“

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Ulrich Ernst: „Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie“. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 179–199, hier S. 179. Ernst (Anm. 17), S. 179. Volker Mertens: „Theoretische und narrativierte Narratologie von Chrétien bis Kafka“. In: Haferland/Meyer (Anm. 2), S. 17–34, hier S. 17. Vgl. Alexander Honold: „Die Zeit der Erzählung. Marcel Proust und die Narratologie Gérard Genettes“. In: Boris Previšić (Hrsg.): Die Literatur der Literaturtheorie. Bern [u. a.] 2010, S. 21–42. Vgl. Harald Haferland/Matthias Meyer: „Einleitung“. In: Haferland/Meyer (Anm. 2), S. 1– 15, hier S. 7: Die Autoren heben den heuritsischen Wert der historischen Narratologie hervor, „sei es, um ihr kategoriales Gerüst historisch gewendet zu sehen, oder sei es in der Erwartung, dass sich die kategorial fixierten Phänomene selbst als historisch entstanden erweisen lassen“.

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sei.22 Affirmative Ansätze hingegen erweitern zwar den Untersuchungsgegenstand in diachroner Perspektive, jedoch ohne die grundsätzliche Gültigkeit der analytischen Kategorien in Frage zu stellen.23 1.2 Zeit als relationale Kategorie: Ein Schlüssel zur formalen Historisierung Vor dem Hintergrund der drei skizzierten Zugriffe wird im Folgenden ein formaler Ansatz für die Historisierung von erzählter Zeit skizziert, der einerseits die Orientierung am begrifflichen Denken nicht aufgibt, andererseits sich aber von einem eindimensionalen Verständnis von erzählter Zeit verabschiedet.24 Als Schlüssel dazu bietet sich ein relationales Konzept von Zeit an, das ihrer konstitutiven Bedeutung für die erzählte Welt Rechnung trägt und offen ist für semantische Programme (wie zum Beispiel die göttliche Vorsehung, durch die Handlung motiviert und zugleich Zeit geformt wird). Verstanden wird sie als eine mit anderen Elementen der erzählten Welt verquickte und vom Erzählakt untrennbare Größe. Denn in ihrer „besondere[n] strukturelle[n] Wesenheit“ bestimmt Zeit, „die Gesamtstruktur des jeweiligen Erzählwerks“,25 sodass für sein Verständnis „eine möglichst konsistente raum-zeitliche Vorstellung von der Diegese“26 notwendig ist. Relationalität: Explizite und implizite Formen des Zeitaufbaus. Zeit stellt zusammen mit dem Raum die Koordinaten der erzählten Welt. Die zeitliche Dimension eines Erzähltextes kann vom Erzähler explizit gemacht werden oder impliziert sein. Boris Tomaševskij unterscheidet für den ersten Fall zwei Techniken der erzählerischen Evokation von Zeit: Zeit kann durch „Datierung[en]“, die entweder ‚absolut‘ (‚am 22. Januar 1956‘) oder ‚relativ‘ (‚nach zwei Jahren‘; ‚als der Krieg ausbrach‘) sind, oder durch Hinweise auf „Zeiträume“ (‚sie sprachen zwei Stunden‘) konkretisiert

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Schulz (Anm. 7), S. 166. Ein Plädoyer für eine historisch angemessene Erweiterung sowie alle Kernargumente in der Diskussion um eine historische Narratologie finden sich bereits bei Vitz (Anm. 7), S. 8 f. Vgl. z. B. de Jong (Anm. 6). Vgl. die Einleitung zu diesem Band. Herman Meyer: „Raum und Zeit in Wilhelm Raabes Erzählkunst“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 27 (1953), S. 236–267, hier S. 236. Meyer formuliert diesen Zusammenhang noch als Frage. Anton Fuxjäger: „Diegese, Diegesis, diegetisch. Versuch einer Begriffsentwirrung“. In: montage/AV 16/2 (2007), S. 17–37, hier S. 18.

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werden.27 Im zweiten Fall jedoch ist man mit dem Problem konfrontiert, dass Zeit nicht direkt erfassbar ist. Dies liege, so Ernst Cassirer aus philosophischer Perspektive, „in der phänomenologischen Eigenart, in dem einfachen Befund des Raumes wie in dem der Zeit begründet, daß das Sein beider mit dem Sein der ‚Dinge‘ nicht gleichbedeutend, sondern spezifisch von ihm verschieden ist“.28 Im Gegensatz zu Objekten, die Gegenstand der Darstellung werden können, ist Zeit nicht abbildbar: Sie führt kein „losgelöstes Dasein“.29 Eine Lösung dieses – auch für die Narratologie geltenden – Zugriffs- und Beschreibungsproblems sieht Cassirer im Begriff der ‚Ordnung‘, den er von Leibniz entlehnt, der sich wiederum mit Isaac Newton auseinandersetzt: Die Widersprüche, die sich aus Newtons Begriff des absoluten Raumes und der absoluten Zeit ergeben hatten, werden von Leibniz dadurch beseitigt, daß er beide, statt zu Dingen, vielmehr zu Ordnungen macht. Raum und Zeit sind keine Substanzen, sondern vielmehr ‚reale Relationen‘; sie haben ihre wahrhafte Objektivität in der ‚Wahrheit von Beziehungen‘, nicht an irgendeiner absoluten Wirklichkeit.30

In einem solchen relationalen Verständnis von Zeit, das Beziehungen zwischen Parametern in den Fokus rückt, liegt meines Erachtens der Schlüssel zu einer narratologischen Erschließung und Operationalisierung erzählter Zeit. Man kann sie – jenseits der Erzähler- oder Figurenbehauptungen über sie – nicht an und für sich fassen, sie wird aber greifbar als relationale Größe, die durch ihr Verhältnis zur erzählerischen Vermittlung, zu anderen Elementen der erzählten Welt und als Teil von Konzepten wie Lebensaltermodellen etc. Kontur gewinnt. Analytisch zu differenzieren ist auf der impliziten Ebene folglich zwischen der diegetischen, der erzählerischen und der semantischen Dimension von Relationalität. Die diegetische Dimension erfasst das Zusammenspiel zwischen Zeit und Elementen der erzählten Welt (z. B. Raum, Figur, Ereignis etc.), die erzählerische nimmt das Verhältnis zwischen Zeit und den Vermittlungsweisen in den Blick (z. B. Erzählertyp, Perspektivierung etc.), die zugleich die Möglichkeitsbedingungen aller histoire-Elemente

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Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931) hrsg. und eingel. v. Klaus-Dieter Seemann, aus dem Russ. übers. von Ulrich Werner. Wiesbaden 1985, S. 226. Ernst Cassirer: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ [1931]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Birgit Recki, Bd. 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931). Darmstadt 2004, S. 411–432, hier S. 414. Mit Bezug auf Immanuel Kant Ernst Cassirer: „Der Raum- und Zeitbegriff des kritischen Idealismus und die Relativitätstheorie“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Birgit Recki, Bd. 10: Zur Einsteinschen Relativitätstheorie. Erkenntnistheoretische Betrachtungen. Darmstadt 2001, S. 69–92, S. 73. Cassirer (Anm. 28), S. 415.

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sind.31 Mit einem solchen Verständnis von Zeit ist nicht nur das Zugriffsproblem gelöst, sondern auch die Dichotomie von Erzählzeit und erzählter Zeit zugunsten eines mehrschichtigen Modells aufgelöst. Ersetzt wird die Vorstellung von erzählter Zeit als homogene und sukzessiv vergehende Dimension durch ein relationales Modell, das die Möglichkeit bietet, Zeit als Produkt verschiedener Faktoren zu begreifen und sie formbasiert zu historisieren.32 Historisch im Sinne dieses Ansatzes ist das Zusammenwirken der Elemente (für die Raum-Zeit-Relation hat dies Michail M. Bachtin anschaulich gezeigt33). Die folgenden Überlegungen greifen einen spezifischen Aspekt aus diesen Konstellationen heraus. Es geht um das Zusammenspiel von Erzählertyp (Ich-Erzählungen) einerseits und die Datierung sowie Koordinierung von Ereignissen andererseits. Der Zusammenhang von IchErzähler und Zeit wird zunächst systematisch entwickelt (1.3) und dann historisch gewendet (letzter Abschnitt von 1.3 und 2.). Die Ich-Erzählung als Kompositionsform impliziert nämlich spezifische erzählerische Gestaltungsmöglichkeiten und damit einen Möglichkeitsrahmen für die erzählte Zeit: zum einen im Hinblick auf ihren ontologischen Status, denn Zeit bleibt – wie die gesamte erzählte Welt – stets im Ich bedingt, und zum anderen im Hinblick auf ihre Konsistenz, die sich mit der Multiplizität des Ich in viele Stufen aufteilen kann. Bei einem Blick auf frühneuzeitliche Romane erweist sich die aus heutiger Perspektive vermeintliche Nähe von Ich, Zeit und subjektiver Wahrnehmung als historisch, denn diese konzeptuelle Dreiecksfigur spielt – wie die Einzellektüren zeigen sollen –, überspitzt formuliert, für beide Romane keine Rolle. 1.3 Ich-Erzähler in systematischer wie historischer Perspektive Ich-Erzähler und Welt/Zeit. Die kategoriale Differenz zwischen der Welt eines autodiegetischen Erzählers und derjenigen eines heterodiegetischen Erzählers (mit Nullfokalisierung) liegt im ontologischen Status der Fakten dieser Welten. Durch seinen distanzierten, gleichsam panoramischen Blick entwirft der heterodiegetische Erzähler, so Lubomír Doležel, bei Null-

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Vgl. die entsprechenden Artikel des vorliegenden Bandes. Eine erste historische Skizze findet sich bei Lukas Werner: „Zeit“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 150– 158. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008.

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fokalisierung (in Doležels Terminologie: unsubjektivierte „Er-form“34) eine erzähllogisch übergeordnete Welt: „Motifs introduced in the speech acts of the anonymous Er-form narrator are eo ipso authentic“, sodass diese Motive als Aussagen des Erzählers „narrative facts“ der Welt sind.35 Die Welt eines homodiegetischen (und als Sonderfall autodiegetischen) Erzählers (mit interner Fokalisierung) unterscheidet sich im Hinblick auf den Status des Gesagten grundlegend von einer Welt der ‚narrativen Fakten‘. Die Welt ist in Doležels Sinne nicht „authentic“, sondern nur „relatively authentic“; es ist keine „world of absolute narrative facts“, vielmehr ist sie eine „authentic belief-world of the Ich-narrator“.36 Eine autodiegetische Erzählung verfügt deshalb über keine erzähllogisch privilegierte Erzählinstanz.37 Überträgt man Doležels Differenzierung auf Zeit, erweist sich die von einem Ich-Erzähler hervorgebrachte zeitliche Dimension einer erzählten Welt nicht als unumstößliche Gewissheit, sondern als subjektiv bedingte Größe. Die autodiegetische Erzählung besitzt in ihrer Rückbindung an das Ich – unabhängig von der konkreten Realisation – damit einen Wahrnehmungsstandpunkt mit Subjektivitätspotential. Multiplizität des Ich. Das Subjektivitätspotential wird durch die Multiplizität des Ich nochmals gesteigert. „Grammatisch verdeckt der durchgängige Gebrauch der Ersten Person Singular die Tatsache, daß zwei verschiedene Ich-Instanzen auftreten“: ein ‚erlebendes Ich‘ und ein ‚erzählendes Ich‘.38 Diese Differenz mag nicht für alle Ich-Erzähler charakteristisch sein (z. B. nicht für diejenigen, die nicht Teil der erzählten Welt sind), doch ist das „Wechselspiel von erzählendem und erlebendem Ich […] zumindest für die pseudo-autobiographische Variante der Ich-Erzählung konstitutiv“.39 Erzählendes und erlebendes Ich können dabei nicht als starre Instanzen verstanden werden, vielmehr verfügen sie über eine je eigene zeitliche Dimension. Je nachdem, wie lang der erzählte und der erzählende Zeitraum ist, kann die „zweipolige Ich-ich-Struktur […] zu einer subtilen Schichtung von Zeitstufen und Ich-Instanzen ausgebaut

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Lubomír Doležels „subjectivized Er-form“ ist eine Form der internen Fokalisierung, denn „sentences of the subjectivized Er-form introduce narrative motifs coupled with attitudes, beliefs, assumptions, etc. of narrative agents“ (Lubomír Doležel: „Truth and Authenticity in Narrative“. In: Poetics Today 1/3 [1980], S. 7–25, hier S. 16). Doležel (Anm. 34), S. 12. Doležel (Anm. 34), S. 17, H. i. O. Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. und aktual. Aufl. München 2012, S. 102. Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Paderborn 92006, S. 72; vgl. Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. 6., unveränderte Aufl. Göttingen 1995, S. 271–273. Vogt (Anm. 38), S. 72.

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werden“.40 Der Erzählakt des Ich ist ein sich in der Zeit erstreckender Erinnerungsakt, für dessen Instanzen eine Differenz von Wissen und Wahrnehmen kennzeichnend ist:41 Es kommt auf das „geheimnisvolle Doppelspiel der beiden Ich, des überlegen erzählenden und des benommen, dumpf erlebenden“ an.42 Eine Erinnerungspoetik – wie sie in Marcel Prousts Recherche programmatisch vorliegt, aber auch darüber hinaus für die Erzählliteratur des 20. Jahrhunderts einflussreich war – wird bestimmt von dieser Differenz zwischen erlebendem/erinnertem und erzählendem/sich erinnerndem Ich.43 Zeit ist damit sowohl die äußere Dimension des Erlebens als auch die innere des Erinnerns, die sich mit dem Erinnerungsakt formiert. Wie Franz K. Stanzels Ausführungen zum „Ich:Ich-Schema der quasi-autobiographischen Erzählsituation“ deutlich machen, gründet eine solche Poetik auf genuin modernen Vorstellungen von Ich-Individualität, der Bildung und Psychologie zugrunde liegen. Soviel zu den systemisch angelegten erzählerischen Möglichkeiten einer subjektiven Verzerrung von Zeit durch ein erzählendes Ich, die den historisch differenzierenden Referenzpunkt der Überlegungen zu Grimmelshausen und Schnabel bilden. Ich-Erzähler in historischer Perspektive. Der Blick auf vormodernes Erzählen lässt deutlich werden, dass die klassisch gewordene Unterteilung der Ich-Instanz im Allgemeinen und des autodiegetischen Erzählers im Besonderen in ein ‚erlebendes‘ und ein ‚erzählendes Ich‘, die als zeitlich separierte Wahrnehmungs- und Erzählinstanzen Teil der Fiktion sind, historisch variabel ist. Bereits Stanzel hat auf die Historizität der von ihm skizzierten Erzählsituationen hingewiesen. Die kategorialen epistemischen und ontologischen Differenzen zwischen Ich-Sprecher (der nicht im Genette’schen Sinne als homodiegetischer Erzähler zu verstehen ist), Figuren und Rezipienten gibt es beispielsweise im Nibelungenlied nicht: „[N]icht das Wissen, das der Erzähler hat und vermittelt, [ist] exklusiv, sondern nur die Stimme, die dieses Wissen aktualisiert und vermittelt“.44 Das Ich besitzt nicht „ein Wissen und eine Wahrnehmung, die von derjenigen des Publikums unterschieden wäre“; zugleich hat es „nur teilweise“ „ein Wissen und eine Wahrnehmung, die von derjenigen des handelnden Personals der dargestellten Welt unterschieden wäre“.45 Jene von Armin

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Vogt (Anm. 38), S. 72 f. Vgl. Stanzel (Anm. 38), S. 273 und S. 276. Leo Spitzer: „Zum Stil Marcel Proust’s“. In: Ders.: Stilstudien. München 1928, Bd. 2: Stilsprachen, S. 365–497, hier S. 478; vgl. des Weiteren das Kapitel „Das Doppelspiel von erinnerndem und erinnertem Ich“ bei Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans [1955]. Frankfurt a. M. 1986, S. 98–135. Vgl. Jauß (Anm. 42), S. 99. Schulz (Anm. 7), S. 372. Schulz (Anm. 7), S. 373.

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Schulz herausgearbeiteten Differenzen hat Sonja Glauch für den Übergang vom mittelalterlichen zum frühneuzeitlichen Erzählen präzisiert: In neuzeitlichen autobiographischen Erzählungen sind erzählendes und erlebendes Ich innerhalb der (nicht-fiktionalen) Mimesis personell identisch. Der pseudo-autobiographische Roman schafft innerhalb der Mimesis einen Fiktionsraum für das erzählende und erlebende Ich, dem ein fiktiver Autor übergeordnet ist; in mittelalterlichen Ich-Erzählungen hingegen befinden sich erlebendes und erzählendes Ich innerhalb der Mimesisgrenzen, wobei allein das erlebende Ich auch innerhalb der Fiktionsgrenze liegt.46 Vor dem Hintergrund der systematischen Verschränkung von Ich und Zeit und mit Blick auf die historische Variabilität von Ich-Erzählern geht es im Folgenden darum, die Relation zwischen dem autodiegetischen Erzähler (als implizitem Parameter), der erzählerischen Evokation (als expliziter Ebene) und Zeit (als daraus hervorgehendem Produkt) im Simplicissimus Teutsch und in der Insel Felsenburg zu beleuchten. 2. Ich und Zeit im Simplicissimus Teutsch und in der Insel Felsenburg Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausens Schelmenroman Simplicissimus Teutsch47 und Johann Gottfried Schnabels frühaufklärerische Robinsonaden-Utopie Insel Felsenburg48 erzählen sehr Unterschiedliches: vom Herumirren eines Helden durch die Welt, seinen Abenteuern sowie seiner Bekehrung zum einen und vom Aufbau einer auf Perfektion ausgelegten Inselgemeinschaft zum anderen. Sieht man über diese Plot-Differenzen hinweg, teilen die Romane jedoch eine spezifische Erzählweise: Beide werden autodiegetisch erzählt. Die erzählerische Ausgangssituation ist gleich, aber sie ist in ihnen unterschiedlich komplex gestaltet und führt zu unterschiedlichen Konzepten von erzählter Zeit. Die differierende erzäh-

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Vgl. Sonja Glauch: „Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte“. In: Haferland/Meyer (Anm. 2), S. 149–185, hier. S. 173. Im Haupttext mit den Siglen ST (Simplicissimus Teutsch) und C (Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi) zitiert nach folgender Ausgabe: ST: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2005, S. 9–551; C: Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi oder der Schluss desselben. In: Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Simplicissimus Teutsch. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2005, S. 553–699. Ergänzend liegen Buch-, Kapitel und Seitenangaben vor (z. B. ST V 8, 476). Im Haupttext mit der Sigle IF und mit Angabe des Bandes zitiert nach folgender Ausgabe: Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Ausgabe in drei Bänden. Mit einem Nachwort von Günter Dammann. Textredaktion von Marcus Czerwionka unter Mitarbeit von Robert Wohlleben. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1997.

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lerische Komposition der Texte und die unterschiedliche erzählerische Evokation von Zeit lassen der erzählten Zeit der Romane verschiedene Qualitäten zukommen. Die der Argumentation zugrunde liegenden Thesen seien vorangestellt: Im Simplicissimus liegt die autodiegetische Standardsituation vor; die Vielzahl der Zeitangaben verbindet immer nur konkrete Ereignisse, subjektives Zeitempfinden ist trotz der spezifischen erzählerischen Anlage des Textes singulär und wird, wo es auftritt, zugunsten einer Objektivierung von Zeit erklärt. In der Insel Felsenburg ist die erzählerische Komposition durch eine Verschachtelung von autodiegetischen Erzählungen hochgradig komplex, doch auch hier ist Zeit nicht eine innere Dimension des Erzählsubjekts; die autodiegetischen Erzählungen sind eingebettet in ein verbindliches und abstraktes Zeitsystem, das die erzählte Welt umfasst; subjektives Zeitempfinden – als Korrelat zur erzählerischen Anlage und als Gegenkonzept zum abstrakten kalendarischen System – ist im Roman als krankhafte Abweichung markiert. Zugleich dienen in der Insel Felsenburg temporale Muster dazu, sich der Welt wie des Irrationalen (Spuk und Geister) zu bemächtigen. Betrachtet man beide Romane in historischer Langperspektive, so teilen sie – ex negativo und retrospektiv formuliert – das Fehlen der im autodiegetischen Erzählen potentiell möglichen subjektiven Zeitwahrnehmung. Legt man jedoch eine kürzere historische Perspektive zugrunde, differieren sie in den Zeitqualitäten: Während Zeitpunkte im Simplicissimus ans konkrete Ereignis oder an eine konkrete (historische) Figur gebunden sind, liegt der Insel Felsenburg ein abstraktes kalendarisches Zeitgerüst zugrunde, in das sich alle Figuren mit ihren Erzählungen einfügen. 2.1 Simplicissimus Teutsch: Einfache Komposition, konkrete Zeit und liminales Zeitempfinden Die Welt und die Zeit des Simplicissimus Teutsch sind in der pseudoautobiographischen Tradition des Schelmenromans Produkt des Simplicius Simplicissimus als eines autodiegetischen Erzählers mit dominant interner Fokalisierung. Mit dem Bericht des Jean Cornelissen wechselt am Ende der Continuatio zwar der Erzähler, aber nicht der Erzählertyp (vgl. C 24–27). Damit wird eine neue, doch nicht erzähllogisch privilegierte Perspektive eingeführt, die dazu dient, „to prevent the reader’s lending wholesale and uncritical credence to Simplex’s account in that crucial area of his claiming to have found a solution to his spiritual and existential

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problems“.49 Die an sich bereits fragwürdigen Aussagen des Helden über die eigene seelische Verfassung werden mit dem Perspektivwechsel gänzlich diskreditiert. Fragwürdig ist der Erzähler Simplicius als „Wertungsinstanz“,50 nicht als Instanz, die die erzählte Welt als Ganzes entwirft.51 Zur Konstituierung der erzählten Welt tragen die vielen Jahres-, Monats-, Wochen- und Tagesangaben, die man auf Figuren- und Erzählerebene findet, entscheidend bei. So berichtet Simplicius rückblickend über sein Leben im Wald: „ZWey Jahr ungefähr / nemlich biß der Einsidel gestorben / und etwas länger als ein halbes Jahr nach dessen Todt / bin ich in diesem Wald verblieben“ (ST I 11, 44). Seinen Knan fragt er: „Haben euch nicht vor ungefähr 18. Jahren die Reuter euer Hauß und Hof geplündert und verbrennt?“ (ST V 8, 476). Dem Obristen von Soest verspricht er, „6. Monate[ ] keine Waffen wider die Schwed- und Hessische zu tragen oder zu gebrauchen“ (ST III 15, 306). Und Simplicius wehklagt, als er „vermeynt / er habe mal de Nable“ (ST IV 6, 370): „O schnelle und unglückselige Veränderung! vor vier Wochen war ich ein Kerl / der die Fürsten zur Verwunderung bewegte […] / jetzt aber so ohnwerth / daß mich die Hunde anpißten“ (ST IV 7, 375). Das kalendarische System stellt die Maßeinheiten, mit denen Verbindungen zwischen Ereignissen geschaffen werden. Die genaue Datierung eines Ereignisses innerhalb des kalendarischen Systems jedoch, also in Tomaševskijs Terminologie eine ‚absolute Datierung‘, ist singulär: Nur das Fabelwesen Baldanders nutzt dieses Verfahren, wenn es behauptet, dass es Simplicius zwar stets begleitet, jedoch mit ihm nie gesprochen habe „wie etwan Anno 1534. den letzten Julij mit Hanß Sachsen dem Schuster von Nörnberg“ (C 9, 604).52 Wird über vergangene Jahrhunderte gesprochen, wer-

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Robert Aylett: „Lies, Damned Lies, and Simplex’s Version of the Truth: Grimmelshausen’s Unreliable Narrator“. In: Daphnis 18 (1989), S. 159–177, hier S. 176. Vgl. Dieter Martin: „‚Ab ovo‘ versus ‚in medias res‘. Strukturelle Spannungen in Grimmelshausens autobiographischem Erzählen“. In: Simpliciana 29 (2007), S. 57–71, hier S. 65. Friedrich Gaede hat den Einfluss des Skeptizismus auf Grimmelshausen als Autor und skeptizistische Elemente im Simplicissimus Teutsch nachgewiesen. Insofern dabei das Verhältnis von „sinnlicher Wahrnehmung“ und „Urteil“ im Zentrum seiner Untersuchung steht (70), es letztlich also um den Stellenwert der Aussagen über die Welt geht, ist Gaedes Studie für den hier diskutierten Zusammenhang relevant. Mag Gaede besonders mit Blick auf die Baldanders-Episode dahingehend Recht haben, „daß es keine Sicherheit für die Übereinstimmung von Dingen einerseits und den auf ihrer sinnlichen Wahrnehmung beruhenden Urteilen andererseits gibt“ (72), so erscheint seine Folgerung, dass dieses „Scheitern von sinnlicher Gewißheit und Urteilshaltung oder Verstand […] den Lebensweg von Simplicius“ gänzlich bestimmt (73), überzogen (Friedrich Gaede: Poetik und Logik. Zu den Grundlagen der literarischen Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert. Bern/München 1978, Nachweise in Klammern). Bei dieser Verwendung des Datums ist zweierlei bedeutsam: Es wird ersichtlich, dass der bezeichnete Zeitpunkt bereits lange vergangen ist und nicht direkt mit der gegenwärtigen Handlung zu tun hat; zudem handelt es sich (verlässt man die diegetische Ebene) hierbei

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den die Zeitangaben auf konkrete Personen zurückgeführt: Ereignisse geschehen „zu den Zeiten / als Christus noch auff Erden wandelt“ (ST I 25, 91; vgl. ST 1 26, 96), „zu Lycaons Zeiten“ (ST III 3, 254), „zu Salomons Zeiten“ oder „zu Augusti Zeiten“ (ST III 4, 259). Indirekt erfolgt die temporale Verortung im Monats- und Tagessystem des Kalenders durch kirchliche Festtage53 sowie den Bezug auf historische Ereignisse. Es gehört zur spezifischen Verfasstheit der Diegese des Simplicissimus Teutsch, dass immer wieder Bezugspunkte zur Wirklichkeit gesetzt werden.54 So lässt sich beispielsweise der im vierten Buch genannte „Graf von Götz“ auf Johann Wenzel Graf von Götz (1599–1645) zurückführen, der „Bruchsal“, die Residenz des Fürstbischofs von Speyer, im Juni 1638 als Hauptquartier genutzt hat. Personen und Ereignisse decken sich mit den historischen Fakten, was aber im Roman nicht durchgängig der Fall ist. Der Simplicissimus zerfällt im Hinblick auf das Verhältnis von romaninterner und historischer Chronologie in zwei Teile: im ersten Teil, der von Simplicius’ Geburt im zeitlichen Umfeld der Schlacht von Höchst (vgl. ST V 8, 477, ca. 1622) bis zu seinem und Hertzbruders Aufenthalt in Baden (vgl. ST V 3, 453, Frühling 1639) reicht, sind interne und historische Chronologie vereinbar; im zweiten Teil fallen beide „erheblich“ auseinander.55 Signifikant an diesen Bezugnahmen auf Reales ist der Verzicht auf die kalendarische Datierung der Ereignisse.56 Der Zeitpunkt wird stets durch ein Ereignis oder eine historische Person verortet, nicht durch das vollständige Datum. Oder anders gewendet: In seiner abstrakten Dimension kommt das kalendarische System nicht unmittelbar zum Tragen, sondern nur in der Konkretion des realen historischen Ereignisses, auf das Bezug genommen wird. Diese Konkretheit von Zeit fügt sich konzeptuell in die physischbasierte Erzählung eines Ich, für die die „existenzielle Bindung des Erzählaktes an das Erlebnis“ charakteristisch ist.57 Auch wenn durch die

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um einen intertextuellen Verweis, der in Hans Sachs’ Gedicht Baldanders bin ich ganandt, das bezeichnenderweise aus dem Jahr 1534 stammt, den Prätext der Baldanders-Episode offenlegt, vgl. Dieter Breuer: „Stellenkommentar“. In: ST 1015. Z. B.: „S. Gertraud“ (ST I 9, 40; 17. März), „Martini“ (ST III 18, 316; 11. November). Eine umfangreiche Synopse zwischen Romanhandlung und geschichtlichen Ereignissen hat Gustav Könnecke vorgelegt: Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft der Bibliophilen von Jan Hendrik Scholte. 2 Bde. Weimar 1926/28; In diesem Punkt weicht die Continuatio ab, denn „[b]ei ihr ist auf jeden chronikalischen Anschein verzichtet“ worden (Hubert Gersch: Geheimpoetik. Die ‚Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi‘ interpretiert als Grimmelshausens verschlüsselter Kommentar zu seinem Roman. Tübingen 1973, S. 57). Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001, S. 353. Vgl. Dieter Breuer: „Stellenkommentar“. In: ST 923. Stanzel (Anm. 38), S. 268.

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Rückbindung an den Körper des Erzählenden die Erzählmotivation durchaus „existenziell“ ist, denn „sie hängt direkt mit seinen Lebenserfahrungen, seinen erlebten Freuden und Leiden und seinen Stimmungen, Bedürfnissen zusammen“,58 wird das Ich nicht zum Zentrum eines eigenen Zeitempfindens. Letzteres tritt im Simplicissimus nur sehr vereinzelt und unter spezifischen Bedingungen auf, etwa bei der Hin- und Rückreise des Simplicius zum Hexentanz (ST II 17) und zum Mummelsee (ST V 12–17). Von der Reise zum Hexentanz heißt es: Das Auffsitzen / davon fahren und absteigen / geschahe in einem Nu! dann ich kam / wie mich bedünckte / augenblicklich zu einer grossen Schaar Volcks / es sey dann / daß ich auß Schrecken nicht geacht hab / wie lang ich auff dieser weiten Räis zugebracht […]. (ST II 17, 177, m. H.)

Die Zeitwahrnehmung des Simplicius wird zunächst als Empfindung markiert, die sich, wie das Verb ‚düncken‘ suggeriert, durch Innerlichkeit und Ungewissheit auszeichnet. Dieses Empfinden wird aber durch den Einwand („es sey dann“) relativiert und in den objektiven Rahmen einer Erklärung gestellt. Die Ungewissheit hinsichtlich der temporalen Details dieser Episode korrespondiert mit ihrem Gesamtstatus, denn Simplicius bezeichnet die Hexentanz-Episode später als einen „schweren Traum“ (ST II 17, 178) und lässt damit die Frage offen, ob sie wirklich stattgefunden hat oder wie die Ständebaum-Allegorie (ST I 15–18) und die HöllenVision (C 2–8) in den Bereich der Traum-Visionen gehört. Die Relativierung des Status einer ganzen Episode mit allen ihren Ereignissen bleibt im Roman der erzählerische Ausnahmefall, denn die Visionen sind in der Regel von Beginn an (im Fall der Ständebaum-Allegorie bereits paratextuell, vgl. ST I, 14) eindeutig als solche markiert (ST I 18, 68: „Schlaff“; vgl. C 2, 567; C 8, 602: „Schlaff“ und „Traum“). Während der Reise zum Grund des Mummelsees – also im zweiten Fall – erscheinen Simplicius der Hin- und Rückweg unterschiedlich lang. Die „grosse Weite“ hinunter, so erzählt er, „passirten wir ehe als in einer Stunde / also daß wir mit unserer schnellen Räis deß Monds Lauff sehr wenig / oder gar nichts bevor gaben“ (ST V 13, 494). Von der Rückfahrt hingegen berichtet er: „Diese Heimfahrt dünckte mich viel weiter / als die Hinfahrt […]; es war aber gewiß die Ursach / daß mir die Zeit so lang wurde / weil ich nichts mit meiner Convoy redete“ (ST V 17, 515 f., m. H.). Die Zeit, die er für die Reise braucht, erscheint durch die abermalige Verwendung des Verbs „düncken“ als subjektiv wahrgenommene. Doch auch in dieser Passage folgt im Anschluss an die Empfindung der Versuch, dieses Gefühl zu erläutern. Als Pendant zum Abstieg, von dem

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Stanzel (Anm. 38), S. 127.

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Simplicius sagt, dass er und seine Begleiter während des Abtauchens „allerhand discuriren konnte[n]“ (ST V 13, 494), erhält seine Erklärung Plausibilität. Die Reisen haben eine strukturelle Parallele. In beiden Situationen befindet sich Simplicius in einem, mit Victor W. Turner gesprochen, ‚liminalen Zustand‘, in welchem er gleichsam zwischen zwei „inkommensurablen Welten“, einer ‚realen‘ und einer ‚wunderbaren‘, schwebt.59 Bezeichnenderweise rechtfertigt der Prinz des Mummelsees die Reise des Simplicius nämlich damit, „daß [Simplicius, L. W.] die seltzame Wunder“, die seine Welt bietet, beschauen soll (ST V 13, 495, m. H.). Der Blocksberg der Hexentanz-Episode und die Welt der Sylphen im Mummelsee sind (im Vergleich zu Simplicius’ Ausgangswelt) wunderbare Anderwelten. Dies unterscheidet beide Reisen der Figur von ihrer permanenten Bewegung durch die Welt. Neben der strukturellen Analogie der Liminalität verbindet die beiden Situationen die eindeutige Markierung des Empfindens, das jedoch nicht als solches hingenommen, sondern in den objektivierenden Rahmen einer Erklärung gestellt wird. Jene von Simplicius als einem autodiegetischen Erzähler hervorgebrachte Zeit ist zwar – so kann man zusammenfassen – eine subjektiv bedingte, aber keine dominant innerliche; sie bleibt, wie ein Blick auf die Verfahren der erzählerischen Evokation zeigt, an das konkrete Ereignis gebunden. 2.2 Insel Felsenburg: Komplexe erzählerische Verschachtelung, kalendarische Verbindlichkeit und temporale Bemächtigung Die erzählerische Komposition der Insel Felsenburg ist mehrschichtig und verschachtelt:60 Erstens ist die Erzählung das Ergebnis der redaktionellen Tätigkeit des fiktiven Herausgebers Gisander, zweitens vereint die Geschichte eine Reihe von Ich-Erzählungen, die in die Rahmenerzählung des Eberhard Julius eingewoben sind. Gisander ist nicht allein der Herausgeber, der das Manuskript des Eberhard Julius zum Druck befördert, sondern er ist auch jemand, der ordnend in die Textgestalt eingreift:61 Gisan-

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Alexander Weber: „Allegorie und Erzählstruktur in Gottfrieds ‚Tristan‘, Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘ und Thomas Manns ‚Zauberberg‘“. In: Colloquia Germanica 32 (1999), S. 223–255, hier S. 236; vgl. zudem Alexander Weber: „Über Naturerfahrung und Landschaft in Grimmelshausens ‚Simplicissimus‘“. In: Daphnis 23 (1994), S. 61–84, bes. S. 81 f. Vgl. Bettina Recker: „Johann Gottfried Schnabel: ‚Die Insel Felsenburg ‘ (‚Wunderliche Fata einiger See-Fahrer‘)“. In: N.N. (Hrsg.): Romane des 17. und 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1996, S. 78–111, bes. S. 82 f. Vgl. Inge Weinhold: Johann Gottfried Schnabels ‚Insel Felsenburg‘. Eine zeitmorphologische Untersuchung. Bonn 1964, S. 13 f.

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der beklagt in der „Vorrede“ zum ersten Band: „Ich weiß, was mir Mons. Eberhard Julii kunterbunde Schreiberey quoad formam vor Mühe gemacht, ehe die vielerley Geschichten in eine ziemliche Ordnung zu bringen gewesen“ (IF I, 17). Er möchte zu bedenken geben, „[d]aß des Herrn Eberhard Julii Manuscript sehr confus aussiehet“ (IF I, 511), und manchmal recht weitläufig ist, sodass er „einen gar feinen und gelehrten Discours, den die Felsenburgischen Herrn Naturkündiger [eines] Meteori wegen gehalten“ (IF II, 545), kürzt und im zweiten Band einige Lebensgeschichten schlicht weglässt (vgl. IF II, 538 f.). Des Weiteren korrigiert er das ihm vorliegende Manuskript an einer Stelle, an der Eberhard Julius absichtlich unzuverlässig ist (vgl. IF III, 348). Und Gisander schließt seine Bearbeitung des vierten Bands mit dem Eingeständnis: So viel ist es, meine werthesten Freunde und Leser, als ich Gisander, aus des Herrn Eberhard Julii Manuscript zusammen stoppeln können, welches nicht allein sehr zergliedert, sondern über dieß dessen Schreib-Art ziemlich verweset ist […]. (IF IV, 559)

Jenseits der Herausgeberfiktion ist der Roman aus Rahmen- und Binnenerzählungen komponiert. Eingeflochten in die oberste Rahmenerzählung, die vom Leben und den Reisen Eberhard Julius’ erzählt, sind die unzähligen Lebensbeschreibungen der Inselbewohner und Neulinge. Die IchErzählungen liegen dabei auf unterschiedlichen erzählerischen Stufen:62 Eingefügt sind sie als Binnenerzählungen erster und zweiter Stufe in den Bericht des Eberhard Julius. So ist die „Lebens-Geschicht der unglücklichen Charlotte Sophie van Bredal“ (IF III, 160 ff.) in die Geschichte des Mons. van Blac eingebettet, die wiederum Teil der Erzählung des Eberhard Julius ist. Die verschiedenen von Ich-Erzählern präsentierten Geschichten werden nicht allein additiv aneinander gereiht, sondern ineinander verschachtelt. Gerade die Verschachtelung der Ich-Erzähler erster (Gisander), zweiter (Eberhard Julius), dritter (z. B. van Blac) oder gar vierter Stufe (z. B. Charlotte Sophie van Bredal) eröffnet die erzählerische Möglichkeit einer subjektiven Wahrnehmungsverzerrung, die über die erzählerische Standardsituation des Simplicissimus Teutsch weit hinausgeht. Diese Möglichkeit der zunehmenden Verinnerlichung von Zeit bleibt in Schnabels Roman weitgehend ungenutzt, auch wenn der Raum der erzählten Welt teils sukzessiv von einem subjektgebundenen Standpunkt aus wahrgenommen wird.63 In Schnabels Roman entfaltet sich Zeit als

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Vgl. Weinhold (Anm. 61), S. 24–28 zudem die graphische Darstellung Nr. II, S. 343: Sie unterscheidet bereits für den ersten Band der Insel Felsenburg vier Erzählschichten, legt dabei aber einen Stufenbegriff zugrunde, der auf der Unterbrechung einer biographischen Erzähleinheit basiert und nicht auf der Relation von Rahmen- und Binnenerzählungen. Vgl. Ludwig Stockinger: Ficta Respublica. Gattungsgeschichtliche Untersuchungen zur utopischen Erzählung in der deutschen Literatur des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 1981, S. 442 f.

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objektive, intersubjektiv stabile Größe, die ordnungsstiftend ist. Dafür sprechen die Vielzahl von ‚absoluten‘ und ‚relativen‘ Datierungen, durch welche die erzählte Zeit geformt wird, und der Umstand, dass die Subjektivierung von Zeitwahrnehmung als fieberhaft/krankhaft markiert wird (wie die Schilderung von Concordias Verwirrung nach dem erlittenen Schiffbruch zeigt). Generell kann – dies hat bereits Paul Mog Mitte der 1970er Jahre attestiert – mit Blick auf den Roman von einer „Verschärfung des Zeitbewusstseins“ gesprochen werden.64 Bezeichnend ist das stete Bemühen der Erzählenden, ihren persönlichen Erlebnissen einen fixen Punkt im kalendarischen System zuzuweisen, die Zeit zwischen Ereignissen zu bestimmen und die Dauer von Zuständen exakt zu benennen. Die Fähigkeit der temporalen Fixierung korrespondiert – auch wenn die Figuren manchmal eigene Aufzeichnungen als Material für ihre Geschichten nutzen (vgl. IF III, 105 f.) – mit der „Gabe des ‚perfect memory‘“, die die „Wiedergabe von langen Dialogen aus längst vergangenen Tagen“ ermöglicht.65 Fast alle Lebenserzählungen beginnen mit Datierungen und werden von Zeitangaben und anderen numerischen Quantifizierungen durchzogen. Inge Weinhold betont, dass das „felsenburgische Gemeinwesen […] nicht im Nirgendwo und Nirgendwann angesiedelt [wird], sondern in die Welt und die Zeit gesetzt“ ist;66 dies gilt gleichermaßen für die Erzählung des Altvaters wie für diejenige des Eberhard Julius, denn „[d]ank der zahlreichen Datierungen des Erzählers läßt sich eine fast lückenlose Chronologie für die wichtigsten Ereignisse der Rahmenerzählung aufstellen“.67 Der Altvater als „gewissenhafter Chronist“68 führt ein sogenanntes „Zeit-Buch“, in dem er „die denckwürdigsten Begebenheiten“ festhält und sie somit verfügbar macht. Bereits früh fassen die Felsenburger den Entschluss, „eine grosse SchlageUhr auf des Alt-Vaters Wohnung zu setzen“ (IF II, 96 f.), am ersten August 1727 wird diese Uhr, die „fast von den meisten Einwohnern gehöret werden“ konnte und somit für alle „den Takt angibt“,69 angebracht. Die Felsenburger schaffen im Laufe ihrer Geschichte ein verbindliches kollektives Gedächtnis, das auf „Jahr-Büchern“ wie „ZeitRechnungen“ basiert (IF IV, 532) und institutionell in einem „Archiv“ und

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Paul Mog: Ratio und Gefühlskultur. Studien zur Psychogenese und Literatur im 18. Jahrhundert. Tübingen 1976, S. 67. Stanzel (Anm. 38), S. 275. Weinhold (Anm. 61), S. 128. Weinhold (Anm. 61), S. 260. Weinhold (Anm. 61), S. 128. Wolfgang Braungart: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989, S. 239.

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einer „Bibliotheque“ gefestigt ist (IF IV, 389, vgl. 386, 370, 354). Mitunter tendiert die Schilderung des Eberhard Julius zur „Annalistik“.70 Die räumliche Differenzierung in Insulaner und Europäer ergänzend werden Figuren vornehmlich mithilfe von drei Systemen geordnet: Geschlecht, Alter und gesellschaftliche Funktion. Von der ersten Schiffsgesellschaft, die sich mit Kapitän Leonhard Wolffgang auf den Weg nach Felsenburg macht, heißt es etwa: Es bestunde aber unsere gantze Gesellschafft aus folgenden Personen: 1. Der Capitain Leonhard Wolffgang, 45. Jahr alt. 2. Herr Mag. Gottlieb Schmeltzer, 33. Jahr alt. 3. Friedrich Litzberg ein Literatus, der sich meistens auf die Mathematique legte, etwa 30. Jahr alt. 4. Johann Ferdinand Kramer, ein erfahrner Chirurgus, 33. Jahr alt. 5. Jeremias Heinrich Plager, ein Uhrmacher und sonst sehr künstlicher Arbeiter, in Metall und anderer Arbeit, seines Alters 34. Jahr. […] 15. Ich, Eberhard Julius, damals alt, 19 ½ Jahr. (IF I, 118 f.)

Temporale Fixierungen dienen den Felsenburgern als stabile Orientierungsmarken. Dort, wo sie etwas nicht datieren können, bleiben sie – wie im Fall der heidnischen Urnen, die sie auf Klein-Felsenburg finden – ratlos. Litzberg, so berichtet der Erzähler, „hätte vor ängstlicher Curiosität verzweifeln mögen, daß ihm unmöglich war, die Deutung der unbekandten Characters zu erfinden, über dieses verdroß ihn, daß man keine ihm bekandte Jahres-Zahl darauf gezeichnet“ (IF III, 314). Eingebettet ist diese Obsession für temporale Angaben in eine durch und durch numerische Ästhetik, die die erzählte Welt zu einer gezählten Welt macht. Die numerische Aneignung der Welt erfolgt nämlich hinsichtlich ihrer räumlichen Dimension71 und äußert sich in der Quantifizierung unterschiedlicher Lebensbereiche (Geld,72 Bevölkerung73 etc.). Insofern ist, wie Paul Mog treffend formuliert, [d]ie wachsame Zeitberechnung […] kein isoliertes Phänomen: das Quantifizieren des Qualitativen, ein rastloses Messen und Abschätzen macht sich überall

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Michael Dominik Hagel: „‚Republic‘ und ‚Capital-Vestung‘. Aufzeichnungen zu Wirtschaft und Gesellschaft in Johann Gottfried Schnabels ‚Wunderlichen Fata‘ (1731–1743)“. In: KulturPoetik 9/1 (2009), S. 1–22, hier S. 10. Vgl. Robert Stockhammer: Kartierung der Erde. Macht und Lust in Karten und Literatur. München 2007, S. 113–135. Vgl. Hagel (Anm. 70). Zum implizierten Spannungsfeld von descriptio und narratio vgl. Rüdiger Campe: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002, S. 260– 272.

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bemerkbar, drängt über sprachliche Fixierungen hinaus und kristallisiert sich im schematischen Grundriß der Insel und in Zahlen […].74

Eine verzerrte Wahrnehmung von Zeit wird aber als krankhafte Abweichung diskreditiert, während auch das Irrationale einer ‚temporalen Choreographie‘ folgt, sodass man sich seiner – wie der rationalen Welt – bemächtigen kann. Concordia und Albert haben im Sturm auf dem Schiff erheblich gelitten. Auch nach dem Schiffbruch bessert sich Concordias Zustand kaum, sie fällt zunächst in einen „tieffen Schlaf“ (IF I, 167) und überhäuft daraufhin Carl Franz mit Vorwürfen: „Carl Frantz gehet mir aus den Augen, damit ich ruhig sterben kan“ (IF I, 167). Albert erklärt die Vorwürfe damit, „daß Concordia wegen übermäßiger Hitze nicht alle Worte so geschickt, wie sonsten, vorbringen könte“ (IF I, 168). Sie bittet Albert, ihr Wasser zu bringen, und verspricht, wie der Erzähler in einem distanzierenden Paradoxon betont, „in würcklicher Phantasie“ (IF I, 168, also das Eingebildete als Wirkliches nehmend) eine halbe Stunde zu warten. Albert bleibt „kaum eine halbe Stunde“ aus und bringt allerlei Dinge, um Concordia zu stärken. Sie jedoch macht ihm Vorhaltungen, die eine hyperbolisch verzerrte Wahrnehmung von Zeit implizieren: „Ihr hättet binnen 5. Stunden keine Tonne Wasser außdrücken dürfen, wenn ihr mich nur mit einem Löffel voll hättet erquicken wollen“ (IF I, 169). Concordia erholt sich danach langsam, und groß ist die Freude, als Albert und Carl Franz sie, die „halb tod gewesene“, wieder wohlauf und, noch wichtiger, „bey vollkommenen Verstande sehen“ (IF I, 170). Aber nicht nur die rationale und gute Ordnung der Insel folgt einem numerisch-temporalen Prinzip, auch jene Elemente, die dieser Ordnung prima vista zu widersprechen scheinen, sind danach ausgerichtet. Bei der Besteigung des Gebirges auf Klein-Felsenburg werden die Reisenden von Spukerscheinungen, die sich als „Sinnentäuschungen“ erweisen, heimgesucht; ungeachtet des unsicheren Realitätsstatus folgt das „teuflische[ ] Blendwerk“75 einer temporalen Choreographie: Gleich an zwei Tagen macht die Expedition auf Klein-Felsenburg seltsame Beobachtungen. Am ersten Abend wird die gesellige Erzählrunde aufgeschreckt, da aus „der Felsen-Klufft eine Feuer-Flamme in die Höhe“ fährt (IF III, 328). Van Blac bietet – im Gegensatz zu seinen Begleitern, die keine Lösung parat haben – zwei Erklärungsoptionen an, nachdem er bezeichnenderweise auf seine Uhr geschaut hat: „Es ist itzo accurat die Mitternachts-Stunde eingetreten, entweder hat der Satan sein Spiel, oder es ist eine entzündete

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Mog (Anm. 64), S. 67. Wolfgang Neuber: „Julius und die Geister. Zu den Gespenstern der transzendentalen Familie in Johann Gottfried Schnabels ‚Insel Felsenburg‘“. In: Günter Dammann/Dirk Sangmeister (Hrsg.): Das Werk Johann Gottfried Schnabels und die Romane und Diskurse des frühen 18. Jahrhunderts. Tübingen 2004, S. 127–141, hier S. 135.

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Schwefel- oder Salpeter-Dunst gewesen“ (IF III, 329). Es bleibt nicht bei einem einmaligen Ereignis: „etwa 4. oder 5. Minuten hernach aber, kam eben dergleichen Flamme zum andern mahle, und wieder nach so langer Zeit, zum dritten mahle heraus“ (IF III, 329). Das Spektakel wiederholt sich „ordentlich“ alle vier bis fünf Minuten. Endlich da er zum 12ten mahle heraus gefahren war, sahe Mons. van Blac abermahls nach seiner Uhr, und sagte: Was gilts? wenn es ein Spielfechten des Satans ist, so wird es nun bald ein Ende haben, denn die Mitternachts-Stunde ist bald vorbey […]. (IF III, 229)

Van Blac sollte mit seiner Einschätzung Recht behalten: Nachdem nochmals eine „gräßliche Stimme“ „ohngefähr eine halbe Minute“ „Ka-to-mahoom“ ruft und die Antwort „Ur-mi-di“ erhält (alle Zitate IF III, 329), das gesamte „Geheule“ ca. „3. Minuten“ dauert, wird „alles stille“ (IF III, 330). Am zweiten Tag beginnen die Erscheinungen mit einer „FeuerKugel“, die aus der „Felsen-Klufft“ in die Höhe schießt. Als van Blac sich wiederum der Uhrzeit vergewissert, ist es „kaum eine Minute über 11. Uhr“ (IF III, 331). Die zweite Kugel schießt in den Himmel und verliert sich „wohl 50. Ellen“ über den Beobachtern (IF III, 332). Im Laufe „dieser Stunde“ sehen sie „noch 10. Feuer-Kugeln aus der Felsen-Klufft“ fliegen (IF III, 332), „da aber die Mitternachts-Stunde zu Ende [geht], [ist] alles auf einmahl stille“ (IF III, 333). Die teuflischen Erscheinungen finden also nicht nur in einem Zeitfenster statt, sondern folgen einem Zeitrhythmus. Sie stehen vorerst „unter der Deutungskonkurrenz von physikalischer Rationalisierung oder übernatürlicher Zuschreibung, die aber schon bald, und zwar durch unbeeindruckt rational-empirische Prüfung mittels einer Uhr, aufgelöst werden kann“.76 Die von Eberhard Julius hervorgebrachte Zeit ist – so kann man zusammenfassen – eine subjektiv bedingte und wird durch die Verschachtelung der Erzählstufen besonders komplex. Innerlich allerdings ist sie nicht, denn das kalendarische System bildet einen verbindlichen Rahmen für die Organisation der erzählten Welt und des Erzählens. Die temporalen Implikationen der erzählerischen Anlage des Romans stehen also ebenso wie im Simplicissimus in einem Spannungsverhältnis zur erzählerischen Evokation von Zeit. Zugleich differieren beide Romane hinsichtlich der entworfenen Zeitqualitäten: Während die erzählte Zeit des Simplicissimus konkret ist, ist diejenige der Insel Felsenburg abstrakt.

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Günter Dammann: „Über J.G. Schnabel. Spurensuche, die Plots der Romane und die Arbeit am Sinn“. In: Johann Gottfried Schnabel: Insel Felsenburg. Wunderliche Fata einiger Seefahrer. Ausgabe in drei Bänden. Mit einem Nachwort von Günter Dammann. Textredaktion von Marcus Czerwionka unter Mitarbeit von Robert Wohlleben. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1997. Bd. 3, S. 7–272, hier S. 203.

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Mögen sich hinsichtlich des Zusammenspiels verschiedener Parameter in historischer Perspektive Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den beiden Romanen abzeichnen, so hat jeder Versuch der formalen Historisierung die Eigenheiten literarischer Formen zu bedenken. Für Clemens Lugowski ist das „mythische Analogon“, in dem sich die Künstlichkeit eines literarischen Texts ausdrückt, gerade deshalb ‚mythisch‘, weil es als Form Träger mythischen Denkens und damit eines bereits historisch überholten Konzepts ist. Aufgrund der „Entwicklungsträgheit in der Formenwelt der Dichtung […] leben alte Auffassungen in der dichterischen Formenwelt weiter, auch wenn der dichterische ‚Gehalt‘ (als Meinung des Dichters) schon der neuen Auffassung entspricht“.77 Literarische Formen haben folglich zwar immer einen historischen (Entstehungs-)Ort, aber als generische Muster wirken sie mit ihrer spezifischen Künstlichkeit über diesen hinaus. Eine formale Analyse hat demnach beides zu berücksichtigen: zum einen die historische Poetik (also die Veränderungen in einer diachronen Reihe von Texten) und zum anderen die generische Tradition (die die Sukzession überbrückt, indem sie literarische Formen zur Verfügung stellt, die über längere Zeiträume hinweg Gültigkeit besitzen). Für die Lektüren des Simplicissimus und der Insel Felsenburg bedeutet dies, dass man in einem zweiten Schritt nach den generischen (Zeit-)Mustern des Schelmenromans, der Utopie und der Robinsonade fragen müsste und die Ergebnisse innerhalb dieser zu verorten wären. Literatur Aylett, Robert: „Lies, Damned Lies, and Simplex’s Version of the Truth: Grimmelshausen’s Unreliable Narrator“. In: Daphnis 18 (1989), S. 159–177. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008. Bal, Mieke: „Close Reading Today. From Narratology to Cultural Analysis“. In: Walter Grünzweig/Andreas Solbach (Hrsg.): Grenzüberschreitungen: Narratologie im Kontext. Transcending Boundaries: Narratology in Context. Tübingen 1999, S. 19–40. Braungart, Wolfgang: Die Kunst der Utopie. Vom Späthumanismus zur frühen Aufklärung. Stuttgart 1989. Campe, Rüdiger: Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist. Göttingen 2002. Cassirer, Ernst: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ [1931]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hrsg. von Birgit Recki, Bd. 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931). Darmstadt 2004, S. 411–432.

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Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932 (Reprint Hildesheim/New York 1970), S. 19.

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JANA MAROSZOVÁ (Prag)

Zeit im Kontext. Rhetorik, Allegorie und erzählte Zeit in Grimmelshausens simplicianischen Schriften 1. Zeit im Kontext. Möglichkeiten einer kontextuellen Historisierung 105 – 1.1 Von der textfixierten Narratologie zu den kontextuellen ‚new narratologies‘ 105 – 1.2 Kontext: Dimensionen einer Gedankenfigur 107 – 1.3 Anmerkungen zur Untersuchung der narrativen Kategorie ‚Zeit‘ in literarischen Werken vor 1700 110 – 2. Gedeutete Zeit in Grimmelshausens simplicianischen Schriften 112 – 2.1 Eschatologie als ‚Zeit‘-Kontext 114 – 2.2 Eschatologische Zeitkonzepte in den simplicianischen Schriften 117 – 2.3 Fiktionales vs. nicht-fiktionales autobiographisches Erzählen und die Zeit-Kategorie: Tagebuch des anonymen Soldaten (Peter Hagendorf), Aufzeichnungen des Offiziers Augustin von Fritsch und das Erzählen des Springinsfeld 118 – 3. Schlussbemerkung: Historisch-kulturelle und gattungsspezifische Vorgaben und deren Bedeutung für die ‚Zeit‘ als narrative Kategorie 123

1. Zeit im Kontext. Möglichkeiten einer kontextuellen Historisierung 1.1 Von der textfixierten Narratologie zu den kontextuellen new narratologies Die Narratologie hat sich in den letzten Jahren zunehmend ausdifferenziert, sodass ganz neue Untersuchungsfelder erschlossen wurden. Was aber das Kerngeschäft narratologischer Fragestellungen ausmachen soll, wird seit einiger Zeit unter dem Schlagwort ‚historische Narratologie‘ diskutiert. Ein kurzer Blick auf regionale und historische Entwicklungen kann die Positionen in dieser Debatte deutlicher hervortreten lassen. Innerhalb der Narratologie und der Erzähltheorie gibt es von Beginn an länder- und schulenspezifische Entwicklungstendenzen,1 die sich in einem

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Vgl. David Darby: „Form and Context: An Essay in the History of Narratology“. In: Poetics Today 22 (2001), S. 829–852, hier S. 829: „While the German tradition has concentrated on rhetoric and voice [...], narratology, which frames the text within a symmetry of real, implied, and fictional intelligences, has always had the potential to pose questions about how narrative functions in relation to a surrounding world of ideas.“ Vgl. auch Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002. Der Aufsatz knüpft an Gedanken an, die im Zusammenhang der Arbeit an meiner Dissertation ent-

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je eigenen Interessenfokus widerspiegeln. Quer zu den regionalen Entwicklungen liegt die diachrone Perspektive: Platziert man die Entstehung der ‚eigentlichen‘ Erzähltheorie in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, lässt sich die Entwicklung der narratologischen Ansätze grob als ein Dreischritt skizzieren.2 Die erste Phase bilden dann bis ungefähr Mitte der 1960er Jahre die prä-strukturalistischen Anfänge, es folgt die strukturalistische Hauptphase, die sich in die 80er Jahre fortsetzt und dann von einer Phase der Revision und interdisziplinären Weiterentwicklung abgelöst wird. Die Vielfalt der neuen Ansätze, die seit den 90er Jahren entsteht, führt dazu, dass man nunmehr in Anlehnung an Gerald Prince und David Herman von narratologies im Plural spricht. Während in den früheren narratologischen Ansätzen eher die sprachliche und künstlerische Ausformung auf Kosten des Entstehungskontextes im Zentrum der Aufmerksamkeit stand, gilt heutzutage das Interesse der meisten neuen, ‚postklassischen‘ Ansätze nicht allein den strukturellen Merkmalen von Texten, sondern der dialogischen Beziehung zwischen Texten und ihren kulturellen Kontexten. Untersucht wird der Kontext- bzw. Wirklichkeitsbezug. Vor allem die Kategorien ‚Kultur‘, gender, ‚Geschichte‘ und ‚Interpretation‘, die von der strukturalistischen Narratologie weitgehend ausgeblendet worden waren, rücken nun in den Vordergrund.3 Diese Tendenz läuft insgesamt darauf hinaus, dass neohistorische und diachron ausgerichtete Ansätze vornehmlich das jeweils historisch und kulturell Spezifische einzelner narrativer Texte und Genres erfassen wollen und dass sie zunehmend die ahistorische, synchrone und universalistische Ausrichtung der strukturalistischen Narratologie verdrängen.4 Eine solche Entwicklung hat eine Reihe von Debatten um das Kerngeschäft angeregt und damit die Narratologie zweifellos bereichert: Durch die Berücksichtigung des kulturellen Kontextes erhöht sich das Anwendungspotential und die interpretatorische und kulturelle Relevanz der Erzähltheorie. Die Erzähltheorie ist damit, wie eine Vielzahl von Studien vorführt, interdisziplinär anschlussfähig geworden.5 Ihr Dialog mit der

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standen sind: Jana Maroszová: „Denn die Zeit ist nahe.“ Eschatologie in Grimmelshausens Simplicianischen Schriften: Zeit und Figuren der Offenbarung. Bern u. a. 2012. Freilich kann aufgrund der Heterogenität der Ansätze und der terminologischen Vielfalt nur von einer recht holzschnittartigen Skizze oder einem Gliederungsversuch gesprochen werden, wie dies bereits A. und V. Nünning tun. Die nachfolgende Skizze hält sich gerade an ihre Ausführungen, vgl. Ansgar Nünning/Vera Nünning: „Von der strukturalistischen Narratologie zur ‚postklassischen‘ Erzähltheorie: Ein Überblick über neue Ansätze und Entwicklungstendenzen.“. In: Dies. (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 1–33, S. 5 ff. Vgl. Nünning/Nünning (Anm. 2), S. 25. Vgl. Nünning/Nünning (Anm. 2), S. 25. Nünning/Nünning (Anm. 2), S. 26.

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neueren Kulturgeschichte führt in zwei Hinsichten zur interdisziplinären Erweiterung. Es kommt erstens zu einer kulturgeschichtlichen Perspektivierung des traditionellen Untersuchungsgegenstandes der Narratologie (narrativ-fiktionale Texte); zweitens wird der Transfer narratologischer Analysekategorien und Methoden auf die Betrachtung anderer kulturgeschichtlicher Phänomene ermöglicht.6 Das Bewusstsein für die historische und kulturelle Variabilität narrativer Texte und Erzählformen hat sich vertieft und der Sinn für die Semantisierung von Erzählformen und für das Wirkungspotential narrativer Texte geschärft, denn „[l]iterarische Texte vermögen kollektive Erfahrungswirklichkeit zu artikulieren, beispielhaft zu restrukturieren und nicht zuletzt einen bedeutenden Einfluß auf die symbolischen Sinnwelten einer Kultur auszuüben“.7 Es wird beispielsweise verstärkt darauf geachtet, dass von Epoche zu Epoche unterschiedliches Geschehen als ‚Ereignis‘ bzw. als ‚ereignishaft‘ wahrgenommen wird – wie beispielswiese Peter Hühn prägnant formuliert: „Determining eventfulness is [...] a hermeneutic process“.8 1.2 Kontext: Dimensionen einer Gedankenfigur Ungeachtet des heuristischen Potentials dieser Erweiterung regen sich kritische Stimmen, die auf methodische Schwachstellen und konkrete Umsetzungsprobleme einer so projektierten historischen Narratologie hinweisen. Zu den gewichtigsten Vorwürfen gehören: der Kurzschluss zwischen Text und Kultur, die Übertragung narratologischer Konzepte auf kulturelle Phänomene sowie die Erweiterung der Begriffe ‚Text‘ und ‚Kontext‘ auf nicht-textuelle Phänomene. Das Defizit der neuen, kulturgeschichtlich ausgerichteten Narratologie liegt also, formuliert man es pointiert, in der Reduzierung der terminologischen und methodischen Präzision der klassischen Narratologie.9 Neohistorisch geprägte Studien weisen ein Theoriedefizit auf, das sich unter anderem in der Tendenz niederschlägt, „Aspekte literarischer Texte und ihres kulturellen Kontextes auf selektive, intuitive und zum Teil recht willkürliche Weise zu verknüp-

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Astrid Erll/Simone Roggendorf: „Kulturgeschichtliche Narratologie: Die Historisierung und Kontextualisierung kultureller Narrative“. In: Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Neue Ansätze in der Erzähltheorie. Trier 2002, S. 73–113, hier S. 78. Erll/Roggendorf (Anm. 6), S. 80. Peter Hühn: „Event and Eventfulness“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): Handbook of Narratology. Berlin/New York 2009, S. 80–97, hier S. 91. Und Ähnliches gilt auch für die Wahrnehmung der Zustandsveränderung: „The relevance of change can be evaluated differently from different standpoints.“ (Hühn, S. 90). Nünning/Nünning (Anm. 2), S. 26.

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fen“.10 Um die Gefahr einer eigenwilligen, unbegründeten Verknüpfung eines Kontextes mit einem literarischen Text zu vermeiden, erwächst für eine kulturgeschichtliche Narratologie aus diesen Defiziten die Notwendigkeit, diskursive Formationen historisch fundiert zu rekonstruieren.11 Auch wenn man dieses berücksichtigt, umgeht man damit nicht den Einwand, dass selbst ein wohlbegründeter historischer ‚Kontext‘, d. h. eine möglichst umfassende kulturell- und sozialgeschichtliche Einbettung des literarischen Textes, immer ein im Nachhinein rekonstruierter ‚Kontext‘ ist, der von der zum Zeitpunkt der Untersuchung erhaltenen Überlieferung und vom jeweiligen wissenschaftlichen Forschungsstand abhängt. Jenseits dieses Grundeinwands stellt sich immer die konkrete Frage, wie sich der ‚Kontext‘ im Rahmen einer historischen Fragestellung präzise umreißen lässt. Versucht man, dieses Problem handhabbar zu machen, so ist zwischen einem Kontext im engeren und einem Kontext im weiteren Sinne zu unterscheiden. Der ‚Kontext‘ im engeren Sinne umfasst das unmittelbare Umfeld des Autors: In den Fokus rücken dann biographische Aspekte wie seine Lebensumstände, seine berufliche Laufbahn oder seine Sozialkontakte. Als Textgrundlage einer solchen Auseinandersetzung dienen überlieferte (Ego-)Dokumente aus dem Lebensumfeld des Autors (Tagebücher, Korrespondenzen etc.). ‚Kontext‘ in einem weiteren Sinne geht über die autorbezogenen Materialien hinaus: In den Fokus rücken historische Rahmenbedingungen, die in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Autorsubjekt stehen. Literarische Texte werden dann zu parallel ablaufenden Diskursen in Beziehung gesetzt. Damit aber kommt vor allem die Frage auf, wie man die Auswahl eines bestimmten Kontextes für die Analyse von Texten legitimiert. Potenziell und idealerweise stellt den Entstehungskontext eines literarischen Werkes alles dar, was mit dem Leben des Autors und seinem kulturell-historischen Umfeld zusammenhängt. Dabei liegt das auszuwertende Material nicht immer in Form eines (erhaltenen) Textes vor. Damit wird jedoch ein weiteres Problem der kontextorientierten Narratologie sichtbar. Die Relativierung des Geltungsanspruchs der (früher dominanten) formalen Analyse impliziert, dass sich narratologische Untersuchungen mit kulturgeschichtlicher Ausrichtung eine Vorgehensweise aneignen sollten,

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Erll/Roggendorf (Anm. 6), S. 81. Vgl. Erll/Roggendorf (Anm. 6), S. 81: „Zum anderen muß es darum gehen, die marktwirtschaftliche Metaphorik des New Historicism durch begrifflich und konzeptionell präzisere Beschreibungen des Text/Kontext-Verhältnisses zu ergänzen“.

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bei der alle Aspekte ihres Erkenntnisinteresses – formale Strukturen, kultureller Kontext und historische Entwicklung – miteinander verbunden und immer wieder gegeneinander abgewägt werden: Zum einen kann die Analyse literarischer Formen zu Einsichten in die kulturhistorische Bedeutung fiktionaler Texte beitragen, zum anderen gilt, daß erst ein fundiertes kulturgeschichtliches Wissen eine Einschätzung des jeweiligen semantischen Gehaltes literarischer Formen ermöglicht.12

Die Verwirklichung einer solchen Vorgehensweise besagt gleichwohl nichts anderes, als dass sich hier die Narratologie bereits der Textinterpretation anzunähern und in eine enge Nachbarschaft zur (alten) Hermeneutik zu treten droht. Dabei beruht das Spezifische der klassischen Narratologie gerade darauf, dass ihr Schwerpunkt auf der Beschreibung der Formen, Strukturen und Funktionsweisen narrativer Phänomene liegt. Es ist zu fragen, ob bei kontextorientierten Ansätzen der ‚historischen Narratologie‘ eine Annäherung an hermeneutische Interpretationsverfahren dennoch möglich und sinnvoll ist, und wenn ja, wie dann die Unterschiede zwischen einem hermeneutischen und einem erzähltheoretischen Ansatz zu fassen sind. Daraus resultiert eine Reihe von wichtigen methodischen und praktischen Fragen: Wenn die „historische Dimensionierung der Narratologie dringlich und notwendig“13 erscheint, weil das narratologische Instrumentarium an der modernen Literatur entwickelt worden ist, besteht die historische Dimensionierung nicht auch darin, dass man die jeweils epochenspezifischen Kriterien der Textproduktion (wie etwa die Rhetorik) und der Textauslegung (z. B. die biblische Hermeneutik) erschließt, theoretisch erfasst und anschließend auf die betreffenden Primärtexte anwendet? Oder soll die historische Narratologie ausschließlich darin bestehen, dass man die Beschreibung der formalen Seite der Werke, die Strukturen und Funktionsweisen von Erzählphänomenen mittels neuzeitlicher Methoden beschreibt? Wie grenzt man die (historische) Narratologie von der hermeneutisch geprägten Textinterpretation einerseits und von der rhetorisch geprägten Auslegung der formalen Seite eines Werkes andererseits ab? Die Lösung solcher Fragen und die Methodenwahl werden von der jeweiligen Zielsetzung abhängen, die entweder Form- und Strukturphänomene der literarischen Texte zu beschreiben oder eher den literarischen Text im weiteren kulturgeschichtlichen Kontext zu erfassen versucht. Außer einer Aufdeckung der Historizität der Erzählphänome-

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Erll/Roggendorf (Anm. 6), S. 84. Harald Haferland/Matthias Meyer: „Einleitung“. In: Dies. (Hrsg.): Historische Narratologie – Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarbeit von Carmen Stange und Markus Greulich. Berlin/New York 2010, S. 3–15, hier S. 7.

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ne14 erscheinen nichtsdestoweniger die Aufdeckung und Reflexion der Historizität der Auslegungsmethoden und des narratologischen Theoriedesigns sowie eine klare begriffstheoretische und methodische Abgrenzung von anderen Textinterpretationsverfahren erforderlich.15 1.3 Anmerkungen zur Untersuchung der narrativen Kategorie ‚Zeit‘ in literarischen Werken vor 1700 Die Rede von der ‚Zeit‘ droht bald in eine Rede von ‚Zeiten‘ auszuufern, zieht man in Betracht, dass man sie je nach fachspezifischem Zugang unterschiedlich definiert und je nach Epoche und Kultur anders wahrnimmt. Hinzu kommt, dass innerhalb einer kulturellen Gemeinschaft zeitgleich unterschiedliche Zeitsysteme nebeneinander existieren können: Es gilt also erstens, dass die Zeitwahrnehmung von der jeweiligen, auch individuellen Lebensweise und dem Allgemeinwissen beeinflusst wird, und zweitens, dass die Zeitentwürfe in literarischen Texten in ein Verhältnis zu Zeit-Entwürfen in anderen Disziplinen zu setzen sind. Bei der Betrachtung von literarischen Texten darf man aber, wie Uta StörmerCaysa gezeigt hat, „annehmen, daß auch Erzähler früherer Epochen im Problemhorizont ihrer Zeit dichteten und daß umgekehrt Theoretiker von ihnen Welterklärungen und Konfliktherleitungen aufnahmen, an deren phantastischen Hypothesen sie sich abarbeiten konnten“.16 Einer literarischen Erzählung, wird – so die Annahme – im Groben das epochenspezifische Zeitmodell zugrunde liegen, das den damaligen Produzenten und Rezipienten geläufig war, das aber heutzutage erschlossen und expliziert werden muss.17

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Vgl. Monika Fludernik: „The Diachronization of Narratology“. In: Narrative 11 (2003), S. 331–348. Vgl. Lukas Werner: „Rezension. Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland und Matthias Meyer“. In: Sprachkunst 41 (2010), S. 144–148, hier S. 144. Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007, S. 3. Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 16), S. 5: „Die Grundüberzeugungen einer Epoche über Zeit, zum Beispiel ihre heilsgeschichtliche Auffassung, und über Raum, zum Beispiel die Annahme, daß er als geschaffener endlich sein müsse, werden in theoretischen Erörterungen klar artikuliert, während sie in Erzählungen nur einen Vorstellungshintergrund bilden, den spätere Rezipienten sich zum rechten Verständnis erschließen müssen.“ Zuweilen kann die ‚Zeit‘ selbst das Thema einer Erzählung darstellen, wie etwa im Mythos vom Chronos, in Prousts Recherche oder in Dantes Commedia, vgl. Störmer-Caysa (Anm. 16), S. 4 f. und ferner die Interpretation von Karlheinz Stierle: Zeit und Werk. Prousts „À la Recherche du Temps perdu“ und Dantes „Commedia“. München 2008.

Zeit im Kontext

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Bei Untersuchung der narrativen Kategorie der Zeit in einem literarischen Text gilt es also zunächst den Kontext in einem weiteren Sinne zu umreißen, d. h. die allgemeinen Annahmen über Zeit als (historisches, kulturelles, religiöses, anthropologisches, physikalisches) Phänomen zu klären. Die Zeitanalyse älterer Erzählwerke hat außerdem einen gewissen interpretatorischen Aufwand zu leisten, der sich nicht allein auf die Spezifizierung der parallel stattfindenden Diskurse beschränkt,18 sondern der gleichermaßen die Artifizialität des Textes zu berücksichtigen hat. Eine literarische Erzählung bezieht sich auf die zeitgemäßen Formen der Wahrnehmung, sie konstruiert aber zugleich selbst die fiktionale Welt der Handlung. Sowohl die Figuren als auch der Handlungsraum und die Zeit werden mit der Erzählung hergestellt, denn „[w]ährend in der Wirklichkeit oft der Zufall die Regie führt, wenn er die Kulisse für eine Handlung aussucht [...], muß der Autor eines Werkes das, was wie zufällige Kulisse aussehen kann, artifiziell, also bewußt, herstellen“.19 Für ältere Literaturepochen ist insbesondere mit der Rhetorik als dem antiken Erbe zu rechnen, das die literarische Produktion mitgestaltete. Es gilt also Rhetorik und Narratologie engzuführen.20 Damit kommt die dispositio eines Textes und die Unterscheidung der zwei wichtigsten Typen der Anordnung der Ereignisse, ordo artifcialis und ordo naturalis, ins Spiel.21 Damit muss in der mittleren und älteren Literatur auch im Fall der narratologischen Analyse der ‚Zeit‘ die Rhetorik mit ihrem systematischen Regelwerk stärker beachtet werden: Sie gehörte zum Grundwissen eines Schreib- und Lesekundigen.22 Ferner ist für die Dichtung im 17. Jahr-

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Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 16), S. 79: „Im Unterschied zum modernen Erzählen wird in vormodernen Erzählungen das gleichmäßige Walten einer einzigen Zeitzählung oder Zeitrechnung über die gesamte fiktionale Welt hin nicht als der semantisch leere Normalfall angesehen, vor dem sich Eigentümlichkeiten der Zeitrechnung als bedeutend abheben (wie es Genette am Beispiel von Prousts ‚Recherche‘ herausgearbeitet hat).“ Störmer-Caysa (Anm. 16), S. 48. Über den Zufall in der neueren Literatur vgl. Ernst Nef: Der Zufall in der Erzählkunst. Bern/München 1970. Vgl. Andreas Solbach: Evidentia und Erzähltheorie. Die Rhetorik anschaulichen Erzählens in der Frühmoderne und ihre antiken Quellen. Müchen 1994; vgl. zudem Ulrich Ernst: „Die natürliche und die künstliche Ordnung des Erzählens. Grundzüge einer historischen Narratologie“. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Erzählte Welt – Welt des Erzählens. Festschrift für Dietrich Weber. Köln 2000, S. 179–199. Vgl. Störmer-Caysa (Anm. 16), S. 77 f. Vgl. Gert Hübner: „[E]s geht mir allein darum, dass eigenständige und möglicherweise einem Plot gegenläufige Bedeutungsangebote ins Spiel kamen, sobald rhetorische Bearbeitungsoperationen stattfanden. Diese freilich konstituierten das Selbstverständnis gelehrter Dichter in einem erheblichen Maß.“ Gert Hübner: „evidentia. Erzählformen und ihre Funktionen“. In: Harald Haferland/Matthias Meyer (Hrsg.): Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Unter Mitarbeit von Carmen Stange und Markus Greulich. Berlin/New York 2010, S. 119–147, hier S. 145; zur Wertschätzung der Rhetorik für die ältere literarische Produktion vgl. Störmer-Caysa (Anm. 16); zur Allegorie in der Dichtung des 17. und

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hundert noch mit der christlich fundierten Allegorie zu rechnen. Obgleich in diesem Beitrag von der narrativen Kategorie der ‚Zeit‘ die Rede ist, wird diese gerade nicht nach den genuin narratologischen Kriterien untersucht, wie man es etwa von Genettes Proust-Analyse kennt. Vielmehr wird hier oft aus dem genannten Grund auf die (christliche) Allegorese zurückgegriffen. 2. Gedeutete Zeit in Grimmelshausens simplicianischen Schriften Wer sich mit der Zeit-Ebene in Grimmelshausens Werken, vornehmlich in seinem bekanntesten Roman, dem Simplicissimus Teutsch (1668 [1669]), befassen will, stößt gleichwohl bald auf mehr Fragen als Antworten. Dass das Schema der Bekehrungsgeschichte sowie der autobiographischen IchErzählsituation und das für sie spezifische Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit sehr wohl über ein Bedeutungspotential verfügen, das Grimmelshausen maximal nützt, wurde früh erkannt und nicht selten in unterschiedlichen Kontexten angesprochen.23 Die Thematik des Todes, bzw. des Endes begegnet so z. B. bei Gerhart von Graevenitz,24 der von der Erzählperspektive einer autobiographischen Erzählung ausgeht und vor dem Hintergrund des Verhältnisses vom Schluss einer Erzählung, ‚Tod‘ und ‚Konversion‘ das Paradox in den Blick nimmt, wie das Ich sein eigenes Ende erzählen kann. Schon der Anfang des Simplicissimus-Buches thematisiert in dem berühmten ersten Satz im Rahmen der satirischen Darstellung der Nobilistensucht die Zeit, oder genauer: die ‚letzten‘ Zeiten:

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18. Jahrhunderts vgl. Peter-André Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995; Markus Völkel: „Wie man Kirchengeschichte schreiben soll. Struktur und Erzählung als konkurrierende Modelle der Kirchengeschichtsschreibung im konfessionellen Zeitalter“. In: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hrsg.): Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit. Berlin 2007, S. 455–489. Vgl. z. B.: Peter Heßelmann: Gaukelpredigt. Simplicianische Poetologie und Didaxe. Zu allegorischen und emblematischen Strukturen in Grimmelshausens Zehn-Bücher-Zyklus. Frankfurt a. M. u. a. 1988; Solbach (Anm. 20); Ulrich Gaier: „Emblematisches Erzählen bei Grimmelshausen“. In: Simpliciana XII (1990), S. 351–391; Peter Strohschneider: „Kultur und Text. Drei Kapitel zur ‚Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi‘, mit systematischen Zwischenstücken“. In: Kathrin Stegbauer/Herfried Vögel/Michael Waltenberger (Hrsg): Kulturwissenschaftliche Frühneuzeitforschung. Beiträge zur Identität der Germanistik. Berlin 2004, S. 91–130; Rainer Hillenbrand: Erzählperspektive und Autorintention in Grimmelshausens „Simplicissimus“. Ein poetologischer Kommentar. Frankfurt a. M. u. a. 2008. Gerhart von Graevenitz: „Das Ich am Ende. Strukturen der Ich-Erzählung in Apuleius’ Goldenem Esel und Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch“. In: Karlheinz Stierle/ Rainer Warning (Hrsg.): Das Ende. Figuren einer Denkform. München 1996, S. 123–154.

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ES eröffnet sich zu dieser unserer Zeit (von welcher man glaubt / daß es die letzte seye) unter geringen Leuten eine Sucht / in deren die Patienten / wann sie daran kranck ligen / […] / gleich Rittermässige Herren / und Adeliche Personen von uhraltem Geschlecht / seyn wollen; da sich doch offt befindet / daß ihre Vor-Eltern Taglöhner / […] gewesen [...]; ja sie / diese neue Nobilisten / seynd offt selbst so schwartz / als wann sie in Guinea geboren und erzogen wären worden.25

Im fünften Buch des Simplicissimus, wird in der Mummelsee-Episode gleichsam ein Exkurs über Schöpfung, Erbsünde, Unsterblichkeit der menschlichen Seele sowie Tod und Ewigkeit dargeboten.26 Als bestürzend und herausfordernd wurde in der Forschung,27 die auf die Zeit-Verhältnisse im Simplicissimus direkt eingeht, die Diskrepanz zwischen der scheinbar realistischen, chronologisch linear geordneten Romanhandlung auf der einen Seite und dem Umstand auf der anderen bezeichnet, dass bei einem Vergleich mit den historisch gesicherten Fakten bedeutende, manchmal recht eigentümliche Unstimmigkeiten auftauchen. Die Erklärung, der Simplicissimus Teutsch sei keine Kriegschronik, sondern ein Kunstwerk, liegt auf der Hand. Warum sich der Autor aber trotzdem zuweilen große Freiheiten in der Kriegschronologie erlaubt, hat man unterschiedlich zu begründen versucht. Dieter Lohr28 etwa argumentiert, dass es in dem Roman nicht auf die Kriegsdarstellung ankommt, sondern auf das erzählende Ich des Simplicius, dessen Erinnerung nur das behält, was für ihn als Individuum auf seinem Lebensweg am wichtigsten war. Die historischen Ereignisse, ihre genaue Datierung sind für den Roman folglich nicht das Wesentliche, sondern vielmehr das Individuum und dessen Umgang mit den Ereignissen.29 Eine andere Erklärung lautet, dass die ‚Zeit‘ im Roman nicht als ‚Hintergrund‘, als ‚Folie‘ dient, sondern als ‚Handlungsfeld‘ der Vita Simplicii, seines Weges zu Gott und anderer moralischer, erbaulicher oder satirischer Intentionen, die der Autor mit seiner Darstellung erzielen will:

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28 29

Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der Abentheurliche Simplicissimus Teutsch (1668 [1669]). In: Ders.: Werke I.1. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2005, S. 9–551, hier S. 17. Vgl. Grimmelshausen (Anm. 25), bes. S. 494–515. Gustav Könnecke: Quellen und Forschungen zur Lebensgeschichte Grimmelshausens. Hrsg. im Auftrag der Gesellschaft der Bibliophilen von Jan Hendrik Scholte. 2 Bde. Weimar/Leipzig 1926/1928; Clemens Lugowski: Die Form der Individualität im Roman. Studien zur inneren Struktur der frühen deutschen Prosaerzählung. Berlin 1932 (Reprint Hildesheim/New York 1970), vgl. S. 202 f. Dieter Lohr: „Autobiographisch-lineare Zeit – Simplicissimus.“ In: Ders.: Die Erlebnisgeschichte der „Zeit“ in literarischen Texten. Bad Iburg 1999, S. 65–94. Lohr (Anm. 28), S. 68.

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Das Mitteleuropa des 30jährigen Krieges ist kein zufälliges Sujet für eine in Genre verkleidete Allegorie. Es bildet vielmehr die Welt, die sich der Held anzueignen hat, und gehört damit zur Substanz des Romans. Der räumliche und zeitliche Rahmen der Handlung ist keine Theaterkulisse für ein zeitloses theatrum mundi, sondern das objektive Handlungsfeld, in dem sich die Subjektivität des Helden, seine unverwechselbare Biographie, überhaupt erst konstituiert. 30

Wiewohl als „Substanz des Romans“ deklariert, gerät auch da das „objektive Handlungsfeld“ wieder in die Funktion als Hintergrund, der für den Werdegang der „Subjektivität“ des Helden als des eigentlich Interessanten und erzählerisch Intendierten benutzt wird. Bei der Zeitanalyse der simplicianischen Schriften kann man allerdings auch etwas anders vorgehen. Im Vordergrund müssen nicht so sehr die Individualitätsentwicklung und die ans Individuum gebundene Zeitwahrnehmung stehen, sondern eher die Frage, ob und inwiefern die ‚Zeit‘ in den Werken eine ‚gedeutete‘ ist und welche Konsequenzen sich aus einer solchen Sichtweise weiter ergeben. 2.1 Eschatologie als ‚Zeit‘-Kontext Da der Simplicissimus als Bekehrungsgeschichte implizit auf christliche Grundnarrative zurückgreift, wird zuerst die Frage wichtig, inwiefern die Eschatologie bei der Auseinandersetzung mit der Temporalität hilfreich sein kann. Die Bekehrung setzt einen dem Rezipientenkreis bekannten religiösen Rahmen voraus. Der Begriff ‚Eschatologie‘ entstand in der lutherischen altprotestantischen Theologie im 17. Jahrhundert. In der Theologie dient er erstens zur Bezeichnung der Lehre von allen möglichen Zukunfts- und Jenseitsvorstellungen, zweitens aber auch zur Bezeichnung der Lehre von den letzten Dingen, den letzten Ereignissen entweder im zeitlichen oder im ontischen Sinn.31 Der Begriff impliziert eine vom Christentum geprägte Zeitwahrnehmung und gibt damit eine spezifische Perspektive vor, von der aus man die Zeit (als Phänomen und im Text zusätzlich als narrative Kategorie) wahrnimmt. Das Christentum verfügt über ein umfassendes Modell, wie man die (historische, individuelle usw.) Zeit wahrnimmt und auslegt: das heilsgeschichtliche Konzept. Die Eschatologie als christliche Lehre von den Letzten Dingen entfaltet dieses Zeitmodell, das die Auffassung von Zeitlichkeit und Ewigkeit sowohl auf der universalen wie auf der individuellen

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Ansgar M. Cordie: Raum und Zeit des Vaganten. Formen der Weltaneignung im deutschen Schelmenroman des 17. Jahrhunderts. Berlin/New York 2001, S. 350. Vgl. Markus Mühling: Grundinformation Eschatologie. Systematische Theologie aus der Perspektive der Hoffnung. Göttingen 2007, S. 19.

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Existenzebene mit einschließt, bis in die letzten Konsequenzen. Das heilsgeschichtliche Zeitschema beinhaltet die Vorstellung, dass man aus der Sicht der Menschheitsgeschichte im vierten Weltreich, aus der Sicht der Universalgeschichte im sechsten, letzten Weltalter vor der Zweiten Ankunft Gottes (Parusie) am Jüngsten Tag lebt. Zentral für ein solches Modell ist das Wissen von zwei Raum-Zeit-Welten (Erde mit der irdischen Zeit und die Ewigkeit), die trotz der prinzipiellen Unvereinbarkeit dennoch aufeinander bezogen sind. Obwohl der Mensch erst nach dem Tod und nach dem Jüngsten Gericht ganz an der Ewigkeit teilhaben wird und entweder in den Himmel oder in die Hölle kommt, kann man schon im irdischen Dasein an der Ewigkeit teilhaben, was insbesondere das Taufsakrament als Tod des alten und Geburt des neuen Menschen für den Himmel wohl am prägnantesten veranschaulicht. Die Ewigkeit ist trotz ihrer Andersartigkeit nicht eine bloße Negierung oder Vernichtung der irdischen Zeit und der in ihr lebenden Geschöpfe. In Christus, der als einzige der trinitarischen Personen Mensch wurde, ist diese Beziehungsmöglichkeit vermittelt. Gott ist nicht notwendig auf die Welt bezogen, aber er ist es faktisch doch, wie sich in der Inkarnation, der Auferstehung und der Himmelfahrt zeigt.32 Wenn das Letztgültige (Eschaton) als Ewigkeit und Unendlichkeit erscheint, ist zu klären, wie sich die Zeit(-lichkeit) dazu verhält. Es gibt mehrere Erklärungskonzepte: Ewigkeit als Zeitlosigkeit kommt in der Augustinischen Auffassung vor, indem die Zeit als akzidentielle Eigenschaft einer geschaffenen Seele in der Seele existiert. Man kann aber (wie Thomas von Aquin und Boëthius) die Ewigkeit als vollständige oder partielle Gleichzeitigkeit auffassen oder in ihr einen unendlichen Zeitlauf sehen.33 Im Hinblick auf die Erlösung gibt es innerhalb des Christentums bekannte konfessionsabhängige34 und nicht zuletzt auch heterodoxe Abwandlungen. Die letzteren schlagen sich insbesondere in chiliastischen Visionen und Reformprojekten nieder. Der Millenarismus (Chiliasmus) zeichnet sich durch „Hoffnung auf ein Tausendjähriges Reich auf Erden, welches der eschatologischen Vollendung der Schöpfung und der Ge-

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33 34

Vgl. Mühling (Anm. 31), S. 119: „Während in der Inkarnation der ewige Logos an der konkreten raumzeitlichen Perspektive Palästinas partizipiert, partizipiert nun umgekehrt die Menschheit Christi mit der Himmelfahrt an der Perspektive Gottes, d. h. an dem Bezug Gottes an der räumlichen Welt als Ganzer.“ Vgl. Mühling (Anm. 31), S. 98. Z. B. die Ablehnung der Fegefeuerlehre im Protestantismus im Unterschied zur katholischen Kirche, sowie die protestantische Idee, dass mit der Taufe die ganze Erbsünde nicht getilgt ist; ferner im Calvinismus die (doppelte) Prädestinationslehre oder die Verkündung der Unwiderstehlichkeit der Gnade.

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schichte vorausgeht“,35 aus. Vereinfacht formuliert lässt sich also sagen, dass in heterodoxen Lehren des Millenarismus und überall dort, wo ein utopisches Reformprojekt entworfen wird, die christliche Eschatologie „verweltlicht“ und damit zerstört wird: Gegenwart und Ewigkeit liegen nicht wie Gegenwart und Zukunft nebeneinander und auseinander, sondern […] ineinander. […] Man hat uns ja über lange Zeit hin die Utopie, das heißt die Erwartung der zukünftigen besseren Welt anstelle […] des ewigen Lebens angeboten. Das ewige Leben sei unwirklich, es entfremde uns nur der Zeit. Die Utopie aber sei ein reales Ziel, auf das wir mit allen unseren Kräften hinarbeiten können. Dieser Gedanke aber ist ein Trugschluß, der uns in die Zerstörung unserer Hoffnungen hineinführt.36

In der Frühen Neuzeit bestanden im Rahmen der offiziellen Kirche mehrere Möglichkeiten, auf die eschatologischen Themen offen einzugehen, z. B. in Predigten und bei Begräbnissen, auch der Advent bot Gelegenheiten dazu, weil früher noch eindeutig die eschatologische Prägung dominierte, die sich sowohl in der katholischen als auch in der evangelischen Liturgie der letzten Sonntage schon in der voradventlichen Zeit bemerkbar machte.37 Das 16. und 17. Jahrhundert zeichnet sich durch erhöhte Endzeiterwartungen und eine große Menge an apokalyptischer Literatur aus. Endzeiterwartung bedeutet das Bewusstsein, nahe am Ende der Geschichte zu leben. Geglaubt wurde verschiedenen Prophetien und Zeichen. Gerade solche Erwartungen sowie ein Sensorium für Apokalyptik charakterisieren nach Robin Bruce Barnes38 bis zur Hälfte des Dreißigjährigen Krieges vornehmlich die lutherisch geprägte Kultur und leben dann in heterodoxen religiösen Strömungen weiter. Im Folgenden wird anhand ausgewählter Textbeispiele eine Skizze vorgestellt, wie man die ‚Zeit-Ebene‘ konkret in Grimmelshausens simplicianischen Schriften vor

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38

Claus Bernet: „Gebaute Apokalypse.“ Die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit. Mainz 2007, S. 18. Joseph Ratzinger: „Mein Glück ist, in deiner Nähe zu sein. Vom christlichen Glauben an das ewige Leben“. In: Ders.: Gott ist uns nah. Eucharistie: Mitte des Lebens. Hrsg. von Stephan Otto Horn und Vinzenz Pfnür. Augsburg 2001, S. 139–158, hier S. 151. Thematisiert werden das unerwartete Kommen des Reiches Gottes, das Gericht und die Herrschaft Christi; vgl. Karl-Heinrich Bieritz: Das Kirchenjahr. Feste, Gedenk- und Feiertage in Geschichte und Gegenwart. München 72005, S. 179, 207–209; Art. „Advent“ in: Lexikon für Theologie und Kirche. Begr. v. Michael Buchberger, hrsg. von Walter Kasper. Freiburg i. Br. u. a. 31993 ff., Bd. 1., Sp. 172. Vgl. Robin Bruce Barnes: Prophecy and Gnosis: Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford, CA 1988; Volker Leppin: Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618. Gütersloh 1999; Vladimír Urbánek: Eschatologie, vědění a politika. Příspěvek k dějinám pobělohorského exilu. [= Eschatologie, Wissen und Politik. Ein Beitrag zur Geschichte des Exils nach der Schlacht am Weißen Berg]. České Budějovice 2008, bes. S. 10 ff.

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dem Hintergrund dieser eschatologisch geprägten Zeitwahrnehmung erschließen kann. 2.2 Eschatologische Zeitkonzepte in den simplicianischen Schriften Vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen und anhand von Beispielen aus der nichtfiktionalen Literatur gilt es nun das Zeitkonzept von Grimmelshausens simplicianischen Schriften herauszuarbeiten. An Grimmelshausens Seltzamem Springinsfeld (1670), dem in der Reihenfolge achten Buch der so genannten simplicianischen Schriften39 (1668/69– 1675), möchte ich den Umgang mit dem ‚Zeit‘-Phänomen im Text zeigen: Zeit erscheint zum einen als physikalisch messbare Größe und Grundlage jeder Chronologie, aber sie wird zugleich auf eine ganz spezifische Weise, nämlich eschatologisch, gedeutet. In einem Vergleich werden drei Texte einander gegenüber gestellt, zwei davon sind nichtfiktionale Berichte.40 Allen drei Texten ist gemeinsam, dass es sich um autobiographisches Erzählen dreier ehemaliger Soldaten handelt. Ein Vergleich bietet sich so geradezu an. Der Schwerpunkt liegt auf dem Umgang mit der ‚Zeit‘, die in allen drei Texten eine wichtige Rolle spielt und durch die Narration zur ‚erzählten Zeit‘ wird, exemplifiziert werden die Differenzen zwischen den Texten anhand der Darstellung eines historischen Ereignisses, das alle drei erlebt haben: die Schlacht bei Nördlingen 1634.

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Die Zusammengehörigkeit von insgesamt zehn Büchern bestätigt der Autor selbst im zweiten Teil des Vogelnestromans. Die ersten fünf Bücher entfallen auf den Abentheurlichen Simplicissimus Teutsch (1668). Das sechste Buch ist die Continuatio des abentheurlichen Simplicissimi (1669). Es folgen der Trutz Simplex Oder Ausführliche und wunderseltzame Lebensbeschreibung Der Ertzbetrügerin und Landstörtzerin Courasche (1670), Der seltzame Springinsfeld (1670), Das wunderbarliche Vogel-Nest (1672) und Deß Wunderbarlichen Vogelnests Zweiter teil (1675). Peter Hagendorf [?]: „Bericht“ oder „Tagebuch aus dem Dreißigjährigen Krieg“ = Ein Söldnerleben im Dreißigjährigen Krieg: Eine Quelle zur Sozialgeschichte. Hrsg. von Jan Peters. Berlin 1993. Augustin von Fritsch: „Tagebuch des Augustin von Fritsch (Obersten und Commendanten der Stadt Weyden) von seinen Thaten und Schicksalen im dreyßigjährigen Krieg, aus der Originalhandschrift“. In: Lorenz Westenrieder (Hrsg.): Beyträge zur vaterländischen Historie, Geographie, Staatistik, und Landwirtschaft, samt einer Uebersicht der schönen Literatur. München 1792, Bd. IV, S. 105–191.

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2.3 Fiktionales vs. nicht-fiktionales autobiographisches Erzählen und die Zeit-Kategorie: Tagebuch des anonymen Soldaten (Peter Hagendorf), Aufzeichnungen des Offiziers Augustin von Fritsch und das Erzählen des Springinsfeld Alle drei Erzähler gehen in ihren Lebensgeschichten unterschiedlich mit Zeitangaben um. Peter Hagendorf nennt in seinem „Tagebuch“ häufig konkrete Daten, z. B.: In diesem Jahr 1625 sind wir abgedankt worden. […] Hier sind wir 12 Monate gelegen. […] In diesem Jahr 1627 im April den 3. habe ich mich unter das Pappenheimsche Regiment zu Ulm lassen anwerben als einen Gefreiten […]. Dieses ist geschehen im Jahr 1633. […] Dies ist gewesen im Jahr 1634. Im Frühling sind wir aufgebrochen mit dem Regiment, gezogen nach Bamberg.41

Augustin von Fritsch erwähnt häufig Fristen, wie lange ein Marsch, ein Lager oder Winterquartier dauerten. Seltener findet man konkrete Datierungen, z. B. will er mit dem Regiment ein Winterquartier im Bergischen Land verbracht haben und im April 1637 vom Regiment nach München geschickt worden sein.42 Die Belagerung Regensburgs gibt Augustin von Fritsch wie folgt wieder: darauf ist der Altringer, […], vnnd Johann de Werth in die Statt gezogen, nach disem alß die Winterquartir ein Endt genommen, sein wür mit zweyen Armeen vor Regenspurg gangen, selbiges formaliter belägert, darvor es harte Stöß geben, vnnd die maiste Zeit ybles Regenwetter gehabt, doch lezlich dem Römischen König mit Accordt von Obristen Coya den 12. Juny ybergeben worden, nach dem Regenspurg besezt worden, sein wür vf Donawörth zugezogen, selbiges belägert vnnd eingenommen, von dannen sein wür vf Lauingen, vnnd Gundelfingen gangen […].43

Im Unterschied zu Hagendorf und Fritsch fehlt im Seltzamen Springinsfeld jegliche Jahreszahl. Die temporale Einordnung einzelner Romanepisoden geschieht ähnlich wie bei dem Obristen Fritsch durch die Nennung der Kriegszüge und Schlachten, Belagerungen usw. Springinsfeld beschreibt die Belagerung Regensburgs ebenfalls: […] Regenspurg / welche Statt ich hiebevor nach dem ich mich von der Courage schaiden lassen müssen / mit List einnehmen helffen; von dannen ich mit meinem General dem Altringer und Joan de Werdt denen Schwedischen under Gustav Horn entgegen commandirt worden; da es dann sonderlich zu Landshut auff der Brücke zimlich heis hergienge / alwo […] besagter unser rechtschaffene General von Altringen todt geschossen wurde. Nachdem nun Regenspurg und Donawert

____________ 41 42 43

Hagendorf (Anm. 40), S. 132, 133, 135 und 144. von Fritsch (Anm. 40), S. 163. von Fritsch (Anm. 40), S. 146 f.

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an uns übergangen / und sich der Hispan. Ferdinandus Cardinal Infant mit uns völlig conjungirt, zogen wir auff das Rhies und belägerten Nördlingen. (Spr 240) 44

Seine Beschreibung ähnelt in der stilistischen Ausformung derjenigen von Augustin von Fritsch. Der Stil wirkt an der Stelle schlicht, sachlich und kunstlos. Mit der Kriegschronologie im Springinsfeld hat sich bereits der vom Positivismus beeinflusste Gustav Könnecke befasst. Nach einem systematischen Vergleich der simplicianischen Romane mit den nachweislich von Grimmelshausen benutzten Geschichtswerken (Theatrum Europaeum und Teutscher Florus) kommt er zu folgendem Befund: Während die Lebensgeschichte des Simplicius „nicht in einen festen geschichtlichen Rahmen gepreßt“45 sei, seien die anderen beiden Bücher (Trutz Simplex und Springinsfeld) „in ein festes geschichtliches Gerüst hineingebaut, das ganz und gar dem ‚Erneuerten Teutschen Florus‘ des Eberhard von Wassenberg, und zwar einem der Drucke, welcher den bis 1647 fortgeführten Text enthält, entlehnt ist“.46 Konkret im Springinsfeld gehen die Entlehnungen so weit, dass „man sie stellenweise als Plagiat bezeichnen muß“.47 Trotzdem ist die narrative Kategorie der Zeit im Seltzamen Springinsfeld nicht einfach ein Kontinuum, dessen Funktion sich lediglich in der chronikalisch geordneten Handlungsfolge erschöpft. Der schlicht wirkende Bericht ist von einer Rahmenhandlung umgeben. Man erfährt, dass Springinsfeld seinen Lebenslauf nur wider Willen in einer langen finsteren Winternacht erzählt. Sein Erzählen wird nachträglich im Auftrag des alten Simplicius von einem Lohnschreiber als Bekehrungsgeschichte niedergeschrieben und vorgestellt: wie ich [= Lohnschreiber Philarchus, J. M.] mir aber seithero sagen lassen / so hat ihn der verwichne Mertz auffgeriben / nachdem er zuvor durch Simplicissimum in seinen alten Tagen gantz anders umbgegossen und ein Christlichs und bessers Leben zuführen bewögt worden (Spr 294 f.).

Springinsfeld soll zur Zeit der Herausgabe des Werkes bereits nicht nur zum wahren Glauben gelangt, sondern auch tot sein.

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Spr = Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen: Der seltzame Springinsfeld (1670). In: Ders.: Werke I.2. Hrsg. von Dieter Breuer. Frankfurt a. M. 2007, S. 153–295. In Klammern wird die Seitenzahl angegeben. Könnecke (Anm. 27), Bd. 1, S. 6. Könnecke (Anm. 27), Bd. 1, S. 5. Dieses trifft laut Könnecke u. a. auf mehrere Kapitel (14, 16, 18, 19) zu, darunter auch die Darstellung der Schlacht bei Nördlingen. Könnecke (Anm. 27), Bd. 1, S. 5. Vgl. ebd.: „Denn fast das erste halbe Kapitel 14, ein großer Teil der Kapitel 16 und 18, beinahe das ganze Kapitel 19 sind, wie sich ergeben wird, fast nur eine Zusammenstellung von Stellen, die aus dem Florus stammen und entweder wörtlich übernommen oder doch nur mehr oder weniger verändert werden.“

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Am Anfang der Rahmenhandlung steht ein besonders frostiger Wintertag, an ihrem Ende kommt der Morgen, das Tauwetter und der Rahmenerzähler Philarchus Grossus redet vom baldigen Frühling: Under diesem Gespräch fieng es an unvermerckt zu tagen / und solches verursachte bey uns allen wiederum einen Lust zu schlaffen / wie dann zum öfftern zu geschehen pflegt; solcher Anmutung folgten wir / und thäten die Augen zu / uns noch ein par Stund innerlich zu beschauen […] [Später, beim Essen, J. M.] kriegten wir Zeitung daß der Rhein die Brück hinweg genommen / und noch starck mit Eyß gehe / so das niemand weder herüber noch hinüber kommen könte (Spr 294).48

Die Zeit des Rahmens funktioniert wie ein Mittel, mit dem man religiöse Erscheinungen, wie etwa Reinigung von Sünden, Weg zum Heil illustriert. Die Zeitangaben werden als Spiegel oder Projektionsfläche für den Seelenzustand des Protagonisten genützt und verweisen indirekt auf Springinsfelds Bewandtnis mit seinem Seelenheil. Es ist dann gerade die Kunstlosigkeit von Springinsfelds Lebenserzählung samt ihren einfach chronologisch geordneten Ereignissen, die den Eindruck der authentischen Lebensbeichte und der erschreckenden Wahrheit vermittelt. Ein Ereignis, von dem alle drei Texte berichten, ist die Schlacht bei Nördlingen und sie soll hier als ein weiteres Beispiel dafür dienen, wie kunstvoll bei Grimmelshausen mit der Zeit umgegangen wird. Die Schlacht ereignete sich am 6. September 1634 und bedeutete einen Sieg der katholischen und eine Niederlage der schwedisch-protestantischen Heere. Zu ihren Folgen gehörten u. a. der Vormarsch der Katholiken in Süddeutschland und die Rückeroberung der von Schweden besetzten Orte, weitere mittelbare Folgen waren der Prager Frieden im Mai 1635 sowie der offizielle Eintritt Frankreichs in den Dreißigjährigen Krieg. An der Schlacht haben der Offizier Augustin von Fritsch, der Söldner Peter Hagendorf und freilich auch die fiktive Gestalt Springinsfeld teilgenommen. Hagendorf kämpft an der Seite der Schweden, also der Verlierer: Am 7. [sic] September im Jahr 1634 sind wir von dem Berg bei Bopfingen gezogen nach Nördlingen, / die Kaiserlichen angegriffen. Da haben wir den ersten Tag sie getrieben. Den andern Tag ist die Schlacht recht angegangen. Die Spanier haben uns großen Schaden getan, denn diesen Tag ist die ganze schwedische Armee geschlagen worden, zu Fuß und zu Pferd. Die Spanier haben alles niedergemacht. […] Diesmal hat mich der Allmächtige sonderlich behütet, so daß ich dem lieben Gott höchlich dafür Zeit meines Lebens zu danken habe, denn mir ist kein Finger verletzt worden, da ansonsten kein einziger / von allen, die wieder

____________ 48

Das innere Beschauen kann auch als Terminus aus der Religion (Mystik) angesehen werden. Bereits D. Breuer versteht im Stellenkommentar der zitierten Ausgabe das Morgengrauen im übertragenen Sinn (vgl. Anm. 44, S. 871).

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zum Regiment gekommen sind, ohne Schaden gewesen ist. Nach der Schlacht ist, was bayrisch oder kaiserlich gewesen ist und irgendwann gefangen ist worden, wieder zu ihren Regimentern gegangen.49

Der Obrist und Kommandant Augustin von Fritsch gehört zu den Siegern und beschreibt die Schlacht folgendermaßen: Johann de Werth ist […] vf die Infanteri gangen, welche auch nicht lang gestanden, weiln sie gesehen daß Ire Reutter durchgangen, haben sie sich auch fort wollen machen, aber eß sein wenig daruon khommen, wie dann ebenmässig auch vf vnsern Linkhen flügl, alwo die Spannischen gewesen, auch nicht anderst hergangen, vnd also Jnnerhalb 6. stunden, die schlacht gewunnen worden, da dann vf deß Feindts seitten 12000. vf der wahlstatt Todt da hingegen vf vnsren seitten yber 1200. Mann nicht gebliben sein, sobalden die Schlacht geschehen, sein wür gleich wider vor Nörlingen [sic] geruckht, welche sich aber den andern Tag gleich ergeben […].50

Schließlich erzählt der Springinsfeld: gleich hierauff kehrte die Schwedische Reutterey der Battalia den Rucken / weil sie sahen daß ihr Sach allerdings verlohren / nach dem sie aber vom Lothringer / Joan de Werth den Ungern und Croaten wider zuruck gejagt würden / […] wird ich gezwungen niderzufallen. (Spr 241)

Springinsfeld stellt sich tot und bleibt auf dem Schlachtfeld liegen. Jch hatte mich kaum wieder auffgerichtet / als mir ein ansehenlicher wohlmondierter Officier (der dort lag / sein Pferd beym Zaum hielte / und den einen Schenckel entzwey geschossen: den andern aber noch im Stegraiff stecken hatte) mir umb Hülff zuschrye / weil er ihm selbst nicht helffen köndte! Ach Bruder sagte er / hilff mir! ja; gedachte ich / ietzt bin ich dein Bruder / aber vor einer Viertel Stund hettest du mich nicht gewürdigt / nur ein eintziges Wort mir zuzusprechen / du hettest mich dann etwan einen Hundt genant; ich fragte was Volcks? Er antwort / gut Schwedisch / darauff erwischte ich das Pferd beim Zaum / und mit der andern Hand eine Pistole von seinem eignen Gewöhr / und endet damit den wenigen Rest des bittenden Lebens. (Spr 241 f.)

Es folgt eine Schilderung der fetten Beute. Während von Fritsch und Hagendorf der Darstellung der Schlacht nur insofern ein paar Notizen widmen, als es sich um ein weiteres blutiges Ereignis handelt, auf das andere blutige Schlachten und Kriegszüge folgen, sieht die Darstellung im Seltzamen Springinsfeld anders aus. Vor der Episode macht der Erzähler eine zeitraffende51 Zusammenfassung des unbeständigen Auf und Ab des Soldatenlebens und auch danach kommt eine Zeitraffung, die beinahe neun Jahre beträgt. Das nächste erzählenswerte Ereignis ist laut Springinsfeld eine nebensächliche Posse: „und widerfuhre mir ein Poß um selbige

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Hagendorf (Anm. 40), S. 146. von Fritsch (Anm. 40), S. 149. Möglichkeiten der Zeitraffung – vgl. die Übersicht bei Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. München 92006, bes. S. 110 ff.

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Zeit / welcher zwar von keiner Importanz, gleichwol aber so seltzam / verwunderlich und mir so eine schlechte Kurtzweil gewesen / daß ich ihn erzehlen muß“ (Spr 246). Springinsfeld wird in einem ausgeplünderten Dorf von hungrigen Wölfen bedroht und bringt zwei Novembernächte auf dem Dach eines ausgeraubten Hauses zu. Die Episode lässt eine eschatologisch-allegorische Deutung zu, die gerade durch die Zeitangaben signalisiert wird: indessen ruckte die stockfinstere Nacht herbey / welche mich / so lang sie unsern Horizont bedeckte / mit scharpfen durchschneidenden Winden und undermischten Schneeflocken gar unfreundlich tractirte / dann es war im Anfang des Novembri und dannenhero zimlich kalt Wetter. […] [Springinsfeld fing an; J. M.] zu bedencken in was vor einem jämmerlichen Zustand die trostlose Verdammte in der Höllen sich befinden müsten / bey denen ihr Leiden ewig wehret / welche nicht nur bey etlichen Wölffen: sondern bey den schröcklichen Teuffeln selbsten: nicht nur auff einem Tach: sonder gar in der Höllen: nicht nur in gemeiner Kälte / sonder in ewig brennendem Feur: nicht nur eine Nacht in Hoffnung erlöst zuwerden / sondern ewig ewig gequellt würden; Dise Nacht war mir länger als sonst vier / so gar daß ich auch sorgte / es würde nimmermehr wider Tag werden / dann ich hörete weder Haanen kräen noch die Uhr schlagen. (Spr 248)

Die eschatologische Deutung der Ereignisse und der Zeitangaben wird zum einen unmittelbar durch Springinsfelds Gedanken an die Hölle signalisiert und im Text verdeutlicht. Zum anderen aber kann man bereits die Schilderung der Nördlinger Schlacht einbeziehen. Die Wolfs-Episode erscheint dann als eine nachträgliche Deutung der eher kunstlosen Schlachtbeschreibung. Bezeichnenderweise kommt die Rettung des Springinsfeld aus dem todesähnlichen Zustand am dritten Tag. Die als nebensächlich angekündigte „Posse“52 folgt zwar kompositionell auf Nördlingen, aber temporal gesehen liegen aufgrund der zeitraffenden Textpassage mehrere Jahre dazwischen. Der Romankontext macht deutlich, dass die Wolfsepisode in ihrem Sinn mit der Schlacht zusammenhängt. Durch die Nacht, Kälte und die vorwinterliche Zeit wird das Innere des Hauptprotagonisten wie nach außen gekehrt und veranschaulicht. Die Zeitangaben und Witterung dienen also als Veranschaulichung des seelischen Zustandes einer Figur, sie illustrieren die Beschaffenheit der momentanen Beziehung von Springinsfelds Seele zu Gott (Gottesferne). Obwohl also Springinsfelds Erzählen ähnlich einfach und kunstlos wie Hagendorfs oder Fritschs Aufzeichnungen erscheint, ist diese Kunstlosigkeit an der besprochenen Textstelle intendiert. Dabei soll Springinsfelds Gottlosigkeit und Gottesferne mittels einer ganzen Episode gleichsam vor Augen geführt werden.

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Sie nimmt gleichwohl beinahe zwei Kapitel in Anspruch (16 und 17).

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3. Schlussbemerkung: Historisch-kulturelle und gattungsspezifische Vorgaben und deren Bedeutung für die ‚Zeit‘ als narrative Kategorie Wenn man die Kategorie der Zeit in einem fiktionalen Erzählwerk untersuchen will, sind zuerst die historisch-kulturellen Vorgaben zu berücksichtigen. Die Zeit-Ebene einer fiktionalen Erzählung spiegelt die jeweils epochen- und kulturspezifischen Formen der Zeitwahrnehmung und -deutung wider. Die Zeit-Ebene im fiktionalen Werk setzt beim Rezipienten dieses Allgemeinwissen still voraus, mit dem dann innerhalb des Kunstwerks unterschiedlich umgegangen werden kann. Die narrative Kategorie der Zeit ist dabei immer nicht nur im Hinblick auf den historisch-kulturellen Kontext zu sehen, sondern auch in ihrer Verflechtung mit der Gattung. Der Autor kann mit der ‚Zeit‘ bewusst umgehen, ihr unterschiedliche Bedeutungen zuordnen. Die beiden wirklichen Tagebuchautoren Hagendorf und von Fritsch halten nur Schlachten, Belagerungen und Kriegszüge schriftlich fest, an denen sie teilgenommen haben, ohne einen tieferen Sinn darin zu suchen. In dem Punkt ähnelt ihr Bericht dem zusammenfassenden mündlichen Bericht Springinsfelds. Doch selbst an solchen Stellen, wo Springsinsfelds Erzählen stark einer nichtfiktionalen Textsorte wie einem Tagebuch oder einer Chronik ähnelt, ist damit zu rechnen, dass die einfache Aufzählung der Kriegsereignisse nicht nur für sich dasteht, sondern in der Handlung noch weitere sinnstiftende Funktionen übernimmt. Das scheinbar uninteressante, langweilige, wie ein Plagiat einer Chronik erscheinende Erzählen des Springinsfeld ist meiner Meinung nach ein rhetorischer Kunstgriff und trägt zur Gesamtaussage des Romans bei. Es ist damit zu rechnen, dass die Kategorie der ‚Zeit‘ mit bestimmten Motiven verbunden ist, dass ihre Deutung von der Interpretation des Textes abhängig ist und dass bestimmte Zeitschemata mit einer Gattung vorgegeben sind. Erst die intendierte Wirkung und die Gattungsvorgaben formen die ‚Zeit‘ gemäß der jeweiligen literarisch-rhetorischen Tradition in die narrative Kategorie der ‚erzählten Zeit‘ um. Literatur Alt, Peter-André: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller. Tübingen 1995. Barnes, Robin Bruce: Prophecy and Gnosis: Apocalypticism in the Wake of the Lutheran Reformation. Stanford, CA 1988. Bernet, Claus: „Gebaute Apokalypse.“ Die Utopie des Himmlischen Jerusalem in der Frühen Neuzeit. Mainz 2007.

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II. Mediale und generische Differenzen

FRAUKE BODE (Wuppertal)

Zeit in der Lyrik. ‚Zäsuriertes Erzählen‘ als intermittentes Narrativ der Lyrik 1. Vorbemerkung zur Gattung Lyrik 129 – 1.1 Zeit in der Lyrik 132 – 1.1.1 Pragmatik der Zeit 135 – 1.1.2 Semantik und Syntaktik der Zeit 136 – 2. Das intermittente Narrativ der Lyrik 139

1. Vorbemerkung zur Gattung Lyrik Die Verhandlung und Konstitution von Zeit in literarischen Texten steht in engem Zusammenhang mit deren Narrativität: Zeit ist – in einer linearen Konzeption – eine Abfolge von Ereignissen, während Erzählen eine ebensolche Sukzession vermittelt. Insbesondere für lyrische Texte stellt sich die Frage, ob sie Ereignisabfolgen, mithin Zustandsveränderungen zeitlicher Natur, vermitteln – ob sie also erzählen. Lyrik, eine narrative Gattung? Diese Annahme erscheint – auf den ersten Blick – kontraintuitiv, da sie der geläufigen, von der Goethe’schen Prägung ausgehenden Gattungstrias widerspricht. Ob eine narratologische Analyseperspektive auf Zeit in der Lyrik valide ist, hängt somit von dem zugrunde gelegten Lyrikbegriff ab. Neben der Narrativität als lyrischem Modus stellen besonders die Medialität, also die lyrische Form, und die Fiktionalität lyrischer Aussagen von der Forschung kontrovers diskutierte Gattungsparameter dar. Nach wie vor steht eine konsensfähige Lyrikdefinition aus – eine Situation, die sich grundsätzlich vom Forschungsstand bezüglich Epik und Drama unterscheidet.1 Dennoch muss nicht von einem „notorischen“ Mangel an theoretischen Ansätzen2 oder gar von einer „unterentwickelten Lyriktheorie und -methodik“3 gesprochen werden, vielmehr

____________ 1

2 3

Vgl. Peter Hühn/Jörg Schönert: „Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse“. In: Jörg Schönert/Peter Hühn/Malte Stein: Lyrik und Narratologie. TextAnalysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin/New York 2007, S. 1–18, hier S. 3. Hühn/Schönert (Anm. 1), S. 3. Peter Hühn: „Geschichten in Gedichten. Ansätze zur narratologischen Analyse von Lyrik, mit einem Ausblick auf die Lyrik Shakespeares und den Petrarkismus“. In: Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius (Hrsg.): Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin/New York 2011, S. 79–101, hier S. 79.

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Frauke Bode

sind in den letzten Jahren aus unterschiedlichen Forschungsrichtungen wichtige Theoriebeiträge geleistet worden. Zwei rezente und konträr ausgerichtete Ansätze stellen Terry Eagletons How to Read a Poem (2007) und Rüdiger Zymners Lyrik. Umriss und Begriff (2009) dar.4 Während Eagleton die Fiktionalität des Gedichtes und seine „moralische“ Aussage zentral setzt,5 plädiert Zymner für eine im Einzelfall zu entscheidende Abstufung des Fiktionalitätsgrads.6 Damit äußert er sich kritisch gegenüber dem Tenor der neueren Debatte, welche die Fiktionalität lyrischer Rede unterstreicht7 und Abstand von Positionen nimmt, die Lyrik gegenüber Drama und Erzählungen von vornherein einen besonderen Fiktionalitätsstatus durch „eine engere und intensivere Beziehung zwischen Autor und Werk“8 zuerkennen.9 Lyrische ebenso wie dramatische und erzählende Texte verdoppeln das von Roman Jakobson entworfene Kommunikationsmodell10 und entwickeln eine von der Außenpragmatik prinzipiell losgelöste Sprechsituation.11 Diese Prämisse kann nicht für jedes Gedicht übernommen werden,12 insbesondere die sogenannte Gelegenheitsdich-

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Terry Eagleton: How to Read a Poem. Malden 2007; und Rüdiger Zymner: Lyrik. Umriss und Begriff. Paderborn 2009. Vgl. Eagleton (Anm. 4), S. 25: „A poem is a fictional, verbally inventive moral statement in which it is the author […] who decides where the lines should end“ Und S. 29: „Poems are moral statements, then, not because they launch stringent judgements according to some code, but because they deal in human values, meanings and purposes.“ Zymner unterscheidet vier Ausprägungen: „autorfiktionale Lyrik“ (der Autor spricht über Fiktionales), „personafiktionale Lyrik“ (eine Figur spricht über Fiktionales), „autorfaktuale Lyrik“ (der Autor spricht über Faktuales) und „personafaktuale Lyrik“ (eine Figur spricht über Faktuales), vgl. Zymner (Anm. 4), S. 12. Vgl. Carolin Fischer: Der poetische Pakt. Rolle und Funktion des poetischen Ich in der Liebeslyrik bei Ovid, Petrarca, Ronsard, Shakespeare und Baudelaire. Heidelberg 2007, S. 43 f. Wolfgang Müller: Das lyrische Ich. Erscheinungsformen gattungseigentümlicher Autor-Subjektivität in der englischen Lyrik. Heidelberg 1979, S. 9. Prominent bleibt weiterhin der Ansatz von Käte Hamburger: „Wo eine Erzählfunktion am Werke ist, stehen wir nicht vor einem lyrischen Phänomen. Andererseits aber neutralisiert die Gedichtform wieder das episch fiktionale Phänomen.“ Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung [1957]. Stuttgart 31977, S. 243. Sowohl Gedichte mit einem lyrischen Ich als auch Ich-Erzählungen treffen in diesem Sinne fingierte, nicht fiktionale Aussagen, vgl. Michael Scheffel: „Faktualität/Fiktionalität als Bestimmungskriterium“. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar 2011, S. 29–31, hier S. 30. Roman Jakobson: „Linguistik und Poetik“ [1960]. In: Ders.: Poetik. Ausgewählte Aufsätze 1921–1971. Hrsg. von Elmar Holenstein und Tarcisius Schelbert. Frankfurt a. M. 1979, S. 83–121. Vgl. Horst Weich: „Theoretische Grundlegung“. In: Ders.: Paris en vers. Aspekte der Beschreibung und semantischen Fixierung von Paris in der französischen Lyrik der Moderne. Stuttgart 1998, S. 21–45, hier, S. 43, und Ana Luengo: „El poeta en el espejo: de la creación de un personaje poeta a la posible autoficción en la poesía“. In: Vera Toro/Sabine Schlickers/Ana Luengo: La obsesión del yo. La auto(r)ficción en la literatura española y latinoamericana. Madrid/Frankfurt a. M. 2010, S. 251–267, hier S. 255. Weich weist auf die historisch variable Lyrikkonzeption hin, vgl. Weich (Anm. 11), S. 43.

Zeit in der Lyrik

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tung, so Zymner,13 muss auf ihre kontextuelle Verortung überprüft werden. Dies gilt aber nachgeordnet für jeden literarischen Text. Grundsätzlich ist die Prämisse eines literarischen „Als-Ob“14 besonders für die Lyrik hilfreich, um das romantische Paradigma der Expression15 nicht zu verabsolutieren. Zymners extensiver Lyrikbegriff konzentriert sich auf die Medialität lyrischer Sprache,16 und erhebt den Anspruch, jede mögliche Ausprägung von Lyrik zu erfassen, was unterschiedlichste, schriftlich und mündlich realisierte Texte als Gedichte systematisierbar macht, und dadurch ein denkbar breites Korpus bereitstellt. Ihr gegenüber stehen Minimaldefinitionen wie Dieter Lampings „Einzelrede in Versen“.17 Auch wenn das Einzelrede-Kriterium kritisiert worden ist,18 stellt diese Definition mit der Versform ein Merkmal zur Verfügung, um an einem weiten Korpus vergleichbare Aussagen treffen zu können. Die systematische Definition Lampings hat zudem den Vorzug, Lyrik als Formgattung zu beschreiben und nicht auf ‚Wesensmerkmale‘ des Lyrischen oder das Kriterium der „Schreibweise“19 zur Gattungsbestimmung zurückgreifen zu müssen,20 schließlich kann Lyrik unterschiedliche Sprechweisen und binnenpragmatische Kommunikationssituationen annehmen: Die lyrische Sprechsituation kann sowohl konstativ sein, berichtend, d. h. eine Erzählung vermittelnd, oder dramatisch.21 Darin unterscheiden sich lyrische nicht von epischen und dramatischen Texten, weshalb die Definition der lyrischen Gattung notwendigerweise auf formelle und mediale Kriterien beschränkt werden muss und Unterscheidungen wie ‚lyrische Gedichte‘ oder ‚lyrische Prosa‘ hinfällig werden. Demzufolge kann eine genuin ‚lyrische‘ Schreibweise, die sich durch besondere Subjektivität oder Musikalität auszeichne-

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Vgl. hierzu Zymners Plädoyer für die Aufrechterhaltung dieses Begriffs. Er vergleicht Gelegenheitsdichtungen mit „autorfaktualen“ Briefen, Tagebüchern und Essays. Vgl. Zymner (Anm. 4), S. 20. Wolfgang Iser: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie. Frankfurt a. M. 1991, S. 36 f. Vgl. Andreas Mahler/Horst Weich: „Einzelaspekt: Lyrik und Chanson“. In: Ingo Kolboom/Thomas Kotschi/Edward Reichel (Hrsg.): Handbuch Französisch. Sprache Literatur Kultur Gesellschaft. Berlin 22008, S. 889–895, hier S. 891. Vgl. Zymner (Anm. 4), S. 140: „Lyrik: Repräsentation von Sprache als generisches Display sprachlicher Medialität und damit als generischer Katalysator von ästhetischer Evidenz.“ Dieter Lamping: Das lyrische Gedicht. Göttingen 1989, S. 63. Vgl. z. B. Hühn/Schönert (Anm. 1), S. 3 f. Klaus W. Hempfer: Gattungstheorie: Information und Synthese. München 1973, S. 157. Vgl. Lamping (Anm. 19), S. 79, 81. Vgl. Weich (Anm. 11), hier S. 43.

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te,22 nicht angenommen werden. Sehr wohl kann für eine Definition von Lyrik aber das von Horst Weich bereits 1998 von Jurij Lotman und Roman Jakobson entlehnte formal-qualitative Kriterium der Überstrukturiertheit ins Feld geführt werden: Lyrische Texte zeichnen sich dadurch aus, dass zu ihrer Bedeutungskonstitution verstärkt sekundäre Kodierungen eingesetzt werden, zu denen, neben rhetorischen Figuren, Tropen, metrischer Ausgestaltung, etc. eben auch die Vers- und Reimgestaltung mit ihrem Aufbau von Querbezügen gehört.23 Im Folgenden sollen daher Gedichttexte untersucht werden, die formal – und sei es rein typographisch – in Versen verfasst und medial schriftlich realisiert sind. Somit werden Formen der Oral Poetry ebenso wenig berücksichtigt wie die Spezialfälle der visuellen und konkreten Poesie oder des Prosagedichts. Das Verskriterium soll allerdings nicht auf Versepen und Versdramen ausgedehnt werden, da diese zwar durch ihre Form ein hinreichendes Lyrikkriterium erfüllen, durch die Aufführungspraxis letzterer und die zentrale Ereignisvermittlung ersterer jedoch tendenziell andere Schwerpunkte setzen als das Gedicht.24 Unbenommen bleibt jedoch zum einen, dass Gedichte einen ‚Sitz im Leben‘ und eine rezitatorische Tradition haben25 – man denke zum Beispiel an die mittelalterliche Trobadordichtung der Romania.26 Zum anderen wird die Ereignisvermittlung von Gedichttexten gerade für die Betrachtung von Zeit in der Lyrik interessant, da die Erzählung einer Abfolge von Ereignissen eine zeitliche Sequenz erkennbar macht. 1.1 Zeit in der Lyrik Die vorliegende Analyse soll indes nicht anhand von narrativen Formen im engeren und unstrittigen Sinne wie zum Beispiel der Balladendichtung erfolgen, vielmehr soll nach der lyrischen Verhandlung und Konfiguration von Zeit generell gefragt werden. Zeit als notwendige Bedingung erzäh-

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Vgl. Dirk Göttsche: „Stil als Bestimmungskriterium/Gattungsstilistik“. In: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart/Weimar 2011, S. 42–43, hier S. 42, vgl. außerdem Lamping (Anm. 17), S. 81 f. Vgl. Weich (Anm. 11), hier S. 31 f. In dieser Hinsicht unterscheidet Lamping das lyrische Gedicht vom epischen und dramatischen Gedicht, vgl. Lamping (Anm. 17), S. 15 f. Vgl. Mahler/Weich (Anm. 15), S. 889. Vgl. Rainer Warning: „Lyrisches Ich und Öffentlichkeit bei den Trobadors. Wilhelm IX. von Aquitanien: Molt jauzens, mi prenc en amar“. In: Ders.: Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus. Freiburg i. Br. 1997, S. 45–84, hier S. 46.

Zeit in der Lyrik

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lender Texte findet implizit als Vergegenwärtigung von Geschehen27 oder explizit als „Sequentialität (das heißt durch die zeitliche Organisation und Verkettung einzelner Geschehenselemente und Zustandsveränderungen zu einer kohärenten Abfolge)“28 Erwähnung. Zeitliche Abläufe unterscheiden Erzählen von nicht zeitlich strukturierten Sprechweisen wie der Beschreibung.29 Mit Peter Hühn, Jörg Schönert und Malte Stein kann angenommen werden, dass auch lyrische Texte mit den Analysemethoden der Narratologie untersucht werden können, da sie chronikalische und kausal verknüpfte Sachverhalte verhandeln,30 die nicht auf „mentale oder emotionale Vorgänge“31 beschränkt sind und mit dem Sprecher oder dem lyrischen Ich einen konstanten Ereignisträger in Form einer mehr oder weniger konkretisierten Äußerungsinstanz etablieren. Erzählen und damit ‚Zeit‘ sind daher Phänomene, die auch der Lyrik inhärent sind. Trotz dieser narratologischen Grundannahmen ist zur Analyse von Zeitphänomenen in der Dichtung ein Instrumentarium notwendig, das die Spezifika der Lyrik berücksichtigt. Dies bedeutet im Besonderen, dass die Analysekategorien des Sprechers und des lyrischen Ich beibehalten werden müssen, trotz der vielfach an diesen Begriffen geäußerten Kritik und gerade wegen ihrer Spezifität für die Lyrik. Durch die Rekurrenz auf das Begriffspaar Sprecher – Angesprochener wird zum einen die doppelte Pragmatik lyrischer Rede betont. Selbst wenn auch lyrische Texte erzählen, so kann zum anderen nicht generalisierend auf narratologische Begriffe Genette’scher Provenienz zurückgegriffen werden, da die mögliche Vielfalt der Sprechsituationen über diejenigen hinausgeht, die durch die Bezeichnungen ‚Erzähler‘ oder ‚Erzählinstanz‘ erfasst werden, insbesondere nicht-narrative Sprechsituationen. Während die Kategorie des Sprechers weitgehend akzeptiert ist,32 wird der Begriff des ‚lyrischen Ich‘ kontrovers diskutiert. Er soll hier mit Wolfgang Müller als analytische „Formgröße“33 verwendet werden, ohne jedoch in der Lyrik eine per se „subjektiv-monologische Gattung“ zu sehen.34 Damit stimme ich der

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Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 62005, S. 17. Hühn/Schönert (Anm. 1), S. 10, Hervorhebung im Original. Vgl. Hühn (Anm. 3), S. 80. Vgl. Matías Martínez: „Erzählen“. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 1–12, hier S. 4. Hühn/Schönert (Anm. 1), S. 6. Fischer lehnt sie wegen ihrer Nähe zu den Begrifflichkeiten der Narrativik ab, vgl. Fischer (Anm. 7), S. 71. Müller (Anm. 8), S. 20. Vgl. Müller (Anm. 8), S. 12.

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„Verteidigung eines umstrittenen Begriffs“ durch Matías Martínez zu,35 schließe mich allerdings Steins Kritik an, dass das lyrische Ich nicht auf „monologische“ und „situationsenthobene“36 Äußerungen beschränkt werden kann.37 Das ‚lyrische Ich‘ soll daher als „Lektürefigur“38 verstanden werden, mit deren Hilfe gerade die binnenpragmatischen Fragen zur Sprechsituation, „wer spricht“ und „wovon“, geklärt werden können – Fragen, die immer auch von der historischen Lektüre dieser Figur bestimmt werden.39 Als Analysegröße ist jede Äußerungsinstanz eines Gedichtes ein Sprecher oder eine Sprecherin, deren Figurenmerkmale deutlich profiliert sein können,40 allein ein Sprecher in der ersten Person Singular wird als ‚lyrisches Ich‘ bezeichnet. Dieser Ansatz beruht auf dem von Weich im Rückgriff auf Klaus Dirscherl und Rainer Warning systematisierten semiotischen Analysemodell,41 einen lyrischen Text nach den Analyseebenen der Pragmatik, Semantik und Syntaktik zu untersuchen, dem im Folgenden die Darstellung von Zeit in der Lyrik folgen soll. Auf der pragmatischen Ebene wird die binnenpragmatische, eigenständige und damit von der Außenpragmatik prinzipiell losgelöste Sprechsituation analysiert,42 während auf der semantischen Analyseebene die Frage im Vordergrund steht, wie der Sprechgegenstand der lyrischen Rede in seinen Bedeutungsnuancen konstituiert wird. Die syntaktische Ebene wird

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40 41

42

Vgl. Matías Martínez: „Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs“. In: Heinrich Detering (Hrsg.): Autorschaft. Positionen und Revisionen. Stuttgart/Weimar 2002, S. 376–389. Martínez (Anm. 35) , S. 389. Malte Stein: „Ingeborg Bachmann: ‚Im Zwielicht‘“. In: Schönert u. a. (Anm. 1), S. 267– 279, hier S. 271 f. Eva Horn: „Subjektivität in der Lyrik: ‚Erlebnis und Dichtung‘, ‚lyrisches Ich‘“. In: Miltos Pechlivanos u. a. (Hrsg.): Einführung in die Literaturwissenschaft. Stuttgart 1995, S. 299–310, hier S. 299. Horn (Anm. 38), S. 300. Jan Borkowski und Simone Winko schließen den Begriff des lyrischen Ich aus, weil er, gerade in der hier angestrebten analytischen Verwendung, redundant sei: Auf das Adjektiv ‚lyrisch‘ müsse stringenterweise verzichtet werden. Der berechtigte Einwand wird hier vernachlässigt, da an dieser Stelle kein neuer Begriff in die Methoden-Diskussion eingebracht werden soll, vgl. Jan Borkowski/Simone Winko: „Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen Ersetzungsvorschlägen“. In: Hartmut Bleumer/Caroline Emmelius (Hrsg.): Lyrische Narrationen – narrative Lyrik. Gattungsinterferenzen in der mittelalterlichen Literatur. Berlin/New York 2011, S. 43–77, hier S. 61. Hühn nimmt dies nicht an, vgl. Peter Hühn: „Erzähltexte im Verhältnis zu anderen Textsorten“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 12–16, hier S. 14. Vgl. Weich (Anm. 11), S. 21, und Klaus Dirscherl: Zur Typologie der poetischen Sprechweisen bei Baudelaire. Formen des Besprechens und Beschreibens in den ‚Fleurs du Mal‘. München 1975, S. 24– 29, sowie Rainer Warning: „Interpretation, Analyse, Lektüre: Methodologische Erwägungen zum Umgang mit lyrischen Texten“. In: Ders.: Lektüren romanischer Lyrik. Von den Trobadors zum Surrealismus. Freiburg i. Br. 1997, S. 9–43, hier S. 20 f. Vgl. Dirscherl (Anm. 41), S. 26, 28 f.

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schließlich in Abhängigkeit von diesen beiden übergeordneten Analysefragen funktionalisiert.43 1.1.1 Pragmatik der Zeit In der theoretischen Auseinandersetzung mit Zeit in der Lyrik lässt sich eine Konzentration auf die Semantik der Zeit – die Zeit als Thema – feststellen, wohingegen ein auf der discours-Ebene – der Syntaktik – angesiedeltes Analyseinstrumentarium weitestgehend fehlt. Pragmatische Aspekte, also die Zeit-Konfiguration innerhalb der Äußerungssituation, werden zumeist mit der semantischen Analyseebene vermengt. Betrachtet man die Pragmatik der Zeit im Genre Lyrik, ist dem gegenüber entscheidend, die temporalen Aspekte der Sprechsituation, also die Zeitkonstitution der Äußerung, zu untersuchen. Die Temporaldeixis baut sich über adverbiale Bestimmungen der Zeit, explizite Zeitangaben sowie Verbtempora auf. In vielen Fällen kann ein genauer Zeitpunkt des Sprechens festgestellt werden (im Extremfall angezeigt durch eine Datierung), der zunächst zu unterscheiden ist von der besprochenen Zeit, also der Zeit oder dem Zeitpunkt als Sprechgegenstand, allerdings auch mit diesem zusammenfallen kann. Häufig lässt sich die Äußerungszeit aber nur relational, über einen temporalen Vor- oder Rückbezug, bestimmen. Die Gegenwart des Sprechens, die Situation, aus der heraus eine Äußerung stattfindet, ist prinzipiell unhistorisch44 und wird in jeder Lektüre wieder als Gegenwart aktualisiert. Eine solchermaßen mit Karl Bühler als hic-et-nuncorigo bezeichnete Sprechsituation,45 eine Äußerung also aus einem nicht näher spezifizierten Hier und Jetzt, wird gemeinhin als genuin lyrische Sprechsituation beschrieben, während das „rückblickende Erzählen“ der „Regelfall“ erzählender Texte sei.46 Jedoch kann das „Temporalsystem“ der lyrischen Rede nicht nur gleichzeitig mit der Sprechsituation sein, sondern diese auch „selbst zum Thema haben, sie [die Aussage; F. B.] kann, etwa als Erinnerung, der Sprechsituation vorausliegen oder aber, etwa als Wunsch, einen Zukunftsbezug haben“.47 Hervorgehoben wird, dass der Sprecher „um sich herum einen subjektiven Raum und ein zeitliches Kontinuum auf[baut], die nicht mit den physikalischen Verhältnissen deckungsgleich sind, sondern eine Orientierung in der Welt ermögli-

____________ 43 44 45 46 47

Vgl. Warning (Anm. 41), S. 20 f. Dieter Burdorf: Einführung in die Gedichtanalyse. Stuttgart/Weimar 21997, S. 177. Vgl. Karl Bühler: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache [1934]. Stuttgart 21965, S. 102, und Weich (Anm. 11), S. 24. Martínez/Scheffel (Anm. 27), S. 71. Warning (Anm. 41), S. 21.

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chen“.48 Dieter Burdorf betont mit Henri Bergsons durée, dass lyrische Texte einen „erlebten Raum“ und eine „erlebte Zeit“ konstituierten.49 Damit schließt er implizit an Emil Staigers subjektivistische Perspektive an. Staiger sieht in seinen Grundbegriffen der Poetik „das Lyrische“, analog zum „Epischen“ und zum „Dramatischen“, potentiell in jeder Gattung verwirklicht;50 er spricht Zeit in der Lyrik ein Erlebnismoment zu, sie sei immer temps vécu.51 Gegenüber der mathematischen Zeit bei Immanuel Kant müsse, so Staiger, Zeit in der Lyrik als „erlebte Zeit“ und als „Einbildungskraft“ verstanden werden.52 Das „Wesen“ des Lyrischen sei „Erinnerung“, d. h. „das Fehlen des Abstands zwischen Subjekt und Objekt, […] das lyrische Ineinander“.53 Dieser Gedanke, dass sich in der Lyrik subjektive Impressionen mit der Außenwelt verbänden, lyrische Texte also eine eigene Zeit etablierten, knüpft an das romantische Paradigma der Expression an und mündet in Hugo Friedrichs spätere – nicht mehr subjektivistisch motivierte – These von der „inneren Zeit“ und der Auflösung der Zeit in der modernen Lyrik.54 Dem gegenüber steht die genaue paratextuelle Datierung in Titel oder Widmung – die einen anderen pragmatischen Status hat als eine binnenpragmatische Datierung. In beiden Fällen jedoch zeigt sich, dass lyrische Texte, wie zum Beispiel im Zeit- oder Widmungsgedicht und nicht nur in ausdrücklich narrativen Gedichten wie Balladen, eine konkret definierte, sogar historisch bezogene Sprechsituation etablieren können. 1.1.2 Semantik und Syntaktik der Zeit Der semantische Aspekt der Zeit in der Lyrik, die Frage nach der Zeit als prominentem Sprechgegenstand lyrischer Texte, hat in der Forschung viel Beachtung gefunden. Einige zentrale Topoi der Literatur lassen sich in lyrischen Texten gehäuft finden, was sie zu einem genretypischen, nicht aber einem genrespezifischen Gegenstand macht. Bestimmte Tages- und Jahreszeiten stellen bevorzugte Sprechsituationen und -gegenstände dar, wie zum Beispiel der Frühling und der Morgen in der Romantik,55 die

____________ 48 49 50 51 52 53 54 55

Vgl. Burdorf (Anm. 44), S. 171 f. Burdorf (Anm. 44), S. 171 f. Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik [1946]. Zürich 81968, S. 8, 204. Emil Staiger: Die Zeit als Einbildungskraft des Dichters. Untersuchungen zu Gedichten von Brentano, Goethe und Keller. Zürich 1953, S. 74. Vgl. Staiger (Anm. 51), S. 74 f. Staiger (Anm. 50), S. 62. Hugo Friedrich: Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts [1956]. Reinbek b. Hamburg 1996, S. 24, 204. Vgl. Horst J. Frank: Wie interpretiere ich ein Gedicht? Tübingen/Basel 62003, S. 90 f.

Zeit in der Lyrik

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entweder als Metapher für Zeit als abstraktes Phänomen fungieren oder den Zeitpunkt der binnenpragmatischen Äußerung nutzen, um einen mit ihm korrelierten Gegenstand zu verhandeln. Dies ist zum Beispiel der Fall in den mittelalterlichen Tageliedern und der altokzitanischen alba: Der Anbruch des Morgens ist ursächlich für das Auseinandergehen der Liebenden, der Zeitpunkt ist somit nicht zentraler Gegenstand, jedoch zentrales Motiv.56 So wiederholt sich in Giraut de Bornelhs alba die refrainartige Formel „et ades sera l’alba“ – und bald wird der Morgen dämmern.57 Besonders im Barock wird die Vergänglichkeit der Zeit metaphorisch kodiert und in die bekannten Motive des carpe diem und memento mori übertragen. Das Vergehen der Zeit wird in Allegorien überführt, die anhand fremder Bildbereiche das Abstraktum Zeit darstellbar machen, zum Beispiel in einem berühmten Schlussvers Luis de Góngoras, in dem der Sprecher der Adressatin prophezeit, ihr noch so goldenes Haar werde – wie auch sie – zu Erde, Rauch, Staub, nichts werden: „se vuelva, mas tú y ello juntamente / en tierra, en humo, en polvo, en sombra, en nada“.58 Neben dieser allegorischen Darstellung von Zeit kann man in lyrischen Texten einen performativen Aufbau zeitlicher Strukturen durch formale Elemente und somit auf syntaktischer Ebene beobachten. Eine analytische Zwischenposition zwischen pragmatischer und syntaktischer Analyse nimmt Walther Killy ein, der die „Gedicht-Zeit“59 als „messbare Zeit“60 und die im Gedicht „thematisch gewordene Zeit“ unterscheidet.61 Dieser Ansatz, der bei ihm allerdings nicht systematisch ausgearbeitet wird, weist Reminiszenzen an Günther Müllers früheres Konzept der „Erzählzeit“ und der „erzählten Zeit“62 auf, das bei Killy jedoch nicht erwähnt wird. Es handelt sich um die Unterscheidung zwischen der „Zeit, die Lyrik verbraucht. Oder […] wie Lyrik Zeit produziert“.63 Eine Unterscheidung also, die dem Aspekt der Performanz und Rezeption die ‚thematische Zeit‘ im Gedicht, mithin die Zeit als Sprechgegenstand, gegenüberstellt. Formstrukturen wie Metrum, Rhythmus, Vers- und Strophen-

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59 60 61 62 63

In der spanischen Lyrik lässt sich der alba-Topos bis in die Gegenwart verfolgen, vgl. Henriette Partzsch: Die Tradition der Alba in der spanischen Lyrik des 20. Jahrhunderts. Berlin 2001. Giraut de Bornelh: „Reis glorios, verais lums e clartatz“. In: Adolf Kolsen (Hrsg.): Sämtliche Lieder des Trobadors Giraut de Bornelh. Bd. 1. Halle an der Saale 1910, S. 342–347. „[Z]u Erde, Rauch und Staub, zum Schatten und zum nichts ist euer Schreiten.“ Luis de Góngora: „Mientras por competir con tu cabello“, in: Ders., Sonette. Übers. von Sigrid Meuer. Berlin 1960, S. 14 f. Walther Killy: Elemente der Lyrik. München 1972, S. 41. Killy (Anm. 59), S. 40. Killy (Anm. 59), S. 41. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Festschrift Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Tübingen 1948, S. 195–212. Jürgen Gunia: „Das Gedicht, die Zeit und der Rhythmus der Lektüre“. In: Kritische Ausgabe 21 (2011), S. 47–49, hier S. 47.

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wechsel tragen zu einer Syntaktik der Zeit in der Lyrik bei. Burdorf nimmt die Begriffe „Gedicht-Zeit“ und „im Gedicht thematisch gewordene[ ] Zeit“ von Killy auf und setzt sie wie folgt um: Das gesprochene oder gesungene Gedicht nimmt zu seiner Realisierung einen bestimmten (je nach Sprecher oder Sänger variablen) Zeitabschnitt in Anspruch. Diese Gedicht-Zeit ist durch Einschnitte und oft durch die variierende Wiederkehr von kleineren Zeiteinheiten, durch Verse, Rhythmus und Metrum gegliedert.64

Mit Andreas Heusler sieht er Rhythmus als „Gliederung der Zeit in sinnlich fassbare Teile“,65 die dadurch entstehe, dass Zeit über die Empfänglichkeit für Bewegung wahrgenommen werde.66 So berücksichtige das ‚zeitmessende‘ oder ‚quantitierende Prinzip‘ aus langen und kurzen Silben der antiken griechischen Lyrik die zum Sprechen der Verse benötigte Dauer.67 In modernen Texten, die Versmaßen nicht mehr verpflichtet sind, können schnellere und langsamere Rhythmen oder auch Zäsuren, insbesondere Enjambements und Vers- sowie Strophenwechsel, Zeit performativ aufnehmen. Vorausgesetzt ist in diesen Fällen zumindest eine implizite laute Lektüre. Dieser Gedanke wurde von Jürgen Gunia theoretisch formuliert, allerdings nicht in praktischen Analysen gezeigt: „Rhythmus strukturiert demnach also Zeit und bringt ein für Veränderungen offenes, nicht chronometrisch orientiertes Zeitbewusstsein hervor, einen nicht unbedingt natürlichen, aber stärker körperorientierten ‚Zeitsinn‘“.68 Eine analytisch orientierte Bestimmung syntaktischer Zeit-Generierung im Gedicht ist weiterhin ein Desiderat. Aus den überblickhaft dargestellten Positionen zu Zeit in der Lyrik lässt sich summieren, dass ein Blick auf Zeit in der Lyrik vorherrscht, der vom romantischen Paradigma der Expression weiterhin beeinflusst zu sein scheint, schließlich wird die imaginative Eigengesetzlichkeit lyrischer Texte und die eigene Zeitlichkeit der Sprechsituationen betont. Das mag daran liegen, dass in der Lyrik vorwiegend eine im hic et nunc der Äußerung immer wieder aktualisierte Gegenwart den zeitlichen Äußerungspunkt des Sprechens darstellt, auch wenn dieser exakt benannt ist. Wird Lyrik mit narratologischen Methoden betrachtet, so ist das ausschlaggebende Kriterium, dass lyrische Texte zeitlich strukturierte Inhalte vermitteln und daher ebenso narrativ sein können wie Prosaerzählungen. Lyrik erzähle jedoch vorwiegend kurze Zeiträume und sei auf die Darstellung von

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Burdorf (Anm. 44), S. 175. Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte. Teil I und II: Einführendes. Grundbegriffe der Verslehre. Der altgermanische Vers [1925]. Berlin 21956, S. 17. Vgl. Burdorf (Anm. 44), S. 69 f. Vgl. Burdorf (Anm. 44), S. 75. Gunia (Anm. 63), S. 49.

Zeit in der Lyrik

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Zeitpunkten beschränkt,69 weshalb „Vorgänge längerer Dauer […] oft durch Zeitsprünge in einzelne Bilder und Handlungssequenzen gegliedert [sind]“.70 2. Das intermittente Narrativ der Lyrik Im Folgenden möchte ich zeigen, dass größere Zeiträume in der Lyrik nicht nur in Balladen und der Versepik konfiguriert werden, sondern dass Lyrik ein ‚intermittentes Narrativ‘ ausbildet, das über mehrere Gedichte hinweg erzählende Komplexe aufbaut, die insbesondere Gedichtzyklen, aber auch nicht explizit zyklisch ausgewiesene Gedichtbände überspannen.71 An zwei Beispielen lässt sich herausstellen, dass die lyriktypischen ‚Momentaufnahmen‘ zu einer ‚zäsurierten Erzählung‘ verknüpft werden können, mithin ‚Zeiträume‘ durch ‚Zeitpunkte‘ erzählt werden. Zentral für diese Annahme ist, dass eine rekonstruierbare Äußerungsinstanz als eine die einzelnen Texte übergreifende ‚überzeitliche‘ Einheit wiedererkennbar ist und damit das Zentrum der zyklischen Lektüre darstellt. Die beiden Beispiele entstammen unterschiedlichen Epochen: In einem ersten Schritt soll die zeitliche Strukturierung zweier petrarkistischer RenaissanceSonette Garcilaso de la Vegas72 besprochen und diesen in einem zweiten Schritt eine postmoderne Lebenserzählung gegenübergestellt werden. Die These ist, dass Gedichte ein spezifisch lyrisches Narrativ entwerfen, das durch chronikalische und kausale Zergliederung der Erzählung gekennzeichnet ist. Dieses Phänomen, das besonders der postmodernen Fragmentarisierung entgegenzukommen scheint, ist bereits in früheren Epochen zu beobachten. Die Sonette und Eklogen von Garcilaso de la Vega (ca. 1501–1536) stehen in der Tradition eines zyklischen Petrarkismus. Das Zyklusargument steht häufig in Verbindung mit einer inzwischen überkommenen biographistischen Interpretation, welche in der Angesprochenen der Gedichte die historische Figur Isabel Freire sieht, der Garcilasos Verehrung gegolten haben soll. Brigitte Mager argumentiert hingegen, die Texte Garcilasos seien als Gelegenheitsdichtungen zu verstehen, da sie nicht zyklisch angeordnet seien und keine teleologische Orientierung aufwie-

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72

Vgl. Hühn (Anm. 40), S. 14. Frank (Anm. 55), S. 93. Vgl. zu dieser Argumentation Frauke Bode: Barcelona als lyrischer Interferenzraum. Die Poetik der Komplizität in spanischen und katalanischen Gedichten der 1950er und 1960er Jahre. Carlos Barral – Gabriel Ferrater – Jaime Gil de Biedma – Ángel González – José Agustín Goytisolo. Bielefeld 2012, insb. Kapitel 5, S. 181–191. Garcilaso de la Vega: Poesía completa. Hrsg. von Juan Francisco Alcina. Madrid 51998.

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sen.73 Unabhängig von der positivistischen Position, die in einer relativierten Variante als „biografía poética“74 aufgefasst wird, und von Magers Argumentation gegen die Zyklik machen Garcilasos Gedichte jedoch deutlich, dass verschiedene lyrische Texte einem übergreifenden Sprecher/lyrischen Ich zugeordnet werden können: Selbst ohne einen konkreten temporaldeiktischen Hinweis auf den genauen Zeitpunkt der Äußerung ermöglicht eine einheitliche Aussageinstanz, oftmals verbunden mit thematischen und isotopischen Kontinuitäten, verschiedene lyrische Texte derselben Sprechinstanz und damit unterschiedlichen Äußerungszeitpunkten zuzuordnen. Eine moderat zyklische Lektüre der beiden bekannten Sonette Garcilasos, Nr. XXIII und XXV, ergibt sich bereits aus dem petrarkistischen Intertext. Zwar fehlt eine feste Ordnung und Chronologie,75 dennoch lässt sich mithilfe der Äußerungsinstanz und durch die Ansprache der geliebten und dem Sprecher versagt bleibenden Frau eine Geschichte rekonstruieren. Diese lässt, unabhängig von ihrer biographischen Validität, eine Sequentialität erkennen, die sich aus dem Canzoniere Petrarcas ableitet. Im Soneto XXIII richtet sich der Sprecher an die Adressatin mit der wohlbekannten Aufforderung, ihre Schönheit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen.76

5

Soneto XXIII En tanto que de rosa y d’azucena se muestra la color en vuestro gesto, y que vuestro mirar ardiente, honesto, con clara luz la tempestad serena; y en tanto qu’l cabello, que’n la vena del oro s’escogió, con vuelo presto por el hermoso cuello blanco, enhiesto,

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76

Brigitte Mager: Imitatio im Wandel. Experiment und Innovation im Werk von Garcilaso de la Vega. Tübingen 2003, S. 20. Juan Francisco Alcina: „Introducción“. In: Garcilaso de la Vega: Poesía completa. Hrsg. von Juan Francisco Alcina. Madrid 51998, S. 11–60, hier S. 20. Dies mag unter anderem dem Umstand geschuldet sein, dass Garcilasos Texte posthum veröffentlicht wurden. Nach Garcilasos Tod kümmerte sich zunächst sein Freund Boscán und schließlich dessen Witwe um die Veröffentlichung, so dass die erste Ausgabe 1543 zusammen mit dem Gesamtwerk Boscáns erschien: Las obras de Boscán y algunas de Garcilaso de la Vega. Vgl. Alcina (Anm. 74), S. 59 f. Die erste kommentierte Fassung von 1576 führt die heute noch gebräuchliche Nummerierung der Sonetos von I bis LX sowie der Canciones von I bis V, der Elegías I und II, der Églogas I bis III und der Coplas von I bis VIII ein. Vgl. Garcilaso de la Vega: Obras. Con anotaciones y emiendas [sic] del maestro Francisco Sanchez. Madrid 1600. Als konkretes Vorbild diente Garcilaso das Sonett Mentre che l’aureo crin v’ondeggia intorno seines Dichterfreundes Bernardo Tassos. Im Aufgreifen des antiken Motivs collige virgo rosas gehen die Petrarkisten freilich schon über den Canzoniere hinaus, vgl. Mager (Anm. 73), S. 109 f.

Zeit in der Lyrik

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el viento mueve, esparce y desordena: coged de vuestra alegre primavera 10 el dulce fruto antes que’l tiempo airado cubra de nieve la hermosa cumbre. Marchitará la rosa el viento helado, todo lo mudará la edad ligera por no hacer mudanza en su costumbre.77 Sonett XXIII Solange von Rosen und Lilien die Farbe sich in eurem Antlitz zeigt, und euer glühend aufrichtiger Blick mit hellem Licht den Sturm besänftigt; 5 und solange der Wind das aus der Goldader erwählte Haar mit schnellem Flug um den herrlich weißen, geraden Hals bewegt, verstreut und zerzaust: Pflückt eures frohen Frühlings 10 süße Frucht, bevor die zornige Zeit das schöne Haupt mit Schnee bedeckt. Welken wird die Rose im eisigen Wind, die eilende Zeit wird alles wandeln, um nicht zu wandeln ihren Lauf.78

Das carpe-diem-Motiv („coged de vuestra alegre primavera“, V. 9 f.), welches im oben zitierten Góngora-Beispiel barock-nihilistisch gewendet wird (tierra – humo – polvo – sombra – nada), ist pragmatisch in eine Sprechsituation eingebunden, die eine ‚typisch lyrische‘ ‚Momentaufnahme‘ wiedergibt: Der Sprecher verortet sich durch die Temporaldeiktika der Verbformen zum einen in einer unbestimmten Gegenwart („se muestra la color“, V. 2), welche durch die Orientierung auf die Zukunft („coged“, V. 9; „Marchitará“, V. 12) vorhersagenden Charakter und Allgemeingültigkeit erlangt. Die Flüchtigkeit der Zeit wird nicht nur durch diesen Wechsel aus dem Präsens der Quartette zum Imperativ des ersten und zum Futur des zweiten Terzetts verdeutlicht, sondern im Besonderen durch die syntaktische Wiederholung des „en tanto“ – „solange“ – am Beginn der beiden Quartette. Die Betrachtung der geliebten Dame anhand des höfischpetrarkistischen Schönheitskatalogs79 bezieht sich noch ganz auf die Gegenwart, wird aber sogleich in einen episodischen Zukunftsausblick für

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79

Garcilaso (Anm. 72), S. 111. Meine Übersetzung, F. B. Einige Passagen stimmen mit der Übersetzung von Sebastian Neumeister überein. Vgl. Sebastian Neumeister: „Die Lyrik im goldenen Zeitalter“. In: Hans-Jörg Neuschäfer (Hrsg.): Spanische Literaturgeschichte. Stuttgart/Weimar 32006, S. 103– 123, hier S. 105. Zu den Elementen, mit denen Petrarca Lauras Schönheit beschreibt, vgl. Hugo Friedrich: Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a. M. 1964, S. 202 f.

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die konkrete Adressatin überführt, der auch die allegorisch-allgemeingültige Lesart legitimiert. Das Soneto XXV verhandelt den Eintritt dieses Zukunftsausblickes, wie die Analyse zeigt. Lokaldeiktisch ist die Sprechsituation genau verortet: Am Grab der Geliebten („en poco espacio yacen los amores“, V. 5; „esta sepultura“, V. 9) richtet sich das lyrische Ich zunächst an das Schicksal („Oh hado“, V. 1), um im Folgenden in einer Apostrophe die Geliebte selbst anzusprechen („aunque sin fruto allá te sean“, V. 11) und erneut einen Zukunftsausblick zu geben: den des Wiedersehens im Jenseits. Soneto XXV ¡Oh hado secutivo en mis dolores, como sentí tus leyes rigurosas! Cortaste’l arbol con manos dañosas y esparciste por tierra fruta y flores. 5 En poco espacio yacen los amores, y toda la esperanza de mis cosas, tornados en cenizas desdeñosas y sordas a mis quejas y clamores. Las lágrimas que en esta sepultura 10 se vierten hoy en día y se vertieron recibe, aunque sin fruto allá te sean, hasta que aquella eterna noche escura me cierre aquestos ojos que te vieron, dejándome con otros que te vean.80 Sonett XXV Oh Schicksal, Ursache meiner Schmerzen, wie musste ich deine Härte spüren! Du fälltest den Baum mit zerstörerischen Händen und verstreutest Blüten und Früchte am Boden. 5 Auf engem Raum liegt meine Liebe, und meine ganze Hoffnung, verwandelt zu Asche, hochmütig und taub gegenüber meinen Wehklagen. Die Tränen, die sich auf dieses Grab 10 am heutigen Tage ergießen und ergossen haben, nimm sie an, auch wenn sie dir dort nichts nutzen, bis jene ewige dunkle Nacht mir die Augen, die dich sahen, schließt, und ich dich mit anderen sehen möge.81

Konzentriert man sich auch hier auf die pragmatische Analyseebene, zeigt sich, dass die zeitliche Konstitution der Sprechsituation erneut auf den Moment bezogen ist, jedoch aus der Vergangenheit abgeleitet wird: Das

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Garcilaso (Anm. 72), S. 115. Meine Übersetzung, F. B.

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erste Quartett erläutert rückblickend den zerstörerischen Eingriff des Schicksals, welcher zur gegenwärtigen Situation geführt hat. Im zweiten Quartett und in den Terzetten überwiegt das Präsens, die Jenseitshoffnung wird durch Subjunktive angezeigt („te sean“, V. 11; „me cierre“, V. 13, „te vean“, V.14). Die einzigen adverbialen Zeitangaben bestärken diesen Gegenwarts- („hoy en día“, V. 10) und Zukunftsbezug („hasta que“, V. 12) als Pendant zum „En tanto que“ des Soneto XXIII. Beide Texte für sich bestärken die These von der lyrischen Situationsbezogenheit. Im Gesamtkontext der Gedichte Garcilasos stellen sie jedoch zwei Episoden einer Geschichte dar. Sicherlich ist die petrarkistische Zyklik nur eine Lektüremöglichkeit, wie Mager überzeugend herausgearbeitet hat. Sie zeigt, dass Garcilaso die Oberfläche des petrarkistischen Diskurses unterläuft und dialogisch Gegendiskurse aufnimmt: „[H]inter dem Ausdruck von Liebe und Leid verbirgt sich in den meisten Fällen eine distanziert kritische, oft ironische Grundhaltung.“82 Dennoch lassen die beiden Beispiele erkennen, dass die semantische Rekurrenz sogar bei wechselnden Sprecher- und Angesprochenenformen (im Soneto XXIII manifestiert sich der Sprecher nicht als lyrisches Ich und spricht die Dame mit dem höflichen „vos“ an, während im Soneto XXV das lyrische Ich sowohl das Schicksal als auch die Dame mit „tú“ apostrophiert) die Sequenz isoliert gedruckter Texte überschreitet und eine Kohärenz von Pragmatik und Semantik, von Äußerungsinstanz und Thema suggeriert, welche durch die Personaldeixis nicht konterkariert wird. Zwar bleibt der Sprecher im Soneto XXIII unpersönlicher als das lyrische Ich in Soneto XXV, die aufgerufenen Topoi ermöglichen jedoch die Fortsetzung des Liebesleidens im (metaphorischen oder tatsächlichen) Tod der Angesprochenen. Selbst die Ironisierung des Petrarkismus bedarf zunächst dieser semantischen und pragmatischen Episodik, welche die verhandelten ‚Momente‘ chronikalisch – wenn auch nicht chronologisch – miteinander verbindet. Der denotative Zeitraum der Erzählung wird somit über punktuelle „Liebessituation[en]“83 vermittelt; es werden episodische Liebesereignisse erzählt, deren konnotative und allegorische Zusatzsemantisierung – wie dies Literatur zumeist gestattet – erst in einem zweiten Schritt attribuiert werden. Auch an einem (post-)modernen Beispiel, dem Gesamtwerk von Jaime Gil de Biedma (1929–1990), das zuerst 1975 und mit Ergänzungen 1982 unter dem Titel Las personas del verbo (Die Personen des Verbs), erschien, lässt sich zeigen, dass die einzelnen Gedichte innerhalb der Veröffentlichung nicht isoliert dastehen, sondern semantische Kontinua ausbilden:

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Mager (Anm. 73), S. 225. Mager (Anm. 73), S. 225. Mager argumentiert mit diesem Aspekt gegen die Zyklik.

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Die Kontinuität der Äußerungsinstanz und eine gewisse Chronologie, die auf den Tod dieser Figur ausgerichtet ist (vgl. das Gedicht „Después de la muerte de Jaime Gil de Biedma“ – „Nach dem Tod von Jaime Gil de Biedma“84) erlauben es zudem, binnenpragmatisch eine Senderfigur als übergreifende und die ‚Episoden‘ der einzelnen Gedichte integrierende Äußerungsinstanz zu identifizieren, welche als Erzähler einer episodischen Geschichte als Klammer für die einzelnen Texte dient und ihnen Kontinuität verleiht.85 In vielen Gedichten Biedmas manifestiert sich ein lyrisches Ich, das mit drei zentralen semantischen Komplexen – Erinnerung an Kindheit und Jugend, Liebe und der Prozess des Älterwerdens – einhergeht. In Verbindung mit diesen thematischen Konstanten finden sich die Motive der Illusionshaftigkeit des Erlebens sowie der Vergänglichkeit der Zeit. Auch pragmatisch bleibt die Sprechsituation bei diesen Sprechgegenständen über die Gesamtveröffentlichung hinweg vergleichbar: So wird in den memoria-Texten der Erinnerungsprozess dominant aus der Gegenwart heraus konstituiert und die Sprechinstanz in „erzählendes“ und „erlebendes Ich“86 bzw. „erinnerndes“ und „erinnertes Ich“87 gespalten, während die Ansprache eines Du die Gedichte mit Liebesthematik charakterisiert. Antònia Cabanilles liest Biedmas Las personas del verbo daher als über das Gesamtwerk aufgebaute Lebensgeschichte des lyrischen Ich.88 Analog zur Auffassung lebensweltlicher Biographien als rhetorische Konstrukte89 kann man die einzelnen Gedichte als „narrative Einheiten“ bezeichnen, die beim Erzählen gebildet werden und in sich „der temporalen Abfolge der gemachten Erfahrung“90 entsprechen – wenn sie auch nicht linear chronologisch präsentiert werden. Das heißt, dass nicht mit jedem Gedicht eine in sich geschlossene Pragmatik und Semantik aufgebaut, son-

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90

Jaime Gil de Biedma: Las personas del verbo. Die Personen des Verbs. Übers. von Sven Limbeck und Manuel Monge Fidalgo. Berlin 2004, S. 192–197. Vgl. hier und im Folgenden Bode (Anm. 71), insb. S. 181–191. Leo Spitzer: „Zum Stil Marcel Proust’s“. In: Ders.: Stilstudien. Zweiter Teil. Stilsprachen [1928]. München 21961, S. 365–497, hier S. 448. Vgl. „narrating“ und „experiencing self“. Dorrit Cohn: Transparent Minds. Narrative Modes for Presenting Consciousness in Fiction. Princeton 1978, S. 143. Vgl. Antònia Cabanilles: La ficción autobiográfica. La poesía de Jaime Gil de Biedma. Castellón 1989, S. 144. Vgl. Hans-Christoph Koller: „Biographie als rhetorisches Konstrukt“. In: BIOS 6 (1993), S. 33–45. Die Beobachtung bezieht sich auf mündliche Lebenserzählungen im Rahmen biographischer Interviews. Vgl. auch das Konzept der narrativen Identität bei Paul Ricœur: Zeit und Erzählung [1983–1985]. 3 Bde. München 1988–1991, Bd. III: Die erzählte Zeit [1991], S. 395 f. William Labov/Joshua Waletzky: „Erzählanalyse: Mündliche Versionen persönlicher Erfahrung“. In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Eine Auswahl. Texte zur Theorie der Literaturwissenschaft. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1973, S. 78–126, hier S. 79.

Zeit in der Lyrik

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dern eine Äußerungsidentität über die einzelnen lyrischen Einheiten hinweg konstruiert wird. Zwei Beispiele erzählen in ihrer ausgeprägten Episodik von zwei Lebensstationen und lassen durch ihre Temporaldeixis zeitliche Konstituenten thematisch werden: implizit im Gedicht Infancia y confesiones („Kindheit und Bekenntnisse“) und explizit in No volveré a ser joven („Ich werde nie wieder jung sein“) werden. Auf der pragmatischen Ebene konstituiert die Temporaldeixis in Infancia y confesiones91 das lyrische Ich als erinnerndes und erinnertes Ich, das über den intermediären Blickpunkt des jugendlichen Ich („Cuando yo era más joven“, V. 1) einen doppelten Rückblick auf seine Kindheit vornimmt („Mi infancia eran recuerdos de una casa“, V. 10). Entscheidend für die zeitliche Konstitution der Sprechsituation sind die Verbtempora, die einerseits über das vorherrschende Imperfekt einen eminenten Vergangenheitsbezug deutlich machen, andererseits in der letzten Strophe eine Konsequenz für das jugendliche erinnernde Ich und die aktuelle Situation des Sprechers aufzeigen („me quedó“, V. 36). Infancia y confesiones

5

A Juan Goytisolo

Cuando yo era más joven (bueno, en realidad, será mejor decir muy joven) algunos años antes de conoceros y recién llegado a la ciudad, a menudo pensaba en la vida. Mi familia era bastante rica y yo estudiante.

Mi infancia eran recuerdos de una casa con escuela y despensa y llave en el ropero, de cuando las familias acomodadas, como su nombre indica, 15 veraneaban infinitamente en Villa Estefanía o en La Torre del Mirador y más allá continuaba el mundo con senderos de grava y cenadores 20 rústicos, decorado de hortensias pomposas, todo ligeramente egoísta y caduco. Yo nací (perdonadme) en la edad de la pérgola y el tenis. 10

____________ 91

Vgl. die ausführlichere Analyse in Bode (Anm. 71), S. 81–83.

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Frauke Bode

La vida, sin embargo, tenía extraños límites y lo que es más extraño: una cierta tendencia retráctil. Se contaban historias penosas, inexplicables sucedidos dónde no se sabía, caras tristes, 30 sótanos fríos como templos. Algo sordo perduraba a lo lejos y era posible, lo decían en casa, quedarse ciego de un escalofrío. 25

35

De mi pequeño reino afortunado me quedó esta costumbre de calor y una imposible propensión al mito. Kindheit und Bekenntnisse

5

Für Juan Goytisolo

Als ich jünger war (also gut, in Wirklichkeit sollte man sagen, sehr jung), einige Jahre, bevor ich euch kennen lernte und gerade erst in die Stadt gezogen, dachte ich oft über das Leben nach. Meine Familie war ziemlich reich und ich Student.

Meine Kindheit bestand aus Erinnerungen an ein Haus mit Schule und Speisekammer und Schlüssel am Kleiderschrank, an damals, als die wohlhabenden Familien, wie ihr Name schon sagt, 15 endlos Ferien machten in der Villa Estefanía oder La Torre del Mirador und abseits ging das Leben weiter mit Kieswegen und rustikalen Gartenlauben, 20 geschmückt mit prachtvollen Hortensien, alles ein wenig egoistisch und altmodisch. Ich wurde geboren (verzeiht mir) im Zeitalter von Laubengängen und Tennis. 10

25

Das Leben hatte jedoch sonderbare Grenzen, und, was noch sonderbarer ist: eine gewisse Tendenz, sich zurückzunehmen. Man erzählte traurige Geschichten, unerklärliche Geschehnisse,

Zeit in der Lyrik

30

35

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man wusste nicht wo, traurige Gesichter, Keller so kalt wie Tempel. Etwas Dumpfes verharrte in der Ferne und man konnte, so hieß es zu Hause, von einem Frösteln blind werden. Von meinem kleinen glücklichen Reich blieb mir die Gewohnheit der Wärme und eine unsägliche Neigung zum Mythos. 92

Betrachtet man nun die syntaktische Ebene in der Erzählung von der behüteten Kindheit des Sprechers („mi pequeño reino afortunado“, V. 35), so lässt sich beobachten, dass Zäsuren als räumliche und zeitliche Einschnitte fungieren. Die Strophensprünge gliedern nicht nur die Erzählabschnitte, sondern auch die Zeitebenen. In der ersten Strophe stellt sich der Sprecher als erinnerndes Ich vor und springt mit der zweiten Strophe eine Zeitebene zurück, zum durch das Imperfekt („Mi infancia eran recuerdos […]“, V. 10) angezeigten ‚erinnerten erinnernden Ich‘. Im Verlauf der zweiten Strophe nimmt der Sprecher noch einmal den Gegenwartsbezug auf („perdonadme“, V. 22), der auch den Kommentar zu Beginn der dritten Strophe prägt. Der Einschub in Vers 27 („Se contaban historias penosas“) zeigt dann aber den Perspektivenwechsel zum erlebenden Ich an. Ebenso trägt die Zäsur zwischen vorletzter und letzter Strophe zur zeitlichen Gliederung bei, indem sie den Sprung vom Erleben zur Reflexion für das erinnernde lyrische Ich in der Gegenwart des Sprechens („esta costumbre de calor“, V. 36) aufzeigt. Noch deutlicher wird die Gliederungsfunktion des typographischen Satzes bei räumlichen Abständen, welche durch Einrückungen und Enjambements optisch wieder aufgenommen werden („y más allá continuaba el mundo“, V. 18; „Algo sordo / perduraba a lo lejos“, V. 31 f.). In No volveré a ser joven besteht eine ähnliche rückblickende Sprechsituation: Das lyrische Ich beschreibt den Wandel in seinem Blick auf das Leben und ruft damit die topoi des tempus fugit („Pero ha pasado el tiempo“, V.9) und des Lebens als Bühne („las dimensiones del teatro, V. 8; „el único argumento de la obra“, V. 12) auf. In der Betonung der vanitas stellt sich der Sprecher als im Alterungsprozess weiter fortgeschritten dar als noch in Infancia y confesiones, in dem der Blick auf die Vergangenheit die Gegenwart bestimmte, während hier die vergangene Zeit den Blick auf Gegenwart und Zukunft dominiert.

____________ 92

Zuerst veröffentlicht in Compañeros de viaje (Weggefährten, 1959). Übersetzung leicht modifiziert nach Sven Limbeck und Manuel Monge Fidalgo, vgl. Gil de Biedma (Anm. 84), S. 52– 55.

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Frauke Bode

No volveré a ser joven Que la vida iba en serio uno lo empieza a comprender más tarde —como todos los jóvenes, yo vine a llevarme la vida por delante. 5

10

Dejar huella quería y marcharme entre aplausos —envejecer, morir, eran tan sólo las dimensiones del teatro. Pero ha pasado el tiempo y la verdad desagradable asoma: envejecer, morir, es el único argumento de la obra. Ich werde nie wieder jung sein Dass das Leben es ernst meinte, beginnt man erst später zu verstehen – wie alle jungen Leute riss ich das Leben an mich.

5

10

Eindruck machen wollte ich und unter Beifall abgehen – alt werden, sterben, das waren nur die Dimensionen des Theaters. Aber die Zeit ist vergangen und die unangenehme Wahrheit wird deutlich: Altern, Sterben ist die einzige Handlung des Stücks.93

Selbstredend kann No volveré a ser joven isoliert rezipiert werden, als, wie Eagleton formuliert, „moralische“94 Äußerung über das Leben. Diese erscheint im Kontext der Gesamtausgabe jedoch als Teil einer größeren Erzählung, in der jedes Gedicht einen Aspekt zur Geschichte der Sprecherinstanz beiträgt. Wie die Beispiele ausschnitthaft gezeigt haben, verbindet die lyrische Gattung durch ihre fragmentarische Form isolierte Erlebnisse, Erfahrungen und Gedanken des Sprechers zu einem narrativen Mosaik und greift Fragen der Einheit und Identität performativ auf. Somit scheint gerade die Lyrik besonders dafür geeignet zu sein, ein Leben in seiner Ansammlung

____________ 93 94

Zuerst veröffentlicht (zu Lebzeiten) in den Poemas póstumos (Posthume Gedichte, 1969). Übersetzung leicht modifiziert nach Sven Limbeck und Manuel Monge Fidalgo, vgl. Gil de Biedma (Anm. 84), S. 190 f. Vgl. Anm. 4.

Zeit in der Lyrik

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von Ereignissen, von „Vorlieben und Neigungen“,95 wie Roland Barthes es formuliert, zu präsentieren. Gedichte ermöglichen daher eine spezifisch lyrische (Lebens-)Erzählung, deren Fragmente in ihrer Form den einzelnen Gedichttexten entsprechen. Die Sprechsituation stellt Kontinuität zwischen den einzelnen Episoden her, sofern der Sprecher wiedererkannt werden kann. Wie in erzählenden Texten im engeren Sinne ist dafür keine lineare Chronologie notwendig: Zeitsprünge zwischen einzelnen Erzähleinheiten und Achronie eignen im Besonderen postmodernem lyrischen Erzählen. Einen historischen Anknüpfungspunkt stellen die petrarkistischen Gedichtzyklen dar, die jedoch viel mehr durch ein klares thematisches Zentrum sowie einen konkreten Fluchtpunkt und Adressaten der Rede gekennzeichnet sind. Das heißt, dass hier sowohl die Binnenpragmatik und Semantik der Äußerung als auch die Systemreferenz zur Konstitution der die einzelnen Gedichttexte überspannenden Erzählung beitragen, während sich die postmoderne Erzählung rein binnenpragmatisch aufbaut. Der Begriff des ‚intermittenten Narrativs‘ lässt sich daher auf Texte verschiedener Epochen anwenden – und ist mitnichten ein ausschließlich (post-)modernes Phänomen –, insofern ein „narratives Substrat“96 besteht: Es ergibt sich wesentlich aus der Addition des Erzählten. Als Akkumulation von einzelnen Erzähleinheiten, die dem Narrativ mehr oder weniger konsistent zugeordnet werden können, ließe sich das intermittente Narrativ daher als ein möglicher Erzählmodus der Lyrik im Allgemeinen fassen, indem einzelne Gedichte, unabhängig von einer narrativen Konstitution des Einzeltextes, sequentiell gereiht werden und damit einen zeitlichen Ablauf darstellen. Literatur Alcina, Juan Francisco: „Introducción“. In: Garcilaso de la Vega: Poesía completa. Hrsg. von Juan Francisco Alcina. Madrid 51998, S. 11–60. Barthes, Roland: Sade, Fourier, Loyola [1971]. Übers. von Maren Sell und Jürgen Hoch. Frankfurt a. M. 1974. Bode, Frauke: Barcelona als lyrischer Interferenzraum. Die Poetik der Komplizität in spanischen und katalanischen Gedichten der 1950er und 1960er Jahre. Carlos Barral – Gabriel Ferrater – Jaime Gil de Biedma – Ángel González – José Agustín Goytisolo. Bielefeld 2012. Borkowski, Jan/Winko, Simone: „Wer spricht das Gedicht? Noch einmal zum Begriff lyrisches Ich und zu seinen Ersetzungsvorschlägen“. In: Hartmut Bleumer/Caroline

____________ 95 96

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Frauke Bode

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ANTONIUS WEIXLER (Wuppertal)

Zeit im Drama. Max Frischs Die Chinesische Mauer als ein Spiel mit Präzipitation, Gegenwärtigkeit und Simultaneität 1. Von der Einheit der Zeit zur Vielfalt erzählter/dargestellter Zeiten 153 – 1.1 Dramatisches Erzählen als Gegenwärtigkeit und Präzipitation 156 – 1.2 Die drei Zeitebenen des Dramas 158 – 1.3 Sukzession und Simultaneität 162 – 1.4 Ordnung, Dauer und Frequenz 163 – 2. Max Frischs „Die Chinesische Mauer“ als ein Spiel mit Präzipitation, Gegenwärtigkeit und Simultaneität 166 – 2.1 Einheit der Zeit 169 – 2.2 Ironisierung der Präzipitation 171 – 2.3 Gegenwärtigkeit zwischen Repetition und Iteration 173 – 2.4 Simultaneität 175

On the stage is always now. Thornton Wilder1

1. Von der Einheit der Zeit zur Vielfalt erzählter/dargestellter Zeiten Zeit ist ebenso wie Raum und Handlung vermeintlich eines der ausgeprägt konventionalisierten Elemente im Drama. Tatsächlich ist die strenge Anwendung der Regel von der Einheit der Zeit eine Besonderheit des Barock- und Renaissance-Dramas, so dass sich in beinahe allen Epochen Beispiele für Theaterstücke finden lassen, die Zeit auf vielfältige Weise gestalten. Dramentexte haben – wie nicht zuletzt der vorliegende Beitrag zeigen wird – kaum weniger Möglichkeiten in der Ausgestaltung dargestellter und erzählter Zeiten als Erzähltexte.2 Die Norm der drei Einheiten wird Aristoteles zugeschrieben, obwohl dieser in seiner Poetik lediglich für die Handlung bzw. den ‚Mythos‘ die Einheit verbindlich vorschreibt und für Zeit und Raum lediglich eine „Tendenz“3 vorgibt. Nach Aristoteles versucht die „Tragödie […], sich nach Möglichkeit innerhalb eines einzigen Sonnenumlaufs zu halten oder

____________ 1 2 3

Thornton Wilder: Playwrights on Playwriting. New York 1982, S. 114. Eberhard Lämmert konstatiert bereits 1955, dass sich „der dramatische Dichter all der Darbietungsmittel, die auch dem Epiker an die Hand gegeben sind“, bedienen kann. Eberhard Lämmert: Bauformen des Erzählens. Stuttgart 81993, S. 212. Vgl. Manfred Pfister: Das Drama. München 112001, S. 331.

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Antonius Weixler

nur wenig darüber hinauszugehen“.4 Aristoteles strebt für das Drama eine „organische Geschlossenheit“5 an, die in der Darstellung die Totalität einer illusionistischen Welt sicherstellen und deshalb jede unnötige Abschweifung und Digression vermeiden soll. Die zeitliche Ausdehnung der Handlung hat deshalb gerade lange genug zu sein, um Peripetie und Anagnorisis zu ermöglichen, darüber hinausgehende Verwirrung aber zu vermeiden.6 Zur Norm wird die Einheit der Zeit erst mit der AristotelesInterpretation der Renaissance. Lodovico Castelvetro fordert in La Poetica d’Aristotele vulgarizzata (1570) ebenso wie Pierre Corneille in Discours sur les trois unités (1660) nicht nur, die Handlung auf einen Tag zu begrenzen, sondern sogar die Deckung von dargestellter Zeit und der Zeit der Darstellung.7 Im 18. Jahrhundert wird diese strenge Norm u. a. von Gotthold Ephraim Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie (1767–1769) einer Kritik unterzogen.8 Lessing etwa urteilt über Voltaires Mérope (1736): Die Worte dieser Regel hat er erfüllt, aber nicht ihren Geist. Denn was er an einem Tage tun läßt, kann zwar an einem Tage getan werden, aber kein vernünftiger Mensch wird es an einem Tage tun.9

Sowohl die strenge Normsetzung der Zeitdarstellung in der Renaissance als auch die Kritik daran wurde jeweils mit den rezeptionsästhetischen Idealen Wahrscheinlichkeit und Glaubwürdigkeit begründet. Hinter all diesen Positionen steckt eine trotz aller Unterschiede nicht in Frage gestellte illusionistische Wirkungsintension, auf der Bühne durch eine semipermeable vierte Wand eine Handlung unmittelbar und folglich ohne Eingriff einer erzählenden oder ordnenden Instanz wie gegenwärtig zu präsentieren. Bertolt Brechts Durchbrechung dieses Illusionismus durch eine Episierung der klassisch-dramatischen Konvention ist daher eng damit verbunden, den sukzessiven Handlungsverlauf durch Zeitbrüche und -sprünge zu überwinden. Aufgrund der wirkmächtigen Unterteilung der Literatur in die drei Naturformen betrachtete man das Drama lange Zeit (auch institutionali-

____________ 4 5 6 7 8

9

Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2008, S. 17. Vgl. Hans-Thies Lehmann: Das postdramatische Theater. Frankfurt a. M. 52011, S. 353. Vgl. Lehmann (Anm. 5), S. 355. Vgl. Pfister (Anm. 3), S. 331; Lehmann (Anm. 5), S. 356. In England liefert Samuel Johnson eine ganz ähnliche Kritik an der allzu strengen Normanwendung. Vgl. Samuel Johnson: Johnson on Shakespeare. Hg. v. Arthur Sherbo. New Haven 1968. Johnson und Lessing entwickeln ihre Beobachtungen jeweils aus ihrer Lektüre Shakespeares, der in seinen Werken sehr frei mit den drei Einheiten umgeht. Vgl. Pfister (Anm. 3), S. 332; Brian Richardson: „Drama and Narrative“. In: David Herman (Hrsg.): The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge 2007, S. 142–155, hier S. 148. Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie. In: Werke. Vierter Band. Dramaturgische Schriften. Hg. v. Herbert G. Göpfert. München 1973, S. 229–720, hier S. 440. Vgl. dazu auch Pfister (Anm. 3), S. 332.

Zeit im Drama

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siert) getrennt von Erzähltexten und Lyrik. Anstatt die Gemeinsamkeiten des storytelling zu konzedieren, wurde in den Disziplinen lange Zeit über Abgrenzungskriterien zwischen Erzähl- und Dramentexten debatiert.10 In klassischen Positionen der Erzählforschung werden die Gattungen vorwiegend mittels des Kriteriums der Mittelbarkeit, in der literatur- und theaterwissenschaftlichen Dramenforschung anhand des Aspekts der Gegenwärtigkeit (siehe 1.2) unterschieden. Die klassische Unterteilung in Dramatik und Epik und damit verbunden auch die Zuständigkeitsbeschränkung von Dramentheorie und Narratologie ist selbst historisch. Bekanntlich hat Aristoteles die Gattungen nur nach der Art ihrer Nachahmung unterschieden, die Erzählfähigkeit des Dramas aber nicht in Frage gestellt. Und in ihrer postklassischen Phase hat die Narratologie die historisch-generischen Einschränkungen ihres Instrumentariums zu reflektieren begonnen.11 Mit den Versuchen, das Erzählen transgenerisch zu bestimmen, wurde auch das Drama für erzähltheoretische Untersuchungen (wieder)entdeckt.12

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11

12

Mit den entsprechenden Bezeichnungen unterscheidet man Berichten oder telling von Darstellen oder showing. In der klassischen Phase der Narratologie führte diese Differenzierung dazu, Dramentexte cum grano salis als nicht erzählend zu verstehen und aus dem Gegenstandsbereich der Narratologie auszuschließen. Auch heute noch finden sich Stimmen, die die Erzählfähigkeit des Dramas in Frage stellen und für einen Genrepurismus plädieren: Vgl. Irina O. Rajewsky: „Von Erzählern, die (nichts) vermitteln: Überlegungen zu grundlegenden Annahmen der Dramentheorie im Kontext einer transmedialen Narratologie“. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 117 (2007), S. 25–68; Stefan SchenkHaupt: „Narrativity in Dramatic Writing: Towards a General Theory of Genres“. In: Anglistik 18.2 (2007), S. 25–42. Auch wenn umfangreiche Arbeiten, die Seymour Chatmans Story and Discourse (1978), David Bordwells Narration in the Fiction Film (1985) oder Markus Kuhns Filmnarratologie (2011) vergleichbar wären, für die Dramennarratologie noch ausstehen, gibt es inzwischen eine ganze Reihe kürzerer Studien, die das narratologische Analyseinstrumentarium auf das Drama übertragen: Neben Richardson (Anm. 8), Jahn (Anm. 12) und Hühn/Sommer (Anm. 12) sind hier vor allem noch zu nennen: Monika Fludernik: „Narrative and Drama“. In: John Pier/José Ángel García Landa (Hrsg.): Theorizing Narrativity. Berlin/New York 2008, S. 355–383; Ansgar Nünning/Roy Sommer: „Diegetic and Mimetic Narrativity: Some further Steps towards a Narratology of Drama“. In: John Pier/José Ángel García Landa (Hrsg.): Theorizing Narrativity. Berlin/New York 2008, S. 331–353. Brian Richardson weist nach, dass die zentralen Kategorien der Erzähltextanalyse auf die Dramenanalyse angewandt werden können, unter anderem im Hinblick auf die narratologische Analyse der Zeit (Vgl. Richardson (Anm. 8), v. a. S. 147–149.). Monika Fludernik führt in ihrem kognitions-narratologischen Ansatz in Towards a ‚Natural‘ Narratology (1996) neben story und discourse als dritte Ebene „performance or enactment“ ein. Monika Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London u. a. 1996, S. 365. Vgl. Peter Hühn/Roy Sommer: „Narration in Poetry and Drama“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL = http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/narration-poetry-and-drama [letzter Zugriff: 1.3.2015]. Vgl. auch Ansgar Nünning/Vera Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002 sowie Marie-Laure Ryan (Hrsg.): Narrative across Media. Lincoln u. a. 2004; Manfred

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Antonius Weixler

Diese Differenzierungen und die damit verbundenen normativen Setzungen sind indes vorwiegend durch die Forschungsperspektive motiviert und kaum durch das Textmaterial zu rechtfertigen. Zustande kommt sie durch eine institutionalisierte Ausdifferenzierung sowie die notorische Verwechslung von Drama und Theater. Generell sind in der Dramen- und Theateranalyse die Ebenen Lesetext, Inszenierung und Aufführung zu unterscheiden. Obwohl die literaturwissenschaftliche Dramenanalyse also praktisch ausschließlich Lesetexte untersucht und interpretiert, behandelt sie diese oftmals wie Inszenierungstexte. Verwechselt werden die Textbasis mit der konkreten Aufführung bzw. Inszenierung, was an der Hypostasierung von Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit in der Dramentheorie zu erkennen ist. 1.1 Dramatisches Erzählen als Gegenwärtigkeit und Präzipitation Während Erzähltexte durch die Anwesenheit einer Erzählinstanz Handlung mittelbar wiedergeben, so die verbreitete Position, wird Handlung im Drama unmittelbar und ohne vermittelnde Kommunikationsinstanz auf einer Bühne wie gegenwärtig präsentiert. Die disziplinäre und generische Trennung hat Folgen für die Bewertung und Bezeichnung der Zeitstruktur im Drama. Die beiden Paradigmen Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit führen dazu, dass in der Dramentheorie Gestaltungselemente, die nicht unmittelbar zeigend sind, die Einheit der Zeit oder die Illusion der Gegenwärtigkeit durchbrechen, als nicht im engeren Sinn ‚dramatisch‘ verstanden werden. Diese Aspekte, die die klassische Norm des Dramas bezüglich Zeit, Raum und Handlung oder den Illusionismus der Unmittelbarkeit durchbrechen, werden in der Nachfolge Brechts als episierend oder ‚undramatisch‘ bezeichnet. Manfred Pfister etwa erläutert, dass die Aufhebung der raum-zeitlichen Geschlossenheit im Drama eine „‚Erzählfunktion‘ impliziert“ und dass derartige Episierungen, die er auch „auktoriale[ ] Intervention“ nennt, umso stärker ausfallen, „je offener die Raumund Zeitgestaltung“ eines Stückes ist.13 Die Gegenwärtigkeit der Aufführungssituation ist in der Theaterwissenschaft als differentia specifica des Dramas und zentrales Abgrenzungskriterium von Epik und Lyrik verbreitet:. Franz H. Link etwa benennt als „primär[es]“ Unterscheidungsmerkmal, dass das Drama „eine fiktive

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13

Jahn: „Narrative Voice and Agency in Drama: Aspects of a Narratology of Drama“. In: New Literary History 32 (2001), S. 659–679; Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. 3., erw. u. überar. Aufl. Berlin/Boston 2014, S. 47–64. Pfister (Anm. 3), S. 335 f.

Zeit im Drama

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Wirklichkeit als existierend darstellt“ und nicht ‚nur‘ berichtet. In Erzähltexten werde die Geschichte als „schon Geschehenes mitgeteilt“, während der Zuschauer im „Drama“ – man beachte erneut die Verwechslung mit dem Theater – „vergangenes, gegenwärtiges oder künftiges Geschehen als Gegenwart“ präsentiert bekomme.14 Diesem Argument ist erstens entgegenzuhalten, dass, allein das Rezeptionsdispositiv und nicht die Textgrundlage betrachtend, auch ein Erzähltext präsentisch perzipiert wird. Eine Beobachtung, die Käte Hamburger bekanntlich dazu bewogen hat, die „fiktiv gegenwärtige“ Wirkung des ‚epischen Präteritums‘ in Erzähltexten zu konstatieren.15 Zweitens dürfte sich ein Zuschauer der Historizität der Ereignisse beispielsweise in Friedrich Schillers Wilhelm Tell (1804) zu jedem Zeitpunkt des Theaterbesuchs durchaus bewusst sein. Und drittens wird auch dieser Illusionismus der Gegenwärtigkeit in offeneren Dramenformen oder zeitgenössischen Inszenierungen durchgängig vermieden.16 Damit die Handlungswiedergabe in einer Theateraufführung ‚naturalistischer‘ und ‚gegenwärtiger‘ erscheint als in Erzähltexten, sind im klassisch-aristotelischen Drama Umstellungen der Chronologie zu vermeiden. Anders gesagt: dramatisches Erzählen erfolgt üblicherweise sukzessiv, im Modus des ordo naturalis. Die Dramenanalyse konzentrierte sich entsprechend auf in der feststehenden chronologischen Reihenfolge vorzunehmende Akzentuierungen, damit die Handlung trotz der geschlossenen Zeitordnung spannend wirkt. Der spezifisch dramatische Spannungsaufbau wurde von Friedrich Schiller als „Præzipitation“ und „steetige[ ] und beschleunigte[ ] Bewegung zu ihrem Ende hin“ beschrieben.17 Dies meint die „strenge Bezogenheit aller Einzelteile auf den Schluß des Dramas“.18 Das klassische Drama ist also von der Überschneidung zweier temporaler Wirkungsästhetiken, Gegenwärtigkeit und Präzipitation, bestimmt. Emil Staiger, der sich dem Zeitaspekt im Drama widmet, bezeichnet die präzipitatorische „Spannung als das Wesen des dramatischen Stils“.19 Und auch

____________ 14 15 16

17 18 19

Franz H. Link: Dramaturgie der Zeit. Freiburg 1977, S. 19. Im Original mit Hervorhebung. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Frankfurt a. M. 21968, S. 78, vgl. zudem S. 59–84. Das heißt nicht, dass hier für eine völlige Gleichartigkeit von Epik und Dramatik plädiert wird. Aber es erscheint nicht unangemessen zu sein, anstatt eine Unterscheidung auf Basis einer Kommunikationssituation vorzunehmen, die einen gedruckten Text mit einer Aufführungssituation vergleicht, zu berücksichten, dass ein Dramentext als Lese-, Inszenierungs- und Aufführungstext rezipiert werden kann. So Schiller in einem Brief an Goethe über die Arbeit an Wallenstein. Friedrich Schiller: Werke. Nationalausgabe. Bd. 29: Briefwechsel: Schillers Briefe 1.11.1796–31.10.1798. Hg. v. Norbert Oellers u. Frithjof Stock. Weimar 1977, Nr. 143, S. 140–142, hier S. 141. Peter Pütz: Die Zeit im Drama. Zur Technik dramatischer Spannung. Göttingen 1970, S. 12 f. Franz Grillparzer parodiert diese dramatische/dramaturgische Konvention in Das Goldene Vließ (1819). Emil Staiger: Grundbegriffe der Poetik. Zürich u. a. 81968, S. 161. Nach Peter Pütz haben darüber hinaus bereits Friedrich Theodor Vischer, Otto Ludwig, Gustav Freytag, Karl

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Peter Pütz stellt die Präzipitation als „dramatisches Aufbauprinzip […], d. h. als Gespanntsein aller Elemente auf das Kommende“20 ins Zentrum seiner Studie zu Zeit im Drama (1970), in der er „das Verhältnis der Zeitdimensionen“ des Früheren, Gegenwärtigen und des Kommenden der Handlung untersucht.21 Diese Orientierung an der Finalität der Handlung (oder „Finalspannung“22) entwickelt sich zu einer der zentralen Konventionen des klassischen Dramas. Als Brecht antritt, mit seinem epischen Theater die Dramenkonventionen zu durchbrechen, stellt er der „Spannung auf den Ausgang“ die alternative Plotstrukturierung einer „Spannung auf den Gang“ entgegen.23 Diese neue Dichotomie aus ‚Was-Spannung‘ und ‚WieSpannung‘ führt Volker Klotz zu seiner bekannten Unterscheidung von „geschlossenem“ (geprägt von Finalspannung) und „offenem Drama“ (mit vorherrschender Detailspannung).24 Nach Klotz differieren beide Formen auch in ihrer Struktur bezüglich der Zeitkonzeption (linear oder dynamisch im geschlossenen, zyklisch oder statisch im offenem Drama), der Art der Präsentation der Vorgeschichte (umfangreiche Vorgeschichte mit spätem point of attack vs. frühem point of attack), dem Tempo (schneller Ablauf vs. gleichmäßiges Tempo) sowie dem dargestellten Zeitumfang der Geschichte (Kürze der dargestellten Zeit gemäß der Einheitenlehre im geschlossenen gegenüber der Darstellung langer oder unbestimmter Zeiträume im offenen Drama).25 1.2 Die drei Zeitebenen des Dramas Günther Müllers Unterscheidung von Erzählzeit und erzählter Zeit ist wiederholt auf die Analyse von Dramentexten übertragen worden: Franz H. Link findet für erstere die Termini „Aufführungszeit“ oder „Spielzeit“ sowie für letztere „Handlungszeit“ oder „gespielte Zeit“26, Peter Szondi

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Büchler und Ronald Peacock die Bedeutung dieser Art der dramatischen Spannung thematisiert. Vgl. Pütz (Anm. 18), S. 230, Anm. 4. Pütz (Anm. 18), S. 11. Pütz (Anm. 18), S. 11. Elke Platz-Waury: Drama und Theater. Eine Einführung. Tübingen 41994, S. 127. Bertolt Brecht: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“. In: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24: Schriften 4. Hg. v. Werner Hecht u. a. Berlin u. a. 2003, S. 78 f. Vgl. Volker Klotz: Geschlossene und offene Form im Drama. München 71975. Vgl. Klotz (Anm. 24); vgl. auch die Überblicksdarstellung dazu in Platz-Waury (Anm. 22), S. 127. Link (Anm. 14), S. 19 bzw. S. 47.

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nennt die beiden ‚Zeiten‘ den „inhaltlichen“ und „formalen Zeitablauf“27, Manfred Pfister „reale Spielzeit“ und „fiktive gespielte Zeit“28 und HansThies Lehmann „theatrale Darstellungszeit“ und „dargestellte Zeit“29. Arnulf Prager unterscheidet als erster drei Zeitebenen: „Handlungszeit“, „Abfassungszeit“ und „Aufführungszeit“.30 In der Dramenanalyse wird die erzählte/dargestellte Zeit noch weiter differenziert in Handlungen, die auf der Bühne als gegenwärtig dargestellt werden (was nicht zwangsläufig chronologisch erfolgen muss), sowie Plotelemente, die nicht auf der Bühne zu sehen sind, aber dennoch zur erzählten Zeit gehören. Bei dieser „zeitlich verdeckten Handlung“31, die simultan oder diachron zur auf der Bühne dargestellten Zeit realisiert werden kann, handelt es sich um eine Spezifität des Dramas. In Erzähltexten liegt die Textgrundlage in gedruckter Form vor, so dass die Erzählzeit anhand der Seitenzahl messbar ist. In der Dramenanalyse führt die Unterscheidung der ‚Text‘-Ebenen Lese-, Inszenierungs- und Aufführungstext dazu, dass auch das Verhältnis der Zeitebenen im Drama komplexer ist. Analog zu den drei ‚Text‘-Ebenen werden im Folgenden die drei ‚Zeiten‘ textbasierte Erzählzeit, Spielzeit und Performanzzeit unterschieden. Mit Lehmann lässt sich die textbasierte Erzählzeit noch weiter in eine „Text-Zeit“ und eine „Zeit des Dramas“ untergliedern.32 Während die Text-Zeit die gesamte Erzählzeit des gedruckten Textes umfasst und damit auch Regieanweisungen und ausführliche Szenarien wie Beschreibungen des Bühnenbildes und der Atmosphäre beinhaltet, ist die Zeit des Dramas die vom Nebentext bereinigte Erzählzeit des Lesetextes. Die Spielzeit – von Link „Aufführungszeit“, von Pfister „reale Spielzeit“, von Lehmann „Zeitdimension der Inszenierung“ und von Richardson „time of reception“33 genannt – basiert ebenfalls auf einem gedruckten Text: Für jede Inszenierung wird in einem Regiebuch gleich einer Partitur festgehalten, welche Abschnitte des Lesetextes übernommen bzw. gestrichen, welche Passagen eventuell durch einen Regisseur ergänzt werden, aber auch welcher Schauspieler wann etwas sagt, wann sie/er wo auf der Bühne steht und auf- bzw. abgeht, wann welche Requisiten be-

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Peter Szondi: Theorie des modernen Dramas (1880–1950). Frankfurt a. M. 141979, S. 150. Der „formale Zeitablauf“ wird von Szondi zudem synonym als „Aufführungszeit“ bezeichnet. Pfister (Anm. 3), S. 369–374. Lehmann (Anm. 5), S. 356. Lehmann spricht auch noch von „dargestellter Zeit“ vs. „Zeit der Darstellung“ (S. 357) sowie von „Zeit des Dramas“ vs. „Zeit der fiktiven Handlung“ (S. 310 f.). Arnulf Prager: Grundlagen der Dramaturgie. Graz/Köln 1952, S. 278 ff. Pütz (Anm. 18), S. 212–218, der „zeitlich“ und „räumlich verdeckte“ Handlungen voneinander unterscheidet. Lehmann (Anm. 5), S. 310. Richardson (Anm. 8), S. 148.

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nutzt werden und wann andere Medien (Musik, Ton, Bild, Film etc.) den reinen Text ergänzen. Die im Regiebuch festgehaltene Aufführungszeit ist jene Erzählzeit, die die idealtypische Umsetzung der Inszenierungsidee umfasst. Von dieser ‚idealen Spielzeit‘ muss noch die konkrete ‚reale Spielzeit‘ unterschieden werden, also jene einmalige „Aufführungsdauer“,34 die je nach Tagesform der Schauspieler und ihrem Sprechtempo, den Pausen, Anschlüssen und gegebenenfalls Fehlern von Abend zu Abend in durchaus überraschendem Ausmaß voneinander abweichen kann. Mit Lehmann, der von der „Zeit des Performance Text“35 spricht, soll als eine weitere Ebene – und nicht nur als eine Unterform der Spielzeit – die Performanzzeit betrachtet werden. Lehmann zählt hierzu „Pausen, Unterbrechungen und Zwischenspiele“, aber auch das Betreten des Theatergebäudes und -saales sowie Essen und Trinken in der Pause. Mithin also alles, was das Theater in einen „sozialen Prozeß“ integriert und als gesellschaftliche Institution bestimmt.36 Das Theater kann die eigene Aufführungssituation – anders als Erzähltexte oder der Film – extradiegetisch thematisieren, reflektieren und hierdurch – was gerade in postmodernen Dramen und/oder „postdramatischen“37 Inszenierungen zentrale Bedeutung erlangt – den Illusionismus einer von der Außenwelt abgegrenzten Diegese bewusst brechen. Weder Erzähltexte noch der Film haben vergleichbare Möglichkeiten, den Beginn und das Ende der Rezeption der bewussten Entscheidung des Rezipienten zu entziehen. Wenn an einem Theaterabend die Schauspieler vor Beginn der Aufführung Plätze im Publikum einnehmen und sich erst nach und nach in ihren Rollen (als Schauspieler und Darsteller) zu erkennen geben oder sie sich in der Pause unter das Publikum mischen, kann dies als Durchbrechung der vierten Wand und als Desillusionierungstechnik eine intendierte Bedeutungsebene der Inszenierung sein. Auch wenn die Szenen einer Aufführung auf mehrere Bühnen verteilt werden und das Publikum mehrmals den Ort wechseln muss, gehört die Zeit der Ortswechsel zur Performanzzeit hinzu.38 Während die erzählte/dargestellte Zeit auf der histoire-Ebene der erzählten/dargestellten Geschichte angesiedelt ist, organisieren und struktu-

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Lehmann (Anm. 5), S. 314. Lehmann (Anm. 5), S. 316. Lehmann (Anm. 5), S. 317. Lehmann (Anm. 5). Else Lasker-Schülers Die Wupper (1909) wurde in der Spielzeit 2014/15 am Schauspiel Wuppertal unter der Regie von Stephan Müller als „theatraler Gang“ durch die Stadt inszeniert, in dessen Verlauf man mehrmals den Ort wechselte, wobei sich Episoden des Stücks mit Ausführungen von Experten zur Stadtgeschichte abwechselten. Inszenierungsidee war es also mit einem Stück über die Stadt Wuppertal auch die Stadt selbst zu ‚erfahren‘ – im übertragen wie im wörtlichen Sinn.

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rieren Spielzeit und Performanzzeit den discours der dramatischen Erzählung. Quer zu dieser Unterscheidung liegt ein Zeitaspekt, den Lehmann „historische Zeit“39 nennt, während Link eine „fiktive[ ] Gegenwart“ von der „Fiktion der Gegenwart“40 und Pfister eine „fiktive[ ] Stufe des Dargestellten“ von der „realen Zeitstufe der Darstellung“ unterscheidet.41 Gemeint ist damit die historische Semantisierung von Zeit(en). Als Beispiel soll die Aufführung von Goethes Iphigenie auf Tauris (1787) dienen, die unter der Regie von Mona Kraushaar in der Spielzeit 2014/15 am Düsseldorfer Schauspielhaus aufgeführt wurde. Als Zuschauer ist man mit folgenden Zeitschichten konfrontiert: Auf die Bühne gebracht wird ein antiker Mythenstoff, die Figuren sind auch in der zeitgenössischen Inszenierung in ihrer Göttergenealogie als Personal der Antike zu erkennen. Auf die Goethe-Zeit deutet neben der Autorschaft die spezifisch Goethe’sche Umdeutung der Katharsis als ‚Ausgleich der Leidenschaften‘, ohne die es kein untragische Ende geben würde. Die strenge metrische Form in alternierend reimenden 5-hebigen Jamben mag man einerseits als ein Merkmal für eine spezifische Schaffensperiode von Goethe deuten (Einfluss seiner Italienreise, nach der er die Prosaversion in Verse umschreibt) und/oder andererseits im erhabenen Rhythmus der Sprache eine Allusion auf die Antike erkennen. Kraushaars Inszenierung wiederum ist eine Gegenwartsinterpretation des Stückes, während die Gestaltung von Bühnenbild und Kostümen eine Zeitlosigkeit bzw. Zeitenthobenheit des Dargestellten symbolisieren. Historische Epochen können also durch Sprache, Kulisse und Kostüme zeitlich fixiert sein. Zeit kann darüber hinaus durch die Integration von Uhren in das Bühnenbild semantisiert werden. Auch in Beispielen, in denen Aufführungen zu ungewöhnlichen Uhrzeiten stattfinden oder die Spiel- und Performanzzeit auf eine die Erwartungshaltung des Publikums durchbrechende Länge verkürzt oder ausgedehnt wird,42 wird das Zeitbewusstsein zu einem bedeutungstragenden Aspekt einer Inszenierung.43

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Lehmann (Anm. 5), S. 316. Seltsamerweise integriert Lehmann diesen Zeitaspekt nicht in seine Systematik, in der er fünf Zeitebenen des Dramas unterscheidet (vgl. S. 309–360). Link (Anm. 14), S. 18. Pfister (Anm. 3), S. 360. Link nennt als Extrembeispiele einerseits Richard Wagners Ring der Nibelungen (1876), der auf eine Aufführungsdauer von 16 Stunden kommt (was das „Höchstmaß an Aufführungsdauer, die dem Zuschauer [noch] zugemutet werden kann“, sei; eine Ansicht, die man mit Link nicht zwingend teilen muss) sowie andererseits Samuel Becketts Atem (1969), das nur wenige Sekunden dauert oder Thornton Wilders Dreiminutenstücke. Link (Anm. 14), S. 45. Generell sind sämtliche Zeiteffekte, die im vorliegenden Sammelband in den Beiträgen der Sektion III.c als semantische Dimensionen von Zeit aufgeführt werden (Präsenz, Simultaneität, Atemporalität, Warten und Erinnerung), auch im Drama möglich. Darüber hinaus wurde in der Dramenforschung auf die sog. double-time in den Stücken Shakespeares, auf

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1.3 Sukzession und Simultaneität Herder bestimmt mit Blick auf Shakespeares Dramen die Zeitstruktur dramatischer Texte als das Zugleich aus „ordine successivorum und simultaneorum“.44 Erzählte/dargestellte Zeit sowie Spiel- und Performanzzeit müssen nicht chronologisch strukturiert sein, werden aber immer sukzessive rezipiert. Die historische Semantisierung der Zeit wiederum macht deutlich, dass in einem gespielten Moment auf der Bühne mehrere Zeitschichten simultan rezipiert werden bzw. bedeutungstragende Zeichenhaftigkeit erhalten können. Diese semantische Simultaneität basiert auf dem plurimedialen Code (Text [Nationalsprache], Auditivität [gesprochene Sprache, Stimme, Ton, Geräusch, Lärm], Visualität [Gestik, Mimik, Bilder, Filme, Kulisse, Requisiten]), der das Drama vom monomedialen literarischen Text unterscheidet (aber z. B. mit dem Film teilt). Pfister unterteilt daher die „Informationsvergabe“ auf „zwei zeitliche Achsen: die Achse der Simultaneität – in jedem Augenblick werden über die verschiedenen Codes und Kanäle gleichzeitig Informationen vermittelt – und die Achse der Sukzession“.45 Eine zweite Spielart der Simultaneität, die szenische Simultaneität, ist eine weitere Spezifität des Theaters, die auch der Film nicht leisten kann.46 Im Theater können zwei Szenen entweder off- oder on-stage simultan erzählt werden. Im ersten Fall kann sich dies auf Geräusche beschränken, es kann aber auch über Filmprojektion ein Geschehen, das nicht auf der Bühne stattfindet, gezeigt werden.47 Pfister zählt auch die mittels Teichoskopie berichteten Ereignisse zu dieser off-stage-Simultaneität, doch ist dies eher als ein diegetischer Ebenenwechsel (als Aspekt der Stimme) zu bezeich-

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widersprüchliche Zeitangaben, alternative Zeitabläufe (Richardson [Anm. 8], S. 149), Wiederholungsfiguren (Szondi [Anm. 27], S. 151) sowie auf Zeitkonzeptionen wie Zyklik, Linearität, Progression und Stasis (Pfister [Anm. 3], S. 374–378) aufmerksam gemacht. Johann Gottfried Herder: Herders Werke, Hg. v. W. Dobbek. Berlin-Ost 1964, Bd. II, S. 256. Zitiert nach Pfister (Anm. 3), S. 361. Pfister verweist in diesem Zusammenhang zudem auf Ernst Hirt: Das Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung. Leipzig 1923, S. 116 ff. Pfister (Anm. 3), S. 122. Eine Ausnahme stellt für den Film natürlich die split-screen-Technik dar bzw. für die Literatur der Abdruck zweier parallel auf einer Seite übereinander oder nebeneinander gedruckter ‚Texte‘. Da es bei gedruckten Texten aber unmöglich ist, diese auch simultan zu lesen, und da der Einsatz von split-screen-Szenen im Film üblicherweise nur über einen kurzen Abschnitt hinweg erfolgt, scheint es sich hierbei doch eher um Ausnahmen zu handeln, die die Regel bestätigen. Im Theater ist das Mittel der szenischen Simultaneität etwa für die Intrigenkonstruktion deutlich bedeutsamer und rechtfertigt daher m. E. die oben konstatierte Spezifität. Das simultan hinter der Bühne ablaufende und nur akustisch vermittelte Geschehen kann nach Pfister sogar eine besonders intensive Spannug erzeugen. Vgl. Pfister (Anm. 3), S. 278.

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nen, da Berichte die chronologische Sukzession der Handlung, nicht aber die innerszenische Textsukzession durchbrechen. Der zweite Fall liegt vor, wenn der Bühnenraum geteilt ist und dadurch – einem Querschnitt durch ein Haus vergleichbar – mehrere Szenen parallel dargestellt werden können wie beispielsweise in Johann Nestroys Zu ebener Erde und erster Stock oder: Die Launen des Glücks (1835). Nestroy hat, um die Parallelität der Darstellung zu betonen, die Armut und Reichtum der jeweiligen Familien gegenüber stellt, sogar den Lesetext in zwei nebeneinander gedruckte Spalten gesetzt, wobei sich simultan vorgetragene Passagen mit nacheinander gesprochenen Abschnitten ablösen.48 Auch wenn in diesen Teilen die Sukzession des gesprochenen Textes erhalten bleibt, bewirkt das Zusammenspiel mit nonverbal präsentierter Handlung eine außergewöhnliche, in dieser Form über einen längeren Zeitraum nur dem Theater mögliche, szenische Simultaneität. 1.4 Ordnung, Dauer und Frequenz Bezüglich der Ordnung können auch im Drama „Rückgriffe“49 (Analepsen) und „Vorgriffe“50 (Prolepsen) und damit sämtliche Anachronie-Formen realisiert werden.51 Die Dramenanalyse interpretiert derartige Vor- und Rückblenden selten als Digressionen der dargestellten Zeit, da analeptische Berichte und proleptische Prophetien, so die auf den dramatischen Paradigmen ‚Unmittelbarkeit‘ und ‚Gegenwärtigkeit‘ basierende Forschungsmeinung, in die sukzessiv voranschreitende Bühnengegenwart integriert werden. Nach Eberhard Lämmert decken sich Erzählzeit und erzählte Zeit im Drama, so dass Anisochronien nur als Bestandteil direkter Rede auftauchen können. Er unterscheidet entsprechend zwischen „gesprochene[r]“, per se chronologisch ablaufender, und „besprochene[r] Zeit“.52 Dauer: Die Hypostasierung der Gegenwärtigkeit dramatischen Erzählens hat mithin den Blick darauf verstellt, dass Dramentexten und Theateraufführungen ebenso die fünf möglichen Erzähltempi zur Verfügung

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Johann Nestroy: Zu ebener Erde und erster Stock oder: Die Launen des Glücks. In: Sämtliche Werke. Stücke 9/II. Hg. v. Jürgen Hein u. a. Wien 2003. Pütz hat dies für das Drama ausführlich analysiert, vgl. Pütz (Anm. 18), S. 155–212. Pütz (Anm. 18), S. 62–154. Vgl. hierzu schon Lämmert (Anm. 2), S. 212. Brian Richardson analysiert das Drama nach den drei Genette’schen Kategorien Ordnung, Dauer und Frequenz und kommt zu einem ähnlichen Resümee: „Each of these categories can be applied to drama.“ Richardson (Anm. 8), S. 147. Lämmert (Anm. 2), S. 211.

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stehen, die auch epischen Texten Struktur und Rhythmus verleihen können.53 Das Drama kennt die Unterbrechung der zeitlichen Kontinuität durch die Gliederung in Auftritte, Szenen, Pausen und Vorhänge. Darüber hinaus ist die dramatische Handlungsdarstellung nicht auf zeitdeckendes Erzählen – selbst wenn diese aufgrund der Dominanz von Dialogen sicherlich der Standardfall ist – beschränkt.54 Auch zeitdehnendes und zeitraffendes Erzählen sowie Zeitsprung und Pause sind grundsätzlich möglich.55 Dehnung: Die Relation von Repliken kann im Drama große Geschwindigkeit annehmen, wie im Fall von Stichomythie und Antilabe. Schweigen zwischen den Repliken kann hingegen eine zeitdehnende Wirkung erzeugen (und so bereits im Lesetext als Regieanweisung verwendet werden). In der Aufführungssituation gibt es noch deutlich mehr dehnende Gestaltungsmöglichkeiten, die von Sprechpausen, die extra lange mimisch ausgespielt werden, bis zur Kommentierung des Geschehens durch Musik reichen können. Raffung: Wenn zu Beginn des Dramas die Vorgeschichte nachgeholt oder mit Beginn eines neuen Aktes die in der Aktpause ausgelassene Zeitspanne zusammengefasst wird, erzeugt dies, selbst wenn zwei Figuren die Informationen im Dialog austauschen und also vermeintlich zeitdeckend nacherzählen, eine Raffung. Auch die Präzipitation als Finalspannung erweckt durch den Eindruck einer „schnell verstreichenden Zeit“56 einen Raffungseffekt. Die Spannungserzeugung durch Fristsetzung bei gleichzeitiger Zeitverknappung („Zeitdruck einer Intrige“ oder „Motiv der auslaufenden Zeit“) ist als Gestaltungselement im Drama von derart zentraler Bedeutung, dass Lehmann diese „knappe Zeit“ gar als „Grundmodell der Dramatisierung“ versteht.57 Generell erzählen Dramentexte,

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Pütz etwa konstatiert in seiner umfangreichen Studie zu Zeit im Drama: „Für das Drama haben wir diese Möglichkeit [der Abweichung der erzählten Zeit von der Erzählzeit, A. W.] nicht, und deshalb ist der methodische Ansatz Günther Müllers für unseren Gegenstand unbrauchbar. Auf dem Theater gibt es in der Regel keine bedeutsame Differenz zwischen Spielzeit und gespielter Zeit.“ Pütz (Anm. 18), S. 52. Zwar führt er dann doch einige Beispiele dafür an, aber vor allem, um zu zeigen, dass der Dramatiker Raffung und Dehnung nicht als „Mittel der Formung“ benutzt (S. 54). „Dem Erzähler bedeutet zeitliche Qualität fast alles, dem Dramatiker fast nichts.“ (S. 54). Pfister wiederum differenziert das „Tempo von Bewegungsabläufen“ vom „Tempo der Ereignisfolge“, vgl. Pfister (Anm. 3), S. 380. Beispiele, in denen durchgehend zeitdeckend erzählt wird, sind etwa Ben Jonsons Volpone (1606) und Stücke von Jean Racine. Vgl. Richardson (Anm. 8), S. 148. Vgl. die umfangreichen Ausführungen hierzu bei Link (Anm. 14), S. 172–201; vgl. zudem Pfister (Anm. 3) und Richardson (Anm. 8). Pfister (Anm. 3), S. 369. Pfister spricht daher auch, um diese Arten der Raffung von Zeitsprügen durch Aktpausen zu unterscheiden, von der „innerszenischen Zeitraffung[ ]“ (S. 365). Lehmann (Anm. 5), S. 312.

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auch wenn sie sich an die Einheit der Zeit halten, immer raffend, wenn große Ausschnitte aus dem Leben eines Helden oder doch wenigstens ein bedeutsamer Tag daraus auf eine Erzähl- bzw. Spielzeit von zumeist kaum mehr als zwei Stunden komprimiert werden.58 Zeitsprung: Schauplatzwechsel und Aktpausen sind oft zugleich Ellipsen. Pfister, der zwischen offener und verdeckter Handlung unterscheidet, bezeichnet derartige Zeitsprünge auch als „zeitlich verdeckte Handlung“,59 da sie nicht auf der Bühne (oder im Lesetext) dargestellt wird, aber zur erzählten/dargestellten Zeit gehört.60 Zu einem wichtigen Gestaltungsmerkmal werden Zeitsprünge im epischen Theater und/oder im offenen Drama (z. B. Episodendrama), in denen mit der konventionellen Sukzession zugleich die Einheit der Zeit vermieden werden soll. Pause: Die Gedanken von Figuren können im Drama durch Monologe (und als Kleinform davon durch das Beiseite-Sprechen/a parte) vorgetragen werden. In solchen Monologen steht die dargestellte/erzählte Zeit still, während die Spielzeit weitergeht. Pausen können darüber hinaus durch bestimmte Formen der Episierung gestaltet sein, die die Illusion unmittelbar-gegenwärtiger Handlung durchbrechen und das Geschehen dadurch kommentieren.61 Frequenz: Bezüglich der Frequenz kann sich das Drama aller drei von Genette beschriebenen Formen bedienen, auch wenn sicherlich das singulative Erzählen bei weitem der Standardfall ist und iteratives Erzählen auf vorgetragene Gedankenrede (Monolog, a parte) oder Kommentare von auf der Bühne präsenten Erzählerinstanzen (z. B. ‚Stage Manager‘) beschränkt ist. Allerdings können simultane Ereignisse, die Nacheinander präsentiert werden, den Eindruck iterativen Erzählens erzeugen. In den meisten Fällen werden derartige Beispiele von Simultaneität jedoch als repetitive Erzählung wahrgenommen. Richardson interpretiert Samuel Becketts Not I (1972) und Play (1963) entsprechend als repetitiv.62 Gerade diese beiden Beispiele zeigen aber, dass – und hier kann die Inszenierungen noch Akzentuierungen in die eine oder andere Richtung vornehmen – die Texte auch Lesarten als iterative Struktur oder atemporalen Effekt zulassen. Und

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Vgl. Szondi (Anm. 27), S. 147. Pfister (Anm. 3), S. 276. Vgl. hierzu auch die Unterscheidung von „zeitlich“ und „räumlich verdeckte[r] Handlung“ von Pütz, die in Anm. 31 referiert wurde; Pütz (Anm. 18), S. 212– 218. Vgl. Pfister (Anm. 3), S. 307–313. Das Ideale des Illusionismus zusammen mit der Vorstellung von Unmittelbarkeit und Gegenwärtigkeit der Darstellung führen dazu, dass im ‚geschlossenen Drama‘ die Zeit unbewusst wahrgenommen wird, weshalb Klotz auch von einer „Entgegenwärtigung“ im ‚geschlossenen‘ und komplementär dazu von „reine[r] Gegenwart“ im ‚offenen Drama‘ spricht. Vgl. Klotz (Anm. ), S. 41 und 118. Richardson (Anm. 8), S. 149.

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diese Beispiele zeigen darüber hinaus ganz generell, dass mit dem Verlassen der Sukzessionskonvention zugleich eine „entautomatisierende[ ] Bewußtmachung von Zeit“63 einhergeht. Die Illusion von Gegenwärtigkeit und Unmittelbarkeit zusammen mit der normativen Vorgabe der Einheit der Zeit führte im klassischaristotelischen Drama zu einem wirkungsästhetischen Verschwinden der Zeit. Der Illusionismus bedurfte deshalb einer einheitlichen Zeitgestaltung, um die „Kontinuität nach innen“ und die „Abgeschlossenheit nach außen“ sicherzustellen, wie Hans-Thies Lehmann resümiert. Ziel der „aristotelischen Zeitdramaturgie“ war es somit, „das Erscheinen von Zeit als Zeit zu unterbinden“.64 Die Entwicklungen des epischen sowie des postdramatischen Theaters zielen entsprechend nicht nur auf eine Durchbrechung eines Illusionismus, dessen Metapher die vierte Wand ist, sondern als Folge auch auf ein Erscheinen der Zeit als Zeit im dramatischen Erzählen. 2. Max Frischs Die Chinesische Mauer als ein Spiel mit Präzipitation, Gegenwärtigkeit und Simultaneität Für die folgende exemplarische Analyse von Zeit im Drama wurde ein Text ausgewählt, in dem Zeit sowohl zentrales Thema als auch ein bedeutendes Strukturmerkmal darstellt. Max Frischs Die Chinesische Mauer (194665), das im Untertitel als „eine Farce“ bezeichnet wird, wurde 1946 am Zürcher Schauspielhaus uraufgeführt. Die Chinesische Mauer erzählt ähnlich wie Thornton Wilders The Skin of Our Teeth (1942, dt. Wir sind noch einmal davongekommen) von einer für ein Theaterstück ungewöhnlich langen Zeitspanne: Beide Stücke stellen die gesamte Menschheitsgeschichte dar. Während Wilders Drama den Zeitraum von der Eiszeit bis zu einem nicht näher präzisierten Krieg umfasst, reicht Frischs Stück vom Beginn des Baus der Chinesischen Mauer, der auf 200 Jahre vor Christus datiert wird

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Pfister (Anm. 3), S. 363. Pfisters Beispiel hierfür ist Time and the Conways (1937) von John Boynton Priestley. Lehmann (Anm. 5), S. 358. Im Original mit Hervorhebung. Frisch hat vier Versionen des Stückes geschrieben. Die erste Version wurde von ihm von November 1945 bis Mai 1946 direkt unter dem Eindruck der Atombombentests auf dem Bikini-Atoll verfasst. Eine zweite Fassung erstellte Frisch 1955 für eine Inszenierung bei den Berliner Festwochen, eine dritte folgte 1964 für eine Hamburger Aufführung und eine vierte und letzte Fassung 1972 für eine Inszenierung in Paris. Vgl. Heinz Gockel: Max Frisch. Drama und Dramaturgie. München 1989, S. 55 f.

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(vgl. S. 15566), bis in die Gegenwart.67 Für Franz H. Link sind die Stücke aufgrund ihrer Zeitspanne in den Kontext von Mysterienspielen zu setzen.68 Da Frischs Stück nur wenige Jahre nach The Skin of Our Teeth erschien, wird in der Forschung wiederholt betont, dass Frischs Text unter dem Einfluss Wilders betrachtet werden muss.69 Das Stück Die Chinesische Mauer spielt an einem Abend vor und während eines Festes, das der Kaiser von China, Hwang Ti, zur Feier des Siegs über die Barbaren ausrichtet. Auf der Feier verkündet er als Maßnahme zur Friedenssicherung den Bau der Chinesischen Mauer, die den Zweck erfüllen soll, „die Zeit aufzuhalten“ (S. 141) und die Zukunft zu verhindern: Der Kaiser stellt seinen Plan mit den Worten vor: „Fürchtet euch nicht vor der Zukunft, meine Getreuen. Denn so, wie es ist, wird es bleiben. Wir werden jede Zukunft verhindern“ (S. 169). Der Frieden wird nur noch von einem letzten Widerstandskämpfer gestört – „Volkes Stimme“ genannt und von einem Stummen verkörpert –, der im Laufe des Abends verhaftet und in einem Schauprozess verurteilt wird. Auf dem Fest soll sich zudem die Tochter des Kaisers mit dem vom Schlachtfeld heimkehrenden General Wu Tsiang verloben, wogegen sich die Prinzessin wehrt. Der General setzt sich stattdessen an die Spitze eines Volksaufstandes, so dass der Abend mit dem Beginn einer von Wu angeführten Revolution endet. Dieser Festabend erzeugt den Rahmen für die Abfolge der Ereignisse, ist aber lediglich eine von mehreren Zeitebenen des Stückes.70 Um verschiedenen Zeiten voneinander unterscheiden zu können, soll die Gegenwart des Festes als Synchronie-Ebene I bezeichnet werden. Die Hauptfigur des Stückes ist indes nicht der Kaiser von China oder eine andere Figur der Zeitebene des Festes, sondern die Figur „der Heutige“. Diese Figur ist durchgehend auf der Bühne, einer der wichtigsten Teilnehmer des kaiserlichen Festes und dennoch nicht auf der Zeitebene

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Max Frisch: Die Chinesische Mauer. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Sechs Bände, Bd. II: 1944–1949. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung v. Walter Schmitz. Frankfurt a. M. 1976, S. 139–216. Nachweise im Folgenden im Text. An einer Textstelle findet sich noch ein Verweis auf die Entstehung des Universums, so dass streng genommen die erzählte Zeit des Stückes noch einen weit längeren Zeitraum umfasst, nämlich die „letzten zwei Milliarden Jahre[ ]“ (S. 163). Link (Anm. 14), S. 222. Mysterienspiele beginnen mit der Schöpfung und enden mit dem Jüngsten Gericht, so dass die Zeitspanne noch länger ist, als in den beiden genannten Stücken. Vgl. ebd. Vgl. u. a. Link (Anm. 14), S. 222; Gockel (Anm. 65), S. 54 f. Gerhard Kaiser interpretiert die Struktur als eine „Aufhebung der Raum-Zeit-Ordnung“, Gehard Kaiser: „Max Frischs Farce Die Chinesische Mauer“. In: Walter Schmitz (Hrsg.): Max Frisch. Frankfurt a. M. 1987, S. 106–125, hier S. 108. Eine auf der Unterscheidung verschiedener Zeitebenen basierende Textinterpretation liefert zudem Jürgen Kost: Geschichte als Komödie. Zum Zusammenhang von Geschichtsbild und Komödienrezeption bei Horváth, Frisch, Dürrenmatt, Brecht und Hacks. Würzburg 1996, S. 99–125.

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des Festes angesiedelt.71 Vielmehr ist er dafür zuständig, das Bühnengeschehen in die Gegenwart zu transponieren. In einem „Vorspiel“ nimmt der „Heutige“ eine Datierung des Geschehens vor: Sie werden fragen, meine Damen und Herren, was mit alledem gemeint sei. Wo liegt (heute) dieses Nanking? Und wer ist (heute) Hwang Ti […]? […] Das Spiel beginnt … Ort der Handlung: diese Bühne. Zeit der Handlung: heute abend. (S. 144 f.)

Die Anwesenheit des „Heutigen“ erzeugt damit eine weitere Zeitebene, die analog als Synchronie-Ebene II benannt werden kann und die das dargestellte Geschehen, die „Zeit der Handlung“ oder textbasierte Erzählzeit, zugleich auf den konkreten Abend der Spiel- und Performanzzeit bezieht. Eine dritte Zeitebene entsteht durch das Auftreten historischer Persönlichkeiten, die verschiedene Epochen repräsentieren. Diese Persönlichkeiten werden im Unterschied zu den eigentlichen „Figuren“ in der Auflistung der dramatis personae als „Masken“ bezeichnet. Unter anderem wird die Menschheitsgeschichte durch Brutus, Pontius Pilatus, Cleopatra, Romeo und Julia, Napoleon, Columbus, Don Juan, Philipp von Spanien, Emile Zola und Iwan dem Schrecklichen vertreten.72 Die temporale Dimension der historischen „Masken“ kann als Diachronie-Ebene bezeichnet werden. Für die Zeitstruktur des Theaterstückes ist die Synchronie-Stufe I die wichtigste, da auch der „Heutige“ und die historischen „Masken“ Teilnehmer des kaiserlichen Festes und somit in dieser Zeitebene mit anwesend sind. Damit wird in Die Chinesische Mauer die paradigmatische Ebene der Synchronien I und II eines Festabends mit der syntagmatischen Ebene einer diachronen Übersicht über der Menschheitsgeschichte gekreuzt. Diese Struktur hat weitreichende Folgen für die Darstellung und Bewertung der Zeit: Während die paradigmatische Ebene weitgehend den Vorgaben und Kriterien des klassisch-‚dramatischen‘ und geschlossenen Dramas folgt, sind auf der Ebene des Syntagmas Merkmale eines epischen und offenen Dramas zu erkennen. Einzige Ausnahme bildet hier „der

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Eine Gegenposition zur vorliegenden Analyse der Zeitebenen in Die Chinesische Mauer legt Manfred Jurgensen vor. Für ihn spielt das Stück „außerhalb der Zeit“, so dass es keine unterscheidbaren Zeitebenen gebe. Es handele sich vielmehr um ein Modell, und nicht um raum-zeitlich festgelegte Figuren und Szenen: „Aus solcher Perspektive erscheint freilich die gesamte Geschichte der Menschheit als Farce.“ Manfred Jurgensen: Max Frisch. Die Dramen. Bern/München 21976, S. 61 f. Nach Heinz Gockel sind die historischen Figuren stark stereotyp gestaltet und beschränken sich auf „das, was der intellektuelle Kleinbürger als Bildungsgut von ihnen kennt.“ Gockel (Anm. 65), S. 57). Für Jurgensen sind die Figuren keine „echte[n], individuelle[n] Charaktere, sondern […] die summarische Verkörperung einer bestimmten Lebenserfahrung“. Jurgensen (Anm. 71), S. 57.

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Heutige“, der an allen Ebenen beteiligt ist und in vielerlei Hinsicht eine hybride und privilegierte Figur ist.73 2.1 Einheit der Zeit Die Reihenfolge der Ereignisse auf der Synchronie-Ebene I ist durchweg sukzessiv und wird von keinen Anisochronien durchbrochen. Frischs Stück hält sich auf dieser Zeitachse sogar streng an die Vorgabe der Einheit der Zeit, da die dargestellte Zeit die Dauer des Festabends, umfangreiche Vorbereitungen und ein Schauprozess eingeschlossen, nicht überschreitet. Auf der Synchronie-Ebene I deckt sich in weiten Teilen sogar die dargestellte Zeit des Festes mit der Zeit der Darstellung. Und das in 23 Abschnitte untergliederte Stück folgt auf dieser Zeitebene des kaiserlichen Festes sogar dem klassischen Modell aus Exposition, Steigerung, Peripetie, retardierendem Moment und Katastrophe. Die zeitliche Erstreckung des Festes entspricht damit dem aristotelischen Ideal, gerade lange genug zu sein, um Anagnorisis und Peripetie zu ermöglichen: In Die Chinesische Mauer ist dieser entscheidende Wendepunkt in dem Moment zu sehen, in dem der Prinz sich als Anführer der Revolution zu erkennen gibt. Das anagnoristische Erkennen ist die Aufdeckung der neuen ‚Rolle‘ des Prinzen, die mit der Erkenntnis der Zuschauer einhergeht, dass politische Machtverhältnisse durch einen beständig wiederkehrenden Wechsel von Tyrannei und Revolte geprägt sind. In diesem zirkulären Geschichtsmodell werden Tyrannen von Revolten abgelöst, wodurch aber nur wieder jemand an die Macht gebracht wird, der sich zum Tyrannen entwickelt.74 Diese Einheit der Zeit wird auf den beiden Ebenen Synchronie II und Diachronie jeweils gesprengt.75 So unterbrechen die historischen Figuren als Repräsentation ihrer jeweiligen Epoche beständig die Chronologie des

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Wenn der „Heutige“ während des Schauprozesses gegen den Stummen („Stimme des Volkes“) als einziger wagt, die Wahrheit zu sagen und dies in der „typische[n] Vortragsart eines Intellektuellen“ (S. 205) tut, und darauf hin mit einem staatlich gestifteten Kulturpreis ruhig gestellt wird (S. 208), wird er zudem als eine Schriftsteller-Figur inszeniert. In der ersten Textfassung schrieb Frisch die Rolle der „Stimme des Volkes“ dem verfolgten Dichter Min Ko zu (vgl. Gockel [Anm. 65], S. 55). Entsprechend zeigt sich Brutus auch verwirrt, dass seine Tat nicht die Tyrannei ein für alle Mal abgeschafft habe: „Was ist geschehn seither? Ihr duldet es, / Daß frech gesinnte Tyrannei gedeiht“ (S. 168). Die Prinzessin Mee Lan überschreitet die Zeitgrenze, wenn sie in Abschnitt 17 das Kostüm wechselt und nun, wie die Regieanweisung vorschreibt, „ein heutiges Abendkleid“ trägt (S. 185). Für Manfred Jurgensen folgt die Auflösung des chronologischen Handlungsverlaufs der „Logik des Gedankenganges“. Jurgensen (Anm. 70), S. 56.

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Abends.76 Diese Anachronien können unterschiedlich bewertet werden: Die Zeitevokationen historischer Epochen erfüllen in Bezug auf die dargestellte Zeit der Synchronie-Ebene I eine proleptische Funktion zukunftsicherer Vorausdeutungen, da der Bau der Chinesischen Mauer historisch vor den anderen, durch die „Masken“ repräsentierten Ereignisse, begann. In Bezug zur Synchronie-Ebene II sind sämtliche anderen Elemente des Stückes hingegen Analepsen. Doch auch darin erschöpft sich die Anachronie-Struktur des Textes noch nicht. Denn das Stück endet damit, dass es wieder von vorne beginnt: dem klassischen Ideal der Einheit der Zeit wird folglich eine Zirkularität der Dramenzeit entgegengestellt. Diese zirkuläre Struktur der dargestellten Ereignisse wird inhaltlich noch dadurch gespiegelt, dass die historischen Figuren als Exempel für die „Ewige Wiederkunft“77 immer gleicher Machtstrukturen auftreten. Auch die Geschichte wird damit als eine zirkuläre inszeniert. Aus der Perspektive des ‚Heutigen‘ – und darin liegt gerade die Pointe der Benennung dieser Figur – sind somit sämtliche dargestellten historischen Ereignisse ereignislogisch Analepsen, dialektisch-didaktisch jedoch proleptische Prophetien. Die Einheit der Zeit wird nicht nur durch Anachronien und Zirkularität transgrediert. Auf der Zeitebene des ‚Heutigen‘ sind weitere Dekonstruktionen der Zeiteinheit zu identifizieren. „Der Heutige“ ist als privilegierte Figur nicht nur ein Charakter der dargestellten Welt. Durch zahlreiche Kommentare und Erläuterungen, wie sie typisch für das epische Theater sind, stört er immer wieder den Illusionismus der Darstellung und tritt aus dem Bühnengeschehen heraus.78 Die Figuren fallen aus ihrer Rolle und damit auch aus ihrer Zeit, denn sie überschreiten hierdurch die fiktive Gegenwart der dargestellten Zeit und machen auf die

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Mit Lämmert ließe sich dies mit dem Termini ‚gesprochene‘ (Zeit des Festes) und ‚besprochene Zeit‘ unterscheiden. Link stellt fest, dass die Figuren bei Frisch zwar miteinander sprechen, aber immer „im Bewußtsein ihrer Zugehörigkeit zu verschiedenen Zeiten“ (Link [Anm. 14] S. 226). Für eine Interpretation von Frischs Stück im Hinblick auf Friedrich Nietzsches „Ewige Wiederkunft“ siehe u. a. Link (Anm. 14), S. 232. Diese Episierungen sind nicht auf den „Heutigen“ beschränkt, auch wenn er einen Großteil dieser Gestaltungsmittel auf sich vereint. Auch andere Figuren fallen mithin aus ihrer Rolle. So stöhnt der Bräutigam der Prinzessin, designierter Kaisernachfolger und späterer Revolutionsanführer Wu Tsiang über sein Kostüm: „Diese historischen Kostüme sind ja zum Ersticken. Allein dieser Unfug von Kragen!“ (S. 178). Vgl. auch die zahlreichen Forschungsarbeiten, die sich mit Max Frischs Anleihe an Bertolt Brechts epischem Theater beschäftigen: Frisch nennt dies das „Überspielen der Rampe“, vgl. Link (Anm. 14), S. 227; Gockel (Anm. 65), S. 54; Adelheid Weise: Untersuchungen zur Thematik und Struktur der Dramen von Max Frisch. Göppingen 1972, S. 156 ff.; Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart 1972.

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konkrete Gegenwart sowohl der Aufführungs- wie auch der Performanzzeit aufmerksam. Eine herausgehobene Funktion nimmt in mehrerer Hinsicht das „Vorspiel“ ein. Darin ist sowohl eine Allusion auf den antiken Chor als auch eine geradezu paradigmatische Verwirklichung des epischen Theaters zu erkennen: „Der Heutige“ steht auf der Bühne, hält eine Abbildung der Chinesischen Mauer hoch, erläutert die Thematik des Stückes und zählt die Figuren auf, die erscheinen werden. Aber auch hinsichtlich der Zeitstruktur stellt dieses „Vorspiel“ eine Besonderheit dar, das es von anderen vergleichbaren „Vorspielen auf dem Theater“ unterscheidet. Dieses Vorspiel, das laut Regieanweisung „[v]or einem Zwischenvorhang“ (S. 141) stattfindet, wird von drei Gongschlägen unterbrochen: Erster Gong. Das Spiel beginnt! […] Zweiter Gong. Ich spiele darin die Rolle des Heutigen. Dritter Gong. Das Spiel (S. 145 f.).

Diese Vorrede des „Heutigen“ ist zeitlich vor dem Fest angesiedelt. Durch die drei Gongschläge, auf die dann das mit einer Zwischenüberschrift markierte eigentliche „Spiel“ folgt, wird diese Vorrede darüber hinaus auch außerhalb der dargestellten Zeit datiert. Das „Vorspiel“ inszeniert sich als außerhalb der drei Zeitebenen der erzählten/dargestellten Zeit (Synchronie I und II oder Diachronie) stehend. In Lehmanns Terminologie ließe sich die Vorrede somit als zur „Text-Zeit“, nicht aber als zur „Zeit des Dramas“ gehörend, bewerten. Dieser Abschnitt macht die textbasierte Erzählzeit sowie die Spielzeit durchlässig in Richtung Performanzzeit, denn die Gongschläge sind an einem Theaterabend eigentlich das Signal an die Zuschauer, dass das Stück gleich beginnt, d. h. dass man das Verweilen im Foyer (Performanzzeit) beenden und sich in den Theaterraum begeben muss. Eine „organische Geschlossenheit“79 der Zeit wird in Die Chinesische Mauer also schon vor Beginn des Stückes vermieden. 2.2 Ironisierung der Präzipitation Das „Vorspiel“ ist noch aus einem weiteren Grund von Interesse für die Analyse der Zeit in Die Chinesische Mauer. So wird noch vor Beginn des eigentlichen Stückes erläutert, dass die Barbaren besiegt sind und dass für

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Vgl. Anm. 5 bzw. Lehmann (Anm. 5), S. 353.

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einen endgültigen Frieden nur noch „ein letzter Widersacher“, die „Stimme des Volkes“, gefunden werden müsse (S. 144). Und der „Heutige“ kommentiert, dass sich dies „nach Krise einer Macht“ anhöre (ebd.). Dies sind nur zwei ausgewählte Textstellen, an denen in dieser Vorrede Spannung auf das Kommende erzeugt wird. Doch sogleich wird diese Erwartungshaltung im Hinblick auf die Spannung vom „Heutigen“ wieder enttäuscht, wenn er unmittelbar darauf folgend ankündigt: „Hoffentlich werden Sie nicht ungehalten, meine Damen und Herren, wenn Sie darauf [die eben gestellten Fragen, u. a. wo dieses Nanking heute liege; A. W.] keine Antwort bekommen.“ (S. 145). Es zeigt sich eine Struktur, die sich an mehreren Stellen in diesem Stück identifizieren lässt: Das Prinzip der spannungserzeugenden Präzipitation wird einerseits evoziert, um es andererseits zu konterkarieren. Von Beginn an wird beispielsweise Spannung im Hinblick auf die kommenden Ereignisse wie die Ankunft des Kaisers, die Verhaftung des letzten Widersachers, die Hochzeit der Prinzessin mit Wu Tsiang und den auf die Hochzeit folgenden Machtwechsel am Hof erzeugt. Eine Ironisierung des Spannung aufbauenden klassischen Dramenprinzips ist im Schluss des Stückes zu erkennen. An jener Stelle, auf die sämtliche Ereignisse teleologisch hinführen müssten, wird einfach der Beginn wiederholt. Die zirkuläre Struktur führt die „strenge Bezogenheit aller Einzelteile auf den Schluß des Dramas“80 ad absurdum. Diese Zirkularität ist ein Merkmal des offenes Dramas oder epischen Theaters und markiert eine Abwendung von der „Spannung auf den Ausgang“. In einer Publikumsansprache macht der Kaiser von China deutlich, dass er sich seiner Verpflichtung zur Präzipitation als theatraler Figur durchaus bewusst ist, auch wenn er nicht gewillt ist, ihr zur folgen: Ich weiß genau, was ihr denkt, ihr da unten. Aber ich lächle über eure Hoffnung. Ihr denkt, noch heute abend werde ich von diesem Thron gestürzt, denn das Spiel muß doch ein Ende haben und einen Sinn, und wenn ich gestürzt bin, könnt ihr getrost nach Hause fahren, ein Bier trinken und einen Salzstengel essen. Das könnte euch so passen. Ihr mit eurer Dramaturgie! Ich lächle. Geht hinaus und kauft eure Zeitung, ihr da unten, und auf der vordersten Seite, ihr werden sehen, steht mein Name. Denn ich lasse mich nicht stürzen; ich halte mich nicht an Dramaturgie. (S. 175)

Die Abkehr von der Präzipitation wird hier mit den Mitteln des epischen Theaters erzeugt. Schließlich stellt die Ironisierung der Präzipitation einen bedeutsamen Aspekt der politisch-didaktischen Aussage des Stückes dar, denn als Zweck des Baus der Chinesischen Mauer wird bereits im „Vorspiel“ das Verhindern einer Zukunft angegeben:

____________ 80

Vgl. Anm. 18.

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Die Chinesische Mauer (oder wie die Chinesen sagen: Die Große Mauer), gedacht als Schutzwall gegen die barbarischen Völker der Steppe, ist einer der immerwiederholten Versuche, die Zeit aufzuhalten, und hat sich, wie wir heute wissen, nicht bewährt. (S. 141)

Mehrmals wird zudem betont, dass der Mauerbau der Friedenssicherung und somit der Errichtung einer „endgültige Ordnung“ (S. 169, 178, 182 und 204) dient. Ein zentrales Thema des Stückes ist entsprechend mit der Verhinderung einer Zukunft auch der Ausschluss von Präzipitation. Wobei in dem angeführten Zitat dies zugleich schon parodiert wird: Wenn das Verhindern der Zukunft ein „immerwiederholter“ Versuch ist, der sich ein weiteres Mal „nicht bewährt“ hat, so ist die Abkehr von der Präzipitation von Beginn an zum Scheitern verurteilt. Die Chinesische Mauer ist nicht nur ein Stück über den Versuch, die Zukunft zu verhindern, sondern auch ein Lehrstück über die Bewahrung der Möglichkeit von Zukunft (und damit Präzipitation) in Zeiten der Atomund Wasserstoffbombe: Wärme-Tod der Welt, so nennt man das: das Endlose ohne Veränderung, das Ereignislose. (S. 163) Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit (denn bisher war der Tyrann, der sein Rom in Flammen aufgehen ließ, immer bloß eine temporäre und durchaus lokale Katastrophe) – zum ersten Mal (und darum, meine Herrschaften, hilft uns keine historische Routine mehr!) stehen wir vor der Wahl, ob es die Menschheit geben soll oder nicht. Die Sintflut ist herstellbar. (S. 206)

Diese neuartige Gefährdung der Zukunft stellt demnach letztlich die Geschichte sowie die „Routine“ der Machtausübung in Frage. Wenn die Bedrohung durch Atomwaffen die Zukunft bedroht, ist die Zeit selbst in Gefahr. Würde jemand den Knopf für die Auslösung der Sintflut drücken, hätte dies eine endlose Ereignislosigkeit, mithin das Ende der Zeit selbst zur Folge: „Die Zeit blieb[e] stehn“ (S. 147). 2.3 Gegenwärtigkeit zwischen Repetition und Iteration Die Zeit als offener Zukunftshorizont – also der historische Chronotopos gleichmäßig und linear verlaufender physikalischer Zeit gemäß der Vorstellung Newtons – muss für die Menschheit, so die kaum subtil vorgetragene politische Botschaft des Stückes, unter allen Umständen bewahrt werden. Auf einer anderen semantischen Ebene lautet die Botschaft des Stückes hingegen, dass eine zukunftsoffene Entwicklung und also geschichtliche Veränderung nicht möglich erscheinen. Die bereits mehrfach angesprochene zyklische Struktur des Stückes offenbart, dass Politik zwar einen beständigen Wechsel zwischen Tyrannei und Revolte erzeugt, dass

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dies am Ende aber immer nur eine Wiederkehr des Immergleichen darstellt. Link erkennt darin die Geschichtsmodelle von Karl Jaspers – die wiederkehrenden „regelmäßigen Kausalitäten […] [seien] das Ungeschichtliche der Geschichte“ – und Friedrich Nietzsches „Ewige Wiederkunft“.81 Der „Heutige“ fungiert diesbezüglich zum einen als Parodie eines Sehers, der als einzige Figur im Besitz der Erkenntnis dieses zirkulären Geschichtsmodells ist (vgl. hierzu v. a. S. 189). Zum anderen versucht er Widerstand gegen die Zirkularität zu leisten, wenn er sämtlichen historischen Figuren der diachronen Zeitebene beständig erläutert, dass sie „keinesfalls wiederkehren dürfen“ (S. 165). Die Art der Machtausübung der großen Feldherren Napoleon, Philipp II. oder Iwan des Schrecklichen würde in Zeiten der Atombombe das Ende der Zeit bedeuten. Die zirkuläre Wiederkehr des Gleichen könnte demnach paradoxerweise das Ende der Zeit und der Geschichte markieren. Temporal endet das Stück damit in einer Aporie. Die Zirkularität des Politisch-Geschichtlichen wird in Die Chinesische Mauer auch auf einer Mikroebene dargestellt und persifliert, wie an Textstellen mit repetitivem Erzählen zu erkennen ist. Während einer Befragung des „Heutigen“ legen ihm Soldaten eine Schlinge um den Hals, die die Prinzessin sogleich wieder wegnimmt und dem Zeremonienmeister, der die Befragung leitet, um den Hals legt. Als der Zeremonienmeister dann den Befehl zur Verhaftung gibt („vor die mongolischen Hunde mit ihm!, S. 163 und 165) wird dieser aufgrund des blinden Gehorsams der Soldaten selbst von der Bühne geschleift. Ein Prozedere, das sich mehrmals wiederholt und vom „Heutigen“ gemäß des generischen Untertitels bewertet wird: „Die Farce geht weiter“ (S. 166).82 Die Zirkularität kombiniert mit dem ebenfalls wiederholt vorgetragenen Hinweis an die historischen Herrscherfiguren, „nicht wiederkehren“ zu dürfen, führen dazu, dass das Drama mit repetitivem Erzählen die politische Botschaft einer Iterativität der Geschichte transportieren kann. Mit der zirkulären Struktur des Textes wird die Präzipitation ironisiert und zugleich offengelegt, dass man in einer sich beständig wiederholenden ‚Gegenwart‘ feststeckt. In dieser Umschreibung wird deutlich, dass in Die Chinesische Mauer ein vielgestaltiges Spiel mit Gegenwärtigkeit vorliegt. Durch den ‚Heutigen‘ wird das Bühnengeschehen eines Festes im China von vor mehr als 2000 Jahren an die Gegenwart angebunden. Diese Rückbindung ist nicht nur eine an eine abstrakte geschichtliche Gegenwart, sondern darüber hinaus zugleich eine konkrete Datierung an den

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Link (Anm. 14), S. 231 f. Vgl. zum Prinzip der „Geschichte als Wiederholung des Ewiggleichen“ auch Kost (Anm. 70), S. 101 ff. Vgl. zur „Farcenkonzeption“ Frischs auch Kost (Anm. 70), S. 120–125.

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jeweiligen Abend der Aufführung, wie im „Vorspiel“ explizit deutlich gemacht wird: „Ort der Handlung: diese Bühne. Zeit der Handlung: heute abend“ (S. 145). Für Link versucht Frisch durch die Figur des „Heutigen“, „die in unserem Bewußtsein gegenwärtige Vergangenheit zu bewältigen“.83 Mit dieser Interpretation wird angedeutet, dass in der (Bühnen-)Gegenwart mehrere Zeitschichten simultan wirksam werden können. 2.4 Simultaneität Es wurde bereits gezeigt, dass in Die Chinesische Mauer zwei synchrone und eine diachrone Zeitebene simultan auf die Bühne gebracht werden. In Ergänzung zu diesen Ebenen werden darüber hinaus noch eine Reihe von ästhetisch-semantischen ‚Zeiten‘ simultan wirksam. Im ersten Teil des Beitrags wurde die simultane Informationsvergabe des multimedialen Codes im Drama als semantische Simultaneität bezeichnet. In Frischs Stück ist dies beispielsweise in fremdsprachigen Ausschnitten wie Emile Zolas „J’ACCUSE“ verwirklicht (S. 197 f.). Etwas komplexer stellt sich die Situation bei den Auftritten von Brutus, Pilatus, Philipp von Spanien sowie Romeo und Julia dar, da diese Figuren nicht nur in ihrer historischen Zeit beheimatet sind. Da Frisch diese Figuren in Versen und damit in Anlehnung an die Dramen Shakespeares, Schillers oder die Bibel sprechen lässt,84 wird damit zugleich intertextuell auf auch die Zeit (ästhetisch wie historisch) dieser (literarischen) Stücke angespielt.85 Im Theorieteil wurde von dieser semantischen die szenische Simultaneität unterschieden, die im vorliegenden Beispiel etwa in Regieanweisungen, dass Figuren in den Hintergrund treten aber die Bühne nicht verlassen sollen, oder in Geräuschen aus dem off erfüllt ist. Am Ende des Stückes werden sämtliche Arten der Zeit in einem Schlusscrescendo zusammengeführt. In der Regieanweisung heißt es, dass die historischen Figuren nacheinander auftreten und „in der Art einer Spieluhr“ (S. 215) sich drehen und dabei sprechen. Die Spieluhr-Metapher überblendet Spiel und Zeit: Wie ein Theaterstück in immer neuen Aufführungen reproduzierbar ist und sich die Figuren dabei auf der Bühne drehen,86 ist die Geschichte ein sich in sich selbst drehendes Zeitspiel. Das

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Link (Anm. 14), S. 226. Entsprechend wird die Relativitätstheorie im Stück zu einer „sinnvollen Metapher für die Gleichzeitigkeit der historischen Ereignisse im Bewußtsein der Gegenwart“ (Ebd., S. 229). Vgl. hierzu Link (Anm. 14), S. 231; Kaiser (Anm. 70), S. 111. Vgl. u. a. Gockel (Anm. 65), S. 59. Dass die Spieluhr hier als Metapher für das Theater dient, wird durch Romeo deutlich, der unmittelbar vor dieser Regieanweisung einen Textabschnitt wiederholt, den er bereits zu

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Crescendo nimmt noch weiter zu, denn aus dem Nacheinander der Spieluhr-Figuren wird ein Nebeneinander. Sie wiederholen „ihre Sprüche […] lauter und leiser, alle gleichzeitig und durcheinander, bis die Bühne dunkel geworden ist“ (S. 216). In diesem Ende werden mit dem gleichzeitig Sprechen sämtliche Zeiten des Stückes – sowohl die drei Zeitebenen wie auch die semantischen und ästhetischen Zeit(en) – in einer Hypostasierung der Simultaneität auf eine Weise zusammengeführt, die die ‚erzählten Zeiten‘ letztlich auflöst. Das Stück, das im Untertitel eine Farce genannt wird, endet somit in einer Aporie der Zeit: „Die Zeit, die Zeit blieb stehn“ (S. 147). Literatur Aristoteles: Poetik. Übers. u. hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2008. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. Madison 1985. Brecht, Bertolt: „Anmerkungen zur Oper ‚Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny‘“. In: Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Bd. 24: Schriften 4. Hg. v. Werner Hecht u. a. Berlin u. a. 2003. Chatman, Seymour: Story and Discourse. Ithaca u. a. 1978. Manfred Durzak: Dürrenmatt, Frisch, Weiss. Deutsches Drama der Gegenwart zwischen Kritik und Utopie. Stuttgart 1972. Fludernik, Monika: „Narrative and Drama“. In: John Pier/José Ángel García Landa (Hrsg.): Theorizing Narrativity. Berlin/New York 2008, S. 355–383. Fludernik, Monika: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London u. a. 1996. Frisch, Max: Die Chinesische Mauer. In: Gesammelte Werke in zeitlicher Folge. Sechs Bände, Bd. II: 1944–1949. Hg. v. Hans Mayer unter Mitwirkung v. Walter Schmitz. Frankfurt a. M. 1976, S. 139–216. Gockel, Heinz: Max Frisch. Drama und Dramaturgie. München 1989. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Frankfurt a. M. 21968. Herder, Johann Gottfried: Herders Werke. Bd. II. Hg. v. W. Dobbek. Berlin-Ost 1964. Hirt, Ernst: Das Formgesetz der epischen, dramatischen und lyrischen Dichtung. Leipzig 1923. Hühn, Peter/Sommer, Roy: „Narration in Poetry and Drama“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg. URL = http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/narration-poetry-and-drama [letzter Zugriff: 1.3.2015].

____________ Beginn des Stückes spricht: „Wenn ich bloß wüßte, wo wir sind? – und wann? / Kostüme wimmeln, und es riecht nach Mottengift; / Es ist, als sei’n sie tot, doch reden sie / Und tanzen auch und drehen sich im Kreis, / Wie sich Figuren einer Spieluhr drehn.“ (S. 146 f. und 215). In Bild 2 stellt dies somit die selbstreflexive Erläuterung dar, dass nun ein Stück von Figuren in Kostümen gespielt wird. Und am Ende des Stückes wird hierdurch deutlich, dass die „Spieluhr“ neu aufgezogen wird und das Spiel von Neuem beginnt. Jurgensen vergleicht die „Masken“ mit Marionetten und Schachfiguren, die bestimmte Weltanschauungen vertreten und durch „ihre willenlose Mechanik“ gekennzeichnet sind. Vgl. Jurgensen (Anm. 71), S. 58 ff.

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STEPHAN BRÖSSEL (Münster)

Zeit und Film. ‚Zeitkreise‘ in Christopher Nolans Memento 1. ‚Zeit und Film‘: Vier Dimensionen der Zeit 179 – 1.1 Zeitdimension 1: Filmmediale Zeit 181 – 1.2 Zeitdimension 2a: Repräsentierte Zeit(lichkeit) 181 – 1.3 Zeitdimension 2b: Repräsentierende Zeit 182 – 1.4 Zeitdimension 3a: Erzählte Zeit 184 – 1.5 Zeitdimension 3b: Erzählzeit 185 – 1.6 Zeitdimension 4: Geschichte des Films/Zeit(kontexte) als Geschichte(n) des Films 188 – 2. Trauma, Erinnerungen, ‚Zeitkreise‘: Zeit in Christopher Nolans „Memento“ 189 – 2.1 Zeit als Kreis. Ausgangslage 189 – 2.2 Zeitstrukturen 190 – 2.3 Zeit und Subjekt 195 – 2.4 Das Sein im ‚Zeitkreis‘ 199

1. ‚Zeit und Film‘: Vier Dimensionen der Zeit Film und Zeit sind in zwei Hinsichten miteinander verschränkt. Erstens wird Zeit an der dem Film eigenen Medienspezifik ablesbar. Zweitens steht der Film in einem Verhältnis zur außerhalb des Mediums erfahrenen Zeit bzw. wird mit ihr in Verbindung gebracht. Filmische Zeit basiert im Kern auf dem Verständnis von Filmen als raumzeitlich-dynamische Medien.1 Dahingehende Beschreibungsversuche reichen von narratologischen Analyseinstrumentarien2 über philosophisch motivierte Typologisierungen des sog. ‚Zeit-Bildes‘3 bis hin zu Untersuchungen der Strukturierung von Zeiterfahrung im Film.4 Andererseits fallen Verhältnismäßigkeiten zwischen dem Film und soziokulturellen Prozessen sowie subjektiven Zeiterfahrungen und historischen Entwicklungen in einen weitreichenden, kontextuellen Untersuchungsbereich, der stets auch metatheoretisch reflektiert wird. Das Erfassungsmoment bildet hier die Annahme, dass der Film − wie andere Kunstformen auch − eingebunden ist in den Kontext seiner jeweiligen Entstehungszeit. Diesen Ansatz verfolgen ebenfalls Film-

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Vgl. Marie-Laure Ryan: Avatars of Story. Minneapolis/London 2006, S. 26. Vgl. Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analyseinstrumentarium. Berlin/New York 2011. Vgl. Gilles Deleuze: Kino 2. Das Zeit-Bild. Übers. von Klaus Englert. Frankfurt a. M. 1997. Paul Ricœur: Temps et récit. 3 Bde. Paris 1983–1985; Jörg Türschmann/Wolfram Aichinger (Hrsg.): Das Ricœur-Experiment. Mimesis der Zeit in Literatur und Film. Tübingen 2009.

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Stephan Brössel

historiographien, die durch Auswahl, Linearisierung und Periodisierung einen bestimmten Zeitabschnitt als ‚Geschichte des Films‘ profilieren. Zeit erscheint als sekundäres Phänomen, das der menschlichen Wahrnehmung selbst unzugänglich ist und lediglich in primären Zeichenkomplexen wahrnehmbar wird. Zu kategorisieren ist sie als objektiv-physikalische Zeit und als subjektiv-erfahrene (erlebte, erinnerte, geträumte usw.) Zeit, wobei sich in einem allgemeinen Verständnis objektive Zeit und inneres Zeitbewusstsein gegenseitig überlagern.5 Für den Film werden die Kategorien der subjektiven und objektiven Zeit insofern wirksam, als sie in verschiedenen Dimensionen verarbeitet werden: Während die Projektionszeit in der Regel linear verläuft und ein allen filmischen Inhalten übergeordnetes ‚Zeitfenster‘ bereitstellt, können beispielsweise die Zeiterfahrungen von Figuren unter Umständen stark variieren, die filmische Mediatisierung dementsprechend Zeit ‚beschleunigt‘ oder ‚retardiert‘ repräsentieren. Die Besonderheit des Films besteht mithin darin, dass er mehrere Zeitlichkeiten − verstanden als Darstellungen von Zeit – zusammenbringt; darin begründet liegt eine seiner elementaren Eigenschaften. Die doppelte Verschränkung von Zeit und Film lässt sich anhand von vier Zeitdimensionen bzw. -relationen beschreiben, die sich wie folgt benennen lassen: 1) filmmediale Zeit; 2) repräsentierte Zeit(lichkeit)/repräsentierende Zeit; 3) erzählte Zeit/Erzählzeit; 4) Geschichte des Films/ Zeit(kontexte) als Geschichte(n) des Films. Zeitdimension 1 ist stets gegeben, Dimension 4 zumindest anzunehmen; die Dimensionen 2 und 3 sind fakultativ und hängen davon ab, ob ein Film Zeit darstellt oder nicht. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang die Gattungszugehörigkeit eines Films.6 Für alle Filme gilt, dass bereits ihrer Medialität Zeitlichkeit inhärent ist. Gegenüber anderen Gattungen ist der Spielfilm für die Analyse von Zeit im Film besonders aufschlussreich, da er Geschichten erzählt und so neben seiner eigenen Medialität die Relation von Erzählzeit und erzählter Zeit geltend macht. Für eine entsprechende Analyse hat sich die Applikation von Gérard Genettes Begriffsinventar zur narrativen Zeit als

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6

Vgl. Hinderk M. Emrich: Über die Verwandlung der Zeit in Gegenwart im Film. Zur philosophischen Psychologie von Realität und Traum im Kino. Vorlesungen an der Kunsthochschule für Medien Köln (KMH), 1995–2005. Hrsg. von Hinderk M. Emrich, Cornelia Gerbothe und Peter Lilienthal. Göttingen 2010, S. 225. Der Film wird in Gattungen und innerhalb der Gattung Spielfilm weiter in verschiedene Genres unterteilt. Gattungen sind neben dem Spielfilm der Dokumentationsfilm, der Experimentalfilm, der Animationsfilm, der Nachrichtenfilm, der Musikvideoclip, der Werbefilm usw. Genres im hier verwendeten Sinne sind Subformen des Spielfilms, die durch ihre spezifische Erzählweise und Thematik determiniert sind (Vgl. Markus Kuhn/Irina Scheidgen/Nicola Valeska Weber: Filmwissenschaftliche Genreanalyse. Eine Einführung. Berlin/Boston 2013, S. 2).

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hilfreich erwiesen.7 Neben genrespezifischen Zeitkonzepten und ihrer historischen Variabilität hat eine Analyse der filmischen Zeit darüber hinaus sowohl Figurenkonstellationen und Handlungsabläufe wie auch bestimmte Gestaltungsmuster der Inszenierung (Mise-en-scène und Miseen-cadre), der Montage und der Musik einzubeziehen. 1.1 Zeitdimension 1: Filmmediale Zeit Alle Filme verbindet ihre medieninhärente Zeit, ihre „Eigenzeit“8, die im zeitlich-dynamischen Fortlauf des Filmbilds manifest wird. Unabhängig also von ihrer Gattungsspezifik umfassen Filme stets ein abgeschlossenes zeitliches Kontinuum, das somit als differentia specifica des Filmmediums aufzufassen ist. David Bordwell spricht hier von der Projektions- oder Laufzeit eines Films (z. B. 90 Min.) und nennt sie „screen duration“;9 Etienne Souriau bezeichnet sie als „temps ‚filmophanique‘“.10 Das Konstituens des filmischen Bewegungsbildes basiert mithin nicht nur auf dem Merkmal der Visualität, sondern ebenso auf seiner zeitlich-linearen Dauer, ohne die Bewegung − sei es diejenige der abbildenden Kamera oder diejenige dargestellter Objekte − nur suggeriert, nicht aber vollzogen bzw. abgebildet werden kann. Das Filmbild weist neben seiner zeitlichen Linearität ebenso Simultaneität als Temporalindex auf,11 denn es verändert sich nicht nur selbst in der Zeit, sondern bildet zudem Zeitlichkeit ab, welche wiederum eine Vielzahl disparater Abläufe oder sogar Zeitebenen beinhalten kann. Diese Eigenschaft des Films ist wiederum ausschlaggebend für die Realisierung der Zeitdimensionen 2 und 3. 1.2 Zeitdimension 2a: Repräsentierte Zeit(lichkeit) Der Film ist durch Zeit konstituiert und stellt Strukturen im Rahmen semiotischer Prozesse dar, die zwei Zeitebenen differenzieren: Repräsen-

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So unternommen von Kuhn (Anm. 2). Andreas Becker: Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm. Darmstadt 2012, S. 40. David Bordwell: Narration in the Fiction Film. London 1985, S. 80 f. Etienne Souriau: „La structure de l’univers filmique et le vocabulaire de la filmologie“. In: Revue internationale de filmologie 2/7–8 (1951), S. 231–240, hier S. 233 und 240 (dt.: „Die Struktur des filmischen Universums und das Vokabular der Filmologie“, übers. von Frank Kessler. In: Montage/AV 6/2 [1997], S. 140–157). Vgl. Christian von Tschilschke: Roman und Film. Filmisches Schreiben im französischen Roman der Postavantgarde. Tübingen 2000, S. 63.

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tierte und repräsentierende Zeit.12 Repräsentierte Zeit ist von der filmischen Textoberfläche lediglich ableitbar. Sie stimmt dann mit der filmmedialen Zeit überein, wenn ein Film mit einer Länge von 90 Minuten ein 90minütiges Geschehen präsentiert. Sie ist − ebenso wie Personen, Orte und Handlungen − erfasstes, abgebildetes Objekt, das die zeitliche Situierung eines Geschehens im Rahmen einer dargestellten Welt umfasst. Allerdings ist sie stets sekundär, sogar dann, wenn beispielsweise das Ziffernblatt und die tickenden Zeiger einer Uhr im Film erscheinen: Die Uhr verweist lediglich auf den Verlauf von Zeit, sie stellt sie nicht direkt dar. Repräsentierte Zeit betrifft demnach einerseits die (mehr oder minder) explizite Situierung eines Geschehens in einem raumzeitlichen Umfeld, andererseits die Zeit, in welcher sich dieses Geschehen vollzieht. 1.3 Zeitdimension 2b: Repräsentierende Zeit Repräsentierende Zeit betrifft den Gestaltungsakt, der u.a. repräsentierte Zeit(lichkeit) evoziert, und kann als Produkt einer filmischen Diskursivierung verstanden werden. An ihr ist abzulesen, auf welche Art und Weise repräsentierte Zeit im festgelegten Rahmen der filmmedialen Zeit dargestellt wird. So existieren verschiedene Mechanismen der Retardierung und der Beschleunigung repräsentierter Zeit. Für die Retardierung seien die Verlangsamung (slow motion), das Standbild (freezed frame) und die Regulierung einer niedrigen Tonlage, für die Beschleunigung der ‚Vorspuleffekt‘ (fast motion) und die Regulierung einer hohen Tonlage genannt.13 Auch Simultaneitätseffekte treten auf, etwa durch die Parallelmontage oder in Form von split screen-Verfahren. Inwiefern repräsentierte Zeit in Formen repräsentierender Zeit aufgeht, kann an Gilles Deleuzes Gegenüberstellung von ‚Bewegungs-Bild‘ (image-mouvement) und ‚Zeit-Bild‘ (image-temps) nachvollzogen werden. Das Bewegungs-Bild stellt Deleuze zufolge ein indirektes Zeit-Bild dar,14 in dem Bild und Bewegung verknüpft auftreten. Eine indirekte Zeit-Darstellung ist auf drei Weisen denkbar: 1) ist sie ablesbar an der Bewegung im Bild; 2) resultiert sie aus den sukzessiven Einstellungsfolgen oder aber leitet sich 3) aus der Montage ab.15 In den beiden ersten Fällen liegt der Bewegung die lineare Struktur (des ‚Vorher‘/‚Nachher‘) eines Aktions-

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Vgl. Winfried Nöth: Handbuch der Semiotik. 2., vollständig neu bearbarbeitete und erweiterte Auflage. Stuttgart/Weimar 2000, S. 287. Vgl. Knut Hickethier: Film- und Fernsehanalyse. 4., aktual. und erw. Aufl. Stuttgart u. a. 2007, S. 129 f. Vgl. Deleuze (Anm. 3), S. 132. Vgl. Deleuze (Anm. 3), S. 347.

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Bildes zugrunde: Die indirekte Präsentation von Zeit richtet sich vornehmlich nach der Bewegung der Figuren. Im zweiten und dritten Fall verlagert sich das Augenmerk auf die Gestaltungsweise des Films, durch die nämlich Bewegung aufgrund der Einstellungsfrequenz oder der zeitlichen Abgeschlossenheit mittels Schnitttechniken hervortritt. Das filmische Zeit-Bild verkörpert demgegenüber die direkte Präsentation von Zeit oder ein „Spürbarmachen von Zeitlichkeit“,16 wodurch Zeit nicht länger der Bewegung, sondern vielmehr Bewegung der Zeit untergeordnet ist. Denn im Zeit-Bild − ob ‚Zeitkristall‘ oder andere Darstellungen des direkten Zeit-Bildes (‚Chronozeichen‘) − liegt keine aktionale Sukzession vor. Während den ‚Kristall‘ die „Verdopplung [der Zeit] in vorübergehende Gegenwart und bewahrende Vergangenheit“ auszeichnet, können in anderen Darstellungen die „Koexistenz von Vergangenheitsschichten“ oder die „Simultaneität der Gegenwartsspitzen“ vorherrschend sein.17 Man kann mit Deleuze davon ausgehen, dass Zeit als repräsentiertes Phänomen nicht als gradliniges Kontinuum zu denken ist. Gestützt auf Augustinus’ Aussage, es gäbe eine Gegenwart der Zukunft, eine Gegenwart der Gegenwart und eine Gegenwart der Vergangenheit, lässt sich Zeit als ‚Spitzen‘ von Gegenwarten beschreiben. Im Fall der gegenwärtigen Zukunft wie auch im Fall der gegenwärtigen Vergangenheit in der Gegenwart ist repräsentierte Zeit mehrdimensional.18 Und auch der Zeitkristall liefert die Darstellung einer mehrschichtigen Zeit, indem sie dort als ein zwischen dem Aktuell-Realen und dem Virtuell-Imaginären alternierendes Moment erscheint. In den meisten Fällen stellen Filme zeitliche Abläufe im Rahmen eines ‚Vorher/Nachher‘ dar, sei es in Form einer Bewegung oder einer sonstigen Zustandsveränderung. Zu berücksichtigen sind hier verschiedene Darstellungsweisen und unterschiedliche Status (faktisch/fiktiv) der dargestellten Abläufe. Darstellungsmodi richten sich nach dem Verhältnis zwischen repräsentierter (tiefenstruktureller) Zeit und vermittelnder (oberflächenstruktureller) Präsentation. Diese sind deshalb zu differenzieren, da jedweder Inhalt im Akt seiner Darstellung verändert werden kann. In dieser Hinsicht können Zeitperspektivierungen repräsentierte Zeit entweder duplizieren oder aber mehr oder weniger entleeren oder verdichten.

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Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Kino. Das Sichtbare und das Sagbare. München 22006, S. 19 und 119. Deleuze (Anm. 3), S. 350. Diese These stützen ebenfalls die auf Edmund Husserl bezogenen Ausführungen Andreas Beckers (Anm. 8), der mit der „reproduzierten Dauer“ (S. 13) (= repräsentierte Zeitlichkeit) von einem filmischen ‚Vordergrund‘ ausgeht und daneben mit der Einordnung der „künstlichen Präsenzzeit“ (S. 42) durch den Zuschauer einen Zeit-‚Hintergrund‘ annimmt.

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Im Falle der Zeitraffung findet in der Verkleinerung von Makrobewegungen sehr deutlich eine Verdichtung von Zeit statt, weil sie „nahezu jede noch so langsame Bewegung sichtbar macht“.19 Demgegenüber verlagert die Zeitdehnung das Augenmerk auf die Markierung des Mikrokosmos, da in ihr kleinste Veränderungen sichtbar hervortreten. Allerdings macht „erst das Intensive, Beschleunigte und Konzentrierte […] den Einsatz der Zeitlupe sinnvoll, andernfalls bekommt das Gezeigte einen photographischen Look“20 und wird vollends zeitentleert. Zumeist gehen repräsentierte Zeitlichkeit und repräsentierende Zeit in Formen filmischen Erzählens auf. Dann ist repräsentierte Zeit als ‚erzählte Zeit‘ einerseits und repräsentierende Zeit als ‚Erzählzeit‘ andererseits aufzufassen. Das Unterscheidungskriterium zwischen der zweiten und dritten Zeitdimension − zwischen repräsentierter Zeitlichkeit/repräsentierender Zeit und erzählter Zeit/Erzählzeit − besteht darin, dass nicht jede temporale Darstellung zwangsläufig narrativ sein muss. Ist sie allerdings narrativ, ist ihr zeitlicher Charakter elementar. Zusätzlich ist sie durch erzählerische Strukturierungsmuster (z. B. durch Kausalität) konstitutiert. D. h. jede Narration (im Sinne einer Erzählung als erzählerische Vermittlung einer Geschichte) vollzieht sich stets in einer zeitlichen Dauer. Gleiches gilt für die erzählte Geschichte. Diese basiert auf Ereignissen und Geschehensmomenten, die in zeitlichen Relationen zueinander stehen und mit dem Begriff der erzählten Zeit gefasst werden.21 1.4 Zeitdimension 3a: Erzählte Zeit Erzählte oder diegetische Zeit 22 umfasst die Dauer einer Geschichte in ihrem ordo naturalis. Denkbar sind jedwede Zeitspannen, die Geschichten umfassen, von wenigen Augenblicken − etwa während eines Sterbemoments in Stay (USA 2005, Marc Forster) − bis hin zur gesamten Menschheitsge-

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22

Becker (Anm. 8), S. 22. Becker (Anm. 8), S. 25. Nur am Rande sei erwähnt, dass sich filmische Narrationen freilich nicht auf die Gattung Spielfilm beschränken. Sie tauchen ebenfalls in Dokumentationen, in der Werbung und in Musikvideoclipsauf. Vgl. Andreas Blödorn: „Bild/Ton/Text. Narrative Kohärenzbildung im Musikvideo, am Beispiel von Rosenstolz’ ‚Ich bin ich (Wir sind wir)‘“. In: Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skrandies (Hrsg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld 2009, S. 223–242; Petra Grimm: Filmnarratologie. Eine Einführung in die Praxis der Interpretation am Beispiel des Werbespots. München 1996; Wilma Kiener: Die Kunst des Erzählens. Narrativität in dokumentarischen und ethnographischen Filmen. Konstanz 1999. Die Begriffswahl richtet sich nach Etienne Souriau, der den Begriff „temps diégétique“ prägt (vgl. Souriau [Anm. 10], S. 234, 237 und 240. An Souriau anschließend vgl. Alexander Böhnke: „Die Zeit der Diegese“. In: Montage/AV 16/2 (2007), S. 93–104.

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schichte (2001: A Space Odyssey [GB 1968, Stanley Kubrick]). Dieses Verständnis von erzählter Zeit − als repräsentierte Zeit − ist mit Blick auf Deleuze sicher ein vereinfachendes Konzept, es hat aber gegenüber dem allgemeineren Begriff der repräsentierten Zeit den Vorteil, narrative Erscheinungen beschreibbar zu machen, d. h. Abläufe, Handlungen, Geschehen usw. − also zeitlich (mehr oder weniger deutlich) determinierte Aspekte einer Geschichte. Dies schließt einen komplementären Gebrauch der Termini nicht aus: Erzählte Zeit erfasst die Dauer der erzählten Geschichte, während repräsentierte Zeit die Gesamtheit des zeitlichen Universums (einschließlich der subjektiven Sicht- und Umgangsweisen und Erfahrungen) umspannt, die über die tatsächlich erzählte Geschichte hinausgehen kann. Bislang stellt die Beschäftigung mit der (repräsentierten) diegetischen Zeit noch ein Forschungsdesiderat dar.23 Gleichwohl zeigen einige wenige Studien die Brisanz des Phänomens auf und legen den heuristischen Nutzen einer eingehenden Untersuchung für die narratologische Analyse von Filmen nahe.24 1.5 Zeitdimension 3b: Erzählzeit Erzählzeit meint in ihrer ursprünglichen Definition bei Günther Müller und Boris Tomaševskij zweierlei.25 Erstens bezeichnet sie die mediale Zeit, d. h. die Dauer eines Films, die hier filmmediale Zeit genannt wird. Zweitens wird unter dem Terminus Erzählzeit jene Zeit gefasst, die der Akt des Erzählens einnimmt, um die Geschichte zu vermitteln. In diesem Sinne muss grob zwischen Erzählzeit und filmmedialer Zeit unterschieden werden. Denn die Laufzeit des Films umfasst den gesamten Film vom Anfang bis zum Ende und schließt folglich über die eigentliche Erzählung hinaus ebenso credits (Vor- und Abspann) ein, welche ihrerseits zwar Teil der Narration sein können, jedoch nicht zwangsläufig sein müssen.

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24 25

Derzeit liegt der DFG ein (gemeinsam mit Susanne Kaul gestellter) Antrag für ein Projekt vor, das „Echtzeit im Film. Konzepte, Wirkungsweisen und Interrelationen“ fokussieren wird. Im Rahmen dessen wird u.a. angestrebt, der Differenzierung zwischen diegetischer Zeit und erzählter Zeit auf den Grund zu gehen und geeignete Analysekategorien zu formulieren. Vgl. Anna Maria Sophie Praßler: Narration im neueren Hollywoodfilm. Die Entwürfe des Körperlichen, Räumlichen und Zeitlichen in ‚Magnolia‘, ‚21 Grams‘ und ‚Solaris‘. Stuttgart 2008. Vgl. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Tübingen 1968, S. 269–286; Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. (Moskau – Leningrad 1931). Hrsg. u. eingeleitet v. Klaus-Dieter Seemann, übers. von Ulrich Werner. Wiesbaden 1985, S. 226.

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Durch die ihm inhärente Zeitlichkeit bietet sich der Film für eine Vielzahl von Variationsmöglichkeiten des Verhältnisses zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit und infolgedessen für eine Reflexion von Zeitkonzepten an.26 Doch obwohl die originär literaturwissenschaftlich ausgerichtete und erprobte Erzähltheorie längst auf den Film übertragen worden ist, steht eine eingehende Beschäftigung mit der filmischen Zeit bislang noch aus. In den disparat akzentuierten Standardwerken zum filmischen Erzählen von David Bordwell, Edward Branigan und Seymour Chatman wird Zeit zumeist am Rande behandelt − offenbar ausgehend von der Ansicht, dass sie eine medienübergreifende und für das Erzählen elementare Kategorie darstellt, die keiner weiteren Erwähnung bedarf.27 Allein Bordwell weist darauf hin, dass der Film einer „programmed temporal form“28 entspricht und dahingehend viele Prozesse der Narration von der Manipulation der Zeit abhängen. Die derzeit überzeugendste filmnarratologische Darstellung im deutschsprachigen Raum findet sich in Markus Kuhns Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell (2011). Kuhn behandelt vier Aspekte der Zeit in der filmischen Narration: 1. die Ordnung, 2. die Dauer, 3. die Frequenz und 4. den Zeitpunkt des Erzählens. Bei diesen Aspekten richtet er sich (neben Brian Henderson) im Wesentlichen nach Gérard Genette, dessen im Discours du récit (1972) entwickeltes begriffliches Handwerkszeug er grundsätzlich für auf den Film applizierbar ausweist.29 D. h. alle Formen des anachronischen Erzählens − wie beispielsweise die externe unabgeschlossene Analepse oder die zukunftsungewisse Prolepse − sowie alle Erzähltempi (Raffung, Dehnung, Ellipse, Pause, Szene) sind auch im Erzählmedium Film anzutreffen. Ebenso finden sich unterschiedliche Konstellationen hinsichtlich des gleichzeitigen, späteren oder früheren Erzählens. Auch sind Varianten der narrativen Frequenz im narrativen Film realisierbar. Erschwerend wirkt sich gegenüber der Analyse von literarischen Erzähltexten allerdings die Tatsache aus, dass der Film mittels mehrerer Zeichensysteme operiert, folglich die Gestaltung von Zeit stets changiert zwischen sprachlichen, visuellen oder akustischen Elementen: Eine Analepse kann durch einen diegetischen Sprecher im on screen oder im off screen eingeleitet werden. Genauso gut kann sie aber durch einen nichtdiegetischen voice-over narrator initiiert werden oder (gänzlich ohne Sprecher) durch eine Rückblende, den Wechsel von Farb- zum Schwarz-Weiß-Bild, Sepiafarbtöne oder andere Marker umgesetzt werden.

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Vgl. Emrich (Anm. 5); Hickethier (Anm. 13), S. 129; Schaub (Anm. 16), S. 126. Vgl. Teresa Bridgeman: „Time and Space“. In: David Herman (Hrsg.): The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge 2007, S. 52–65, hier S. 63. Vgl. Bordwell (Anm. 9), S. 74. Vgl. Kuhn (Anm. 2), S. 195.

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Zur Rekonstruktion der Relation(en) zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit nutzt Kuhn Zeitdiagramme und mathematische Terme, welche die Erzählgeschwindigkeit (oder narrative Geschwindigkeit) sowie Zeitpunkte der Erzählung und Zeitpunkte der Geschichte indizieren. Mit ihrer Hilfe können auch solche Filmnarrationen beschrieben werden, die auf komplexe Weise mit Zeit umgehen, wie Groundhog Day (USA 1993, Harold Raimis), 5 x 2: Cinq fois deux (F 2004, François Ozon), 11:14 (USA/CAN 2003, Greg Marcks), Atonement (GB/F 2007, Joe Wright) oder La nuit Américaine (F/I 1973, François Truffaut). Diese Terme legt Kuhn wie folgt fest: Das Ereignis der Geschichte, mit dem die Erzählung beginnt, wird als Nullpunkt (t0) gesetzt; alle zeitlich markierten oder bestimmbaren Ereignisse der Geschichte werden relativ zu t0 negativ (t-n) oder positiv (tn) durchnummeriert und in der Reihenfolge der Erzählung dargestellt. Die Nummerierung − angezeigt durch die Indizes − orientiert sich also an der Reihenfolge der Ereignisse in der histoire, die Darstellung der Reihe am Erscheinen der Ereignisse am discours.30

Ergänzt durch weitere Indizes liefert Kuhn ein operationalisierbares Instrumentarium zur Analyse zeitlich-narrativer Phänomene im Film.31 Die Plausibilität der metasprachlich-theoretischen Trennung zwischen erzählter Zeit (die Dauer der Geschichte) und repräsentierter Zeit (die Gesamtmenge der subjektiven Zeitwahrnehmungen und diegetischen Voraussetzungen) unterstreicht in besonderem Maße die Betrachtung von neuesten Entwicklungen im sog. „New New Hollywood“. So illustrieren die u. a. in Magnolia (USA 1999, Paul Thomas Anderson), 21 Grams (USA 2003, Alejandro Gonzáles Iñárritu) und Solaris (USA 2002, Steven Soderbergh) vorgeführten Modi der Zeitdehnung, der Umgang mit ‚vertikalen (subjektiv verankerten) Zeitachsen‘, zirkuläre Zeitkonzepte, wie auch Konzepte der Gleich- und Ungleichzeitigkeit, inwieweit lineare Erzählzeit und subjektive Zeitperspektiven voneinander abweichen oder sich gegenseitig bedingen können.32

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32

Kuhn (Anm. 2), S. 203. Kuhn (Anm. 2), S. 204. Beispielsweise wird die narrative Geschwindigkeit mit vnarr erfasst und errechnet sich aus dem Quotienten von Erzählzeit und erzählter Zeit. Wenn z. B. im Falle einer Dehnung ein Geschehen der Dauer von 60 Sek. in einer Zeit von 120 Sek. erzählt wird, so liegt die narrative Geschwindigkeit vnarr bei ½ (erzählte Zeit/Erzählzeit). Vgl. Praßler (Anm. 24), Kap. 2, 3 und 4.

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1.6 Zeitdimension 4: Geschichte des Films/Zeit(kontexte) als Geschichte(n) des Films Die vierte Zeitdimension vereinigt zwei außerhalb des Mediums Film verlaufende und metaphorisch verstandene ‚Zeiten‘, die aus einer historischen Analyseperspektive heraus zutage treten und auf thematischem und/oder strukturellem Wege Eingang in den Film nehmen können (aber nicht müssen). Mit der ‚Geschichte des Films‘ ist zunächst die Gesamtheit der historiographischen Ansätze gemeint, die über einen singulären Film hinausreichende temporale Zusammenhänge herstellen. Der besprochene Zeitraum umfasst in einem engeren Verständnis die Zeit von etwa 1895 bis heute; oftmals findet jedoch (in einem weiteren Verständnis) die Vorgeschichte des Films − insbesondere im 19. Jahrhundert − Berücksichtigung.33 Zum anderen wird dem Film als Kunstform ein Bezug zu zeitgenössischen Prozessen unterstellt, und ihm so die Verarbeitung verschiedener Diskurse, Problemkonstellationen und Konzepte des kulturellen Systems zugeschrieben (‚Kultur‘ und ‚kulturelles Gedächtnis‘, politische Diskurse/Probleme, ‚Heimat‘, ‚Gesellschaft‘, Reflexion von (Selbst-) Wahrnehmungsmustern u.v.m.). Demnach reagiert der Film auf außerfilmische Entwicklungen, indem er diese zum Thema macht oder aber strukturell reflektiert. Mit der Dimension ‚Film und Kontext‘ sind also zwei Zeitebenen genannt: die Zeit als Geschichte des Films und Zeit(kontexte) als Geschichte(n) des Films. Filmgeschichtsschreibung und synchrone Korrelation von Film und historischen Kontexten verbindet die Annahme, dass Film als „Zeichen der Zeit“34 gelesen wird, er als Artefakt zum Gefäß für Ausdrucksformen genutzt wird, die ihrerseits auf das Denksystem einer jeweiligen Kultur hindeuten.35 Auch bei dieser Zugriffsweise schwingt das Verständnis von Zeit als sekundärem Phänomen mit:36 Filme avancieren zu Zeitdokumenten oder „kulturellen Speichern“,37 in denen sich Zeit substantiiert;38 filmische Narrationen dienen so einer medienspezifisch-modellhaften Gestaltung von Zeit im Rahmen einer kulturellen Wirklichkeit.39

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Vgl. u. a. Jerzy Toeplitz: Geschichte des Films. Bd. 1: 1895–1928. Übers. v. Lilli Kaufmann. Berlin 1992. Rüdiger Steinmetz (Hrsg.): Dokumentarfilm als ‚Zeichen der Zeit‘. Vom Ansehen der Wirklichkeit im Fernsehen. München 1989. Vgl. Günter Groll: Magie des Films. Kritische Notizen über Film, Zeit und Welt. 77 Filmkritiken. München 1953, S. 6. Vgl. Türschmann/Aichinger (Anm. 4), S. 19. Dennis Gräf: Tatort. Ein populäres Medium als kultureller Speicher. Marburg 2010. Vgl. Groll (Anm. 35), S. 8 ff.; Türschmann/Aichinger (Anm. 4). Vgl. Karsten Treber: Auf Abwegen. Episodisches Erzählen im Film. Remscheid 2005, S. 10; Türschmann/Aichinger (Anm. 4), S. 15.

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Da das Projekt ‚Zeit und Film‘ in einen interdisziplinären Rahmen eingebunden ist, können Anschlusspunkte für die weitere Forschung nicht ungenannt bleiben. So sind fachspezifische − medientheoretische, philosophische, narratologische, historiographische − Fundierungen vonnöten, um die analytische Wirksamkeit der angesprochenen Dimensionen zu schärfen und Begrifflichkeiten zu präzisieren bzw. ihre terminologische Reichweite zu vertiefen. Zudem sollten Verbindungen zwischen den Dimensionen − z. B. zwischen Dimension 2 und 3 − theoretisch fundiert und ihre analytische Operationalität weiterhin geprüft werden, insbesondere auch hinsichtlich anderer Filmgattungen. In näherer Zukunft wäre eine metatheoretische Gesamtschau über die Korrelationen von Zeit und Film wünschenswert, die einzelne Forschungsstränge in einer größeren Ausführlichkeit als hier geschehen zusammenführt. 2. Trauma, Erinnerungen, ‚Zeitkreise‘: Zeit in Christopher Nolans Memento 2.1 Zeit als Kreis. Ausgangslage Christopher Nolans Memento (USA 2000) profiliert einen ‚Zeitkreis‘, um dessen Epizentrum weitere zeitstrukturelle Kreise angelegt sind. Im Mittelpunkt steht der Protagonist Leonard Shelby, dessen Konflikt Ausgangspunkt und tragendes Element der Filmhandlung ist und der darüber hinaus im narrativen Diskurs reflektiert wird. Dieser Konflikt ergibt sich aus einer anterograden Amnesie, die Leonards Kurzzeitgedächtnis behindert. Eine Verletzung, die zu dieser Schädigung des Erinnerungsvermögens führte, zog er sich bei einem Überfall zu, bei dem seine Frau vergewaltigt und er niedergeschlagen wurde. Der eigentliche Plot des Films besteht aus Leonards Detektion. Der Film stellt sich einem Fragenkomplex, der sich aus dem Zusammenhang von Subjekt und Zeit − konkret: Leonards Verhältnis zu seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft − ergibt. Wie steht Leonard zu verschiedenen Geschehnissen seiner Vergangenheit? Wie erfährt der Zuschauer von dieser Vergangenheit? Hilft das vom Protagonisten entwickelte, auf Notizen, Fotografien und Tätowierungen basierende Erinnerungssystem, seine Gedächtnisstörung zu kompensieren oder nicht? Und wenn nicht, woran scheitert es? Welchen Ausblick gibt der Film auf Leonards Zukunft? Memento führt eine zirkuläre Struktur vor Augen, die ihren Ursprung in der Verlorenheit des Protagonisten in der Zeit bzw. seine Gefangenschaft in einer absoluten Gegenwart hat. Das Auslagerungssystem von Erinne-

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rungen − indem Leonard Fotos aufnimmt und beschriftet, sich tätowiert usw. − kann als Bezug auf die in den 1990er Jahren aufkommende extended mind-Hypothese gelesen werden und zielt offensichtlich auf die kritische Behandlung von Jean Baudrillards Begriff des Simulakrum der dritten Ordnung (Simulakrum der Simulation) ab. Insofern nimmt Memento eine skeptizistische Stellung zu Entwicklungen ein, die im digitalen Zeitalter aktueller denn je sind: Er kann als kritischer Beitrag zur Diskussion um die Postmoderne gelesen werden, indem er die Dekonstruktion von Text und Textreferenz hinterfragt und die lebensnotwendige emotionale Bindung des Menschen an die Zeit herausstreicht. Die folgende Analyse möchte klären, 1) inwiefern eine zeitliche (Kreis-)Struktur hervortritt, 2) in welchem Zusammenhang diese Struktur mit der Hauptfigur steht und 3) inwiefern dieser Zusammenhang als (kritisches) Ausdrucksmittel genutzt wird. 2.2 Zeitstrukturen Memento wird vielfach als Neo-Film Noir angesehen, der das Lebensgefühl der Postmoderne zum Ausdruck bringt.40 Argumentative Zielpunkte sind der Verlust der Identität, die Bezugslosigkeit des Subjekts zu seiner Außenwelt und das defizitäre Verhältnis zu seiner Vergangenheit, wobei ein Grund für diese Probleme vor allem in der Dekonstruktion des Zusammenhangs von Text und seinem Bezugsobjekt zu suchen ist. Als Ausgangspunkt einer postmodernen Auslegung dient zunächst die auf den ersten Blick verwirrende Zeitstruktur des Films, der die Geschichte scheinbar rückwärts präsentiert. Tatsächlich liefert die Rekonstruktion dieser Struktur erste Erkenntnisse, die zum Verständnis des Films als Resultat der Postmoderne beitragen. Sie zeigt nämlich auf, inwiefern histoire wie auch discours Kreisstrukturen etablieren, welche ihrerseits die Relation zwischen (postmodernem) Subjekt und Zeit darstellen. Der Gattung Spielfilm zugehörig repräsentiert Memento Zeit und stellt Zeitlichkeit her. Zusätzlich erhebt er diese Repräsentation zu einem Gegenstand der reflexiven Auseinandersetzung, d. h. er formiert zeitstruktu-

____________ 40

Vgl. Carlos Gallego: „Coordinating Contemporaneity. (Post) Modernity, 9/11, and the Dialectical Imagery of ‚Memento‘“. In: Cultural Critique (CultCrit) 75 (2010), S. 31–64; Bennett Kravitz: Representations of Illness in Literature and Film. Newcastle 2010; Immanuel Lawendel: Das Polaroid als Beutelbild. ‚Memento‘ (2000) von Christopher Nolan und die Post-Kinematographie. Frankfurt a. M. 2009; D. Brent Laytham: „Time for Hope. ‚The Sixth Sense‘, ‚American Beauty‘, ‚Memento‘, and ‚Twelve Monkeys‘“. In: Emily Griesinger/Mark Eaton (Hrsg.): The Gift of Story. Narrating Hope in a Postmodern World. Waco, TX 2006, S. 69–83; Todd MacGowan: Out of Time. Desire in Atemporal Cinema. Minneapolis 2011.

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relle Permutationen, die offensichtlich im Zusammenhang zum Thema des Films stehen. Innerhalb des filmmedialen Zeitfensters von 108 Minuten und 55 Sekunden werden Vor- und Abspann nicht oder nicht wesentlich in die Erzählung einbezogen,41 die ihrerseits eine Zeit von 105 Minuten und 8 Sekunden umfasst. Der Handlungsverlauf ist an gängigen Erzählphasen des heutigen Hollywood-Films (Trennung, Prüfungen, Rückkehr42) orientiert, was deshalb bemerkenswert ist, weil die Chronologie des Geschehens auf den ersten Blick aufgelöst präsentiert wird. Ausgangszustand ist der unbeeinträchtigte Ablauf von Leonards Leben nach festgelegten Schemata, welche insofern einer Prüfung unterzogen werden, als Leonard kurzzeitig aus diesem Ablauf ausbricht, um für Natalie eine andere Figur, Dodd, aufzuspüren; zudem wird die Anfälligkeit seines Systems für Fehler und Manipulationen deutlich. Schließlich kehrt Leonard aber in die von ihm konstruierte Realität und seine Handlungs- und Verhaltensmuster zurück. Filmmediale Zeit wird in ein problematisches Verhältnis zur repräsentierenden Zeit und zur repräsentierten Zeitlichkeit gebracht; Resultat ist eine erschwerte Rezeption: Die Mechanismen der narrativen Zeitstrukturierung sind dem Fortlauf der filmmedialen Zeit unterworfen und können zumeist erst im Nachhinein verstanden werden. Auf Basis dieses Umstands gerät die Rezeption von Memento zu einem ständigen Akt des Erinnerns, der den Zuschauer in eine ähnliche Lage versetzt wie die Figur der Geschichte. Die Verwirrung wird nun dadurch gesteigert, dass der Film insgesamt vier, jeweils unterschiedliche Phasen aus Leonards Leben und damit unterschiedliche Zeitebenen vorführt und permutiert anordnet. Die erzählte Zeit erscheint vor diesem Hintergrund konturlos, ohne festen Anfang oder festes Ende − vor allem deshalb, weil Leonard mehr oder minder die einzige Bezugsperson des Zuschauers ist: Er ist nicht nur primärer Handlungsträger, sondern verkörpert darüber hinaus diejenige Instanz, an deren Wahrnehmungs- und Erlebnissphäre die narrative Präsentation orientiert ist. Seine Amnesie ist Grund dafür, warum im Unklaren bleibt, wie viel Zeit zwischen dem Überfall und dem Zeitpunkt der Handlung vergangen ist.43 In der Zeit der Haupthandlung, die ungefähr 60 Stunden einnimmt,44

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42 43 44

Den folgenden Ausführungen zugrunde liegt die von der Helkon Media AG im Jahr 2002 produzierte Filmfassung Memento (USA 2000, Christopher Nolan). Vgl. Michaela Krützen: Dramaturgie des Films. Wie Hollywood erzählt. Frankfurt a. M. 2004. Bemerkenswerterweise richtet sich der Protagonist nicht nach Uhrzeiten. Uhren werden nicht gezeigt, Uhrzeiten zu keinem Zeitpunkt genannt. Die Spanne der erzählten Zeit ergibt sich aus der relativ vagen Feststellung, dass Leonard zum ersten Zeitpunkt der Geschichte in seinem Hotelzimmer erwacht (wahrscheinlich am Morgen; vgl. Sequenz 1) und nach seinem Treffen mit Natalie im Restaurant wahrscheinlich gegen Mittag Teddy erschießt (vgl. Sequenzen S–V). Als narratives Tempo kann demnach etwa vnarr = 34,24 angenommen werden. Die Nummerierung der Sequenzen ent-

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tritt Leonard mit verschiedenen anderen Figuren in Kontakt und versucht, diversen Hinweisen zu folgen, die auf den Mörder seiner Frau hinführen. Daneben ist die Erzählzeit mit Zeitsprüngen und Ebenenwechseln durchsetzt und dementsprechend deutlich markiert. Die vier Zeitebenen des Films (Handlung, Zwischenhandlung, vorgeschichtliche Vergangenheit, Träume und Erinnerungen) zeichnen sich durch die folgenden Charakteristika aus: Die Handlungssequenzen45 sind in Farbe gehalten und werden nach einem bestimmten Strukturierungsprinzip präsentiert: das Ende einer Sequenz Sn deckt sich für einen Moment mit dem Anfang der vorherigen Sequenz Sn-1. Die Handlungssequenzen zeigen Leonard, der, insbesondere durch die Hilfe von John Edward Gammell (Teddy) und Natalie, den Mörder seiner Frau identifiziert und sich an ihm rächt; wie sich später allerdings Teddys Bericht zufolge herausstellt, hat Leonard nicht nur diesen ‚Mörder‘ bereits ausfindig gemacht und getötet, sondern in der Vergangenheit viele weitere ‚Mörder‘ eliminiert, die vermeintlich ebenfalls dem Täterprofil entsprachen. Alternierend zu den Handlungssequenzen sind schwarz-weiß präsentierte Zwischensequenzen geschnitten, die in chronologischer Abfolge überwiegend Leonard während eines Telefongesprächs mit einem Officer zeigen, bis am Ende des Films die letzte Zwischensequenz (von schwarzweiß zu Farbe wechselnd) zur (chronologisch) ersten Handlungssequenz des Films überleitet. Es wird deutlich: Die Handlung der Zwischensequenzen liegt der rekonstruierten Chronologie der Geschichte zufolge vor dem Geschehen der Handlungssequenzen. Ihr inhaltlicher Schwerpunkt liegt auf Leonards Erörterung des von ihm angewandten Erinnerungssystems und seiner Vergangenheit als Versicherungsagent. Innerhalb des Verlaufs der Handlungssequenzen (und der letzten Zwischensequenz) begegnen dem Zuschauer wiederholt (abrupt auftretende und fragmentarische) Rückblenden, die auf eine weitere Zeitebene verweisen und Informationen zum vergangenen Überfall nachliefern. Wichtig für den angelegten Effekt der final twist-Struktur ist, dass diese Zeitebene bedingt durch die subjektive Sicht Leonards mit Leerstellen bestückt ist: Zum einen bleibt in diesen Erinnerungs- und Traumsequenzen unklar, welches Schicksal Leonards Frau tatsächlich ereilt hat − ob sie, wie Leonard annimmt, bei dem Überfall vergewaltigt wird und stirbt oder nicht −, und zum anderen, wie dieser Vorfall überhaupt ausgegangen ist − den Ausgang kann Leonard nicht wiedergeben, da er vom Täter niederge-

____________ 45

spricht dem Sequenzprotokoll in Andrew Kania (Hrsg.): Memento. London/New York 2009, S. 13–22. Vgl. Kuhn (Anm. 2), S. 207.

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schlagen worden ist und das Bewusstsein verloren hat. Einen möglichen Hergang der Geschehnisse schildert am Ende Teddy: Leonards Frau hat überlebt, er selbst trug eine Gehirnschädigung davon. Ob aber Teddy angesichts der vorliegenden subjektiv motivierten und entsprechend ‚verfälschten‘ Erzählungen seinerseits als zuverlässiger Erzähler gelten darf, muss letztlich offenbleiben. Allerdings verleiten vereinzelte Rückblenden zu der Annahme, von dessen Wahrheitsgehalt auszugehen (so z. B. eine Einstellung von Leonards Frau, die, in eine transparente Plane eingehüllt, die Augen aufschlägt, 01:19:43 u. 01:39:30). Die Zwischensequenzen enthalten eine weitere audiovisuell präsentierte Zeitebene, die als intradiegetische Erzählung realisiert wird.46 Diese Erzählung stellt sich − abermals Teddys Angaben folgend − als unwahr, ihr Erzähler (Leonard) demnach als unzuverlässig heraus. Aufgrund seines traumatischen Zustands projiziert Leonard seine eigene Vergangenheit auf einen (im Rahmen der fiktiven Filmhandlung) ‚faktischen‘ Fall um einen Mann namens Sammy Jankis, der an einer Gedächtnisstörung leidend nichtsahnend seiner an Diabetes erkrankten Frau eine Überdosis Insulin verabreicht. Leonards eigene Vergangenheit ist an die pathologisch gesteigerte Repetition gekoppelt, in der diese Erzählung auftritt. Denn auch hier liegen (ähnlich wie in den Erinnerungs- und Traumsequenzen) Hinweise im discours vor, die Leonards Version von Sammy Jankis’ Geschichte zweifelhaft erscheinen lassen: Die Aussage, dass Leonards Frau eine Diabetes-Kranke war, wird durch eine Rückblende bestätigt (01:39:34). Noch eindeutiger ist der Sachverhalt, dass Leonards Person in seiner eigenen Erzählung Sammy Jankis substituiert (1:26:30). Eine temporale Kreisstruktur ist sowohl auf der Ebene der histoire als auch auf der Ebene des discours wiederzufinden. Wie noch zu erörtern sein wird, wird Leonard als ein in der Gegenwart Gefangener vorgeführt, indem er sich innerhalb dieser Zeitkreise bewegt. Zum einen hat − schenkt man Teddys Bericht Glauben − in der erzählten Vergangenheit eine immer gleiche Wiederholung des Racheaktes stattgefunden, wodurch Leonards Handlung (seit einer unbestimmbar langen Zeit) einer Zeitschleife eingebunden erscheint. ‚Gefangen‘ ist Leonard jedoch auch in seinem traumatischen Zustand, den er zu überwinden wünscht und dem er gleichermaßen nicht entfliehen kann. Wiederholt plagen ihn die Erinnerungen an seine letzten Erlebnisse vor der Verletzung, die er fortwährend zu kompensieren versucht. Zweitens unterliegt ebenfalls die Projektion auf Sammy Jankis und dessen ungewolltes Vergehen an seiner Frau − das

____________ 46

Der Hinweis auf deren audiovisuelle Realisierung ist an dieser Stelle deshalb vonnöten, da die Geschichte über Sammy Jankis ebenfalls auf der Ebene der Handlungssequenzen thematisiert wird, dort allerdings lediglich in Form verbaler Äußerungen.

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mehrmalige Verabreichen des Insulins − einer zirkulären Struktur. Drittens manifestiert sich diese Struktur schließlich in Form von Leonards bewusster Entscheidung, in seiner Schleife bestehend aus Suche und Rache zu verweilen, indem er mehrere ‚Fakten‘ bewusst fälscht und sein eigenes System so manipulierend unterläuft. Die Annahme einer narrativen Kreisstruktur bestätigt auch ein genauerer Blick auf die Erzählstruktur, also die Kombination der einzelnen Zeitebenen in Memento: Insgesamt liegen 21 Handlungssequenzen (V–B) sowie 21 Zwischensequenzen (1–21) in alternierender Ordnung vor, wobei die 22ste Zwischensequenz (22) in die 22ste Handlungssequenz (A) übergeht. Die erste und einzige rückwärtslaufende Sequenz kann davon abweichend als Ω bezeichnet werden. Ω

1

V

2

U

3

T



20

C

21

B

22/A

Abbildung 1: Sequenzabfolge in Memento (nach Andrew Kania [Hrsg.]: Memento. London/New York 2009, S. 4).

Der Beginn des Films zeigt im Rückspulmodus das letzte Geschehensmoment der erzählten Geschichte: das Polaroid-Foto in Leonards Hand,47 auf dem der ermordete Teddy allmählich verblasst. Auf Ω folgt das erste Geschehensmoment des chronologischen Ablaufs der Geschichte, nämlich Leonards Zustandsbeschreibung nach dem Erwachen in einem Hotelzimmer (Zwischensequenz 1). Die letzte Sequenz 22/A rekurriert zirkulär auf Ω, da Ω Handlungssequenz A chronologisch weiterführt. Diesem Zirkel der Makrostruktur des Films entspricht eine repetitiv angelegte Kreisstruktur zwischen aufeinanderfolgenden Handlungssequenzen, in deren Rahmen das Ende von Handlungssequenz U den Anfang von V wiedergibt usw.48 Zusammengenommen ergibt sich eine Vielzahl von ‚Kreisen‘, die konzentrisch um die Hauptfigur ausgerichtet sind. Resultat ist eine unkonventionelle Anordnung der Elemente der Geschichte, die jedoch strukturell konsequent umgesetzt ist. Nolans Bruder Jonah, der die dem Film zugrundeliegende Kurzgeschichte lieferte, geht so weit, bei der zeitlichen Struktur von einer Möbius-Schleife zu sprechen und widerlegt die Ansicht, Memento sei gradlinig und konsequent rückwärts erzählt. Think of a watch whose minute hand revolves clockwise and whose hour hand revolves counterclockwise. You can never find out where you are in the time-line,

____________ 47 48

Weiterführendes zur Funktion des Polaroids und dem Hintergrund „kulturellen Handelns“ vgl. Lawendel (Anm. 40). Regisseur Christopher Nolan spricht dabei selbst bezeichnenderweise von „loop“. Vgl. Kania (Anm. 44), S. 7.

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because there is no time-line. […] If it was a straight-backwards film, you could just take that two-dimensional time-line and flip it over, but you can’t do that with this film. Later on down the line, you realize that this film doesn’t run back; it’s a Möbius strip.49

Der Umgang mit Zeit auf der histoire- wie auch auf der discours-Ebene läuft auf die Figur Leonard Shelby hinaus: seine Geschichte ist es, die erzählt wird, und sein Zustand wirkt auf die Erzählstruktur des Films ein. Es bietet sich daher eine Verengung des analytischen Blickfelds auf das Verhältnis von Zeit und Subjekt an. 2.3 Zeit und Subjekt Die Zeitstruktur in Memento ist nicht Selbstzweck, welcher einem bloßen narrativen ‚Spiel‘ mit Zeit gleichkäme. Sie spiegelt den Krankheitszustand der Figur wider und bindet den Rezipienten auf besondere Weise in die Filmerzählung ein, der seinerseits narrative zeitstrukturelle Sprünge im filmmedial bedingten zeitlichen Fortlauf der Erzählung kognitiv zu verarbeiten hat. Ganz offensichtlich ist die Kopplung von Zeit und Subjekt entscheidend für die Bedeutungskonstitution des Films, und zwar mit Blick auf Figur und Zuschauer. Zur Verbindung von Figur und Zeit sind erste Hinweise bereits angeklungen: Leonard durchlebt einen traumatischen Zustand, wobei die Art seiner Störung und das Auftreten traumatisch bedingter Erinnerungsschübe ebenfalls formal behandelt werden. Die Einbindung des Zuschauers in die Erzählung spielt hier weniger hinsichtlich rezeptionsästhetischer Gesichtspunkte eine Rolle als vielmehr hinsichtlich der kulturkritischen Funktion des Films.50 Der Nexus von Zeit und Subjekt ist der Kern einer weiter gefassten Wechselbeziehung, die Memento mit dem Bewusstsein des Menschen an der Wende zum 21. Jahrhundert eingeht. Der Film präsentiert ein bestimmtes Zeitverständnis, welches seinerseits Rückschlüsse auf ein erkenntnistheoretisches

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Zit n. James Mottram: The Making of Memento. New York 2002, S. 34. Gleichwohl wurde aus rezeptionsästhetischer Sicht bereits darauf hingewiesen, dass die Zeitstruktur in Memento beim Zuschauer einen ähnlichen Effekt in Bezug auf Zeit hervorruft, wie ihn der Protagonist erlebt. Im Unterschied zu Letzterem leidet dieser − unter normalen Umständen − jedoch nicht an Leonards ‚Zustand‘; sein Filmverstehen basiert vor allem auf Leistungen des Erinnerungsvermögens. Vgl. Joachim Paech: „Erinnerungsbilder − Memento von Christopher Nolan und der postmoderne Film. Vortrag auf dem 23. Bielefelder Symposion über Fotografie und Medien 8./9.11.2002“. In: Anna Zika (Hrsg.): The Moving Image − das bewegende und bewegte Bild. Weimar 2004, S. 151–163; Berys Gaut: „Telling Stories. Narration, Emotion and Insight in ‚Memento‘“. In: Noёl Carroll/John Gibson (Hrsg.): Narrative, Emotion, and Insight. Univ. Park, Penn. 2011, S. 23–44.

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Problem zulässt, das der postmodernen westlichen Gesellschaft zugeschrieben wird. Die Koppelung von Zeit und Subjekt basiert hier auf dem Komplex ‚Erinnerung‘. Im Knotenpunkt des Traumas wird Erinnerung auf verschiedenen Wegen verhandelt. Grundlegend ist in diesem Zusammenhang aus psychologischer Sicht, dass traumatische Erinnerungen einen besonderen Status im Umgang mit Erinnerungen insgesamt einnehmen: „[T]raumatic memories, in particular, do not deteriorate much at all […]. [T]he memory of a terrible episode, once buried and not discussed with anyone else, also tends to stay intact.“51 Und weiter noch würde das traumatische Moment in einer abnormen Form von Erinnerung aufgehen, die plötzlich als ‚flashbacks‘ (Wachträume) und als traumatische Albträume ins Bewusstsein einbräche.52 In Memento liegen einerseits bewusste Erinnerungsvorgänge vor, die auf das das Trauma initiierende Ereignis (Überfall) hinweisen (und zwar in den Erinnerungs- und Traumsequenzen). Diese Erinnerungen treten aber andererseits als ungesteuerte Träume und Wachträume zutage. Alle Varianten des Geschehensmoments werden mittels fragmentarischer und meist abrupter Rückblenden umgesetzt. Des Weiteren liefert der Film eine zweite, unbewusste Erinnerung, die dem Zuschauer nicht auf direktem Wege mitgeteilt wird: die Erinnerung an die Zeit nach dem Überfall und Leonards Verhältnis zu seiner Frau, die den Übergriff entgegen Leonards eigener Darstellung überlebt hat. Offensichtlich ist dieser traumatische Zustand deshalb bemerkenswert, weil Leonard seinerseits das Moment des Überfalls als auslösendes Moment bezeichnet, während aber tatsächlich das darauffolgende und scheiternde Verhältnis zu seiner Frau das eigentlich traumatisierende Erlebnis darstellt. Das erlittene Trauma korreliert zwei Kompensationsstrategien: Die erste Strategie besteht im Umgang mit ‚Dingen der Vergangenheit‘. Ein Buch, eine Bürste, ein Teddy und andere Gegenstände werden in einen Zusammenhang gebracht, der die vergangene Szene des Überfalls nachstellen soll. Allerdings führt dies bei Leonard zu keiner Genesung. Das Verbrennen der Gegenstände kommt einem Akt der Verzweiflung gleich, der in krassem Gegensatz zu seiner bewussten Entscheidung am Ende zu sehen ist, sein System zu manipulieren und sich weiterhin seinen Rachegelüsten hinzugeben. Denn einerseits versucht Leonard, sich von seiner Vergangenheit loszureißen, andererseits verweilt er weiterhin in der Auseinandersetzung mit ihr. Eine zweite Strategie zur Kompensation des für

____________ 51 52

Lenore Terr: Unchained Memories. True Stories of Traumatic Memories. Lost and Found. New York 1994, S. 40 f. Vgl. Judith Herman: Trauma and Recovery. New York 1994, S. 39.

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Leonard in der Gegenwart unerträglichen Verhältnisses zu seiner Frau besteht in der intradiegetischen Erzählung. Diese Erzählung ist Teil der Zwischensequenzen und wird auf den ersten Blick allein durch Teddys Bericht am Ende der Geschichte als unwahre Erzählung entlarvt. Zur kritischen Betrachtung von Leonards Bericht gibt jedoch ein weiteres Indiz Anlass, das im Filmdiskurs verborgen ist und auf die Projektion der Figur Sammy Jankis auf seine eigene Person ‚Leonard Shelby‘ hindeutet: Leonards Erzählung handelt davon, festzustellen, ob für einen Versicherten namens Sammy Jankis Versicherungsschutz besteht. Dieser leidet an einer Gedächtnisstörung, aufgrund derer er Erlebnisse nur wenige Minuten memorieren kann, bevor er sie wieder vergisst. Bemerkenswert aber ist, dass Sammy über ein noch durchaus intaktes Langzeiterinnerungsvermögen verfügt, welches ihn zu komplexen Handlungen befähigt. So hebt Leonard wiederholt Sammys Fähigkeit hervor, seiner Frau Insulin zu spritzen. Da Leonard aufgrund einer Reihe von klinischen Tests davon ausgehen muss, dass Sammys Leiden nicht physischer, sondern psychischer Natur ist, entfällt der Versicherungsschutz. Wie sich aber herausstellt, geht es Sammys Frau primär nicht um den finanziellen Beistand der Versicherung, sondern um die Heilung ihres Mannes. Die Ergebnisse der durchgeführten Tests lassen sie darauf hoffen, Sammy durch Konditionierung zu heilen. In kurzen Abständen erinnert sie ihn an ihre Dosis Insulin und appelliert indirekt an sein Erinnerungsvermögen, um mit dessen Hilfe die Fatalität dieser Handlung zu erkennen. Nach ihrem Tod in Folge einer Überdosis wird Sammy in eine Anstalt eingeliefert. In der letzten Szene zeigt eine Einstellung in Nahaufnahme (und langsamer Heranfahrt) Sammy Jankis auf einem Stuhl sitzend, während Leonard kommentiert: His brain did not respond to conditioning. But he wasn’t a con man. And when she looked into his eyes she thought he could be the same person. When I looked into his eyes, I thought I saw recognition. Now I know you fake it. If you think you’re supposed to recognize somebody, you just pretend to. You bluff it to get a pat on the head from the doctors. You bluff it to seem less a freak. (1:26:13–1:26:31).

In einem Zwischenschnitt enthüllt ein match cut die Similarität zwischen Sammy Jankis und Leonard Shelby: An 1:26:30 erscheint Leonard anstelle von Sammy und blickt einem vorübergehenden Arzt hinterher. Diese Szene ist auch deshalb entscheidend, weil sie nicht nur Leonard als unzuverlässigen Erzähler enthüllt, sondern eine Verbindung zwischen Figur und Zuschauer herstellt. Der Schnitt zu Leonard (als Sammy) ist zwar kaum bewusst wahrnehmbar; das bedeutet aber nicht, dass er nicht doch (unbewusst) wahrgenommen wird. Letztlich ist es wohl nicht nur das Bedürfnis nach Aufklärung, das den Zuschauer dazu veranlasst, Teddy mit

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seiner Auflösung Glauben zu schenken, sondern ebenfalls die latente Überzeugung von Leonards Unzuverlässigkeit. Unabhängig von seinem traumatischen Zustand hat die Figur ein System zur Bewältigung seines gegenwärtigen Lebens entwickelt. Den Raum erfasst Leonard mit Hilfe einer handgezeichneten Karte, die mit Fotos diverser Örtlichkeiten wie beispielsweise dem „Discount Inn“ beklebt wird. Andere Figuren und Gegenstände werden mittels Polaroid-Kamera abfotografiert und die Fotos beschriftet. Die Nahtstelle zwischen diesem System und der Bewältigung seiner Vergangenheit verkörpern die Tätowierungen auf Leonards Körper: Sie dienen der Erinnerung an feststehende ‚Fakten‘ und dokumentieren zugleich die in seinen Körper buchstäblich eingebrannte Leidensgeschichte. Drei Etappen sind mit Blick auf Leonards Ordnungs- und Erinnerungssystem von Interesse: Zunächst stellt Leonard die von ihm entwickelte Methode vor. Abgesehen davon, dass im Film eine insofern von der Realität abweichende fiktionale Welt vorliegt, als Leonard mit nur wenigen anderen Personen in Kontakt tritt, liegt die Annahme nahe, dass sein System durchaus funktioniert. Schwachstellen werden jedoch deutlich: Erstens ist die Fixierung und Benennung von Dingen und Personen auf andere Personen angewiesen, die Leonard ehrlich und gewissenhaft unterstützen. Zweitens sind Leonards Papiere durch großflächige Streichungen gekennzeichnet, deren Inhalte im Verborgenen bleiben müssen; ebenso wie die Gründe dafür, warum Leonard diese Streichungen vorgenommen hat. Drittens erkennt er die Fehlerhaftigkeit seiner Methode und unterläuft sie selbst durch die Fälschung von Fakten. Zusammengenommen beruht das System auf der Unfehlbarkeit menschlicher Subjekte oder aber auf deren Objektivität. Beides muss – so die Aussage des Films – zwangsläufig dazu führen, dass es kollabiert. Der Umgang mit dem Erinnerungssystem wirft einige Fragen auf: Wie können Dinge als Fakten bezeichnet werden, die nicht mit Sicherheit wahr sind? Und können Fakten ihrerseits als wahr gelten? Ist der ihnen zugeschriebene Status nicht ebenfalls, wie bei Erinnerungen, abhängig von der subjektiven Wahrnehmung? Memento beantwortet diese Fragen, indem der Film das System der Fakten und der Auslagerungen von Erinnerungen scheitern lässt. Der Protagonist ist unzuverlässig in seiner Wahrnehmung und in der Wiedergabe seiner Geschichten. Obwohl am Ende offenbleibt, welche Geschichte der Wahrheit entspricht, sind die Unzuverlässigkeit und die Fehlbarkeit des Menschen als Erkenntnis eindeutig. Die Figur erscheint demnach auf besondere Weise an das Phänomen Zeit gebunden. Leonard kann als Gefangener der Gegenwart bezeichnet werden: seine Existenz beschränkt sich auf Gegenwartsmomente. Angelehnt an das oben genannte Bild einer Möbius-Schleife kann mit James Mottram dahingehend auch von einer ‚Spirale des Chaos‘ gesprochen

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werden, in der sich der Protagonist befindet.53 Dies äußert sich in mehreren Auswirkungen des traumatisch-pathologischen Zustands auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: 1. die zwanghafte Bindung an die Vergangenheit, von der sich Leonard erfolglos zu lösen versucht, 2. eine emotional positive Erinnerung an seine Frau, 3. eine verfälschte Erinnerung an die Zeit nach dem Überfall auf ihn und seine Frau, 4. eine lückenhafte Erinnerung an den Überfall selbst, 5. keine emotionale und faktische internale Speicherung von Erlebnissen der Vergangenheit seit seiner Verletzung, 6. die Unfähigkeit, die Dauer seit seiner Verletzung bis zur Gegenwart abzuschätzen, 7. ein defizitäres Gegenwartsempfinden, 8. keine anderen Zukunftsaussichten als die Aussicht auf fortwährendes Leben in Zeitabschnitten zwischen zwei Zeitpunkten des Vergessens. 2.4 Das Sein im ‚Zeitkreis‘ Dem Zuschauer wird ein Protagonist vor Augen geführt, der sein Leben mittels externer Fixierung von Fakten bestreitet;54 ein System, das ganz offensichtlich scheitert. Es scheitert vor allem deshalb, da es andere Figuren für eigene Zwecke auszunutzen versuchen, und weil Leonard es bewusst manipuliert. Alle Beteiligten wissen, dass sie über Abbildungen und Notizen Realität konstruieren können − zumindest Leonards Realität. Und diese ist am Auslöser seines Traumas ausgerichtet. Gleichwohl die vorgeführte Detektion vermuten ließe, er handele aus dem Beweggrund der Rache, so ist doch der Akt selbst als endlose Suche nach dem in der Zeit verlorenen, eigenen Selbst zu werten.55 Seine Verlorenheit zeigt sich in der ständigen Auseinandersetzung mit dem Schmerz der Vergangenheit und dem immerwährenden Neuanfang in der Zeit zwischen den Zeitpunkten des Vergessens. Der Film vermittelt durch die Exemplifikation des ‚Seins im Zeitkreis‘ die kulturpessimistische Botschaft, dass eine solche Verlorenheit einer Isolation in kultureller, zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Sicht gleichkommt. Er thematisiert die Auswirkungen eines Traumas; er erörtert ein epistemologisches Problem und präsentiert

____________ 53 54 55

Vgl. Mottram (Anm. 49), S. 34. Leonard: „The present is trivia, which I scribble down on fucking notes!“ (00:33:19). Vgl. Mottram (Anm. 49), S. 37 f.

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folglich ein skeptizistisches Weltbild, worin das Sein und die Wahrheit der Dinge an Bestand verloren haben. Anschlussfähig wird Memento an dieser Stelle an die PostmoderneDiskussion und den zweifelhaften Verdienst der poststrukturalistischen Dekonstruktion. Die extended mind-Hypothese besagt, dass Gedanken physisch realisiert werden; Vertreter dieser Hypothese prononcieren die Lokalisierung von Gedanken in Synapsen, körperlichen Prozessen also. Darüber hinaus wird angenommen, dass der Mensch mit Fähigkeiten ausgestattet ist, die es ermöglichen, internale gedankliche Prozesse in die unmittelbare Umgebung auszulagern: It certainly seems that evolution has favoured onboard capacities which are especially geared to parasitizing the local environment so as to reduce memory load, and even to transform the nature of the computational problems themselves.56

Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Zeitalters der Digitalisierung und angesichts der extended mind-Hypothese kommt nicht nur die naheliegende Frage auf, ob unsere kognitiven Vorgänge in irgendeiner Art durch das Internet gestreut werden.57 Ebenso ließe sich das Verhältnis von Gedanken und ihren externen Gegenstücken hinterfragen: Inwiefern vermag der externe ‚Gedanke‘ dem internalen Gedanken zu entsprechen? Wenn das Verhältnis zwischen beiden auseinanderdriftet, wie stellt sich ein neues Verhältnis konkret dar und inwieweit sind beide Größen überhaupt noch in Verbindung zu bringen? Die Ergründung dieser Fragen muss beinahe zwangsläufig zu einer Erkenntnisskepsis und einer Repräsentationskrise führen. Ein Kennzeichen des postmodernen Zeitalters ist die Omnipräsenz von Texten − und damit sind Texte im weitesten Sinne gemeint, Bilder, Hypertexte, Filme u. a. eingeschlossen −, das sich bereits seit der Moderne angekündigt hatte. Damit einher geht – oder aufgrund dessen verläuft – die postmoderne Entwicklung der dekonstruktivistischen Auflösung der festen Zuordnung von Text und Referenzobjekt. Fredric Jameson ist der Überzeugung, dass eine Folge des poststrukturalistischen Zweifels an der Referenz von Texten das Verweilen bei Texten selbst ist.58 Dementsprechend ist der Status von Texten selbst Gegenstand der gegenwärtigen Auseinandersetzung, nicht ihre Aussage. Cathy Caruth geht sogar so weit zu behaupten, dass die entstehenden epistemologischen Probleme eine politische wie auch eine ethische Paralyse zur Folge haben. Folglich kommt dem Verlust des Referenzobjekts ein Verlust des eigenen Seins

____________ 56

57 58

Andy Clark/David Chalmers: „The Extended Mind“. In: Analysis 58/1 (1998), S. 7–19, hier S. 11. Vgl. Clark/Chalmers (Anm. 56), S. 17. Vgl. Fredric Jameson: Postmodernism, or The Cultural Logic of Late Capitalism. Durham 1991, S. 64.

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gleich, z. B. in Form von vergangenen Ereignissen, die aufgrund des theoretischen und praktischen Umkreisens von Texten nicht mehr greifbar sind. Die Unentscheidbarkeit des Realen in der medialen Fixierung führt weitergehend dazu, den Zugang zur eigenen Vergangenheit anzuzweifeln.59 Jean Baudrillards Äußerungen über das Simulakrum in der Postmoderne sind vor diesem Hintergrund so zu verstehen, dass Realität durch multi- und plurimediale Technologien der Simulation substituiert wird. Aktuelle Simulakren sind als Repräsentationen ohne Vorbilder zu begreifen, die allein Realitätseffekte simulieren.60 Ob sie tatsächlich ohne Vorbilder auskommen oder sie sich von ihnen losgelöst haben, erscheint dann irrelevant, wenn durch sie eine neue Realität erschaffen wird. In Memento erlangen Simulakren die Herrschaft über das Leben von Leonard Shelby; dies jedoch nur deshalb, weil er selbst es zulässt. Er vergleicht seine Notizen mit Fakten und bezeichnet diese in einem Gespräch mit Teddy als authentischer als subjektiv verformte menschliche Erinnerungen (00:23:29). Er vertraut seinem System blindlings, ohne kritisch zu hinterfragen, warum Notizen geändert und Fotografien verbrannt, oder warum die Seiten eines Polizeiberichts geschwärzt wurden bzw. gänzlich fehlen. Zwar erläutert Leonard sein System, lobt dessen Funktionalität und bemängelt zugleich das unsystematische Verfahren von Sammy Jankis. In der Praxis ist er aber seinem eigenen System hilflos ausgeliefert; er ist nicht in der Lage, aus seinen Handlungsstrukturen auszubrechen. Allein der Glaube an eine außerhalb seiner eigenen Gedanken und seiner Wahrnehmungssphäre existierende Welt wie auch der wehmütige Hinweis auf die menschliche Notwendigkeit, zur Bewältigung der Vergangenheit Zeit empfinden zu können,61 sind als Fingerzeige an den Zuschauer aufzufassen. Es wäre wenig ratsam, einen Vergleich zwischen Figur und Zuschauer an dieser Stelle anzustellen. Leonard Shelby ist eine Figur, ein künstliches Konstrukt, und kein real-existierender Mensch, und seine Krankheit weist auf den ersten Blick keine gesellschaftlichen oder kulturellen Auslöser auf.62 Es kann aber abschließend festgehalten werden, dass Memento als Film zu verstehen ist, der kritisch Vorgänge der Postmoderne auf metareflexiver Ebene behandelt und Auswirkungen auf das Mensch-Sein als ästhetisch überformte Vorführung an den Zuschauer zurückgibt. Eine Aufgabe der Kunst besteht bekanntermaßen darin, die Welt zu zeigen, wie

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Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History. Baltimore, MD 1996, S. 181. Vgl. Jean Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Roland Voullié. München 1982, S. 113 f. Leonard Shelby: „How am I supposed to heal if I can’t feel time?“ (00:36:16). Vgl. Kravitz (Anm. 40), S. 22.

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sie sein könnte. Die Modellhaftigkeit des Films und seine gleichzeitige Anbindung an die Realität illustriert vor allem der Name „Leonard Shelby“ (engl. shall be; dt. wird sein, möglicherweise). Die Aspekte der Notwendigkeit und der Wahrscheinlichkeit wie sie Aristoteles für die Tragödie postuliert, sind in Memento aber zusätzlich an den erörterten Themen festzumachen: Leonards Krankheitszustand könnte ebenfalls in der realen Welt zu den im Film vorgeführten Konsequenzen führen. Ebenso könnte ein vergangenes Erlebnis traumatisierend wirken und die gegenwärtige Handlung motivierend prägen. Es bleiben aber – vernachlässigt man einmal diese Unwägbarkeiten – die Fragen nach dem Sinn unserer Texte, ihrer Notwendigkeit und unserer Abhängigkeit von ihnen bestehen. Die postmoderne Suche nach dem Sinn von Texten, nach der Realität hinter der Simulation, nach dem Objekt hinter seinem Abbild gleicht einem Pendeln zwischen zwei Seiten, dies Pendeln wiederum eines ‚Seins im Kreis‘. Literatur Baudrillard, Jean: Der symbolische Tausch und der Tod. Übers. von Gerd Bergfleth, Gabriele Ricke und Roland Voullié. München 1982. Becker, Andreas: Erzählen in einer anderen Dimension. Zeitdehnung und Zeitraffung im Spielfilm. Darmstadt 2012. Blödorn, Andreas: „Bild/Ton/Text. Narrative Kohärenzbildung im Musikvideo, am Beispiel von Rosenstolz‘ ‚Ich bin ich (Wir sind wir)‘“. In: Susanne Kaul/JeanPierre Palmier/Timo Skrandies (Hrsg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld 2009, S. 223–242. Böhnke, Alexander: „Die Zeit der Diegese“. In: Montage/AV 16/2 (2007), S. 93–104. Bordwell, David: Narration in the Fiction Film. London 1985. Bridgeman, Teresa: „Time and Space“. In: David Herman (Hrsg.): The Cambridge Companion to Narrative. Cambridge 2007, S. 52–65. Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative and History. Baltimore, MD 1996. Clark, Andy/Chalmers, David: „The Extended Mind“. In: Analysis 58/1 (1998), S. 7– 19. Deleuze, Gilles: Kino 1. Das Bewegungs-Bild. Übers. von Ulrike Bokelmann und Ulrich Christians. Frankfurt a. M. 1989. Deleuze, Gilles: Kino 2. Das Zeit-Bild. Übers. von Klaus Englert. Frankfurt a. M. 1997. Emrich, Hinderk M./Gerbothe, Cornelia/Lilienthal, Peter (Hrsg.): Über die Verwandlung der Zeit in Gegenwart im Film. Zur philosophischen Psychologie von Realität und Traum im Kino. Vorlesungen an der Kunsthochschule für Medien Köln (KMH), 1995–2005. Göttingen 2010. Gallego, Carlos: „Coordinating Contemporaneity. (Post) Modernity, 9/11, and the Dialectical Imagery of ‚Memento‘“. In: Cultural Critique (CultCrit) 75 (2010), S. 31– 64.

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ANTONIUS WEIXLER (Wuppertal)

Zeit in der Malerei. ‚Ein Pferd hat zwanzig Beine‘ – Über Simultaneität in Futurismus und Kubismus 1. Lessings „Laokoon“ und die Folgen 205 – 1.1 Das Erzählen in der Bildenden Kunst 207 – 1.2 Zeit der Darstellung vs. dargestellte Zeit 212 – 1.2.1 ‚discours‘-Zeit: vor und nach dem „fruchtbaren Augenblick“ 213 – 1.2.2 ‚histoire‘-Zeit: Die Gegenwart der Vergänglichkeit 216 – 1.3 Rezeption 217 – 2. Formen der Zeitdarstellung in der Malerei des Futurismus und Kubismus 220 – 2.1 Kubismus 220 – 2.2 Robert Delaunays Orphismus 223 – 2.3 Futurismus 223 – 2.4 Erweiterung des Modells: Diachrone, achrone und synchrone Chronotopoi 225

1. Lessings Laokoon und die Folgen Noch immer ist die Frage nach der Zeit in der Malerei eine durchaus ungewöhnliche, erscheint bildende Kunst doch als das Medium der Darstellung eines Augenblicks und nicht eines zeitlichen Verlaufs. Diese Einsicht hat sich durch Gotthold Ephraim Lessings Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) und die berühmte Differenzierung zwischen verbal-sprachlicher Zeit- und bildnerisch-malerischer Raumkunst für Jahrhunderte verfestigt. Kunst- wie theoriegeschichtlich stellt Lessings Diagnose der vermeintlichen ‚Zeitlosigkeit‘ der Malerei hingegen eine Ausnahme dar. Indem sich Lessing einerseits am zentralperspektivischen Tafelbild der Renaissance orientierte, nimmt er sich dasjenige kunstgeschichtliche Paradigma zum Vorbild, das sich deutlich stärker als in den Epochen und Genres davor und danach auf die Darstellung eines bestimmten Augenblicks konzentrierte. Die Kunstpraxis ist von frühen Beispielen – Felsenmalerei, Reliefe altägyptischer Grabeskunst, antike Bilderfriese oder mittelalterliche Kirchenfenster – bis hin zu neueren Formen wie dem Comic über weite Strecken ihrer Geschichte von dem Bemühen geprägt, zeitliche Verläufe durch zyklisches Erzählen darzustellen.1 Und auch innerhalb des Tafelbildes gibt es mit dem Polyphasen-

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Vgl. Werner Wolf: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik: Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“. In: Vera Nünning/Ansgar Nünning

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Einzelbild2 bzw. multiphase picture3 ein Genre mit langer Tradition, das mehrere Zeitabschnitte und Ereignisses innerhalb eines Bildraumes zeigt. Andererseits sind auch in der Kunsttheorie und -kritik seit Leon Battista Albertis Untersuchung über die historia (in De Pictura [Über die Malkunst] 1435/1436) die Versuche Legion, Malerei im Hinblick auf ihre Erzählfunktion zu analysieren. Eine komplementäre Gegenposition zu Lessing vertritt beispielsweise Gottfried Boehm in seiner Arbeit zu „Bild und Zeit“ (1987), wonach in der Rezeption von Malerei dem Zeitaspekt gar der „Vorrang“ vor der Raumerfassung „einzuräumen“ sei.4 Diese einleitenden Ausführungen machen bereits deutlich, dass für eine Operationalisierung von Zeit in der Malerei im Rahmen einer narratologischen Analyse die Analyseebenen stärker unterschieden werden müssen. Im ersten Abschnitt wird der vorliegende Artikel einen Differenzierungsversuch unternehmen, indem die wichtigsten kunstwissenschaftlichen Abhandlungen aus strukturalistisch-narratologischer Perspektive geordnet werden. Zeit in der Malerei wird oftmals im Zusammenhang mit der Frage thematisiert, ob es sich bei der bildenden Kunst um eine narrative Gattung beziehungsweise ein narratives Medium handelt (1.1). Die Erzählfähigkeit von Gemälden hängt dabei auch vom jeweiligen Genre ab; Abschnitt 1.1 wird verschiedene generische Differenzierungsmodelle vorstellen. Abschnitt 1.2 wird sich der Frage widmen, ob die literaturwissenschaftlich-narratologische Unterscheidung von „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ auf die Analyse von Malerei übertragbar ist. Für bildende Kunst erscheint es hierbei sinnvoll, die bestehenden Forschungsbeiträge stärker nach der Darstellung von Zeit im Medium Bild (als discours-Ebene) und Zeit als inhaltlichem Thema der bildenden Kunst (histoire) zu differenzieren. In der Analyse der Temporalität bildender Kunst ist darüber hinaus auch die Rezipientenseite gesondert zu betrachten (1.3). Im zweiten Teil (2.) wird der Streit zwischen Kubisten und Futuristen über Urheberschaft und Deutungshoheit des Konzeptes ‚Simultaneität‘ einer Diskurs- und Bildanalyse unterzogen. Dieser Streit ist für das vorliegende Untersuchungsinteresse deshalb besonders einschlägig, weil es den Künstlern

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(Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–104, hier S. 54; Wolfgang Kemp: „Ellipsen, Analepsen, Gleichzeitigkeiten. Schwierige Aufgaben für die Bilderzählung“. In: Ders. (Hrsg.): Der Text des Bildes: Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München 1989, S. 62–88. Wolf (Anm. 1), S. 55. Göran Sonesson: „Mute Narratives: New Issues in the Study of Pictorial Texts“. In: UllaBritta Lagerroth/Hans Lund/Erik Hedling (Hrsg.): Interart Poetics: Essays on the Interrelations of the Arts and Media. Amsterdam 1997, S. 243–251, hier S. 244. Gottfried Boehm: „Bild und Zeit“. In: Hannelore Paflik (Hrsg): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim 1987, S. 1–23, hier S. 12.

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beider Richtungen dezidiert um eine Integration eines spezifischen Zeitaspektes in die formal-ästhetische Darstellungsqualität von Malerei ging. 1.1 Das Erzählen in der Bildenden Kunst So sehr sich zum einen die Vorstellung von der Atemporalität der Malerei seit Lessing hartnäckig hält, wird zum anderen dennoch selten in Frage gestellt, dass bildende Kunst erzählen kann. Da aber in sämtlichen Bestimmungen des Erzählens der Zeitaspekt eine zentrale Rolle spielt, wird über den Umweg der Diskussion um malerische Narrativität deutlich – wenn auch mitunter nur implizit –, dass Zeit in der Malerei eine bedeutsame Größe darstellt.5 Michael Titzmanns Position, die Möglichkeit malerischer Narrativität vollständig zu verneinen, ist in dieser Diskussion eine Ausnahme.6 Vielmehr ist in der Kunstwissenschaft zu beobachten, dass die Erzählfähigkeit von bildender Kunst lange „schlechthin vorausgesetzt“ wurde, ohne diese jedoch theoretisch zu fundieren.7 Und selbst Untersuchungen, die sich explizit mit der Narrativität von Malerei auseinandersetzten, ist ein „Defizit an Theoriebewußtsein“ vorzuwerfen, da sie ‚narrativ‘ und ‚Erzählen‘ meist nur „rein intuitiv und entsprechend schwammig“ verwenden.8 Dass ohne Weiteres vorausgesetzt werden konnte, dass bildende Kunst erzählen kann, liegt unter anderem an den über Jahrhunderte hinweg kanonisierten Erzählinhalten. Da überwiegend der „griechischrömische Mythos und die christliche Heilsgeschichte, aber auch zum humanistischen Bildungskanon gehörige geschichtliche Ereignisse und Exempla“ dargestellt wurden, galt auch das Rezeptionsinteresse vornehm-

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Vgl. für eine ausführliche Diskussion Klaus Speidel: „Can a Still Single Picture Tell a Story? Definitions of Narrative and the Alleged Problem of Time with Single Still Pictures“ In: Diegesis 2.1 (2013), S. 173–194. URN: urn:nbn:de:hbz:468-20130604-0834458-9 (letzter Zugriff: 1.3.2015). Michael Titzmann: „Theoretisch-methodologische Probleme einer Semiotik der Text-BildRelationen“. In: Wolfgang Harms (Hrsg.): Text und Bild, Bild und Text: DFG-Symposion 1988. Stuttgart 1990, S. 368–384. Hilmar Frank/Tanja Frank: „Zur Erzählforschung in der Kunstwissenschaft“. In: Eberhart Lämmert (Hrsg.): Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin 1999, S. 35–51, hier S. 35. Wolf (Anm. 1), S. 24. Wolf kritisiert mit dieser Beobachtung konkret Alpers, Burnham und McClary, da sie allesamt auf eine Definition des Erzählens verzichteten. Vgl. Svetlana Alpers: „Describe or Narrate? A Problem in Realistic Representation“. In: New Literary History 8 (1976), S. 15–41; Scott Burnham: Beethoven Hero. Princeton 1995; Susan McClary: „The Impromptu That Trod on a Loaf: or How Music Tells Stories“. In: Narrative 5 (1997), S. 20–35.

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lich einem Wiedererkennen dieser „Weltanschauungserzählungen“.9 Mit der Formel ut pictura poesis wird in der Renaissance nicht nur die Bilderzählung der Historia zu einer hoch geschätzten Gattung, mit der Formel wird auch der Überzeugung Ausdruck verliehen, dass Malerei und Poesie beide gleichwertig dieselben Stoffe erzählen und sich gegenseitig befruchten können. Simonides bringt dies auf die prägnante Formel, dass Poesie redende Malerei, Malerei hingegen stumme Poesie sei.10 Im 18. Jahrhundert entwickelt sich die Differenzierung der Künste, die an der vorgeblich unterschiedlichen Zeit- und Raumstruktur der Künste festgemacht wird und nebenbei auch dazu führt, dass das Erzählen von nun an medienspezifisch verstanden wird. Bildende Kunst wird nun zur Raumkunst, die lediglich ein punctum temporis darzustellen vermag. Lessing überführt Shaftesburys Schlagwort vom ‚pregnant moment‘ der Historienmalerei in seine Theorie vom ‚fruchtbaren Augenblick‘,11 mit der Zeit und Raum dann vollends auseinandertreten: „die Zeitfolge ist das Gebiet des Dichters, so wie der Raum das Gebiet des Malers“.12 War das Prinzip ut pictura poesis noch ein dezidiert „erzählfreundliche[s]“, ist mit Lessings Laokoon „das unbefangene Interesse an den erzählerischen Möglichkeiten der bildenden Kunst auf ein Minimum beschränkt“.13 Die beiden Bildkonzepte ut pictura poesis und punctum temporis unterscheiden sich insbesondere in ihren Zeitvorstellungen. Wie Hilmar und Tanja Frank darlegen, wird in ersterem Zeit dahingehend berücksichtigt, dass innerhalb eines Gemäldes eine Zustandsveränderung dargestellt wird. Einer Szene der Historienmalerei kann entsprechend eine „Zeitdifferenz eingeschrieben [werden]; die Mittel hierfür reichen vom unwahrscheinlichsten Zusammenrücken des Anfangs- und Endpunktes eines Gesche-

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Frank/Frank (Anm. 7), S. 35. Vgl. hierzu auch Speidel (Anm. 5), S. 174.. Zitiert nach Frank/Frank (Anm. 7), S. 36. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie [1766]. In: Ders. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 5.2: Werke 1766–1769. Hg. von Wilfried Barner, Frankfurt a. M. 1990, S. 32: „Kann der Künstler von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick, und der Maler insbesondere diesen einzigen Augenblick auch nur aus einem einzigen Gesichtspunkte brauchen, sind aber ihre Werke gemacht, nicht bloß erblickt, sondern betrachtet zu werden, lange und wiederholtermaßen betrachtet zu werden, so ist es gewiß, daß jener einzige Augenblick und einzige Gesichtspunkt dieses einzigen Augenblickes nicht fruchtbar genug gewählet werden kann.“ Vgl. auch Frank/Frank (Anm. 7), S. 36. Lessing (Anm. 11), S. 130. Frank/Frank (Anm. 7), S. 36. Speidel kann indes zeigen, dass Lessing das Erzählen in der Malerei vor allem aus ästhetisch-normativen Gründen ablehnt, durchaus aber konzediert, dass Bildende Kunst erzählen kann. Vgl. Speidel (Anm. 5), S. 182. Für eine affirmative Lektüre Lessings im Hinblick auf die Probleme der Zeitdarstellung in „Bilderzählungen“ siehe Luca Giuliani: Bild und Mythos. Geschichte der Bilderzählung in der griechischen Kunst. München 2003, v. a. S. 21–37.

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hens […] bis zum subtilsten Arrangement der Bewegungen und Blicke“.14 In letzterem Verständnis wird die Zeitdimension hingegen mit dem ‚fruchtbaren Augenblick‘ „auf ein Minimum reduzier[t]“.15 Nach Frank und Frank ist mit Lessings Laokoon jedoch immerhin ein „Anfang einer erzähltheoretischen Reflexion bildender Kunst gewonnen“.16 Quer zu diesen beiden Zeitpositionen liegt in der Diskussion um die Narrativität der Malerei die Behauptung, dass visuelles Erzählen stets eines sprachlichen Fundaments bedürfe. Bebildert Malerei die großen „Weltanschauungserzählungen“, ist der Bezug zu einem sprachlichliterarischen Ursprungstext offenkundig; ein Bezug, der zudem durch die Titelgebung der Gemälde meist expliziert wird. Weitere Beispiele sind sprachliche Einfügungen wie Beschriftungen (Briefe, Bücherrücken oder auch die in der Heraldik und Emblematik üblichen Impresen und Tituli). Mit Erwin Panofskys Ikonologie und ihrem zentralen Theorem des „wiedererkennenden Sehens“17 wird dieses Identifizieren und Wiedererkennen der sprachlichen Ursprungserzählung zur zentralen Analysemethodik der Kunstwissenschaft.18 Damit verfestigt sich nicht nur die Behauptung des Vorzugs der sprachlichen Erzählfähigkeit vor der visuellen, auch die Betrachtung des Zeitaspekts in der Malerei wird in der ikonologischen Methode letztlich nahezu vollkommen ausgeblendet.19 Aus ikonologischer und ikonographischer Perspektive erscheint das bildliche Erzählen somit als sekundär und der sprachlichen Ausdrucks- und Erzähltätigkeit nachgestellt. Max Imdahl entwickelt mit der Ikonik demgegenüber eine Analysetheorie, der es in ihrem analytischen „sehenden Sehen“20 gerade darum geht, das der bildenden Kunst eigenständige, nicht-sprachliche Gestaltungspotential herauszuarbeiten.21

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Frank/Frank (Anm. 7), S. 36. Frank/Frank (Anm. 7), S. 37. Frank/Frank (Anm. 7), S. 37. So fasst Max Imdahl prägnant Panofskys Interpretationsmethode zusammen und stellt dem sein „sehendes Sehen“ entgegen, vgl. Max Imdahl: Giotto Arenafresken. Ikonographie, Ikonologie, Ikonik. München 1988, S. 89. Erwin Panofsky: „Ikonographie und Ikonologie“. In: Ekkehard Kaemmerling (Hrsg.): Bildende Kunst als Zeichensystem. Ikonographie und Ikonologie, Bd. 1: Theorien – Entwicklung – Probleme. Köln 1994, S. 207–225. Vgl. Frank/Frank (Anm. 7), S. 43 f. Imdahl (Anm. 17), S. 89. Gottfried Boehm stellt entsprechend fest, dass das Imdahl’sche ‚sehende Sehen‘ „sprachfern“ sei. Gottfried Boehm: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache.“ In: Ders./Helmut Pfotenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Über Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 23–40, hier S. 27. Felix Thürlemann verfestigt diese ikonische Wende hin zu einer eigenständigen Theorie der Bilderzählung, in der er nicht mehr nach einem Wiedererkennen, sondern nach einem eigenständigen „Bildtext“ fragt. Felix Thürlemann: „Geschichtsdarstellung als Geschichtsdeutung. Eine Analyse der Kreuztragung (fol. 19) aus dem Pariser Zeichnungsband des Jacopo Bellini“. In: Wolfgang

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Wolfgang Kemp hat in diversen Arbeiten das literaturwissenschaftlich geprägte narratologische Instrumentarium auf bildlich-malerisches Erzählen angewendet.22 Jedoch betont auch Kemp zunächst die Bedeutung des meist sprachlich-literarisch vorliegenden Vorwissens. Doch kann Kemp dann sehr anschaulich am zyklischen Erzählen von William Hogarth, Max Klinger und Augustus Leopold Egg zeigen, dass eben auch Malerei in Intervallen und somit in Ellipsen sowie Analepsen erzählen und zugleich durch Simultaneität geprägt sein kann. In der Übertragung der LeerstellenTheorie23 auf die Malerei und der daraus folgenden Beobachtung, dass das Wesentliche in Intervallen und insbesondere in dem ausgelassenen Dazwischen erzählt werden kann, erkennt Kemp denn auch den entscheidenden Mehrwert, den das erzähltheoretische Instrumentarium in die Analyse von Malerei einbringen kann. Kemps luzide Bildanalysen zeigen anschaulich, wie mit malerisch-rhetorischen Mitteln der Lichtregie (z. B. Schattenwurf, Verschattung von Bildausschnitten, etc.) die Bildgegenwart im Hinblick auf ein Davor und Danach überschritten und auch in Gemälden rhythmisch (im Genette’schen erzähltheoretischen Sinne) erzählt werden kann. Im Zuge der Diskussionen um die Narrativität der Malerei – und dies ist auch für die Zeitdarstellung von Bedeutung – wurden in der Forschung verschiedene generische Differenzierungs- und Systematisierungsmodelle entwickelt. Die verschiedenen Schemata unterscheiden sich dabei nach Form, Inhalt und Genre der Bilderzählungen. Form: Grundlegende Differenzierungsmodelle von Bilderzählungen nach der Anzahl der auf Gemälden dargestellten Szenen einerseits sowie nach Einzelbildern und Zyklen andererseits liefern Franz Wickhoff und Aron Kibédi Varga. Vargas Systematisierung wird u. a. von Werner Wolf aufgegriffen, wobei Wolf lediglich eine minimale Präzisierung vornimmt, indem er nicht einzelne Szenen, sondern Phasen unterscheidet. Vier Grundtypen werden unterschieden:

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Kemp (Hrsg.): Der Text des Bildes. Möglichkeiten und Mittel eigenständiger Bilderzählung. München 1989, S. 89–115, hier S. 90. Wolfgang Kemp: Sermo Corporeus. Die Erzählung der mittelalterlichen Glasfenster. München 1987 und Kemp (Anm. 1). Werner Wolf versucht dem einerseits literaturwissenschaftlich geprägten Begriffsinventar der Narratologie und den andererseits unreflektierten Verwendungen des Erzählbegriffs in der Kunstwissenschaft ein differenziertes Modell entgegenzustellen, kommt aber in seiner Untersuchung, die das Narrative als kognitives Schema versteht, nicht über das wenig überraschende Ergebnis einer zunehmenden Implizitheit des Narrativen von Literatur über Malerei bis hin zur Musik hinaus, vgl. Wolf (Anm. 1). Arthur C. Dantos Definition des Erzählerischen folgend, führt Kemp die Unterscheidung zwischen „innerer“ und „äußerer Leerstelle“ ein, vgl. Kemp (Anm. 1), S. 67. In seiner Analytical Philosophy of History (1965) nimmt A. C. Danto eine Definition des Erzählens anhand des Ereignisbegriffes vor. Ereignis wiederum bestimmt Danto mit einem „Before“ und „After“, also mit einer „Differenz durch die Zeit, in der Zeit“ (Kemp [Anm. 1], S. 70).

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1. das monoszenische Einzelbild (Varga), Monophasen-Einzelbild (Wolf) 2. pluriszenisches Einzelbild (Varga), Polyphasen-Einzelbild (Wolf), „multiphase picture“ (Sonesson), „Pluralzeit und Singularraum“ (Baudson), „komplettierende“ und „kontinuierende Darstellungsart“ (Wickhoff),24 3. die Bildreihe aus monoszenischen Einzelbildern (Varga) bzw. einsträngige Bildserie (Wolf), „distinguierende Erzählweise“ (Wickhoff), 4. die Bildreihe aus pluriszenischen Einzelbildern (Varga) bzw. mehrsträngige Bildserien (Wolf).25 Die beiden pluriszenischen, mehrsträngigen Varianten zwei und vier werden oftmals auch als „Simultanbilder“26 bezeichnet, da sie gleichzeitig zwei zeitlich getrennte Erzählausschnitte darstellen. Gattungen können sich diesem Schema einordnen, müssen es aber nicht. So ist das Historienbild üblicherweise ein monoszenisches Einzelbild, während zyklische Erzählformen für gewöhnlich aus einer Bildreihe monoszenischer Einzelbilder bestehen (z. B. Friese, Kreuzwegdarstellungen, mittelalterliche Kirchenfenster oder Comic).27 Frank und Frank kritisieren deshalb zurecht, dass sich nicht alle bildlichen Erzählformen diesem Schema einordnen lassen; Flügelaltar und Triptychon sind beispielsweise eine Kombination aus monoszenischen und pluriszenische Einzelbildern.28 Es ist offensichtlich, dass die Narrativität in diesen vier Erzählschemata aufsteigend zunimmt, weshalb Wolf beispielsweise auch von einer Graduierbarkeit des Narrativen ausgeht und die letzten drei Formen als „genuin narrativ“, die erste hingegen lediglich als „narrationsindizierend“ bewertet.29 Inhalt: Sonesson untersucht verschiedene Formen monoszenischen Erzählens und unterscheidet aus semiotischer Perspektive zwischen den

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Wickhoffs Unterscheidung von ‚komplettierender‘, ‚distinguierender‘ und ‚kontinuierender Erzählweise‘ synthetisiert Form- und Inhaltsaspekte und fügt sich nicht passgenau in die hier gewählte Struktur, vgl. Franz Wickhoff: Römische Kunst. Dritter Band: Die Wiener Genesis. Hrsg. von Max Dvoràk. Berlin 1912, S. 12–17. Aron Kibédi Varga: „Visuelle Argumentation und visuelle Narrativität“. In: Wolfgang Harms (Hrsg.): Text und Bild, Bild und Text. DFG-Symposion 1988. Stuttgart 1990, S. 356– 367; Wolf (Anm. 1), S. 55–57; Sonesson (Anm. 3); Michel Baudson: „Pluralzeit und Singularraum“. In: Ders. (Hrsg.): Zeit, die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim 1985, S. 109–113; Vgl. auch Frank/Frank (Anm. 7), S. 40–42. Wolf (Anm. 1). Vgl. Frank/Frank (Anm. 7), S. 41. Frank/Frank (Anm. 7), S. 41 f. Wolf (Anm. 1), S. 96. Speidel liefert ebenfalls eine narratologische Diskussion der Erzählfahigkeit von Bildern, doch während er im Hinblick auf narratologische Definitionen des Erzählens sehr differenziert argumentiert, behandelt er seinen Untersuchungsgegenstand zu oberflächlich: Zwar gibt er vor „single still pictures“ zu untersuchen, diskutiert tatsächlich aber fast durchgehend pluriszenische Einzelbilder. Vgl. Speidel (Anm. 5).

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Inhaltsaspekten „pictures with implied specific temporality“, in denen ein ‚fruchtbarer Moment‘ auch das Davor und Danach mit andeutet; „picture[s] with implied generic temporality“, deren iteratives Erzählen eine Handlung prototypisch darstellt; sowie den angenommen Fall eines „totally static picture“, das keinerlei Zeit- oder Handlungsverlauf andeutet.30 Genre: Im Hinblick auf die Erzählfähigkeit ändert sich je nach Genre auch die Art der Erzählmöglichkeiten. Beispielsweise handelt es sich bei Historia, Landschaftspanorama oder Porträt in der Regel stets um monoszenische Einzelbilder, die einen ‚fruchtbaren Augenblick‘ darstellen. Doch während die Historie durch den Titel einen im kulturellen Vorwissen gespeicherten Handlungsablauf aufrufen kann, stehen Landschaftsgemälden und Porträts nur sehr viel implizitere Möglichkeiten, „narrationsinduzierend“ zu wirken zur Verfügung wie etwa Mimik oder Bildrhythmik. Stillleben hingegen wollen in der Regel nicht erzählinduzierend wirken. 1.2 Zeit der Darstellung vs. dargestellte Zeit Mit der Bestimmung von „Erzählzeit“ und „erzählter Zeit“ prägt Günther Müller eine für die Erzähltheorie grundlegende Differenzierung zwischen der Dauer, in der sich eine erzählte Handlung abspielt, und der Dauer, die eine Narration benötigt, davon zu erzählen.31 Ohne sich auf diese literaturwissenschaftliche Bestimmung zu beziehen, finden sich in kunstwissenschaftlichen Arbeiten zu Zeit in der Malerei oftmals analoge Differenzierungen. Gottfried Boehm beispielsweise unterscheidet zwischen einer „Zeit der Darstellung“ und „dargestellter Zeit“ beziehungsweise „Zeit des Dargestellten“ und erläutert den Unterscheid der beiden Kategorien etwas nebulös mit dem „ikonischen Inhalt“ eines Gemäldes einerseits und dem „Gehalt“ andererseits.32 Auch Frank und Frank sprechen ganz selbstverständlich von einer „anschauchliche[n] und deutlich fühlbare[n], wenn

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Sonesson (Anm. 3), S. 245. Vergleichbar Wickhoffs „kontinuierendem Erzählen“ untersucht August Schmarsow zyklische Erzählweisen, vgl. August Schmarsow: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft. Leipzig/Berlin 1905. Vgl. hierzu Wickhoff (Anm. 24), S. 12–17; Frank/Frank (Anm. 7), S. 40. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“ [1948]. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 269–286, vgl. hierzu auch die Einleitung des Bandes. Boehm (Anm. 4), S. 4 und 20. Darüber hinaus verwendet Boehm auch noch den Terminus der „Bildzeit“, dem er die Umschreibung „Zeit, die einem Dargestellten eigen ist“, beistellt (Ebd. S. 13).

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auch nicht meßbare[n] Bildzeit“.33 Paul Philippot differenziert die Zeit der Malerei auf einer ikonologischen und einer formalen Ebene.34 Kemp bezieht sich in seiner Übertragung des narratologischen Instrumentariums auf Müller sowie auf Christian Metz’ Bestimmung des „monnayer un temps dans un autre temps“.35 In seiner Anwendung gibt Kemp allerdings zu bedenken, dass die narratologischen Bestimmungen für bildende Kunst nur „sehr eingeschränkt“ Gültigkeit besitzen, da „eine kunstvolle Rhythmisierung des Verhältnisses von erzählter und Erzählzeit, eine Abstimmung verschiedener Längen von Bilderzählungen nicht zu erwarten ist (Sonderleistungen ausgenommen)“.36 Ebenso von der narratologischen Grunddifferenzierung beeinflusst erscheinen Umberto Ecos Unterscheidung einer „Zeit des Ausdrucks“ und einer „Zeit des Inhalts“ sowie Klaus Speidels Gegenüberstellung von „presentation-time“ und „storytime“.37 1.2.1 discours-Zeit: vor und nach dem ‚fruchtbaren Augenblick‘ In der Forschung wird wiederholt darauf hingewiesen, dass es sich bei der klassischen Lessing-Rezeption um ein „Mißverständnis“38 handele, das überwiegend auf der Verwechslung von Darstellungsträgern und -möglichkeiten beziehungsweise Medien basiere: Lessing untersucht die „materiellen Substrate[ ]“ – und hierbei sind Leinwand, Stein oder Bronze starr und räumlich, Sprache und Ton hingegen zeitlich und bewegt – und nicht die medialen Darstellungsmöglichkeiten von Zeit und Raum.39 Für die Bildzeit der bildenden Kunst lässt sich somit zweierlei festhalten: Da das mediale Material nicht in einer zeitlich messbaren Sukzessions-Figuration angeordnet, sondern räumlich fixiert ist, ist einerseits zu konstatieren, dass es keine der „Erzählzeit“ vergleichbare Maßeinheit in der bildenden Kunst gibt. Doch andererseits impliziert die Tatsache, dass mit dieser herkömmlichen, auf dem medialen Material basierenden Erzählzeit-Vorstellung der Zeit in der Malerei „nicht beizukommen“ ist,40

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Frank/Frank (Anm. 7), S. 37. Von „Bildzeit“ sprechen auch Boehm (vgl. Anm. 32) und Heinrich Theissing: Die Zeit im Bild. Darmstadt 1987, S. 18. Paul Philippot: „Anhaltspunkte für eine Geschichte der Zeit in der westlichen Kunst“. In: Michel Baudson (Hrsg.): Zeit, die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim 1985, S. 127–155. Christian Metz: Film Language. A Semiotics of the Cinema. New York 1974, S. 18. Vgl. bei Kemp (Anm. 1), S. 62. Kemp (Anm. 1), S. 62 f. Umberto Eco: „Die Zeit der Kunst“. In: Michel Baudson (Hrsg.): Zeit, die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim 1985, S. 73–83, hier S. 73; Speidel (Anm. 5), S. 188 ff. Boehm (Anm. 4), S. 6. Nahezu wortgleich: Boehm (Anm. 4), S. 6 und Frank/Frank (Anm. 7), S. 36. Boehm (Anm. 4), S. 6.

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durchaus auch, dass Zeit in der Malerei mit anderen Maßeinheiten messbar sein kann. Im Folgenden wird dies an den Aspekten a) Relation, b) Simultaneität des ‚fruchtbaren Augenblicks‘, c) Rhythmus und d) Bewegung und Physiognomie der Figuren diskutiert. a) Relation: Betrachtet man Gemälde nicht einfach nur als ein fixiertes totum, sondern sukzessive nach den es konstituierenden Abschnitten und Teilen, wird ersichtlich, dass zu einer Grundbestimmung von bildender Kunst die „Relation von Elementen“ gehört.41 Schon die einfachste relative Anordnung von Punkten oder Elementen nebeneinander auf einer Fläche erzeugt zugleich ein Nacheinander. Boehm weist darauf hin, dass durch die Relation von Elementen die entstehende optische Beschleunigung sowohl räumlich wie zeitlich interpretiert werden kann […] [sofern] das Auge sich bildadäquat verhält, die Sukzession immer rückverbindet mit der Simultaneität, das Wechselspiel von Teil und Ganzem wirklich vollzieht.42

Beispielsweise erzeugt die Anordnung von kleiner werdenden Objekten von links unten nach rechts oben die zeitlichen Phänomene Zustandsveränderung, Bewegung und Beschleunigung sowie den räumlichen Effekt der Dreidimensionalität.43 Auch bildende Kunst ist in der relativen Anordnung ihrer Elemente also ein sukzessiv zu rezipierendes Medium.44 Im Hinblick auf die Relation wäre die Bild- oder Erzählzeit von Malerei demnach jene Zeit, die ein Rezipient benötigt, um die einzelnen Elemente nacheinander zu betrachten (Perzeptionszeit/Rezeptionszeit). b) Simultaneität des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ und Bildzeit: Im Anschluss an diese grundsätzlichen Überlegungen zur Relation interpretiert Boehm die Lessing’sche Beschreibung des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ als zeitlichen Aspekt. Da dieser Augenblick das Davor und Danach, das „Noch-nicht“ und das „Gewesen-sein“ mit aufruft, kann nach Boehm auch ein einziges Bildelement allein bereits eine Relation implizieren.45 „Lessings Forderung, den Moment transitorisch zu wählen, meint nichts anderes als: durchgängig für den Zeitsinn nach den beiden Richtungen der Zeit“.46

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Boehm (Anm. 4), S. 7. Boehm (Anm. 4), S. 7–11. Wassily Kandinsky und Paul Klee leiteten aus dieser Überzeugung auch den Versuch einer bildlichen Syntax ab – siehe Boehm. Boehm leitet aus dieser Beobachtung den eingangs erwähnten Vorrang der zeitlichen vor der räumlichen Wahrnehmung von bildender Kunst ab, vgl. Boehm (Anm. 4), S. 12. Als Gegenargument wird hierzu gern angeführt, dass Malerei die Rezeptionszeit nicht bewusst steuern kann. Vgl. Giuliani (Anm. 13), S. 27; Speidel zeigt wiederum, dass dies für eine positive Bewertung der Erzählfähigkeit von Malerei gemäß narratologischer Definitionen des Erzählens aber auch nicht nötig ist. Speidel (Anm. 5), S. 188. Boehm (Anm. 4), S. 13. Boehm (Anm. 4), S. 13.

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Folgt man dieser Lesart, steckt also auch in einem einzelnen Element, das einen vereinzelten Augenblick darstellt, eine abstrakte Bildzeit.47 c) Rhythmus: Lessing wählt als Beispiel für den ‚fruchtbaren Augenblick‘ der von ihm thematisierten Laokoon-Gruppe die Tatsache, dass die titelgebende Hauptfigur nicht während des Höhepunktes der gezeigten Handlung schreiend, sondern in einem mittleren und gemilderten Augenblick seufzend gezeigt wird.48 Die kunstwissenschaftliche Analysekategorie ‚Bildrhythmik‘49 widmet sich der Beschreibung derartiger „Wende- oder Haltepunkte[ ]“50 der Körperbewegung, wie sie beispielsweise an einem Uhrpendel oder einem zum Schlag ausholenden Arm deutlich werden können.51 Nach Boehm veranschaulichen Rhythmus und Bewegung „Zeit mittels der Relation zu [ ]einem Ruhepunkt“.52 In solchen gemalten Pendelbewegungen kann demnach eine „Bewegung in der Zeit“ dargestellt werden: „Der zeittragende, der fruchtbare Moment (punctum temporis) ist seiner Struktur nach doppeldeutig, logisch gesehen paradox.“53 d) Figur: Bewegung und Physiognomie: Die Rhythmuslehre kann sich auf die Relation zwischen sämtlichen Bildelementen beziehen, meist jedoch wird der Zusammenhang von Rhythmus und Zeit an den Figuren abgelesen. Rhythmus und Zeit können an der Bewegung eines Körpers aber auch, vor allem in Porträts und Stillleben, an der Physiognomie und Mimik, an Gesten und Blicken von Figuren dargestellt werden. So sind es in Giorgiones La Vecchia (1510) – neben dem in die Hand geschobenen Stück Papier mit der Aufschrift „col tempo“ – vor allem Mimik und körperliche Äußerlichkeiten, die den Eindruck einer „dahinstürzenden Zeit“ erzeugen.54

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Boehm nennt dies einen „virtuellen Zeitablauf“ (Boehm [Anm. 4], S. 17). Vgl. Lessing (Anm. 11), S. 21 f. Erwin Panofsky definiert Rhythmus als „stetige Ordnung optischer und akustischer Eindrücke in der Zeit […] [;] ein regelmäßiger Wechsel zwischen Abschwächung und Verstärkung, Hebung und Senkung“, vgl. Erwin Panofsky: „Besprechung des Buches von Hans Kauffmann, Albrecht Dürers rhythmische Kunst“. In: Jahrbuch für Kunstwissenschaft. Leipzig 1926, S. 136–192, hier S. 136 f. Boehm (Anm. 4), S. 14. Vgl. z. B. Antonio Pallaiuolo: Herkules im Kampf mit der lernäischen Hydra, um 1465/70, vgl. Boehm (Anm. 4), S. 13–18. Boehm (Anm. 4), S. 15. Boehm (Anm. 4), S. 18. Für weitere Untersuchungen zur Bildrhythmik siehe Wölfflins Untersuchung zum Rechts und Links in Gemälden (Anm. 53) sowie, Wölfflin aufgreifend: Lorenz Dittmann: „Bildrhythmik und Zeitgestaltung in der Malerei“. In: Hannelore Paflik (Hrsg.): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim 1987, S. 89–124, hier S. 96. Boehm (Anm. 4), S. 18.

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1.2.2 histoire-Zeit: Die Gegenwart der Vergänglichkeit Zeit in ihrer „dahinstürzenden“ Verlaufsform ist als Vanitas-Motiv eines der wichtigsten histoire-Themen der Kunstgeschichte. Die Vergänglichkeit alles Irdischen ist ein bedeutender Bezugspunkt etwa der mittelalterlichen Kunst und wird im Vanitas-Stillleben zu einem eigenen Genre ausgebildet.55 Mit der bürgerlichen Emanzipation des Individuums in der Makroepoche Moderne verliert auch das Vanitas-Motiv an Bedeutung, manche Motive werden auf Gemälden aber weiterhin für die Darstellung von vergangener/vergehender Zeit benutzt, etwa herabgebrannte Kerzen, Schattenwurf (bzw. allgemein die Lichtregie) und Uhren. Paul Philippot legt in einer Studie den Versuch vor, die Kunstgeschichte nach den Zeitvorstellungen des Bildinhaltes zu ordnen. Seine Genealogie von histoire-Zeitkonzepten beginnt mit der antiken römischen Kunst eines „fortlaufenden historischen Stil[s]“ (z. B. Trajansfries), die von der symbolischen Bedeutung der heilsgeschichtlichen Zeit der christlichen Kunst mit der universellen, geheiligten Zeit gefolgt wird. Die spezifisch „westliche“ Kunst beginnt für Philippot mit der Gotik: „Der Reduzierung der äußeren Zeit der Erzählung entspricht eine neue Dichte der Dauer: ein subjektiver Gehalt.“56 Die Art der Ereignisdarstellung ist demnach mit einer spezifischen Zeitvorstellung und Raumvorstellung verbunden: Mit der Zentralperspektive entsteht ein Raum, der nicht mehr „kontemplative Dauer“ mit symbolischer, heilgeschichtlicher Bedeutung, sondern „konkrete räumliche-zeitliche Kontexte des Ereignisses“ darstellt.57 Zu vergleichbaren Beobachtungen kommt auch Michel Baudson, der vor der Renaissance Werkfolgen wie den Teppich von Bayeux oder das Stundenbuch Les Tres Riches Heures des Herzogs von Berry (1410–16) als Darstellung einer „zeitliche[n] Analogie“ versteht, „die Kenntnis über den Kalender, die zyklische und rhythmische Abfolge der Jahreszeiten und der Lebensabschnitte widerspiegelt“.58

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Zu den wichtigsten Motiven zählen Totenköpfe, Skelette, verloschene oder herabgebrannte Kerzen, Sanduhren, verwelkte Blumen, Spiegel, leere Gläser, zerbrochenes Geschirr, Ruinen, Uhren etc. Für eine Vergleichsstudie zu Vanitas-Motiven in Kunst, Literatur und Musik siehe beispielhaft: Liana De Girolami Cheney: The Symbolisms of Vanitas in Arts, Literature and Music. Comparative and Historical Studies. Lewiston u. a. 1992. Philippot (Anm. 34), S. 132. Philippot (Anm. 34), S. 127–132. Baudson (Anm. 25), S. 109. Den Renaissance-Stil des pluriszenischen, simultanen Erzählens beschreibt Baudson als eine „synthetische“ Zeit, die Simultaneität der klassischen Moderne hingegen als „kinematische Darstellung“ (ebd.).

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1.3 Rezeption In den bisherigen Ausführungen ist bereits wiederholt deutlich geworden, dass es sich bei Zeit in der Malerei im Wesentlichen um eine abgeleitete Dimension handelt. Erst in der Rezeption wird aus der räumlichen Relation von Bildelementen ein zeitliches Phänomen, wird aus einem fixierten ‚fruchtbaren Augenblick‘, einer Bewegung, der Physiognomie einer Figur oder der Bildrhythmik ein zeitlicher Verlauf mit einem Davor und Danach. Wolf konstatiert entsprechend, dass, da in der bildenden Kunst „ein Großteil der Geschichte außerhalb des Einzelbildes“ stattfindet, dem Rezipienten ein Großteil der Narrativierung zufällt und Malerei entsprechend eine „konstruktive Mitarbeit des Betrachters“ erfordert.59 Götz Pochat spricht im Zusammenhang von Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst vom für die Zeit der Malerei konstitutiven „inneren Zeitbewußtsein[ ]“ des Betrachters.60 Und auch bei Boehm wird der Rezipientenbezug immer wieder deutlich, zumal „der Zeitmesser für die Bilderfahrung kein Instrument sein kann, sondern im Betrachter selbst zu suchen ist, in seinem Zeitsinn, einem Vermögen, das aus bestimmten […] Bildstrukturen die Erfahrung von Zeit bildet“.61 Diese Differenzierung folgt damit bereits bestehenden Versuchen, das Instrumentarium der Narratologie transgenerisch zu erweitern und für die Analyse anderer Gattungen fruchtbar zu machen. In diesen Ausweitungen der Erzähltheorie auf Gegenstandsbereiche, die nicht durch eine klassisch-narrative ErzählerInstanz vermittelt werden, wird oftmals die Sinn- und Kohärenzstiftung der Rezipientenseite besonders hervorgehoben.62 Die Zeit der Betrachtung in der bildenden Kunst ist indes noch weiter zu differenzieren in eine Zeit der visuellen Perzeption sowie eine Zeit der hermeneutischen Rezeption und der abgeleiteten beziehungsweise (re-)aktivierten Erfahrung. Perzeptionszeit/Prozesszeit: Marianna Torgovnick konstatiert in ihrer Vergleichsstudie, dass der Prozess der Rezeption bei literarischen Texten und Gemälden nach ähnlichen kognitiven frames ablaufe und eine Zeit-

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Wolf (Anm. 1), S. 70–73. Götz Pochat: Bild / Zeit: Zeitgestalt und Erzählstruktur in der bildenden Kunst von den Anfängen bis zur frühen Neuzeit. Wien 1996, S. 21. Boehm (Anm. 4), S. 6. Analog zum oben Beschriebenen stellen etwa Jörg Schönert und Peter Hühn in ihrer narratologischen Lyrik-Analyse fest: „Durch Auswahl, Verkettung und Bedeutungszuschreibungen werden dabei Geschehenselemente und Gegebenheiten vom Rezipienten zu sinnhaft kohärenten Sequenzen verknüpft.“ Jörg Schönert/Peter Hühn: „Einleitung: Theorie und Methodologie narratologischer Lyrik-Analyse“. In: Dies./Malte Stein: Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Berlin/New York 2007, S. 1–18, hier S. 7, im Original mit Hervorhebung.

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dimension besitzte.63 Müller bestimmt die Erzählzeit einfach mit dem Umfang der Seiten eines Textes, also einer räumlichen und nicht zeitlichen Maßeinheit. Doch ist damit die Zeit gemeint, die es braucht, einen Text zu lesen. Interessanterweise wird in kunstwissenschaftlichen Abhandlungen dagegen sehr oft vom Leseweg oder „Erschließungsweg des Auges“ gesprochen.64 Das Auge ‚wandert‘, so eine gängige Umschreibung in Gemäldeinterpretationen, von einem Bilddetail zum nächsten, folgt dabei bestimmten Bildachsen oder Pfaden, die vom Rhythmus, von Farben oder von Kontrasten vorgegeben werden. Dieser Rezeptionsweg ist ein zeitlicher Prozess, der mit einer räumlichen Metapher beschrieben wird. Theissing und Eco sprechen in einem vergleichbaren Zusammenhang unabhängig voneinander von „Betrachtungszeit“,65 wobei insbesondere Eco hiermit nicht so sehr den Perzeptionsweg eines Gemäldes, sondern vielmehr die Zeit meint, die man benötigt, um z. B. ein architektonisches Kunstwerk zu umgehen und zu betrachten („Umlaufzeit“/ „Aufnahmezeit“).66 Während Eco dies seiner „Zeit des Ausdrucks“ unterordnet, spricht er in Bezug auf seine zweite Kategorie, die „Zeit des Inhalts“, auch von der „Lesezeit“ bzw. „Zeit der Wiederzusammensetzung“.67 Im geschilderten Rezeptionsprozess wandert das Auge nicht lediglich von einem Bilddetail zum nächsten, die sukzessive Bildwahrnehmung der einzelnen Abschnitte wird vielmehr immer wieder auf das Ganze bezogen und „kopräsent“ wahrgenommen.68 Der „hermeneutischen Maxime“ entsprechend findet die Rezeption von bildender Kunst, so Boehm, also in einem „Wechselverhältnis zwischen Simultaneität und Sukzession“ statt.69 Was Boehm dabei nicht näher differenziert, ist, dass es hierbei zu zwei Arten von Simultaneität kommt. Einerseits ist die bereits erläuterte prozessuale Perzeptionszeit/Prozesszeit ein simultanes Zeitphänomen. Andererseits ist davon die Rezeption des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ als eben

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Marianna Torgovnick: The Visual Arts, Pictorialism, and the Novel: James Lawrence, and Woolf. Princeton 1985, S. 30–35. Vgl. auch Wolf (Anm. 1), S. 54. Boehm (Anm. 4), S. 21. Theissing unterscheidet drei Zeitaspekte in der Malerei: „historische Zeit“, „Betrachtungszeit“ und „Bildzeit“, vgl. Theissing (Anm. 33), S. 18; Eco spricht von der „Aufnahmezeit des Betrachters“ (Anm. 37), S. 73–77. Eco (Anm. 37), S. 75. Eco (Anm. 37), S. 73 und 77–83. Boehm (Anm. 4), S. 20. In eye-movement-Tests wurde das sukzessive Rezipieren von Bilder untersucht. Die Muster, die sich dabei ergeben, können Boehms These durchaus stützen. Vgl. zur Auswertung derartiger empirischer Untersuchungen Giuliani (Anm. 13), S. 27 f.; Speidel (Anm. 5), S. 187 f. Boehm (Anm. 4), S. 20.

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eines Augenblicks, der das Davor und Danach mit andeutet, zu unterscheiden. Rezeptionszeit: Der ‚fruchtbare Augenblick‘ erzeugt die simultane Wahrnehmung eines Davor, Während und Danach. Boehm umschreibt diesen Aspekt damit, dass in der Laokoon-Gruppe der Schmerz derart dargestellt sei, dass er die „Einbildungskraft“ anrege, wodurch der tatsächliche Vollzug des dargestellten Ereignisses „ins Innere des Betrachters verlegt wurde“.70 Da es für die Erfassung dieses zeitlichen Verlaufs im simultanen Augenblick einer verstehenden Verarbeitung der Bildinformation bedarf, handelt es sich um einen Zeitaspekt, der allein in der Rezeption als Aktivierung des Schemas des Narrativen entsteht, und der demnach von der reinen Perzeption zu unterscheiden ist. Im Fall der Malerei ist diese Zeit nicht vergleichbar objektiv in Seitenzahlen oder Filmsekunden messbar, mit der Kategorie ‚Rezeptionszeit‘ aber zumindest beschreibbar.71 Einer so verstandenen Rezeptionszeit am nächsten kommt Ecos Bestimmung der „Zeit der Zitate“ oder auch „Zeitlichkeit der Enzyklopädie“, womit er den Zeitumfang eines Zitats und Anspielungen auf Konzepte ‚wiedererkennenden Sehens‘ beschreibt.72 Lediglich kursorisch sei noch angemerkt, dass sich Künstler immer schon des Zeitaspektes von Perzeption und Rezeption bewusst waren und dies in Gemälden auch explizit ausstellen. So ist in Flügelaltären und insbesondere Triptycha der Vorgang des Aufklappens, durch den aus einem Einzelbild ein dreiteiliger Zyklus wird, ein wesentlicher Gestaltungs- und Rezeptionsaspekt. Auch im Motiv der Vorhänge ist eine Inszenierung der Perzeptions- und Rezeptionszeit zu sehen. Noch bis ins 18. Jahrhundert war es üblich, Gemälde durch schwere Vorhänge einerseits vor Licht zu schützen und andererseits die Enthüllung und Präsentation in privaten Salons durch das Aufziehen besonders zu inszenieren. Maler haben auf diese Inszenierungspraxis durch das Darstellen von Vorhängen in Gemälden immer wieder angespielt (z. B. Rembrandt van Rijn: Die heilige Familie mit dem Vorhang, 1646). Komplementär dazu wurde in metadiskursiven Spiegelungen des Malers im Bild, wie etwa schon 1656 in Diego Velázquez’ Las Meniñas, mit dem Prozess des Malens auch die Produktionszeit von Malerei mit ausgestellt.

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Boehm (Anm. 4), S. 14. Womit auch deutlich geworden sein dürfte, dass mit der Rezeptionszeit nicht lediglich die Zeitspanne gemeint ist, die das Verstehen (und in einem weiter gefassten Verständnis vielleicht sogar die wissenschaftliche Analyse und Interpretation) beansprucht. Eco (Anm. 67), S. 82 f.

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2. Formen der Zeitdarstellung in der Malerei des Futurismus und Kubismus Die skizzierten Positionen beziehen sich nahezu sämtlich auf gegenständliche Genres der klassischen Epochen, in denen die Zentralperspektive als Leitparadigma fungierte. Im zweiten Teil sollen nicht nur Beispielinterpretationen mithilfe des vorgestellten Differenzierungs- und Analysemodells vorgenommen werden, Gegenstand sind darüber hinaus Gemälde, die zum Teil mit der Zentralperspektive brechen und zudem einer zunehmenden Abstrahierungstendenz in den Künsten der Klassischen Moderne folgen. Derart kann im Folgenden sowohl die vorgestellte Heuristik einer Prüfung unterzogen werden, als auch der bisherige Fokus zu Zeit in der Malerei noch einmal erweitert werden. Die Malerei des Futurismus und Kubismus wird zumeist unter den genannten Stichpunkten der Überwindung von Zentralperspektive und (herkömmlicher) Gegenständlichkeit betrachtet. In den Künstlerdebatten der Zeit um 1900 wird allerdings deutlich, dass es den kubistischen und futuristischen Malern insbesondere um die formal-ästhetische Integration des spezifischen Zeit-Phänomens Simultaneität ging. Die Bedeutung von Simultaneität als eines der zentralen wirkungsästhetischen und poetischen Kernbegriffe diverser künstlerischer Strömungen der „Hochmoderne“73 wird schon allein an der Vielzahl von Kunstwerken deutlich, die im Titel explizit oder implizit auf dieses Zeitthema verweisen.74 Von Interesse ist in diesem Zusammenhang der Streit, der sich zwischen führenden Vertretern des Futurismus und Kubismus um die Urheberschaft und Deutungshoheit des Konzeptes ‚Simultaneität‘ entwickelt. 2.1 Kubismus Ohne ‚Simultaneität‘ explizit zu gebrauchen, spricht Georges Braque 1908 – und damit bereits kurz nach Pablo Picassos Les Demoiselles d’Avingnon (1907) – in einem Interview von der Notwendigkeit, einen Akt in drei verschiedenen Ansichten zu zeichnen, „um jeden körperlichen Aspekt der weiblichen Figur wiederzugeben“.75 Maurice Raynal erkennt „die Leistung des Kubismus in der neuen Möglichkeit, einen Gegenstand ‚in allen seinen

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Hans Ulrich Gumbrecht: „Kaskaden der Modernisierung“. In: Johannes Weiß (Hrsg.): Mehrdeutigkeiten der Moderne. Kassel 1997, S. 17–43, hier S. 20 und 31 ff. Umberto Boccioni und Robert Delaunay haben beispielsweise jeweils ganze SimultaneitätsZyklen produziert. Nicolaj van der Meulen: Transparente Zeit. Zur Temporalität kubistischer Bilder. München 2002, S. 49.

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Dimensionen‘ zugleich darstellen zu können“.76 Schließlich veröffentlichen Albert Gleizes und Jean Metzinger im Dezember 1912 ihr einflussreiches Manifest Du cubisme, in dem sie die Überwindung der Raum-ZeitDarstellung der klassischen Zentralperspektive postulieren: Ein Maler kann auf ein und demselben Bild eine Stadt in China, Frankreich, Berge, Meere, Pflanzen, Tiere darstellen. […] So wird es auch die Besserwisser nicht mehr in Harnisch bringen, wenn man sich um einen Gegenstand herumbewegt, um von ihm mehrere aufeinanderfolgende Erscheinungsformen zu erfassen, die, zu einem einzigen Bild zusammenfließend, ihn im Zeitverlauf darstellen.77

Gleizes und Metzinger stellen zwei Arten von Simultaneität gegenüber. Einerseits die gleichzeitige Darstellung von getrennten Orten, andererseits die Simultaneität zeitlich nacheinander betrachteter Ansichten. Die Überwindung der zentralperspektivischen Begrenzungen eines Fensterblicks ist nicht eine ausschließlich räumlich-optische Transgression, sondern birgt einen Zeitaspekt. Die revolutionäre Neuerung wird von Gleizes und Metzinger darin erkannt, dass Malerei einen „Zeitverlauf“ durch die „aufeinanderfolgende“ Kombination unterschiedlicher räumlicher Ansichten darstellen kann. Damit wird emphatisch die Möglichkeit der Darstellung von Raum und Zeit in der Malerei proklamiert. So schreibt Metzinger in Cubisme et tradition (1911): „Das Bild nahm den Raum in Besitz, und so herrschte es auch in der Zeit.“78 In der Forschung wird in diesem Zusammenhang stets auf den Einfluss Henri Bergsons Zeitphilosophie mit der Unterscheidung von physikalisch messbarer Zeitspanne und dem individuellen Erlebnis einer durée – auch „erlebte Zeit“ genannt –, hingewiesen.79 Im menschlichen Bewusstsein entsteht die Zeiteinheit einer durée demnach dann, wenn verschiedene sukzessive Bewusstseinszustände wie Vergangenes und Gegenwärtiges miteinander verschmelzen; wenn aus Sukzession also simultane Dauer wird.80 Bergsons Zeitphilosophie entspricht folglich der – oben skizzierten – zweiten Lesart kubistischer Simultaneität. Diese durée-Simultaneität lässt sich beispielhaft an Jean Metzingers Portrait Albert Gleizes (1912) zeigen. Das Portrait ist in drei gleich große vertikale Streifen unterteilt, wobei sich das Mittelstück noch einmal in vier

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Meulen (Anm. 75), S. 44. Meulen (Anm. 75), S. 42. Jean Metzinger, zitiert nach Meulen (Anm. 75), S. 49. Als prominente Forschungsposition ist in diesem Zusammenhang zu nennen: Edward Fry: Der Kubismus. Hrsg. von Werner Haftmann. Köln 1966, S. 45–47; Linda D. Henderson: The Fourth Dimension and Non-Euclidean Geometry in Modern Art. Princeton 1983, S. 91 f. Bergson selbst spricht in „Bezug auf eine Überlagerung von „erlebter Zeit“ (durée) und physikalisch messbarer Zeit (die in Verbindung mit Raum- und Streckenwerten steht), von „simultanéité“. Meulen (Anm. 75), S. 47.

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dünne Streifen teilt. Der Abschnitt in der Mitte des mittleren Streifens ist einerseits durch die gelbe, warme Farbgebung und andererseits durch den konventionell gegenständlichen (und eigentlich impressionistischen) Stil besonders betont. Dieser Abschnitt ist als einziger noch wie ein klassisches Einzelportrait (Schulterstück) gestaltet. Die anderen Bildstreifen zeigen den Portraitierten aus unterschiedlichen Blickwinkeln: In der linken Hälfte Schulter mit Revers und Malpalette, die rechte Seite kombiniert Rücken- und Seitenansicht. Zudem sind Abschnitte des Bartes zu sehen und insbesondere der Hut wird aus mehreren Perspektiven, darunter auch von oben und von unten, gezeigt. Konträr zur Monoszenik eines klassischen Portraits ist Metzingers Gemälde ein pluriszenisches Einzelbild. Es kombiniert Frontalansicht mit Viertel-, Halb- sowie Vollprofil und deutet gar das gewöhnlich nur für Selbstportraits verwendete, sogenannte ‚verlorene Profil‘ an. Metzinger wurde für die vermeintlich naive81 und naturalistische82 Kombination von Blickwinkeln scharf kritisiert und aus dem Kreis des elaborierteren analytischen Kubismus um Pablo Picasso und Georges Braque ausgeschlossen.83 Dass die Portraitierung Gleizes’ aus verschiedenen, räumlichen Blickwinkeln einen Zeitverlauf darstellt, wird mit der Analyse der „Zeit der Darstellung“ und der „dargestellten Zeit“ deutlich: Während im klassischen Portrait beide Zeiten deckungsgleich einen kurzen Augenblick umfassen, entspricht die „Zeit der Darstellung“ hier der Länge des Herumgehens um eine Person. Die „dargestellte Zeit“ beziehungsweise „Bildzeit“ wiederum umfasst die Zeitdauer, die der Rezipient benötigt, die einzelnen Bildstreifen sukzessive zu ‚lesen‘ und zu einem Portrait zusammenzusetzen. Da nicht alle einzelnen Abschnitte der Rundumsicht dargestellt werden, haben wir es in diesem multiszenischen Tafelbild mit einem elliptischen Erzählen, wie es Kemp für die Malerei skizziert hat, zu tun. Perzeptionszeit und Rezeptionszeit sind hingegen deckungsgleich, da diese beiden Zeitaspekte durch die Untergliederung des Gemäldes in Streifen und die Zergliederung des Portraitierten in einzelne Blickwinkel im Bild mit inszeniert werden. Die formale Integration dieser Zeitaspekte in abstrakt-kubische Grundformen geht auf Kosten von detaillierter Darstellung von Physiognomie, Bewegung und anderer histoire-Elemente.

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Fry (Anm. 79). Douglas Cooper/Gary Tinterow: The Essential Cubism. Braque, Picasso & their Friends; 1907– 1920. London 1983. Daniel Rosenfeld: European Painting and Sculpture, ca. 1770–1937, in the Museum of Art, Rhode Island School of Design. Philadelphia 1992, S. 190.

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2.2 Robert Delaunays Orphismus Robert Delaunay hat sich einen veritablen Streit mit Umberto Boccioni um die Urheberschaft des Begriffs ‚Simultaneität‘ geliefert und einen ganzen Zyklus dem Konzept gewidmet. Da er in seinen ab 1912 begonnen Farbexperimenten anhand einer disque simultané den Begriff jedoch vollkommen atemporal versteht, sind die Simultangemälde seines orphistischen Kubismus letztlich als ein Sonderweg zu bezeichnen. Im programmatischen Essay La Lumière (1912) erläutert Delaunay, dass er sein Simultaneitätsverständnis an naturwissenschaftlichen Vorstellungen der Farbenlehre orientiert. So ist das „Licht“ für ihn ein „Farben-Organismus aus komplementären Werten, aus zum Paar sich ergänzenden Werten, aus Kontrasten auf mehreren Seiten zugleich“.84 Im Gegensatz zu den anderen menschlichen Sinnen, die, Delaunay zufolge, Reize zeitlich und sukzessiv wahrnehmen, zeichnet sich der „Gesichtssinn“ für ihn durch das „Gleichzeitigkeitsverhältnis von Teilung und Vereinigung“ aus.85 Um mit Malerei eine „universale[ ] Wirklichkeit von größter Tiefenwirkung“ darstellen zu können, muss sich der Maler entsprechend an den „Lichterscheinung[en] des Gegenstandes“ orientieren.86 Delaunays Simultaneitätsverständnis ist also als ein Kompositionsschema von Komplementärfarben von Belang und weder an räumliche noch zeitliche Vorstellungen gebunden. Die von ihm entwickelte „Simultanscheibe“ stellt für Delaunay entsprechend eine bildsprachliche Grundvokabel dar, die er in seinen Gemälden beständig variiert. 2.3 Futurismus Die Programmatik der futuristischen Simultaneität entwickelt sich zunächst in der Malerei und wird später von Filippo Tommaso Marinetti in die Manifeste der futuristischen Literatur übertragen. Umberto Boccioni, Carlo Carrà und Luigi Russolo bezeichnen im Technischen Manifest der futuristischen Malerei (1910) die Wirkungsästhetik der Simultaneität als ihr wesentliches Merkmal. Simultaneität stellt für sie die Möglichkeit dar, in der eigentlich auf einen „fixierten Augenblick“87 begrenzten Malerei Bewe-

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Robert Delaunay: „Über das Licht“. Übers. von Paul Klee. In: Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und die Künste 144/145 (1913), Sp. 255–256, hier Sp. 255. Delaunay (Anm. 84), Sp. 255 f. Delaunay (Anm. 84), Sp. 255 f. Umberto Boccioni/Carlo Carrà/Luigi Russolo: „Die futuristische Malerei – Technisches Manifest“. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 307–310, hier S. 307.

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gung und Schnelligkeit festhalten und damit in einem starren Bild Dynamik erzeugen zu können: Die Geste ist für uns nicht mehr ein fixierter Augenblick des universellen Dynamismus, sondern sie wird die als solche festgehaltene dynamische Empfindung sein. Alles bewegt sich, alles fließt, alles vollzieht sich mit größter Geschwindigkeit. Eine Figur steht niemals unbeweglich vor uns, sondern sie erscheint und verschwindet unaufhörlich. Durch das Beharren des Bildes auf der Netzhaut vervielfältigen sich die in Bewegung befindlichen Dinge, ändern ihre Form und folgen aufeinander wie Schwingungen im Raum. So hat ein galoppierendes Pferd nicht vier, sondern zwanzig Beine, und ihre Bewegungen sind dreieckig.88

Diese Einsicht, ein Tier in schneller Bewegung besitze mehr als vier Beine, wird in frühen Simultaneitätsbildern sozusagen ‚wörtlich‘ umgesetzt, beispielsweise von Giacomo Balla in Dinamismo di un cane al guinzaglio (1912). Um den Futurismus vom Kubismus zu differenzieren, führt Boccioni weiter aus: Es ist also nicht wahr, daß schon die Zerlegung der Formen eines Gegenstandes allein Dynamismus ist. […] Mit dem Dynamismus steigt die Kunst also auf eine höhere geistige Stufe, schafft einen Stil und wird zum Ausdruck unserer Epoche der Geschwindigkeit und Simultaneität.89

Neben Simultaneität ist Geschwindigkeit das zweite Signalwort der futuristischen Bewegung. Entlang dieser beiden Schlagwörter haben sich in der Malerei des Futurismus auch zwei gegensätzliche Strömungen der Zeitdarstellung entwickelt. Beispiele für die futuristische Interpretation von Simultaneität sind etwa die beiden Großstadtszenen A strada entra nella casa (1911) und Visioni simultanee (1911/12) von Umberto Boccioni. In beiden Gemälden wird jeweils aus einer Draufsicht ein stark belebter Platz gezeigt. In A strada entra nella casa wird die Perspektivierung der Übersicht dadurch motiviert, dass der Betrachter sich im Bildvordergrund zusammen mit einer Frau auf einem Balkon befindet und den Platz überblickt. Beide Stadtpanoramen sind zentralperspektivisch, aber mit deutlich zergliederten und dissoziierenden Fluchtpunkten gestaltet, was der Gestaltung zusammen mit den deutlichen Farbkontrasten zwischen rot/gelb- und blau/grün-dominierten Abschnitten einen starken Rhythmus und eine flirrende Dynamik verleiht. Beide Boccioni-Gemälde sind monoszenische Einzelbilder mit einer „dargestellten Zeit“ im Umfang eines photographisch kurzen Augenblicks. In dieser futuristischen Auslegung von Simultaneität werden in einem Augenblick sämtliche simultanen Großstadteindrücke wie Lärm,

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Boccioni/Carrà/Russolo (Anm. 87), S. 307. Umberto Boccioni: „Bildnerischer Dynamismus“. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 323–326, hier S. 323 f.

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Enge, Disparatheit, technische Beschleunigung in Straßenbahnen und Automobilen zusammengedrängt vermittelt – die Stadt dringt mit ihrem Schmutz und Lärm in das Zimmer des Hauses ein. Physikalisch ist die „Zeit der Darstellung“ also nur einen Augenblick lang, nimmt aber eine Breite und Intensität einer synchronen Weltsekunde bzw. eine deutlich längere Dauer (mit Bergson) an – die ihre ästhetische Entsprechung zudem in der Rezeptionszeit findet. Die zweite Strömung futuristischer Zeitgestaltung gilt der Darstellung von Dynamik und Geschwindigkeit. In diese Reihe gehört auch Ballas bereits erwähntes Gemälde. Besonders eindrücklich wird dieses Prinzip aber in Luigi Russolos Dinamismo di un automobile (1912/13). In beiden Gemälden ist der Einfluss der Chronophotographie unverkennbar: Es werden Ausschnitte eines Autos bzw. Hundes in schneller Bewegung gezeigt. In Russolos Umsetzung gewinnt das Bildmotiv durch die Gliederung des Gemäldes in pfeilförmige Abschnitte, die an die Luftströmungskegel vor Projektilen erinnern, die erst mit der technischen Neuerung der Schlierenphotographie sichtbar gemacht werden konnten, eine bildinterne Dynamik. In einem einzelnen, monoszenischen Bild verdichtet sich, was die Chronophotographie nur in vielen sukzessiven und chronologischen Aufnahmen – also in einer langen Bilderreihe aus monoszenischen Einzelbildern – zeigen kann: die Dynamik der Bewegungsgeschwindigkeit. Russolo und Balla integrieren in einer Monoszene die „Bildzeit“ einer chronophotographischen Bilderreihe. 2.4 Erweiterung des Modells: Diachrone, achrone und synchrone Chronotopoi Die Diskurs- und Bildanalyse zeigt, dass Simultaneität von Kubisten und Futuristen vor allem als Möglichkeit der Integration eines Zeitverlaufes in die medien-materiellen Bedingungen einer auf eine zweidimensionale Leinwand festgelegten Malerei erkannt und verwendet wurde. Nichtsdestotrotz birgt auch dieses Konzept neben einem zeitlichen auch einen räumlichen Aspekt: ein Zeitverlauf entsteht durch simultanes Darstellen diverser räumlicher Ansichten. Simultaneität ist demnach per se chronotopisch. Michail M. Bachtins Bestimmung des Chronotopos kann entsprechend helfen, die dichotome Vorstellung von Literatur und Kunst als Zeit- bzw. Raumkunst zu differenzieren: Im künstlerisch-literarischen Chronotopos verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit, des Sujets, der

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Geschichte hineingezogen. Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.90

Simultaneität ist nicht nur ein chronotopes Phänomen, kulturhistorisch erweist sich Simultaneität als der Chronotopos der Klassischen Moderne. Hans Ulrich Gumbrecht betont in seiner Untersuchung zur kaskadenartigen Abfolge der Moderne-Begriffe „Frühmodern[e]“, „[e]pistemologische Moderne“, „Hochmoderne“ und „Postmoderne“, dass es sich bei dem „Chronotop ‚historische Zeit‘“ nicht um ein „metahistorisches Phänomen“, sondern um ein Konstrukt handelt.91 Während für die Frühmoderne das Entstehen des modernen Subjektbegriffs zentral sei, ist nach Gumbrecht „historische Zeit“ der spezifische Chronotopos der epistemologischen Moderne.92 Der Chronotop der Postmoderne wiederum zeichnet sich dadurch aus, dass sämtliche bisherigen Chronotopen „simultan verfügbar“ sind.93 Für die Hochmoderne aber, d. h. für die Zeit von Kubismus und Futurismus, erkennt Gumbrecht „einen Chronotop der Gleichzeitigkeit“ als charakteristisch.94 Auch Hans Robert Jauß erläutert die Epochenschwelle des Jahres 1912 mit dem „neue[n] Prinzip der Simultaneität“.95 Die Rede von Simultaneität als Chronotopos der Hochmoderne erfährt somit eine doppelte Berechtigung: Simultaneität ist eines der zentralen (Diskurs-)Phänomene der Zeit und Simultaneität ist zur Zeit der Hochmoderne nur über die Verschränkung von Zeit und Raum zu erläutern. Die Gegenüberstellung von „nebeneinander“ und „aufeinander“ in Lessings Laokoon kann sodann abschließend für eine Differenzierung der diversen Simultaneitäts-Begriffe und -Darstellungen appliziert werden.96 So kann Simultaneität, die durch ein Nebeneinander geprägt ist, als diachroner Chronotopos bezeichnet werden. Werden durch das AufeinanderSchichten von Strukturen Simultaneitäts-Effekte erzeugt, liegt folglich eine synchrone Form des Chronotopos vor. Mit Delaunays SimultaneitätsDiskurs wurde ein Beispiel angeführt, das sich weder durch ein Aufeinander noch ein Nebeneinander zeitlicher Elemente auszeichnet, so dass auch die Form eins achronen Chronotopos anzunehmen ist.

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Michail M. Bachtin. Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008, S. 7. Gumbrecht (Anm. 73), S. 21–34. Gumbrecht (Anm. 73), S. 26 ff. Gumbrecht (Anm. 73), S. 36. Gumbrecht (Anm. 73), S. 33. Hans Robert Jauß: Die Epochenschwelle 1912. Guillaume Apollinaire: „Zone“ und „Lundi Rue Christine“. Heidelberg 1986, S. 8. Lessing (Anm. 11), S. 116.

Zeit in der Malerei

227

Der Bachtin’sche Chronotopos erlaubt somit die Integration von Zeitaspekten in das heuristische Modell der Analyse von Zeit in der Malerei. Es ist zu präzisieren, dass monoszenische Einzelbilder und Bildreihen tendenziell von synchronen, pluriszenischen Einzelbildern, Bildreihen hingegen von diachronen Chronotopoi geprägt sind. Auch weitere Analyseebenen können mit dieser neuen Struktur differenziert werden. Die mit Boehm skizzierte Relation von Bild-Elementen beruht ebenso auf diachronen Chronotopoi wie die Perzeptionszeit des Rezeptionsprozesses. Die von Boehm dargelegte Simultaneität des ‚fruchtbaren Augenblicks‘ sowie die Rezeptionszeit sind dagegen synchronen Chronotopoi zuzuordnen. Schließlich sind die beiden Simultaneitätsvarianten von Gleizes und Metzinger aufgrund ihrer Synchronität („auf dem selben Bild eine Stadt in China, Frankreich, Berge, Meere“ etc. darstellen) und Diachronität (wie „wenn man sich um einen Gegenstand herumbewegt“) zu unterscheiden. Im Futurismus beruht die Darstellung von Simultaneität auf synchronchronotopischen Formen, während Dynamik und Bewegung diachronchronotopisch sind. Literatur Alpers, Svetlana: „Describe or Narrate? A Problem in Realistic Representation“. In: New Literary History 8 (1976), S. 15–41. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008. Baudson, Michel: „Pluralzeit und Singularraum“. In: Ders. (Hrsg.): Zeit, die vierte Dimension in der Kunst. Weinheim 1985, S. 109–113. Boehm, Gottfried: „Bild und Zeit“. In: Hannelore Paflik (Hrsg): Das Phänomen Zeit in Kunst und Wissenschaft. Weinheim 1987, S. 1–23. Boehm, Gottfried: „Bildbeschreibung. Über die Grenzen von Bild und Sprache.“ In: Ders./Helmut Pfotenhauer (Hrsg.): Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung. Über Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. München 1995, S. 23–40. Boccioni, Umberto/Carrà, Carlo/Russolo, Luigi: „Die futuristische Malerei – Technisches Manifest“. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 2009, S. 307–310. Boccioni, Umberto: „Bildnerischer Dynamismus“. In: Hansgeorg Schmidt-Bergmann: Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek bei Hamburg 2009, S. S. 323– 326. Burnham, Scott: Beethoven Hero. Princeton 1995. Cheney, Liana De Girolami: The Symbolisms of Vanitas in Arts, Literature and Music. Comparative and Historical Studies. Lewiston u. a. 1992. Cooper, Douglas/Tinterow, Gary: The Essential Cubism. Braque, Picasso & their Friends; 1907–1920. London 1983.

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III. Zeit als relationale Kategorie III.a Diegetische Dimension: Elemente und Struktur der erzählten Welt

MATTHIAS AUMÜLLER (Wuppertal)

Zeit und Ereignis. Zum Zusammenhang von Ereigniskonfiguration und Textkohärenz in deutschsprachigen Reiseberichten über die frühe Sowjetunion 1. Die Ereigniskategorie 233 – 1.1 Zeit 233 – 1.2 Ereignis und Zeit 234 – 1.3 Ereignis, Handlung, Thema 237 – 2. Ereignisse in Reiseberichten über die frühe Sowjetunion 241 – 2.1 Ereignisreduktion und Detemporalisierung 242 – 2.2 Temporalität durch Ereigniskohärenz 246 – 2.3 Über den Zusammenhang zwischen anekdotischem Charakter und Separatveröffentlichung 250 – 2.4 Temporal geordnete und atemporal geordnete Ereignisse 252 – 2.5 Ereignisse und Erlebnisse 253

1. Die Ereigniskategorie 1.1 Zeit Nehmen wir einen Kalender! Ein Kalender ist ein Text, der nicht nur einen Anfang und ein Ende hat; auch das, wovon er handelt, hat Anfang und Ende – und zwar dadurch, dass der Kalender einen Anfang und ein Ende von etwas bezeichnet. Wovon handelt ein Kalender? Er handelt von der Zeit, die vergeht, und er tut dies, indem er diese Zeit segmentiert – gewöhnlich nach Monaten, Wochen, Tagen. Er könnte die Zeit aber auch anders segmentieren. Er muss sich nicht an Tagen orientieren. Aber damit unser Text ein Kalender ist, muss er irgendwelche Segmente aufweisen. Angenommen, wir hätten vor uns einen Text, dem wir mit guten Gründen unterstellen können, dass er ein Kalender sei (etwa weil der Text so betitelt ist und nichts dagegen spricht, dass der Text diesen Titel zu Recht trägt); angenommen weiter, dieser Kalender bestehe lediglich aus periodisch wiederkehrenden Zeichenfolgen, so dass wir zwei Einheiten erkennen können: Minimaleinheiten und ihre periodische Aneinanderreihung. Was diese Einheiten in der Welt bedeuten, zu der der Kalender gehört und auf die er sich bezieht, wissen wir nicht. Dann wissen wir lediglich, dass dieser Kalender bedeutet, dass zwischen dem Anfang und dem Ende, die er bezeichnet, Zeit vergeht. Anders gesagt: Der Kalender drückt reine Temporalität aus. Die Einheiten bzw. Segmente des Kalenders sind dann

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Matthias Aumüller

für uns nicht viel mehr als Textphänomene – analog nummerierten Kapiteln in literarischen Texten –, die nur bedeuten, dass Zeit vergeht (während der Kalender gültig ist). Wir können zwar unterstellen, dass die Kalendereinheiten – wie unsere Tage – zugleich auch irgendwelche in der Welt des Kalenders erkennbaren Veränderungen markieren; aber das muss keineswegs der Fall sein. Die Segmentierung kann auch eine mathematische Spielerei sein, die vollkommen unabhängig von lebensweltlichen Ereignissen ist. So jedenfalls will es mein Gedankenexperiment, damit deutlich wird, dass reine Temporalität als Textbedeutung zumindest denkbar ist. Texte können sich auf Zeit beziehen und Temporalität ausdrücken, ohne von etwas Weiterem zu handeln. Insofern wäre es auch nicht sinnlos (wenn auch wenig ergiebig), an den Text die Frage zu richten, was denn in der Welt, auf die er sich bezieht, passiere. Die Antwort würde lauten: Der Text handelt davon (oder: aus dem Text lässt sich schließen), dass Zeit vergeht. Ein Erzähltext ist er damit aber offenkundig nicht. 1.2 Ereignis und Zeit Trägt man nun in den Kalender-Rohling Mondphasen ein, handelt der Kalender schon von sehr viel mehr als nur von Zeit. Wenn die Mondphasen überdies mit der Segmentierung des Kalenders korrelieren, lassen sich Schlüsse ziehen im Hinblick auf die einzelnen Etappen der Mondphasen, die nicht eigens im Kalender verzeichnet sind. Die Welt, von der der Kalender handelt, hat einen Mond, dessen Aussehen sich in der Zeit verändert. Daneben sind wir geneigt, unser Weltwissen bei der Interpretation des Kalenders in Anschlag zu bringen, weil unsere Umwelt auch einen Mond besitzt. Es ist wahrscheinlich, dass die Welt, wenn sie einen Mond besitzt, noch weitere Gegenstände besitzen muss. Aber über die verrät uns der Kalendertext nichts. Was wir aufgrund des Textes wissen: Die Kalenderwelt besteht nicht nur aus einem Gegenstand, sondern auch aus Veränderungen (des Aussehens) dieses Gegenstands. Die Veränderungen (des Aussehens) des Gegenstands ergeben sich aus dem Wechsel von Eigenschaften, die dem Gegenstand zu verschiedenen Zeitpunkten zugeschrieben werden. Wir können nun mit Hilfe des Kalenders Zeitpunkte definieren und dem Gegenstand jeweils entsprechende Eigenschaften zuordnen. Das sieht dann so aus:

Zeit und Ereignis

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(1) x ist F in t-1. (2) H ereignet sich mit x in t-2. (3) x ist G in t-3.1

Es handelt sich hierbei um das bekannte Modell historischer Erklärungen von Arthur C. Danto, die für ihn strukturgleich mit Erzählungen sind. Auf den ersten Blick ist deutlich, dass Erzählungen von Ereignissen handeln. Aber sie sind keine reinen Ereignislisten. Erzählungen unterscheiden sich von Chroniken darin, dass in ihnen von Veränderungen die Rede ist, deren Zusammenhang wiederum durch die Identität (mindestens) eines Gegenstands garantiert wird, an dem sich diese Veränderungen vollziehen. Diese Bedingung gilt für Chroniken nicht. Eine solche Liste mit Ereignissen, die untereinander in keinem Zusammenhang stehen, wäre keine Erzählung. Setzt man das Mond-Beispiel in das Modell ein, ergibt sich folgendes Bild: x ist die Gegenstandsvariable und bezeichnet den Mond; F ist die Eigenschaft, dass er zum Zeitpunkt t1 halbkreisförmig zu sehen ist („Halbmond“); H ist das Ereignis, das dem Mond im Zeitraum t2 widerfährt und das man als „nimmt zu“ beschreiben könnte; G ist die Eigenschaft, dass er zum Zeitpunkt t3 kreisförmig zu sehen ist („Vollmond“). Das Beispiel ist instruktiv, weil es verdeutlicht, welche Komponenten (mindestens) über Temporalität hinaus eine Erzählung konstituieren. Im Mittelpunkt des Modells steht die Komponente H, das Ereignis. Dazu gehören aber auch ein Gegenstand x, dem H widerfährt, sowie zwei Zustände von x (F und G), die in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen. In der Tat sind diese und analoge Analysen des Erzählbegriffs bzw. von Narrativität, denen gemäß Erzählungen als Darstellungen von Ereignissen zu verstehen sind, weit verbreitet. Lässt sich das Modell auf einen Text mit Erfolg anwenden, handelt es sich um einen narrativen Text. Damit müsste auch unser karger Kalendertext mit Mondphasen ein narrativer Text sein. Es wäre nun wohlfeil, mit dem Hinweis auf sprachliche Intuitionen diese Analyse von Narrativität als absurd zu denunzieren. Folgt man Danto, dann ist „narrativer Text“ ein Fachterminus, für den sprachliche Intuitionen zwar nicht gänzlich irrelevant, aber doch sekundär sind.2 Trotzdem lässt sich fragen, ob diese Analyse angemessen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt davon ab, was man mit einem theoretischen Begriff wie Narrativität anfangen möchte und welche Vorteile er bietet.

____________ 1 2

Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1980, S. 376. Für die Relevanz von sprachlichen Intuitionen spricht die Überlegung, dass ein theoretischer Begriff, der mit diesen Intuitionen unverträglich ist, schlechte Aussichten hat, jemals akzeptiert zu werden.

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Matthias Aumüller

Sein Vorteil besteht darin, dass er neutral in der Anwendung ist und ohne viele Voraussetzungen auszukommen scheint.3 Er dient dazu, das Gegenstandsgebiet der Narratologie festzulegen. Die Analyse von Narrativität im Sinne einer Ereignisdarstellung verdankt sich der Gegenüberstellung mit anderen Textsorten. Ereignisse fehlen in rein deskriptiven Texten ebenso wie in rein argumentativen. Diese Beobachtung spricht dafür, Texte, die von Ereignissen handeln, unter einen Begriff zu bringen. Vielen jedoch erscheint diese Gruppe als zu groß (siehe das Kalenderbeispiel). Man steht also vor dem Problem, den Begriff so einzuengen, damit „richtige“ Erzählungen von Gedankenkonstrukten wie dem Kalenderbeispiel unterschieden werden können. Es gibt mehrere Vorschläge, die auf dieses Problem reagieren und zusätzliche Bedingungen postulieren, die ein Text erfüllen muss, damit man ihn als narrativ klassifizieren kann.4 Alle diese Lösungsversuche scheitern jedoch letztlich daran, dass sie auf der Basis von wenigen Sätzen Minimalbedingungen formulieren. Mit diesem Verfahren lassen sich immer wieder kontraintuitive Gegenbeispiele konstruieren, mit denen sich auch die zusätzlichen Bedingungen als unzureichend erweisen. Worauf ich mit diesen Überlegungen hinaus will, ist Folgendes: Ob man die Bezugnahme auf das Vergehen von Zeit oder aber die Bezugnahme auf ein Ereignis zum Kriterium für Narrativität macht, ist letztlich unerheblich. Beide Kriterien sind nichtssagend und für den täglichen Gebrauch in der Literaturwissenschaft vollkommen ungeeignet. Die erstaunliche Karriere des Ereignisbegriffes in der Narratologie verdankt sich allein dem Umstand, dass man ein neutrales Kriterium benötigte, um dem sich ständig erweiternden Gegenstandsgebiet der Narratologie Rechnung zu tragen. Das Ergebnis ist ein extrem weiter Begriff, der nur noch geringes diskriminierendes Potential hat. Man steht vor dem Dilemma, dass ein einfach und schlüssig definierter Begriff zu einem unüberschaubaren Gegenstandsgebiet führt, über das man mit dem Begriff keine interessanten Aussagen machen kann.

____________ 3

4

Dies trifft auf den sog. emphatischen Ereignisbegriff bzw. den Begriff der Ereignishaftigkeit nicht zu, zu dessen zusätzlichen Merkmalen Relevanz gehört. Ereignisse in diesem Sinne wären nur solche, die mit Bezug auf ein jeweils festzulegendes Untersuchungsinteresse bedeutsam sind. Die Relevanz bzw. Bedeutsamkeit von Ereignissen festzustellen, setzt eine ganze Reihe von zusätzlichen Annahmen voraus; vgl. Peter Hühn: „Event and Eventfulness“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/event-and-eventfulness [letzter Zugriff: 8.3.2014]. Für einen durchdachten Versuch vgl. Gerald Prince: A Grammar of Stories. An Introduction. The Hague/Paris 1973; für einen vertiefenden Überblick vgl. Matthias Aumüller: „Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe“. In: Ders. (Hrsg.) Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin/Boston 2012, S. 141–168.

Zeit und Ereignis

237

Nun erschöpft sich die Erzähltheorie nicht darin, ihren Gegenstandsbereich festzulegen, sondern sie soll in der Literaturwissenschaft zu strukturierten, in glückenden Fällen sogar zu interessanten Textinterpretationen beitragen. Eine schlüssige Theorie über den Gegenstand ist zwar wünschenswert, aber für die literaturwissenschaftliche Praxis nach vielfach geteilter Ansicht sekundär.5 Die Erzähltheorie hätte dieser pragmatischen Maxime zufolge einen heuristischen Zweck. Daher ist nun zu fragen, inwiefern die Kategorie ‚Ereignis‘ für die Interpretation von Erzähltexten nützlich sein könnte. 1.3 Ereignis, Handlung, Thema Wenn man nach den Ereignissen einer Erzählung fragt, so verfolgt diese Frage meist eine ähnliche Zielsetzung wie die Fragen nach der Handlung oder nach dem Thema. Wovon handelt der Text? Was passiert? Das sind mit Bezug auf Erzähltexte weitgehend analoge Fragen. Zählt man die Ereignisse auf, von denen ein Erzähltext handelt, so beantwortet man die klassische Was?-Frage, die man gewöhnlich der (meist ästhetisch) verstandenen Wie?-Frage gegenüberstellt. Dem vorliegenden Band und vielen Einführungen in die Erzähltheorie liegt diese kategorische Trennung der beiden Ebenen zugrunde. Isoliert betrachtet, sind die Ereignisse einer Erzählung Gegenstand einer Inhaltsangabe. Diese Isolierung ist jedoch narratologisch uninteressant (was nicht heißt, dass Inhaltsangaben grundsätzlich uninteressant oder unnütz wären). Die Kategorie wird narratologisch interessant, wenn man sie in Relation zum Text setzt. Das könnte etwa folgendermaßen aussehen: Im Text kann auf Ereignisse explizit Bezug genommen werden. Das geschieht in der Regel durch den Einsatz von Verben. Zu den Ereignissen einer Erzählung gehören aber auch Ereignisse, auf die im Text nicht explizit Bezug genommen wird. Diese nicht erzählten Ereignisse sind es, die vor allem das Interesse des Literaturwissenschaftlers auf sich ziehen. Hier schließt sich gleich eine ganze Reihe von Fragen an: Lässt sich die große Gruppe nicht erzählter Ereignisse weiter unterteilen? Denn offenkundig gibt es in jeder Erzählung mit einer erzählten Welt, die unserer gleicht, unzählige nicht erwähnte Ereignisse, die nicht alle in derselben Beziehung zu den erwähnten Ereignissen stehen. Man könnte zunächst textweltspezifisch ‚mögliche‘ (bzw. im logischen Sinne wahrscheinliche) von ‚unmöglichen‘ (im logischen Sinne extrem unwahrscheinlichen) Ereignissen unterscheiden. Im Roman Die Brüder Karamazov (1880) und in der Welt der

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Vgl. z. B. Hans Krah: Einführung in die Literaturwissenschaft/Textanalyse. Kiel 2006, S. 25 f.

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Matthias Aumüller

Brüder Karamazov starten keine Flugzeuge; hingegen bekommen in der Welt der Brüder Karamazov Babys sehr wahrscheinlich neue Windeln, auch wenn der Roman das nicht erwähnt. Nun lassen sich auch die textweltspezifisch möglichen Ereignisse unterteilen, nämlich in solche, die in einem Zusammenhang mit den erzählten Ereignissen stehen, und in solche, die in keinem Zusammenhang mit den erzählten Ereignissen stehen. Dass Babys in der Welt der Brüder Karamazov neue Windeln bekommen, steht in keinem Zusammenhang mit den erzählten Ereignissen; hingegen steht der Mord an dem Vater der Brüder, der auch nicht erzählt wird, sogar im Mittelpunkt des gesamten Romans. In der Regel dürfte der angesprochene Zusammenhang ein Kausalzusammenhang sein. Das muss aber vielleicht nicht sein. Denn die Frage nach den nicht erzählten Ereignissen, die mit den erzählten in einem Zusammenhang stehen, lässt sich auch allgemeiner formulieren: Welche der nicht erzählten Ereignisse sind aus welchen Gründen relevant für die Erzählung? Hat man hierzu eine Antwort gefunden, lässt sich weiter fragen: Was hat es zu bedeuten, dass diese Ereignisse von der Erzählung ausgespart sind? Und analog dazu: Was hat es zu bedeuten, dass gerade diejenigen Ereignisse, die explizite Erwähnung finden, ausgewählt wurden? Diese Fragen markieren den Grenzbereich zwischen Interpretationsund Erzähltheorie.6 Ich würde sie sogar jenseits der Erzähltheorie ansiedeln. Im Grunde nämlich ist die Kategorie des Ereignisses in der Beantwortung der Fragen, aus welchen Gründen was erzählt wird und was nicht, entbehrlich. Denn diese Frage betrifft eine allgemeine Problemkonstellation bei der Textinterpretation. Kurz, sie betrifft auch Situationen oder Sachverhalte, in der erzählten Welt geltende Normen usw. Eine andere Möglichkeit, die Ereigniskategorie für die Analyse nutzbar zu machen, besteht darin, die Kategorie selbst zu differenzieren. Auf die russischen Formalisten geht die Unterteilung von Ereignissen in für die Erzählung obligatorische und fakultative Ereignisse zurück.7 Diese

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7

Zu dieser Grenze vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller: „Wieviel Interpretation enthalten Beschreibungen? Überlegungen zu einer umstrittenen Unterscheidung am Beispiel der Narratologie“. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Berlin 2003, S. 286–304; Carlos Spoerhase: „Strukturalismus und Hermeneutik. Über einige Schwierigkeiten strukturaler Verfahren im Spannungsfeld von Textanalyse und Interpretation“. In: Hans-Harald Müller u. a. (Hrsg.): Strukturalismus in Deutschland. Literatur- und Sprachwissenschaft 1910–1975. Göttingen 2010, S. 13–38. Vgl. Boris Tomaševskij: Teorija literatury. Poėtika [1925/31]. Moskau 2003, S. 183 (dt. Boris Tomaševskij: Theorie der Literatur. Poetik. Nach dem Text der 6. Aufl. [Moskau – Leningrad 1931]. Hrsg. u. eingel. v. Klaus-Dieter Seemann, aus dem Russ. übers. von Ulrich Werner. Wiesbaden 1985, S. 219). Er unterscheidet zwischen gebundenen und freien Motiven. Diese Unterscheidung greift Roland Barthes im Rahmen seines strukturalistischen Erzählmodells auf. Vgl. Roland Barthes: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“ [1966]. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143.

Zeit und Ereignis

239

Unterteilung steht quer zu der eben vorgenommenen, da sie nicht von dem Unterschied zwischen erzählt und nicht erzählt ausgeht. Obligatorische Ereignisse sind solche, die für den Gang der Handlung bzw. ihren Kausalzusammenhang unverzichtbar sind (sofern man es mit einer erzählten Welt zu tun hat, die in diesem Sinne kohärent und uniregional ist). Der Mord an Fedor Karamazov ist sowohl unverzichtbar für alles Weitere als auch nicht erzählt. Man erfährt von dem Mord erst retrospektiv. Kriterium für den Unterschied zwischen obligatorischen und fakultativen Ereignissen ist somit die Frage, ob ein Ereignis auch Ursache für ein späteres Ereignis ist.8 Das Problem dieser Unterscheidung ist, dass häufig nicht einwandfrei zu klären ist, ob und in welchem Fall ein Ereignis für die Erzählung mit Bezug auf ihren Kausalzusammenhang fakultativ bzw. entbehrlich ist. Nach der gängigen Interpretation der Brüder Karamazov ist ein Gespräch zwischen Ivan Karamazov und Smerdjakov (Mit-?)Auslöser für den Mord. Es spricht einiges dafür. Aber sicher behaupten kann man es nicht, da der Text selbst keinen expliziten Hinweis liefert. Man kann diesen Zusammenhang nur erschließen. Da das Gespräch sonst keine Folgen hat, ist es also nicht klar, ob das Gespräch obligatorisch für die weitere Handlung ist oder fakultativ (dann nur mit der Funktion, Ivans Gottlosigkeit herauszustellen). Diese Unschärfe der Unterscheidung in der Anwendung auf Texte muss aber nicht unbedingt ein Nachteil sein. Denn die Unterscheidung selbst ist mit dem Kausalitätskriterium eine Art Wegweiser durch den Text. Man kann an jedes Ereignis die Frage stellen, ob es in einer Kausalrelation mit einem anderen Ereignis der Geschichte steht, und auf diese Weise einen narratologischen Einstieg in die Textinterpretation vornehmen, wobei der für die Textinterpretation gewinnbringende Umstand gerade darin besteht, dass die Frage nicht immer schnell und eindeutig zu beantworten ist. Dass Texte die Kausalbeziehung zwischen Ereignissen nicht so klar abbilden, kann man der Unterscheidung nicht anlasten. Um so mehr kann sie dazu dienen, die Unschärfen des Textes überhaupt sichtbar zu machen. Die Unterscheidung bezieht sich ausdrücklich auf den kausalen Aspekt von Ereignissen. Worauf es aber im vorliegenden Band ankommt, ist der temporale Aspekt. Ereignisse, von denen eine Erzählung handelt, lassen sich nicht nur in kausaler Hinsicht differenzieren, sondern auch in

____________ 8

Die Unterscheidung zwischen obligatorischen und fakultativen Ereignissen setzt also auf einer Ebene an, auf der die Frage, aus welchen Ereignissen die erzählte Geschichte besteht und welche Ereignisse der erzählten Welt für diese Geschichte relevant sind, bereits beantwortet ist.

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temporaler Hinsicht. Das sprachliche Mittel zum Ausdruck von Ereignissen und anderen zeitlichen Vorgängen sind Verben. In der Linguistik ist eine sprachphilosophische Verbklassifikation berühmt geworden, die hier weiterhelfen kann. Zeno Vendler unterscheidet vier Klassen von Verben.9 Jede Klasse zeichnet sich durch das für sie spezifische Zusammenspiel mehrerer Kriterien aus. Vendlers vier Klassen sind states (quasi zeitlose Zustände wie wissen oder bedeuten), achievements (quasi punktgenaue Ereignisse ohne signifikante zeitliche Ausdehnung wie ‚etwas gewinnen‘, ‚öffnen‘), accomplishments (Prozesse mit einem Ende wie ‚eine Zigarette rauchen‘) und activities (unabgeschlossene Prozesse wie ‚laufen‘ oder ‚rauchen‘). Die beiden Klassen der states und achievements stehen den anderen beiden Klassen gegenüber, da die ihnen zugehörigen Verben Vendler zufolge time instants bezeichnen, während accomplishments und activities time periods bezeichnen. Demgegenüber hängen states und activities dadurch zusammen, dass sie nicht unique und nicht definite sind, während accomplishments und achievements gerade unique und definite sind, also einmalig und abgeschlossen. Man kann bereits aus dieser einfachen Klassifikation lernen, dass man, je nach temporaler Ausdehnung, verschiedene Typen von Ereignissen differenzieren kann. Die Linguistik hat unter dem Oberbegriff der Aktionsart eine Fülle von Varianten entdeckt, wie Temporalität in die Bedeutung von Verben eingeht.10 Für den vorliegenden Aufsatz reicht es, zwischen Punktereignissen und Prozessen zu unterscheiden und diese den Zuständen gegenüberzustellen.11 Im Genette’schen Sinn singulativ erzählte Ereignisse können also entweder ein- oder mehrphasig sein. Das Anzünden von etwas ist ein einphasiger, Jagen ein mehrphasiger Vorgang.12 Diese simple Unterscheidung gibt uns die Möglichkeit, Ereignisse zusätzlich zu ihrer (nicht-)kausalen Rolle auch nach ihrer temporalen Rolle zu untersuchen.

____________ 9 10 11 12

Zeno Vendler: „Verbs and Times“. In: Philosophical Review 66/2 (1957), S. 143–160, bes. S. 146–149. Die verschiedenen Aktionsarten lassen sich in einem beliebigen Fachlexikon nachschlagen. Zu ihnen zählen perdurativ, delimitativ, semelfaktiv, mutativ, ingressiv, konklusiv usw. Vgl. Volkmar Lehmann: „Narrativität aus linguistischer Sicht“. In: Matthias Aumüller (Hrsg.): Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin/Boston 2012, S. 169–183, hier S. 173. Wobei ‚anzünden‘ von ‚anzuzünden versuchen‘ unterschieden werden muss; letzteres kann u. U. ziemlich lange dauern.

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2. Ereignisse in Reiseberichten über die frühe Sowjetunion Die zuletzt vorgestellten Kategorien werden nun auf einige Reiseberichte angewendet, die in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden und von Reisen in die Sowjetunion (bzw. „Sowjetrussland“, wie das Land bis zur Gründung der Sowjetunion 1922 und noch später genannt wurde) handeln.13 Man sollte denken, Reiseberichte seien paradigmatische narrative Texte. Der Autor erzählt die Geschichte seiner Reise, die zwischen Abreise und Rückkehr (bzw. Ankunft am und Abreise vom Zielort) ziemlich genau lokalisierbar ist und damit einen Anfang und ein Ende hat – was nicht ausschließt, dass Vor- und Nachgeschichte auch Gegenstand des Reiseberichts sein können.14 Dazwischen durchläuft der Text die verschiedenen Stationen der Reise. Ein Ereignis reiht sich an das andere. Wie sich jedoch zeigen wird, ist die Narrativität von manchen Reisetexten ausgesprochen schwach ausgeprägt. Reiseberichte lassen sich in zwei Gruppen einteilen: in jene, die einen Zielort haben, und in jene, in denen der Weg das Ziel ist. Mit diesem Unterschied verschiebt sich die Bedeutung von Anfang und Ende einer Reise. Für einen Reisebericht, der hauptsächlich von dem Aufenthalt an einem (fremden) Ort handelt, ist die Reise meist sekundär. Anfang und Ende bestimmen sich eher durch die Ankunft im Zielort und die Abreise von dort; für einen Reisebericht indes, dessen Gegenstand das Reisen selbst ist, werden Anfang und Ende durch die Abreise aus der Heimat und die Rückkehr bestimmt. Auch für das, wovon der Mittelteil handelt, ist dieser Unterschied relevant. Ortswechsel im kleineren Maßstab werden auch an einem Ort vollzogen. Aber sie werden in der Regel ausgespart. Hingegen wird die Fortbewegung in der zweiten Gruppe von Reiseberichten zwischendurch immer wieder thematisiert.15 Wie man sieht, legt die Reise als Gegenstand des Reiseberichts einige Abschnitte des Textes von vornherein fest. Charakteristisch für diese Textsorte ist zudem die chronologische Darstellung der Ereignisse. Die Verknüpfung der einzelnen Ereignisse ist jedoch äußerst variabel, so dass die Ereignisprofile von Reiseberichten sehr heterogen sind. Das beginnt

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15

Zwischen Reisebericht, -erzählung, -reportage usw. wird im Folgenden nicht unterschieden. Zu Reiseberichten (mit Russland-/Sowjetunionbezug) vgl. Erhard Schütz: Kritik der literarischen Reportage. München 1977, bes. S. 117–168; Bernhard Furler: Deutschsprachige Reportagen über Sowjetrussland 1917–1939. Frankfurt a. M. 1987; Eva Oberloskamp: Fremde neue Welten. Reisen deutscher und französischer Linksintellektueller. München 2011. Speziell narratologisch ausgerichtete Analysen kenne ich nicht; text- bzw. strukturanalytische Überlegungen werden in der genannten Sekundärliteratur aber am Rande angestellt. Diese Überlegungen verstehen sich als Beschreibung einer abstrahierten Norm, von der einzelne Texte üblicherweise abweichen.

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schon damit, dass die Chronologie für die einzelnen Texte unterschiedlich wichtig ist. Man sollte erwarten, dass der Reisebericht die einzelnen Etappen der Reise in ihrer zeitlichen Abfolge abhandelt und allein über diese reisespezifischen Ereignisse die Temporalität des Reisetextes herstellt. Manche Texte bestehen jedoch aus Abschnitten, deren zeitliche Ordnung vollkommen irrelevant ist. Die einzelnen Abschnitte stehen damit nicht in einer Ereignisrelation zueinander. Eine Ereignisrelation, die die Temporalität der Reise bzw. des Aufenthalts konstituiert, existiert im Extremfall nur abschnittsintern (Beispiel s. u.). Im Anschluss daran ist es ratsam, zwischen Binnen- und Globalstruktur von Reiseberichten zu unterscheiden, wobei sich diese Unterscheidung an den Abschnitten orientiert, die ein Text meist durch Kapiteleinteilung vorgibt. Das Ereignisprofil der Globalstruktur kann außer durch die Chronologie durch Kausalität charakterisiert sein, wenn die einzelnen Reiseereignisse nicht nur aufeinander folgen, sondern auch wenn das eine Ereignis aus dem anderen erfolgt. Die anschließenden Analysen beginne ich jeweils im Sinne einer Einführung mit einem kurzen Überblick über die Globalstruktur der Texte. Sie konzentrieren sich in den ersten beiden Fällen auf die Binnenstruktur eines Abschnitts, und zwar jeweils eines Abschnitts, der das Unterwegssein zum Gegenstand hat; im letzten Fall steht die Globalstruktur im Mittelpunkt. 2.1 Ereignisreduktion und Detemporalisierung Einer der ersten Reiseberichte nach der Oktoberrevolution, der (wovon eine zweite Auflage zeugt) eine außergewöhnliche Resonanz hatte, stammt von dem Wirtschaftspublizisten Alfons Goldschmidt, der im Mai 1920 als Mitglied einer Delegation der „Interessengemeinschaft der Auswandererorganisationen nach Sowjetrußland“ nach Moskau reiste und seine auf der Reise notierten Eindrücke binnen weniger Wochen im Ernst Rowohlt Verlag veröffentlichte.16 Zur selben Zeit erschien, ebenfalls bei Rowohlt, Goldschmidts parallel entstandene dreihundertseitige Abhandlung Die Wirtschaftsorganisation Sowjet-Rußlands. Im Vorwort zu seinem Reisebuch nennt Goldschmidt seine „Tagebuchblätter“ auch „Arabesken“ zu jener

____________ 16

Vgl. Alfons Goldschmidt: Moskau 1920. Tagebuchblätter. Hrsg. u. eingel. von Wolfgang Kießling. Berlin 1987 [orig. Berlin 1920]. Zu Person und zeitgeschichtlichem Hintergrund vgl. Wolfgang Kießling: „Ein Zeitzeugnis und sein Verfasser werden betrachtet“. In: Alfons Goldschmidt: Moskau 1920. Tagebuchblätter. Berlin 1987, S. 7–98. Zum Text vgl. Viktoria Hertling: Quer durch. Von Dwinger bis Kisch. Königsstein i. Ts. 1982, S. 61–73, und Oxana Swirgun: Das fremde Rußland. Rußlandbilder in der deutschen Literatur 1900–1945. Frankfurt a. M. 2006, S. 162–175.

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Abhandlung,17 die für ihn eine notwendige Ergänzung seiner theoretischen Darstellung des frühen sowjetischen Wirtschaftssystems waren, das später die Bezeichnung „Kriegskommunismus“ erhielt.18 Dieser Hinweis ist nicht unwichtig für das Verständnis seines Reisebuches, da er die häufigen wirtschaftspolitischen Hinweise und Anspielungen im Text erklärt. Wie man von einem Reisebericht erwarten kann, beginnt der Text mit der Anreise und endet mit der Rückreise. Die Anreise verteilt Goldschmidt auf drei Abschnitte: „Das Schiff“, „Grenzen“ und „Eisenbahnfahrt nach Moskau“; das Buch endet mit einem „Rückfahrt“ betitelten Abschnitt. Dazwischen besteht der Text aus 37 kurzen Kapiteln, die von verschiedenen Beobachtungen und Eindrücken des Autors in Moskau handeln. Charakteristisch für die Beziehung der Kapitel untereinander ist, dass sie nicht kausal und nicht einmal temporal miteinander verbunden sind. Die Globalstruktur dieses Reiseberichts ist mithin – bis auf die drei Anfangskapitel und das Abschlusskapitel – achronisch organisiert. Nicht anders steht es mit der Binnenstruktur der meisten Kapitel. Es sind achronische Schilderungen von Wahrnehmungsresultaten, keine Schilderungen von Wahrnehmungen, wie man angesichts des Untertitels „Tagebuchblätter“ vielleicht vermuten könnte. Bezeichnend in dieser Hinsicht ist, dass der Autor immer ins Imperfekt wechselt, wenn er auf seine konkreten Beobachtungen zu sprechen kommt: „Zerlumpte Arbeiter habe ich nicht gesehen“ (S. 139) und „Kleidungselend bemerkte ich in Moskau nicht“ (S. 142), heißt es etwa im Kapitel „Kleidung“. Ansonsten ist der Bericht meist im Präsens gehalten und besteht in der Hauptsache aus Verallgemeinerungen, also Resultaten von Beobachtungen, die ggf. mit Erklärungen ergänzt werden: „Die Strumpfstoff- und Farbennot Rußlands hat eine höchst eigenartige Mode zur Folge. Viele Frauen tragen weiße Socken, die nur wenig über den Schuhrand herausragen. Sonst sind die Beine nackt. Diese Nacktheit stört keinen Menschen in Moskau, gibt nicht den geringsten Anlaß zu erotischen Zynismen und wirkt auch keineswegs indezent. Ich glaubte erst, es wäre das eine alte Sitte der Sommerhitze wegen, hörte dann aber, daß die Strumpfstoffnot die Ursache sei“ (S. 141 f.). Achronizität bzw. Atemporalität kennzeichnet insbesondere jene Abschnitte, die wie die Kapitel „Kleidung“ oder „Bettler“ allgemeine Beobachtungen Goldschmidts in Moskau thematisieren. Doch handeln andere Kapitel von zeitlich ausgedehnten Phänomenen, deren Temporalität den Bericht gewissermaßen infiziert. Im Kapitel „Der 1. Mai“ ist von dem Ablauf einer Festveranstaltung und der allfälligen Parade die

____________ 17 18

Goldschmidt (Anm. 16), S. 102. Weitere Seitenangaben zu Zitaten im Haupttext. Wobei es Goldschmidt vor allem auf die Beschreibung des Obersten Volkswirtschaftsrats, der Verstaatlichung der Banken, der Elektrifizierung usw. ankam.

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Rede. Allein die wenigen Angaben, die sich auf den Ablauf beziehen, garantieren den reduziert temporalen Charakter des Abschnitts, der wie die übrigen vor allem Verallgemeinerungen enthält. Am Beispiel des Kapitels „Eisenbahnfahrt nach Moskau“ (S. 112–120) soll nun genauer aufgezeigt werden, wie ein zeitlich ausgedehnter Sachverhalt durch den Bericht sozusagen entzeitlicht wird. Seine Reise führte Goldschmidt zunächst per Schiff über Helsingborg (= Helsinki) bis Reval (= Tallinn). Von dort ging es mit der Bahn bis an die estnisch-russische Grenze nach Narva auf estnischer und Jamburg (= Kingisepp) auf russischer Seite. Danach fuhr er über Petrograd (= St. Petersburg), wo er sich offenbar einige Zeit aufhielt, schließlich bis nach Moskau. Die Aufzählung der Orte erfolgt nicht von ungefähr. Denn das Erreichen eines Ortes ist ein für den Reisetext spezifisches Ereignis, dessen Erwähnung nicht nur geographische Informationen vermittelt, sondern auch die temporale Struktur prägt. Der Grenzübertritt von Estland nach Sowjetrussland ist für Goldschmidt zunächst einmal Anlass, sich über die Formalitäten bei der Einreise und vor allem über ihre Hintergründe zu verbreiten. Es sei nicht einfach, ein Visum zu bekommen, und das habe auch seinen guten Grund, weil es nach Goldschmidts Überzeugung viele Leute gibt, die nichts Gutes im Schilde führen: „In Moskau gab und gibt es noch Menschen, die hanebüchen sind. Den Vordersteven mit Kriegsorden beschlagen, Vorurteilsaugen im Kopfe, Giftspritzer auf der Zunge, durchhecheln sie die Stadt. Andere sind glatter, sie hecheln schweigend. […] Die Sowjetregierung in Reval hat recht, wenn sie siebt“ (S. 113). Hier ist nicht von Ereignissen, sondern von Verhältnissen die Rede. Die Temporalität der Reise erscheint stark reduziert. Die erzählte Ereignisreihe der Reise wird fortgesetzt mit der Passage über die Grenze und der Ankunft in St. Petersburg, die der Autor mit dem einfachen Ausruf „Petrograd!“ (S. 117) signalisiert (anstatt erzählt). Der Bericht von der letzten Etappe nach Moskau wird mit einer Zeitangabe eingeleitet: „Man fährt von Petrograd nach Moskau dreiundzwanzig Stunden“ (S. 119). Wie schon während der Zugreise innerhalb Estlands wird das Zurücklegen auch dieser Strecke als langsam empfunden: „Auch in Estland eilen die Züge nicht. Von Reval bis Narva fährt man zwölf Stunden. Immer langsam voran, immer langsam voran“ (S. 114), hieß es zuerst wiederum in verallgemeinerter Form, wobei die Langsamkeit der Fahrt durch die Wiederholung ikonisch ausgedrückt wird. Und jetzt auch: „Es geht langsam, doch es geht“ (S. 120). Damit wird die Reise in temporaler Hinsicht als Verlauf kenntlich gemacht, während die Ankunft an den Stationen Punktereignisse sind. Durch die unpersönlichen Formulierungen „man“ und „es“ wird der Zeitverlauf von der subjektiven Erlebniszeit

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entkoppelt, womit der Bericht eine für Erzählungen wichtige Komponente der Temporalität einbüßt. Den Prozesscharakter der Reise macht Goldschmidt des Weiteren durch vorzugsweise elliptische Formulierungen deutlich, die man als abgekürzte Beobachtungssätze interpretieren kann, da sie nur das Beobachtungsobjekt enthalten, nicht aber das -subjekt. Charakteristisch ist die Kombination dieser mehrfach gebrauchten, elliptisch formulierten Impressionen wie „Wald, Wald, Wald“ (S. 116) mit der Leseranrede in der zweiten Person Plural, mit für den Text insgesamt typischen, oftmals gradierten Wiederholungen (Anaphern, Epiphern usw.) und generalisierenden Feststellungen, nicht selten mit Bezug auf den ökonomischen Bereich, wie im folgenden ausführlichen Zitat, das all diese Befunde in sich vereinigt: Wenn ihr eichendorffdurchkühlt seid, wenn ihr Sehnsucht nach Waldesbogen habt, nach weißen Birkenstämmen zwischen Tannen, nach Wiesen zwischen Wäldern und nach Sommerhäuschen an braunen Wegen, fahrt von Petrograd nach Moskau. Das ist eine herrliche Fahrt, eine duftende Fahrt, eine Frühlingsfahrt. Es ist deutscher Waldvers in diesen Gebüschen, auf diesen Hügeln und Wegen. Es ist nicht viel zu sagen von dieser Fahrt. Städte sind da mit Zwiebelkuppenkirchen, Datschengruppen und immer wieder Wald, Wald, Wald. Kein Land der Welt hat so viel Wald wie Rußland (ein Konzessions- und Außenhandelsproblem) (S. 120).

An diesem Textausschnitt wird deutlich, wie der temporale Verlaufscharakter des Reisens zuerst durch den Imperativ „fahrt“ und das Konditional „wenn … dann“ aufgehoben wird. Dann wird die Fahrt insgesamt charakterisiert, indem ihr wiederholt mehrere Eigenschaften zugeschrieben werden. Aus dem tatsächlichen Verlauf wird im Text ein Zustand. Allein in den aufzählenden Textpassagen und durch die Nennung von verschiedenen und gleichen Gegenständen (Wald) kommt der Verlaufscharakter zum Ausdruck. Die Darstellung reduziert auf diese Weise den temporalen Charakter dessen, wovon sie handelt. Dieses Ergebnis lässt sich nach meinem Eindruck für nicht wenige Reisetexte reklamieren. Die Erlebnisse einer Reise werden in vielen Reiseberichten gewissermaßen entzeitlicht, detemporalisiert. Worauf es diesen Berichten ankommt, ist das, was der Reisende sieht und erfährt – und seltsamerweise weniger das, was (und wie) er erlebt. Damit zielen die Berichte vorzugsweise auf die Beschreibung von Zuständen, und Ereignisse als paradigmatische, temporal organisierte Entitäten kommen nur reduziert zur Darstellung. Vermutlich hängen damit das Informationsgebot sowie das Gebot, Subjektivität zu reduzieren, zusammen. Immerhin handelt es sich ja um Sachtexte. Zu diesem Ergebnis passt, dass Goldschmidt über die Nennung der Stationen hinaus, kaum Punktereignisse in seinen Bericht aufnimmt.

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2.2 Temporalität durch Ereigniskohärenz Dass Reisetexte als Sachtexte aufgrund des Informationsgebots auf Verallgemeinerungen zielen, gilt aber keineswegs für alle Reisetexte. Es gibt genug Reiseberichte, die auf Verallgemeinerungen verzichten. Ein Beispiel für die Organisation eines Textes, die stärker durch die Integration von Ereignissen gekennzeichnet ist, stammt von Egon Erwin Kisch. Grundlage für die folgende Analyse ist das Eingangskapitel aus seiner Sammlung mit Berichten von einer Reise durch die Sowjetunion, deren Globalstruktur keinen erkennbaren chronologischen Zusammenhang hat, sondern aus Einzelberichten besteht, deren Verkettung auch nicht der Reiseroute entspricht.19 Das Kapitel heißt „Rußland in der Eisenbahn“ und handelt von einer Fahrt von Moskau bis nach „Eriwan“ im heutigen Armenien (S. 1–16). Damit wird deutlich, dass dieses Reisebuch sogar auf die typische Ankunftsepisode verzichtet und somit des typischen Rahmens entbehrt, der Reiseberichte gewöhnlich auszeichnet. Schon der erste Satz macht deutlich, worin Kischs Kunst besteht: in der unausgesprochenen Pointierung durch einen Kontrast, der wiederum aus der Beobachtung charakteristischer Situationen resultiert. Zugleich zeigen diese Miniaturen die besondere Ereignisbehandlung in Kischs Text an: „In Moskau kommt der Petersburger Zug auf dem Nikolajewski Woksal an und fährt vom Kurski Woksal weiter, die beiden Bahnhöfe sind einander nahe, eine Viertelstunde genügt, um mit dem Schlittenkutscher handelseins zu werden, und zehn Minuten währt die Fahrt“ (S. 3). Es handelt sich hier um einen doppelten Kontrast. Offenkundig stehen die Zeitangaben einander gegenüber, und der Witz besteht zunächst darin, dass die Fahrt kürzer dauert als die Verhandlung mit dem Kutscher; der eigentliche Witz ist aber der, dass die längere Zeitangabe „eine Viertelstunde“ mit dem Prädikat „genügt“ kombiniert wird, was erst nach der zweiten, kürzeren, Zeitangabe als Kontrast erkennbar wird und sich erst dadurch als feine Ironie erweist. In diesem ersten Satz werden nach der Ankunft an dem ersten Bahnhof zwei Ereignisse (Prozesse) miteinander in Relation gesetzt, wobei das erste Ereignis, die Preisverhandlung, resultativ ausgedrückt wird („handelseinig“), und das zweite Ereignis, die Fahrt, delimitativ („währt“), das seine Grenze allein durch die Zeitangabe erhält. Auch wenn die Teilsätze agenslos sind und damit eine Art rhetorischer Detemporalisierung erreicht

____________ 19

Das mag daran liegen, dass die Texte zunächst einzeln publiziert wurden. Den Zitaten hier liegt die originale Buchausgabe zugrunde: Egon Erwin Kisch: Zaren, Popen, Bolschewiken. Berlin 1927. Textverweise erfolgen im Haupttext.

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wird, handelt es sich doch um die Verknüpfung zweier Einzelereignisse, die nicht mit dem Anspruch auf Verallgemeinerung formuliert ist. Wie Goldschmidt, so stellt auch Kisch die Temporalität seines Berichts durch die Nennung von Reisestationen her, die nicht nur den räumlichen, sondern auch den zeitlichen Zusammenhang der Reise herstellt. Doch erreicht er eine stärkere Temporalisierung seines Berichts, indem er Ereignisse der Reise, die in einer bestimmten Beziehung zueinander stehen, in seinen Bericht aufnimmt und zugleich (im Gegensatz zu Goldschmidt) auf Verallgemeinerungen grosso modo verzichtet – wobei er nicht mit der Angabe von Fakten spart. Sein Bericht ist jedoch stärker situativ geprägt, was deutlich wird, wenn man Goldschmidts zitierter Passage über die Bekleidung von Frauen eine analoge Passage von Kisch über die Bekleidung leichter Mädchen aus dem Kapitel „Verkehr in Moskau“ gegenüberstellt: „Dreißig Grad Kälte, man friert und schlägt die Arme zusammen, die Pelzmütze geht über die Ohren, und die Walinki, die Filzstiefel, bis zum Knie. Die Mädchen auf der Petrowka aber tragen fleischfarbene Seidenstrümpfe, Halbschuhe und keine Schlüpfer“ (S. 43).20 Dass und wie Kisch den Binnenzusammenhang eines Einzelberichts durch miteinander zusammenhängende Ereignisse strukturiert, soll nun an einem Beispiel noch genauer erläutert werden. Zu Beginn beschreibt er einzelne Passagiere: „Ein gutrasierter junger Mann mit messerscharfem Hosenbug und weißen Gamaschen hat aus politischen Gründen in Suchum zu tun; mehr sagt er nicht“ (S. 4). Und: „Eine Dame behält den Hut auf und ist auch sonst tiptop: Seidenstrümpfe, Lackschühchen, Titusköpfchen und goldbestickte Seidenbluse, von ihren Pralinen bietet sie immerfort dem Ingenieur an, der neben ihr sitzt, nach Dschulfa fährt, ‚Schmidt‘ heißt, aber nicht weiß, daß das ein deutscher Name ist“ (S. 5). Hier sind es nur statische Zuschreibungen, die den Ausgangszustand der Personen vor Augen führen. Es folgen Reiseeindrücke aus Moskau, wie schon der Kolumnentitel („An Moskau vorbeifahrend“) der Originalausgabe signalisiert. Diese Passagen sind meist auf Details bezogen und scheuen Verallgemeinerungen. Erstaunlicherweise sind sie zum Teil auch fiktionalisiert (aber nicht entsprechend markiert), da Kisch den Eindruck

____________ 20

Noch deutlicher wird der Unterschied, wenn man Passagen vergleicht, die denselben Gegenstand haben, wie z. B. Bettler, vgl. Goldschmidt (Anm. 16), S. 143 ff. und Kisch (Anm. 19), S. 44 f. Hier nicht ausgeführt werden kann die These, dass der Unterschied zwischen den beiden Darstellungen auch in ihrer verschieden starken Granularität zu suchen ist, die bei Kisch im Durchschnitt wohl erheblich feiner ist. Zum Begriff vgl. Doris Marszk: Russische Verben und Granularität. München 1996; Dies.: „Grobe Verben und verborgene Geschichten“. In: Peter Kosta/Elke Mann (Hrsg.): Slavistische Linguistik 1996. München 1997, S. 179–196; Matthias Aumüller: „Narratif, descriptif“. In: John Pier (Hrsg.): Théorie du récit. L’apport de la recherche allemande. Villeneuve d’Ascq 2007, S. 227–244.

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erweckt, der Zug fahre am Roten Platz vorbei, obgleich die Bahnhöfe am Rand des (damaligen) Stadtzentrums gelegen sind und die Schienenwege vom Zentrum weg in die Peripherie führen.21 Wie erwähnt, sind Kischs Aufzählungen meist stärker auf den situativen Kontext bezogen, wobei er sich durchaus ähnlicher rhetorischer Mittel bedient wie Goldschmidt. Hier eine Kombination aus Wiederholung und Aufzählung: „Kinder liegen an der Wandseite, hinreichend viele sind’s, wir brauchen vorläufig keine mehr, Kinder in allen Lebenslagen, solche, die noch in die Windeln pinkeln, solche, die es schon in die Hosen besorgen, solche, die in sich hineinwimmern, andere, die dem Nachbar in die Ohren trompeten“ (S. 6). Der Bericht geht bald wieder zu den Passagieren über. Beim jungen Mann hat sich nichts verändert, nur fügt der Autor hinzu, dass nun jeder von seiner politischen Mission wisse, und hebt diese Information mittels Gedankenstrichen hervor, die dem Leser offenkundig vermitteln sollen, dass dem jungen Mann sehr wichtig ist, dass alle um seine politische Mission wissen. Auch das Verhalten der Dame bleibt unauffällig: „Die tiptope Dame hat den Hut bereits abgelegt, ist aber noch immer in Seidenstrümpfen und Halbschuhen und raspelt noch immer mit dem langen Ingenieur Schmidt Süßholz und Pralinen“ (S. 7). Durch das wiederholte Adverb „noch immer“, vor allem durch die Komponente „noch“ erhält der Satz bereits eine temporale Orientierung, die eine Ereignissequenz eröffnet. Weiter geht es mit einer Markierung des Zeitverlaufs: „Die Nacht bricht langsam herein, man klettert ins zweite oder dritte Stockwerk, Bettzeug auszubreiten oder sich einfach aufs Holz zu werfen; die tiptope Frau wird von Ingenieur Schmidt überredet, im Parterre Lager zu beziehen, und er sitzt nun neben ihr, sie liegt in Seidenstrümpfen, Halbschuhen und goldbestickter Bluse da“ (S. 9). Schon wenige Zeilen später greift der Bericht dieses Ereignis auf, das sogar mit dem neuen Ereignis in einen explanativen Zusammenhang gebracht wird: Vor Charkow großer Lärm, ein Koffer ist gestohlen, bald ist’s klar, wer der Dieb war: der schlanke Ingenieur Schmidt! Er wußte nicht, daß Schmidt ein deutscher Name ist, – natürlich, er führte diesen Namen noch nicht lange. […] der tiptopen Frau fehlt das Handtäschchen, deshalb also hat ihr der Galan zugeredet, im Parterre zu schlafen, da läßt sich nichts machen, nitschewo; […] die tiptope Frau zieht jetzt ihre Halbschuhe aus und lockert die Strumpfbänder, Verzicht […]. (ebd.)

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Vgl. z. B. die folgende Passage, die das als Basilius-Kathedrale bekannte Gotteshaus verfremdet: „[A]m Roten Platz steckt eine buntgewürfelte Gesellschaft von beturbanten Emiren, Scheichs und Großwesiren die Köpfe zusammen und flüstert sich, oh, heiliger Basilius! pikante Geheimnisse aus dem Harem zu“ (S. 5).

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Das Detail, dass sich beide Personen im Parterre schlafen legen, wird nun als Begründung für das folgende Ereignis, den Diebstahl, herangezogen. Zudem findet die eingangs notierte Unvertrautheit Schmidts mit seinem Familiennamen nun ebenfalls eine Erklärung. Durch die Wiederaufnahme der Ereignisse um die Passagiere wird ein Binnenzusammenhang von Ereignissen hergestellt, der über die für Reisen notwendigen Stationenfolgen hinausgeht. Temporale Adverbien mit z. T. deiktischem Charakter wie „bald“ und „jetzt“ sind ebenfalls situationsbezogen und sorgen für die Relationierung der Einzelereignisse untereinander.22 Die Zeit vergeht. Die paradoxe Formulierung am Anfang des folgenden Zitats macht darauf aufmerksam, dass man in südliche Gefilde kommt: „Das weiße Land ist schwarz, Windmühlen am Horizont, manche Frauen bleiben in Pantoffeln und Unterrock, die Bügelfalte des gutrasierten Mannes, der in politischer Mission nach Suchum reist, ist nicht mehr messerscharf, im Gegenteil, die Hose weist Ansätze von Knollenbildung auf, und er erscheint keineswegs gut rasiert“ (S. 10). Rhetorische Mittel durchziehen den Text, von denen der Kontrast teilweise auch temporal orientiert ist: „Die Äcker hören auf und die Halden beginnen“ (ebd.), heißt es, als sie das sowjetische Industrierevier Donbass erreichen: „Von Fördertürmen weht ein rotes Flaggentuch – rote Fahne über schwarzem Land, aus den Schloten unvertünchter Ziegelbauten weht der Rauch – schwarze Fahne über rotem Land“ (ebd.). Und dann wieder ein temporal geprägter Kontrast, diesmal in Verbindung mit einem einfachen Chiasmus: „Der Abend ist Steppe, Steppe ist die Nacht“ (ebd.). Am Morgen erreichen sie Nowotscherkassk. „[D]er Mann mit der ehemaligen Bügelfalte ist kleinlaut geworden und hat sich seit vorgestern nicht gewaschen […], die tiptope Dame zieht die Lackschühchen nicht wieder an und knüpft die Strumpfbänder nicht fest, tarrara-tarrara-bsching“ (S. 11).23 Was für Goldschmidt der Wald, ist für Kisch die „Steppe, Steppe, Steppe“ (S. 12), während der Kaukasus näher rückt. Mit fortschreitender Fahrt wird nicht nur das Verhalten der Passagiere persönlicher, auch ihr Äußeres verändert sich: Die Stammgäste des Waggons duzen einander längst, […] alle Schranken sind gefallen, auch die Seidenstrümpfe der tiptopen Dame, sie läuft in schmutziger Nachtjacke und schmutzigem Unterrock umher, ach, wie zerzaust ist das ehemals so wohlassortierte Titusköpfchen! Der gutgebügelte, gutrasierte Herr hat ausgebuchtete Hosen und einen scheußlichen Vollbart, nicht mehr grau, sondern braun sind die weißen Gamaschen, nichts blieb von seiner Herrlichkeit, als die

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Zu diesem Merkmal von Narrativität vgl. Volkmar Lehman (Anm. 11), S. 176 ff. Die Onomatopoesie charakterisiert die Akustik russischer Züge und ist ein weiteres Leitmotiv dieses Kapitels, das hier in dem zitierten Fall erkennbar die Funktion eines Tuschs hat.

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politische Mission, […] die Kinder haben sich mit den Fahrgästen angefreundet und pinkeln auf deren statt auf der Mutter Schoß. (S. 12)

Auffällig hier ist die Andeutung einer Analepse; „nicht mehr grau“ heißt es von den Gamaschen, deren Grauwerden zuvor jedoch nicht geschildert wurde. Das Verlaufsereignis des Grauwerdens wurde in der Erzählung ausgelassen. Der Zug passiert Tschetschenien, Daghestan, erreicht das Kaspische Meer, bis er schließlich in Baku Station macht. Zum letzten Mal erwähnt der Autor seine Mitreisenden, die sich vor seinen Augen gewissermaßen aufgelöst haben: O du meine Güte, wie sieht die alte Garde der Fahrtgenossen aus! Nicht mehr bloß schmutzig, nein, auch zerrissen sind Nachtjacken und Unterröcke, zerrauft die Haare. Welches war doch die Dame mit dem tiptopen Titusköpfchen? Die Gamaschen des struppigen Herrn (der nicht mehr in politischer Mission reist, sondern für die Leningrader Großeinkaufsgesellschaft einen Waggon Suppengewürz beschaffen soll), waren sie weiß, grau oder braun? – jetzt sind sie jedenfalls schwarze Fußlappen (S. 14)

Damit kommt die Ereignisreihe um die Mitreisenden zu einem pointierten Ende, das jedoch noch nicht das Ende der Reise ist, die den Autor weiter über das georgische Tiflis bis ins armenische Eriwan führt. Wie man an diesem Beispiel sehen kann, wird die – insbesondere für west- und mitteleuropäische Leser außerordentlich große – zeitliche Ausdehnung der Reise durch die allmähliche Veränderung des Aussehens einiger Passagiere augenfällig gemacht. Dass die Reisedauer außergewöhnlich lang ist, wird nicht explizit behauptet und auch nicht durch Zeitangaben dokumentiert, sondern allein durch den Verfall der Kleidung ausgedrückt, d. h. durch die gezielte Auswahl von Ereignissen, die den Verlauf betreffen (z. B. Grau- und Schwarzwerden der Gamaschen) und Zeitpunkte (z. B. Strumpfbänder lockern). 2.3 Über den Zusammenhang zwischen anekdotischem Charakter und Separatveröffentlichung Die Auswahl von Ereignissen bewegt sich bei Kisch im anekdotischen Bereich. Das hat damit zu tun, dass insbesondere Kischs Texte wie auch z. B. Joseph Roths Schilderungen seiner Reise in die Sowjetunion zunächst jeweils separat veröffentlicht worden waren und als abgeschlossene Einzeltexte angesehen werden müssen, die erst nachträglich zu einer Sammlung zusammengefügt wurden, deren Einheit in erster Linie durch

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die Einheit der Reise sichergestellt ist.24 Bestimmt existiert hier kein reziproker Zusammenhang zwischen anekdotischem Charakter und Separatveröffentlichung. Aber in der Tendenz könnte diese Beobachtung wohl verallgemeinerungsfähig sein. Betrachtet man Franz Jungs Aufklärungsschrift Hunger an der Wolga, eine Buchveröffentlichung des Malik Verlages aus dem Jahr 1922, so lässt sich feststellen, dass die Struktur eher Goldschmidts als Kischs Beispiel ähnelt, obwohl Ziel und Inhalt anders gelagert sind.25 Jung wollte mit seinen Schilderungen der von Misswirtschaft geprägten Verhältnisse in einem abgelegenen Städtchen in der wolgadeutschen Region europäische Leser nicht nur informieren, sondern auch aufrütteln, indem er auf die Auswirkungen des Bürgerkriegs und der aus seiner (kommunistischen) Sicht ausbeuterischen Wirtschaftsform der deutschen Bauern aufmerksam macht, wobei er die schlimmen Verhältnisse selbstverständlich nicht den Bol’ševiki anlastet.26 Der Appellcharakter seiner Schrift kommt besonders im Anfangs- und im Schlusskapitel zum Ausdruck. Einen Appellcharakter weist – mehr indirekt – auch Goldschmidts Text auf, allerdings in anderer Hinsicht, denn Goldschmidt wirbt für die Errungenschaften der Sowjetmacht und versucht seine Leser davon zu überzeugen, dass doch alles gar nicht so schlimm ist und man den Kommunismus nicht zu fürchten braucht. Jungs Text unterscheidet sich von Goldschmidts als auch erst recht von Kischs im Gegenstand des informatorischen Teils. Es geht nicht um Tourismus, nicht um Sehenswürdigkeiten und nicht um Alltag in der Großstadt, sondern um grausame und menschenfeindliche Zustände in der Provinz abseits der Bahnlinien – also um den größten Teil des Landes, der dem Normalreisenden verborgen bleibt. In anderer Hinsicht aber sind die einzelnen Abschnitte insofern nur Goldschmidts Texten strukturell ähnlich, als sie des anekdotischen Charakters entbehren. Was geschildert wird, sind Zustände – etwa im Krankenhaus, auf dem Markt usw. –, keine bzw. kaum Ereignisse. Trotz dieser offensichtlichen Unterschiede ist Jungs Text auch eigen, dass die einzelnen Abschnitte, obwohl von Anfang an als Teile eines Ganzen konzipiert, ähnlich isoliert dastehen wie bei Roth, Goldschmidt und Kisch, weil sie untereinander nur durch das Thema „Schreckliche Zustände in der Provinz“ und die Einheit der Reise verbunden sind. Die

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In Roths Fall wurde die Einheit sogar erst posthum hergestellt durch den Herausgeber der Werkausgabe. Vgl. Joseph Roth: „Reise in Rußland“. In: Ders.: Werke, Bd. 2: Das journalistische Werk 1924–1928. Hrsg. von Klaus Westermann. Köln 1990, S. 591–696. Vgl. Franz Jung: „Hunger an der Wolga“. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Nach Rußland! Schriften zur russischen Revolution. Hrsg. von Lutz Schulenburg. Hamburg 1991, S. 85–150. Vgl. Jungs anti-deutschen Formulierungen sowie die Gegenüberstellung mit der positiv bewerteten russischen Bevölkerung (Anm. 25), S. 108, 112, 114.

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Anordnung der meisten Abschnitte (außer denjenigen, die die Anreise beinhalten) ist daher für das Verständnis dessen, wovon der Text handelt, sekundär. Man könnte die Anordnung ändern, ohne das Ganze in Unordnung zu bringen. 2.4 Temporal geordnete und atemporal geordnete Ereignisse „Jetzt erst fällt mir auf, daß ich zugunsten der Beobachtung das Chronologische meines Berichtes verabsäumt habe. Einiges Nebenherlaufende, das mir nicht allzu unwichtig erscheint, will ich aber schnell nachholen.“27 Dies schreibt Oskar Maria Graf in seinem Fragment gebliebenen Reisebericht, der im Exil in Brünn in den Jahren nach seiner Reise in die Sowjetunion entsteht.28 Wenngleich Grafs Bericht als Rohfassung gilt, die noch nicht für den Druck vorgesehen war, so machen Ergänzungen und Notizen, vor allem aber zahlreiche Streichungen deutlich, dass es sich bei dem Text nicht um die erste Bearbeitungsstufe handelt. Daher darf man diese Passage des den Schreibvorgang reflektierenden Innehaltens getrost als ernst gemeinten Hinweis verstehen. Graf gehörte zu einer Gruppe von Exilautoren, die zum 1. Allunionskongreß sowjetischer Schriftsteller in der zweiten Augusthälfte 1934 nach Moskau eingeladen waren. Einige von ihnen, darunter neben Graf auch Theodor Plievier und Ernst Toller, begaben sich anschließend auf eine rund vierwöchige Reise durch das Land, die sie über Char’kov in der Ukraine in den Kaukasus, ans Kaspische Meer bis auf die Krim führte. In der erzählten Zeit schon längst fortgeschritten – der Bericht über die Gruppenreise hat im Kapitel zuvor begonnen –, leitet Graf mit der zitierten Formulierung über zu Autorengesprächen, die er noch in Moskau mit deutschen und russischen Kollegen geführt hat. Das „Chronologische“ stellt Graf der „Beobachtung“ gegenüber, und diese kontrastive Formulierung scheint zu verstehen zu geben, dass die (Niederschrift der) Beobachtung sich nicht notwendigerweise an der Chronologie der Ereignisse orientiert. Man könnte zugespitzt formulieren: Die Erlebniszeit ist eine andere als die Ereigniszeit. Die eine ist nicht nur langsamer oder schneller als die andere. Während die Ereigniszeit temporal strukturiert ist, hält sich die Zeit des Erlebens (des Beobachtens) nicht an die lineare

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Oskar Maria Graf: Reise in die Sowjetunion 1934. Hrsg. u. m. einem Nachwort von HansAlbert Walter. Darmstadt/Neuwied 1974, S. 85. Vgl. Hans-Albert Walter: „Nachwort“. In: Oskar Maria Graf: Reise in die Sowjetunion 1934. Darmstadt/Neuwied 1974, S. 209–244, hier S. 230 f.

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Chronologie, sondern springt. Das Prinzip der Verkettung ist kein lineartemporales „und dann“, sondern ein subjektives, assoziatives „und dann“. Dennoch sprengt Graf die Ordnung nicht, denn sein expliziter Hinweis auf die Abweichung stabilisiert ja gerade die eigentliche Ordnung. Grafs Bericht ist nun ein (Ausnahme-)Beispiel dafür, dass anekdotischer Aufbau und Separatveröffentlichung nicht immer miteinander einhergehen. Denn obgleich er den chronologischen Zusammenhang weitgehend wahrt, sind die einzelnen Ereignisse (Anfahrt mit dem Ehepaar Scharrer, Aufenthalt im Moskauer Hotel mit Kollegen, Schriftstellerkongress, Reise in den Süden mit verschiedenen Stationen) anekdotisch gehalten. Denn die Globalstruktur wird nur von der Chronologie geprägt. Der anekdotische Charakter resultiert bei Graf oftmals aus Beobachtungen, deren Objekt seine Kollegen sind, über deren Gehabe er sich gern lustig macht – mit Zuneigung wie im Falle Adam Scharrers, aber auch mit Abneigung wie im Falle Ernst Tollers und Gustav Reglers. Damit ist die Besonderheit von Grafs Bericht im Vergleich zu den bislang untersuchten Texten auch schon genannt. Worum es im Text geht, sind Menschen des öffentlichen Lebens, die sich wie der Autor, als Touristen durch das fremde Land bewegen.29 Die für Reiseberichte typischen Schilderungen des Landes erfolgen zwar auch, sind aber deutlich reduziert. 2.5 Ereignisse und Erlebnisse Im Hinblick gerade auf die am Ende des vorletzten Abschnitts erwähnte Eigenheit des mangelnden Zusammenhangs einer Globalstruktur lohnt sich der Blick in ein Reisebuch, das sich durch die deutliche Realisierung einer auf einem spezifischen Zusammenhang beruhenden Globalstruktur auszeichnet. Armin T. Wegners Fünf Finger über Dir aus dem Jahr 1930 scheint auf den ersten Blick fragmentarisch angelegt.30 Denn die vierzehn, jeweils mit Überschriften versehenen Kapitel bestehen selbst noch einmal aus separaten Abschnitten, die sich hauptsächlich als Passagen „Aus dem Tagebuche“ oder als Briefe an private oder öffentliche Personen (Ver-

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Wobei sich Graf durch Selbstironie, die seinen Kollegen seiner Darstellung zufolge in der Regel abgeht, von ihnen zu distanzieren versteht – wie er sich auch in Moskau als komischer Vogel inszeniert, indem er zum Schriftstellerkongress in seiner bayerischen Tracht erscheint. Vgl. Armin T. Wegner: Fünf Finger über Dir – Aufzeichnungen einer Reise durch Russland, den Kaukasus und Persien. Mit einem Nachwort von Reinhard M. G. Nickisch. Wuppertal 1979. Der originale Untertitel lautet „Bekenntnis eines Menschen in dieser Zeit“. Einzelne Abschnitte wurden vorher separat publiziert; vgl. Martin Rooney: Leben und Werk Armin T. Wegners (1886–1978) im Kontext der sozio-politischen und kulturellen Entwicklungen in Deutschland. Frankfurt a. M. 1984, S. 387.

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wandte, Freunde, Kollegen wie Hermann Hesse oder Maksim Gor’kij) zu erkennen geben. Im Gegensatz zu den bislang untersuchten Texten folgt dieser strikt der Reiseroute. Schon dadurch wird der Globalzusammenhang garantiert. Zusätzlich aber wird die Globalstruktur durch die Erlebnisse des Ich organisiert, die sich bei fortschreitender Lektüre mehr und mehr als Bestandteile eines umfassenden Bildungserlebnisses verstehen lassen, das sich am Ende vollendet. Es werden nicht nur kausal miteinander verbundene Ereignisse aneinander gereiht. Es wird eine Geschichte mit einem impliziten Ziel erzählt, an deren Ende die Bekehrung zum Kommunisten und die Abkehr vom Pazifismus stehen.31 Die Ereignisse, von denen Wegner erzählt, schildert er stets als von ihm erlebte. Die Subjektivität des Autor-Ich wird in diesem Text besonders eindringlich herausgestellt, und somit sind die erzählten äußeren Ereignisse, die das Ich auf seiner Reise wahrnimmt, immer bezogen auf die inneren Ereignisse des Ich, seine Erlebnisse. Anhand der äußeren Ereignisse begibt sich das Ich in der Form von Tagebuchreflexionen in eine moralische Auseinandersetzung mit seinen pazifistischen Grundsätzen, die es in die Sowjetunion mitbringt; sie stehen mit dem Anspruch auf eine bessere, gerechtere Welt und der sowjetischen Durchsetzung dieses Anspruchs in Konflikt. Denn das Ich vermeint in der Sowjetunion zu lernen, dass eine bessere Welt nicht zu erreichen sei, ohne pazifistische Grundsätze zu verletzen. Eben darin besteht das Bildungserlebnis. Mit anderen Intellektuellen zu den Feierlichkeiten des zehnten Jahrestags der Oktoberrevolution am 7. November 1927 nach Moskau eingeladen, schildert Wegner nicht nur die Paraden und Aufmärsche, sondern auch seine eigenen Empfindungen. Nicht anders geht er im vergleichsweise kurzen Eingangskapitel vor, in dem er seine Anreise schildert. Hier beschreibt er jeweils kurz einige Eindrücke, die die Reise – Orte und Passagiere – betreffen. Doch schon die ersten Wörter, die ein uns bekanntes einfaches Muster variieren, weisen eine entscheidende Veränderung auf: „Fahren! Fahren! Fahren!“ (S. 9). Es geht hier nicht um Wald oder Steppe, also äußere Gegenstände, die am Reisenden vorbeirauschen, sondern um die Empfindung der Fortbewegung. Schon im ersten Kapitel setzt sich der Autor mit seinen Erwartungen auseinander und führt die Leser in seine persönlichen Beziehungen zu Russland ein, die zum einen

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Auf die Frage eines Emigranten, ob er Kommunist sei, zitiert sich Wegner selbst: „‚Ja‘, erwiderte ich zum erstenmal in meinem Leben mit einer noch schüchternen Stimme“ (S. 290). – Folgerichtig trat Wegner nach seiner Rückkehr der KPD bei; vgl. Rooney (Anm. 30), S. 408.

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aus Verwandten bestehen und zum andern aus einer ins Mystische bzw. Mystifikatorische tendierenden Sehnsucht. Mit großer Faszination beobachtet das Ich im anschließenden Kapitel die Massenaufmärsche und lässt sich teilweise mitreißen. Seine Schilderungen reflektieren den Zusammenhang der massenhaften Begeisterung mit dem Gefühl religiöser Inbrunst. Es erblickt den gemeinsamen Nenner der so verschiedenen Weltanschauungen in einem mystischen Grundbedürfnis, das seiner Meinung nach allen Menschen eignet, vor allem aber ihm selbst.32 Am Ende sieht das Ich jedoch ein, dass es den Massen diesem Bedürfnis zum Trotz isoliert gegenübersteht: „Warum bin ich nicht wie ihr? – dachte ich. Warum bin ich nicht begeistert, warum bin ich noch immer gleichgültig? Wann werde ich mich endlich selber aufgeben können? Elendes Ich, das ich liebe!“ (S. 52). Damit formuliert der Autor den Ausgangszustand seines Ich, dem die ersten Ereignisse, die ihm in dem Land seiner Sehnsucht widerfahren, noch nichts anhaben können. Zugleich deutet es darin die Erwartung an, dass sich dieser Zustand im Laufe des Aufenthaltes ändere. Und richtig, wenig später heißt es in einem Brief, der „An Max Hölz“, den damals noch inhaftierten Kommunisten, gerichtet ist: „Ich bin im Begriff, alles umzustürzen und dies, obwohl ich doch weiß, daß sich in meinen tiefsten Überzeugungen niemals etwas ändern kann. Ich fühle, wie dieses Land mit seinen Festen, seiner gewaltigen Hingabe und Begeisterung, seiner unfaßbar großen Kunst und seiner mächtigen Seele mich von Tag zu Tag langsam überwältigt“ (S. 86). Zwar drückt sich hier die Gewissheit eines stabilen Fundaments des Ich aus („niemals“). Aber die Paradoxie in der Formulierung unterminiert dieses Fundament bereits. Tatsächlich, denn bald schon heißt es unter Rückgriff auf dasselbe Adjektiv („tiefste“ Überzeugungen/Grundsätze): „Ach, ich fühle, daß ich meinen tiefsten Grundsätzen untreu zu werden beginne“ (S. 90). Diese Grundsätze sind Wegners pazifistische Überzeugungen, für die er berühmt geworden ist. Nun stellt er sie in Frage, da seiner Meinung nach „Rußland nicht diese machtvolle Entwicklung zu seiner kulturellen Zukunft genommen hätte, ohne die gewaltsame Tat seiner Führer. Daß man die Mehrzahl der Menschen zwingen muß zu ihrem eigenen Glück – das vielleicht ist die bitterste Erfahrung des Lebens!“ (S. 91). Als Wegner in seiner Eigenschaft als Kriegsdienstverweigerer mit dem seinerzeit berühmten Tolstoj-Anhänger Vladimir Čertkov (1854–1936) zusammentrifft und später dem Anwesen Tolstojs einen Besuch abstattet, fühlt er sich als Verräter an den – einst – gemeinsamen pazifistischen Überzeugungen

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Das Paradoxale der sowjetischen Folklore bringt er auf den Begriff der „mythischen Sachlichkeit“ (S. 358).

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(vgl. S. 105 ff., 301 ff., 336 f.). Einen Höhepunkt dieser Geschichte, der zugleich Abschluss der ideologischen Wandlung ist, bildet Wegners Besuch von Tolstojs Grab. „Meine Augen blieben daran haften, und ich las: ‚Lew Nikolajewitsch Tolstoi. Gestorben den 10. Februar 1928...‘ – Ich wischte mir mit der Hand über die Stirn. Ich begriff, daß Tolstoi für mich erst an diesem Tage gestorben war“ (S. 301). Hier findet die Subjektivität des Berichts ihren radikalen Ausdruck in einer Formulierung, die zugunsten der subjektiven Wahrheit eine objektiv falsche Behauptung präsupponiert. Das genannte Datum ist der Tag von Wegners Besuch am Grab, nicht Tolstojs Todestag (20.11.1910). Was Wegner hier sieht und liest, kann er nicht gesehen haben, obgleich er es im Gestus einer Wirklichkeitsaussage formuliert. An Textstellen wie dieser gibt sich der Bericht deutlich als Text zu erkennen, der das Wörtliche und Tatsächliche zugunsten seiner narrativen Strategie suspendiert. Wegner übersieht durchaus nicht all das Fragwürdige, das den Sowjetkommunismus in der Übergangsphase zum Stalinismus ausmachte. So zitiert er ausführlich „Aus dem Brief eines russischen Genossen über den ‚politischen Isolator‘ von Werchne-Uralsk“ (S. 276–278), in dem dieser über brutale Missstände in einem Gefängnis berichtet. Daneben flicht Wegner auch eigene skeptisch stimmende Beobachtungen sowjetischer Realität in seinen Text ein, die aber gegenüber der Argumentation, die er sich zu eigen gemacht hat, ohne Wirkung sind. Zum symbolischen Ausdruck dieser Argumentation, die das Wohl des Kollektivs über das Wohl des Individuums stellt, hat Wegner ein Bild gewählt, das identisch ist mit dem Haupttitel seines Buches: Fünf Finger über Dir. Gemeint ist der Gruß der Pioniere, den er bei einer Versammlung beobachtet (S. 42).33 Zumindest in der Bildsprache Wegners sind die fünf Finger äquivalent mit dem fünfgliedrigen Sowjetstern, den Wegner bereits im Anfangskapitel beim Grenzübertritt in Szene setzt (S. 14 f.).34 Anlässlich einer Beobachtung, die Wegner im armenischen Dschulfa macht, kann man erkennen, dass er diese Symbolik auch auf seine im Text reflektierend ausgetragenen Zweifel überträgt: „Eine windschiefe Laterne klapperte in der leeren Straße in der regnerischen Nacht und der rote Sowjetstern ihrer Glas-

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Vgl. den Eintrag zum Pioniergruß in der russ. Wikipedia: „Pionerskij saljut“. „Die über die Stirn erhobene Handfläche bedeutete, dass die gesellschaftlichen Interessen beim Pionier über den persönlichen stehen“ (Übersetzung M.A.). http://ru.wikipedia.org/wiki/%CF% E8%EE%ED%E5%F0%F1%EA%E8%E9_%F1%E0%EB%FE%F2 [letzter Zugriff: 16.1.2012]. Vgl. auch Rooney (Anm. 30), S. 388, der außerdem auf den originalen Buchumschlag hinweist, dessen Motiv einer „gespreizten linken Hand“ an ein Wahlplakat von John Heartfield von 1928 erinnert. Hier vergleicht er den roten Stern auch mit dem „Stern Bethlehems“ (S. 15). Wie schon angedeutet wurde, aber nicht ausgeführt werden kann, besteht sein Text aus zahlreichen Analogien zwischen Christentum und Kommunismus.

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scherben war das einzige, das hier noch an das Land der Arbeiter und Bauern erinnerte, roh aufgemalt, als hätte man die fünf blutigen Fingerspitzen einer Hand darauf abgedruckt“ (S. 220). Dass das Heil des Kommunismus mit Blut erkauft wird, kommt hier eindringlich zum Ausdruck. Doch weisen diese in einem Brief an Gor’kij formulierten Zeilen nicht in die Richtung des Zweifels. Sie hat das Ich nicht zuletzt durch die Lektüre Gor’kijs überwunden: „Dies ist nicht die Reise in das tote Dschulfa, es ist die Reise nach dem vereinsamten Ich. […] Armes Ich, bleibe liegen in Dschulfa! Mein Weg geht weiter ohne dich!“ (S. 223). Und Wegner schließt den Brief mit den für einen Pazifisten tödlichen Worten: „Ich grüße Sie, fünf Finger über mir, zum ersten Male als [Absatz] ein Soldat der großen Armee“ (S. 225). Obgleich sich des möglichen Scheiterns des sowjetischen Experiments bewusst, hält Wegner daran fest und lässt den gesamten Text in einer pathetischen Volte enden, in der er die Motive der fünf Finger und des Sterns ineinander mischt: „Und ich hebe die fünf Finger über mich, flehend, anklagend und beschwörend, die fünf Finger, die in das Opferblut der Menschheit getaucht sind – ich hebe sie über mich als einen strahlenden Stern!“ (S. 359). Was dem Ich ein Erlebnis ist, wird zum Ereignis sui generis. Literatur Aumüller, Matthias: „Narratif, descriptif“. In: John Pier (Hrsg.): Théorie du récit. L’apport de la recherche allemande. Villeneuve d’Ascq 2007, S. 227–244. Aumüller, Matthias: „Literaturwissenschaftliche Erzählbegriffe“. In: Ders. (Hrsg.) Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin/Boston 2012, S. 141–168. Barthes, Roland: „Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen“ [1966]. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1980. Furler, Bernhard: Deutschsprachige Reportagen über Sowjetrussland 1917–1939. Frankfurt a. M. 1987. Graf, Oskar Maria: Reise in die Sowjetunion 1934. Hrsg. u. m. einem Nachwort von Hans-Albert Walter. Darmstadt/Neuwied 1974. Goldschmidt, Alfons: Moskau 1920. Tagebuchblätter [1920]. Hrsg. u. eingel. von Wolfgang Kießling. Berlin 1987. Hertling, Viktoria: Quer durch. Von Dwinger bis Kisch. Königsstein i. Ts. 1982. Hühn, Peter: „Event and Eventfulness“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/event-andeventfulness [letzter Zugriff 8.3.2014]. Jung, Franz: „Hunger an der Wolga“. In: Ders.: Werke, Bd. 5: Nach Rußland! Schriften zur russischen Revolution. Hrsg. von Lutz Schulenburg. Hamburg 1991, S. 85–150.

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Zeit und Raum. Romantische Leichen im Keller des Realismus oder: Adalbert Stifters Ein Gang durch die Katakomben 1. Drei Perspektiven 259 – 1.1 Zeit und Raum – narratologisch 259 – 1.2 Zeit und Raum – historisch 261 – 1.3 Zeit und Raum – ästhetiktheoretisch 264 – 2. Adalbert Stifters „Ein Gang durch die Katakomben“ 268 – 2.1 Die Unterwelt als Heterotopie 272 – 2.2 Erzählte Zeiten I – Poetik 275 – 2.3 Erzählte Zeiten II – Struktur und Rezeption 282

1. Drei Perspektiven 1.1 Zeit und Raum – narratologisch Zeit und Raum sind die Grundkomponenten erzählter Welten. In jedem Roman, in jeder Novelle vollziehen sich Ereignisse wie Handlungen immer zu einem bestimmten Augenblick an einem bestimmten Ort. Insofern besitzen Zeit und Raum strukturell die gleiche Bedeutung für das Koordinatensystem narrativer Texte. Trotzdem hat die Erzählforschung beide Phänomene ungleich behandelt, indem sie eine allgemein konsensfähige Systematik zur Zeit, nicht aber zum Raum erarbeitete. Das sollte zunächst verwundern, denn gerade Zeit lässt sich nicht unmittelbar darstellen und ist deswegen schwieriger fassbar. Damit sie sich zeigen kann, braucht Zeit Erscheinungen, die auf sie verweisen, und das, obwohl sie vorgängig und in erster Instanz die Möglichkeitsbedingung ist, die „allen Anschauungen zum Grunde liegt“.1 Wie eingehend sich die Erzähltheorie mit der Zeit beschäftigt hat, belegen etwa die Arbeiten Günther Müllers oder Gérard Genettes.2 Maßgeb-

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Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft 1. In: Ders.: Werkausgabe. Hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3. Frankfurt a. M. 1974, S. 78. Zur Untersuchung von Zeit in der Erzählforschung vgl. Michael Scheffel/Antonius Weixler/Lukas Werner: „Time“. In: Peter Hühn u. a. (Hrsg.): The Living Handbook of Narratology. Hamburg, http://www.lhn.uni-hamburg.de/article/time [letzter Zugriff: 8.3.2014].

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lich ist die Unterscheidung zwischen „erzählter Zeit“ und „Erzählzeit“,3 deren Relation sich mit den Kategorien „Ordnung“, „Dauer“ und „Frequenz“ beschreiben lässt.4 Nicht zu vergessen das „Ereignis“,5 welches stets eine Zustandsveränderung bewirkt und somit ein Vorher von einem Nachher trennt. Aufeinander folgende Ereignisse konstituieren ein „Geschehen“, auseinander folgende eine „Geschichte“.6 Weitgehend unbemerkt blieb bislang, dass aus Zeit Zeiten werden können und dass in der Narratologie diegetische Zeit allenthalben als „hypothetische Referenzgröße zugrundge gelegt“, aber „selbst nicht in den Blick“ genommen wird.7 Schon diese flüchtige Sondierung illustriert, dass die Erzähltheorie temporale Aspekte gezielt abgehandelt hat, ohne dabei auf das Verhältnis von Zeit und Raum einzugehen.8 Erzählte Räume bereiten größere Probleme als erzählte Zeiten. Räume sind konkrete Objekte, sie lassen sich beschreiben und spezifizieren, es gibt sie in unüberschaubarer Zahl und Verschiedenheit. Darin liegt zugleich der Grund ihrer Systemresistenz – die typologische Bandbreite von Räumen erlaubt keine handhabbare, in sich geschlossene Theorie.9 Hinzu kommt die wenig nennenswerte Rolle, die der Raum bei der Plotvermittlung spielt. Deshalb sind eine „anschlussfähige Systematik und die Entwicklung eines Beschreibungsinstrumentariums zum Vorliegen von Raum und zur narrativen Strukturierung Desiderate“.10 Außerhalb der Narratologie erlebt die Raumanalyse seit dem Ende der achtziger Jahre indes einen gewaltigen Aufschwung. Den so genannten,

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9 10

Vgl. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Tübingen 1968, S. 269–286. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998, S. 21–59, S. 61–80, S. 81–114. Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratologie. Berlin/New York ²2008, S. 1–25. Vgl. E. M. Forster: Aspects of the Novel. In: Ders.: The Abinger Edition of E. M. Forster. Hrsg. von Oliver Stallybrass, Bd. 12: Aspects of the Novel and Related Writings. London 1974, S. 1– 119, hier S. 60. Lukas Werner: „Zeit“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 150–158, hier S. 151. Freilich existieren auch einige wenige Kategorien zur Raumanalyse, man denke an die Unterscheidung zwischen ‚uniregionalen‘ und ‚pluriregionalen‘ Welten, vgl. Félix MartínezBonati: „Towards a Formal Ontology of Fictional Worlds“. In: Philosophy and Literature 7.2 (1983), S. 182–195. Vgl. Ansgar Nünning: „Raum/Raumdarstellung, literarische(r)“. In: Ders. (Hrsg.): Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe. Stuttgart/Weimar 2001, S. 536–539, hier S. 536 f. Katrin Dennerlein: Narratologie des Raumes. Berlin/New York 2009, S. 7; für einen kompakten Überblick vgl. Dies.: „Raum“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 158–165.

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vorwiegend kultur- und sozialwissenschaftlich orientierten spatial turn rechtfertigt man unter anderem dadurch, dass der Raum zuvor oftmals wie ein „unreiner Stiefbruder der Königin Zeit behandelt wurde“.11 Nach wie vor bedient sich die Literaturwissenschaft ausgiebig bei den Ergebnissen dieser Entwicklung. Von besonderem Interesse sind die Räumlichkeit sprachlichen Ausdrucks, die gattungsspezifische Gestaltung von Räumen, Semantisierungen des Raums und Präsenzerscheinungen.12 Gleichwohl gab es viele für die Literaturwissenschaft einflussreiche Raumanalysen bereits vor dem spatial turn. Dazu zählen unter anderem die epistemologisch und ästhetisch motivierten Auseinadersetzungen mit dem Raum von Ernst Cassirer und Michail Bachtin, Jurij M. Lotmans semiotische Raumtheorie, die Überlegungen zu Raumpraktiken von Michel de Certeau oder Michel Foucaults Radiobeitrag über Heterotopien.13 Im Folgenden soll ein kursorischer Blick die historische Variabilität raumzeitlicher Konzepte (1.2) und deren Bedeutung für ästhetiktheoretische Ansätze (1.3) dokumentieren. Anschließend wird das Raum-ZeitVerhältnis in Adalbert Stifters Bericht Ein Gang durch die Katakomben untersucht (2.). 1.2 Zeit und Raum – historisch Das Verhältnis von Zeit und Raum wird von literaturwissenschaftlicher Forschung und literaturtheoretischen Poetiken unterschiedlich zu fassen versucht. Es kann vom Darstellungsaspekt her verstanden, normativ gesetzt, genrebasiert und ästhetisch überprüft oder zu einem literaturphilosophisch-kulturtheoretischen Tatbestand erhoben werden. In seinem bis heute grundlegenden Buch Mimesis (1946) kontrastiert Erich Auerbach die in der Literatur dargestellte raumzeitliche Wirklichkeit verschiedener Epochen.14 Den Anfang machen die griechisch-antike und die jüdischchristliche Literatur. Bei Homer stoße man auf „ausgeformte, gleichmäßig belichtete, ort- und zeitbestimmte, lückenlos im Vordergrund miteinander verbundene Erscheinungen“, wobei das Erzählte „als alleinige Gegenwart

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Hartmut Böhme: „Einleitung: Raum – Bewegung – Topographie“. In: Ders. (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar 2005, S. IX–XXIII, hier S. XII. Vgl. Nünning (Anm. 9), S. 537. Vgl. Sylvia Sasse: „Poetischer Raum: Chronotopos und Geopoetik“. In: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2010, S. 294–308, hier S. 298. Im Weiteren orientiere ich mich wiederholt an Michaela Ott: „Bildende und darstellende Künste“. In: Stephan Günzel (Hrsg.): Raum. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Wiemar 2010, S. 60–76, hier besonders S. 69–71.

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unvermischt und ohne Perspektive“ wirke.15 Anders die biblische Erzählung. Dort seien Zeit und Raum „unbestimmt und deutungsbedürftig“ sowie nach Vorder- und Hintergrund unterschieden; die „Menschen der biblischen Erzählungen […] haben mehr Zeiten-, Schicksals- und Bewußtseinstiefe; sie sind, obgleich fast immer in einem sie ganz in Anspruch nehmenden Ereignis befangen, ihm doch nicht so ganz gegenwärtig hingegeben, daß sie sich nicht dessen, was früher und anderswo mit ihnen geschah, dauernd bewußt blieben“.16 In altgermanischen Epen erkennt Auerbach „Weite und Freiheit“,17 altfranzösische Epen hingegen warteten mit einer „Enge und Festlegung des Lebensraumes“18 auf. Über das Rolandslied (um 1100) etwa heißt es: „Alle Ordnungen des Lebens […] sind eindeutig, unverrückbar, formelhaft festgelegt“.19 In Texten des Hochmittelalters stünden nur wenige Figuren einander gegenüber; „ohne viel Raum zur Bewegung“ und „jeder für sich“ redeten sie auf eine Weise, die zu keinem wirklichen Gespräch führe. Dieser Stil sei „zeitlich, örtlich, ständisch beschränkt“.20 Die französisch-burgundische Realistik des 15. Jahrhunderts bleibe „eng und mittelalterlich“21 und damit weit hinter dem zurück, was Dante und Boccaccio bereits zuvor geschaffen haben. Bei Miguel de Cervantes’ Don Quijote (1605–15) begegneten dann raumzeitliche Erscheinungen, die „sich nicht mehr in einer eindeutigen und überlieferten Weise ordnen“22 ließen. Im 15. und 16. Jahrhundert werden Zeit und Raum zuvorderst im Theater-Kontext drängend. Die Lehre der drei Einheiten (Handlung, Zeit, Ort) wird von Castelvetro „zum ersten Male aus der aristotelischen Poetik herausdestilliert“23 und setzt sich allgemein, besonders nachhaltig aber im französischen Drama des 17. Jahrhunderts durch. Nicht so sehr unter Dichtern wie Pierre Corneille oder Jean Racine, dafür jedoch unter Theoretikern werden die Aristotelischen Gedanken rasch zur normativen Regelpoetik.24 Die Gegner lassen nicht lange auf sich warten: Diderot, dem es um eine überzeugende malerische Illusion auf der Bühne geht, und Lessing, der sich an Diderot anlehnt, brechen mit der Orientierung an

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Erich Auerbach: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Basel 2001, S. 13 f. Auerbach (Anm. 15), S. 14. Auerbach (Anm. 15), S. 108. Auerbach (Anm. 15), S. 109. Auerbach (Anm. 15), S. 108. Auerbach (Anm. 15), S. 117. Auerbach (Anm. 15), S. 249. Auerbach (Anm. 15), S. 342. Manfred Fuhrmann: „Nachwort“. In: Aristoteles: Poetik. Hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 2001, S. 144–178, hier S. 176. Vgl. Fuhrmann (Anm. 23), S. 176.

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klassischen Theatergepflogenheiten. Goethe tut die Einheit des Orts frivol als „kerkermäßig ängstlich“, die Einheiten der Handlung und der Zeit als „lästige Fesseln unsrer Einbildungskraft“ ab.25 Die deutschen Frühromantiker kündigen schließlich alle gängigen Raum- und Zeitkonventionen auf: Sie entgrenzen den Raum, stauchen die Zeit und führen vermehrt Gegenräume ein, die temporal aus dem Rahmen fallen – exemplarisch hierfür ist die Waldeinsamkeit in Ludwig Tiecks Der blonde Eckbert (1796). Das romantische Projekt hat für Friedrich Schlegel insgesamt das Ziel, „alle getrennte[n] Gattungen der Poesie wieder zu vereinigen“.26 Dieses auf die Zukunft gerichtete Vorhaben realisiert sich niemals absolut, sondern in einem zyklisch verlaufenden „unendlichen Prozeß der Annäherung“27 an Vergangenes: „Die romantische Dichtart ist noch im Werden; ja das ist ihr eigentliches Wesen, daß sie ewig nur werden, nie vollendet sein kann“.28 In der modernen Literatur des 20. Jahrhunderts wird der Momentanismus29 ein vordringlicher Modus ästhetischer Zeit, wobei dessen Wechselverhältnis mit dem Raum bislang nicht ausreichend geklärt ist. Es sind Autoren wie Marcel Proust, James Joyce oder Virginia Woolf, die den plötzlichen Augenblick auf unterschiedliche Weise variieren. Den Stellenwert temporaler Aspekte in dieser Zeit demonstriert abermals Auerbach anhand von Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse (1927). Die Autorin baue zwei Exkurse unterschiedlichen Typs in den Text ein: Der erste spiele sich „nach Zeit (und Ort) innerhalb des Rahmenvorgangs“30 ab und öffne einen Bewusstseinsraum, welcher letztlich eine „Herausarbeitung des Gegensatzes zwischen ‚äußerer‘ und ‚innerer‘ Zeit“31 ermögliche. Die Zeiten und Orte des zweiten Exkurses „sind nicht selbständig, sie dienen nur der vielstimmigen Behandlung des ihn auslösenden Bildes“.32 In diesen Exkursen sieht Auerbach eine Fortführung der Verfahrensweise Marcel Prousts, dem es in À la recherche du temps perdu (1913–27) um ein

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Johann Wolfgang Goethe: Zum Shakespears Tag. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedmar Apel u. a., Bd. 1.18: Ästhetische Schriften. 1771–1805. Hrsg. von Friedmar Apel. Frankfurt a. M. 1998, S. 9–12, hier S. 10. Friedrich Schlegel: Athenäums-Fragmente. In: Ders.: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hrsg. von Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner, Bd. 2: Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Hrsg. von Hans Eichner. München/Paderborn/ Wien 1967, S. 165–255, hier S. 182. Lothar Pikulik: Frühromantik. Epoche – Werke – Wirkung. München 2000, S. 164. Schlegel (Anm. 26), S. 183. Vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Auerbach (Anm. 15), S. 502. Auerbach (Anm. 15), S. 500. Auerbach (Anm. 15), S. 502.

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„Wiederfinden der verlorenen Wirklichkeit in der Erinnerung“33 gehe.34 In Joyces Ulysses (1922) werde die Methode der „Bewußtseinsspiegelung und Zeitenschichtung“35 schließlich am radikalsten umgesetzt. Zeit und Raum sind nicht nur „zwei wesentliche Konstitutionsmerkmale der Dichtung“36, sie sind, soviel sollte deutlich geworden sein, darüber hinaus jene Größen, an denen man Feinjustierungen ästhetischer Gestaltung besonders gut beobachten kann. Das gilt nicht nur für die Literatur; auch die bildende Kunst ist ohne Zeit und Raum nicht denkbar – was in diversen Theorien reflektiert wird. 1.3 Zeit und Raum – ästhetiktheoretisch Folgenschwer für den Vergleich von Zeit und Raum auf dem ästhetischen Feld ist Gotthold Ephraim Lessings Unterscheidung zwischen Zeitkünsten und Raumkünsten. In Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766) bricht er mit dem Horaz-Diktum „ut pictura poesis“, indem er eine grundsätzliche Disparität zwischen Literatur und bildender Kunst behauptet: „die Zeitfolge ist das Gebiete des Dichters, so wie der Raum das Gebiete des Malers“.37 Die Malerei nämlich versammle „Figuren und Farben in dem Raume“, die Poesie artikuliere „Töne in der Zeit“; so seien „Körper mit ihren sichtbaren Eigenschaften, die eigentlichen Gegenstände der Malerei“, Handlungen „der eigentliche Gegenstand der Poesie“.38 Konkret meint diese Semiotik: Ein Bild zeichnet sich durch ein raumforderndes Nebeneinander verschiedener Elemente aus, die der Rezipient simultan wahrnimmt. Diese Gleichzeitigkeit bildet immer nur einen einzigen Moment ab, ohne ein Davor und ein Danach. Ganz anders die Literatur: Jeder Text hat eine bestimmte Dauer, in der er sich entfaltet, seine „ästhetischen Elemente stehen nicht nebeneinander, sondern nacheinander“.39

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Auerbach (Anm. 15), S. 503. Zur Plötzlichkeit der Prousts „mémoire involontaire“ nahe stehenden „moments of being“ Virginia Woolfs vgl. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a. M. 1994, hier besonders S. 160–162. Zur Zeit-Problematik in Prousts Recherche vgl. Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans [1955]. Frankfurt a. M. 1986. Auerbach (Anm. 15), S. 506. Alexander Ritter: „Einleitung“. In: Ders. (Hrsg.): Landschaft und Raum in der Erzählkunst. Darmstadt 1975, S. 1–16, hier S. 1. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Hrsg. von Wilfried Barner u. a., Bd. 5.2: Werke 1766–1769. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt a. M. 1990, S. 9–206, hier S. 130. Lessing (Anm. 37), S. 116. Georg W. Bertram: Kunst. Eine philosophische Einführung. Stuttgart 2005, S. 63.

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Außerdem könne die Literatur, im Gegensatz zur Skulptur, ohne Abstriche menschliche Grenzerfahrungen darstellen. Diesen Punkt spezifiziert Lessing an der Laokoon-Gruppe (die er notabene nur aus Beschreibungen kennt). Johann Joachim Winckelmann, der in der griechischen Kunst bekanntlich „eine edle Einfalt, und eine stille Grösse“40 entdeckt, kommt zum Schluss, dass Laokoon trotz des Schlangenangriffs nicht schreit – eine Leistung, welche auf der „Größe der Seele“41 beruhe. Lessing ist damit weitgehend d’accord und verweist noch auf das ästhetische Taktgefühl der Bildhauer, die den Zusammenhang zwischen Affektabmilderung und Schönheit genau erkannt hätten: „Die bloße weite Öffnung des Mundes […] ist in der Malerei ein Fleck und in der Bildhauerei eine Vertiefung, welche die widrigste Wirkung von der Welt tut“.42 In der Poesie, etwa im zweiten Buch von Vergils Aeneis (begonnen 29 v. Chr.), schreit Laokoon sehr wohl, was beweise, dass sich die Angemessenheit der Darstellung mit dem Medium ändert. Dem Dichter müsse die Belebung der Imagination gelingen, denn „unsere Einbildungskraft sieht überall hindurch“.43 Georg Wilhelm Friedrich Hegel entfaltet in seinen Vorlesungen über die Ästhetik die Idee eines sich „mittels temporärer Raumrealsierungen sukzessive vervollkommnenden geistigen Totalraums“.44 Die Stelle, die eine Kunstform in seinem Ranking besetzt, richtet sich nach dem menschlichen Sinn, den sie anspricht. Beim Sehen nehme man „Gestalt, Farbe usf.“ wahr; beim Hören Töne beziehungsweise das „Schwingen des Körpers“; das dritte Element sei die „sinnliche Vorstellung, die Erinnerung, das Aufbewahren der Bilder […], so daß nun einerseits die äußere Realität selber als innerlich und geistig existiert, während das Geistige andererseits in der Vorstellung die Form des Äußerlichen annimmt und als ein Außereinander und Nebeneinander zum Bewußtsein gelangt“.45 Gemäß dieser Systematik plaziert Hegel die räumlich ausgestalteten bildenden Künste hinter den sich durch geistige Subjektivität auszeich-

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Johann Joachim Winckelmann: Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst. In: Gottfried Boehm/Norbert Miller (Hrsg.): Bibliothek der Kunstliteratur. Bd. 2: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hrsg. von Markus Bernauer, Norbert Miller und Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Franke. Frankfurt a. M. 1995, S. 11–50, hier S. 30. Johann Joachim Winckelmann: Laokoon-Beschreibungen. In: Gottfried Boehm/Norbert Miller (Hrsg.): Bibliothek der Kunstliteratur. Bd. 2: Frühklassizismus. Position und Opposition: Winckelmann, Mengs, Heinse. Hrsg. von Markus Bernauer, Norbert Miller und Helmut Pfotenhauer unter Mitarbeit von Thomas Franke. Frankfurt a. M. 1995, S. 186–191, hier S. 186. Lessing (Anm. 37), S. 29. Lessing (Anm. 37), S. 59. Ott (Anm. 14), S. 61. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik II. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 14. Frankfurt a. M. 1999, S. 256.

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nenden Zeitkünsten. Die unterste Position in der Hierarchie belegt die Architektur, da ihre Grundsubstanz, „die schwere und nur nach den Gesetzen der Schwere gestaltbare Materie“, das „an sich selbst Ungeistige“ sei.46 Es folgt die Skulptur – sie habe die „geistige Individualität als das klassische Ideal“ zum Prinzip.47 Als nächstes zum Zug kommt die Malerei, welche „die äußere Gestalt selber ganz zum Ausdruck des Innern herüberwendet“.48 Sie ziehe die „Dreiheit der Raumdimensionen in die Fläche als die nächste Innerlichkeit des Äußeren zusammen“.49 Die zweithöchste Stufe erreicht die Musik, ihr „eigentliches Element ist das Innere als solches, die für sich gestaltlose Empfindung, welche sich […] durch die in ihrer Äußerung schnell verschwindende und sich selber aufhebende Äußerlichkeit kundzugeben vermag“.50 Den Spitzenplatz hat die Poesie inne. Sie sei die „absolute, wahrhafte Kunst des Geistes und seiner Äußerung als Geist“, dem Inhalt nach handele es sich um die „reichste, unbeschränkteste Kunst“.51 Ernst Cassirer verortet Zeit und Raum in seinem Vortrag „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“ (1931) ebenfalls im Kontext des Geistes, indem er beide als „Grundpfeiler“ des „architektonischen Baues der Erkenntnis“ bezeichnet.52 Die Prämisse ist dabei: Der Ordnungsbegriff rangiert vor dem Seinsbegriff,53 was eine „Nachträglichkeit von ‚Welt‘ gegenüber jeder ihr vorgängigen Zeichenordnung“54 bedeutet. Zeit und Raum sind bei Cassirer – als Wegbereiter nennt er Leibniz – Relationen, keine Dinge.55 Folglich wird die Welt weder als „ein Ganzes von Körpern ‚im‘ Raume noch als ein Geschehen ‚in‘ der Zeit“ definiert‚ sondern als „System von Ereignissen“.56 Es gebe, so Cassirer weiter, keine „allgemeine, schlechthin feststehende Raumanschauung“; der Raum empfange „seinen bestimmten Gehalt und seine eigentümliche Fügung erst von der Sinnordnung“, und je nachdem, ob er „als mythische, als ästheti-

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Hegel (Anm. 45), S. 259. Hegel (Anm. 45), S. 259. Hegel (Anm. 45), S. 259. Hegel (Anm. 45), S. 260. Hegel (Anm. 45), S. 261. Hegel (Anm. 45), S. 261. Ernst Cassirer: „Mythischer, ästhetischer und theoretischer Raum“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hamburger Ausgabe. Hrsg. von Birgit Recki, Bd. 17: Aufsätze und kleinere Schriften (1927–1931). Hamburg 2004, S. 411–432, hier S. 411. Vgl. Cassirer (Anm. 52), S. 413. Roger Lüdeke: „Einleitung“. In: Jörg Dünne/Stephan Günzel (Hrsg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2006, S. 449–466, hier S. 450. Vgl. Cassirer (Anm. 52), S. 415. Cassirer (Anm. 52), S. 415.

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sche oder als theoretische Ordnung gedacht wird, wandelt sich auch die ‚Form‘ des Raumes“.57 Von Interesse ist hier nur der ästhetische Raum. Er sei anschaulich, jedoch nicht rein mimetisch: „Denn jetzt sehen wir uns mit einem Schlage […] in die Sphäre der reinen Darstellung versetzt. Und alle echte Darstellung ist keineswegs ein bloßes passives Nachbilden der Welt; sondern sie ist ein neues Verhältnis, in das sich der Mensch zur Welt setzt“.58 In Abgrenzung zu Lessing, der aus den „spezifischen Zeichen“ der Künste den „Inbegriff der möglichen Gegenstände der dichterischen und der malerischen Darstellung entwickelt“, ist Cassirer der Auffassung, dass die „Unterschiede der reinen Darstellungsweise […] niemals vom bloßen Material der Darstellung aus vollständig erfaßt und durchdrungen werden“ können.59 Die zeitliche Gestaltung der Dichtkunst unterteilt Cassirer in drei Rubriken: Das Epos stehe im Zeichen des Gedächtnisses und hülle alles „in den Schleier der Vergangenheit“; das lyrische Gedicht sei der Gegenwart des Gefühls verpflichtet, aus der „die Präsenz der Anschauung“ hervorgehe; im Drama entstehe eine auf die Zukunft hin perspektivierte Spannung, die „das Künftige vorwegnimmt und zum Künftigen vorausdrängt“.60 In jeder Kunst, so Cassirers resümierende Überlegung, werde ein eigener „Sinn der Darstellung lebendig“,61 aus dem die Form der Raum- und Zeitanschauung hervorgehe. In Michail Bachtins 1937/38 verfasster Untersuchung Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman (1975) beschreibt der dem Physiologen Aleksej A. Uchtomskij entlehnte Begriff ‚Chronotopos‘ wechselseitige RaumZeit-Verhältnisse in epischen Texten von der Antike bis ins 19. Jahrhundert.62 Im Gegensatz zu Lessing, dessen Literaturbegriff sich um Handlungen in der Zeit dreht, denkt Bachtin ein literarisches Geschehen sowohl von seiner zeitlichen Entwicklung als auch von seiner räumlichen Ausdehnung her. Der Chronotopos sei nämlich eine „Form-InhaltKategorie der Literatur“, in ihm „verschmelzen räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar; der Raum gewinnt Intensität, er wird in die Bewegung der Zeit,

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Cassirer (Anm. 52), S. 419. Cassirer (Anm. 52), S. 422. Cassirer (Anm. 52), S. 423 f. Cassirer (Anm. 52), S. 425. Cassirer (Anm. 52), S. 426. Bei den Ausführungen zu Bachtin vgl. Sasse (Anm. 13), S. 300.

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des Sujets, der Geschichte hineingezogen“.63 Mithilfe des Chronotopos gelingt es Bachtin, Spezifika einiger Romantypen herauszuarbeiten, etwa des griechischen Romans und des Ritterromans. Insgesamt bestimme der Chronotopos „die künstlerische Einheit des literarischen Werkes in dessen Verhältnis zur realen Wirklichkeit“.64 Gängige Chronotopos-Typen seien etwa der Weg, auf dem sich „in einem einzigen zeitlichen und räumlichen Punkt die zeitlichen und räumlichen Wege der verschiedenartigsten Menschen“65 überschneiden; das „mit der Zeit der historischen Vergangenheit“66 angefüllte Schloss; der Empfangssalon, wo sich „die anschaulich sichtbaren Merkmale der historischen wie auch der biographischen und alltäglichen Zeit“67 verdichten; das von einer „zyklischen Alltagszeit“,68 in der sich fortwährend die gleichen Begebenheiten wiederholen, bestimmte Provinzstädtchen; oder die häufig auf metaphorisch-symbolische Weise mit den Chronotopoi der Krise und des Wendepunkts verbundene Schwelle, deren Zeit nur ein Augenblick ist, „dem gleichsam keine Dauer eignet und der aus dem normalen Fluß der biographischen Zeit herausfällt“.69 Im Chronotopos könne auch die Umkehrung gängiger Denkmuster aufgehoben sein. So vollziehe sich im karnevalistischen Roman Rabelais’ eine Inversion feudal-kirchlicher Weltanschauungen. Die Anschauung eines literarischen Texts wiederum tangiert Bachtin, wenn er sich auf Cassirers Philosophie der symbolischen Formen bezieht und betont, dass auch die „innere Form des Wortes“70 chronotopisch sei. Wenn die Sprache chronotopisch ist, liegt der Schluss nahe, dass ein Roman sowohl Chronotopoi darstellen, als auch selbst zum Chronotopos werden kann. 2. Adalbert Stifters Ein Gang durch die Katakomben Im Folgenden geht es um das Verhältnis von Zeit und Raum in Adalbert Stifters Bericht Ein Gang durch die Katakomben.71 Es geht nicht darum zu

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Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008, S. 7. Bachtin (Anm. 63), S. 180. Bachtin (Anm. 63), S. 180. Bachtin (Anm. 63), S. 183. Bachtin (Anm. 63), S. 184. Bachtin (Anm. 63), S. 185. Bachtin (Anm. 63), S. 186. Bachtin (Anm. 63), S. 188. Adalbert Stifter: Ein Gang durch die Katakomben. In: Ders.: Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe. Hrsg. von Alfred Doppler und Hartmut Laufhütte, Bd. 9.1: Wien und die

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erörtern, ob der Text etwas taugt oder ob er zu Recht eine Existenz fernab des literarischen Kanons fristet. Es geht auch nicht darum, von den Befunden der Einzelanalyse auf eine allgemeine poetische Praxis Stifters zu schließen. Schon gar nicht geht es darum zu klären, ob Stifter ein guter oder ein schlechter Schriftsteller war. Diese Anmerkungen sind dem Umstand geschuldet, dass Literaturwissenschaftler und Literaten in Bezug auf Stifter gerne pauschal, zuweilen auch polemisch werden. Das Rezeptionsspektrum seiner Texte reicht von unverstellter Hochschätzung über süffisante Ironie bis zu mokanter Herablassung. Der Lexikograf Constant von Wurzbach lässt an der Positionierung der Literaturkritik zu Stifter im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts keinen Zweifel: „Vor uns liegt eine ganze Mappe voll Urtheile deutscher Kritiker aller Kategorien, und wir greifen nur einige heraus, welche zusammen ein Gesammtbild der geistigen Reize in Stifter’s Werken geben; jeder den Dichter von einer anderen Seite beurtheilend, aber alle in der Einstimmigkeit über seine dichterische Besonderheit und seinen Genius zusammentreffend“.72 Auch hundert Jahre später wird Stifter noch als Ausnahmeerscheinung bewundert. Emil Staiger macht ihn mit neoidealistischer Schlagseite zum „Dichter der Ehrfurcht“,73 Friedrich Sengle sieht seinen Platz „unter dem Dutzend großer deutschsprachiger Erzähler zwischen Wieland und Thomas Mann“.74 Sogar die dem Stifterschen Werk notorisch nachgesagte Langeweile wird von der Forschung längst als eindrucksvolles Problem ernst genommen.75 Unter den Spöttern hat sich Friedrich Hebbel besonders hervorgetan. Berühmtheit erlangte sein Bonmot, er verspreche demjenigen, der es aushalte, den Nachsommer vollständig zu lesen, die Krone Polens.76 „Was wird hier nicht alles weitläufig betrachtet und geschildert“, beschwert sich Hebbel, „es fehlt nur noch die Betrachtung der Wörter, womit man schildert, und die Schilderung der Hand, womit man diese Betrachtung nieder-

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Wiener, in Bildern aus dem Leben. Hrsg. von Johann Lachinger. Stuttgart 2005, S. 49–62. Nachweise künftig mit bloßer Seitenangabe unmittelbar im Text. Constant von Wurzbach: Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich. Bd. 39: Stifft–Streel. Wien 1879, S. 32. Emil Staiger: Adalbert Stifter als Dichter der Ehrfurcht. Heidelberg 1967. Friedrich Sengle: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution. 1815–1848. Bd. 3: Die Dichter. Stuttgart 1980, S. 952. Vgl. z. B. Peter Küpper: „Literatur und Langeweile. Zur Lektüre Stifters“. In: Lothar Stiehm (Hrsg.): Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Gedenkschrift zum 100. Todestage. Heidelberg 1968, S. 171–188; Rudolf Wildbolz: Adalbert Stifter. Langeweile und Faszination. Stuttgart/Berlin/Köln/Mainz 1976. Vgl. Friedrich Hebbel: Der Nachsommer. Eine Erzählung von Adalbert Stifter. 3 Bände. Pesth, Heckenast. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Bd. 3: Gedichte, Erzählungen, Schriften. München 1965, S. 682 f., hier S. 682.

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schreibt, so ist der Kreis vollendet“.77 Laut Hebbel glückten dem „überschätzte[n] Diminutiv-Talent“78 Stifter die Käfer und Butterblumen auf so außerordentliche Weise, weil er „die Menschen nicht kennt“.79 Alfred Biese sieht das genauso: „Den wilden Stürmen in Menschenherzen geht Stifter stets scheu aus dem Wege. […] Aber die Charaktere und die Menschen sind überhaupt seine Stärke nicht; sein eigentlicher Held ist immer wieder die Landschaft“.80 Auch in fiktionalen Texten wird mit Stifter abgerechnet. Das wohl berühmteste Beispiel hierfür ist Thomas Bernhards Alte Meister. Dort gibt die Figur Reger unter anderem Folgendes zum besten: „Stifter ist auf den längsten Strecken seiner Prosa ein unerträglicher Schwätzer, er hat einen stümperhaften und, was das Verwerflichste ist, schlampigen Stil und er ist tatsächlich außerdem auch noch der langweiligste und verlogenste Autor, den es in der deutschen Literatur gibt.“81 Stifters Prosa, so Reger weiter, sei von einer „kleinbürgerlichen Sentimentalität und kleinbürgerlichen Unbeholfenheit […]. Stifter ist kein Genie, Stifter ist ein verkrampft lebender Philister und ein ebenso verkrampft schreibender muffiger Kleinbürger als Schulmann“.82 Regers Bilanz lässt keine Fragen offen: „Ein tatsächlich denkender Mensch kann Stifter nicht lesen“.83 Kurzum: Von seinen Gegnern wird Stifter als provinzieller Dorfpoet apostrophiert, dessen einschläfernd-formlose Naturburschenprosa allem entbehrt, was riskant, spannungsgeladen und intellektuell weitreichend wäre. Ausschlaggebend für diesen Konsens sind wiederholt Aspekte der Zeit und des Raums. Die Langeweile – also das Missbehagen über eine als ereignislos, leer und gedehnt empfundene Zeit – gehöre zur Grundausstattung Stifterscher Texte; Natur und Landschaft wiederum bildeten nicht nur den Raum, in dem sich das Gros seiner Geschichten abspiele, sondern auch den Nährboden der Langeweile. Für Stifters Bericht Ein Gang durch die Katakomben gilt das nicht. Von Käfern, Butterblumen oder lieblichen Landschaften ist im Text keine

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Hebbel (Anm. 76), S. 682 f. Friedrich Hebbel: Das Komma im Frack. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Bd. 3: Gedichte, Erzählungen, Schriften. München 1965, S. 684–687, hier S. 687. Friedrich Hebbel: Die alten Naturdichter und die neuen (Brockes und Geßner, Stifter, Kompert usw.). In: Ders.: Werke. Hrsg. von Gerhard Fricke, Werner Keller und Karl Pörnbacher, Bd. 3: Gedichte, Erzählungen, Schriften. München 1965, S. 122. Alfred Biese: Deutsche Literaturgeschichte. Bd. 3: Von Hebbel bis zur Gegenwart. München 1911, S. 102. Thomas Bernhard: Alte Meister. In: Ders.: Werke. Hrsg. von Martin Huber und Wendelin Schmidt-Dengler. Bd. 8. Frankfurt a. M. 2008, S. 47. Bernhard (Anm. 81), S. 48. Bernhard (Anm. 81), S. 50.

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Rede. Ebenso wenig zeichnet er sich durch eine in Langeweile mündende Ereignislosigkeit aus. Vielmehr schildert ein Ich-Erzähler seine wechselnden Eindrücke beim Marsch durch die Wiener Unterwelt. Er ist Teil einer kleinen Gruppe, die von einem Freund und zwei Führern gelotst wird. Zu Beginn übt sich der Erzähler in kultur- und zeitkritischen Betrachtungen, danach lässt er sich über städtebauliche Manöver aus, die zur Verkleinerung des ehemaligen Wiener Stephansfriedhofs führten. Schließlich folgt der Abstieg in das Labyrinth aus Gräbern unterhalb des Doms. Allerdings ist der Text achronologisch organisiert: Schnell erfahren wir, dass der Erzähler seine einleitenden Beobachtungen und Überlegungen erst nach dem Besuch in den Katakomben anstellt.84 Insofern bildet der Spaziergang eigentlich den Ausgangspunkt des Geschehens. Bei alldem spielen Zeit und Raum eine elementare Rolle. Um in die Katakomben zu gelangen, durchschreiten die Figuren den Raum zunächst senkrecht; sobald sie angekommen sind, geht es parallel zur vertrauten Oberwelt waagerecht weiter. Die Relevanz dieser Bewegungen wird bereits durch das Wort „Gang“ im Titel des Texts markiert – „Bewegung“ ist diejenige Kategorie, „die Raum und Zeit gleichermaßen konstituiert. Am Unbewegten können wir weder Raum noch Zeit begreifen, ja, nicht einmal sagen, daß es ist“.85 Nun könnte man annehmen, Stifter belasse es bei der konventionellen Darstellung eines alten Sujets, denn die kulturgeschichtlichen Anfänge des Chronotops einer verborgenen Unterwelt finden sich bereits in den europäischen und orientalischen Mythologien.86 Von dort aus hat sich das Motiv durch alle Zeiten bis in die Moderne erhalten – man denke an Platons „Höhlengleichnis“, Dantes Divina Commedia oder Novalis’ Heinrich von Ofterdingen. Der literaturwissenschaftliche Blick auf die Unterwelt zeigt, dass dem Abstieg in die Tiefe „in vielen Fällen eine temporale Bewegung“ entspricht, bei der sich die „Vergangenheit als unterirdisch sedimentierte, doch durchlässige Realität aktualisiert“.87 Dies gilt auch für Stifters Bericht. Aber er geht noch weiter. Im Gang durch die Katakomben, so die These der folgenden Ausführungen, sind unterschiedliche Zeitkonzepte an unterschiedliche Räume gebunden. Das Organisationsprinzip der Räume ist ein vertikales, oben die

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Zum Aufbau und zur temporalen Organisation von Stifters Gang durch die Katakomben vgl. Claudia Albes: „Wege ins Totenreich. Stifters ‚Gang durch die Katakomben‘“. In: Axel Gellhaus/Christian Moser/Helmut J. Schneider (Hrsg.): Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 233–250. Böhme (Anm. 11), S. XIV. Vgl. Sabine Haupt: „‚Kryptopische‘ Zeit-Räume. Unterirdische und außerirdische Topographien als Reservate von Temporalität“. In: Hartmut Böhme (Hrsg.): Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext. Stuttgart/Weimar 2005, S. 501–535, hier S. 506. Haupt (Anm. 86), S. 507.

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vertraute Stadt, darunter die heterotopen Katakomben. Die verschiedenen Zeiten offenbaren sich, erstens, auf einer poetischen Ebene, da realistisches und romantisches Erzählen kontrastiert werden. So sind jene diagnostischen Überlegungen, mit denen der Erzähler die Oberwelt erfasst, im realistischen Modus gehalten. Im Gegensatz dazu steht der archäologische Blick auf die mit Gebeinen angefüllte Unterwelt im Zeichen eines romantischen Stils. Zweitens wird die Zeit der Unterwelt auf einer strukturellen Ebene verhandelt. Neben drei Zeitformen – linear, zyklisch, simultan – wird Zeit durch die Materialität der Skelette und das Wesen des Erzählers konkret: erstere sind ein Zeugnis abgelaufener Zeit, Letzterer ist nach seinem Aufenthalt in den Katakomben nicht mehr derselbe. Außerdem bedingt die Textstruktur zwei temporal unterschiedliche Lektüren – eine lineare und eine zyklische. Die Gliederung folgt den Thesen: Zunächst soll gezeigt werden, dass die Katakomben ein heterotoper Raum sind. Anschließend wird illustriert, dass die Darstellung der Oberwelt im realistischen, die Darstellung der Unterwelt im romantischen Stil erfolgt. Der dritte Schritt widmet sich den narrativen Verfahren der verschiedenen Zeitmanifestationen in den Katakomben. Viertens wird besprochen, inwiefern die Lektüre des Texts linear und zyklisch zugleich verläuft. 2.1 Die Unterwelt als Heterotopie Laut Michel Foucault sind Heterotopien „Orte, die außerhalb aller Orte liegen, obwohl sie sich durchaus lokalisieren lassen“.88 Ihre Andersartigkeit schaffe einen „mythischen und realen Gegensatz zu dem Raum, in dem wir leben“.89 Als Beispiel für eine Heterotopie nennt Foucault den Friedhof. Er sei ein „anderer Ort als die üblichen kulturellen Räume, und dennoch steht er mit allen Orten der Stadt, der Gesellschaft oder des Dorfes in Verbindung, denn jeder Einzelne, jede Familie hat Eltern auf dem Friedhof liegen“.90 Foucault führt aus, dass man „zu einer Zeit, als die Menschen wirklich noch an die Auferstehung der Toten und die Unsterblichkeit der Seele glaubten, den sterblichen Überresten keine besondere Bedeutung beimaß“; sobald aber die Frage nach der Auferstehung prekär wurde, erlangten die sterblichen Überreste als „einzige Spur unse-

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Michel Foucault: „Von anderen Räumen“. In: Ders.: Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits. Aus dem Französischen von Michael Bischoff u. a. Hrsg. von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange, Bd. 4: 1980–1988. Frankfurt a. M. 2005, S. 931–942, hier S. 935. Foucault (Anm. 88), S. 936. Foucault (Anm. 88), S. 937.

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res Daseins in der Welt“ Bedeutsamkeit.91 Aus diesem Grund hatte ab dem 19. Jahrhundert jeder Mensch das Anrecht auf einen Sarg. Zugleich wurden die Friedhöfe an den Stadtrand verlegt, weil sich die Annahme verbreitete, die Nähe der Verstorbenen gefährde die Lebenden. Individualisierung wie Pathologisierung des Todes lagen mithin nah beieinander, die „Friedhöfe sind nun nicht mehr der heilige und unsterbliche Geist der Stadt, sondern die ‚andere Stadt‘, in der jede Familie ihre dunkle Bleibe besitzt.“92 Im Gang durch die Katakomben wird die Heterotopie des Friedhofs bereits in den Eingangsreflexionen des Erzählers heraufbeschworen. Dem zeitgenössischen Betrachter, so seine Diagnose, erscheine der Stephansplatz als geordneter Raum, in dessen Zentrum der Dom throne. Doch das sei nicht immer so gewesen, denn „bei ihrem Entstehen lag die Kirche sogar außerhalb der Stadt“ (51) – inmitten des Friedhofs. So gesehen stieg der Dom einst gewissermaßen aus den „Monumenten des Todes“ (ebd.) empor. Seine Aufnahme ins städtische Areal hat das grundlegend verändert, denn der Stephansfriedhof sei nun ein weitläufiger Platz „mit schönen Häusern und Waarenauslagen“ (ebd.).93 Verschwunden ist der Friedhof jedoch keineswegs, man erreicht ihn nur nicht mehr, indem man sich horizontal auf die Stadtgrenze zubewegt, sondern, indem man die vertikale Grenze zwischen Ober- und Unterwelt überschreitet. Mit dieser Verschiebung gerät die vom Erzähler ersehnte Glaubenvergewisserung ins Wanken: „[W]ie wäre es religiös feierlich, wenn jede Kirche, selbst in den Städten, mit einem großen Garten der Todten umgeben wäre, der durch eine Mauer von der leichten Lust der Lebenden getrennt wäre, daß sie ein Gedanke der Ewigkeit anwandeln müßte, wenn sie durch das Gitter einträten“ (ebd.). Die andere, „unterirdische Todtenstadt“ (52) bietet, das hat sie mit dem Stephansplatz gemein, gerade nicht gemessene Religiosität und erhebenden Trost, dafür aber eine Welt semiotischer Leere – alle symbolischen „Zeichen des Todes“94 fehlen. Es finden sich weder Grabsteine noch Kreuze oder Denkmäler, die Toten liegen „starr, über einander geschichtet, eine werthlose, schauererregende Masse“ (54). Ein Verblichener ist in den Katakomben demnach vor allem eines: anonym. Meistens „weiß man gar nichts mehr aus der

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Foucault (Anm. 88), S. 937 f. Foucault (Anm. 88), S. 938. Zum Verhältnis von Altem und Neuem sowie Religiosität und Säkularisierung im Gang durch die Katakomben vgl. Kai Kauffmann: „Es ist nur ein Wien!“ Stadtbeschreibungen von Wien 1700 bis 1873. Geschichte eines literarischen Genres der Wiener Publizistik. Wien/Köln/Weimar 1994, S. 403–410. Monika Ehlers: Grenzwahrnehmungen. Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe. Bielefeld 2007, S. 151.

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Zeit seines Lebens, und es ist da Keiner mehr, um zu sagen: er war unser Ahnherr“ (52). Es herrscht hier Präsenz, nicht Repräsentation, das „genealogische Band zwischen Lebenden und Toten, das sich in der Übertragung von Familienwappen und Namen konstituiert“,95 ist gekappt. An seine Stelle rückt das existentialistisch-kreatürliche Band, denn während man auf einem oberirdischen Friedhof vor dem Grab steht und dessen Zeichen betrachtet, verweilt der Besucher der Katakomben im Grab selbst und schaut auf die Toten. So löst der Verlust des genealogischen Bandes den intimen Bezug zwischen Toten und Lebenden auf, macht die Skelette zu einem ortlosen Heer an einem Ort, der seinerseits, obschon lokalisierbar, „außerhalb aller Orte“ liegt. Die Ortlosigkeit weckt Empfindungen, die in Goethes Wahlverwandtschaften von Charlotte vorgebracht werden. „Das reine Gefühl einer endlichen allgemeinen Gleichheit, wenigstens nach dem Tode“, so räsoniert sie, „scheint mir beruhigender als dieses eigensinnige starre Fortsetzen unserer Persönlichkeiten, Anhänglichkeiten und Lebensverhältnisse“.96 Im Anschluss kommt es zu einer Diskussion um unterschiedliche Formen „kultureller Zeichenpraxis“, wobei zwischen dem „Gedächtnis der Orte“ und dem „Gedächtnis der Monumente“ unterschieden wird.97 Im ersten Fall ist die „Präsenz des Toten“ verbürgt; im zweiten Fall richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Monument als „repräsentierendes Symbol“, welches Abwesendes im Zeichen substituiert und deswegen ohne sterbliche Überreste auskommt.98 Bei Stifter findet sich eine dritte Form des Gedenkens – das Gedächtnis der Toten. Will sagen: Die Sichtung unbekannter Leichname (nicht das Wissen um deren Anwesenheit, auch kein Zeichen oder Monument) schürt den Grübelimpuls des Erzählers. Da die Skelette keine Individualitätsmarker besitzen, denkt der Erzähler den Tod kollektiv, sieht er sich mit dem Schicksal aller Menschen konfrontiert, kommt er zu einem ähnlichen Fazit wie Charlotte: „Welchen Unterschied auch die Menschen im Leben machen, wie nichtigem Flitter sie auch Werth geben, ja wie sehr sie sich auch bemühen, diesen Unterschied bis über das Grab fortzupflanzen: der Tod macht alles gleich, und vor ihm sinkt lächerlich nieder, was wir uns hienieden bemühen, wichtig zu finden“ (55).

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Ehlers (Anm. 94), S. 151 f. Johann Wolfgang Goethe: Die Wahlverwandschaften. In: Ders.: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche. Hrsg. von Friedmar Apel u. a., Bd. 1.8: Die Leiden des jungen Werthers. Die Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen. Hrsg. von Waltraud Wiethölter unter Mitarbeit von Christoph Brecht. Frankfurt a. M. 1994, S. 269–529, hier S. 397. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2006, S. 326. Assmann (Anm. 97), S. 325.

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Für Heterotopien gilt schließlich, dass sie neben dem Raum auch das Zeit-Kontinuum determinieren, denn eine Heterotopie beginnt laut Foucault „erst dann voll zu funktionieren, wenn die Menschen einen absoluten Bruch mit der traditionellen Zeit vollzogen haben“.99 Wie sehr dies auch für die Katakomben gilt, soll nun zunächst anhand der Poetik des Texts und sodann mit Blick auf seine Struktur gezeigt werden. 2.2 Erzählte Zeiten I – Poetik Ein Gang durch die Katakomben ist 1844 in der von Stifter seit 1841 redaktionell verantworteten Anthologie Wien und die Wiener erschienen. Literaturgeschichtlich fällt der Text mithin in einen nicht mehr romantischen und noch nicht realistischen Zeitraum. Dieser Zwischenstellung entspricht seine sprachliche Gestaltung, denn die Oberwelt wird weitestgehend im Stil des Realismus, die Unterwelt größtenteils im Stil der Romantik beschrieben. Mit „Stil“ ist nicht ein sich in der Form erschöpfender Präsentationsmodus gemeint. Vielmehr schließt die Stilkategorie bereits „Denk- und Sichtweisen“ ein: „Im Stil einer Darstellung artikuliert sich das Dargestellte als etwas, das – noch bevor es auf eine bestimmte Weise gezeigt wird – auf eine bestimmte Weise wahrgenommen wurde. Die Darstellung entsteht aus solchen Perspektivierungsleistungen und Grundeinstellungen des Wahrnehmens und Auffassens“.100 Ein eigener Stil bringt immer Haltungen und Vorstellungen zum Ausdruck.101 Will man bei einem literarischen Text das stilistisch Konfigurierte und die stilistische Konfiguration selbst als Epochenspezifika beschreiben, steckt man bald in Kalamitäten. Der Singular „Realismus“ etwa genießt inzwischen einen ramponierten Ruf. Realistische Texte unterscheiden sich je nach Entstehungszeit und Entstehungsort auf so distinktive Weise, dass man gut daran täte, das Label „Europäischer Realismus“ zugunsten von „Europäische Realismen“102 aufzugeben. Zudem erfüllt kein Werk des Realismus alle (oder auch nur die allermeisten) Kriterien, die von Autoren und Philologen irgendwann aus irgendwelchen Gründen als typisch realistisch definiert wurden. Vergleichbares gilt für die Romantik. Um die

____________ 99 Foucault (Anm. 88), S. 939. 100 Eva Schürmann: „Stil als Artikulation einer Haltung“. In: Stefan Deines/Jasper Liptow/ Martin Seel (Hrsg.): Kunst und Erfahrung. Beiträge zu einer philosophischen Kontroverse. Berlin 2013, S. 296–315, hier S. 296. 101 Vgl. Schürmann (Anm. 100), S. 297. 102 Vgl. Uwe Dethloff (Hrsg.): Europäische Realismen. Facetten – Konvergenzen – Differenzen. Diversités des réalismes européens: convergences et différences. Internationales Symposium der Fachrichtung Romanistik an der Universität des Saarlandes, 21.–23. Oktober 1999. St. Ingbert 2001.

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nachstehende Argumentation überschaubar zu halten, werden darum allein die wesentlichsten Charakteristika der realistischen und romantischen Epoche einbezogen. Der Realismus, wie er sich von der Mitte des 19. Jahrhunderts an ausprägt, verabschiedet offenkundig durchästhetisierte wie phantastische Schilderungen und bringt stattdessen eine unbedingt plausible, zuweilen prosaische, im Extremfall vermeintlich entpoetisierte Alltagswelt auf spezielle Weise zur Erscheinung. Speziell deshalb, weil das eigentliche Ziel des Realisten darin besteht, die erzählte Welt so zu strukturieren und zu präsentieren, dass sich eine der Realität unterstellte, aber stets verborgene Ordnung abzeichnet.103 An die Stelle des Kontingenten und Überraschenden tritt das den Prinzipien der Vernunft gehorchende Wahrscheinliche und Kohärente. Fast all diese Aspekte werden bei der Beschreibung der Oberwelt im Gang durch die Katakomben berücksichtigt. Nur von rigoroser Entpoetisierung kann keine Rede sein, hält sich der Erzähler bei seinen Ausführungen doch viel zu sehr ans Aristotelische Mimesis-Konzept, also an jenen Imperativ, den man einerseits das „Realitätsprinzip der Dichtung“104 nennen kann, und der andererseits der Poiesis verpflichtet bleibt.105 Dies zeigt sich beispielhaft am quasi-dokumentarischen Beschreibungsstil der Architektur auf dem Stephansplatz: „Es ist in neuester Zeit, gegenüber von der Rückseite der Kirche, ein sehr großes Haus aufgeführt worden, und als es bereits prachtvoll und wohnlich mit mehr als hundert Fenstern glänzte, als zu ebener Erde schon die grünen Flügelthüren der Verkaufsgewölbe hoch und elegant eingehängt waren, und längs derselben ein breites flaches Trottoir hinlief, so ging man auch daran, den Platz vor dem Hause bis zur Kirche zu ebnen, und das bisherige schlechte Pflaster zu verbessern“ (52). Solche akribischen, Authentizitätseffekte evozierenden Darlegungen werden ergänzt durch geschichtsphilosophisches Nachsinnen, das in Zeitkritik mündet. Kein Wunder, denn die mimetische Beschreibung gilt dann als ideal, wenn sie nicht allein Vorhandenes, sondern auch Mögliches vergegenwärtigt, ihr Anspruch ist ein allgemeiner.106 Mit dem implizierten Erkenntnisgewinn „legitimiert sich Mimesis vor dem naheliegenden Vorwurf, zwecklose oder heuchlerische Verdoppelungen (Hegel) anzustre-

____________ 103 Vgl. Sabina Becker: Bürgerlicher Realismus. Literatur und Kultur im bürgerlichen Zeitalter 1848– 1900. Tübingen/Basel 2003, S. 115 f. 104 Wolfgang Riedel: „Mimesis“. In: Walther Killy (Hrsg.): Literatur Lexikon. Bd. 14: Begriffe, Realien, Methoden. Hrsg. von Volker Meid. Gütersloh 1993, S. 91–94, hier S. 92. 105 Vgl. Jürgen H. Petersen: Mimesis – Imitatio – Nachahmung. Eine Geschichte der europäischen Poetik. München 2000, S. 37–52. 106 Vgl. Petersen (Anm. 105), S. 43.

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ben“.107 Schon Aristoteles koppelt die Darstellung der Wirklichkeit an einen Zuwachs von Einsicht, mit dem man sich eines „beruhigenden Sinnzusammenhangs vergewissern möchte, der in der alltäglichen Wahrnehmung offenkundig nicht mehr ohne weiteres fassbar ist“.108 Bei Stifter kommt das folgendermaßen zur Sprache: „Die Wissenschaft, die Industrie, in gewissen Zweigen auch die Kunst (aber weniger) haben erstaunliche Fortschritte gemacht – aber das Gute, ich meine das Menschlich-Gute, was diese Dinge brachten, wie Vielen wurde es zu Theil?“ (49). Der Erzähler begreift die Geschichte von Wissenschaft und Kultur als Entwicklung („erstaunliche Fortschritte“) und gelangt zur Einsicht, dass das Gute (was auch immer man darunter genau zu verstehen hat) auf der Strecke geblieben ist. Er verrichtet also eine realismustypische Sortierung, welche die, „wenn auch auf den ersten Blick nicht erkennbare, ‚Ordnung‘ der Welt entbergen soll“.109 Seine pessimistischen Einwürfe verblüffen nur, solange man eine unauflösbare Verflechtung zwischen Realismus und Optimismus unterstellt. Begreift man die Epoche dagegen als „dynamisches Verlaufsprinzip“, das ins „Gegenteil von dem umschlagen kann, wovon es ausging“, dann gehören „Desillusionierung und Verweigerung“ durchaus dazu.110 So wird denn auch der Erzähler zum Fundamentalkritiker einer dekadenten Kultur der Zweckmäßigkeit: In der Glätte und Verflachung unserer Zeit ging alle tiefe Gemüthskraft und Glaubenstreue unserer Vorältern unter, was sie auch immer unter uns stellen mag an Wissen und Erfahrung: fromme Kraft stellt sie weit über uns, und diese war Allen gemein, sie war Geist der Zeit; denn nur der bringt das Bleibende hervor, was er durch Individuen zwar wirkt, aber er erzeugt selbst die Individuen. Darum baute dieser Sinn einst jene rührend erhabenen Kathedralen, und malte jene Bilder, die wir heute blos bewundern können, aber trotz aller Trefflichkeit unsrer technischen Mittel nicht mehr nachmachen, indeß unser Zeitgeist auf das sogenannte Praktische geht, worunter sie meistens nur das materiell-nützliche, oft sogar nur das sinnlich-wollüstige verstehen; daher wir Eisenbahnen und Fabriken bauen, während sie Dome und Altäre, und wenn es ja heutzutage eine Kirche werden soll, so wird sie wieder sehr nützlich gebaut, oder sie sähe, wie ich es leider in meinem Vaterlande schon erfahren, wenn sie keinen Thurm hätte, einem Zinshause ähnlich. (50)

Mit diesem Tadel verabschiedet der Erzähler das Leitbild einer präpotenten Aufklärung. Dass er von frommer Kraft spricht, das künstlerisch Inkommensurable lobt und an die ästhetische Kategorie des Erhabenen

____________ 107 Hugo Aust: Realismus. Stuttgart/Weimar 2006, S. 53. 108 Ulrich Kittstein/Stefani Kugler: „Einleitung“. In: Dies. (Hrsg.): Poetische Ordnungen. Zur Erzählprosa des deutschen Realismus. Würzburg 2007, S. 7–15, hier S. 9. 109 Gerhard Plumpe: Epochen moderner Literatur. Ein systemtheoretischer Entwurf. Opladen 1995, S. 128. 110 Aust (Anm. 107), S. 29.

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gemahnt, macht ihn eher zum Phantasie- als zum Vernunftsubjekt. Sein in salbungsvollem Ton vorgebrachtes Lamento über einen restlos aufgeklärten Zeitgeist wird gut vierzig Jahre später von Friedrich Nietzsche unverhohlener aufs Tapet gebracht: „Ihr nüchternen Menschen, die ihr euch gegen Leidenschaft und Phantasterei gewappnet fühlt und gerne einen Stolz und einen Zierath aus eurer Leere machen möchtet, ihr nennt euch Realisten und deutet an, so wie euch die Welt erscheine, so sei sie wirklich beschaffen […]! Da jener Berg! Da jene Wolke! Was ist denn daran ‚wirklich‘? Zieht einmal das Phantasma und die ganze menschliche Zuthat davon ab, ihr Nüchternen! Ja, wenn ihr das könntet!“111 Nietzsche geht es darum, dass die Wirklichkeit unverfügbar ist, weil immer schon Aspekte wie Milieu, Bildung und Kontext die Wahrnehmung beeinflussen, und dass es außerhalb der Imagination nichts Substanzielles zu sehen gibt. Auch der Erzähler macht die Erfahrung einer relativen Wirklichkeit, denn nach der Gruftbegehung hat sich seine Perspektive verschoben, das romantische Katakomben-Erlebnis entlässt ihn „wie im schweren Traume“ (62). Prägnant formuliert: Erst die Überwindung der Sphäre geschichtlichen Sinns ermöglicht hier die Entfaltung der Imagination, erst mit der Abkehr vom realistischen Bereich (Gegenwart/Oberwelt) öffnet sich die Tiefe der Romantik (Vergangenheit/Unterwelt). Der umgekehrte Fall gilt ebenso: Nach dem Aufstieg artikuliert sich der Erzähler in realistischer Manier, welche gleichwohl den Einfluss der Katakomben noch in Spurenelementen aufweist („fromme Kraft“, „jene rührend erhabenen Kathedralen“). Voraussetzung für all dies bildet die Bewegung durch den Raum, die, „wenn nicht durch die Romantik entdeckt, so doch durch sie populär geworden“112 ist. Aber wo genau hält Stifter den Text im Stil der Romantik? Die Diktion des Erzählers gibt Auskunft. Während seiner Tour durch die Totenstadt betont er fünf Mal, wie sehr das Erlebte seine Phantasie affiziert: Meine Phantasie fing bereits zu arbeiten an, sei es durch den Anblick vor mir aufgeschreckt, oder gedrückt durch das Bewußtsein, unter der Erde zu sein. […] Ich brauchte einige Zeit, um mich wieder zu orientieren, wo ich sei, und meine Phantasie wieder an diese unterirdischen Gemächer zu gewöhnen […]. Es war ein seltsamer, gespenstiger Anblick in dieser Halle, und überwältigend für Gefühl und Phantasie. […] Es war ein düster großartiger Anblick, wie wir so dastanden vor dem starren Ruinengewirre und der Lichtblick unserer Fackeln auf dem Gra-

____________ 111 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Bd. 3: Morgenröte. Idyllen aus Messina. Die fröhliche Wissenschaft. München 2008, S. 343–651, hier S. 421. 112 Lothar Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a. M. 1979, S. 391.

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nit der Mauer und auf den alten braunen Sargbrettern glänzte – und wie weiter zurück zwischen den Brettertrümmern heraus Finsterniß glotzte, und sich unsere Phantasie hinter ihr dieselbe Bevölkerung von Todten vorstellen mußte, immer fortgesetzt und immer fortgesetzt – liegend in der eisernen Nacht […]. Unendlich erleichtert stiegen wir wieder empor – seltsam! – Obwohl die Luft unbegreiflich trocken und rein war: so fühlte sich doch die Phantasie erleichtert, als sie wieder nur mehr eine Decke über dem Haupte wußte. (54, 56, ebd., 59, 61)

In der Romantik wird die Phantasie als Instrument zur „Erzeugung einer eigenen Wirklichkeit“113 gegen mimetische Ausdrucks- und Abbildungskonzepte in Stellung gebracht. Das Resultat ist eine souveräne ästhetische Welt, die nicht mehr als Dokument außerästhetischer Tatsachen herhalten muss. In Ludwig Tiecks Phantasus etwa lösen all jene „Naturjäger“, die „auf Sonnenauf- und Untergänge von hohen Bergen, auf Wasserfälle und Naturphänomene wahrhaft Jagd machen“, solide Irritation aus.114 Ein Modelldichter sei nämlich jemand, der die „Kraft des Erfindens“ hochhält und also „nicht nachahmt, sondern zum erstenmal ein Ding vorträgt, welches unsre Imagination ergreift“.115 Die Prosa der Romantik untersteht summa summarum „den Regeln der Imagination und Verrätselung“.116 Wenn Stifters Erzähler beteuert, die Unterwelt sei „überwältigend für Gefühl und Phantasie“, dann sagt er damit auch, dass sein uns vorliegender Bericht notwendig der Imagination abgetrotzt ist. Und das bedeutet einen Verzicht auf Authentizität und Realismus zugunsten von Schein und Künstlichkeit. Immer wieder bemüht der Erzähler seine Vorstellungskraft, mithilfe von Sarg- und Kleiderresten versucht er sich das frühere Leben der Toten auszumalen: „[E]ine Frau – – ach! wer war sie? mit welchem Pompe mag sie einst begraben worden sein“ (55). Doch zur vollständigen Romantisierung der Katakomben kommt es nicht, was die anschließenden Darlegungen verraten: „[U]nd in welchem Zustande liegt sie jetzt da! blosgegeben dem Blicke jedes Beschauers, schnöde auf die bloße Erde niedergestellt, und unverwahrt vor rohen Händen; das Antlitz und der Körper ist wunderbar erhalten – in diese verschlossenen Räume muß die Verwesung nicht haben eindringen können“ (ebd.). Hier ist der Erzähler abermals ganz Realist. Er versucht, mit seinen Worten so nah wie möglich an die erfahrungsgemäße Wirklichkeit heranzugelangen, betrachtet den Körper als „authentisches Erfahrungsmedium“.117 Damit er ja nichts

____________ 113 Hans Blumenberg: „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“. In: Bruno Hillebrand (Hrsg.): Zur Struktur des Romans. Darmstadt 1978, S. 238–267, hier S. 239. 114 Ludwig Tieck: Phantasus. In: Ders.: Schriften in zwölf Bänden. Hrsg. von Manfred Frank u. a., Bd. 6. Hrsg. von Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985, S. 111. 115 Tieck (Anm. 114), S. 147. 116 Detlef Kremer: Romantik. Stuttgart/Weimar 2003, S. 105. 117 Franziska Schößler: Das unaufhörliche Verschwinden des Eros. Sinnlichkeit und Ordnung im Werk Adalbert Stifters. Würzburg 1995, S. 20.

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verpasst, fängt er am Ende auch noch das Arrangieren an: „Ich legte mit der Spitze meines Stockes die Reste des gewiß einst prunkenden Anzuges so anständig, als es noch möglich war, über die Glieder, und leuchtete dann der vergessenen Todten ins Antlitz. Es war im Todeskampfe und durch die nachher wirkenden Naturkräfte verzogen, und in dieser, dem Menschenangesichte gewaltsamen Lage erstarrt, und so blieb es, wer weiß wie viel hundert Jahre, in unheimlicher Ruhe ein Bild eines einstigen gewaltsamen Kampfes, der das so heiß geliebte Leben von diesen Formen abgelöset hatte“ (ebd.). Ungeachtet des realistischen Duktus, gelten solche in die Erzählung eingelegten Anmerkungen als besonderes Element romantischer Prosa,118 und der Gang durch die Katakomben ist sogar „wesentlich auf diese Einsprengsel hinorganisiert“.119 Bei anderer Gelegenheit heißt es über die Skelette: „[N]un ist alles vorüber, und von dem Gebirge von Arbeiten aus dem Leben Dieser ist ein Blatt Geschichte übrig geblieben, und selbst dieses Blatt, wenn die Jahrhunderte rollen, schrumpft zu einer Zeile ein, bis auch endlich diese verschwindet, und die Zeit gar nicht mehr ist, die den darin Lebenden so ungeheuer und so einzig herrlich vorgekommen“ (60). Worauf der Erzähler hier in erster Linie hinauswill, ist, wie Nietzsche es mit Blick auf Goethe formuliert, „keine Wirklichkeit, sondern eine allegorische Allgemeinheit“, in seinem Bericht hat er „Zeitcharaktere, Localfarben zum fast Unsichtbaren abgedämpft und mythisch gemacht; das gegenwärtige Empfinden und die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft auf die einfachsten Formen zusammengedrängt, […] in jedem andern als dem artistischen Sinne wirkungslos gemacht“.120 Wie sehr sich Stifter auf den artistischen Sinn konzentriert, zeigt sich auch daran, dass das bereits erwähnte „starre[ ] Ruinengewirre“ für den Erzähler ein „düster großartiger Anblick“ ist, nach dessen Anschauung er sich die zahllosen „Toten vorstellen mußte, immer fortgesetzt und immer fortgesetzt“. Auf der einen Seite wirken die Ruinen als solche auf den Betrachter, nicht als Zeugnis von etwas, sie bestechen durch ihr schieres Sosein und führen zu einer starken subjektiven Erfahrung. Auf der anderen Seite dreht der Erzähler beherzt an der Allegorieschraube, was die anschließende Verknüpfung von ruinösem Gewölbe und Skeletten klarmacht. Während der Romantik wird der tote Stein vielfach als Gegenstück

____________ 118 Vgl. Pikulik (Anm. 112), S. 407. 119 Karl Riha: Die Beschreibung der „Großen Stadt“. Zur Entstehung des Großstadtmotivs in der deutschen Literatur (ca. 1750 – ca. 1850). Bad Homburg v. d. H./Berlin/Zürich 1970, S. 114. 120 Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I. In: Ders.: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 2: Menschliches, Allzumenschliches I und II. München 2009, S. 9–366, hier S. 184.

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zur lebendigen Natur gedacht.121 In Analogie zum menschlichen Körper nimmt das Steinerne dabei die Rolle des Skeletts ein, das der Erde Halt verleiht.122 Ergo korrespondiert ein ruinöser Stein mit hervortretenden menschlichen Knochen, die wiederum so beständig sind, dass sie den Tod überdauern. Dazu Hartmut Böhme: „Das, was in uns dem Stein analog ist – die Knochen –, scheint also vor allem Todes-Erfahrungen zu entsprechen. Das, was uns Halt und Gestalt gibt, ist zugleich das Tote, uns Überdauernde […]. Das Zarte des lebendigen Fleisches kulminiert paradox darin, daß der empfindlichste Punkt des Lebens, die Sterblichkeit, als Knochenmann-Allegorie schon in uns ist“.123 Diese unmittelbare Konfrontation mit den Toten und dem Tod entfacht beim Erzähler melancholische Überlegungen: Und so ist jeder Ruhm; denn für uns Sterbliche ist keine Stelle in diesem Universum so beständig, daß man auf ihr berühmt werden könnte; die Erde selber wird von den nächsten Sonnen nicht mehr gesehen, und hätten sie dort auch Röhre, die zehntausendmal mehr vergrößerten, als die unsern. Und wenn in jener Nacht, wo unsere Erde auf ewig aufhört, ein Siriusbewohner den schönen Sternenhimmel ansieht, so weiß er nicht, daß ein Stern weniger ist, ja hätte er sie alle einst gezählt, und auf Karten getragen, und zählte sie heute wieder, und sieht seine Karten an, so fehlt keiner, und so prachtvoll, wie immer, glüht der Himmel über seinem Haupte. (58)

Hierbei handelt es sich um jene „‚romantische‘ Melancholie“, bei der – jenseits von „schwelgerischer Selbstbetrachtung“ und zielloser Empfindsamkeit – die „Festigkeit unmittelbarer Anschauung“ mit der „Genauigkeit präziser Sprache“ kombiniert wird.124 Die etlichen Reflexionen des Erzählers über Vergänglichkeit und Vanitas sollten aus diesem Grund nicht als rein „barocke Vergänglichkeitsbeschwörung“125 missverstanden werden. Sie sind Resultate der Phantasiestimulation und stehen im Zeichen des Romantischen.

____________ 121 Vgl. hierzu Hartmut Böhme: „Der Stein – kalt, trocken und fest – ist von der Elementenlehre her gleichsam die Verdichtung der Erde. Erde wird erst durch die Verbindung mit dem Wasserhaften zu dem, als was sie symbolisch gilt: Mutter Erde, fruchtbare Substanz. Weil dem Stein kein Wasser beigemischt ist, gilt er als tot“ (Hartmut Böhme: „Das Steinerne. Anmerkungen zur Theorie des Erhabenen aus dem Blick des ‚Menschenfremdesten‘“. In: Christine Pries [Hrsg.]: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Weinheim 1989, S. 119–141, hier S. 128). 122 Zum romantischen Analogiedenken vgl. z. B. Pikulik (Anm. 27), S. 113–119. 123 Böhme (Anm. 121), S. 128. 124 Raymond Klibansky/Erwin Panofsky/Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt a. M. 1992, S. 347. 125 Ursula Naumann: Adalbert Stifter. Stuttgart 1979, S. 77.

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2.3 Erzählte Zeiten II – Struktur und Rezeption Das augenfälligste Strukturmerkmal von Stifters Bericht ist die Inversion der Ereignisfolge. Zuerst werden die Meditationen des Erzählers geschildert, dann der Gang durch die Unterwelt. Tatsächlich jedoch sind die Meditationen eine Folge des Gangs, sie verdanken sich dem Blick zurück. Dieses narrative Vorgehen ist ein Erbe der Romantik, deren Romane und Erzählungen, die „normale Zeitfolge umkehren, indem sie die frühesten Ereignisse der Fabel erst zu einem späteren Zeitpunkt oder gar erst in der letzten Phase der Erzählung wiedergeben“.126 Abgesehen von der achronologischen Makrostruktur, verfügt der Gang durch die Katakomben über eine temporal bemerkenswerte Mikrostruktur, die sich während des Streifzugs durch die Unterwelt offenbart. Will man sich ihrer Form analytisch nähern, mag ein Passus aus Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften helfen. Dort macht sich Ulrich Gedanken über jene einfache erzählerische Ordnung, „die darin besteht, daß man sagen kann: ‚Als das geschehen war, hat sich jenes ereignet!‘“. Gemeint ist die „Aufreihung alles dessen, was in Raum und Zeit geschehen ist, auf einen Faden, eben jenen berühmten ‚Faden der Erzählung‘“. „Wohl dem“, so Ulrich, „der sagen kann ‚als‘, ‚ehe‘ und ‚nachdem‘! […] [S]obald er imstande ist, die Ereignisse in der Reihenfolge ihres zeitlichen Ablaufes wiederzugeben, wird ihm so wohl, als schiene ihm die Sonne auf den Magen“. Generell, sinniert Ulrich weiter, seien die meisten Menschen „im Grundverhältnis zu sich selbst Erzähler“, sie liebten das „ordentliche Nacheinander von Tatsachen, weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und fühlen sich durch den Eindruck, daß ihr Leben einen ‚Lauf‘ habe, irgendwie im Chaos geborgen. Und Ulrich bemerkte nun, daß ihm dieses primitiv Epische abhanden gekommen sei, woran das private Leben noch festhält, obgleich öffentlich alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‚Faden‘ mehr folgt, sondern sich in einer unendlich verwobenen Fläche ausbreitet“.127 Die hier beschriebenen Formen des Erzählens – das einem Faden folgende primitiv Epische und die unendlich verwobene Fläche von Gleichzeitigem – finden sich, ergänzt durch die Zeitform der Zyklizität, auch in den Katakomben. Auf dem Stephansplatz referiert der Erzähler die Geschichte der Stadtentwicklung als lineares Nacheinander. Er kann, mit Musil gesprochen, eine Aufreihung von Geschehnissen bringen, weil er dem Faden der Geschichte folgt, die Organisation seiner Rede beruht auf

____________ 126 Pikulik (Anm. 112), S. 406. 127 Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Erstes und zweites Buch. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 650.

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Sequentialität und Prozessualität. In der Unterwelt verfährt er anders. Dort nämlich wird die Aufmerksamkeit weniger auf die Bedeutung der Zeit für den Raum, als vielmehr auf die Bedeutung des Raums für die Zeit gelenkt. In Räumen entfaltet sich die Zeit, sie sind aber nicht durch ein Nacheinander bestimmt, sondern durch ein Nebeneinander. Dieser räumlichen Simultanität trägt der Gang durch die Katakomben temporal Rechnung – durch eine Pluralität von Zeiten. Der Marsch durch die Unterwelt ist zunächst eine stetige Vorwärtsbewegung, weil die Gruppe zwischen all den ununterscheidbaren Skeletten „von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten“128 läuft. Es geht vorbei an aufgeschichteten Gebeinen, durch ein Gewölbe mit Mumien und zu einem Abschnitt, wo aufgesprungene Särge aus der Mauer ragen. Erzähltheoretisch handelt es sich bei den Stationen um kleinste Handlungseinheiten, die auf-, allerdings nicht kausal auseinander folgen – ein klassischer Plot kommt so nicht zustande.129 Nichtsdestotrotz lassen sich die Haltestellen sinnvoll durch Konjunktionen wie „als“, „ehe“ oder „nachdem“ trennen und zum Musilschen Faden der Erzählung spinnen. Zusätzliche Orientierung bieten einleitende Bemerkungen zu den einzelnen Verweilpunkten: „Wir gingen weiter in einem Kreuzgange […]“ (54); „Wir traten nun wieder in eine neue Halle […]“ (56); „Wie wir nun so dastanden […]“ (57). Obendrein thematisiert der Erzähler die lineare Qualität von Zeit anhand der Materialität der Skelette. Die Konfrontation mit einem Toten ist immer auch die Konfrontation mit einer in körperliche Präsenz überführten abgelaufenen Zeit, denn die Gebeine sind die letzte Spur einstigen Lebens. Spuren deuten „auf etwas, was nicht (mehr) da ist. Spuren verräumlichen Zeitlichkeit; sie zeigen an, daß sich hier etwas vollzogen und ereignet hat, was aber jetzt nicht mehr hier ist“.130 Dem Betrachter der Toten enthüllt sich, was „Zeit und leise Verwesung“ (53) anrichten können, in der „Versammlung von längst verstorbenen unbekannten Menschen, die vor Jahrhunderten hieher gebracht wurden“ fühlt er sich „bis in das Innerste erschüttert“ (57). Diese Erschütterung ist die Voraussetzung für eine zweite, am Subjekt erkennbare Konkretion von Zeit: Dem Muster des Reiseberichts entsprechend, in dem die persönlichkeitsverändernde Kraft außerordentlicher Begebenheiten und eminenter Alteritätserfahrungen zum Tragen kommen, ist der Erzähler nach seinem Ausflug nicht mehr derselbe. Als er

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128 Albes (Anm. 84), S. 236. 129 Vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 32002, S. 108. 130 Jochen Hörisch: Bedeutsamkeit. Über den Zusammenhang von Zeit, Sinn und Medien. München 2009, S. 65.

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wieder in der Oberwelt anlangt, herrscht auf dem Stephansplatz das übliche Treiben, „glänzende Karossen rollten; der Thurm St. Stephans stieg riesig empor, und Sprechen und Lachen erscholl ihm gegenüber, den beleuchteten Häusern entlang“ (62). Der Erzähler jedoch hat sich verändert. Während er und seine Begleiter vor dem Spaziergang „lachend und scherzend“ auf den Führer warteten und „Bemerkungen über das trübselige Wetter und die Unpünktlichkeit des Freundes“ machten, ist danach alles „ganz anders: nie werde ich den Eindruck vergessen, den diese Stunde unterirdischen Aufenthaltes in mir hervorbrachte“ (53). Auch der Leser habe die Chance, „ein anderer zu werden“, wenn er, befeuert vom Text, anfange, über „Weltgeschichte, Ewigkeit, Vergeltung u.s.w. nachzudenken“ (51). Für den Eindruck einer zyklisch verlaufenden Zeit ist die zunehmende Differenzlosigkeit in der Unterwelt verantwortlich: „Immer weiter, immer verwickelter und größer entfaltete sich diese Stadt der Grüfte; immer neue Todte waren zu treffen; Trümmer von Särgen, Hügel und Wälle von getrocknetem Moder, dann kommen wieder Knochen, dann leere Gewölbe und Gänge – und wie weit sich dies alles hin erstrecke, weiß man jetzt noch gar nicht mit Gewißheit“ (59, meine Hervorhebungen). Der Erzähler verliert allmählich seine Unterscheidungsfähigkeit, weil sich die Umgebung nicht zu verändern scheint. Zudem impliziert der Gang, der „in seiner Eigenschaft als Rundgang […] per definitionem dort endet, wo er begonnen hat“,131 seine eigene Wiederholung. Eine Gliederung in Hinund Rückweg ist deshalb müßig, wofür auch die Tatsache spricht, dass der Erzähler zwei Mal einen Orientierungsverlust eingesteht: „Ob wir in diesen Gängen nach Ost oder West, nach Nord oder Süd gingen, konnten wir keiner erkennen, und da sie sich vielfach kreuzten, und die gewölbten Zellen sich alle ähnlich sahen, so war es uns einleuchtend, daß man sich hier verirren, und stundenlange herum suchen könnte, ohne den Ausgang zu finden“ (54); „Wir hatten alle Orientierung bereits so verloren, daß jedem die Unmöglichkeit einleuchtete, ohne Führer hinaus zu finden“ (61). Neben Erfahrungen von Linearität und Zyklizität, macht der Erzähler auch solche von Gleichzeitigkeit. Entscheidend hierfür ist das Nebeneinander der Räume. So heißt es zum Beispiel: „Während ich dies dachte, rasselte wieder ober uns das Geräusche eines rollenden Wagens auf dem Pflaster des Stephansplatzes, und es däuchte mir so leichtsinnig oder so wichtig, wie etwa die Weltgeschichte der Mücken oder der Eintagsfliegen“ (58). Ein anderes Mal steht die Gruppe direkt unter der Kirche: „Wir waren zufällig in dem Augenblicke alle stille“, staunt der Erzähler, „und da

____________ 131 Albes (Anm. 84), S. 236.

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hörten wir deutlich in langen schweren Tönen die Orgel aus der Kirche herunter tönen“ (56). Im ersten Fall wird die Simultanität unterschiedlicher Vorgänge durch den Satzeinstieg („Während …“) signalisiert, im zweiten Fall durch die Wendung „in dem Augenblicke“. Beide Male sind zeitliches und räumliches Nebeneinander verschränkt. Diese Simultanität von Räumen und Zeiten konterkariert den einfachen Lauf des bei Musil erwähnten primitiv Epischen, der Faden der Erzählung transformiert sich zur unendlich verwobenen Fläche. Schließlich wird Zeit im Zusammenspiel von erzählter Welt und ihrer Rezeption bedeutsam. Wie gesagt, erfährt der Leser nach wenigen Seiten, dass die zu Beginn angestellten Erwägungen ein Resultat des Gangs durch die Katakomben sind: „Solche, und ähnliche schwermüthige Gedanken hatte ich, als ich eines Tages aus den Katakomben des Stephansthurmes wieder an das Licht des Tages trat“ (51). Die Reflexionen leiten den Rundgang im Text also ein, folgen in der Logik der erzählten Zeit allerdings auf den Gang. Diese Achronologie bedingt zwei Lesewege – einen linearen, der vom Beginn des Texts zum Ende führt, und einen zyklischen, bei dem nach der Lektüre die einleitenden Überlegungen „ein zweites Mal gelesen werden müssen und danach wieder der Gang durch die Katakomben, auf den diese Überlegungen hinleiten, und so weiter ad infinitum“.132 Die Lektüre führt demnach zu keinem definitiven Schluss, sondern in eine Endlosschleife, der sich allein durch einen Leseabbruch entkommen lässt.133 Die innerhalb der Diegese für den Erzähler stattfindende Erfahrung von Linearität und Zyklizität spiegelt sich demzufolge auf diskursiver Ebene für den Leser. Insofern kommen Erzählerfigur und Leser in puncto Zeiterfahrung zu einer Teilkongruenz. Stifters Gang durch die Katakomben ist damit in doppelter Weise ein Musterbeispiel für erzählte Zeiten. Literatur Albes, Claudia: „Wege ins Totenreich. Stifters ‚Gang durch die Katakomben‘“. In: Axel Gellhaus/Christian Moser/Helmut J. Schneider (Hrsg.): Kopflandschaften – Landschaftsgänge. Kulturgeschichte und Poetik des Spaziergangs. Köln/Weimar/Wien 2007, S. 233–250. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 2006. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Basel 2001. Aust, Hugo: Realismus. Stuttgart/Weimar 2006.

____________ 132 Albes (Anm. 84), S. 234 f. 133 Vgl. Albes (Anm. 84), S. 235.

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Zeit und Figur. Die Konfiguration der Figur durch die Zeit als temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs Stiller 1. Zeit und Figur 291 – 1.1 Figuren als Zeitträger 292 – 1.2 Figuren als Zeitwahrnehmer 293 – 1.3 Figuren als Zeitüberwinder 295 – 1.4 Die Konfiguration der Figur durch die Zeit 296 – 1.5 Etablierte Figuren-Konzepte 296 – 1.6 Paul Ricœurs Konzept der ‚narrativen Identität‘ 298 – 2. Temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs „Stiller“ 304 – 2.1 Ebenen der Identitätsverunsicherung 305 – 2.2 Temporale Dimensionen von Identität 307

1. Zeit und Figur Iwein kommt genau zum richtigen Zeitpunkt, um Lunete vor dem Feuertod auf dem Scheiterhaufen zu retten; Hans Castorp verbringt sieben Jahre auf dem Berghof; Leopold Bloom streift am 16. Juni 1904 durch Dublin und Marty McFly reist unabsichtlich ins Jahr 1955. Figuren sind mit der sie umgebenden Zeit verschränkt, nehmen sie unterschiedlich wahr, eignen sich diese an oder überwinden sie. Zwischen Figur und Zeit eröffnet sich ein Spannungsfeld, das einen breiten ästhetischen Gestaltungsspielraum ermöglicht und in den genannten Beispielen gar ein zentrales Sujet der Erzählung darstellt. Figuren sind Zeitträger (1.1), Zeitwahrnehmer (1.2) und Zeitüberwinder (1.3) – und sie stehen zugleich in einem dynamischen Verhältnis zu Zeit (1.4). Zeit und Figur als Bestandteile der erzählten Welt in einem erzähltheoretischen Sinne zusammen zu denken, ist unkonventionell. Obgleich für Zeit und Figur1 einschlägige Kategorisierungsmodelle bereitstehen, mangelt es an Versuchen, die Relationen zwischen beiden systematisch und historisch zu klären: Es fehlt ein Modell, das das Zusammenspiel der

____________ 1

Zum Überblick vgl. Matías Martínez: „Figur“. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 145–150; Fotis Jannidis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004; Ralf Schneider: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000.

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verschiedenen Konstituenten der erzählten Welt verbindet, und es fehlt des Weiteren ein Historisierungsmodell, das diese systematische Relation in einer diachronen Perspektive beschreibbar machen würde. Vor diesem Hintergrund verstehen sich die nachfolgenden Überlegungen als ein erster typologischer Versuch, bei dem auch Seitenblicke auf diachrone Entwicklungen nicht unterbleiben sollen. 1.1 Figuren als Zeitträger Figuren können, wie dies Michail M. Bachtin für den hellenistischen Liebesroman und Uta Störmer-Caysa für den höfischen Roman gezeigt haben, über ein eigenes Zeitsystem verfügen, das sich von demjenigen ihrer Umwelt oder anderer Figuren in signifikanter Weise unterscheidet. Der temporale Clou des hellenistischen Romans besteht darin, dass Held und Heldin sich ineinander verlieben, getrennt werden und nach vielen Abenteuern wieder zusammenfinden, ganz so, als ob keine Zeit verflossen wäre: „Die Helden begegnen sich zu Beginn des Romans im heiratsfähigen Alter und treten an dessen Schluss, der sie uns in demselben Alter, ebenso jung und schön, zeigt, in den Ehestand.“2 Im Abenteuer sind sie gleichsam atemporale Figuren, da die Zeit spurlos an ihnen vorbeigeht. Bei der ‚rechtzeitigen Rettung‘ im höfischen Roman kommt es auf die Koordination zweier Figurenzeiten an: derjenigen des rettenden Helden und derjenigen der geretteten Dame.3 In Hartmanns von Aue Iwein gelingt es dem gleichnamigen Protagonisten, Lunete aus der Gefahrensituation zu retten, obwohl er „sich keineswegs dafür interessiert, wann er genau an dem Ort des Gerichts sein müsse“.4 Auch wenn sich Iwein beeilt, erreicht er den Gerichtsplatz erst, als Lunete auf dem bereits brennenden Scheiterhaufen betet. Erst nachdem sich Iwein einen Überblick über die Lage verschafft hat – was durchaus eine Weile dauert –, reitet er näher zu Lunete und fordert sie auf, sich zu erheben und ihm ihre Gegner zu zeigen. Vom Feuer, welches aller Logik nach weiterbrennen und Lunete verbrennen lassen müsste, geht jedoch zu diesem Zeitpunkt scheinbar keine Gefahr mehr aus. Die räumlich begrenzte Szene mit der Figur Lunete im Zentrum wird nicht nur eingefroren, vielmehr wird sie „in einen früheren Zustand zurückversetzt“.5 Ähnliches gilt für den männlichen Helden:

____________ 2 3 4 5

Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008, S. 13. Hierzu Uta Störmer-Caysa: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007, S. 121–132. Störmer-Caysa (Anm. 3), S. 121. Störmer-Caysa (Anm. 3), S. 124.

Zeit und Figur

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„Die Zeit der Erzählung ist mit Iwein im Bunde, aber sie liegt nicht allein in der Figur, sondern auch in der Aventiure […]. Die Zeit arbeitet nicht gegen den Helden und nicht für ihn, sondern mit ihm“.6 Diese spezifische Relation von Figur und Zeit hängt aufs Engste mit dem Status von Ereignissen und funktionalen Aspekten der Handlungsführung zusammen, denn „Raum und Zeit sind funktional den Erfordernissen der Handlung unterworfen“,7 sie werden ihnen entsprechend verzerrt, gedehnt oder gerafft. Das Konzept zeitenthobener Figuren und einer ‚funktionalen Verzerrung‘8 zugunsten der Handlungsführung wird im Roman spätestens mit Voltaires Candide, ou l’Optimisme (1759) ironisch hinterfragt. Das Paar Candide und Cunégonde muss, nachdem man beide in flagranti erwischt hat, das Land des westfälischen Barons Thunder-ten-tronckh verlassen. Es wird getrennt und für beide folgt eine lange Trennung mit einer Vielzahl von Abenteuern u. a. in Lissabon, Paraguay und Konstantinopel. Am Ende finden sie aber, ganz wie im Prätext des hellenistischen Liebesromans, zusammen: Die Heirat erfolgt aber nicht aus Liebe und die Helden sind nicht immer noch unversehrt schön. Die verflossene Zeit hat sich in Cunégonde eingeschrieben, sie ist hässlich geworden. Die Figuren sind in Voltaires satirischem Roman Teil des Zeitablaufs. Auch wenn mit dem 18. Jahrhundert das Konzept zeitenthobener Figuren in der Literatur zugunsten eines realistischeren Paradigmas verabschiedet wurde, hat es auch heute noch in Genres wie dem Action-Film oder dem Comic, in denen an (Super-)Helden die Zeit ebenfalls spurenlos vorbeigeht, weiterhin Bestand. 1.2 Figuren als Zeitwahrnehmer Figuren nehmen auf je eigene Weise wahr, wie Zeit vergeht. Formen der internen Fokalisierung sowie die autodiegetische Erzählung mit ihrer Trennung in erzählendes Ich und erlebendes Ich bieten erzählerische Möglichkeiten, diese subjektiven Imaginationen von Zeit besonders eindringlich zu gestalten. Auch wenn diese Möglichkeit bereits mit dem autodiegetischen Erzähler des Schelmenromans gegeben war, bleibt sie beispielsweise in Grimmelshausens Simplicissimus Teutsch (1668) ungenutzt. In Johann Gottfried Schnabels Insel Felsenburg (4 Bde., 1731–1743), die

____________ 6 7 8

Störmer-Caysa (Anm. 3), S. 124 f. Armin Schulz: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin/Boston 2012, S. 315. Vgl. Lukas Werner: „Zeit“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 150–158.

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vornehmlich aus einer Reihe biographischer Ich-Erzählungen zusammengesetzt ist, wird die Differenz zwischen dem Zeitpunkt des Erzählens und dem Zeitpunkt des Erzählten nicht zum Aufhänger einer Erinnerungspoetik, vielmehr sind die einzelnen Erzähler darum bemüht, ihre ich-basierte Perspektive in eine abstrakte kalendarische und gemeinsame Ordnung einzugliedern. Die Gestaltung der zeitlichen Differenz zwischen einem erzählenden und einem erzählten Ich sowie die Möglichkeiten einer radikalen internen Fokalisierung treten zu Beginn des 20. Jahrhunderts ins Zentrum von Erinnerungs- und Wahrnehmungspoetiken, wie sie in Prousts Recherche, Thomas Manns Zauberberg oder Joyces Ulysses vorliegen. Zeit wird in den sogenannten ‚Zeit-Romanen‘ zum tragenden Motiv. Bei Joyce ist es der 16. Juni 1904, der die „scheinbare[ ] Gestaltlosigkeit des Bewußtseinsstroms“9 der Figur zu einer Einheit formt. Figur, Welt und Zeit verschwimmen im stream of consciousness: Die Dinge sowie die raumzeitlichen Dimensionen der Welt sind „nur in [ihrer] Gegebenheit für ein dargestelltes Subjekt“10 gegeben. In der Doppelperspektive von ‚erinnerndem‘ und ‚erinnertem Ich‘ erkennt Hans Robert Jauß, in Fortführung der Überlegungen Leo Spitzers, ein „für die ganze Komposition [des Romans, C. L.] konstitutive[s] Verhältnis“.11 Hans Castorp, der Held von Manns Zauberberg, verbringt sieben Jahre im Sanatorium des Berghofs, dabei vergisst er sowohl die fortlaufende Zeit des Flachlandes als auch sein eigenes Alter, wie der Erzähler in einem Gedankenspiel vorführt: Wie lange Joachim eigentlich hier oben mit ihm gelebt, bis zu seiner wilden Abreise oder im ganzen genommen; wann, kalendermäßig, diese erste trotzige Abreise stattgefunden, wie lange er weggewesen, wann er wieder eingetroffen und wie lange Hans Castorp selber schon hier gewesen, als er wieder eingetroffen und dann aus der Zeit gegangen war […]: bei all diesen Fragen, gesetzt, man hätte sie ihm vorgelegt, was aber niemand tat, […] hätte Hans Castorp mit den Fingerspitzen an seiner Stirn getrommel und entschieden nicht recht Bescheid gewußt […], ja eine Verschlimmerung dieses Unvermögens, denn er wußte nun allen Ernstes und dauernd nicht mehr, wie alt er sei! 12

Jene zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Fokus stehenden Aspekte Wahrnehmung und Erinnerung werden in der memoire-Literatur des gehenden 20. Jahrhunderts, die die Katastrophen des Jahrhunderts die Möglichkeiten der Erinnerung an diese thematisiert, nochmals

von ausund neu

____________ 9 10 11 12

Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans [1955]. Heidelberg 1970, S. 45. Jauß (Anm. 9), S. 45. Jauß (Anm. 9), S. 99. Thomas Mann: Der Zauberberg. Hrsg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt a. M. 2002, S. 819.

Zeit und Figur

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perspektiviert. Aber nicht nur der retrospektive Blick auf Vergangenes führt Figur und Zeit eng, Figuren selbst können zu Zeitreisenden werden. 1.3 Figuren als Zeitüberwinder In Louis-Sébastien Merciers L’an deux mille quatre cent quarante (1770) ist es ein langer Schlaf, der den Protagonisten in die weit entfernte und utopische Zukunft des Jahres 2440 befördert (die sich letztlich aber als Traum erweist); in Mark Twain A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court (1899) ist es ein Schlag auf den Kopf, der den Helden ins England des 6. Jahrhunderts bringt; in H. G. Wells’ The Time Maschine (1895) ist es eine Maschine, die Wells’ namenlosen Zeitreisenden ins Jahr 802 701 bringt. Auch wenn die Reisemethoden sehr unterschiedlich sind, werden die Figuren zu Überwindern einer temporalen Distanz, die sie aufgrund der biologischen Beschränkung eines Menschenlebens, oder die sie aufgrund des auf die Zukunft gerichteten Verlaufs der Zeit nie hätten überbrücken können.13 Mit der Bewegung durch die Zeit wird (implizit) die Frage nach der Kontinuität der zeitlichen Dimension und den Folgen eines Eingriffs in die eigene Vorgeschichte akut: Wenn man Zeit als lineare Kontinuität denkt, in der zwischen einzelnen Ereignissen kausale Verbindungen bestehen, dann kann ein Eingriff in die Vergangenheit nicht folgenlos bleiben. So versucht in Ray Bradburys Erzählung A Sound of Thunder (1966) ein Reisebüro, das Dinosauriersafaris in der Prähistorie anbietet, systematisch zu verhindern, dass man durch kleinste Ereignisse in den Verlauf der Geschichte eingreift. Keine Blume soll zertreten werden, deshalb bewegt man sich sechs Inches über der Erdoberfläche. Als aber bei einer der Expeditionen einer der Teilnehmer den vorgeschriebenen Pfad verlässt, gerät die Gegenwart aus den Fugen. Das veränderte Ereignis potenziert sich bis in Gegenwart, so dass ein Diktator die Wahlen gewinnt. Versteht man aber die Reise in die Vergangenheit als eine Reise in eine andere, letztlich autonome Welt, dann spielt der Eingriff des Zeitreisenden auf einzelne Gegenstände oder Ereignisse keine Rolle, da diese Welt eine andere Entwicklung nehmen wird als die Ursprungswelt des Zeitreisenden.

____________ 13

Einen guten Überblick zum Motiv der Zeitreise gibt Gertrud Lehnert-Rodiek: Zeitreisen. Untersuchungen zu einem Motiv der erzählenden Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. RheinbachMerzbach 1987.

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1.4 Die Konfiguration der Figur durch die Zeit Neben diesen drei Relationen, innerhalb derer Zeit und Figur als relativ stabile Größen gedacht werden, ist viertens zu berücksichtigen, dass es zwischen ihnen ein gegenseitiges Bedingungsverhältnis gibt. Figur und Zeit stehen – dies gilt besonders für den Roman der Neuzeit – in einem dynamischen Verhältnis. Ziel dieses Aufsatzes ist es zu beschreiben, wie die Figur durch die Zeit konfiguriert wird und wie Fragen der Identität mit Zeit verschränkt sind. In den Blick kommt dabei das thematische Feld von Identitätssverlust, Identitätssuche, Identitätsverweigerung und Identitätskrise. Die Frage nach der Identität der Figur ist dabei keine ausschließlich narratologische, sondern bewegt sich im Grenzbereich zwischen Erzähltheorie und Philosophie. Die Theorie der narrativen Identität von Paul Ricœur, die Narratologie und Hermeneutik verknüpft, bietet sich deshalb an, den Verfahren der Figurenkonstruktion und ihrer Bedeutung für Identitätskonzepte und der damit zusammenhängenden Identitätsproblematik nachzugehen. Im Folgenden wird deshalb Ricœur zunächst daraufhin befragt, welche Vorteile seine Theorie gegenüber älteren strukturalistisch-formalistischen Beschreibungen und gegenüber neueren leserorientierten und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen bietet (1.5 und 1.6). Hierauf folgt eine kurze Erprobung des entworfenen Konzepts in einer exemplarischen Analyse von Max Frischs Roman Stiller (1954).14 1.5 Etablierte Figuren-Konzepte Im Rahmen formalistisch-strukturalistischer Ansätze wurde die Figur verstanden als funktionaler Handlungsträger15 oder als Aktant.16 Vladimir Propp postuliert in seiner Morphologie des Märchens erstens, dass die „konstanten und unveränderlichen Elemente des Märchens […] die Funktionen“ sind; zweitens, dass die „Zahl der Funktionen […] für das Zaubermärchen begrenzt“ ist; drittens, dass „die Reihenfolge der Funktionen […] stets ein und dieselbe“ ist; und viertens, dass „[a]lle Zaubermärchen […]

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16

Max Frisch: Stiller. Frankfurt a. M. 1973. Alle Nachweise erfolgen im Haupttext. In der um die Handlungsstruktur zentrierten Untersuchung Morphologie des Märchens (1928) von Vladimir Propp sind die Figuren durch ihre Funktionen in der Handlung bestimmt, so dass die Figur auf eine Rolle reduziert wird; vgl. dazu Vladimir Propp: Morphologie des Märchens [1928]. Frankfurt a. M. 1972. In Anlehnung an Propps Typologie entwickelte Algirdas J. Greimas das Aktantenmodell; vgl. dazu Algirdas Julien Greimas: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971.

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hinsichtlich ihrer Struktur einen einzigen Typ bilden“.17 Mit Blick auf temporale Aspekte ist zweierlei relevant: Das Konzept der ‚Funktion‘ als eine abstrakte Relation führt zu einer tendenziellen Entzeitlichung; die zeitlich-chronologische Reihenfolge hingegen, in der die Funktionen als ‚Sequenz‘ aufeinanderfolgen, ist für Propp unumkehrbar und irreversibel.18 Der funktionalen Struktur des Märchens legt er somit eine unhintergehbare temporal-lineare Basis zugrunde. Damit bleibt er, folgt man Ricœur, „auf halbem Wege [zu] einer vollständigen Entchronologisierung der narrativen Struktur“, wie sie von Claude Bremond und Algirdas Julien Greimas vollzogen wird, stehen.19 Sowohl in diesem Zusammenhang als auch in semiotischen Ansätzen, die die Figur als Bündelung von Semen20 begreifen, tritt die inhärente Dynamik der Figur zurück. Manfred Pfister setzt in seiner Typologie21 an dieser Schwachstelle an: Er betont, dass die Figurenkonstruktion einerseits eine progressive Darstellung voraussetzt und dass das dynamische Unterscheidungskriterium sich andererseits nicht auf diesen Entwicklungsprozess reduzieren lässt. Eine praxisorientierte Präzisierung seiner Überlegungen bleibt Pfister aber schuldig, denn er stellt keine Kriterien für die Textanalyse bereit. Aufgrund der Textzentriertheit der Theorie erweist sich seine Klassifizierung darüber hinaus insofern als beschränkt applikabel, als sie einerseits nur den Merkmalssatz und die Veränderung der Eigenschaften im Laufe der Erzählung beachtet und andererseits die von Veränderungen verursachten (In)Stabilitäten und (In)Kohärenzen der Figurenkonstruktion nicht berücksichtigt. Deshalb lassen sich anhand von Pfisters Ansatz im modernen Roman viele Figuren nur relativ schwer einordnen. Im Gegensatz zur textbasierten Theorie Pfisters unterstreichen kognitionspsychologische Ansätze, wie z. B. Ralf Schneider sie vertritt, die Dynamik der Figur im Hinblick auf den Rezeptionsprozess, welcher als ständig modifizierbar konzipiert wird.22 Auf den Rezeptionsprozess ausge-

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21 22

Propp (Anm. 15), S. 27 f. Vgl. Propp (Anm. 15), S. 28. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung [1983–1985]. 3 Bde. München 1988–1991, Bd. 2: Zeit und literarische Erzählung (1989), S. 60. Vgl. Roland Barthes: S/Z. Frankfurt a. M. 1976, S. 71: „Wenn identische Seme wiederholt denselben Eigennamen durchqueren und sich in ihm festzusetzen scheinen, entsteht eine Person. Die Person ist also ein Produkt der Kombinatorik: die Kombination ist relativ stabil (von der Rückkehr der Seme markiert) und mehr oder weniger komplex (mit Merkmalen, die mehr oder weniger kongruent, mehr oder weniger widerspüchlicher sind); […] Der Eigenname funktioniert wie das Magnetfeld der Seme […].“ Vgl. dazu Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse [1977]. München 112001, S. 241 ff. Zu erwähnen sind die Informationsverarbeitungsprozesse (Bottom-up- und Top-downProzesse), auf welchen die Dynamik sowohl des Textverstehens als auch der Figurenrezeption beruht; vgl. Schneider (Anm. 1), S. 35–58.

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richtet ist auch das Figurenkonzept von Fotis Jannidis, der die Figur bestimmt als „ein mentales Modell einer Entität in einer fiktionalen Welt, das von einem Modell-Leser inkrementell aufgrund der Vergabe von Figureninformationen und Charakterisierung im Laufe seiner Lektüre gebildet wird“.23 Innerhalb dieser Diskussionen werden die Dynamik der Figurengestaltung ebenso wie Identitätsaspekte in den Hintergrund gerückt. So wird der Begriff ‚Identität‘ grosso modo in einem sehr beschränkten Bedeutungsumfang verwendet, wie Fotis Jannidis affirmativ betont: Figuren werden in der Regel als konstante Identitäten entworfen. Der Begriff „Identität“ wird hier in einem möglichst bedeutungsarmen Sinne verwendet. Es geht nicht um Identität im philosophischen Sinne – Thema einer ebenso intensiven wie prämissenreichen Diskussion – und auch nicht um psychologische Identität.24

Jenseits dieser definitorischen Rückversicherung und gleichsam als performativer Widerspruch wird in zahlreichen Textanalysen der Terminus ‚Identität‘ aber mit einem ausgedehnten Bedeutungsumfang verwendet. Eine produktive Antwort auf diese Probleme liefert Paul Ricœurs Theorie der ‚narrativen Identität‘. 1.6 Paul Ricœurs Konzept der ‚narrativen Identität‘ In seinen Studien Temps et récit (1983–1985; dt. Zeit und Erzählung) und insbesondere in Soi-même comme un autre (1990; dt. Das Selbst als ein Anderer) entwickelt Paul Ricœur sein Konzept der narrativen Identität ausgehend von der Bemerkung, dass der Begriff der Identität eine semantisch unversöhnliche Zweideutigkeit beinhaltet, nämlich zum einen den Aspekt der Gleichheit, der eine Form von Unveränderlichkeit in der Zeit voraussetzt, und zum anderen den Aspekt der Verschiedenheit, der eine inhärente Veränderlichkeit in der Zeit impliziert. Dieser zwischen den beiden Auffassungen der Identität bestehende Widerspruch bezüglich der Beständigkeit in der Zeit wird von Ricœur anhand der im Lateinischen unterschiedenen Begriffe idem und ipse veranschaulicht. Er differenziert zwischen der Idem-Identität (Selbigkeit; französisch mêmeté) und der Ipse-Identität (Selbstheit; französisch ipséité). Die Idem-Identität ist beständig und konsequent mit sich selbst; sie zeichnet sich durch Wiederholbarkeit und durch das Bedürfnis nach Wiederbestätigung aus. Die Idem-Identität lässt sich, genauer gesagt, als eine numerische sowie qualitative Identität und als ununterbrochene

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Jannidis (Anm. 1), S. 252. Jannidis (Anm. 1), S. 137 f.

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Kontinuität25 auffassen, wobei die letzten zwei als Kriterien der numerischen Identität fungieren können. Berücksichtigt man alle Kriterien, die der Bestimmung der Idem-Identität dienen, dann lässt sich die ‚Selbigkeit‘ als „ein Begriff der Relation und eine Relation von Relationen“26 verstehen. Der Selbigkeit entspricht der Prozess der Identifizierung, welche aus der zeitlichen Perspektive die Form des Wiedererkennens des Selben annimmt, so dass „Erkennen Wiedererkennen bedeutet“.27 Im Hinblick auf die Selbigkeit erweist sich die Zeit als „der Unähnlichkeitsfaktor, der Faktor des Abstands und der Differenz“,28 der die unterschiedlichen Entwicklungsstadien ein und derselben Person sowie ihre unausweichliche Veränderung sichtbar macht. Betrachtet man den ständigen inhärenten Wandel als einen für die Identität bedrohlichen Faktor, so lässt sich die Beständigkeit in der Zeit bezüglich der Selbigkeit nur anhand einer relationalen Invariante erklären, welche mit Immanuel Kant mit dem Substanzbegriff29 festzulegen ist. Im Unterschied dazu steht die Ipse-Identität im Zeichen von Veränderung und Andersheit. Im Vergleich zur Selbigkeit kann die Selbstheit nicht auf einen unveränderlichen Kern reduziert werden. Da die Anwendungsbereiche dieser beiden Pole der Identität nicht deckungsgleich sind, lässt sich nach Ricœur die Differenzierung zwischen diesen anhand der Frage nach der Beständigkeit in der Zeit darlegen. Dafür schlägt er zwei Modelle vor: Charakter (caractère) und gehaltenes Wort (parole tenue). Unter Charakter versteht Ricœur die Gesamtheit der Unterscheidungsmerkmale, die es ermöglichen, ein menschliches Individuum als dasselbe zu reidentifizieren. Durch seine deskriptiven Züge […] faßt er numerische und qualitative Identität, ununterbrochene Konti-

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Unter numerische Identität versteht Ricœur die Identität von zwei oder mehreren Vorkommnissen eines Dinges, so dass man nicht über verschiedene Dinge spricht, sondern über ein und dasselbe. Vgl. Paul Ricœur: Das Selbst als ein Anderer. München 1996, S. 144 f. Die qualitative Identität bezieht sich auf den „Substitutionsvorgang ohne semantischen Verlust“. Vgl. Ricœur, S. 145. Die ununterbrochene Kontinuität betrifft den Entwicklungsprozess mit den impliziten Entwicklungsstadien. Demzufolge läßt diese dritte Komponente des Identitätsbegriffs am deutlichsten das der Identität zugrunde liegende Prinzip der Beständigkeit in der Zeit erkennbar werden. Vgl. Ricœur, S. 145 f. Ricœur (Anm. 25), S. 144. Versteht man die Selbigkeit als eine Relation von Relationen, so wird deutlich, warum Ricœur behauptet, dass die analytische Philosophie sich nur auf die Idem-Identität beschränke. Laut Ricœur lassen sich die Paradoxien personaler Identität in die Dimension der Selbigkeit einschreiben. Ricœur (Anm. 26), S. 145. Ricœur (Anm. 26), S. 146. Vgl. dazu Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998, S. 280: „Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst, und das Wandelbare, als dessen bloße Bestimmung, d.i. eine Art, wie der Gegenstand existiert“.

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nuität und Beständigkeit in der Zeit zusammen. Hierdurch bezeichnet er in emblematischer Weise die Selbigkeit der Person.30

Das Modell des Charakters bestätigt die Verflechtung der Idem- und der Ipse-Identität, so dass das Verhältnis der beiden Pole in diesem Fall zu einer vollkommenen Überlappung führt, bis die Selbigkeit und die Selbstheit schwer zu trennen und damit auch schwerlich zu identifizieren sind. Dass der Charakter sich nicht auf die Idem-Identität reduzieren lässt, wird ebenso durch die zeitliche Perspektive über die Gewohnheit als Bestandteil der Selbigkeit bestätigt. Ricœur weist darauf hin, dass die Gewohnheit sowohl die Stabilität der Identität durch den Prozess der Ablagerung der Unterscheidungsmerkmale als auch die Veränderlichkeit der Identität durch den Prozess der Assimilierung von neuen Elementen versichert. Indem der Charakter aus Gewohnheiten besteht, die sich in einer doppeldeutigen Beziehung zur Zeit befinden, erweist sich der Charakter als Überlagerung des Ipse mit dem Idem und zugleich als „Dialektik von Innovation und Sedimentierung“.31 Das gehaltene Wort hingegen stellt die Identität gegenüber der Veränderlichkeit in der Zeit dadurch auf die Probe, dass die Person (sich der inzwischen eingetretenen Veränderungen bewusst seiend oder nicht) dem Anderen gegenüber ihr Versprechen hält. Demzufolge wird das gehaltene Wort als Selbst-Ständigkeit artikuliert.32 Das gehaltene Wort, die Treue, veranschaulicht die ethische Komponente der Identität, die auf einer anderen Art von Beständigkeit in der Zeit basiert und die sich auf keinen substantiellen Kern stützt. An dieser Stelle kristallisiert sich ein unwiderlegbarer Abstand zwischen den zwei Modalitäten der Beständigkeit in der Zeit heraus. Zwischen der Beständigkeit des Charakters und der SelbstStändigkeit des Versprechens entsteht laut Ricœur eine Bedeutungslücke: „Diese Lücke wird durch die zeitlich verstandene Polarität zweier Modelle der Beständigkeit in der Zeit eröffnet: der Beharrlichkeit des Charakters und der Selbst-Ständigkeit im Versprechen. Die Vermittlung muß also in der Ordnung der Zeitlichkeit gesucht werden.“33 Im Raum zwischen diesen beiden Polen entsteht die narrative Struktur der Identität. Die beiden Identitätsaspekte stehen nach Ricœur in einem Komplementärverhältnis. Obwohl sich die beiden Identitätsaspekte gegenseitig ergänzen, besteht ein unsicheres Gleichgewicht zwischen ihnen. Die Gefährdung

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33

Ricœur (Anm. 26), S. 148. Ricœur (Anm. 26), S. 152. Ricœur übernimmt von Heidegger den Begriff der Selbst-Ständigkeit, um die Beharrlichkeit des gegebenen Wortes zu illustrieren. Wenn bei Heidegger „[d]ie Selbst-ständigkeit […] existenzial nichts anderes als die vorlaufende Entschlossenheit [bedeutet]“, fasst Ricœur das Versprechen als sich selbst genügend auf, vgl. Heidegger (1984), S. 322. Ricœur (Anm. 26), S. 154.

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dieses Gleichgewichts liegt im ständigen Schwanken zwischen den beiden Polen, so dass die Beständigkeit in der Zeit des Charakters die Form des Selben anzunehmen scheint, ohne dass diese sich auf die bloße Selbigkeit reduzieren lässt. Im Gegensatz dazu gibt es Fälle, in denen der Abstand zwischen den beiden Identitätsaspekten so groß wird, dass sich der Charakter auflöst. Dieses unsichere Gleichgewicht wird laut Ricœur in literarischen Texten sichtbar, welche die der Identität zugrundeliegende Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit offenlegen. Wie aber diese Dialektik textuell dargestellt wird, lässt sich Ricœur zufolge mithilfe des Verhältnisses von ‚Figur‘ und ‚Fabel‘ erklären. Im Anschluss an die Theorie der Korrelation zwischen Handlung beziehungsweise Fabel und Figur bewertet Ricœur dieses Verhältnis neu und präzisiert den Funktionszusammenhang zwischen beiden: „In der Tat wahrt in der erzählten Geschichte […] die Figur im gesamten Handlungsverlauf eine Identität, die zu derjenigen der Geschichte korrelativ ist.“34 Ricœur hebt hervor, dass die Fabelkomposition auf einem Zusammenspiel von Konkordanz und Diskordanz beruht,35 das eine Widerspiegelung der ständigen Konkurrenz zwischen Permanenz und Veränderung darstellt: „Die narrative Operation versöhnt Kategorien, die vielfach als unvereinbar gelten: Identität und Verschiedenheit, Einheit und Differenz, Kontinuität und Diskontinuität.“36 Diese ‚konkordant-diskordante Synthesis‘ beherrscht sowohl die Ebene der Handlung als auch die Ebene der Figur. Im Hinblick auf die Beständigkeit in der Zeit spiegelt sich die Dialektik zwischen Konkordanz und Diskordanz auf der Ebene der Figur als Dialektik von Selbigkeit und Selbstheit wider. Literarische Texte entwerfen ganz unterschiedliche Typen der Identitätsdarstellung. So wird der Held im Märchen auf seinen Charakter beschränkt, in dem Sinne, dass die beiden Pole der Identität sich so eng überlagern, dass eine Differenzierung unmöglich wird, und dass die Figur sich auf die Identifizierungs- und Reidentifizierungsfunktion des Selben reduzieren lässt. Diese sichert die Stabilität der Figurenidentität, die in der folkloristischen, in der antiken und in der mittelalterlichen Literatur verbreitet ist. Je mehr die Akzentsetzung der Handlung auf der Figur liegt,

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36

Ricœur (Anm. 26), S. 177. Vgl. Ricœur (Anm. 26), S. 174: „Unter Konkordanz verstehe ich jenes Ordnungsprinzip, das dasjenige beherrscht, was Aristoteles ‚Zusammensetzung der Handlungen‘ nennt. Unter Diskordanz verstehe ich diejenigen Wendungen des Schicksals, die die Fabel zu einer geregelten Transformation – von einer Ausgangssituation bis hin zu einer Endsituation – machen“. Jürgen Straub: „Identitätstheorie, empirische Identitätsforschung und die ‚postmoderne‘ armchair psychology“. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1 (2000), S. 167–194, hier S. 173.

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wie etwa im Bildungsroman, desto schwächer wird sowohl die Identifikation des Selben als auch das Verhältnis zwischen der Idem- und der IpseIdentität. Ricœur unterstreicht in diesem Fall eine Umkehrung der Beziehung zwischen der Fabel und der Figur, so dass „im Gegensatz zum Aristotelischen Modell […] die Fabel in den Dienst der Figur gestellt [wird]“.37 Im modernen Roman des 20. Jahrhunderts ist die Figur so stark von Veränderungen betroffen, dass die beiden Pole der Identität sich sehr weit voneinander entfernen können und das Gleichgewicht der Identität dadurch gefährdet wird. Dementsprechend lässt sich die Identifikation des Selben sehr schwer oder sogar nicht mehr realisieren. Die Unmöglichkeit der Reidentifizierung unterminiert die Stabilität und die Kohärenz der Figur. Die Gefährdung der Figurenkonstruktion bewirkt die Konfiguration der Fabelkomposition, so dass der Roman sich von den Ordnungsprinzipien der Fabel befreit und die literarischen Eigenschaften des Essays prägnant aufgreift. Folglich gibt es eine Wechselwirkung zwischen Figurengestaltung und Fabelkomposition,38 da die Konstruktion der Figurenidentität mit der Konstruktion der Handlung korreliert. Mit Ricœur wäre im Anschluss daran zu fragen, was der Identitätsverlust einer Figur ist: Was aber bedeutet hier Identitätsverlust? Genauer: Um welche Modalität der Identität handelt es sich? Meine These besagt: Diese verwirrenden Fälle von Narrativität lassen sich – zurückversetzt in den Rahmen der Dialektik von idem und ipse – neu interpretieren als Entblößung der Selbstheit durch den Verlust der sie unterstützenden Selbigkeit. In diesem Sinne bilden sie den entgegengesetzten Pol zum Helden, der sich durch Überlagerung von Selbstheit und Selbigkeit identifizieren läßt. Was nunmehr unter dem Titel der „Eigenschaft“ verlorengegangen ist, erlaubte zuvor, die Figur mit ihrem Charakter gleichzusetzen.39

Der heuristische Wert von Ricœurs Konzept der ‚narrativen Identität‘ liegt in zwei Aspekten: Folgt man dem skizzierten Modell von Identität, so kann man mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Idem- und Ipse-Identität einerseits das Konzept der Figur näher spezifizieren und andererseits können so Fragen der Identitätsproblematik narratologisch erfasst werden. Mit Hilfe des Konzepts der narrativen Identität lässt sich die Figur nicht als eine bloße Anhäufung von Merkmalen verstehen, sondern als eine narrativ hervorgebrachte Konfiguration, durch die der Figur eine Identität

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Ricœur (Anm. 26) S. 183. Vgl. dazu auch die Untersuchung von Jauß, welcher diese Umkehrung als Veränderung des Verhältnisses zwischen Fabel und Zeit interpretiert, vgl. Jauß (Anm. 9). Vgl. dazu Ricœur (Anm. 26), S. 182: „Die Erzählung konstruiert die Identität der Figur, die man ihre narrative Identität nennen darf, indem sie die Identität der erzählten Geschichte konstruiert. Es ist die Identität der Geschichte, die die Identität der Figur bewirkt“. Ricœur (Anm. 26), S. 184.

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verliehen wird, die sich ihrerseits im Zeichen der Zeitlichkeit entwickelt bzw. ändert. Entsprechend lässt sich festhalten, dass der Fokus auf Zeit zwei der Identität der Figur zugrunde liegende Prinzipien hervorhebt. Zum einen wird die Veränderlichkeit der Figur im Hinblick auf die Beständigkeit in der Zeit nicht auf die Figurenentwicklung – und die meisten Figuren kennen eine mehr oder weniger auffällige Entwicklung – beschränkt, sondern diese Veränderlichkeit wird auf das Verhältnis zwischen den beiden Dimensionen der Identität bezogen. Je nachdem, wie dieses Verhältnis entsteht oder sich entwickelt, kann die Veränderlichkeit der Figur als Stabilität oder Instabilität verstanden werden. Zum anderen sorgt die zeitliche Dimension der Identität für die Versöhnung von Gleichheit und Verschiedenheit, die mit Ricœurs Begriff der „Synthese des Heterogenen“40 gleichzusetzen ist. Und genau in dieser Hinsicht lässt sich das Konzept der narrativen Identität als ein dynamisches Konstrukt verstehen. Dementsprechend bildet die Temporalität die Basis für eine kohärente Einheit der Figurenkonstruktion. Die verschiedenen Hypostasen einer Figur lassen sich nicht lediglich als verschiedene Entwicklungsstadien der Figurenidentität verstehen, sondern auch als Gegenüberstellung zwischen den beiden Polen von Identität und zugleich als Entwicklung des Verhältnisses zwischen den Identitätsdimensionen. Je stärker sich die Entwicklungsphasen der Figur klar voneinander unterscheiden und je unversöhnlicher die Hypostasen erscheinen, desto deutlicher werden die beiden Pole der Identität und desto kräftiger wird zugleich die Spannung zwischen beiden Identitätsdimensionen. Dieses Ungleichgewicht zwischen der Idem- und der IpseIdentität, das sich als Schwanken in Richtung der Ipse-Identität manifestiert, erschwert den Prozess der Reidentifizierung des Selben und gefährdet somit die Stabilität und die Kohärenz der Figur. Hieraus wird ersichtlich, dass das Verhältnis zwischen den Polen der Identität und dessen Entwicklung die Einheit der Figuren grundlegend bedingt. Der Vorteil von Ricœurs Konzept für die Textanalyse liegt im zeitlichen Verständnis der Figur, die eine präzise Figurenbeschreibung in zweierlei Hinsicht ermöglicht: Einerseits erlaubt die narrative Identität die Einheitlichkeit der Figur theoretisch aufzufassen und demzufolge Figuren in Bezug auf ihre Stabilität und Kohärenz zu bewerten. Andererseits trägt die Temporalität der narrativen Identität durch die Gegenüberstellung der zwei Identitätsdimensionen (Idem- und Ipse-Identität) zur Enthüllung der Identitätsproblematik der Figur bei. Zusammenfassend sei folgendes Fazit formuliert: Das Konzept der narrativen Identität beinhaltet eine temporale Dimension, die sich als grund-

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Ricœur (Anm. 26), S. 174.

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legend für das Figurenverständnis erweist. Aus dem dialektischen Verhältnis zwischen den zwei Polen der Identität einerseits und aus der zeitlichen Dimension der narrativen Identität andererseits ergibt sich das heuristische Potential für die Analyse der Figur; ein heuristisches Potential, das mehrere Aspekte der Figurencharakterisierung umfasst: 1. Das Konzept der narrativen Identität ermöglicht ein narratologisches Verständnis verschiedener Identitätsphänomene, die bisher nur anhand philosophischer, psychologischer oder soziologischer Theorien erklärt werden konnten. 2. Die temporale Dimension der narrativen Identität gewährleistet die Kohärenz der Figurenkonstruktion. Die Temporalisierung ermöglicht die Entstehung einer Lebensgeschichte, die zur Konfiguration einer einheitlichen, aber nicht unbedingt stabilen Entität beiträgt. Das bedeutet, dass ein Prozess der Reidentifizierung möglich ist. 3. Die temporale Dimension kann für die Figur identitätsstiftend oder identitätsstörend sein. Je nachdem, welchem Pol sich die Figur nähert, spricht man von einem identitätsstiftenden oder einem identitätsstörenden Effekt. 4. Nicht zuletzt wird dadurch der dynamische Charakter der Figurenkonstruktion deutlich. Dabei wird im Vergleich mit leserfokussierten Ansätzen der Akzent von der Dynamik der Figurenrezeption auf die Dynamik der Konfiguration der Figur durch den Text verlagert. In den Blick rücken damit zugleich verschiedene narrative Techniken. 2. Temporale Identitätskonstruktion in Max Frischs Stiller Die Analyse von Max Frischs Roman Stiller soll zeigen, wie Phänomene der Identitätsproblematik mithilfe eines temporalen Verständnisses von Identität narratologisch besser erfasst werden können. Stiller gilt gemeinhin als ein Roman, in dem der Frage nach der Identität eine zentrale Rolle zukommt. Dies spiegelt sich in jenen Deutungen wider, die Schlagworte wie Selbstflucht,41 Selbstsuche,42 Selbstentfremdung,43 Selbstverwirklichung,44 Rollenspiel,45 Selbstwahl46 usw. in den Fokus rücken.

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42 43 44

Vgl. z. B. Gunda Lusser-Mertelsmann: „Selbstflucht und Selbstsuche. Das ‚Psychoanalytische‘ in Frischs ‚Stiller‘“. In: Walter Schmitz (Hrsg.): Materialien zu Max Frischs ‚Stiller‘. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1978, Bd. II, S. 594–616. Vgl. auch Manfred Jurgensen: Max Frisch. Die Romane. Bern 1976, S. 86. Vgl. z. B. Lusser-Mertelsmann (Anm. 41). Lusser-Mertelsmann (Anm. 41), S. 601. Vgl. z. B. Frederick Alfred Lubich: Max Frisch: ‚Stiller‘, ‚Homo faber‘ und ‚Mein Name sei Gantenbein‘. München 1990, S. 23.

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Der Plot des Romans drängt die Frage nach der Identität seines Helden geradezu auf: Der Protagonist des Romans kehrt unter dem Namen James Larkin White mit einem gefälschten Pass in seine Heimat, die Schweiz, zurück. An der Grenze wird er als der verschollene Anatol Ludwig Stiller erkannt und verhaftet. Während seines Gefängnisaufenthalts werden ein Geständnis über seine wahre Identität sowie die wahre Geschichte über die Zeit seiner Abwesenheit erwartet. Es entspinnt sich aber ein Spiel mit Identitäten, denn bezeichnenderweise beginnt der Roman mit den Worten des Ich-Erzählers: „Ich bin nicht Stiller!“47 Der Protagonist gibt in seinen Aufzeichnungen niemals zu, dass er und Stiller dieselbe Person seien: White sei nicht Stiller. Wenn White und Stiller aber verschiedene Hypostasen derselben Entität darstellen, stellt sich die Frage, ob der Roman eine einheitliche und zugleich kohärente Figur konstruiert oder nicht. Um ein kohärentes Textund Figurenverständnis zu entwickeln, wurde immer wieder auf psychologische und philosophische Erklärungen zurückgegriffen: So wurden beispielsweise die psychologischen Theoriemodelle48 von Sigmund Freud und Carl Gustav Jung sowie die philosophischen existentialistischen Deutungsmuster49 von Søren Kierkegaard, Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre, aber auch theologische Konzepte50 herangezogen. 2.1 Ebenen der Identitätsverunsicherung Die Identitätsproblematik wird in Stiller sowohl auf der Ebene der histoire durch die Geschichte der Figur als auch auf der Ebene des discours durch

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45 46 47 48 49

50

Vgl. z. B. Andreas Schäfer: Rolle und Konfiguration. Frankfurt a. M. 1989, S. 127. Vgl. z. B. Jürgen H. Petersen: Max Frisch: Stiller. Frankfurt a. M. 1994, S. 67. Max Frisch: Stiller. Frankfurt a. M. 1973, S. 9. Alle folgenden Stiller-Zitate nach dieser Ausgabe. Vgl. dazu Gunda Lusser-Mertelsmann: Max Frisch. Die Identitätsproblematik in seinem Werk aus psycho-analytischer Sicht. Stuttgart 1976. Vgl. dazu Helmut Naumann: Max Frischs ‚Stiller‘ oder das Problem der Kommunikation. Rheinfelden 1991. Eine ausschließlich existentialistische Deutung stellt die Arbeit von Doris Kiernan über den Einfluss Martin Heideggers auf die Romane Frischs dar; vgl. Doris Kiernan: Existentiale Themen bei Max Frisch. Die Existenzphilosophie Martin Heideggers in den Romanen ‚Stiller‘, ‚Homo faber‘ und ‚Mein Name sei Gantenbein‘. Berlin 1978. Eine der neueren Studien zu Max Frisch bringt wieder die existentialistische Philosophie in den Vordergrund, vgl. dazu Iris Block: „Dass der Mensch allein nicht das Ganze ist!“ Versuche menschlicher Zweisamkeit im Werk Max Frischs. Frankfurt a. M. 1998. Vgl. dazu die Studie von Jochen Ellerbrock: Identität und Rechtfertigung. Max Frischs Romane unter besonderer Berücksichtigung des theologischen Aspekts. Frankfurt a. M. 1985. Außerdem betont Frederick Alfred Lubich in seiner Untersuchung zu Max Frisch, dass „das religiös gefärbte Nachwort des Staatsanwalts vorwiegend in den 50er Jahren noch ausgesprochen theologische Deutungen“ ausgelöst hat, vgl. dazu Lubich (Anm. 44), S. 13.

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das mimetisch teilweise unzuverlässige Erzählen51 thematisiert. Die Glaubwürdigkeit des homodiegetischen Erzählers wird ständig in Zweifel gezogen, indem die expliziten Behauptungen über sich selbst durch gegensätzliche implizite Mitteilungen unterlaufen werden. Obwohl zu Beginn des Textes Stiller und White als zwei Personen eingeführt werden, wird White von den anderen Protagonisten als der verschollene Stiller erkannt. Einerseits behauptet der homodiegetische Ich-Erzähler ständig, dass er nicht Anatol Ludwig Stiller sei, sondern James Larkin White, und andererseits signalisieren extradiegetische Hinweise, nämlich paratextuelle Signale wie der Titel des Romans (Stiller) und der Titel des ersten Teils des Romans („Stillers Aufzeichnungen im Gefängnis“), dass die Geschichte einer Figur namens Stiller zugeschrieben wird. Die bestehenden Widersprüche zwischen intradiegetischen und extradiegetischen Informationen sind durch Inkonsequenzen auf intradiegetischer Ebene verdoppelt. In Stillers Berichten bleiben die Widersprüche weiter bestehen, so dass der Status der Figurenbehauptungen unentscheidbar bleibt. Die Relativierung der Identität Stillers wird noch durch die Unstimmigkeiten zwischen der expliziten Selbstdarstellung des Erzählers und seiner impliziten Selbstcharakterisierung verschärft. Ebenso relativierend auf die Identität von Stiller wirken die Äußerungen anderer Figuren, indem sie eine korrektive Funktion erfüllen: Alle anderen erkennen White als Stiller wieder. Ganz kontradiktorisch wirkt Stillers/Whites Verhalten den anderen gegenüber, indem er alle Bekannten aus seiner Vergangenheit stets wie Fremde behandelt. Sogar gegenüber seinem Bruder Wilfried Stiller und seiner Frau Julika benimmt er sich, als ob er niemals ein persönliches Verhältnis zu ihnen gehabt hätte. Diese explizite Entfremdung von den anderen drückt eine Distanzierung von der eigenen Vergangenheit aus und zählt demzufolge zu den Relativierungshinweisen. Zur Unterminierung seiner eigenen Position trägt eine en passant spielerisch vorgebrachte Behauptung bei: „Natürlich bin ich Stiller“ (36). Diesem Eingeständnis stehen jedoch betonende Behauptungen gegenüber: „Ich heiße nicht Stiller.“ (13, Hervorhebung, C. L.). Die Schwierigkeiten einer Identitätsbestimmung werden durch Diskrepanzen verstärkt, die zwischen den vom Text gelieferten Informationen zur Figur und den kulturellen Wissensbeständen entstehen. Eine solche Unstimmigkeit findet sich beispielsweise in der Episode über den Zahnarztbesuch, mit dem das siebte Heft anfängt: Die Inkongruenz zwischen Stillers Zahnröntgenaufnahme und dem Gesundheitszustand von Whites Zähnen verhindert eine unbestreitbare Identifizierung von White

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Vgl. dazu Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. und aktual. Aufl. München 2012, S. 99–110.

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als Stiller. Das kulturelle und wissenschaftliche Vorwissen des Rezipienten, welches die Zahnröntgenaufnahme als eines der sichersten Identifizierungsmittel der Person betrachtet, verstärkt die Unentscheidbarkeit seiner Identität. Die Identifizierung von White als Stiller scheint in der Zahnarztbesuch-Episode fast unmöglich zu sein: Nämlich im Hinblick auf den alten Röntgen-Status, den sie in der Kartothek des Vorgängers gefunden haben, kann der junge Zahnarzt es einfach nicht fassen, dass mein Vierer-unten-links noch lebt, meines Erachtens empfindlich genug, auch wenn es auf dem Röntgen-Status (man zeigt mir den Vierer-unten-links, wie ihn der verschollene Stiller hatte) ganz und gar nach einer toten Wurzel aussieht. „Merkwürdig“, murmelt er, „merkwürdig.“ Dann klingelt er dem Fräulein. „Ist das wirklich der Röntgen-Status von Herrn Stiller?“ fragt er. „Sind Sie sicher?“ „Es steht doch drauf – “(318)

Der Text führt das permanente Changieren zwischen der Identifikation beider als eine Person und der Differenz zwischen beiden vor, so unterstreicht Richard Egger: Kurzum, indem der Text den Leser durch verschiedene Verfahren dauernd zur Identifikation mit White antreibt, andererseits aber den Helden – und damit den Leser – in eine unhaltbare Situation stellt, versetzt er den Rezipienten in eine Zwangslage. Dieser kann sich weder auf den einen Standpunkt ausschließlich versetzen noch auf den andern, und doch muß einer wahr sein: Der Leser findet sich im Dilemma.52

Trotz der zahlreichen textuellen Inkongruenzen bezüglich der Identitätsbestimmung lassen sich diese nicht anders interpretieren als eine Relativierung der Identität. Auch in der Forschung kann beobachtet werden, dass White und Stiller als dieselbe Figur betrachtet werden.53 2.2 Temporale Dimensionen von Identität Betrachtet man die Zeitstruktur im ersten Heft des Romans, so wird ersichtlich, dass ein zeitlicher Kontrast zwischen Stillers und Whites Hypostase dargestellt wird. Während die Ereignisse aus Stillers Leben bis zu seiner Flucht mit Zeitangaben versehen sind, fehlen Datierungen für

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Richard Egger: Der Leser im Dilemma. Bern 1986, S. 57. Alle Stiller-Interpretationen sind sich darüber einig, dass Stiller und White unterschiedliche Rollen, Hypostasen oder Entwicklungsstadien derselben Figur darstellen. Im Unterschied zu den Stiller-Interpretationen erweisen sich die Deutungen des Romans Mein Name sei Gantenbein (1964) als ziemlich kontradiktisch im Bezug auf die Figurenidentifizierung, sodass je nach Interpretationsperspektive über eine unterschiedliche Zahl von Protagonisten gesprochen wird.

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Whites Erlebnisse in Amerika. Als ausschlaggebend wirkt auch der Kontrast zwischen der Erzählweise jeder Perspektive: Während Stillers Ereignisse immer im epischen Präteritum erzählt werden, ist in den MexikoGeschichten fast immer das Präsens als Tempus gewählt. Dieses Präsens wird als ein übergreifendes Jetzt verstanden und erlebt, welches die Vergangenheit und demzufolge die naheliegende Wiederholung ausschließt. Sowohl die Datierung bzw. das Fehlen der Datierung als auch die Wahl des Tempus spiegeln die Gegenüberstellung der Identitätsdimensionen und -hypostasen wider: Wird Stiller durch die Vergangenheit konstruiert, so entsteht White in der Gegenwart. Für White erweist sich die Gegenwart als die einzige mögliche und erträgliche Lebensweise. Die Relativierung des Identitätsbegriffs im Roman wird von dem homodiegetischen Ich-Erzähler unterstrichen. Whites/Stillers54 Auffassung vom Leben, die hier als Lebensgeschichte eines Menschen (mit Ricœur gesprochen, als narrative Identität) verstanden wird, wird deutlich während eines Arztbesuches, als der Arzt ihn mit einem Fotoalbum, das als indexikalischer Beweis dient, konfrontiert: „Und mir gegenüber wagen Sie zu behaupten, dass Sie nie in diesem Land gelebt hätten, ja, dass Sie sich ein Leben in unsrer Stadt nicht einmal vorstellen können!“ „Nicht ohne Whisky“, sage ich. „Bitte!“ sagt er, „hier!“ Manchmal versuche ich ihm zu helfen. „Herr Doktor“, sage ich, „es hängt davon ab, was wir unter Leben verstehen! Ein wirkliches Leben, ein Leben, das sich in etwas Lebendigem ablagert, nicht bloß in einem vergilbten Album […]. Daß ein Leben ein wirkliches Leben gewesen ist, es ist schwer zu sagen, worauf es ankommt. Ich nenne es Wirklichkeit, doch was heißt das! Sie können auch sagen: dass einer mit sich selbst identisch wird. Andernfalls ist er nie gewesen! Sehn Sie, Herr Doktor, das meine ich: ein GewesenSein, und wenn’s noch so miserabel war, ja, am Ende kann es sogar eine bloße Schuld sein, das ist bitter, wenn sich unser Leben einzig und allein in einer Schuld abgelagert hat […] Vielleicht ist das Leben, das wirkliche, einfach stumm – und hinterläßt auch keine Bilder, Herr Doktor, überhaupt nichts Totes!…“ […]. „Es hängt wirklich alles davon ab“, sage ich nochmals, „was wir unter Leben verstehen –“ (65 f.).

Aus diesem Gespräch geht hervor, dass White nicht unbedingt leugnet, dass er physisch Stiller ist. Er widerlegt die Annahme, dass die Identität „sozusagen mit Händen zu greifen“ (18) ist, und unterstreicht zugleich, dass die Identität nicht in faktischen Daten erfasst werden kann. Zugleich

____________ 54

Nachfolgend wird jeweils die Abkürzung Stiller/White oder White/Stiller verwendet, der erstgenannte Name bezeichnet dabei die Perspektive der Figur. Diese Schreibweise soll sowohl den Wechsel der Perspektive unterstreichen als auch hervorheben, aus welcher Sicht die Geschichte dargestellt wird.

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betont White/Stiller, dass das Leben und ebenso der Mensch sich nicht auf eine materielle Dimension reduzieren lassen. Aus seiner Kritik an dem Lebensverständnis lässt sich entnehmen, dass White/Stiller eine Auffassung von Identität als bloße Idem-Identität missbilligt. Aus der Perspektive der Zeitlichkeit lässt sich die Einheit des Lebens als eine Geschichte rekonstruieren. Diese Lebensgeschichte festigt diejenigen Eigenschaften und Gewohnheiten, welche die Wiedererkennung der Person erlauben. Dementsprechend wirkt die Lebensgeschichte kohärenzfördernd auf die Identität. „Die Identitätsproblematik ist deshalb nicht nur eine Frage der Psychologie […], nicht nur eine Frage der modernen Sprachkrise, sondern auch eine von Geschichte im weitesten Sinn.“55 Deshalb lässt sich das Verwirrspiel mit Identitäten in diesem Text als Verwirrspiel mit Geschichten ausdrücken und erkennen. Aber genau dieses Spiel mit Geschichten unterminiert die Einheit und die Kohärenz der Identität und schafft denjenigen stabilen und wiedererkennbaren Kern ab, auf dem die Idem-Identität beruht. Ebenso identitätsstörend wirkt auch die Geschichte des erzählenden bzw. schreibenden Ich, welche voll von signifikanten Leerstellen (wie etwa widersprüchlichen Informationen oder auch dem Fehlen von Datierungen) ist und daher die Identitätsbestimmung der Figur und zugleich die Kohärenz der Identitätskonstruktion verhindert. Zahlreiche Ironiesignale weisen darauf hin, dass der Prozess der Identitätsbestimmung stark an die physischen Bestandteile der Identität gebunden ist. Deshalb versuchen die anderen Figuren, Stiller nach materiellen Beweisen, wie Fotos und physischen Merkmalen, zu identifizieren. Aber genau diese Art des Wiedererkennens deutet darauf hin, dass die Indizien nur Elemente der Idem-Identität darstellen. Für die anderen lässt sich die Identität von Stiller auf diese Idem-Identität beschränken, weil die Idem-Identität als der einzig gültige Orientierungspunkt für den Wiedererkennungsprozess fungiert: Man kann alles erzählen, nur nicht sein wirkliches Leben; – diese Unmöglichkeit ist es, was uns verurteilt, zu bleiben, wie unsere Gefährten uns sehen und spiegeln, sie, die vorgeben, mich zu kennen, sie, die dich als meine Freunde bezeichnen und nimmer gestatten, dass ich mich wandle, und jedes Wunder (was ich nicht erzählen kann, das Unaussprechliche, was ich nicht beweisen kann) zuschanden machen – nur um sagen zu können: „Ich kenne dich“. (64)

Eigentlich erfolgt im Text die Rekonstruktion der Vergangenheit Stillers nicht durch den Bericht von Stiller/White, sondern ausschließlich durch die Perspektive der anderen Figuren. Die Vergangenheit erweist sich als die Zeit, welche unwiderlegbare Beweise für die Identifikation der Person

____________ 55

Iris Denneler: Von Namen und Dingen. Würzburg 2001, S. 61.

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liefern kann; deshalb wird diese Zeit als Quelle und zugleich als Synthese der Idem-Identität betrachtet. Aus Julikas Perspektive erfährt der Rezipient von Stillers Ehezeit und von seinem Verhalten gegenüber seiner Frau. Aus der Perspektive Rolfs, des Staatsanwaltes, werden weitere Informationen aus Stillers Vergangenheit erzählt, wie etwa dessen Affäre mit Sibylle, Rolfs Ehefrau. Eine andere Sicht auf Stiller bietet Sibylles Bericht, der eine Vielzahl von Einzelheiten liefert. Es lässt sich festhalten, dass sich die Rekonstruktion der Vergangenheit Stillers aus mehreren mosaikartigen Erzählperspektiven herauskristallisiert und sukzessive zusammensetzt, ohne dass aber jemals Stillers/Whites eigene Perspektive daran beteiligt wäre. White wird immer als Hörer dieser Geschichten vorgestellt und er verhält sich dazu wie ein Fremder, der zum ersten Mal von den Ereignissen erfährt. White/Stiller entzieht sich demzufolge der eigenen Vergangenheit und der eigenen Lebensgeschichte, sodass ein Entfremdungseffekt entsteht. Im Gegensatz dazu wird White immer aus der eigenen Perspektive dargestellt, ohne dass eine andere Figur an der Gestaltung Whites teilnimmt. Aus diesem Perspektivenwechsel ergibt sich eine Distanzierung zwischen den Identitätshypostasen, die ein der Identität zugrunde liegendes Ungleichgewicht hervorhebt und es zugleich potenziert. Die Identitätshypostasen überlagern sich in diesem Roman mit unterschiedlichen Zeitphasen, so dass der Name ‚Stiller‘ für die Erzählung der Vergangenheit verwendet wird, während der Name ‚White‘ ausschließlich für die Darstellung der Figur in der Gegenwart gebraucht wird. Die Zeitperspektive verursacht und erhöht die zwischen den Identitätsdimensionen entstandene Distanz. Wie skizziert, erfolgt die Rekonstruktion der Vergangenheit durch einen ständigen Wechsel der Perspektiven. So wird der Standpunkt Julikas in Heft II, Rolfs in Heft IV und Sibylles in Heft VI dargelegt. Schaut man sich die Konstruktion der einzelnen Hefte genauer an, lässt sich ein andauernder und abrupter Wechsel des Standpunktes erkennen. Die Sprunghaftigkeit und die Unvorhersehbarkeit des Perspektivenwechsels führen zur Etablierung eines Phänomens, das Naumann als „perspektivische Brechung“56 bezeichnet. Sehr oft ist diese „perspektivische Brechung“ sogar optisch durch eine Leerzeile markiert: „Der Wechsel von erzählenden und protokollierenden Tagebuchheften ist also zugleich ein Wechsel der Standorte; in ihnen ist jedes Wort perspektivisch gebrochen. So können Aussagen über dasselbe aufeinander folgen, die sich im Kern widersprechen.“57

____________ 56 57

Naumann (Anm. 49), S. 142. Naumann (Anm. 49), S. 145.

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Die Ablehnung der eigenen Identität lässt sich präziser mithilfe des Konzeptes der narrativen Identität begreifen: Stiller erkennt sich nicht in seiner eigenen Vergangenheit, die wie eine fremde Hypostase wahrgenommen und demzufolge auch als fremd dargestellt wird. Stiller verkörpert die Vergangenheit, ein altes Stadium der Entwicklung der Identität, das nicht mehr der Gegenwart entspricht. In der von Stiller vertretenen Hypostase kristallisiert sich der Inbegriff der Idem-Identität heraus, welche die Wiederholung impliziert. Und genau in diesem Sinne lässt sich auch die Angst vor Wiederholung verstehen, die White/Stiller offen erklärt: Meine Angst: die Wiederholung – ! […] Wiederholung! Dabei weiß ich: alles hängt davon ab, ob es gelingt, sein Leben nicht außerhalb der Wiederholung zu erwarten, sondern die Wiederholung, die ausweglose, aus freiem Willen (trotz Zwang) zu seinem Leben zu machen, indem man anerkennt: Das bin ich!… Doch immer wieder (auch darin die Wiederholung) genügt ein Wort, eine Miene, die mich erschreckt, eine Landschaft, die mich erinnert, und alles in mir ist Flucht, Flucht ohne Hoffnung, irgendwohin zu kommen, lediglich aus Angst vor Wiederholung – (69).

Diese Perspektive der gespenstigen Wiederholung (und implizit der Vergangenheit) wirkt beängstigend auf das Ich, welches sich folglich rückhaltlos der Veränderung gegenüber öffnet. Die Wiederholung setzt einerseits eine Verankerung in der Vergangenheit und zugleich eine Verfestigung in einem unwandelbaren Kern voraus und andererseits die Wiederkehr eines etablierten Modells, welches die Originalität der Lebensgeschichte abschafft und demzufolge das Ich in einer unterscheidungslosen Reihenfolge von Identitäten einschließt: Dass ich meine Mordinstinkte nicht durch C. G. Jung kenne, die Eifersucht nicht durch Marcel Proust, Spanien nicht durch Hemingway, Paris nicht durch Ernst Jünger, die Schweiz nicht durch Bernanos und mein Nie-Ankommen nicht durch Kafka und allerlei Sonstiges nicht durch Thomas Mann, zum Teufel, wie soll ich es meinem Verteidiger beweisen? Es ist ja wahr, man braucht diese Herrschaften nie gelesen zu haben, man hat sie in sich durch seine Bekannten, die ihrerseits auch bereits in lauter Plagiaten erleben. (186)

Die Lebensgeschiche besteht also aus Wiederholungen nicht nur eigener Erfahrungen, sondern auch fremder Erfahrungen, so dass „[d]ie Lebensgeschichte […] sich […] als Palimpsest aus präfigurierten Geschichten [darstellt]“.58 Betrachtet man die Lebenseinheit als eine Konstruktion aus ähnlich wiederkehrenden Elementen, so lässt sich die Identität als ein Fraktal entfalten, das die Erkennung des Ganzen durch die Identifizierung eines Teils ermöglicht. Genau dieser Gefahr, welche die Geschichte mitbringt, nämlich der Wiederholung eines Modells, möchte sich White

____________ 58

Denneler (Anm. 55), S. 53.

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entziehen. In diesem Sinne lässt sich auch seine Flucht, seine Selbstverweigerung verstehen. Die Gegenüberstellung der zwei Identitätsdimensionen wird auch durch die Problemstellung der Identität hervorgehoben: Während die anderen sich für die Was-Frage interessieren, ist White/Stiller immer mit der Wer-Frage beschäftigt.59 Obwohl Stiller/White von den anderen ununterbrochen mit derselben Frage nach seiner Identität konfrontiert wird, ergibt sich aus den ständigen Verhören keine erklärende Antwort, zumindest nicht für die Behörden. Der Verteidiger sucht genaue und unwiderlegbare Anhaltspunkte wie Namen, Orts- und Zeitangaben, damit er die Identität seines Mandanten bestimmen kann und anhand derer er Stiller verteidigen kann. Im Unterschied dazu beharrt White darauf, abgesehen von diesen faktischen Beweisen seine Identität auf andere Weise festzulegen. Die zwei Identitätsauffassungen verdeutlichen die bestehenden Spannungen, die sowohl die Innerlichkeit der Figur als auch das Verhältnis zwischen White/Stiller und den anderen beherrschen. Die mit der Zeit entstandenen Veränderungen bilden die für die Identität spezifische Verschiedenheit, welche nicht mehr von der Idem-Identität assimiliert werden konnten. Zwischen den zwei Polen der Identität reißt demzufolge eine unüberbrückbare Kluft auf. Das entstandene Ungleichgewicht zwischen den Identitätspolen führt zur Auflösung des Charakters in dem Sinne, dass die Ipse-Identität die Unterstützung der Idem-Identität verliert. Deshalb bleibt die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ leer. Stiller/White fühlt sich selbst konfus und verweigert dem Anderen jedes Mitwirken an der Selbstkonstruktion: Ich bin nicht Stiller. Was wollen sie von mir! Ich bin ein unglücklicher, nichtiger, unwesentlicher Mensch, der kein Leben hinter sich hat, überhaupt keines. Wozu mein Geflunker? Nur damit sie mir meine Leere lassen, meine Nichtigkeit, meine Wirklichkeit, denn es gibt keine Flucht, und was sie mir anbieten, ist Flucht, nicht Freiheit, Flucht in eine Rolle. Warum lassen sie nicht ab? (49)

Weiter gibt Stiller/White zu, dass er selbst keine zufriedenstellende Antwort auf die Frage nach seiner eigenen Identität finden kann: Umsonst versuche ich ihm klarzumachen, dass ich die volle und ganze Wahrheit selber nicht weiß, andererseits auch nicht gewillt bin, mir von Schwänen oder Stadträten beweisen zu lassen, wer ich in Wahrheit sei, und dass ich jedes weitere Album, das er in meine Zelle bringt, auf der Stelle zerreißen werde. Umsonst! Mein Verteidiger will es sich nicht aus dem Kopf schlagen, dass ich Stiller zu sein habe, bloß damit er mich verteidigen kann, und nennt es alberne Verstellung, wenn ich mich dafür wehre, niemand anders als ich selbst zu sein. Wieder endet es mit gegenseitiger Brüllerei.

____________ 59

Nach Ricœur antwortet die Selbigkeit auf die Was-Frage und die Selbstheit auf die WerFrage; vgl. dazu Ricœur (Anm. 26), S. 173–206.

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„Ich bin nicht Stiller!“ brülle ich. „Wer denn“, brüllt er, „wer denn?“ (67, Hervorhebung C. L.)

Das Fehlen einer Antwort auf die Wer-Frage wiederholt sich durchgehend, so dass es sich wie ein Leitmotiv durch den gesamten Roman zieht. Diese Antwortlosigkeit verbirgt eine Sprachlosigkeit, welche ihrerseits die Leere der Identität enthüllt. Diese Leere wird sowohl auf der Ebene der histoire durch die angesprochene Antwortlosigkeit als auch auf der Ebene des discours durch die nach der Wer-Frage wiederkehrende Leerzeile widergespiegelt. „Die Leere als das Einzigwirkliche“ (85) wird einerseits durch den Verlust eines in der Idem-Identität enthaltenen substantiellen Kerns verursacht und andererseits durch die Unfähigkeit, eine „unhintergehbare Konstante des Selbst“60 festzuhalten, erweitert und vertieft. Indem Stiller/White dem Anderen seine Rolle zur Konstitution des Selbst verweigert, wird seine Identität aufgehoben. Die im Roman offen gebliebene Antwort auf die Wer-Frage weist auf die suspensive Identitätsgestaltung hin, auf die unüberbrückbare Spaltung der Identitätseinheit, auf die Auflösung der Kohärenz, welche eigentlich das zwischen den Identitätsdimensionen entstandene Ungleichgewicht ausdrückt. Die zeitliche Perspektive wirkt im Fall dieser Figur als identitätsstörend. Abschließend sei noch einmal betont, dass der Identitätskonflikt der Figur im Text als Gegenüberstellung der zwei Pole der Identität dargestellt wird. Das temporale Verständnis der Figurenidentität liegt der kohärenten Gestaltung der Figur zugrunde und ermöglicht den Prozess der Wiedererkennung. Nur durch die zeitliche Perspektive kann White als Stiller identifiziert werden und zugleich bietet nur die zeitliche Perspektive die Hypostasierung der Identitätsdimensionen. Die explizite Gegenüberstellung der Identitätspole veranschaulicht das Ungleichgewicht, welches die Identität Stillers grundlegend bestimmt. Das zwischen den Identitätsdimensionen entstandene Ungleichgewicht bildet die Basis für die verschiedenen Phänomene der Identitätsproblematik wie Ichsuche, Ichflucht, Identitätskrise, Selbstentfremdung etc. Betrachtet man die Figurengestaltung als eine temporale Konfiguration – als narrative Identität –, so erweist sich die Identitätsproblematik als die Veranschaulichung des Verhältnisses der beiden Bestandteile der Identität, nämlich der Idem- und der Ipse-Identität. Wie dieses Verhältnis sich entwickelt, lässt sich von Text zu Text unterschiedlich exemplifizieren. Entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den Identitätsdimensionen, wie es bei Stiller der Fall ist, so lässt sich feststellen, dass dieses narrative Gerüst der Figurenkonfiguration mit unterschiedlichen semantischen Informationen ausgefüllt wird. Dementsprechend kann das Verständnis solcher Identi-

____________ 60

Inga Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur. Dordrecht 2010, S. 381.

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tätsphänomene sowohl mit philosophischen als auch mit psychologischen oder theologischen Erklärungen angereichert werden. Für eine literaturwissenschaftliche Auffassung der Figurengestaltung erweist sich aber die Beachtung und die Analyse der narrativen Konfiguration als erforderlich, indem die narratologische Perspektive grundlegende Erläuterungen zur Figurenentwicklung bereitstellt. Das Konzept der narrativen Identität und die dazugehörenden Bestandteile, die Selbigkeit und die Selbstheit, erweisen sich somit als heuristische Konzepte, die narrative Konfiguration der Figur besser erfassen lassen. Literatur Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008. Barthes, Roland: S/Z. Frankfurt a. M. 1976. Block, Iris: „Dass der Mensch allein nicht das Ganze ist!“ Versuche menschlicher Zweisamkeit im Werk Max Frischs. Frankfurt a. M. 1998. Denneler, Iris: Von Namen und Dingen. Würzburg 2001. Egger, Richard: Der Leser im Dilemma. Bern 1986. Ellerbrock, Jochen: Identität und Rechtfertigung. Max Frischs Romane unter besonderer Berücksichtigung des theologischen Aspekts. Frankfurt a. M. 1985. Frisch, Max: Stiller. Frankfurt a. M. 1973. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998. Greimas, Algirdas Julien: Strukturale Semantik. Methodologische Untersuchungen. Braunschweig 1971. Jannidis, Fotis: Figur und Person. Beitrag zu einer historischen Narratologie. Berlin/New York 2004. Jauß, Hans Robert: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans [1955]. Heidelberg 1970. Jurgensen, Manfred: Max Frisch. Die Romane. Bern 1976. Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Hamburg 1998. Kiernan, Doris: Existentiale Themen bei Max Frisch. Die Existenzphilosophie Martin Heideggers in den Romanen ‚Stiller‘, ‚Homo faber‘ und ‚Mein Name sei Gantenbein‘. Berlin 1978. Lubich, Frederick Alfred: Max Frisch: ‚Stiller‘, ‚Homo faber‘ und ‚Mein Name sei Gantenbein‘. München 1990. Lusser-Mertelsmann, Gunda: Max Frisch. Die Identitätsproblematik in seinem Werk aus psycho-analytischer Sicht. Stuttgart 1976. Lusser-Mertelsmann, Gunda: „Selbstflucht und Selbstsuche. Das ‚Psychoanalytische‘ in Frischs ‚Stiller‘“. In: Walter Schmitz: Materialien zu Max Frischs ‚Stiller‘. 2 Bde. Frankfurt a. M. 1978, Bd. II, S. 594–616. Mann, Thomas: Der Zauberberg. Hrsg. und textkritisch durchgesehen von Michael Neumann. Frankfurt a. M. 2002. Martínez, Matías: „Figur“. In: Ders. (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 145–150.

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Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. u. aktual. Aufl. München 2012. Naumann, Helmut: Max Frischs ‚Stiller‘ oder das Problem der Kommunikation. Rheinfelden 1991. Petersen, Jürgen H.: Max Frisch: Stiller. Frankfurt a. M. 1994. Pfister, Manfred: Das Drama. Theorie und Analyse [1977]. München 112001. Propp, Vladimir: Morphologie des Märchens [1928]. Frankfurt a. M. 1972. Ricœur, Paul: „Narrative Identity“. In: Philosophy Today 35, S. 73–80. Ricœur, Paul: Zeit und Erzählung [1983–1985]. 3 Bde. München 1988–1991. Ricœur, Paul: Das Selbst als ein Anderer. München 1996. Römer, Inga: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur. Dordrecht 2010. Schäfer, Andreas: Rolle und Konfiguration. Frankfurt a. M. 1989. Schneider, Ralf: Grundriß zur kognitiven Theorie der Figurenrezeption am Beispiel des viktorianischen Romans. Tübingen 2000. Schulz, Armin: Erzähltheorie in mediävistischer Perspektive. Hrsg. von Manuel Braun, Alexandra Dunkel und Jan-Dirk Müller. Berlin/Boston 2012. Störmer-Caysa, Uta: Grundstrukturen mittelalterlicher Erzählungen. Raum und Zeit im höfischen Roman. Berlin/New York 2007. Straub, Jürgen: „Identitätstheorie, empirische Identitätsforschung und die ‚postmoderne‘ armchair psychology“. In: Zeitschrift für qualitative Bildungs-, Beratungs- und Sozialforschung 1 (2000), S. 167–194. Werner, Lukas: „Zeit“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 150–158.

III.b Erzählerische Dimension: Vermittlungsinstanzen und Perspektivierung

ARMEN AVANESSIAN/ANKE HENNIG (Berlin)

Tempus – Fiktion – Narration. Kevin Vennemanns Erzählen im Präsens 1. Tempus – Fiktion – Narration 319 – 1.1 Vergegenwärtigung und Asynchronie 321 – 1.2 Bipolarität als methodische Konsequenz 323 – 1.3 Kritik der Narration: Gérard Genette 324 – 2. Kevin Vennemanns Präsensroman „Nahe Jedenew“ 332

1. Tempus – Fiktion – Narration Wir wollen die Frage nach dem Erzählen und der Zeit, nach dem literarischen Erzählen von Zeit, mit Blick darauf stellen, was die Sprache vor anderen Medien künstlerischer (Zeit-)Darstellung auszeichnet. Einzig der Sprache ist ein voll entwickeltes Ausdrucksmittel in Form des grammatischen Tempussystems eigen. Auf dieser fundamentalen Ebene sind sowohl überraschende Einsichten in erzähltheoretische Desiderate als auch zentrale Erkenntnisse über die Zeitkunst des Erzählens zu erwarten. Wir werden sehen – und der Titel unseres Aufsatzes nimmt darauf Bezug –, inwiefern das auch eine systematische Erweiterung zeitnarratologischer Fragestellungen um eine fiktionstheoretische Komponente erfordert. Die Frage nach dem Tempus Präsens ist dafür nicht eine unter anderen und bezieht sich zudem nicht nur auf Eigenschaften des Präsens als solches. Entscheidend ist vielmehr die Entdeckung des Präsens als ein zweites vollgültiges Erzähltempus. Damit ist nicht in erster Linie eine Abweichung von traditionellem Erzählen im Präteritum angesprochen, sondern die Einsicht in eine grundsätzlich zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem changierende Bipolarität aller erzählten Fiktion. Ein Nachdenken über die Tempora literarischen Erzählens fordert eine Neubestimmung von ‚Erzählfiktion‘ oder ‚fiktionalem Erzählen‘. Erst mit einem selbstverständlichen Erzählen im Präsens, erst mit der Etablierung des vollgültigen Phänomens eines Präsensromans werden ‚Erzählen‘ und ‚Fiktion‘ als ebenso untrennbare wie jeweils verschieden gewichtete Pole verstehbar. Die Geschichte der Präsensprosa beginnt unbemerkt mit avantgardistischen Faktographien und Inneren Monologen. Sie wird in Präsensromanen neusachlicher Tradition unauffällig fortgeführt und mit ausla-

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Armen Avanessian/Anke Hennig

denden nihilistischen Gesten im Umkreis des nouveau roman weitergeschrieben (Beispiele hierfür sind ich-erzählte Texte von Samuel Beckett oder von Peter Weiss). In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts erobert das Präsens das Terrain der Er-Erzählung. Zuletzt gelingt es ihm, Gegenwart in einer Weise zu differenzieren, die eine Ungleichzeitigkeit in dieser erfahrbar macht. Zeitschichten schneiden in diese Gegenwart und es entsteht ein Präsens der Vergangenheit, wie in den Geschichtsromanen Claude Simons, Thomas Pynchons oder Hubert Fichtes. Erst mit diesen Romanen wird eine Verschiebung der Tempusdominante vom Präteritum zum Präsens offenkundig. Diese blieb so lange verdeckt, als sich nicht nur die frühesten Präsenstexte beispielsweise als faktographische Antiromane, sondern auch die nachfolgenden ersten Präsensromane erst einmal dezidiert als antifiktional oder antinarrativ verstanden. Das Präsens lernt nur langsam, Fiktion zu erzeugen und Vergangenheit zu erzählen. Und es tut dies nicht mehr, indem es Vergangenheit vergegenwärtigt, sondern indem es – wie wir sehen werden – eine nie Gegenwart gewesene, imaginäre ‚vergangene Vergangenheit‘ konstruiert. Damit tritt ein Mechanismus von Asynchronie in Kraft, bei dem die fiktionale Dimension der Narration stärker im Vordergrund steht als in der retrospektiven Erzählfiktion. In diesem Sinne wollen wir von einer historischen Dominantenverschiebung in den Verhältnissen zwischen Narration und Fiktion sprechen: der Fortentwicklung der Erzählfiktion zu einem Fiktionserzählen. Um die entsprechenden methodischen Implikationen zu entfalten, bedarf es – im ersten Abschnitt unseres Aufsatzes – einer Diskussion und in Teilen einer Revision narratologischer Ansätze (vor allem demjenigen Gérard Genettes). An Kevin Vennemanns Roman Nahe Jedenew (2005) werden wir – im zweiten Abschnitt – sehen, inwiefern die gegenwärtigen Präsensfiktionen auch jenes geordnete kommunikative Erzählgefüge von Erzähler, Protagonist und Leser verschieben, das wir an traditionellem Erzählen erzähltheoretisch zu analysieren gewohnt sind. Die Literaturgeschichte des Präsensromans involviert somit auch die Geschichtlichkeit von Begriffen wie ‚Narration‘, ‚Geschichte‘, ‚Fiktion‘, ‚Gegenwart‘. Im Spannungsfeld dieser Begriffe gewinnt das Präsens Profil, wird verkannt oder eben in Anspruch genommen. Schließlich transformiert der Präsensroman dieses Feld sogar grundsätzlich. Narratologie und Fiktionstheorie müssen zusammengedacht werden, denn nur so wird deutlich, inwiefern die Konstellationen von Fiktion und Tempus literaturhistorisch verschieden sind.

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1.1 Vergegenwärtigung und Asynchronie Der Zusammenhang von Fiktion, Narration und Tempus ist bisher in keiner umfassenden Theorie geklärt. Zumindest aber gibt es einen fiktionstheoretischen Ansatz, auf den wir zur Klärung des Verhältnisses von Tempus und Fiktion zurückgreifen können, nämlich die Überlegungen Käte Hamburgers. Zwar hat Hamburger nur die fiktionsstiftende Funktion des epischen Präteritums analysiert, aber der methodische Wert ihrer Überlegungen besteht unserer Ansicht nach darin, mit ihrer tempusstrukturellen Definition von Fiktion zugleich einen Mustergegenstand entworfen zu haben, die „Vergegenwärtigung“.1 Neben dieser fiktionalen ‚Vergegenwärtigung‘ im epischen Präteritum muss also auch ein entsprechender Mechanismus für präsentisches Erzählen aufgefunden werden: mit der (vom narrativen Präsens geschaffenen) ‚Asynchronie‘ lässt sich dann der gesuchte Zusammenhang von Fiktion, Narration und Tempus bestimmen. Die vergegenwärtigende Bedeutung des epischen Präteritums ergibt sich erst aus ihrem Zusammenwirken mit der retrospektiven Narration, nicht schon aus der aktualen Zeitform der Fiktion selbst.2 Und je nachdem, ob der erzähl- oder der fiktionstheoretische Aspekt dominiert, bilden sich zwei unterschiedliche, ‚fiktionsnarratologisch‘3 ermittelbare Dominanzen. Entweder zeigt sich die aus dem traditionellen Roman bekannte erzählfiktionale Matrix, die im Präteritum ‚Vergegenwärtigung‘ hervorbringt (Narration–Fiktion–Präteritum) oder im Präsens stellt sich eine ‚Asynchronie‘ her (Fiktion–Narration–Präsens), die eine fiktionserzählende Ordnung repräsentiert, deren schrittweise Etablierung wir an anderer Stelle im Detail beschrieben haben.4 Die beiden Begriffsfelder von ‚Vergegenwärtigung‘ und ‚ Asynchronie‘ sind zunächst einzeln zu erläutern:

____________ 1 2 3

4

Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 2., stark veränd. Aufl. Stuttgart 1968, S. 59–72. Speziell im Kapitel „Die Zeitlosigkeit der Fiktion“ bestimmt Käte Hamburger die Zeitform der Fiktion ohne Rücksicht auf ihre narrative Erscheinungsform als zeitlos (Hamburger [Anm. 1], S. 71–84). Schon Matías Martínez und Michael Scheffel nehmen, mit Hinweis auf den empirischen Synkretismus der beiden Methoden, einen synthetischen Gegenstand ‚fiktionaler Narratologie‘ an, vgl. Matías Martínez/Michael Scheffel: „Narratology and Theory of Fiction: Remarks on a Complex Relationship“. In: Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Hrsg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin/New York 2003, S. 221–237, hier S. 221. Monika Fludernik geht sogar von einer wechselseitigen Steigerung von Narrativität und Fiktionalität aus, vgl. Monika Fludernik: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London/New York 1996, S. 38 ff. Vgl. dazu das erste Kapitel „Der Präsensroman“ in: Armen Avanessian/Anke Hennig: Präsens. Poetik eines Tempus. Zürich 2012, S. 21–101.

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Armen Avanessian/Anke Hennig

1) Vergegenwärtigung: Die Vergegenwärtigung ist in der klassischen Erzählfiktion eine bestimmte Zeitfiguration des epischen Präteritums. Käte Hamburger zufolge ist die Kombination von Zukunftsadverb und imperfektem Verb („morgen war“) untrügliches Fiktionsindiz personalen Erzählens. Das im Imperfekt Erzählte wird durch den Leser fiktional vergegenwärtigt. Das bedeutet aber zugleich: Das Vergangene ist in der Vergegenwärtigung gegenwärtig und eben nicht vergangen. Nicht zuletzt aufgrund dieser aktualisierenden Wirkung des epischen Präteritums erscheint die Vergangenheit somit niemals als solche, wie es die implizite Programmatik traditionellen Erzählens doch eigentlich verlangt. Als globale Zeitfiguration des Romans steht die Vergegenwärtigung zudem in narrativen Funktionszusammenhängen, in denen sie die Gestalt einer Schleife annimmt: Die erzählende Rekonstruktion eilt den Momenten eines prospektiven Geschehensverlaufs voraus, um sie rückwirkend zu vergegenwärtigen. Darüber hinaus hat die erzählfiktionale Zeitfiguration zeitphilosophische Implikationen. Ver-Gegenwärtigung impliziert die Gleichzeitigkeit einer Vergangenheit mit der Gegenwart, die sie einmal gewesen ist. In der Vergegenwärtigung verteilen sich die beiden fiktionsnarratologisch relevanten Pole auf eine Weise, die wie folgt beschrieben werden kann: Der Zeitpol der Vergangenheit geht im Zeitpol der Gegenwart auf. 2) Asynchronie: Wie unterscheidet sich davon die für den Präsensroman der letzten Jahrzehnte typische ‚Ungleichzeitigkeit‘? In einer asynchronen, ungleichzeitigen Gegenwart ist jedem gegenwärtigen Moment ein ihm vorhergehender gleichzeitig. Das vorhergehende Moment (Anteriorität) differenziert eine jede vermeintlich sich selbst gegenwärtige Präsenz und unterminiert damit die metaphysische Setzung einer sich selbst präsenten Gegenwart. Und weil dieses (sich-)vorhergehende Moment immer un-gegenwärtig bleibt, wird es als Spaltung in die Gegenwart selbst eingeführt. Bei der Asynchronie handelt es sich um die avancierteste Zeitfiguration des Präsensromans. In ihr verbinden sich die Aktualität der Fiktion und die Retrospektion der Narration unter einer Dominanz der Fiktion. Das asynchrone Präsens bringt ein anteriores Moment an der Gegenwart der Fiktion und ein inaktuelles Moment an der narrativen Retrospektion zur Entfaltung. Zugleich gibt die Zeitfiguration der Asynchronie eine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit eines Erzählens von Vergangenheit: Erzählen ist – vergangen.

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1.2 Bipolarität als methodische Konsequenz Die in den beiden Zeitfigurationen der Vergegenwärtigung und der Asynchronie sichtbare ‚Bipolarität‘ betrifft nicht nur die Pole von Vergangenem und Gegenwärtigem. Auf einer phänomenalen Ebene ist sie auch für den Tempusgebrauch der Romane gültig. Denn kaum je finden sich Texte ausschließlich im Präteritum oder Präsens. Erst vor diesem Hintergrund erweist sich Asynchronie als eine der Vergegenwärtigung komplementäre Zeitfiguration, die ‚nur‘ durch jeweils verschiedene Dominanzen unterschieden wird. Diese Dominanzen betreffen allerdings nicht nur die jeweiligen Tempora, die uns für eine erste Dominantenverschiebung interessieren, sondern auch den Pol der Narration bzw. den Pol der Fiktion. Das Primat des narrativen bzw. fiktionalen Aspekts zeigt sich nämlich auch in der oben kurz skizzierten Geschichte des Präsensromans. Wir beobachten eine literaturhistorische Verschiebung von einer Dominanz des Erzählens in den erzählfiktionalen Romanen des 19. Jahrhunderts zu einer Dominanz der Fiktion in den Präsensromanen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Das ist jedoch, wie bereits erwähnt, nicht ohne methodische Nachjustierungen erkennbar – denn für die uns interessierenden Phänomene gilt in besonderem Maße, dass sie nicht einfach im Material, also Präsenstexten, deutungsfrei sichtbar sind. Ganz im Gegenteil:5 Erste Präsenstexte geben sich, wie gesagt, beispielsweise als faktographische Antiromane, die darauf folgenden ersten Präsensromane verstehen sich lange auch selbst als antifiktional oder antinarrativ. Mit Bezug auf die beiden hier angewendeten Methoden (also Narrationstheorie und Fiktionstheorie) tritt das Präsens der Asynchronie erst nach dem Vollzug der zweiten Dominantenverschiebung (von einem Übergewicht des erzählenden Pols zu einem Übergewicht des fiktionalen Pols) offen zutage.

____________ 5

Aus literaturhistorischer Sicht ist eher festzuhalten: Der Tempuswechsel vom Präteritum zum Präsens geht zunächst nicht mit einem Systembruch einher. Zwar vermeiden die faktographischen Texte das (fiktionale) epische Präteritum und verwenden stattdessen ein dokumentarisches Präsens, dieses aber genau in dem Sinne, in dem etwa Harald Weinrich seine Funktion bestimmt hat, nämlich als besprechendes und nicht als erzählendes Präsens. Weinrich teilt die Tempora in zwei Gruppen ein, einerseits diejenige des Besprechens (hierfür stehen neben dem Präsens auch die Tempusformen Perfekt, Futur I und Futur II), andererseits die des Erzählens (zu der neben dem Präteritum auch Plusquamperfekt, Konditional I und Konditional II gehören), wobei man „innerhalb der besprochenen Welt das Tempus Präsens und innerhalb der erzählten Welt das Tempus Präteritum als die jeweiligen NullTempora oder als merkmallos bezeichnen“ kann, weil sie jeweils das Verhältnis von Aktzeit und Sprechzeit offen lassen (Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6., neu bearb. Aufl. München 2001, S. 76). In den avantgardistischen Faktographien behält das dokumentarische Präsens seine besprechende Funktion. Die Definition der für das 19. Jahrhundert erzähl- und fiktionstheoretisch gültigen Werte bleibt somit gleich. Was sich ändert, sind nur deren Vorzeichen, d. h. ihr ästhetischer Wert.

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Es wäre falsch, das Präsens ausschließlich im Zusammenhang mit dem Phänomen des Präsensromans zu betrachten. Aus einer solchen Perspektive muss es lediglich als ein Bruch mit der erzählfiktionalen Matrix des 19. Jahrhunderts aufscheinen. Der Roman zeigt jedoch lange vor den klaren Präsensformen (Faktographie, Innerer Monolog, Präsensroman) ein Präsens ungeklärter Provenienz, das in einem synkretistischen Gemisch mit dem epischen Präteritum auftaucht. Lange bevor sich ab ca. 1900 eine klare Systematik abzeichnet, findet sich schon ein Imaginäres Präsens, das einer Vorgeschichte des fiktionalen und narrativen Präsens zuzurechnen ist. Da es sich – neben den immer schon bekannten autobiographischen Dokumentarismen, Briefen etc. – bei den Präsenstexten im 19. Jahrhundert in hohem Maße um Traumsequenzen, Halluzinationen und Wahnsinnsszenen handelt, kann die Geschichte der Abstandnahme vom Präteritum auch als eine Passionsgeschichte, als eine mit Pathologien erkaufte Entwicklung des Präsens geschrieben werden. Die ursprünglichsten Impulse des fiktionalen Präsens, wie es uns in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts begegnet, liegen weniger in den Dokumentarismen der frühen Moderne, als in den Explosionen eines reinen und (noch) in keiner stabilen Fiktion beherrschten Imaginären des 19. Jahrhunderts. An dem sich fiktionalisierenden Präsens wird dabei deutlich, wie sehr Fiktion und Narration sowie ihre Zeitformen voneinander abhängig sind: Imagination, die nicht die Form einer narrativen Fiktion annimmt, ist selbstzerstörerisch. Narration und Fiktion erweisen sich als komplementär in dem Sinne, als sie zur Vollendung ihres jeweiligen Formanspruchs aufeinander angewiesen sind, die Retrospektivität als erklärter Anspruch des Erzählens ist nicht bereits mit einer narrativen Rückschau und dem Gebrauch des Präteritums eingelöst, sondern dazu ist erst das Vergangenheitspräsens des ausgebildeten Präsensromans in der Lage. 1.3 Kritik der Narration: Gérard Genette Was sind die Schwierigkeiten, denen eine erzähltheoretische Beschreibung von Zeitfigurationen begegnet? Und wenn eine (rein) narratologische Konzeptualisierung nicht ausreichend ist: Welche Komplikationen zeigen sich bei der Zusammenführung von Narrationstheorie und Fiktionstheorie? Wir wollen versuchen, dies in groben Zügen anhand einer – durchaus im positiven Wortsinn zu verstehenden – ‚Kritik‘ von Genettes narratologischen Überlegungen nachzuzeichnen. Eine Reihe von Problemen in Genettes Theorie scheint uns daraus zu resultieren, dass er seine Kategorien nicht streng aus der Analyse fiktionaler Narrative und ihrer Narration entwickelt, sondern offensichtlich im-

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mer auch in Auseinandersetzung mit den Debatten um ein literarisches showing bzw. telling. Da er die Frage nach der Medialität von Narrativen mit der Frage nach ihrer Fiktionalität überblendet, sieht es für Genette so aus, als ob medialer Illusionismus bereits mit Fiktion gleichzusetzen sei. Daraus folgt für ihn auch, dass die genuine Narrativität der Literatur gegenüber den Raum-, Bild- oder Zeigekünsten aus ihrem Zeitkunstcharakter erklärt werden müsse. Betrachten wir die Frage für einen Moment aus einer kognitionstheoretischen Perspektive. Denn mit einem kognitivistischen Blick auf Perzeption ergibt sich eine Möglichkeit, Genettes Fragen nach dem Sehen im Text auf eine neue Weise zu beantworten. Anstelle eines telling und showing hätten wir eine komplementäre Unterscheidung in ein Sehen und ein Hören. Im Gegensatz zu der Differenz von telling und showing ist jene von Sehen und Hören in ihren jeweiligen Konstellationen nämlich daran beteiligt, wie wir Objekte, Raum und Zeit unterscheiden. Während eine wechselseitige Integration von Sehen und Hören ein Objekt schafft und ihr unverbundenes Nebeneinander einen Raum, gibt uns eine Asynchronie von Sehen und Hören das Minimum einer Zeitwahrnehmung. Die narrative Stimme und der narrative Blick haben in ihrer Konstellation – und nur dieses Moment interessiert uns hier – auch eine zeitdifferenzierende Funktion. Nach dieser kurzen kognitionstheoretischen Argumentation können wir nun deutlicher die Umwege verstehen, welche die narratologischen Diskussionen um das telling und showing tatsächlich genommen haben (wobei es sich unserer Ansicht nach teilweise um Abwege handelt, die immer weiter von der Möglichkeit weggeführt haben, Fiktion, Narration und Zeit auf einem einheitlichen methodischen Grund zu betrachten). Von Henry James bis Percy Lubbock6 wurden telling und showing als unterschiedliche Modi der Narration definiert.7 Solange sich die Filmwissenschaften noch nicht in die narratologische Forschung eingeschaltet hatten, galt der Narratologie jedes showing als narrative Illusion. Doch nachdem Neoformalisten wie David Bordwell, Seymour Chatman und Kristin Thompson das showing als einen weder metaphorischen noch illusionären, sondern genuin medialen Modus filmischer Narration (als tatsächliches Zeigen im narrativen Film) bestimmt hatten, verlor das showing den prinzipiell illusionistischen, d. h. kontrafaktischen Status, den es in einem ausschließlich literatur-narratologischen Kosmos hatte. Damit war der Narra-

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Vgl. Percy Lubbock: The Craft of Fiction [1921]. Minneapolis 2007, S. 55. Dies lässt auf ein Missverstehen des sprachlichen Charakters der Narration und eine ungelöste mediale Fragestellung schließen.

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tologie, ohne dass dies zunächst bemerkt worden wäre, ihre zentrale Erklärung für die Fiktionalität von Narrativen abhanden gekommen. Dass Genette über keine ausreichende oder vollgültige Erklärung für die Bedeutung von Fiktion verfügt und daher auch die Bedeutung von Temporalität unterschätzt, hat eine Verzerrung der einzelnen erzähltheoretischen Analysekategorien zur Folge. Denn sowohl die zeittheoretische Unklarheit als auch die aus der showing/telling-Debatte übernommene Grundunterscheidung affiziert sein gesamtes narratologisches Begriffswerkzeug. Immer wieder nämlich bezieht Genette die mediale Unterscheidung von showing vs. telling unmittelbar auf narratologische Kategorien. Telling im (schriftlichen) Text versteht er als eine Mimesis des Erzählens und das Verhältnis von Bild und Text entsprechend als die lllusion eines showing. In diesem Sinne heißt es dann auch, dass bereits der Begriff des showing – wie der der narrativen Darstellung oder Nachahmung und wegen seines naiv visuellen Charakters sogar mehr noch als dieser – völlig illusorisch ist: Im Gegensatz zur dramatischen Darstellung kann keine Erzählung ihre Geschichte ‚zeigen‘ oder ‚nachahmen‘. Sie kann sie nur möglichst detailliert, präzis oder ‚lebendig‘ erzählen und dadurch eine Mimesis-Illusion hervorrufen, die die einzige Form narrativer Mimesis ist. Und dies aus dem einzigen, aber hinreichenden Grund, weil alle Narration, mündliche sowohl wie schriftliche, sprachlicher Natur ist.8

Offensichtlich trifft letzteres aber nicht zu. Nun würde sicherlich auch Genette nicht behaupten, dass alle Narration ausschließlich sprachlicher Natur ist. Wenn er aber die große Zahl filmischer Narrationen nicht in seine Überlegungen einbezieht, dann ist das ein Indiz dafür, wie tief sein Verständnis von narrativer Mimesis und Illusion von der Grundannahme einer Sprachlichkeit der Narration geprägt ist. Ohne einen Rückgang auf Überlegungen zur Sprach- und Bildmedialität besteht aber kaum Aussicht, der Fiktionalität der Narration – jenseits der Verzerrung durch das Fragen nach einer im Erzählen hörbaren ‚Stimme‘ oder einem in der Fiktion sichtbar werdenden ‚Blick‘ – habhaft zu werden. Warum denken wir trotzdem, durch eine kritische Relektüre Genettes einer von der Bipolarität des Tempus geforderten fiktionsnarratologischen Definition näher zu kommen? Versuchen wir dazu, Genette nicht nur als Erzähltheoretiker, sondern im Ansatz auch als Stichwortgeber fiktionstheoretischer Überlegungen zu lesen. Als medialer Purist und modernistischer Verfechter einer sprachlichen Selbstreflexivität der Literatur befürwortet Genette ein Konzept medialer Einbettung (z. B. von Mündlichkeit

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Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998, S. 116 f.

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in Schriftlichkeit) im literarischen Text. Illusion sieht er immer dann auftauchen, wenn sich anstelle einer medialen Einbettung eine mediale Differenz manifestiert. Was Genette in Die Erzählung in den siebziger Jahren als reinen Medienillusionismus brandmarkt, behält seine negative Konnotation auch dort noch, wo er sich zwanzig Jahre später für genuin fiktionale Aspekte von Narration interessiert. In Fiktion und Diktion9 erscheint das zuvor unter rein erzähltechnischen Vorzeichen untersuchte narrative Verfahren der ‚Fokalisierung‘ dann als ein exklusives Kriterium von Fiktion. Nicht zufällig fällt die (implizit fiktionstheoretische) Wahl auf die Fokalisierung, die – als Bestimmung einer Wahrnehmungsinstanz – an das narrative showing und den Medienillusionismus der Narration gemahnt. Mediale Differenzen interessieren Genette nur insoweit, wie er sie als illusionsstiftend begreift; nur als solche zieht er sie zur Erklärung von Fiktion im narrativen Text heran. Seine Fixierung auf den Medienillusionismus ermöglicht ihm daher die Einsicht in das Fiktionspotential der Fokalisierung (denn sie operiert medienillusionistisch), verhindert aber zugleich, dass er die Beteiligung des Tempus und der Zeitstruktur am Fiktionsaufbau erkennt. Da Tempus und Zeitstruktur im literarischen Text nicht den Charakter einer Illusion haben, misst Genette ihnen auch keinen konstitutiven Wert zu. Die Einführung einer zusätzlichen dritten Ebene, der narration (dem Akt des Erzählens), mit der Genette die Unterscheidung in histoire (Fabel) und récit (Sujet) glaubt vervollständigen zu müssen, ist eine gravierende begriffliche Metabolie, die sich aus seinen medientheoretischen Vorentscheidungen ergibt. Wir halten eine solche dritte Ebene in unserem Zusammenhang nicht nur für überflüssig, sondern darüberhinaus für irreführend. Wenn Genette nämlich narration als zusätzliche Differenzierung von Medium (récit) und Struktur (histoire) der Narration bestimmt, so übersieht er, dass récit bereits eine mediale Struktur impliziert, und zwar die mündliche. Man kann sogar zugespitzt sagen, dass der für mediale Differenzierungen offene Begriff des Sujets mit dem Begriff des récit einseitig auf eine orale Struktur eingeschränkt wird. Die vermeintlich zusätzliche Kategorie der narration lässt sich auf die strukturellen Unterschiede zwischen mündlicher und schriftlicher Narration zurückführen – nicht zufällig griffen auch die Neoformalisten der Wisconsin-Gruppe in dem Moment wieder auf die zweipolige formalistische Unterscheidung in Fabel und Sujet zurück, wo sie mit der (film-)theoretischen Anerkennung eines tatsächlichen showing im narrativen Film dessen medialen Status geklärt hatten. Auch für unsere Erklärung von Fiktion in narrativen Texten als Form ihrer Zeitorganisation ist

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Gérard Genette: Fiktion und Diktion [1991]. Übers. von Heinz Jatho. München 1992.

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die Verwendung einer zweipoligen Unterscheidung ausreichend und stimmiger. Worauf Genette mit seinem Versuch einer (vorgeblich typologischen) Unterscheidung in Wahrheit reagiert, ist eine in medialer Hinsicht komplexere Narration, in der das mündliche Erzählen als eine auf mediale Illusion reduzierte Fiktion in den schriftlichen Text eingebettet ist. Seine Annahme von drei narrativen Ebenen kommt nur dadurch zustande, dass er eine mediale Differenzierung (d. h. eine Medienschichtung bzw. eine mediale Staffelung im narrativen Text) als narratologische Unterscheidung missversteht. Wenn etwa die Form eines mündlichen Erzählens (als ein erstes Medium) in einen schriftlichen Text (als ein zweites Medium) eingelassen ist, kommt es zu medialen Interferenzen, weil die Form des mündlichen Erzählens die Medialität des schriftlichen Textes überlagert. Die Frage nach dem Verhältnis von narrativen Ebenen und Medien stellt sich analog für das Verhältnis des filmischen Mediums zu den Erzählebenen. In Film und Literatur stehen zwei primäre Medien einander in ihrer Differenz gegenüber, die beide am Narrativ (Chronotopos) und an der Narration (Raum- und Zeitdeixis) beteiligt sind.10 Es genügt somit nicht, Fiktion als eingebettete Medienmimesis oder Medienillusion zu bestimmen. Stattdessen ist auf mediale Differenz abzuheben. Dann lässt sich auch erklären, wie beide, filmische und literarische Narration, sich jeweils unterschiedlich zu der für sie relevanten medialen Differenz verhalten und darauf reagieren, ohne dass entweder eine (bisher unterentwickelte) Filmsprache11 oder eine (bisher verborgen gebliebene) Kinästhetik der literarischen Narration angenommen werden müsste. Filmsprachlichkeit und literarische Kinästhetik zählen zu den Medienästhetiken der Narration und haben Konjunkturen in verschiedenen Stilen, aber sie gehören nicht zu den grundlegenden narrativen Unterscheidungen. Gerade eine solche

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11

Im Gegensatz zu dieser primären Differenz kann man sich jedoch im Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie im Medienkonglomerat Bild Ketten medialer Einschlüsse vorstellen. Innerhalb des Medienkonglomerats Bild sind bereits mindestens vier Medien 1) Bild/Photo, 2) Filmbild, 3) Videobild, 4) Computerbild vorhanden – und ob die Entwicklung der visuellen Kultur damit abgeschlossen sein wird, ist bisher nicht auszumachen. Während die Zahl der Medienstaffelungen im Digitalfilm bisher ein Höchstmaß erreicht hat (und damit noch einmal erhellt, warum nicht jedes Medium eine neue narrative Ebene bildet), zeigt sich in der Rückabgrenzung zur Literatur, dass es hier gerade die Form des Einschlusses ist, die ihre Spezifizität innerhalb des Medienkonglomerats Bild ausmacht. So ist das Verhältnis von Sehen und Sprechen nicht primär als eine Einschachtelung zu fassen, wie etwa dasjenige von Bild und Videobild. Da, wo es (ab dem Tonfilm) zu einer Verbindung unterschiedlicher Primärmedien kommt, betreffen die Differenzen nicht nur den Akt der medialen Realisierung (bzw. die Mimesis von dessen Form), sondern durchdringen alle Elemente der narrativen Organisation und machen beispielsweise neue plot-Strukturen möglich.

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mediale Differenz – ein implizierter Film und ein impliziertes Sprechen – ist an der Konstitution von Fiktion beteiligt. Aber, so könnte ein Einwand lauten, wird durch die Betonung von Differenz anstelle von Illusionismus nicht lediglich eine Ästhetik durch eine andere ersetzt? Ist damit tatsächlich etwas für das Verständnis der Konstitution von Fiktion gewonnen? Schließlich ist seit den Avantgarden bekannt, dass sich die Literarizität von Texten durch die Differenzqualität von Materialien steigern lässt. Der Effekt medialer Differenz erschöpft sich allerdings nicht in ihrem ästhetischen Mehrwert. Bei der Medium/Form-Verteilung zwischen literalem Medium und via Differenz in den Text integriertem Medium handelt es sich allein deshalb nicht um eine (‚bloß ästhetische‘) Steigerungsdynamik, weil das auf der Formseite der Differenz erscheinende Medium stets das Signum der Fiktion trägt (beispielsweise transformiert Fokalisierung Raum und Visuelles im Text zu Medienmetaphern).12 Gegenüber dem buchstäblichen Medium des Textes ist das ‚zitierte‘ Medium das jeweils ‚metaphorische‘ bzw. fiktive. So verstanden, gehört Fiktionalität zu den Unterscheidungsmerkmalen zwischen einer literarischen Ästhetik und einer literarischen Aisthetik: Während diese nur an Sprach- und Schriftmaterial als solches gebunden ist, verlangt jene nach einer Differenz, die ein uneinholbares Moment des Fiktiven in die Wahrnehmung der Sprachlichkeit bzw. Schriftlichkeit des Textes einführt. Um zur Ausgangsfrage dieses Abschnittes zurückzukehren: Anstatt eine dritte Kategorie der narration einzuführen, ist es methodisch sinnvoller, diese als eine weitere Differenz innerhalb einer Serie zweipolig bleibender Unterscheidungen zu verstehen. Wir gehen also von der eben entwickelten konstitutiven Differenz- oder Doppelmedialität (z. B. sprachlich/filmisch im 20. Jahrhundert, mündlich/schriftlich in den früheren Schubladenerzählungen bzw. chinese boxes- oder Matrjoschka-Narrationen) aus. Genettes Kategoriensystem macht es jedoch gerade unmöglich, das uns interessierende Phänomen, das vom Präsenserzählen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in den Vordergrund gerückt wird, zu verstehen.

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Auf dieses Phänomen ist die Theorie literarischer Intertextualität gestoßen, die sich bei ihrer Erweiterung zu einer Intermedialitätstheorie mit der Frage konfrontiert sah, ob das in einem literarischen Text aufgerufene (bzw. illusionierte) Medium tatsächlich medial präsent ist oder ob es nur intertextuell evoziert wird. Die Form der intertextuellen Bezugnahme auf ein anderes Medium bleibt stets metaphorisch. – Zur Übernahme der Form/MediumUnterscheidung in die mediale Untersuchung von Kunst vgl. Niklas Luhmann: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 166 ff.; zur Intermedialität als Transformation medialer Differenzen vgl. Joachim Paech: „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen“. In: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin 1998, S. 14–30, hier S. 20 f.; zum Phänomen der Medienmetaphorik vgl. Irina O. Rajewsky: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002, S. 157.

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Denn das Zusammenspiel von Zeitlichkeit und Fiktion im narrativen Text wird auf diese Weise unsichtbar. Eine ähnliche kategoriale Verzerrung wird bei einem Durchgang durch Genettes Kategorien der Zeit (Ordnung, Dauer und Frequenz) deutlich. Schon aus der Tatsache, dass Genette seine grundlegenden narratologischen Kategorien hauptsächlich am Beispiel von Marcel Prousts klassisch moderner À la Recherche du temps perdu entwickelt hat, erklärt sich die Ubiquität von Zeitfragen. Sie werden jedoch systematisch von der Frage danach ‚wer sieht?‘ (Modus) und ‚wer spricht?‘ (Stimme) überlagert. Die „Zeit der Narration“ diskutiert Genette etwa unter der Kategorie „Stimme“ – Zeit taucht narratologisch an den überraschendsten Orten auf, ohne eine eigene Systematik zu haben oder aber derjenigen Rechnung zu tragen, die dem Tempus in der Sprache zukommt. Wenn wir daher auf die von Genette getroffene Unterscheidung in Modus und Stimme verzichten, dann nicht nur aus begrifflichem Purismus, sondern mit dem Ziel, methodisch an jenen Punkt seiner Systematik zurückzugelangen, an dem er diese kategoriale Unterscheidung vornimmt. Dort behauptet er nämlich, sie entspringe in ihrer Systematik aus der Verbgrammatik: Da jede Erzählung – und sei sie so umfangreich und komplex wie die Recherche du temps perdu – ein sprachliches Produkt ist, das von einem oder mehreren Ereignissen berichtet, ist es vielleicht legitim, sie als eine […] Erweiterung eines Verbs im grammatischen Sinne zu betrachten. Ich gehe, Pierre ist gekommen, sind für mich Minimalformen der Erzählung.13

Wir teilen Genettes Ansicht, die literarische Erzählung müsse als Erweiterung der Kategorien des Verbs verstanden werden, glauben aber, dass dieser Anspruch im Dienste eines genaueren (fiktionsnarratologischen) Verständnisses der Rolle von Zeit bzw. Tempus und Erzählen erst eingelöst werden muss. Denn Genette folgt seinem eigenen Anspruch, „die Probleme der Analyse des narrativen Diskurses nach Kategorien zu ordnen, die der Grammatik des Verbs entlehnt werden“,14 leider nur sehr eingeschränkt. Bei seiner Definition des Modus findet sich lediglich eine in die Fußnote verbannte Metaphorisierung in Gestalt eines Zitats aus dem Littré,15 und für die Definition der Stimme qua „Handlungsart des Verbs in Beziehung zum Subjekt“ verweist Genette auf den Petit Robert.16 Auch was das Tempus angeht, bleibt es bei einer vielversprechenden

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Genette (Anm. 8), S. 18 f. Genette (Anm. 8), S. 19. Genette (Anm. 8), S. 19: „Ein Name für die verschiedenen Verbformen, die man benutzt, um die jeweils fragliche Sache mehr oder minder stark zu behaupten, und […] um die verschiedenen Gesichtspunkte auszudrücken, von denen aus man diese Sache oder Handlung betrachtet.“ Vgl. Genette (Anm. 8), S. 19.

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Ankündigung. Zwar ordnet Genette „die Probleme, die zu den temporalen Beziehungen zwischen Erzählung und Diegese gehören, […] unter der Kategorie des Tempus oder der Zeit“17 ein, aber in seinen späteren Schriften erkennt er den Tempora keine systematische Bedeutung mehr zu.18 Mehr noch, in einer der wenigen späteren Erwähnungen des Tempus, in den Nouveaux Discours du Récit (1983), bestreitet er sie sogar. Er kritisiert Hamburgers Bestimmung des epischen Präteritums mit der Begründung, dass es sich lediglich um einen Spezialfall handle, dem Hamburger viel zu viel Gewicht beigemessen habe. Genette erwähnt die vergegenwärtigende Wirkung des epischen Präteritums, besteht aber sogleich darauf, dass dieser Effekt ausschließlich auf die Er-Erzählung beschränkt sei und sich bereits bei einem Wechsel in die Ich-Erzählung verflüchtige. Auch im historischen Roman sei das Prinzip der Vergegenwärtigung unwirksam, vielmehr bleibe hier die Retrospektivität des Präteritums erhalten. Genette zufolge ist es „überflüssig zu erwähnen, dass fast alle klassischen Romane, von La princesse de Clèves bis zu Les Géorgiques unter diese Rubrik fallen“.19 Dass auch und gerade der historische Roman sich mit der Zeitform der Fiktion (der Aktualität) auseinandersetzt, erscheint uns hingegen als poetologisches Sprungbrett des altermodernen Erzählens. Wir haben bereits angedeutet, wie der Vergangenheitsroman sich im 20. Jahrhundert herausbildet und – gerade um die Fiktivität seiner Vergangenheit zu signalisieren – ein fiktionales Präsens entwickelt. In diesem Zusammenhang ist es wohl nicht überflüssig zu erwähnen, dass Genettes eigenes Beispiel seiner These vollkommen widerspricht (und stattdessen diejenige Hamburgers bestätigt): Les Géorgiques (1981) ist zwar ein historischer Roman – aber gerade nicht im Präteritum geschrieben (wie Genette behauptet), sondern im Präsens. Mehr noch, es handelt sich sogar um einen der exzeptionellsten Präsensromane überhaupt. In dem Maße, in dem Genettes Narratologie nicht ausreichend Fiktion reflektiert, gerät auch die Bedeutung von Zeit aus dem Blick. Trotzdem geben uns seine Analysen einige zentrale Haltepunkte. Im Abbau von Genettes Kategorie der Narration gelangen wir nämlich zu jenem Punkt zurück, an dem sich seine Theorie mit einer Fiktionstheorie verbinden lässt. Wir sind bis zu jener Stelle gelangt, an der Genette Narration als Erweiterung der Kategorien des Verbs versteht. Gerade weil wir seinen

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19

Genette (Anm. 8). S. 19. Genette vermerkt lediglich an einer Stelle, dass der sogenannte Homodiegetisierungseffekt „in einer Erzählung im Präsens nie völlig ausbleibt, da dieses Tempus stets, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität, einen Erzähler konnotiert, der – denkt sich der Leser unweigerlich – mit einer Handlung, die er aus solcher Nähe schildert, doch wohl selbst irgendwie zu tun haben wird“ (Genette [Anm. 8], S. 247). Genette (Anm. 8), S. 246.

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narratologischen Anspruch, die wesentlichen Bestimmungen von Erzählung aus der Grammatik des Verbs zu gewinnen, einzulösen versuchen, setzen wir statt bei der vermeintlich verbgrammatisch begründeten Unterscheidung von ‚Modus‘ und ‚Stimme‘ bei einer tatsächlich linguistischen Argumentation an: der fiktionsnarratologischen Analyse der literarischen Erzähltempora. Hier finden wir zugleich einen der gesuchten Verknüpfungspunkte narratologischer und fiktionstheoretischer Ansätze. Das in Käte Hamburgers Fiktionstheorie systematisch beschriebene Tempus ist bekanntlich eine der morphologischen Kategorien des Verbs: Vom Tempus und seiner zentralen Bedeutung für Fiktion und Narration geht auch unser methodischer Ansatz einer Fiktionsnarratologie aus. Während wir von Genette den erzähltheoretischen Hinweis auf den Fokus (als Fiktionsmerkmal) übernehmen, verdanken wir Hamburger bereits den fiktionstheoretischen Hinweis auf die fiktionskonstituierende Bedeutung des Tempus. Damit ist als zweite Motivierung für einen integrativen fiktionsnarratologischen Ansatz die Möglichkeit gegeben, unsere Fiktionskennzeichen letztlich aus der Narratologie und die Zeitform der Narration (Retrospektion) aus einem fiktionstheoretischen Ansatz zu gewinnen. Getreu unserer fiktionsnarratologischen Doppelperspektive wäre nun selbstverständlich auch eine Revision Hamburgers gefordert. Wir können sie an dieser Stelle aber nicht leisten. Nur angedeutet sei, dass es für die Einholung der Frage nach den Zeitformen von Fiktion und Narration sowie zur Vollendung des retrospektiven Anspruches, den das Erzählen erhebt, einer Präsensfiktion bedarf. Diese muss nicht nur als eine Alternative zur Zeitfiguration der Vergegenwärtigung verstanden werden, sondern auch in dezidierter Absetzung gegen ihre Vorstellung von der Zeitlosigkeit der Fiktion entwickelt werden. 2. Kevin Vennemanns Präsensroman Nahe Jedenew Wenn sich avancierte oder selbstbewusste Präsensromane wie Thomas Pynchons Gravity’s Rainbow (1973), Claude Simons Les Géorgiques und Hubert Fichtes Detlevs Imitationen „Grünspan“ (1971) an unmöglichen Zeitverhältnissen abarbeiten, dann hat das nicht nur motivische (die Überschallrakete, die Traumata von Krieg und Kindheit etc.) Gründe. Die paradoxen Zeitverhältnisse reagieren auf Aporien des Zeitbewusstseins selbst. Nicht erst seit Henri Bergson ist das Bewusstsein der Zeit von dem Gedanken okkupiert, diese sei rein negativ, existiere weder als Zukunft noch als Vergangenheit und sei auch in der Gegenwart – als der reine Übergang des einen in das andere – ungreifbar. Eine solche nicht-

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gegenwärtige und nicht-manifeste Zeit ist demnach auch einem nichtfiktionalen Erzählen unzugänglich. So verstanden, erweist sich Fiktion statt als verzichtbare Dimension von Erzählen (das entspräche der Theoriefiktion einer nichtfiktionalen Erzählung), eher als sein notwendiges Komplement. Es ist diese Grundthese, der wir methodisch mit einem fiktionsnarratologischen Ansatz folgen. Ein Erzählen ohne Fiktion könnte seinen eigenen Intentionen (einer Retrospektivität) nicht gerecht werden. Das Erzählen kann seinen Anspruch auf umfassende Entfaltung aller Dimensionen von Vergangenheit nur mit Hilfe der Zeitform der Fiktion einlösen. Mittels Fiktionalisierung werden dem Erzählen auch jene Dimensionen von Vergangenheit zugänglich, die zu ihren Aporien oder Paradoxien zählen. Vielfach haben Zeitphilosophen und auch die Literatur selbst gegen eine Vorstellung von der Zeit protestiert, die sie als eine bloße Folge von Jetztmomenten missversteht. So setzt etwa Paul Ricœur in seiner Studie zu Temps et récit (3 Bde. 1983–1985) – wie alles vergegenwärtigende, historische Erzählen – voraus, jede vergangene Gegenwart habe eine faktische Existenz, nämlich als sich selbst einst gegenwärtige Gegenwart. Demgegenüber bestehen Romane wie Vennemanns Nahe Jedenew, wie wir sehen werden, auf einer „unbewußten Vergangenheit“.20 Es handelt sich um Romane, in denen keine Gegenwart sich selber vollends gegenwärtig ist und sich von einer vergangenen Gegenwart nur das Nie-Gegenwärtige erzählen lässt. Eben deshalb erscheint eine vergangene Gegenwart in solchen Vergangenheitsromanen nicht als vergegenwärtigte, sondern eben als vergangene. Präsentische Vergangenheitsromane erzählen im Wissen um die Unmöglichkeit, die vergangene Gegenwart als gegenwärtige zu erzählen. Die von Cathy Caruth beschriebene „inhärente Latenz des Ereignisses, die paradoxerweise die eigentümliche temporale Struktur“ historischer Ereignisse bestimmt, ist auch in einer „Latenz innerhalb der Erfahrung selbst“21 wiederzufinden und appelliert gleichfalls an ein fiktionalisierendes Moment im Erzählen. An Kevin Vennemanns strikt und durchgehend im Präsens gehaltenem Roman Nahe Jedenew können wir unsere Überlegungen verdeutlichen. Wir atmen nicht. Der Ort ist nahe Jedenew, wir hören die Jedenewer Bauern singen, grölen, Klarinette, Akkordeon spielen und hören ihre Lieder seit Stunden

____________ 20 21

Slavoj Žižek: Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Wien 1996, S. 33. Cathy Caruth: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore/London 1996, S. 17.

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bereits, alte Partisanenlieder, sie spielen und singen und grölen auf wundersame Weise melodiös.22

Mehrere Innovationen sind hier festzuhalten: Zunächst unterscheidet sich die Passage von synchronisierten präsentischen Erzählkonstellationen, wie wir sie etwa von John Updike (speziell Rabbit, Run, 1960) kennen, durch die bereits in diesen Anfangssätzen des Romans anklingenden Wiederholungen, einem durchgehenden Stilprinzip von Vennemanns Roman. Damit verbunden ist eine personalpolitische Besonderheit, das Erzählen in der ersten Person Plural. Einerseits ist die Wir-Erzählerin simultan am Geschehen beteiligt und partizipiert am Wahrnehmungshorizont aller Figuren, die sie erzählt oder erzählend ist. Andererseits ereignen sich in den multiplen Wiederholungen im Präsens eben jene personalen Verschiebungen, die charakteristisch für die Fiktion dieses Romans sind. Sie lassen sich nicht mehr in den narratologischen Alternativen einer heterooder homodiegetischen Erzählung begreifen. Hier ist eine ausgefeilte Personalpolitik am Werk, die neben Figuren und Erzählern auch uns Leser involviert: Wir Leser können uns auch nicht mehr – wie üblicherweise in Erzählfiktionen – mit diesem Protagonisten-Wir identifizieren. Mit der Ich-Origo des Sprechers werden auch das ‚Du‘ des Adressaten und das ‚Er/Sie‘ des Protagonisten fragwürdig. Inwiefern nun affiziert Vennemanns plurale Erzählerin auch die Figurenkonstellation und unsere fiktionale Immersion?23 Zunächst involvieren die personalen Verschiebungen des Romans drei bzw. vier Personen: den Vater, den Bruder Marian, sowie Anna und das Ich. Sie verteilen sich durch die Verwendung des Wir sowohl auf Figuren und Erzähler, mal erzählt das Wir von Vater oder Bruder als Figuren, mal erzählt der Vater, und dann bezeichnet das Wir die Zuhörer: wenn es Vater ist, der, bevor er sich auf den Weg zur Arbeit auf einem der Jedenewer Höfe macht, in aller Frühe in unser Zimmer tritt, um nachzusehen, ob wir vielleicht schon wach sind, der sieht, dass wir längst wach sind, wie immer, wenn wir alle zusammen im selben Zimmer übernachten, findet er uns in aller Frühe bereits wachliegend und lesend, Geschichten erzählend oder einfach nur daliegend, weil wir nicht länger schlafen können, nur um dann bald darauf und kurz bevor wir eigentlich aufstehen müssen, doch wieder einzuschlafen, und

____________ 22 23

Kevin Vennemann: Nahe Jedenew. Frankfurt a. M. 2005, S. 9. Alle Textnachweise werden im Folgenden im Hauptetxt erbracht. Gisa Rauh meint: „Neben die Origo des Erzählers können in fiktionalen Texten zahlreiche weitere imaginäre Origines gesetzt werden.“ (Gisa Rauh: „Über die deiktische Funktion des epischen Präteritum. Die Reintegration einer scheinbaren Sonderform in ihren theoretischen Kontext“. In: Indogermanische Forschungen 87 [1982/83], S. 22–55, hier S. 35) Dies ist nicht richtig. Von Bedeutung für die Fiktion sind nur Figur, Erzähler und Hörer, und am Beispiel von Marcel Beyers Roman Flughunde (1996), der zwei Origines aufweist, lässt sich nachvollziehen, wie diese einander zur Origo von Erzähler und Figur werden.

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dann schlafen, bis wir schon fast zu spät dran sind. Solange, bis er los muß, erzählt er uns wilde, erfundene Geschichten. Einmal als wir ihn fragen, wie er und also auch wir überhaupt auf unsere Höfe nahe Jedenew kommen, erzählt er uns eine Geschichte und behauptet, diese Geschichte selber erlebt zu haben, und erzählt uns diese Geschichte, seine Geschichte, auch in Zukunft immer dann, wann immer wir ihn fragen. Wann immer wir ihn bitten zu erzählen, erzählt er uns seine Geschichte, setzt sein Geschichtenerzählergesicht auf, sagt mit übertrieben tiefer Stimme: Wenn ihr also wollt, kann ich euch eine schöne Geschichte erzählen, davon, wie ich eine gutgemeinte Bürde auf mich nehme, welche mich beinahe ins Unglück bringt, und erzählt uns dann lange davon, wie er sich einmal, vor vielen Jahren, noch bevor er unsere Mutter kennt […]. (33 f.)

Die zunehmende Verunsicherung der Erzähler(innen) über die ChronoLogik der Ereignisse geht mit dem zunehmenden Zweifel an der Identität und Existenz der Protagonisten selbst einher. wir atmen nicht. Wir sehen uns atemlos an, kaum daß wir liegen, endlich, und wissen Bescheid, wir denken: Sie überquert den Feldweg wie ich zuvor oder wie auch ich den Feldweg überquere, wenn ich als nächstes zu gehen an der Reihe bin, wir denken: Sie muss es nicht zugeben, wir denken: Ich weiß es, sie weiß es, es macht nichts, nichts macht mehr irgend etwas, wir denken: Es macht nichts, dass wir lügen, uns belügen, uns gegenseitig inzwischen bereits regelmäßig regelrecht schamlos anlügen, uns etwas vormachen, wir wissen nicht, was, nichts macht mehr irgend etwas. Daß direkt vor unseren Augen unser Haus und alles, was wir sind, ausgeräumt wird. (85)

Die Wir-Erzählerin und ihre Figuren teilen nicht nur Wahrnehmung, sondern auch Denken. Mit Vater und Bruder ist sie durch das Erzählen verbunden. Die Personalpronomen wechseln zwischen ‚wir‘, ‚uns‘ und ‚er‘ hin und her. Einerseits erzählt also das Wir vom Er, und zugleich erzählt das Er selbst. Vor allem die Erzählungen des Vaters und des Bruders Marian sind es, in denen über die aktuelle, simultane Szene hinaus von Ereignissen im Vorfeld und während des Geschehens berichtet wird. Die beiden männlichen Protagonisten treten als Geschichtenerzähler in der Funktion von Fokalisierungspersonen auf, mit denen die Erzählerin die Wahrnehmung von Situationen teilt. Eine erzählfiktionale Lektüre dieser Passagen oder Schichten des Romans müsste die Erzählerin von den anderen Figuren unterscheiden können. Das, was wir die ‚altermoderne Personalpolitik‘ von Vennemanns Roman nennen wollen, lässt solche erzähltechnischen Differenzierungen aber zunehmend verschwimmen. Während sie in Bezug auf die Figuren des Vaters und des Bruders bereits zweifelhaft werden, misslingt der Versuch einer Abgrenzung zwischen der Erzählerin und ihrer Schwester vollends: Nicht erst am Ende des mit „Wir atmen nicht“ einsetzenden und mit „Ich atme nicht“ (143) endenden Textes erweisen sich Anna und Ich als ein und diesselbe Person.

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Angesichts der schizophrenen Spaltung der Erzählerin in eine WirIdentität stellt sich die Frage nach der Vertrauenswürdigkeit der erzählten Geschichte oder genauer: Die Spaltung der memorierenden Erzählerin in ein präsentisches Wir lässt uns an der Glaubwürdigkeit eines mit sich selbst identischen Ich zweifeln. Denn alles, was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte, wir stellen fest und beschließen, als wir darüber beraten, wie wir von nun an damit umgehen, daß Vaters Geschichte gar nicht die seine ist, daß er sich seine Geschichte nur als die seine entwirft und zusammenstiehlt, daß wir nichts über seine wahre Geschichte wissen, und also auch nicht wissen, wie er nun eigentlich auf die Höfe nahe Jedenew kommt, aber wir beschließen, daß diese Geschichte, die er sich als seine entwirft und zusammenstiehlt, nun für uns seine Geschichte ist, wie auch alles andere um uns herum nur eine Geschichte ist, die ebenso gut erfunden sein kann wie Vaters. Die wir aufbewahren und für uns behalten oder vergessen oder auch einmal weitererzählen oder aber auch nur für uns erinnern können, einmal, zweimal, noch öfter, und dann vergessen können, wenn wir wollen, oder vergessen müssen, wenn nichts anderes möglich ist. (97)

Der Leser ahnt jetzt, dass die älteren Erzählerfiguren, d. h. der Vater und der Bruder Marian, gelogen haben und dass sie in das nur schwer durchschaubare Gewaltgeschehen verwickelt sind. An der Oberfläche des Geschehens scheint die Familie während des Zweiten Weltkriegs Opfer eines Pogroms zu sein, vor dem Anna und das Ich sich in einem Baumhaus verstecken. In den eingeschalteten Erzählungen des Vaters und des Bruders wird aber immer deutlicher, dass die Familie unter mysteriösen Umständen in das baltische Dorf gekommen ist, Vater und Bruder in sehr zweideutigen Verpflichtungen gegenüber der russischen Kommandatur standen und beim Abzug der russischen Truppen die Schweinebestände der Bauern möglicherweise unter Vorspiegelung einer Schweinepest vernichtet haben. In welchem Ausmaß das Ich nicht wissen will, was sich aus den wahren und unwahren Geschichten von Bruder und Vater dennoch rekonsturieren lässt, drückt sich in der Spaltung in zwei Figuren aus. Anders als in anderen altermodernen Thematisierungen des zweiten Weltkriegs aus deutscher Perspektive (Hubert Fichtes Detlevs Imitationen „Grünspan“, Marcel Beyers Flughunde [1995] oder Kaltenburg [2008]) finden sich die beiden Perspektiven bei Vennemann aber in einer Wir-Figur vereint. Die Erzähler-Figur entfaltet sich in das Wir zweier Figuren, statt sich in zwei Ichs zu spalten. Nur so gelingt es, zugleich von der Schuld der Geschichte zu erzählen und die Mitschuld des restlichen Wir sichtlich zu verschleiern. Die Integration eines Ich und seines imaginären Anderen in einem Wir ermöglicht es, eben jene Geschichte zu erzählen, von der das Ich nichts wissen will. Das Präsens erhält damit neben der narrativen und fiktionalen eine dritte, imaginäre, Funktion. Ein Ich taucht nämlich erst auf der Ebene

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eines Imaginären im Text auf. Dabei spielt die Kennzeichnung der Geschichte als Fiktion, und damit Fiktionalität insgesamt, eine wesentliche Rolle. So wie an einer Stelle des Romans die Geschichte, die vom Vater wieder und wieder als seine eigene erzählt wurde, als eine erfundene erkannt wird, so ist die Geschichte, die von der Erzählerin als ihre eigene erzählt wird, nur die halbe Wahrheit.24 Die Erzählerin und ihre Figuren belügen einander. Der Roman verwendet dazu Verfahren der psychonarration, ein dokumentarisches und ein halluzinatorisches Präsens: Eines ist dem synchron, was geschieht, und eines macht sich parallel zum Geschehen vor, was geschieht. Das erste Präsens naturalisiert Ereignisse und Geschehenszusammenhänge, findet sich stets in der Gegenwart und fungiert als dokumentarisches Führungszeugnis für die Figur. Das zweite Präsensverfahren jedoch ist dasjenige eines schreibenden Unbewussten. Dieses missbraucht das faktographische Gelübde des unbeteiligten Erzählens und lässt eine Figur sichtbar werden, die systematisch lügt. Wir können nun resümierend festhalten, dass sich im altermodernen Vergangenheitsroman Vennemanns die beiden Extremformen modernen präsentischen Erzählens verschränken: erstens das von Updike bekannte Notationsverfahren (bei dem das Sujet ganz wie in erzählfiktionalen Texten hinter die Fabel zurücktritt, um auf diese Weise die lange Zeit bestehende Aporie von präsentischem Erzählen, (nicht) gleichzeitig leben und erzählen zu können, unsichtbar zu machen); zweitens ein halluzinatorisches Imaginäres, dessen Vorformen wie angeführt bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen. Diese bisher nur quasi ‚personalpolitisch‘ beschriebene Verschiebung von einem modernen zu einem altermodernen Erzählen, wie sie innerhalb von Vennemanns Roman nachvollziehbar wird, ist auch unter den Auspizien eines generellen Dominantenwechsels zu deuten: und zwar als der in unserem fiktionsnarratologischen Ansatz sichtbar werdende Unterschied zwischen Erzählfiktionen und Fiktionserzählen. Unter dieser Perspektive haben wir es in Nahe Jedenew mit drei Verschiebungen zu tun, wobei es uns speziell auf die dritte ankommt. Die erste Verschiebung betrifft die ‚narrative‘ Personalkonstellation. Die narrative Personalverschiebung bewegt sich entlang der Verhältnisse zwischen den Personen und der Erzählerin. Dabei verschiebt sich das Erzählen von einem gegenüber der Fabel externen Erzählen zu einem innerhalb der Fabel gelegenen Erzählvorgang, mit dem der Leser den Erzählern (Vater, Bruder, Wir-Erzählerin) durch die Fiktion folgt. Für

____________ 24

Vgl. Vennemann (Anm. 22), S. 65: „Wir denken uns Geschichten aus, alles was bei uns nahe Jedenew passiert, ist eine Geschichte, und wenn nichts passiert, denken wir uns etwas aus.“

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eine solche Verschiebung der Narration in die Immanenz des Geschehens kann die zunächst kontraintuitiv erscheinende Beschreibung durch die kognitionstheoretische Seite herangezogen werden: Bei Erwin Segal, dem Leiter einer interdisziplinären Forschungsgruppe, ist Narration der Vorgang, der den Leser durch die Fabel leitet.25 Das Bemerkenswerte an dieser Charakterisierung der Narration ist, dass sie die Kraft der Immersion in das Narrativ so hoch einschätzt, dass es zu einer Inversion von Narrativ (Fabel) und Narration (Sujet) kommt. Diese Form von Narration lässt sich nicht mehr als eine reale oder inszenierte, mündliche Kommunikationssituation denken, die Narration liegt vielmehr innerhalb des Narrativs. Das ist zunächst so unvorstellbar, dass man zweifelt, ob der Ausdruck Narration dafür überhaupt geeignet ist. Die Konzeption ist aber nicht Ausdruck einer erzähltheoretischen Naivität, derzufolge die Geschichte schon da wäre, bevor sie erzählt wird, sondern lässt sich durch die Vorstellung illustrieren, sich wie mit einer Kamera durch eine Geschichte zu bewegen. Eine solche am Rezipienten ausgerichtete Fiktionalisierung des Sujets betrifft auch die narrative Personenkonstellation. Da einzig die Geschichten von Bruder und Vater Daten des Geschehens liefern, die über den vom erzählenden Wir aufgebauten Wahrnehmungshorizont hinausgehen, baut sich der Leser entlang ihrer Erzählungen die Geschichte zusammen. Die zweite, ‚fiktive‘ Personalverschiebung betrifft die Frage, wer sich wen ausdenkt. Diese Verschiebung lässt sich zuerst zwischen den Figuren des Vaters und des Bruders beobachten. Während der Vater eine Geschichte erfindet, die er wieder und wieder als seine eigene erzählt, ist der Bruder mit der Fälschung seiner Identität beschäftigt und erzählt dies als seine „lustige Geschichte“ (121). In einer solchen fiktiven Personalkonstellation – nur sehr schwer lässt sich das erzähltheoretisch als wie auch immer subtil ausdifferenzierte Fokalisierung fassen – denkt sich die WirErzählerin ihre Figuren aus, steckt in unterschiedlichem Maße in ihren Figuren und in unterschiedlichem Maße hinter den Masken ihrer Figuren, die einander Lügengeschichten erzählen. Diese Verschiebung auf der Ebene der Fiktion hat ihren entscheidenden Umschlagpunkt an dem Erzählerinnenpaar Anna und Ich. Eine der beiden Figuren gibt es nicht, bzw. sie ist fiktionales Produkt der anderen. Die fiktionalen Personalverschiebungen in Nahe Jedenew bewegen sich entlang der Personalpronomina ‚wir‘ (Anna und ich), ‚sie‘ (Anna), ‚ich‘

____________ 25

„Narration is used here to signify the process of moving temporally through a narrative“ (Erwin M. Segal: „A Cognitive-Phenomenological Theory of Fictional Narrative“. In: Judith F. Duchan/Gail A. Bruder/Lynne E. Hewitt [Hrsg.]: Deixis in Narrative. A Cognitive Science Perspective. Hillsdale 1995, S. 61–78, hier S. 65).

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(ich) und ‚du‘ (Anna oder ich) und stellen sich als ein zunehmender Kontrollverlust über den Imaginationsvorgang dar. Anna, die in den idyllischen Geschichten des ‚wir‘ die Schwester der Erzählerin zu sein scheint, wird zunehmend als fingiertes alter ego erkennbar, welches das Ich für sich selbst erfunden hat. Anna reiht sich in eine lange Tradition imaginär präsenter Doppelgängerfiguren ein (die Lautsymmetrie ihres Namens muss hier gar nicht eigens erwähnt werden). Zug um Zug – vom Wir über Sie zu Ich und dann Du – zeichnet sich in der Flächigkeit des Präsens das schreckliche Geschehen, das im Tod der Erzählerin enden wird, immer klarer in seiner Unvorstellbarkeit ab („Ich atme nicht“). Die dritte Verschiebung bezieht sich auf den mit der Etablierung des Erzähltempus Präsens katalysierten Dominantenwechsel von Narration zu Fiktion, den wir als eine Bewegung von einer Erzählfiktion des 19. Jahrhunderts zu einem Fiktionserzählen im ausgehenden 20. Jahrhundert beschreiben. Vennemanns Roman inszeniert eine metanarrative und metafiktionale Verschiebung der Dominanten als Drift zum Lesen und von dort zu einem Prozess der Bewusstwerdung. Bereits durch die erste, narrative Verschiebung wird die Narration von einem Prozess des Erzählens zunehmend zu einem Prozess des Deutens der Geschichte. Dies geschieht in dem Maße, in dem die Figuren zu Erzählern werden und in ihren folkloristischen Erzählmustern nur Splitter des Geschehens aufblitzen, in das sie verwickelt sind. In Bezug auf die zweite, die fiktive Personenverschiebung werden die Geschichten zudem als Masken erkannt, die jede der Figuren für sich selbst erfindet.26 In dem Maße, in dem sich die Dominante allmählich von Narration zu Fiktion verschiebt, beginnt das Ich des Romans das Geschehen langsam zu deuten, aus den für sich selbst erfundenen Geschichten der anderen langsam die Wahrheit offenzulegen und über die Märchen hinweg, mit denen das Geschehen immer wieder zugedeckt wird, zu verstehen. Es nähert sich den Ereignissen langsam an, und der Tod der Erzählprotagonistin zeichnet sich in dem Maße ab, wie das Geschehen aus den Erzählungen der anderen an die Oberfläche ihres Bewusstseins dringt. Während wir den Dialog zwischen dem weiblichen Ich und ihrer Geschichte lesen, bemerken wir die Parallelverschiebung zwischen einer fortschreitenden

____________ 26

Vennemann (Anm. 22), S. 97: „wir stellen fest und beschließen, als wir darüber beraten, wie wir von nun an damit umgehen, daß Vaters Geschichte gar nicht die seine ist, daß er sich seine Geschichte nur als die seine entwirft und zusammenstiehlt, daß wir nichts über seine wahre Geschichte wissen, und also auch nicht wissen, wie er nun eigentlich wirklich auf die Höfe nahe Jedenew kommt, aber wir beschließen, daß diese Geschichte, die er sich als die seine entwirft und zusammenstiehlt, nun für uns seine Geschichte ist, wie auch alles andere um uns herum nur eine Geschichte ist, die ebenso gut erfunden sein kann wie Vaters.“

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Verstümmelung ihrer Einbildungskraft, die durch das immer nachdrücklichere Ausweichen vor dem Geschehen nurmehr Idyllen hervorbringt, und einem Prozess der Bewusstwerdung des Unausweichlichen, mit dem sich das Geschehen immer mehr gegen seine Verrätselung und Idyllisierung durchsetzt. Mit dem Tod der Erzählerin stößt der Text Vennemanns auf die radikalste Variante des Vergehens und einen tiefstmöglichen Ausdruck für den Nihilismus der Zeit. Ein Fallen in die Zeit, wie der Tod es darstellt, kann von keinem Zeitmodell erfasst werden, dass die Zeit als Kette von Jetzt-Momenten denkt. Auch traditionelle Modelle von ‚Fiktion‘ (als der Vergegenwärtigung einer gewesenen Vergangenheit) sowie klassische Modelle von ‚Narration‘ (als der Retrospektion auf eine einstmalige Gegenwart) können diesem Anspruch nicht genügen. Zu allen drei Punkten (des Denkens von Zeit, Fiktion und Narration) finden asynchrone Präsensromane neue originäre Lösungen. Erstens denken sie die Fiktion von den virtuellen, inaktuellen Momenten einer jeden Imagination her. Zweitens erfüllen asynchrone Präsensromane den Anspruch der Narration auf Retrospektion bzw. ein Erzählen von reiner Vergangenheit auf eine neue Weise. Und drittens schließlich denken sie Gegenwart nicht von ihrer Präsenz her, sondern in einer bipolaren Beziehung von Gegenwart und Vergangenheit. Am Ende ist damit mehr als eine literaturhistorische Erkenntnis gewonnen. Wir sehen jetzt, wie die anfangs behauptete Neuordnung von Narration und Fiktion, zu der uns ein Denken des Tempus zwingt, Gestalt annimmt. Das betrifft auch die ‚Alter-Modernität‘ des asynchronen Präsens, das zu einer neuen Einschätzung des vermeintlichen Gegensatzes von klassisch-traditionellem Präteritum und modern-avantgardistischem Präsens führt. Denn mit Blick auf das (die Errungenschaften des modernen Präsens alterierende) Vergangenheitspräsens zeigt sich: Weder löst das Präsens das Präteritum einfach ab, noch dominiert es dieses bloß. Es tritt vielmehr neben das Präteritum, und erst mit der Differenz zweier Tempora verfügt der Roman auch wirklich über eine Tempusstruktur.27 Die Bipolarität des Tempus gewährleistet jene minimale Unterscheidung, ohne die es gar keine Zeit gäbe – und gibt ihr zugleich eine Einheit.28 Dass sich dies erst in der Beschäftigung mit dem Präsens zeigt, bedeutet nun gerade nicht, dass es allein das Präsens betrifft. Anders als dies unter der zum Teil harschen Kritik der avantgardistischen (Präsens-)Moderne möglich war, kann erst ein Ansatz, der die Bipolarität der Erzähl-

____________ 27 28

Vgl. Sebastian Rödl: Kategorien des Zeitlichen. Eine Untersuchung der endlichen Formen des Verstandes. Frankfurt a. M. 2005. Das asynchrone Präsens wiederum stellt gerade diese Einheit in Frage.

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tempora berücksichtigt, auch die Leistungen des Präteritums würdigen: Die präteriteriale Vergegenwärtigung, wie wir sie aus dem traditionellen Roman kennen, und die präsentische Asynchronie gehen aus zeitpoetischer Perspektive gleichgültig mit der Bipolarität der Zeit um. Mit der Erhellung der bipolaren Relation beider Tempora, d. h. ihrer Bezogenheit aufeinander, wird der systematische Zusammenhang von Narration, Fiktion und der Kategorie Tempus erst deutlich. Literatur Avanessian, Armen/Anke Hennig: Präsens. Poetik eines Tempus. Zürich 2012. Beyer, Marcel: Flughunde. Frankfurt a. M. 1995. Caruth, Cathy: Unclaimed Experience. Trauma, Narrative, and History. Baltimore/London 1996. Fludernik, Monika: Towards a ‚Natural‘ Narratology. London/New York 1996. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998. Genette, Gérard: Fiktion und Diktion [1991]. Übers. von Heinz Jatho. München 1992. Hamburger, Käte: Logik der Dichtung. 2., stark veränd. Aufl. Stuttgart 1968. Lubbock, Percy: The Craft of Fiction [1921]. Minneapolis 2007. Luhmann, Niklas: Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997. Martínez, Matías/Scheffel, Michael: „Narratology and Theory of Fiction: Remarks on a Complex Relationship“. In: Tom Kindt/Hans-Harald Müller (Hrsg.): What is Narratology? Questions and Answers Regarding the Status of a Theory. Berlin/New York 2003, S. 221–237. Paech, Joachim: „Intermedialität. Mediales Differenzial und transformative Figurationen“. In: Jörg Helbig (Hrsg.): Intermedialität. Theorie und Praxis eines interdisziplinären Forschungsgebietes. Berlin 1998, S. 14–3. Rajewsky, Irina O.: Intermedialität. Tübingen/Basel 2002. Rauh, Gisa: „Über die deiktische Funktion des epischen Präteritum. Die Reintegration einer scheinbaren Sonderform in ihren theoretischen Kontext“. In: Indogermanische Forschungen 87 (1982/83), S. 22–55. Rödl, Sebastian: Kategorien des Zeitlichen. Eine Untersuchung der endlichen Formen des Verstandes. Frankfurt a. M. 2005. Segal, Erwin M.: „A Cognitive-Phenomenological Theory of Fictional Narrative“. In: Judith F. Duchan/Gail A. Bruder/Lynne E. Hewitt (Hrsg.): Deixis in Narrative. A Cognitive Science Perspective. Hillsdale 1995, S. 61–78. Vennemann, Kevin: Nahe Jedenew. Frankfurt a. M. 2005. Weinrich, Harald: Tempus. Besprochene und erzählte Welt. 6., neu bearb. Aufl. München 2001. Žižek, Slavoj: Der nie aufgehende Rest. Ein Versuch über Schelling und die damit zusammenhängenden Gegenstände. Wien 1996.

WOLF SCHMID (Hamburg)

Zeit und Erzählperspektive. Am Beispiel von F. M. Dostoevskijs Roman Der Jüngling 1. Die fünf Parameter der Erzählperspektive 343 – 1.1 Die zeitliche Perspektive 346 – 1.2 Narratoriale und figurale zeitliche Perspektive 348 – 1.3 Die zeitliche Perspektive diegetischer Erzähler 350 – 2. Die zeitliche Perspektive in F. M. Dostoevskijs Roman „Der Jüngling“ 351 – 2.1 „Der Jüngling“ als Variante des Konfessionsromans 351 – 2.2 Der diegetische Erzähler 355 – 2.3 Der Quasi-Dialog mit dem fiktiven Leser 357 – 2.4 Die zeitliche Perspektive des Erzählers 360 – 2.5 Textinterferenz, Zeit und Wertung 364

1. Die fünf Parameter der Erzählperspektive Erzählen, faktuales wie fiktionales, ist Darstellung einer für das erzählende Subjekt relevanten Veränderung einer Situation. Sowohl im faktualen als auch im fiktionalen Erzählen konstituiert sich die Geschichte, die die Veränderung der Situation präsentiert, in idealgenetischer Sicht durch eine Auswahl von Elementen (Figuren, Situationen, Handlungen) und ihren Eigenschaften aus einem vorgängigen Geschehen. Im faktualen Erzählen wird dieses Geschehen durch einen Ausschnitt aus dem realen Weltgeschehen gebildet, im fiktionalen Erzählen ist es fiktiv, gleichwohl aber in der erzählten Geschichte als Referenzebene der Auswahl logisch impliziert. Die Auswahl der Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften ist immer von einem Komplex von objektiven und subjektiven Bedingungen geleitet, den man traditionell Perspektive nennt.1 Perspektive sei hier definiert als der von inneren und äußeren Faktoren gebildete Komplex von Bedingungen für das Erfassen und Darstellen eines Geschehens. In faktualen Texten wird der Autor das Geschehen in der Regel so darstellen, wie er es erfasst hat. Deshalb ist für faktuale Texte die Unterscheidung von Erfassen und Darstellen meistens nicht relevant. Es kommt aber vor, dass ein Sprecher im Alltagskontext, etwa in ironischer Absicht, nicht darstellt,

____________ 1

Vgl. zuletzt Wolf Schmid: „Perspektive“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 138–145.

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Wolf Schmid

was und wie er selbst erfasst hat, sondern die Erfassensweise einer dritten Person vorschiebt. In fiktionalen Texten dagegen können Erfassen und Darstellen systematisch auseinanderfallen. Die beiden Akte werden im fiktionalen Erzählwerk tendenziell nicht als Tätigkeiten des Autors wahrgenommen, sondern auf dargestellte, fiktive Instanzen bezogen. Fiktionale Erzählwerke zeichnen sich ja dadurch aus, dass ihr Autor nicht unmittelbar erzählt, sondern ein Erzählen darstellt. Das heißt: in der dargestellten Welt fiktionaler Erzählwerke figuriert eine eigene Urheberinstanz, der fiktive Erzähler.2 In dieser Modellierung, die sich von dem heute als Standard geltenden Modell Gérard Genettes (1972) unterscheidet, kommen als Träger der Erzählperspektive, d. h. der Perspektive, die ein Erzählwerk leitet, zwei Instanzen in Frage, der Erzähler und die Figur. Wenn der Erzähler seine eigene Erfassensweise zur Geltung bringt und in eigener Sprache spricht, ist die Erzählperspektive narratorial. Der Erzähler kann seine Erfassensweise aber mehr oder weniger konsequent vorenthalten und ein Geschehen so darbieten, wie es eine seiner Figuren erfasst hat, und er kann dabei die Sprache der Figur benutzen. In diesem Fall ist die Erzählperspektive figural. Nicht selten ist die Erzählperspektive aber hybrid, in einigen Hinsichten narratorial, in andern figural. Die Entwicklung der Erzählperspektive in den abendländischen Literaturen ist seit dem Ende des 18. Jahrhunderts dadurch gekennzeichnet, dass die historisch ursprünglich rein narratoriale Perspektive durch eine hybride Darbietungsform abgelöst wird, in der sich narratoriale und figurale Anteile bis zur Ununterscheidbarkeit vermischen können. Da in der hybriden Perspektive die sprachlichen und thematischen Merkmale des Erzähltextes unterschiedlich zugeordnet sind, einerseits auf den Erzähler, anderseits auf die Figur verweisen, unterscheidet die Analyse Ebenen oder Parameter der Perspektive. Die in der Literatur vorkom-

____________ 2

Die Obligatorik der Dissoziierung des fiktiven Erzählers vom konkreten Autor ist nicht unumstritten. Zur rezenten Diskussion über diese Frage vgl. Tilmann Köppe/Jan Stühring: „Against Pan-Narrator Theories“. In: Journal of Literary Semantics 40/1 (2011), S. 59–80, die nach kritischer Prüfung der Hauptargumente der von ihnen so genannten „pan-narrator theory“ zu dem Schluss gelangen, dass es weder einen theoretischen noch einen pragmatischen Grund gebe, für jedes fiktionale Erzählwerk einen fiktiven Erzähler zu postulieren. Uri Margolin, der davon ausgeht, dass die Prämissen der beiden Parteien in der Frage der Obligatorik des Erzählers unvereinbar sind und deshalb das Problem theoretisch unlösbar ist, schlägt vor, auf ontologische Grundsatzklärungen zu verzichten und zu fragen, was mit der Anwendung des Erzählerkonzepts für einen bestimmten Text gewonnen werde und was nicht. Der Erzähler ist in dieser Sicht nicht länger eine unbedingte Textkomponente, sondern wird zu einem Werkzeug der Interpretation, dessen Wert, Tauglichkeit und Vertretbarkeit nur fallspezifisch beurteilt werden kann. Uri Margolin: „Necessarily a Narrator of Narrator if Necessary. A Short Note on a Long Subject“. In: Journal of Literary Semantics 40/1 (2011), S. 43–57.

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menden Fälle der Distribution lassen es ratsam erscheinen, fünf Parameter zu unterscheiden, in denen die Perspektive narratorial oder figural sein kann, ohne dass die Zuordnung in einem Parameter die in einem anderen Parameter vorherbestimmt: 1. die perzeptive Perspektive, zu der man die Fragen stellen kann: Wer ist für die Auswahl dieser und nicht anderer Momente des Geschehens für die Geschichte verantwortlich, der Erzähler oder die erzählte Figur? Mit wessen Augen blickt der Erzähler auf die Welt? In den Begriffen, aber nicht im Sinne Genettes (1972) gefragt: Wessen „Sichtweise“ (vision) wird von der „Erzählstimme“ (voix) präsentiert, die des Erzählers oder die der Figur? ‚Nicht im Sinne Genettes‘, weil für ihn vision ein Privileg der Figur ist, das dem Erzähler nicht zuerkannt wird, weshalb für Genette die Alternative zwischen narratorialer und figuraler vision nicht besteht. 2. die ideologische Perspektive, die unterschiedliche Faktoren umfasst, die bei Bedarf in der Analyse weiter differenziert werden können: das Wissen, die Denkweise, die Wertungshaltung oder, mit einem Begriff Michail Bachtins ausgedrückt, die „Sinnposition“ (smyslovaja pozicija); 3. die räumliche Perspektive, die als einziger Parameter die ursprüngliche, nicht-metaphorische Bedeutung von Perspektive erfüllt und durch den Ort konstituiert wird, von dem aus das Geschehen erfasst wird, mit den Restriktionen des Gesichtsfelds, die sich aus diesem Standpunkt ergeben; 4. die zeitliche Perspektive, die – wie wir vorläufig definieren wollen – den Abstand zwischen dem Erfassen und dem Darstellen eines Geschehens betrifft; 5. die sprachliche Perspektive, in der darüber entschieden wird, ob der Erzähler ein Geschehen in seinen eigenen Ausdrücken und Intonationen oder denen einer Figur (bzw. seines früheren, des erzählten Ich) darstellt.3

____________ 3

Vgl. Wolf Schmid: Elemente der Narratolgie [2005]. 3., erw. u. überarb. Aufl. 2014, S. 121– 141; Schmid (Anm. 1), vgl. dort auch die Hinweise auf frühere Mehrschichtenmodelle der Perspektive: Boris Uspenskij: Poėtika kompozicii. Struktura chudožestvennogo teksta i tipologija kompozicionnoj formy. Moskau 1970 (dt.: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Frankfurt a. M. 1975); Wolf Schmid: „Rez. zu: Boris Uspenskij: Poėtika kompozicii. Struktura chudožestvennogo teksta i tipologija kompozicionnoj formy. Moskau 1970“. In: Poetica 4 (1971), S. 124–134; Wolf Schmid: „Der Ort der Erzählperspektive in der narrativen Konstitution“. In: Joost J. van Baak (Hrsg.): Signs of Friendship. To Honour A. G. F. van Holk. Amsterdam 1984, S. 523–552; Wolf Schmid: „Ebenen der Erzählperspektive“. In: Karl Eimermacher/Peter Grzybek/Georg Witte (Hrsg.): Issues in Slavic Literary and Cultural Theory. Bochum 1989, S. 433–449; Jaap Lintvelt: Essai de typologie nar-

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Wolf Schmid

1.1 Die zeitliche Perspektive Die zeitliche Perspektive ergibt sich aus dem Abstand des Darstellens vom Erfassen. Die Kategorie der Zeit, in der dieser Abstand gemessen wird, ist für die Perspektive nicht an sich relevant, sondern wird nur bedeutsam als Bedingung für Veränderungen im Wissen um das Erfasste und in seiner Bewertung. Während eine Verschiebung auf der räumlichen Achse mit der Veränderung des Wahrnehmungsfelds verbunden sein kann, verändert sich mit zunehmender Distanz zwischen Erfassen und Darstellen möglicherweise das Wissen und damit die Sinnposition. Diese Veränderung kann zwei entgegengesetzte Formen annehmen. Mit zeitlichem Abstand vom erfassten Geschehen kann das Wissen um seine Gründe und Folgen zunehmen, und das kann zu einer veränderten Bewertung des Geschehens führen. Mit wachsender zeitlicher Distanz zwischen dem Erfassen des Geschehens und seiner Wiedergabe kann sich das Wissen um Hintergründe und Details indes auch vermindern. Das Vergessen von Fakten kann ebenfalls zu einer veränderten Sinnposition hinsichtlich des Geschehens führen. Beide Entwicklungen, die Zunahme und die Abnahme von Wissen um ein Geschehen mit wachsender Distanz und die damit verbundene Veränderung der Sinnposition, sind häufig in Zeugenaussagen vor Gericht zu beobachten. Ein Zeuge, der bei seiner ersten Vernehmung mit bestimmten Umständen und Hintergründen des Geschehens nicht vertraut war, inzwischen aber seine Kenntnis erweitert hat, kann in späteren Aussagen frühere Eindrücke revidieren und bestimmten Details des Geschehens, die er zwar wahrgenommen hat, aber nicht richtig deuten konnte, eine neue Bedeutung geben. Der Zeuge kann von einer früheren Aussage aber auch abweichen, wenn ihm bestimmte Umstände entfallen sind. Vor allem jene Fakten werden leicht vergessen, die in die Struktur der beim ersten Erfassen gebildeten Geschichte nicht integriert waren oder in ihr keine zentrale Rolle spielten.4

____________ 4

rative. Le „point de vue“. Théorie et analyse. Paris 1981; Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction. Contemporary Poetics. London u. a. 1983. Dies wird bestätigt durch Befunde der kognitiven Psychologie. Jean M. Mandler und Nancy S. Johnson, die das Erinnern von Folkloreerzählungen untersucht haben, kommen zu zwei hier interessierenden Befunden: 1. Die Erinnerungsleistung ist abhängig von der Rolle, die die Elemente in der Gesamtstruktur des Werkes spielen, und 2. Die Erinnerung konzentriert sich auf kausal verknüpfte Episoden und wird merklich schwächer bei Episoden, die nur temporal verbunden sind, und bei jeglicher Art von Beschreibung und Ausschmückung. Jean M. Mandler/Nancy S. Johnson: „Remembrance of Things Passed. Story Structure and Recall“. In: Cognitive Psychology, Bd. 9 (1977), S. 111–151 (dt.: Jean M. Mandler/Nancy S. Johnson: „Erzählstruktur und Erinnerungsleistung“. In: Wolfgang Haubrichs

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Mit zunehmender Entfernung vom erfassten Geschehen wird die Erinnerung immer weniger Momente aus dem Gedächtnis abrufen und die abgerufenen mit immer mehr Sinnfunktion belasten. Mit zunehmender zeitlicher Distanz zum Erfassten steigt aber auch die Überarbeitungstätigkeit, in die aktuelle Erfahrungen des Erinnernden einfließen. Nach den Beobachtungen Frederic Bartletts, der die Grundlagen für die SchemaTheorie legte und damit Wegbereiter der Kognitionspsychologie wurde, filtert man das zu Erinnernde jeweils durch Schemata, die die eigenen jüngsten Erfahrungen in der Lebenswelt reflektieren.5 Somit gewinnt das in der Erinnerung Aufscheinende an gestalthafter Prägnanz. Das kann soweit gehen, dass man bei erneuter Begegnung mit dem zu Erinnernden (etwa beim Besuch in der Heimat oder beim Wiederlesen eines Romans) geradezu enttäuscht ist von der Blässe, Bescheidenheit und Durchschnittlichkeit dessen, was man mittlerweile in hochprägnanter Gestalt vorstellt.6 Wenn mehrere Personen ihre Erinnerungen an ein und dasselbe Geschehen (etwa ein Ereignis aus ihrer Schulzeit) abgleichen, zeigen sich in der Regel nicht unerhebliche Abweichungen der in der Erinnerung gebildeten Geschichten. Das belegt zweierlei: erstens, wie stark schon der Erfassensakt von subjektiven Vorgaben wie Schemata und Sinnpositionen gesteuert wird und, zweitens, welch große Rolle die Überarbeitungstätigkeit im Erinnern spielt. Die zeitliche Perspektive besteht freilich nicht nur im Abstand zwischen Erfassen und Darstellen, sondern macht sich auch bereits in jedem Erinnern eines einmal erfassten Geschehens geltend. Ein und dasselbe Ereignis kann von einer Figur in unterschiedlichen Momenten der erzählten Geschichte vergegenwärtigt werden, etwa wenn die Figur das von ihr Erlebte zu begreifen sucht. Jeder Erinnerungsakt ist ja eine Art innerer Darstellung, und in ihm sind dieselben Prozesse der Auswahl von Elementen und ihren Eigenschaften aktiv wie in jedem Erzählvorgang. Bei den mehrfachen Erinnerungen an ein und dasselbe Ereignis kann die Verschiebung auf der Zeitachse der Geschichte oder des Erzählens mit einer Veränderung der Sinnposition verbunden sein, die bedingt ist durch

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(Hrsg.): Erzählforschung. Theorien, Modelle und Methoden der Narrativik. Bd. 3. Göttingen 1978, S. 337–379). Vgl. Frederic Bartlett: Remembering. Cambridge 1932. Zu diesem Effekt vgl. Wolfgang Metzger: Psychologie. Die Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments [1941]. Darmstadt 31963, S. 214: „Die gestaltliche Verbesserung der Gedächtnisspuren hat zur Folge, dass dasselbe, nicht ausgezeichnete Gebilde, wenn man es nach genügend langer Zwischenzeit zum zweiten Male antrifft, unmittelbar verschlechtert, verblasst usw. aussieht.“ Zum Erinnern von Texten verschiedener Faktur vgl. Wolf Schmid: „Narratives Erinnern und poetisches Gedächtnis in realistischer und ornamentaler Prosa“ [1985]. In: Ders.: Ornamentales Erzählen in der russischen Moderne. Čechov – Babel’ – Zamjatin. Frankfurt a. M. u. a. 1992, S. 72–80.

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die Veränderung im Wissen. Von den Erinnerungsakten der Figur zu unterscheiden ist die mehrfache Erwähnung ein und desselben Ereignisses durch den Erzähler in unterschiedlichen Momenten des Erzählakts, ohne dass eine parallele Erinnerungshandlung der Figur vorliegt. Aber auch in diesem Fall kann das Ereignis bei jeder Erwähnung anders bewertet werden, und die Differenz der Bewertungen kann eine Veränderung der Sinnposition des Erzählers anzeigen, der sich im Erzählen bestimmter Umstände bewusst geworden ist. In beiden Fällen, in figuraler wie narratorialer Erinnerung, macht sich die zeitliche Perspektive mit ihrem jeweiligen Stand des Wissens und Wertens als ein Faktor der Sinnkonstitution geltend. 1.2 Narratoriale und figurale zeitliche Perspektive Im Parameter der Zeit manifestiert sich die narratoriale Perspektive durch die Bindung an das Jetzt des Erzählaktes. Zur Bezeichnung eines Zeitpunkts der Geschichte gebraucht der Erzähler in narratorialer Angabe anstatt deiktischer Zeitadverbien wie jetzt, heute, morgen usw. anaphorische Ausdrücke, d. h. Wendungen wie in diesem Moment, an diesem Tage, am vorausgegangenen Tage usw., die sich auf einen im Text bereits fixierten Zeitpunkt beziehen und nicht die Definition des Jetzt einer Figur voraussetzen. Die figurale zeitliche Perspektive ist dagegen mit dem Jetzt einer der Figuren korreliert. Der Bezug auf die zeitliche Position der Figur zeigt sich am deutlichsten in deiktischen Zeitadverbien wie jetzt, heute, gestern, morgen usw., die eine Referenz nur durch den Bezug auf einen bestimmten zeitlichen Nullpunkt, das Jetzt der Figur, erhalten. In fiktionalen Texten werden deiktische Adverbien der Gegenwart und Zukunft nicht selten mit Verben in einem Vergangenheitstempus verbunden. Der Mustersatz für dieses Verfahren ist das von Käte Hamburger in die Diskussion eingeführte Beispiel aus Alice Berends Roman Die Bräutigame der Babette Bomberling (1915) „Morgen war Weihnachten“.7 Hamburger interpretiert den Zusammenstoß des Vergangenheitstempus mit deiktischem Zukunftsausdruck, eine Struktur, die für die deutsche erlebte Rede symptomatisch ist, als Zeichen für die Aufhebung des Zeitwerts des sogenannten „epischen Präteritums“ und für die Zeitlosigkeit der Fiktion. Man kann die vorliegende Struktur auch anders verstehen, nämlich als Verschränkung oder Hybridisierung der zeitlichen Perspektive. Danach ist in „Morgen war Weihnachten“ die Verwendung des Präte-

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Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 1975, S. 33.

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ritums war auf den Standpunkt des Erzählers bezogen, der von einer Begebenheit in der fiktiven Vergangenheit berichtet; das deiktische Zeitadverb morgen ist dagegen auf den zeitlichen Standpunkt der Figur bezogen, für die an diesem Punkt der Geschichte Weihnachten am nächsten Tag sein wird. Diese zweite Deutung hat den Vorteil, dass sie nicht die Detemporalisierung des epischen Präteritums zu postulieren braucht, also ohne eine Erklärung auskommt, die in der Diskussion sehr kritisch betrachtet wurde.8 Figurale zeitliche Perspektive manifestiert sich, wie erwähnt wurde, in der engen Bindung des Erzählens an das Jetzt der Figur. Charakteristisch ist dabei die Übernahme der perzeptiven Perspektive der Figur, also die Bindung des Erzählens an die Wahrnehmung und das Erleben dieser Figur. Textuellen Ausdruck findet das Verfahren häufig in Verfahren der Textinterferenz wie der erlebten Rede oder der erlebten Wahrnehmung. Die Bindung an die Wahrnehmung der Figur äußert sich in der konsequent chronologischen Darbietung der Ereignisse, vorausgesetzt freilich, dass die Figur sie chronologisch wahrnimmt. Bewegt sich die Bewusstseinstätigkeit der Figur dagegen zwischen wahrgenommener Gegenwart, erinnerter Vergangenheit und vorgestellter Zukunft, wird figurale Darbietung in entsprechender Weise zwischen den Zeitebenen springen. Charakteristisch für figurale zeitliche Perspektive ist eine starke Detaillierung des Erzählten, d. h. die Wahl zahlreicher Geschehensmomente und ihrer Eigenschaften. Niedrige Selektivität, d. h. starke Detaillierung führt zum Eindruck der „Dehnung“, des „langsamen“ Erzählens, während die Wahl weniger Geschehensmomente und Eigenschaften eine „Raffung“ bewirkt und den Eindruck „schnellen“ Erzählens macht, das eher für die narratoriale Gestaltung spezifisch ist. Permutationen der Geschehensmomente gegen die chronologische Folge (nach Genette „Anachronien“9) sind in figuraler Perspektive im Grunde nur möglich, insofern sie durch Bewusstseinsakte der Figur (die Erinnerung an Vergangenes oder die Erwartung von Zukünftigem) motiviert sind. Eine authentische und nicht nur hypothetische Antizipation späterer Geschehensmomente (eine „Prolepsis“10 nach Genette) ist figural nicht begründbar. Dagegen erlaubt die narratoriale zeitliche Perspektive einen freien Umgang mit der Zeit. Der Erzähler kann beliebig die Zeitebenen wechseln und auch spätere Entwicklungen vorwegnehmen, ohne in Konflikt mit realistischen Motivierungsregeln zu geraten.

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Zu den wichtigsten Kritikern der These von der Entzeitlichung des epischen Präteritums vgl. Schmid 2014 (Anm. 3), S. 36. Gérard Genette: „Discours du récit“. In: Ders.: Figures III. Paris 1972, S. 67–282, hier S. 71. Genette (Anm. 9), S. 100.

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1.3 Die zeitliche Perspektive diegetischer Erzähler Die Frage nach der zeitlichen Perspektive stellt sich natürlich auch bei diegetischen Erzählern, d. h. bei solchen, die als Figuren der von ihnen erzählten Diegesis auftreten, den sogenannten „Ich-Erzählern“.11 Franz Stanzels Triade der „Erzählsituationen“, in der der „auktorialen“ und „personalen“ die „Ich-Erzählsituation“ gegenübergestellt wird,12 verdeckt die Tatsache, dass auch ein diegetischer Erzähler für die Perspektivierung seiner Geschichte zwei Optionen hat, die narratoriale, d. h. die Perspektive des erzählenden Ich, und die figurale, die Sichtweise des erzählten Ich. Die beiden Ichs bilden ja, worauf bereits Wolfgang Kayser am Beispiel von Thomas Mann Felix Krull (1954) und Herman Melvilles Moby Dick (1851) hingewiesen hat, nicht unbedingt eine psychophysische Einheit: „Der IchErzähler eines Romans ist nicht die geradlinige Fortsetzung der erzählte Figur“.13 Ein deutliches Beispiel für nicht glaubwürdige Einheit von erzähltem und erzählendem Ich ist Daniel Defoes Roman Moll Flanders, für den sogar Franz Stanzel, ein Kritiker von Kaysers These, konzediert, die Kommentare der moralisch gewandelten Heldin zu ihrem früheren Leben als Diebin, Dirne und Bigamistin erweckten den Eindruck, als hätte der Autor das erzählte Ich „zusammen mit den Reflexionen eines fremden auktorialen Ich in das Joch einer einzigen Person gespannt“.14 In funktionaler Betrachtung sind erzählendes und erzähltes Ich zwei zu unterscheidende Instanzen, der Narrator (Träger der Narratio) und der Actor (Träger der Actio). Die beiden Instanzen können sich so zueinander verhalten wie der nichtdiegetische Erzähler (der nicht in der erzählten Geschichte auftritt) und die Figur. Erzählendes und erzähltes Ich werden um so eher die Einheit eines psychophysischen Persona sprengen, je größer der Abstand zwischen Erfassen und Darstellen und damit die Differenz im Wissen und Werten wird. Besonders virulent wird die Frage nach der zeitlichen Perspektive im Konfessionsroman, in jener Subgattung des autobiographischen Erzählens, in dem ein gereiftes erzählendes Ich von den Irrungen und Wirrungen eines jugendlichen erzählten Ich berichtet. Prototyp dieser Gattung

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Dieser populäre Begriff ist insofern irreführend, als jeder Erzähler zu einem „IchErzähler“ wird, sobald er sich selbst nennt. Nicht die Personalform, sondern ihre Referenz ist das Entscheidende. Wenn sich das Ich nur auf den Erzählakt bezieht, ist der Erzähler nichtdiegetisch. Bezieht sich das Ich (oder eine Ersatzform, die die Identität verschleiert, wie Caesars Gebrauch seines eigenen Namens) dagegen auch auf die Diegesis, ist der Erzähler diegetisch. Zuletzt Franz K. Stanzel: Theorie des Erzählens. Göttingen 1979. Wolfgang Kayser: „Das Problem des Erzählers im Roman“. In: German Quarterly 29 (1956), S. 225–238, hier S. 233. Stanzel (Anm. 12), S. 271.

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sind die Confessiones des Aurelius Augustinus (um 400 entstanden), die eine starke Nachwirkung hatten und noch Jean-Jacques Rousseaus Confessions (1782–1789) beeinflussten. Zum Typus der Konfessionsliteratur gehören auch pikareske Romane wie der Simplicissimus Grimmelshausens (1668) und, aus der neueren Literatur, Thomas Manns Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull. Der Konfessionsroman setzt eine zeitliche und damit auch eine ethische und psychologische Distanz zwischen einem irrenden, sündigen jungen Menschen und einem sowohl in seinen Lebensumständen als auch in seinem Denken und Werten stark veränderten, mehr oder weniger reumütigen Erzähler voraus, der auf seine Jugendsünden als frommer Mensch, weltflüchtiger Einsiedler oder Gefängnisinsasse zurückblickt. Der große zeitliche und ideologische Abstand zwischen erzählendem und erzähltem Ich wirft in jedem Wertungsakt des Erzählers die Frage nach seiner zeitlichen Perspektive auf. Wertet er aus der Warte der Exegesis, des Erzählaktes, d. h. vom Standpunkt des veränderten erzählenden Ich, oder wertet er mit figuraler Perspektive, aus der Warte der Diegesis, d. h. aus der Position seines früheren Ich? 2. Die zeitliche Perspektive in F. M. Dostoevskijs Roman Der Jüngling 2.1 Der Jüngling als Variante des Konfessionsromans Eine in thematischer und struktureller Hinsicht hochinteressante Variante des Konfessionsromans ist Fedor Dostoevskijs Jüngling (1875).15 Der für den Konfessionsroman charakteristische große Zeitabstand zwischen einem jugendlichen erzählten Ich und einem gereiften erzählenden Ich ist hier auf die kurze Zeitspanne von maximal acht Monaten geschrumpft. Der zwanzigjährige Gymnasiast Arkadij Dolgorukij berichtet im Mai eines nicht genannten Jahres von den Abenteuern, die er zwischen dem 19. September und Mitte Dezember des Vorjahrs erlebt hat. Mit der Reduzie-

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Der russische Werktitel Podrostok („Der Halbwüchsige“, „Der Heranwachsende“ ) ist in deutschen Ausgaben unterschiedlich übersetzt worden: Junger Nachwuchs, Der Gelbschnabel, Ein Werdender, Werdejahre (vgl. die Übersicht bei Horst-Jürgen Gerigk: Versuch über Dostoevskijs ‚Jüngling‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. München 1965, S. 24). Die sonst ausgezeichnete jüngste Übersetzung von Swetlana Geier hat den Titel Ein grüner Junge, der zu einseitig die Unreife des Helden akzentuiert (Fedor M. Dostoevskij: Ein grüner Junge. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich 2006). Ich folge hier der am weitesten verbreiteten deutschen Titelversion, die E. K. Rahsin (d. i. Elisabeth Kaerrick) für die erste deutsche Gesamtausgabe der Werke Dostoevskijs (Piper Verlag, 1906–1919) gewählt hat (Fedor M. Dostoevskij: Der Jüngling. Übertragen von E. K. Rahsin. München 1960). Der Titel Der Jüngling assoziiert neben Jugendlichkeit und Unreife auch die Reinheit und Unverdorbenheit, die den Helden des Romans auszeichnen.

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rung der zeitlichen Distanz zwischen Erleben und Erzählen intensiviert der Autor die Erfahrung der Zeitlichkeit. Für Dostoevskij war die Darstellung der Zeit eine der wesentlichen Aufgaben künstlerischer Gestaltung, wie Dmitrij Lichačev ausführt.16 Dass zahlreiche Werke Dostoevskijs die Gattungsform von „Aufzeichnungen“ haben, ist auf zweifache Weise zu begründen. Zum einen ist hier die „Sehnsucht nach dem Alltäglichen“, wirksam, von der nach einem Wort des fiktionalen Postscriptums zum Jüngling der Schriftsteller „besessen“ ist (XIII, 455).17 Zum andern kann in der Form von „Aufzeichnungen“ mit ihrem Potential, aus unterschiedlichen zeitlichen Perspektiven zu erzählen, das Erleben der Zeit und die Erfahrung sich verändernder Sinnpositionen auf besondere Weise sinnfällig gemacht werden. Dies ist auch und gerade dann der Fall, wenn zwischen Erleben und Erzählen ein extrem kurzer Zeitabstand besteht. Und eine solche geringe Distanz des Schreibens zum Handeln ist für alle Chroniken Dostoevskijs charakteristisch: „Dostoevskijs fiktiver Chronist folgt den Ereignissen ‚auf den Fersen‘, holt sie beinahe ein, beeilt sich sie zu fixieren, noch bevor er sie so recht begriffen hat“.18 Das bedingt, dass die Chronik gelegentlich fast zum Stenogramm wird. „Die ‚schnelle Chronik‘ der Romane Dostoevskij ist die moderne Form der Literatur“.19 Die Ereignisse, von denen Dostoevskijs Erzähler im Jüngling berichtet, entfalten sich im Spannungsfeld zwischen dem neunzehnjährigen Arkadij Dolgorukij und seinem leiblichen Vater Andrej Versilov. Der unehelich geborene Arkadij ist ohne Eltern in der Obhut fremder Menschen aufgewachsen. In der Moskauer Adelspension, in der er erzogen wurde, haben ihn Lehrer und Schüler seine uneheliche Herkunft schmerzlich spüren lassen. Er hat darauf mit dem Rückzug in Träume reagiert, die vor allem um den unbekannten Vater kreisten, und er hat die „Idee“ entwickelt, ein Rothschild zu werden. Als Arkadij seinen Vater kennenlernt, den er bis-

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Dmitrij Lichačev: „‚Letopisnoe vremja‘ u Dostoevskogo“. In: Ders.: Poėtika drevnerusskoj literatury. Leningrad 1967, S. 319–334 (dt.: Dmitrij Lichačev: „Chronikalische Zeit bei Dostojewskij“. In: Ders.: Nach dem Formalismus. Aufsätze zur russischen Literatur. Aus dem Russischen übersetzt, herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Alexander Kaempfe. München 1968, S. 86–106, hier S. 86). Alle Zitate aus den Werken Dostoevskijs werden in eigener Übersetzung nach der 30-bändigen Akademieausgabe Dostoevskij 1972–1990 unter Angabe von Band und Seitenzahl angeführt. – Zu Dostoevskijs Präferenz des Faktographischen vgl. Lichačev (Anm. 16). Zur Gegenüberstellung wahrer Aufzeichnungen und lügenhafter Literatur, die Dostoevskijs Erzähler im Jüngling vornimmt, vgl. Aage A. Hansen-Löve: „Nachwort“. In: Fedor. M. Dostojewski: Der Jüngling. München 1986, S. 874–917, hier S. 874–883; Aage A. Hansen-Löve: „Diskursivnye processy v romane Dostoevskogo Podrostok“. In: V. M. Markovič/Wolf Schmid (Hrsg.): Avtor i tekst. St. Petersburg 1996, S. 229–267, hier S. 228– 231. Lichačev (Anm. 16), S. 320 f.; dt. S. 88. Lichačev (Anm. 16), S. 332; dt. S. 104.

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lang nur ein einziges Mal mit zehn Jahren flüchtig gesehen hat, wird er in einen „Wirbelsturm“ von Ereignissen gerissen, die dem jugendlichen Helden pikaresken Charakter geben.20 Zufällig gelangt Arkadij in den Besitz eines kompromittierenden Briefes, den Katerina Achmakova geschrieben hat, die mit seinem Vater durch eine Arkadij nicht ganz durchschaubare Hass-Liebe verbunden ist. Die stolze schöne Frau wird aber auch von Arkadij insgeheim verehrt, obwohl er sich geschworen hat, sein Leben lang auf die Frauen „zu spucken“. So ergibt sich eine höchst spannungsvolle Dreieckssituation. Der pikareske Held erhält durch die Vermittlung des Fürsten Sokol’skij, von dem seine Schwester Liza ein Kind erwartet, Eingang in die höhere Gesellschaft, beginnt zu spielen, macht Schulden und gewinnt schließlich eine beträchtliche Summe Geldes. Zu Unrecht des Diebstahls beschuldigt, wird er aus dem illegalen Spielsalon verwiesen und irrt ziellos durch die Stadt. Bewusstlos findet ihn sein ehemaliger Moskauer Schulkamerad Lambert, unter dem Arkadij schon während der gemeinsamen Zeit in der Adelspension gelitten hat. Der ausgemachte Schuft kommt auf die Idee, Katerinas Brief zur Erpressung zu nutzen und entwendet Arkadij das in die Kleider eingenähte „Dokument“. Arkadij wird krank in das Haus seiner Mutter Sof’ja gebracht, wo er seinem gesetzlichen Vater Makar Dolgorukij begegnet, der, ein früherer Leibeigener, durch Russland gepilgert ist und sich nach langer Wanderschaft in der „Familie“ ausruht. Von Makar hat Versilov seinerzeit die Leibeigene Sof’ja losgekauft. Makars Tod führt die Glieder der „zufälligen“ Familie zusammen. Arkadij versöhnt sich mit Versilov und beschließt, ein Universitätsstudium aufzunehmen. Versilov, der versprochen hat, Sof’ja zu heiraten, wenn Makar stürbe, kehrt zu ihr zurück. Unter der Feder des zwanzigjährigen Erzählers nimmt die Chronik der turbulenten Ereignisse die Form von Konfessionen, ja die Form einer Beichte an.21 In diesem Zusammenhang ist nicht ohne Bedeutung, dass

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Zu den „pikaresken Formelementen“ des Romans vgl. Gerigk (Anm. 15), S. 30–34. Johannes Holthusen, der darauf verweist, dass schon Leonid Grossman (Poėtika Dostoevskogo. Moskva 1925) für Dostoevskijs Romane die Formel „philosophischer Abenteuerroman“ geprägt hat, bevorzugt dagegen den Begriff des Entwicklungsromans. Holthusen: Prinzipien der Komposition und des Erzählens bei Dostoevskij. Köln/Opladen 1969, S. 18. Dostoevskij war mit der Konfessionsliteratur gut vertraut und interessierte sich vor allem für die Psychologie des Beichtenden. So lässt er den Sprecher seiner Aufzeichnungen aus dem Kellerloch, einer masochistischen Beichte, Heinrich Heines Zweifel an der Möglichkeit wahrheitshaltiger Autobiographien vorbringen: Der Mensch werde über sich wahrscheinlich die Unwahrheit sagen. Nach Heines Meinung habe Rousseau in seinen Confessions unbedingt über sich gelogen, und zwar aus Eitelkeit. Er selbst, fährt der Kellerlochmensch fort, könne sehr gut verstehen, wie man einzig aus Eitelkeit sich ganzer Verbrechen bezichtigen könne, und er verstehe auch sehr gut, von welcher Art diese Eitelkeit sei (V, 122). Zum Diskurs der Beichte bei Dostoevskij und insbesondere zu den narzisstischen Enthüllungen und Selbstbezichtigungen im Jüngling vgl. Hansen-Löve 1996 (Anm. 17), S. 234–239.

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der Roman wie andere späte Werke Dostoevskijs aus dem Keim des Konzepts der Vita eines großen Sünders entstanden ist,22 eines Konzepts, das im Jüngling letztlich nicht realisiert wurde, auch nicht in andern Werken.23 Arkadij hat sich zwar nicht wirklicher Vergehen schuldig gemacht, empfindet aber in der Erzählgegenwart sein Denken und manche Verhaltensweisen der nur wenige Monate zurückliegenden Handlungsgegenwart als überaus peinlich. Besonders unangenehm ist er berührt von seiner früheren Naivität. Sich selbst gegenüber äußerst kritisch, deckt er die tatsächlichen und vermeintlichen Peinlichkeiten in seiner Vergangenheit schonungslos auf, streicht aber, um vor sich und seinem Leser bestehen zu können, zugleich den Abstand zu seinem früheren Ich heraus. Folgendes Beispiel ist charakteristisch für die Entwicklung der Geständnisse des Jünglings: Zunächst leugnet Arkadij trotzig die offensichtliche Peinlichkeit einer Situation, dann behauptet er eine tiefgreifende Veränderung, die mit ihm in den wenigen Monaten vor sich gegangen sein soll, um schließlich die trotzige Leugnung der Peinlichkeit in ironischer Selbstzitierung zu dementieren. Folgendermaßen ist die Situation: Arkadij hat sich trotz seiner festen Vorsätze dazu hinreißen lassen, vor den bei Dergačev versammelten Sozialisten von seiner Idee zu sprechen, seine pubertären Ansichten über die Welt und die Frauen preiszugeben und die Revolutionäre zu attackieren. Darauf reagieren die Versammelten mit einer „lauten und äußerst ungehörigen Lachsalve“ (XIII, 51). Das ist für den Neunzehnjährigen natürlich eine unauslöschliche Schande. Dennoch schließt er das Kapitel mit den Worten „Ich schämte mich nicht im geringsten“ (ebd.). Das folgende Kapitel beginnt dann mit den Worten „Natürlich ist zwischen meinem jetzigen und meinem damaligen Ich ein abgrundtiefer Unterschied. Während ich fortfuhr, ‚mich nicht im geringsten zu schämen‘, holte ich Vasin noch auf der Treppe ein“ (ebd.). An anderen Stellen gesteht Arkadij die Scham seines früheren Ich unumwunden ein: Schande! Leser, ich beginne jetzt die Geschichte meiner Scham und Schande, und nichts im Leben kann für mich schändlicher sein als diese Erinnerungen! (XIII, 163) Aber ich schämte mich vor mir selbst! Ich war mein eigener Richter und – oh Gott –, was ging in meiner Seele vor! (XIII, 420)

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In den Entwürfen finden wir unter dem 12. August 1874 noch den Satz, mit dem der Roman offensichtlich beginnen sollte. „Ich bin 19 Jahre alt und bin schon ein großer Sünder“ (XVI, 47). Vgl. dazu Holthusen (Anm. 20), S. 8; Petr M. Bicilli: „Počemu Dostoevskij ne napisal ‚Žitija velikogo grešnika‘?“. In: A. L. Bem (Hrsg.): O Dostoevskom. Sb. st. T. II, Praga 1933, S. 25–30.

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Anderseits kann Arkadij an bestimmten Stellen durchaus darauf verzichten, einen „abgrundtiefen Unterschied“ zu seinem früheren Ich zu behaupten, und kann im Gegenteil eine angeblich unveränderte Sinnposition bekräftigen. Dann aber ist Trotz im Spiel. Im Gespräch mit dem alten Fürsten Sokol’skij hat er zu dessen nicht geringer Belustigung heftig ausgeführt, warum er die Frauen nicht mag. Er spürt natürlich, dass seine Philippika pubertär wirken muss, und sucht den befürchteten lächerlichen Eindruck zu verwischen, indem er sich noch als erzählendes Ich trotzig zu seinen früheren Ideen bekennt: Wenn ich dieses Gespräch auch mit etwas Humor und mit dem damaligen Eindruck wiedergebe, so sind das auch jetzt noch meine Gedanken. (XIII, 25)

Die Peinlichkeiten der Vergangenheit überwältigen den Erzähler gelegentlich so sehr, dass er in seiner Gegenwart in die trotzige Misanthropie des Vorjahrs zurückfällt: Eine peinliche Erinnerung! Nein, ich kann mit den Menschen nicht leben. Auch heute denke ich das noch, und auf vierzig Jahre sage ich es im voraus. Meine Idee ist der Winkel. (ХІІІ, 48)

2.2 Der diegetische Erzähler Dostoevskij verfolgt eine personalistische Romankonzeption, d. h. im Zentrum seiner Romane stehen Personen und ihre Sinnposition.24 Das äußert sich auch in der Entstehungsgeschichte. Erst wenn eine Figur als konkrete Person mit einer eigenen geistigen Physiognomie feststeht, beginnt Dostoevskij an ihrer Einbettung in eine Handlung und an der zu erzählenden Geschichte zu arbeiten. Diesen Prozess beobachten wir auch an den Entwürfen zum Jüngling. Der Ruf nach einer Geschichte („Eine Fabel, eine Fabel!“; XVI, 45) erscheint in den Notizbüchern erst, nachdem die Grundentscheidungen gefallen sind (7./8.8.1874): die Hauptperson des Romans ist nicht Versilov, sondern Arkadij Dolgorukij; Arkadij ist nicht der Bruder, sondern der Sohn Versilovs. Kurz darauf (12.8.1874) fällt auch die Entscheidung für den diegetischen Erzähler: Wichtige Lösung der Aufgabe. In der ersten Person schreiben. Mit dem Wort Ich beginnen. ‚Beichte eines großen Sünders, für sich selbst‘. (XVI, 47; Hervorhebung im Original)

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Zur personalistischen Konzeption vgl. Michail Bachtin: Problemy poėtiki Dostoevskogo. Izd. 2-e, pererabot. i dop., Moskva 1963 (dt.: Michail Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russ. von Adelheid Schramm. München 1971); Holthusen (Anm. 20), S. 8– 11.

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Die Frage des Erzählers ist aber noch nicht endgültig entschieden. Zwischen den beiden Erzählertypen schwankend, erwägt der Autor am 15.8.1874 die Möglichkeit, den Jüngling von einem nichtdiegetischen Erzähler in konsequent figuraler Perspektive darstellen zu lassen: Wenn ich nicht in der ersten Person des Jünglings schreibe (Ich), so muss ich eine solche Erzählweise schaffen, dass ich mich ganz eng an den Jüngling als den Helden halte […] so dass [alle Personen und Umstände] nur in genau dem Maße beschrieben werden, wie sie nach und nach den Jüngling betreffen. Schön kann das ausfallen. (XVI, 60; Hervorhebung im Original)

Erneut zur Idee eines Romans „in der ersten Person“ zurückkehrend, zählt Dostoevskij am 26.8.1874 die Vorteile dieser Technik auf: Eine Erzählung im Ich überdenken. Viele Vorteile; viel Frische, die Person des Jünglings tritt typischer hervor. Netter. Ich komme besser mit der Person, mit der Persönlichkeit, mit dem Wesen der Persönlichkeit zurecht. […] Schließlich kann man alles schneller und gedrängter beschreiben. Naivitäten. Den Leser dazu bringen, den Jüngling lieb zu gewinnen. Man wird ihn liebgewinnen und den Roman dann zu Ende lesen. Gelingt der Jüngling nicht als Person, gelingt der ganze Roman nicht. (XVI, 86)

Es blieb dann bei der Entscheidung für den diegetischen Erzähler. Den Ausschlag in der Abwägung zwischen den beiden Formen gab schließlich, dass das Erzählen „in der ersten Person“ „origineller“ sei und „mehr Liebe, mehr Kunst“ erfordere. Andererseits sorgte sich der Autor, ob diese Originalität dem Leser nicht lästig werden könne, ob der Leser das Ich „35 Druckbögen hindurch“ aushalten werde und ob die Hauptideen des Romans „natürlich und vollständig“ durch einen Zwanzigjährigen zum Ausdruck gebracht werden könnten (XVI, 98). Die Entwürfe vom September 1874 (XVI, 98) belegen, dass der Autor zeitweilig einen Abstand von vier Jahren zwischen den Ereignissen und ihrer Aufzeichnung in Erwägung zog, um ein besseres Verständnis der Ideen des Vaters durch den Jüngling zu motivieren. Dass diese Pläne wieder fallengelassen wurden, weist auf eine Verschiebung im Romangenre. Der ursprünglich konzipierte Ideenroman wandelte sich zum Adoleszenzroman.25 Dass letztlich nicht die von Arkadij erinnerten Ereignisse und Ideen selbst, sondern ihre perspektivische Brechung in seinem adoleszenten Bewusstsein von Dostoevskij als Darstellungsgegenstand intendiert war, erhellt aus folgender Überlegung in den Entwürfen: Auf diese Weise zeichnet sich von selbst der Typ des Jünglings ab (sowohl in der Ungeschicklichkeit des Erzählens als auch in der Auffassung „Wie ist das Leben schön!“ und im außergewöhnlichen Ernst des Charakters. […] So wie in Belkins

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Zur Darstellung des „pubertären Bewusstseins“ vgl. Gerigk (Anm. 15), bes. S. 193.

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Erzählungen das Wichtigste Belkin selbst ist, so wird auch hier hauptsächlich der Halbwüchsige dargestellt). (XVI, 48)

Arkadij Dolgorukij ist der am stärksten profilierte Erzähler im gesamten Werk Dostoevskijs. Abgesehen von der expliziten Selbstdarstellung wird das Bild des Narrators auch stark indizial angezeigt, durch die thematischen, axiologischen und stilistischen Symptome, die sein Erzählen enthält. Unter den ersten beiden Komplexen sind vor allem die Merkmale des adoleszenten Bewusstseins zu nennen: Unsicherheit, Verletzlichkeit, Scham, Wunsch nach Anerkennung. Obwohl das erzählende Ich der Erzählgegenwart einzelne Personen und Vorgänge anders bewertet, als es das erzählte Ich in der Handlungsgegenwart getan hat, konvergieren die Wertungshaltungen beider Ichs grundsätzlich in der Sinnposition eines unverdorbenen, etwas naiven Halbwüchsigen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als von der erwachsenen Umwelt, vor allem aber von seinem Vater anerkannt zu werden. Stilistisch gibt sich der halbwüchsige Erzähler, der durchaus gebildet ist und über ein breites Register von Ausdrucksmöglichkeiten verfügt, vor allem zu Beginn seines Erzählens durch spezifisch pubertäre Ausdrucksweisen kund. Wenn Arkadij sein Erzählen thematisiert oder von Dingen berichtet, die sein gespanntes Verhältnis zur Umwelt betreffen, wird die insgesamt dominierende darstellende Sprachfunktion oft von Expression und Impression verdrängt. Die Lexik ist dann mit umgangssprachlichen Elementen durchsetzt, wie sie für einen Halbwüchsigen charakteristisch sind: trotzig auftrumpfenden Hyperbeln, nachlässig-burschikosen Ausdrücken und stereotypen Wendungen aus dem Wortschatz des Jugendlichen. Die symptomhaltige Erzählrede prägt schon den Einsatz des Romans: Nun habe ich es doch nicht mehr ausgehalten und habe mich hingesetzt, um diese Geschichte meiner ersten Schritte auf dem Schauplatz des Lebens aufzuschreiben, obwohl ich das eigentlich auch lassen könnte. Eins weiß ich ganz sicher: nie wieder setze ich mich hin, um meine Autobiographie zu schreiben, selbst wenn ich hundert Jahre alt werde. Man muss schon zu blöd in sich selbst verliebt sein, um ohne Scham über sich selbst schreiben zu können. (XIII, 5)

2.3 Der Quasi-Dialog mit dem fiktiven Leser Der adoleszente Erzähler hat ein angespanntes Verhältnis zu seinem Adressaten, den er sich als kritischen Erwachsenen vorstellt, der seine Naivitäten spöttisch belächelt. Überall dort, wo Arkadij seine Gedanken und Handlungen darstellt, tritt als eine Funktion des Erzählens die Impression in den Vordergrund. Die Auswahl des Erzählten, die stellenweise euphemistischen Selbstbewertungen sowie gewichtige rhetorische Gesten zeigen an, dass Arkadij das vorgestellte Gegenüber beeindrucken, es von

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ihm selbst und seiner Würde überzeugen möchte. Die Impression enthält Arkadijs Appell an den Leser, ihn, den Halbwüchsigen ernst zu nehmen und als vollwertig anzuerkennen. Der Wunsch nach Anerkennung ist sowohl in den Passagen deutlich, in denen Arkadij sein ihm peinliches Verhalten zu beschönigen sucht, als auch dort, wo er alle Euphemismen aufgibt und sich als finsteren, menschenscheuen Charakter darstellt. Der Impression antwortet eine in entgegengesetzter Richtung verlaufende Einwirkung: Arkadij entwirft einen Leser, der sich die ihm nahegelegte Wertung nicht zu eigen macht, Arkadijs geheime Intentionen durchschaut und mit spöttischen Einwänden reagiert. Neben der Impression wird das Erzählen von der Orientierung an der Position des entworfenen Adressaten geprägt. Diese Orientierung führt zu dem Aussagetypus, den Michail Bachtin „Wort mit dem Seitenblick auf ein fremdes Wort“ genannt hat.26 Die Orientierung, die sich im Allgemeinen nur durch indiziale Zeichen wie Änderung der Argumentationsweise, Wechsel der Sprechhaltung, Metamorphosen des Stils kundgibt, kann die Form direkter Anreden annehmen. Das Aufbegehren gegen die eigene Unreife schlägt nicht selten um in einen gereizten Angriff auf den imaginierten Leser. Je stärker sich Arkadij der Kindlichkeit seiner Weltsicht bewusst wird, desto heftiger attackiert er sein Gegenüber: […] es begann zwischen ihnen [d. i. Versilov und Arkadijs Mutter] direkt mit dem Unglück. (Ich hoffe nur, der Leser wird nicht so tun, als ob er nicht sofort begriffe, was ich damit sagen will). (XIII, 11; Hervorhebung im Original) Meine Idee ist – ein Rothschild zu werden. Ich fordere den Leser auf, Ruhe und Ernst zu bewahren. (XIII, 66)

Auf dem Höhepunkt der Darlegung dieser Idee ruft Arkadij erbost aus: Meine Herrschaften, sollte Ihnen denn schon die geringste Unabhängigkeit im Denken so schwer fallen? (ХIII, 77)

Der Schatten der erwarteten kritischen Einwürfe liegt ständig auf Arkadijs Erläuterungen zu seiner „Idee“. Er negiert präventiv die beim Leser vermuteten Erklärungen für seine pubertären Pläne und glaubt sich vor dem verständnisvollen Lächeln des Lesers mit einer pejorativen Selbststilisierung zu schützen, die er – unter dem Einfluss möglicher Einwände – wiederum abmildert: Nein, nicht meine uneheliche Geburt […], nicht die traurigen Jahre der Kindheit, nicht Rache und Recht auf Protest waren der Grund für meine „Idee“; schuld an allem ist einzig mein Charakter. Schon mit zwölf Jahren, so glaube ich, das heißt mit dem Erwachen eines eigentlichen Bewusstseins, begann ich, die Menschen nicht zu lieben. Nicht gerade, nicht zu lieben, aber irgendwie wurden sie mir

____________ 26

Bachtin (Anm. 24).

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schwer. Es tat mir manchmal selbst sehr weh, […] dass ich misstrauisch bin, finster und verschlossen. […] Ja, ich bin ein düsterer Mensch, ich verschließe mich ständig. Oft möchte ich die menschliche Gesellschaft ganz verlassen. (ХIII, 72)

Das Erzählen wird zu einem inszenierten Dialog, wenn Arkadij die von ihm erwarteten Reaktionen des Lesers explizit nennt und den Kern der Einwände formuliert: Ich habe mir gerade vorgestellt, dass, wenn ich auch nur einen einzigen Leser hätte, er sich sicher über mich totlachen würde, wie über den lächerlichsten Halbwüchsigen, der sich seine dumme Unschuld bewahrt hat und sich unterfängt, über Dinge zu urteilen und zu entscheiden, von denen er keine Ahnung hat. Ja, ich habe wirklich noch keine Ahnung, doch gebe ich das durchaus nicht aus Stolz zu, denn ich weiß, wie dumm eine solche Unerfahrenheit an einem zwanzigjährigen Tölpel ist; nur will ich diesem Herrn sagen, dass er selbst keine Ahnung hat, und das werde ich ihm beweisen. (ХIII, 10) Es tut mir leid, dass ich den Leser sogleich enttäuschen muss, ja, es tut mir leid, aber es freut mich auch. Es soll jedermann wissen, dass keinerlei Gefühl der „Rache“ meiner „Idee“ zugrunde liegt, nichts Byronisches, weder Flüche noch Klagen eines Waisenkindes, noch Tränen über die uneheliche Geburt, nichts dergleichen, nichts. Mit einem Wort, eine romantische Dame würde, wenn ihr meine Aufzeichnungen in die Hände fielen, sofort die Nase rümpfen. Der ganze Zweck meiner „Idee“ ist Einsamkeit. – Aber Einsamkeit kann man doch auch so haben, ohne sich damit aufzuplustern, dass man ein Rothschild werden will. Wozu brauchen Sie den Rothschild? – Weil ich außer Einsamkeit auch Macht brauche. (XIII, 72)

Ist Arkadij bei schamhaften Eingeständnissen an einem Punkt angelangt, der ihm keinen ehrenvollen Rückzug vor den entblößenden Erwiderungen des Gegners mehr offen zu lassen scheint, so rettet er sich kurzerhand mit einem paradoxen Kunstgriff, den wir auch aus einem andern quasidialogischen Erzählmonolog Dostoevskijs kennen, den Aufzeichnungen aus dem Kellerloch,27 nämlich damit, dass er die Existenz des angesprochenen Gegenübers leugnet: Ich will hier eine Vorbemerkung machen: der Leser wird über die Aufrichtigkeit meiner Beichte vielleicht entsetzt sein und sich naiv fragen: wie kann der Verfasser das alles schreiben, ohne zu erröten. Darauf möchte ich antworten: ich schreibe nicht für den Druck; einen Leser werde ich wahrscheinlich erst in zehn Jahren haben, wenn alles mit der Zeit schon so offenkundig und geklärt sein wird, dass es keinen Grund mehr zum Erröten geben wird. Wenn ich mich in meinen Aufzeichnungen dennoch manchmal an einen Leser wende, so ist das ein bloßes literarisches Verfahren. Mein Leser ist eine Phantasiegestalt. (XIII, 72)

____________ 27

Vgl. Wolf Schmid: Der Textaufbau in den Erzählungen Dostoevskijs. München 1973, S. 255– 270.

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2.4 Die zeitliche Perspektive des Erzählers Die dargestellte Welt des Jünglings umfasst drei Zeitebenen: 1. die Handlungsgegenwart (19. September bis Mitte Dezember), 2. die Handlungsvergangenheit (bis zum 19. September), 3. die Erzählgegenwart (Mitte Mai). Die minuziöse Analyse der Zeitstruktur des Jünglings, die Horst-Jürgen Gerigk vorgelegt hat,28 zeigt ein verblüffend regelmäßiges Muster: aus der drei Monate umfassenden und chronologisch dargebotenen Handlungsgegenwart werden nur 12 Tage fixiert, unter ihnen drei „große“ Tage der Monate September, November und Dezember, die jeweils in fünf Kapiteln der drei Teile erzählt werden. Die Handlungsvergangenheit hat zwei Inhalte: 1) einzelne Phasen und Begegnungen aus Arkadijs Biographie, die nicht chronologisch entwickelt, sondern nur in einzelnen Momenten assoziativ erinnert wird, und 2) den anderthalb Jahre zurückliegenden Skandal in Bad Ems, in dessen Verlauf Versilov von einem der Fürsten Sokol’skij eine Ohrfeige erhält, ohne den Beleidiger daraufhin zum Duell zu fordern. Über dieses Ereignis, das Arkadij, da es über die Ehre des Vaters entscheidet, brennend interessiert, wird ihm von verschiedenen Personen und mit unterschiedlichen Deutungen berichtet, aber es gelingt ihm nicht, die Umstände des Vorfalls von Bad Ems restlos aufzuklären. Die Adoleszenz ist eine Phase heftiger axiologischer Veränderungen. Mit 19 Jahren für das erzählte und 20 Jahren für das erzählende Ich hat Dostoevskij Altersstufen gewählt, in denen die Sicht des Menschen auf die Welt in ständigem Wandel begriffen ist. Für drei Zeitphasen macht der Roman eine Entwicklung des Halbwüchsigen sinnfällig. In der Handlungsgegenwart erfährt Arkadij immer neue Seiten der Wirklichkeit, erhält Informationen über die ihm nahestehenden Menschen und ihre Vorgeschichte und bewertet seine Umwelt auf Grund wachsender Einsicht mit ständig veränderten Akzenten. Deutlichstes Anzeichen der Reifung Arkadijs ist, dass in den ersten Petersburger Tagen nach dem 19. September die „Idee“, die noch einen Monat vorher in Moskau seinen Lebensinhalt ausmachte, „wofür ich auf der Welt lebe“ (XIII, 14), allmählich in Vergessenheit gerät und schließlich ganz fallengelassen oder entscheidend umdefiniert wird. Zwischen dem Ich der Handlungsgegenwart und der Erzählgegenwart, also für die im Roman nicht erzählte Phase zwischen Mitte Dezember und Mitte Mai, postuliert der Erzähler jenen „abgrundtiefen Unter-

____________ 28

Gerigk (Anm. 15), S. 76–100.

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schied“, von dem schon die Rede war. Diesen Abstand wird der Leser freilich ein wenig relativieren. Ganz offensichtlich ist die Reifung, die Arkadij während des Schreibens und durch das Erzählen erfährt. Zum Schluss seiner Aufzeichnungen kann er nur mit Distanz das ihm fremd gewordene Erzähler-Ich der ersten Sätze betrachten: Nachdem ich die Aufzeichnungen abgeschlossen und die letzte Zeile geschrieben hatte, fühlte ich plötzlich, dass ich mich selbst umerzogen habe, und zwar durch den Prozess des Vergegenwärtigens und Aufzeichnens. Von vielem, was ich geschrieben habe, sage ich mich los, besonders vom Ton einiger Sätze und Seiten, doch ich streiche und korrigiere kein einziges Wort. (XIII, 447)

Arkadijs Reifung in der Erzählgegenwart wird nicht nur von ihm behauptet, sondern auch vom Autor indizial dargestellt: mit fortschreitendem Erzählen treten die axiologischen, sprachfunktionalen, lexikalischen und syntaktischen Merkmale der Adoleszenz zurück, und die Polemik mit dem imaginierten Leser nimmt ab. Der aufdringliche Appell an den Leser zur Anerkennung und die agonale Orientierung an seiner Sinnposition hinterlassen immer geringere Spuren. Zum Schluss ist der Erzähler mit seinem Leser ganz versöhnt. Die Veränderung des Erzählers und der Wandel seiner Sinnposition wirft die Frage auf, aus welchem zeitlichen (und damit axiologischen) Standpunkt er die Handlungsgegenwart präsentiert. Beide der oben in Abschnitt 1.3 theoretisch dargestellten Perspektivtechniken (narratorial und figural) wären hier grundsätzlich möglich. Eine konsequent narratoriale Darbietung würde aus der stets mitgestalteten Position der Erzählgegenwart das frühere Geschehen seiner zeitlichen Folge entkleiden, aus seinen Einbettungen und Zusammenhängen herauslösen und nach Maßgabe der im Erzählaugenblick aufscheinenden Relevanz raffen und ordnend akzentuieren. Die Bewertung von Personen und Ereignissen wäre dem ‚jetzigen‘ Wissensstand, einer neu gewonnenen Einsicht und Sinnposition angepasst. In einer streng figuralen Darbietung bliebe der Standpunkt der Erzählgegenwart ungestaltet. Die Ereignisse müssten in ihrer zeitlichen Folge und Dichte so vor uns ablaufen, wie sie sich dem erzählten Ich dargeboten haben. Vorausdeutungen, narratoriale Erläuterungen oder Umwertungen wären ausgeschlossen. Explizite und implizite Wertungen gäben immer nur die Sinnposition des jeweils erzählten Ich kund. Im Jüngling fluktuiert die Erzählperspektive zwischen diesen beiden Möglichkeiten. Im gelegentlichen Überspringen und akzentuierenden Raffen einzelner Handlungsphasen, in einzelnen vorauseilenden Andeutungen liegt narratoriale Darbietung vor. Narratorial sind auch manche auf die Erzähl-

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gegenwart bezogenen Zeitangaben, die Momente der Handlungsgegenwart bezeichnen: „damals“, oder anaphorische Zeitangaben „an diesem neunzehnten September“ (XIII, 36). Gelegentlich gibt Arkadij Urteile, die nicht dem Wissensstand der Handlungsgegenwart entsprechen, sondern aus der Position des Erzählens gefällt sind. Den Gesichtsausdruck des Revolutionärs Kraft, der im weiteren Verlauf Selbstmord begehen soll, beschreibt Arkadij mit folgenden Worten: Etwas war in seiner Miene, das ich nicht in meiner eigenen hätte haben wollen, etwas zu Ruhiges im moralischen Sinne, etwas von einem heimlichen, seiner selbst nicht bewussten Stolz. Übrigens konnte ich damals so genau nicht urteilen; es scheint mir jetzt so, dass ich damals so geurteilt hätte, das heißt nach dem Ereignis. (XIII, 44)

Der Erzähler ist sich also des zeitlichen Abstands zu seinem früheren Ich sehr wohl bewusst und weiß auch, dass zwischen Erfassen und Darstellen nicht nur eine zeitliche Kluft liegt, sondern auch ein Akt der Übersetzung erforderlich ist. Seine Wiedergabe der widersprüchlichen Eindrücke von der ersten Begegnung mit Katerina Achmakova wird von einem Kommentar begleitet, der die Authentizität des Geschriebenen relativiert: So würde ich meine damaligen Gedanken und meine Freude übersetzen und vieles von dem, was ich empfunden habe. Ich möchte nur hinzufügen, dass es hier, in dem soeben Geschriebenen leichtfertiger herausgekommen ist. In Wirklichkeit war ich tiefer und schamhafter. (XIII, 36)

Dominierend ist im Erzählen allerdings die figurale Perspektive. Arkadij versucht sich vollständig in sein früheres Ich zu versetzen und schildert die zentralen zwölf Tage, auf die die Geschehnisse konzentriert sind, fast durchweg aus der zeitlichen Position des erzählten Ich. Grammatisches Anzeichen dafür ist der Gebrauch deiktischer Zeitausdrücke, die auf das Nunc der Handlungsgegenwart bezogen sind. Зверев ждал его именно сегодня или завтра, о чем третьего дня дал мне знать. (XIII, 42) Zverev erwartete ihn gerade heute oder morgen, was er mich vorgestern wissen ließ. (Hervorhebung von mir, W. S.)

Deutsche Übersetzungen tendieren dazu, die deiktischen Zeitausdrücke durch anaphorische zu ersetzen. So übersetzt E. K. Rahsin: Swerjoff hatte mir vor einiger Zeit mitgeteilt, daß er ihn gerade an jenem Tage oder spätestens am folgenden zurückerwartete.29

Damit wird ein wichtiges Anzeichen für die Versetzung in die Handlungsgegenwart und für die figurale Perspektive getilgt.

____________ 29

Dostoevskij 1960 (Anm. 15), S. 53. Zu dieser Stelle und ihrer entfiguralisierenden Übersetzung bei Rahsin vgl. Gerigk (Anm. 15), S. 79 f.

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Es ist Arkadijs erklärtes Bemühen, die Ereignisse, die mit solcher Geschwindigkeit über ihn hereingebrochen sind, dass er sich „jetzt“ noch darüber wundert, wie er ihnen standgehalten hat, „in strenger Reihenfolge zu beschreiben“ (XIII, 241). Dabei verzichtet er in der Regel auf die Erläuterung von Zusammenhängen, die ihm erst später bekannt geworden sind. Arkadij teilt seinem Leser über große Partien nur das mit, was er als erzähltes Ich in dem jeweils erzählten Augenblick der Handlungsgegenwart gewusst, gedacht, wahrgenommen, gefühlt und gesprochen hat. Die äußere Welt wird nur insofern beschrieben, wie sie vom erzählten Ich wahrgenommen wurde, als rezipierte Wirklichkeit. Der „Wirbelsturm“30 der auf die 12 Tage entfallenden Ereignisse wird mit der für das erzählte Ich maßgebenden Dichte und Eindringlichkeit der Eindrücke wiedergegeben. Arkadij beabsichtigt, die Ereignisse der Handlungsgegenwart mit der „damaligen Charakteristik“ (XIII, 25) darzubieten, um den früheren „Eindruck zu rekonstruieren“ (ХIII, 100). Dies erklärt, warum er wichtige Tatsachen verschweigt, die ihm erst später bekannt geworden sind. Im Nachhinein erweisen sich manche Bewertungen, die aus der zeitlichen Position der Handlungsgegenwart gegeben wurden, als irreführend. Gegen Ende des Romans deckt der Erzähler seine Perspektive auf und korrigiert die bislang in figuraler Sicht gegebene Bewertung der „Tante“ Tat’jana Pavlovna Prutkova: Eins möchte ich noch hinzufügen: es tut mir furchtbar leid, dass ich mir im Verlauf dieser Aufzeichnungen oft erlaubt habe, über diesen Menschen respektlos und von oben herab zu sprechen. Aber im Schreiben habe ich mich selbst allzu sehr so vorgestellt, wie ich in jeder der von mir beschriebenen Minuten gewesen bin. (XIII, 447).

Obwohl zwischen Handlungsgegenwart und Erzählgegenwart maximal acht Monate liegen, hat der Autor die Motivierung der Erinnerung als zu lösendes Problem verstanden. Schon in den Entwürfen gibt es Ausführungen dazu. Dostoevskij achtete sorgfältig auf eine fiktionsimmanente Motivierung, die dem Anspruch auf psychologische Wahrscheinlichkeit standhielt. Der Erzähler selbst ist sich des Bedarfs an Motivierung wohl bewusst. Er gibt häufig an, wie genau oder ungenau er sich an bestimmte Vorgänge erinnert und warum ihm diese oder jene Einzelheit oder ein ganzer Dialog so lange im Gedächtnis haften geblieben ist. So leitet er die Wiedergabe von Krafts Bericht über den Vorfall in Bad Ems und die Erzählung von Darja Onisimovna, der Mutter der Selbstmörderin, jeweils mit metanarrativen Vorbehalten ein: Ich gebe die Erzählung nicht wörtlich wieder, sondern in aller Kürze nur das Wesentliche. (XIII, 56)

____________ 30

Zum häufig erwähnten Motiv des „Wirbelsturms“ vgl. Gerigk (Anm. 15), S. 182 f.

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Die Erzählung der armen Frau war an manchen Stellen etwas zusammenhanglos. Ich will sie so wiedergeben, wie ich sie selbst verstanden habe und soweit ich mich an sie erinnere (ХIII, 142)

Die zeitliche Distanz bedeutete ein Problem für die Wiedergabe der stilistischen Qualitäten fremder Rede. Die von Arkadij wiedergegebenen Reden dritter Personen bewahren vollständig ihr sprachliches Eigenleben und sind in allen stilistischen Merkmalen auf ihre Urheber abgestimmt. Deren Sprachwelten sind in den verschiedensten Hinsichten (sozialer Schichtung, lokaler Färbung, historischer Charakteristik, funktionaler Bestimmung und persönlichem Ausdruck) stark individualisiert. Obwohl sich Dostoevskij dessen bewusst war, dass eine konsequente Motivierung die fremden Reden nicht in ihrem Eigenleben belassen konnte, sondern sie zumindest partiell an den Sprachhorizont des vermittelnden Erzählers anpassen musste, wie einzelne Bemerkungen in den Entwürfen belegen,31 wird die Illusion des diegetischen Erzählens durch unglaubwürdig genaue Reproduktion längerer Dialoge und Berichte sekundärer Erzähler sowie durch das Fehlen einer stilistischen Assimilation der berichteten Reden an das Sprachvermögen des vermittelnden primären Erzählers bedroht. Die Grenzen dessen, was man Arkadij an Erinnerung an fremde Erzählungen mit eigener stilistischer Physiognomie zutrauen kann, sind am deutlichsten in der mehr als elf Seiten umfassenden Erzählung seines gesetzlichen Vaters Makar vom Kaufmann Skotobojnikov überschritten. Die Erzählung ist in einem stark stilisierten archaisch-volkstümlichen Skaz gehalten, der die religiöse Welt Makars widerspiegelt. Die Motivierung wird auch nicht dadurch gerettet, dass Arkadij Makars Erzählung mit den Worten einleitet: Ich platziere hier eine der Erzählungen [Makars], eine beliebige, einzig deshalb, weil ich mich genauer an sie erinnere. […] Wer will, kann die Erzählung überspringen, um so mehr, als ich sie in seinem Stil erzähle. (XIII, 313)

2.5 Textinterferenz, Zeit und Wertung Im Erzählbericht des Jünglings spielt die Textinterferenz eine bedeutende Rolle. Hierbei überlagert der Text des vermittelnden erzählenden Ich den

____________ 31

Die sprachliche Perspektivierung in der Wiedergabe von Reden dritter Personen hat Dostoevskij als besondere Herausforderung der diegetischen Erzählsituation erkannt: „Wenn in der ersten Person, dann kann man sich weniger auf die Entwicklung der Ideen einlassen, die der Jüngling natürlich nicht so wiedergeben kann, wie sie ausgesprochen wurden; er gibt statt dessen nur den Kern der Sache [суть дела] wieder“. (XVI, 98)

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wiedergegebenen Text des erzählten Ich.32 Die Textinterferenz, die sich vor allem als indirekte und erlebte Rede und als erlebte Wahrnehmung manifestiert, ist nicht nur eine sprachliche Kontamination zweier Texte, sondern ist auch in zeitlicher Hinsicht eine „hybride Konstruktion“ (als die sie Michail Bachtin bezeichnet hat): In ihr sind zwei Zeitpunkte mit den für sie charakteristischen Wertungshaltungen in einer Aussage vereinigt.33 Abhängig von der ideologisch-axiologischen Differenz der Positionen manifestiert sich die Textinterferenz in einem ein- oder in einem zweiakzentigen Typus. Im ersten Typus verschmilzt der Text des erzählenden Ich mit dem des erzählten Ich. Es dominiert die figurale Perspektive, mit der sich der Narrator solidarisiert. In diesem Typus ist im Jüngling in der Regel die erlebte Rede gestaltet. In den beiden folgenden Beispielen, die die einakzentige erlebte Rede illustrieren, ist die Enttäuschung des erzählten Ich über den leiblichen Vater ausgedrückt, die nach Krafts Bericht über den Vorfall in Bad Ems eingetreten ist: Das war also der Mensch, der mir so viele Jahre Herzklopfen bereitet hatte. (XIII, 61) Nun stellt sich heraus, dass dieser Mensch nur ein Traum von mir war, ein Traum seit den Tagen der Kindheit. Ich selbst war es, der ihn sich so ausgedacht hat, und in Wirklichkeit stellte er sich als ein anderer heraus, der so tief unter meiner Phantasie stand. Ich war zu einem reinen Menschen gekommen, aber nicht zu so einem. (XIII, 62)

Das erzählende Ich gestaltet die Enttäuschung über den Vater mit Empathie. Obwohl Arkadij als Erzähler zu diesem Zeitpunkt schon ein anderes Verhältnis zum Vater gewonnen hat, lässt er hier noch keine Distanzierung von seiner früheren Wertung erkennen. Und der Leser weiß an dieser Stelle noch nichts von der später versöhnlicheren Sicht des Sohns. Die zweiakzentige Textinterferenz setzt eine Signalisierung der axiologischen Distanz voraus. Arkadij versetzt sich einerseits in die Handlungsgegenwart und sein früheres Ich, benutzt einen für diese Zeit symptomatischen Ausdruck und rückt andererseits von diesem Ausdruck und der in ihm verkörperten Sinnposition ab. Häufigstes Signal der Distanzierung sind Anführungszeichen, die den Ausdruck der Handlungsgegenwart zuordnen. Es handelt sich hier um jenen Typus der Textinterferenz, den ich als direkte figurale Benennung bezeichne.34

____________ 32 33 34

Zu den Bedingungen der Identifizierung der erlebten Rede in der diegetischen Erzählsituation vgl. Schmid 2014 (Anm. 3), S. 193–195, zu ihrer Form und Funktion im Jüngling: Schmid (Anm. 27), S. 242–253. Michail Bachtin: „Slovo v romane“ [1934/35]. Dann in: Michail Bachtin: Voprosy literatury i ėstetiki. Moskva 1975, S. 72–233, hier S. 118; dt.: „Das Wort im Roman“. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. v. R. Grübel. Frankfurt a. M. 1979, S. 154–300, hier S. 195. Schmid 2014 (Anm. 3), S. 180 f.

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Dieses Verfahren ist in dem Roman ein häufig ironisch eingesetztes Mittel, die Worte dritter Personen auf ihren thematischen Kern und die für ihre Urheber charakteristischen Benennungen zu reduzieren und zugleich mit zusätzlicher narratorialer Wertung zu überlagern: [Makar] „lebte ehrerbietig“ – nach seinem eigenen merkwürdigen Ausdruck […] (XIII, 9) Wo die Versilovs auch waren […], Makar gab der „Familie“ unbedingt Nachricht von sich. (XIII, 13) Das war ein ganzer Haufen „Gedanken“ des Fürsten, die er dem Aktionärsausschuss vorlegen wollte. (XIII, 22)

Mit Hilfe der direkten figuralen Benennung distanziert sich das erzählende Ich auch von seinen eigenen früheren Begriffen. So erscheint die Idee, ein Rothschild zu werden, die das erzählte Ich in Moskau konzipiert und noch in den ersten Petersburger Tagen verfolgt, im Text des erzählenden Ich in der Regel in Anführungszeichen, wie oben zitierte Stellen belegen. Weitere Schlüsselbegriffe, an denen sich die ironische Distanzierung des Erzählers von seinem früheren Ich erweist, betreffen meistens die Idee und ihre Umsetzung: An diesem Neunzehnten unternahm ich noch einen „Schritt“. (XIII, 36) […] ich beschloss, am Tag, an dem ich das Gehalt empfing, eine „Probe“ zu machen, von der ich schon lange geträumt hatte. (XIII, 36) […] und obwohl mein jetziger „Schritt“ nur ein Versuch sein sollte, so hatte ich doch beschlossen, auch diesen Schritt erst dann zu unternehmen, wenn ich […] mit allen gebrochen hätte, mich in mein Schneckenhaus verkriechen und vollkommen frei sein würde. Freilich war ich noch längst nicht in meinem „Schneckenhaus“ […] (XIII, 36; Hervorhebung im Original)

Vor allem das letzte Beispiel verdeutlicht den Zusammenhang von Zeit und Sinnposition: das aus dem Figurentext (dem Text des erzählten Ich) in die indirekte Gedankendarstellung eingehende Schneckenhaus wird durch Anführungsstriche der Handlungsgegenwart zugewiesen und von narratorialer Warte mit wertenden Akzenten versehen, die einer veränderten Sinnposition entsprechen. Die ironische Überlagerung des Figurentextes durch den Erzählertext ist im Jüngling unmittelbar mit der Orientierung am Leser verbunden: das Abrücken des Erzählers von der Sinnposition seines früheren Ich soll dem erwarteten Spott des vorgestellten Adressaten zuvorkommen. Dostoevskijs Variante des Konfessionsromans, in der der für die Gattung charakteristische große Zeitabstand zwischen Erleben und Erzählen auf die kurze Spanne von maximal acht Monaten geschrumpft ist, aktiviert das Empfinden der Zeitlichkeit. Der Roman illustriert in drei Zeitphasen die mit dem Vergehen der Zeit eintretende Zunahme an Wissen und die damit einhergehende Veränderung der Sinnposition. Er ist auch ein Beispiel dafür, wie stark die zeitliche Perspektive mit der Ideologie assoziiert

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ist. Man kann freilich nicht den Schluss ziehen, dass in der zeitlichen Perspektive die ideologische impliziert sei, so dass sich die Ausgliederung einer der beiden Parameter von Perspektive erübrigte. Die ideologische Perspektive kann auch ohne zeitliche Markierung ausgedrückt sein, wie umgekehrt die zeitliche Perspektive auch ohne ideologische Spezifizierung bestehen kann. Neben der ideologischen, der perzeptiven, der räumlichen und der sprachlichen Perspektive bildet die zeitliche Perspektive einen eigenen Parameter jenes Komplexes von objektiven und subjektiven Bedingungen, die die Konstitution des Erzählwerks leiten. Literatur Bachtin, Michail: „Slovo v romane“ [1934/35]. In: Ders.: Voprosy literatury i ėstetiki. Moskva 1975, S. 72–233. Bachtin, Michail: Problemy poėtiki Dostoevskogo. Izd. 2-e, pererabot. i dop., Moskva 1963. Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. Aus dem Russ. v. Adelheid Schramm. München 1971. Bachtin, Michail: „Das Wort im Roman“. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hrsg. von R. Grübel. Frankfurt a. M. 1979, S. 154–300. Bicilli, Petr M.: „Počemu Dostoevskij ne napisal ‚Žitija velikogo grešnika‘?“. In: A. L. Bem (Hrsg.): O Dostoevskom. Sb. st. T. II, Praga 1933, S. 25–30. Dostoevskij, Fedor M.: Podrostok. In: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij i pisem v 30 t. T. XIII. Leningrad 1975. Dostoevskij, Fedor M.: Der Jüngling. Übertragen von E. K. Rahsin. München 1960. Dostoevskij, Fedor M.: Ein grüner Junge. Aus dem Russischen von Swetlana Geier. Zürich 2006. Genette, Gérard: „Discours du récit“. In: Ders.: Figures III. Paris 1972, S. 67–282. Gerigk, Horst-Jürgen: Versuch über Dostoevskijs ‚Jüngling‘. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. München 1965. Grossman, Leonid: Poėtika Dostoevskogo. Moskva 1925. Hansen-Löve, Aage A.: „Nachwort“. In: Fedor M. Dostojewski: Der Jüngling. München 1986, S. 874–917. Hansen-Löve, Aage A.: „Diskursivnye processy v romane Dostoevskogo Podrostok“. In: V. M. Markovič/Wolf Schmid (Hrsg.): Avtor i tekst. St. Petersburg 1996, S. 229–267. Holthusen, Johannes: Prinzipien der Komposition und des Erzählens bei Dostoevskij. Köln/ Opladen 1969. Kayser, Wolfgang: „Das Problem des Erzählers im Roman“. In: German Quarterly 29 (1956), S. 225–238. Köppe, Tilmann/Stühring, Jan: „Against Pan-Narrator Theories“. In: Journal of Literary Semantics 40/1 (2011), S. 59–80. Lichačev, Dmitrij: „‚Letopisnoe vremja‘ u Dostoevskogo“. In: Ders.: Poėtika drevnerusskoj literatury, Leningrad 1967, S. 319–334 (dt.: Dmitrij Lichačev: „Chronikalische Zeit bei Dostojewskij“. In: Ders.: Nach dem Formalismus. Aufsätze zur russischen Lite-

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MATEI CHIHAIA/BIRTE FRITSCH (Wupppertal)

Zeit und Stimme. Zeitliche Verankerung des Erzählens in À la recherche du temps perdu 1. Zeit und Stimme 369 – 1.1 Wann wird erzählt? 369 – 1.2 Vier Kategorien zur Bestimmung des zeitlichen Verhältnisses von Erzählen und Erzähltem 374 – 1.2.1 Die Bestimmung des Sprechzeitpunkts bei Gérard Genette 374 – 1.2.2 Eine alternative Typologie 375 – 2. Zeit und Stimme in „À la recherche du temps perdu“ 386 – 2.1 Nachzeitigkeit 386 – 2.2 Monochronie 389 – 2.3 Statik 392 – 2.4 Heterochronie 396 – 2.5 Fazit 403

1. Zeit und Stimme 1.1 Wann wird erzählt? Diese Frage kann zu zwei Arten von Missverständnissen Anlass geben. Erstens drängen sich im Interesse für die „Zeit des Erzählens“ immer wieder kognitive, epistemische, ethische Aspekte in den Vordergrund. Diese sind jedoch für die formale Positionierung der Erzählerrede zum Erzählten irrelevant. Wenn Leo Spitzer z. B. in einem der ersten Kommentare zu Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit treffend die Differenz von „erzählendem Ich“ und „erzähltem Ich“ hervorhebt, meint er vor allem die unterschiedliche Sicht der Dinge, die den jungen Helden vom älteren Erzähler trennt: „Dieser objektivierenden, das Erzählte distanzierenden Tendenz steht nun eine die Ereignisse mit den Figuren erlebende, sie von ihnen aus betrachtende Erzählungsweise gegenüber“.1 Gérard Genette hat als erster mit der nötigen Schärfe die Unabhängigkeit der narrativen Versprachlichung des Erzählten von solchen Kategorien des Erlebens, Betrachtens und Bewertens hervorgehoben. Eine der Konsequenzen ist, dass damit die Zeit des Erzählens selbst analysierbar wird.

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Leo Spitzer: „Zum Stil Marcel Proust’s“. In: Ders.: Stilstudien. 2 Bde. München 1928/1961, Bd. II: Stilsprachen, S. 365–497, hier S. 463. Ähnlich Muller (Marcel Muller: Les Voix narratives dans la „Recherche du temps perdu“. Genf 1965/1983, S. 8), der den Erzähler als „das Ich, das auf seine Vergangenheit zurückblickt“, bestimmt.

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Für die Narratologie hat die „Stimme“ der Erzählung einen zeitlichen Index, der unabhängig ist von der erzählten Zeit und den sich selbst in der Zeit entfaltenden modalen Kategorien (etwa der Entwicklung, die von „objektivierende[r]“ zu „erlebende[r] […] Erzählungsweise“ führt).2 Dieser Index entspricht weitgehend der formalen Positionierung des Sprechers zum Gegenstand seiner Rede. Zweitens wird auch die Zeit des Erzählens meist nach dem Modell lebensweltlicher Rede konstruiert, obwohl künstlerisches Erzählen nicht selten Abstand von diesem Modell nimmt. Für dieses künstlerisch verfremdete Erzählen kann also die lebensweltliche Sprechsituation nicht mehr als Normalfall gelten.3 Und dies selbst dann, wenn, wie im Folgenden, nur vom sprachlichen Erzählen die Rede sein soll. Die Kategorien, in denen das „Wann?“ des Erzählens verhandelt wird, müssen also die Differenz zwischen der Form des natürlichen Sprechakts und der künstlerischen Gestalt der Stimme beschreiben können. Stimme kann laut Genette auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sein: dem äußersten Rahmen der Erzählung, einem hierarchisch niedrigerem Niveau, bei dem die erzählende Instanz selbst Gegenstand einer Erzählung ist, oder sogar noch stärker abhängig von den übergeordneten Systemebenen. Hinsichtlich des von ihr selbst Konstruierten, dem erzählten Geschehen, kann die Stimme unterschiedliche Rollen einnehmen, die Genette zu den Typen des „homodiegetischen“ und „heterodiegetischen“ Erzählens zusammenfasst. „Ort der Erzählung“ und „Stellung des Erzählers zum Geschehen“ sind also komplementäre Eigenschaften der Stimme als narrativ modellierende und narrativ modellierte Funktion, die sich gerade wegen ihrer räumlichen Darstellbarkeit („Ort“ im komplexen System der einander ‚rahmenden‘ Medien, „Stellung“ im System der medial vermittelten Formen) zu einem ergänzenden Gesamtbild kreuzen lassen. Die Komplementarität der beiden Kategorien zeigt sich auch darin, dass sie zu einer anschaulichen strukturellen Matrix von Erzählertypen kombiniert werden können.4 Die dritte Kategorie, die Zeit des Erzählens, fügt dieser binären Matrix eine Komplikation hinzu – allerdings eine

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Zitat Spitzer (Anm. 1), S. 463. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1994, S. 140. Brian Richardson: Unnatural Voices. Extreme Narration in Modern and Contemporary Fiction. Ohio 2006, S. 1–5, und der kurze Forschungsüberblick S. 135. Diese Position setzt den theoretischen Zugriff der russischen Formalisten, insbesondere Viktor Šklovskijs, fort, die das „verfremdete“, und nicht das alltägliche Erzählen zum Ausgangspunkt nehmen (vgl. Anm. 32). Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 1999, S. 81.

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notwendige, unvermeidliche. Jedes sprachliche Erzählen nämlich ist durch die Deixis temporal positioniert.5 Die zeitliche Verankerung der Erzählung als Rede bietet einen ersten, elementaren Zugriff auf das formale Verhältnis von Zeit und Stimme.6 Allerdings ist Erzählen inszenierte Rede, und dies kompliziert die Relation erheblich: Die Zeit des Erzählens muss weder die Zeit des Erlebens noch bestimmte kulturelle Zeitmodelle widerspiegeln.7 Diese Beobachtung wirft auch die Frage auf, ob linguistische Kategorien ausreichen, um die Positionierung der Stimme in der Erzählung zu beschreiben. Mit dieser Problematik – wie viel an der Positionierung der Stimme lässt sich mit einer Analyse der Positionierung in der menschlichen Rede erklären, und wie lassen sich Abweichungen überhaupt beschreiben? – beschäftigt sich bereits die frühe, prä-narratologische Theorie. Die Sprachtheorie (1934) Karl Bühlers bietet immerhin das notwendige begriffliche Werkzeug, um den Erzählzeitpunkt in Analogie zum Sprechzeitpunkt von dem eigentlich Erzählten bzw. über die Welt Ausgesagten zu unterscheiden. Der Zeitpunkt der Narration wird also als das aktuelle „jetzt“, allgemeiner gesagt, der zeitliche Ursprung des sprachlichen Zeigfelds bestimmt. Das Verhältnis dieses Ursprungs zum Erzählten lässt sich über die verschiedenen Elemente der Deixis (Adverbien, Demonstrativa, Pronomina, Verbformen) genau analysieren: was „gestern geschah“, liegt in Bezug auf den Zeitpunkt der Stimme offenbar in einer Vorzeit; was „morgen sein wird“ verhält sich nachzeitig dazu. Auf eine mögliche Divergenz von natürlicher und erzählerischer Positionierung weist schon Käte Hamburger hin: Gerade in der Fiktion gibt es poetische Konventionen und grammatikalische Lizenzen, die bei der Analyse berücksichtigt werden müssen.8 Das „epische Präteritum“ oder das „historische Präsens“ erschweren die zeitliche Situierung durch ihre doppeldeutigen Signale („Morgen ging der Zug“). Die neuere Erzählforschung unterstreicht zudem die Differenz zwischen der sogenannten

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Vgl. Boris A. Uspenskij: Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform [1970]. Hrsg. u. nach e. revidierten Fassung d. Originals bearb. von Karl Eimermacher. Aus d. Russ. übers. von Georg Mayer. Frankfurt a. M. 1975, S. 94; der Fall des Erzählens in Bildern sei im Folgenden ausgeklammert. Vgl. Uspenskij (Anm. 5), S. 83–90. Das Werk Paul Ricœurs weist zu Recht auf diese Problematik hin. Programmatisch fordert Ricœur (Paul Ricœur: Temps et récit. 3 Bde. Paris 1983–1985, Bd. II: La configuration dans le récit de fiction [1984], S. 127), die Genettesche Unterscheidung zurückzunehmen und den Begriff der „voix“ einem Phänomen vorzubehalten, das die Form des Zeiterlebens umfasst. Vgl. Käte Hamburger: Die Logik der Dichtung. 3. Aufl. Stuttgart 1977, S. 63–78. Vgl. Michael Scheffel: „Wer spricht? Überlegungen zur ‚Stimme‘ in fiktionalen und faktualen Erzählungen“. In: Ders./Andreas Blödorn/Daniela Langer (Hrsg.): Stimme(n) im Text. Narratologische Positionsbestimmungen, Berlin/New York 2006, S. 83–99, hier S. 85–88.

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„Textdeixis“ (bei der sich das „jetzt“ lediglich auf den Textfluss bezieht) und der „prototypischen Deixis“ (bei der sich das „jetzt“ tatsächlich auf den Moment der Äußerung bezieht).9 Allerdings kann gerade in neueren Erzähltexten der Beitrag sprachlicher Deixis zur Situierung des Erzählens neutralisiert werden10 – oder sogar das Vorhandensein eines intentionalen Erzählakts in Frage gestellt werden.11 Dazu kommt, wie die Deictic Shift Theory gezeigt hat, dass Deixis auch vom Modus mitbestimmt wird, so dass ein „deictic shift“ grundsätzlich nicht nur auf die Redeinstanz, sondern auch auf die Fokalisierungsinstanz verweisen kann: „DST is a theory that states that the deictic center often shifts from the environmental situation in which the text is encountered, to a locus within a mental model representing the world of discourse.“12 Damit führt Deixis als Indiz auf das zu Anfang des vorliegenden Artikels benannte Problem zurück, dass die Zeitdimension des Modus sich gerne mit der Zeitdimension der Stimme überlagert. Im Anschluss an Hamburgers Einwand kann festgehalten werden, dass natürliche sprachliche Indizien für das Verhältnis von Erzählzeitpunkt und Erzähltem nur gültig sind, wenn das literarische Erzählen eine Abbildung des natürlichen Erzählens ist. Es handelt sich auch bei der zeitlichen Situierung der Stimme immer um eine künstlerische Konstruktion, die mit Hilfe sprachlicher Mittel suggeriert, simuliert und inszeniert wird13– auch wenn diese Konstruktion z. B. durch das Temporalsystem und die nachgeahmte Sprechsituation immer auf eine Überprüfung an der Wirklichkeit und an der lebensweltlichen Fülle zeitlicher Situierung hin offen ist.14 Schon in dieser Hinsicht – und nicht erst mit Blick auf „unnatürliche Stimmen“ – muss die Vorstellung von Deixis als einem stabilen Ankerpunkt der Repräsentation in Frage gestellt werden: Das Erzählen als Vollzug entfaltet sich selbst in der Zeit, so dass der Index selbst nicht als

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Monika Fludernik: „Tempus und Zeitbewusstsein. Erzähltheoretische Überlegungen zur englischen Literatur“. In: Martin Middeke (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 21–32, hier S. 21. Vgl. Fludernik (Anm. 9), S. 22. Vgl. Ansgar Nünning/Roy Sommer: „Die Vertextung der Zeit: Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion erzählerisch inszenierter Zeiterfahrungen und Zeitkonzeptionen“. In: Martin Middeke (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 33–56, hier S. 55. E. M. Segal: „Narrative Comprehension and the Role of Deictic Shift Theory“. In: J. F. Duchan/G. A. Bruder/L. E. Hewitt (Hrsg.): Deixis in Narrative. A Cognitive Science Perspective. Hillsdale, NJ 1995, S. 3–17, hier S. 15. Vgl. Susan S. Lanser: Fictions of Authority. Women Writers and Narrative Voice. Ithaca 1992, S. 112. Vgl. Ricœur (Anm. 7), S. 93, und Scheffel (Anm. 8).

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feste Größe, sondern als eine Zeitgestalt aufgefasst werden muss. Erzählen benötigt Zeit, Erzählen dauert. Diese Gegenüberstellung von Sprechzeitpunkt und Vollzugsdauer geht mit dem Problem einher, dass man einen dynamischen Erzählzeitpunkt weder mit Hilfe kognitiver oder medialer Schemata noch mit einer phänomenologischen Analyse verlustlos erfassen kann. In dem einen Fall verliert man die Dimension des Zeiterlebens aus dem Blick, die Ricœur zu Recht verteidigt hat; in dem anderen die mögliche Differenz zwischen der „Stimme“ und der Form lebensweltlicher Rede. Gerade mit Blick auf die Rezeption ist jedoch die Annahme problematisch, dass das Erzählen vollständig anderen Bedingungen unterliegt als menschliche Rede. Auch wenn die Erzählerrolle nämlich als eine anthropologisch ‚unmögliche‘ Rolle konstruiert wird, kommt der Leser nicht umhin, diese in sein ästhetisches Apriori zu übersetzen bzw. es dazu in Spannung zu setzen, „indem er sie mit seinem eigenen Weltwissen und der intersubjektiv verbürgten sozialen Wahrnehmung der Realität vergleicht“.15 Vor diesem Hintergrund also scheint es sinnvoll, den zeitlichen Vollzug der Rede – wie er für lebensweltliche Erzählsituationen typisch ist – zum Ausgangspunkt der Modellbildung zu nehmen. Die junge Diskussion über Narrativität hat, gewissermaßen als Nebenprodukt, eine gründliche Auseinandersetzung mit den typischen Tempora der Narration nach sich gezogen. Insbesondere in der französischsprachigen Narratologie liegen hier linguistisch wie literaturwissenschaftlich argumentierende Studien vor, von denen aus man auf Gérard Genettes Systematik zurückkommen kann.16 Genettes Kategorien sind durch sein Korpus beschränkt: So interessiert er sich grundsätzlich für den Typus des fiktionalen Erzählens – nicht zuletzt in Blick auf den enormen Roman, den er sich damit zu kommentieren vornimmt, Marcel Prousts Recherche. An seine Kategorien soll der folgende Versuch anknüpfen, die Formen der zeitlichen Relation der Stimme zum Erzählten möglichst differenziert zu beschreiben, und dabei über das Korpus der kanonischen großen Erzählungen hinauszugehen. Dass die Anwendung dieser Kategorien in einem späteren Abschnitt doch wieder den großen Roman in den Mittelpunkt rückt, soll nur die dadurch in Vergleich zu Genettes Analyse gewonnenen Erkenntnisse verdeutlichen.

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Wolfgang Matzat: Perspektiven des Romans: Raum, Zeit, Gesellschaft. Ein romanistischer Beitrag zur Gattungstheorie. Stuttgart 2014, S. 5. Vgl. Françoise Revaz: Introduction à la Narratologie. Action et Narration. Louvain la Neuve 2009, S. 93 ff.

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1.2 Vier Kategorien zur Bestimmung des zeitlichen Verhältnisses von Erzählen und Erzähltem 1.2.1 Die Bestimmung des Sprechzeitpunkts bei Gérard Genette Genette bestimmt den Erzählzeitpunkt als eine relationale Eigenschaft, und zwar als Verhältnis der narrativen Instanz zur erzählten Geschichte.17 Es gibt vier Typen eines solchen Verhältnisses: Nachzeitigkeit, Vorzeitigkeit, Gleichzeitigkeit und die sogenannte „eingeschobene Narration“.18 Die ersten drei Typen sind ohne weiteres intuitiv verständlich; sie lassen sich z. B. über Verbtempora erklären und mit dem Präteritum, Präsens und Futur in Zusammenhang bringen. Die Dreiteilung unterscheidet eine Rede über Vergangenheit, über Zukunft, über Gegenwart, wobei alle drei Perspektiven jeweils von einem festen Sprechzeitpunkt aus definiert werden. Hier nähert sich die Theorie narrativer Fiktion also an die elementare Analyse sprachlicher Äußerungen, z. B. des grammatikalischen Tempus, an. Die Erzähltheorie Genettes belässt es allerdings nicht dabei. Der vierte Typ besteht aus einer Kombination der übrigen drei Relationen, wie sie z. B. im Briefroman oder bei Fernsehreportagen über gerade sich ereignende Handlungen entsteht. Auch diese Relation lässt sich also mit einem anschaulichen Beispiel begründen: Immer wenn eine nicht abgeschlossene Handlung erzählt wird, wenn der Erzähler also permanent „neu ansetzen“ muss, oszilliert das Erzählen zwischen einer elementaren Nachzeitigkeit (Erzählen des bereits abgeschlossenen Geschehens), der Gegenwart (Erzählen als Kommentar des aktuellen Geschehens oder unmittelbare sprachliche Performanz der Handlung, die im Erzählen zugleich auch vollzogen wird) und möglicher Vorgriffe auf die Zukunft.19 Dies entspricht übrigens auch dem, was im Drama als „Teichoskopie“ bezeichnet wird und nicht ohne Elemente des expositorischen, rückwärtsgewandten Botenberichts, der Prophezeiung oder zumindest Andeutung des Drohenden oder Erhofften auskommt. Anders als bei den drei übrigen Kategorien scheint die Notwendigkeit dieses vierten Typs eher in der induktiven Ableitung aus vorhandenen Formen dieser Art als in der systematischen Deduktion zu liegen. Denn der Aspekt der Vollendung oder Nichtvollendung, so wie er treffend als eigentliches Kriterium dieses Typs herausgearbeitet wurde,20 spielt bei den

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Genette (Anm. 2), S. 140. „Narration intercalée“, was Rimmon-Kenan als „intercalated narration“ (Shlomith Rimmon-Kenan: Narrative Fiction: Contemporary Poetics. London 1983, S. 90) übersetzt. Genette (Anm. 2), S. 141. Rimmon-Kenan (Anm. 18), S. 90.

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drei anderen Typen keine Rolle und bricht insofern die systematische Stringenz des Modells. Die „eingeschobene Erzählung“ fängt vielmehr eine Reihe von zeitlichen Aspekten der Stimme auf, die in der Unterscheidung von nachzeitigem, vorzeitigem und gegenwärtigem Erzählen keinen Platz finden. Dies gilt etwa für den performativen Aspekt des Erzählens. Im Briefroman hat ein Brief oft eine doppelte Funktion, so Rimmon-Kenan, „both to narrate an event from the past and to trigger an event of the near future“.21 Nun müsste dem Handlungsaspekt des Erzählens jedoch richtigerweise eine eigene Kategorie vorbehalten bleiben, so wie man etwa in der Pragmatik lyrischer Texte zu Recht systematisch zwischen der deiktischen Selbstsituierung des Sprechers und der Spezifikation der vollzogenen Sprechhandlung unterscheidet. Die Sprechsituation informiert nicht auch über den Sprechakt.22 Nur der abstrakte Vollzug des Erzählens darf also, streng genommen, unter dem Begriff der Stimme verhandelt werden, wenn es um Zeit geht, nicht jedoch andere Handlungen und nicht-narrative Sprechakte, welche der Erzähler, z. B. in seiner Eigenschaft als handelnde Figur oder in seiner fiktiven Interaktion mit dem angesprochenen „Du“, vollzieht. Hier also liegt die problematische Funktion der vierten Kategorie als „komplexeste[r]“:23 Sie dient als Sammelbecken für alle Eigenschaften, die nicht zu eigenen Kategorien der Analyse ausgeführt werden. Sie aufzulösen und weiter zu differenzieren, ist die Aufgabe, die Genettes Narratologie nahelegt. Sie um entsprechende phänomenale Aspekte zu ergänzen und nicht bei medialen oder kulturellen Schemata der Zeit zu verharren, ist die zusätzliche Herausforderung, die wir Paul Ricœurs Überlegungen entnehmen. 1.2.2 Eine alternative Typologie 1.2.2.1 Nachzeitiges, vorzeitiges und gleichzeitiges Erzählen Die grundsätzliche Frage, ob nachzeitig oder vorzeitig erzählt wird, hat die wichtigsten Konsequenzen für den Status der Erzählung selbst. Die Gestaltung der Zeit bietet hier nicht nur eine modale Option, sondern bestimmt den Sinn des Erzählens, das entweder der Seite der Memoria oder

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Rimmon-Kenan (Anm. 18), S. 90. Vgl. Hans-Georg Coenen: „Lyrik und Pragmatik. Zur ,Sprechsituation‘ von Gedichten“. In: Rolf Kloepfer (Hrsg.): Bildung und Ausbildung in der Romania. 2 Bde. München 1979, Bd. 1, S. 504–514. Genette (Anm. 2), S. 140.

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der der Prophetien24 zugeschlagen wird. Eine Handlung kann zum Zeitpunkt, zu dem sie erzählt wird, entweder vollendet oder noch nicht vollendet sein. Kann es zwischen diesen beiden klaren Fällen ein Drittes, ein ‚gleichzeitiges Erzählen‘ geben? Aber was bedeutet in diesem Fall „Gleichzeitigkeit“? Zwischen dem potenziell ausdehnungslosen „Jetzt“ des Erzählens und dem ekstatischen „Jetzt“ des Erlebens liegt ein kategorialer Unterschied.25 Auch ein Erzählen aus der Gegenwart über die Gegenwart nimmt in der Lebenswelt entweder die eine Bedeutung an, indem sie das soeben Geschehende unmittelbar danach aufzeichnet oder das jetzt oder immer Geschehende mit einer wissenden Stimme produziert, also vor sich hertreibt.26 Freilich wird in der Fiktion das Tempus Präsens gerade so verwendet, dass es dieser Einsicht zuwiderläuft und eine gleichzeitige Positionierung suggeriert. Richardson zitiert den Anfang aus William Faulkners As I Lay Dying als ein Beispiel für ein verfremdetes Erzählen: „Although I am fifteen feet ahead of him, anyone watching from the cottonhouse can see Jewel’s frayed and broken straw hat a full head above my own“.27 Diese Gleichzeitigkeit, die mit einer doppelten Fokalisierung verbunden wird, verweist auf das Erlebnis des Traums oder Tagtraums, in dem das Subjekt nicht nur mehrere Positionen gleichzeitig annehmen, sondern auch mehrere Handlungen – darunter das Erzählen – gleichzeitig vollziehen kann. Die Kunst verfügt über zahlreiche solcher Möglichkeiten, ein gleichzeitiges Erzählen im Tempus der Gegenwart glaubhaft zu machen: Erzählende Maschinen (Ricardo Piglias La ciudad ausente) oder optische Medien (Julio Cortázars „Las babas del diablo“), alles in Echtzeit registrerende Außerirdische (Eduardo Mendozas Sin noticias de Gurb), stark selbstreflexives Erzählen, das die Entstehung des Texts (oder seine Lektüre), also die Performanz des Erzählens, selbst zum Gegenstand nimmt (Italo Calvinos Se una notte d’inverno un viaggiatore)28 etc. Alles dies ist ungewöhnlich, aber immer noch als eine symbolische Form von „Gegenwart“ entschlüsselbar.

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26 27 28

Vgl. Rimmon-Kenan (Anm. 18), S. 90. Vgl. Inga Römer: „Le caractère aporétique du temps au sein du présent élargi – Husserl, Derrida, Ricœur“. In: Phénice, Numéro special (2010) (http://cephen.free.fr/CEPHEN/numerospecial_2.html) und Tobias Müller: „Zeit und Prozess. Zur fundamentalen Zeitstruktur von Natur und Bewusstsein“. In: Gerald Hartung (Hrsg.): Mensch und Zeit. Wiesbaden 2015, S. 57–81, hier S. 64–69. Vgl. Dorrit Cohn: „‚Ich döse und wache‘. Die Normabweichung gleichzeitigen Erzählens“. Aus dem Englischen von Sylvia Zirden. In: Armen Avanessian/Anke Hennig (Hrsg.): Der Präsensroman. Berlin/Boston 2013, S. 125–138. William Faulkner: As I Lay Dying. New York 1987, S. 3. Zit. nach Richardson (Anm. 3), S. 137. Vgl. Richardson (Anm. 3), S. 36 und 124. Im Unterschied zu Richardson deuten wir diese ‚unnatürlichen Stimmen‘ nicht als Mittel der Denaturalisierung des Erzählens, sondern im

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Jenseits dieser Plausibilisierungen des Präsens liegen die rhetorischen Strategien, die es gestatten, die ‚echte Präsenserzählung‘ von einem intermittenten Gebrauch des „historischen Präsens“ zu unterscheiden;29 ja, die Anschaulichkeits-Funktion des historischen Präsens kann sogar den Grund eines durchgehenden Gebrauchs dieses Tempus liefern.30 Klar unterschieden werden muss das vorzeitige und nachzeitige Erzählen von der Prolepse und Analepse, welche laut Genette nicht die Stellung der Stimme zum Erzählten, sondern die Ordnung des Erzählten in Bezug auf eine als real annehmbare Ereignisfolge bezeichnen.31 Diese reale Ereignisfolge ist, anders als die Position des Erzählers, kein Ergebnis fiktionaler Koordination, sondern gehört zu bestimmten kulturellen Schemata z. B. von zeitlicher Linearität, die vom Text suggeriert oder an den Text herangetragen werden. Dass der Mensch lebt, bevor er tot ist (und nicht umgekehrt), dass erst die Flasche geöffnet, dann das Glas eingeschenkt und dann schließlich ausgetrunken wird, sind solche Schemata der „prosaischen Zeit“, die schon im russischen Formalismus identifiziert und von der „literarischen Zeit“ als Ergebnis einer künstlerischen „Übereinkunft“ unterschieden wird.32 Unabhängig ist diese chronologische Abfolge jedoch in beiden Fällen – also sowohl in der lebensweltlichen Chronologie als auch in dem künstlerisch gestalteten Sujet – von der zeitlichen Positionierung der Stimme zum Geschehen. Das folgende Beispiel einer Analepse lässt sich nachzeitig und vorzeitig erzählen: „Er trank alles aus. Er hatte sich ein volles Glas eingeschenkt. Er hatte die teuerste Flasche geöffnet.“ (nachzeitig) „Er wird alles austrinken. Er wird sich ein volles Glas eingeschenkt haben. Er wird die teuerste Flasche geöffnet haben.“ (vorzeitig) In beiden Beispielen haben wir es mit einer Analepse zu tun. Bei gleicher Ordnung des Erzählten sind also unterschiedliche zeitliche Relationen zur Stimme möglich. Auch innerhalb der einzelnen Relationen lassen sich Unterkategorien erkennen: je nachdem, ob das Erzählte weit oder nah entfernt ist, ob es fliessend in die Gegenwart übergeht oder davon durch eine mehr oder weniger lange Pause getrennt ist, kann der Zeitzusammenhang des Erzählens mit dem Erzählten unterschiedliche Gestalten annehmen. Neben

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Gegenteil als Mittel, das Prinzip der Wahrscheinlichkeit, also letztlich der Vereinbarkeit mit der Lebenswelt, aufrechtzuerhalten. Monika Fludernik: „Chronology. Time, Tense and Experientiality in Narrative“. In: Language and Literature 12 (2003), S. 117–134, hier S. 124. Armen Avanessian/Anke Hennig: „Einleitung“. In: Dies. (Hrsg.): Der Präsensroman. Berlin 2013, S. 1–24, hier S. 9–13. Vgl. Genette (Anm. 2), S. 25. Vgl. Viktor Šklovskij: „Der parodistische Roman. Sternes ‚Tristram Shandy‘“ [1921]. In: Jurij Striedter (Hrsg.): Texte der Russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969, S. 244–299, hier S. 263.

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diesen quantitativen Aspekten lässt sich auch die Qualität der zeitlichen Relation betrachten, die Wolfgang Matzat überzeugend herausgearbeitet hat: In der konventionellen Schlussformel des Märchens, dem „wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute“, in der Einführung des Don Quijote als einem vor unlanger Zeit lebenden Junker, oder in der Situierung realistischer Romane in der Nahvergangenheit des Erzählers, drückt sich ein qualitativ jeweils anderes Zeitverständnis, und eine andere Poetik der Zeit, aus.33 Mit diesen qualititativen Aspekten geht allerdings die Betrachtung der Vor-, Nach- oder Gleichzeitigkeit des Erzählens fliessend über in die generellen zeitlichen Charakteristika der erzählten Welt, also dem, was Michail Bachtin „Chronotopos“34 genannt hat. 1.2.2.2 Monochrones und polychrones Erzählen Das Beispiel des polyphonen Briefromans, „wo der Brief bekanntlich gleichzeitig Medium der Erzählung und Element der Handlung ist“,35 führt auf einen ersten Aspekt des „eingeschobenen Erzählens“, der nicht auf der gleichen Ebene wie die Nach- oder Vorzeitigkeit angesiedelt werden sollte. Eine Erzählung kann mehr als eine Chronologie aufweisen, wobei die entscheidende Trennlinie hier zwischen denjenigen Texten gezogen werden sollte, die eine einzige Zeitlinie konstruieren, und denjenigen, die mehrere Erzählsituationen kombinieren, von denen jeweils unterschiedliche Chronologien ausgehen. Der polyphone Briefroman oder der aus mehreren Zeugnissen zusammengesetzte Testimonial-Roman ermangeln zwar einer einheitlichen zeitlichen Situierung, aber das verhindert nicht, dass jede einzelne Stimme, jeder einzelne Beitrag zur kollektiven Erzählung sich zeitlich zum Erzählten in Bezug setzt. Es gibt dann mehrere Chronologien, ausgehend von einem oder mehreren Sprechern, die zu mehreren unterschiedlichen Zeitpunkten nacheinander oder gleichzeitig zu erzählen ansetzen können. Die Polychronie wird durch Polyphonie ermöglicht. Diese Unterscheidung ist besonders nützlich bei nichtfiktionalen Narrativen wie z. B. der Feuilletonerzählung, die sich aus ganz disparaten Artikeln verschiedenster Sprecher zusammensetzt – und nicht selten über Tageszeitungen und Wochenzeitungen mit ihrem jeweiligen unterschiedlichen Erscheinungsrhythmus verteilt sein kann.36 Innerhalb fiktionaler

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Matzat (Anm. 15), S. 222–225. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008. Genette (Anm. 2), S. 141. Vgl. Revaz (Anm. 16), S. 167–194.

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Narrativik ist Polychronie die Voraussetzung einer Komposition, bei der eine solche Kreuzung oder Engführung nicht durch die Stimme eines Erzählers organisiert wird, sondern aus der Begegnung mehrerer Stimmen entsteht. Man mag einwenden, dass die Frage, ob die Stimme in einer kontinuierlichen Weise spricht oder unterbrochen oder gar abgelöst wird, weniger mit Zeit als mit Interferenz zu tun hat, und dass es in der Fiktion nur eine einzige Versprachlichungs-Instanz, nur eine einzige Stimme, geben kann. Aber diese mimetische Hypothese ist längst von dem bewussten künstlerischen Einsatz der Vielstimmigkeit überholt, den Richardson hervorhebt: The narrator at the beginning of Caryl Phillips’ Crossing the River, a novel composed of four novellas separated in time and space, opens with a preface narrated by one who states: „For two hundred years I have listened to the many-tongued chorus. And occasionally, among the sundry restless voices, I have discovered those of my own children“ […]. The narrative further contains interpolations of one speaker’s thoughts within the mind of another, temporally distant speaker, planted there not by any naturalistic knowledge or preternatural telepathy, but simply by a daring auctorial fiat.37

Die lebensweltliche Einheit der Stimme ist also kein Hindernis für die Gestaltungsfreiheit der Autoren. Mit dem gleichen Selbstbewußtsein, mit dem die Kubisten den einheitlichen Standpunkt aufgeben, der die Voraussetzung der Zentralperspektive in der Malerei war, können in experimentellen Texten Stimmen verknüpft werden, die nicht die gleiche chronologische Perspektive einnehmen.38 Einer der in dieser Hinsicht frühesten und innovativsten Texte ist Juan Rulfos Pedro Páramo, wo die Chronologie der Ereignisse aus den beiden vollständig verschiedenen Erzählungen von Juan Preciado und Pedro Páramo rekonstruiert werden muss. Auch Julio Cortázars Rayuela präsentiert sich als eine Collage, deren Kapitel teilweise von verschiedenen Stimmen artikuliert werden. Da Cortázars experimenteller Roman außerdem auch zwei unterschiedliche Wege des Lesers durch diesen Kapitelwald empfiehlt, wird die Polychronie noch stärker hervorgehoben: Die Hypothese der ‚heimlich wirksamen Vereinheitlichung‘ wird angesichts dieser beiden Versionen des Romans zunehmend unwahrscheinlich. Die zahlreicheren Permutationsmöglichkeiten des nicht-linearen Hypertexts haben im Fall der Polychronie einen ähnlichen Effekt; neben den Veränderungen in der Chronologie des Erzählten (Modus) markieren sie zeit-

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Richardson (Anm. 3), S. 13. Bereits Šklovskij (Anm. 32), S. 247, verwendet den Vergleich mit Picasso und seinen eigenen Gesetzmäßigkeiten für die Erläuterung einer ungewöhnlichen zeitlichen Situierung des Erzählers in Tristram Shandy.

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liche Brüche auf Ebene der Stimme. Beides ist allerdings in systematischer Hinsicht voneinander zu unterscheiden. Die „doppelte Temporalität des Erzählens“ als Dialog zwischen Erzählerperspektive und Figurenperspektive, denen ein unterschiedlicher Wissensstand, also eine möglicherweise diskrepante Informiertheit entspricht,39 gehört – wie das Phänomen der Informiertheit insgesamt – in den Bereich des Modus und nicht in den der Stimme. Auch der Dialog zweier unterschiedlicher Instanzen des Erzählens kann freilich mit Blick auf den Modus als eine Kollision zweier unterschiedlich orientierter Standpunkte analysiert werden (denn die meisten Ereignisse erscheinen in der Rückschau anders als bei der Vorhersage). Aber der künstlerische Effekt einer polychronen Stimme vermittelt nicht nur mehrere Perspektiven auf die gleiche Ereignisfolge, sondern mehrere distinkte Zeitlinien, die sich nicht unbedingt miteinander synchronisieren lassen. Um nur drei Beispiele anzudeuten: Michael Cunninghams The Hours mit seiner Vielzahl von Stimmen, die jeweils in der Gleichzeitigkeit verschiedener Epochen angesiedelt sind, Roberto Bolaños Los detectives salvajes mit seiner Staffelung verschiedener inkohärenter Erzählerstimmen, David Mitchells Cloud Atlas mit seiner Montage verschiedener realistischer Erzählsituationen entlang einer seltsamen Chronologie, die zwischen historischem Roman und Science Fiction aufgespannt ist – in diesen erfolgreichen Texten der Gegenwartsliteratur wird die konventionell monologische Positionierung des Erzählers als ‚Text-Träger‘ zu Gunsten einer Polychronie gesprengt. 1.2.2.3 Statisches und dynamisches Erzählen Für fiktionales Erzählen muss drittens nach der Konstanz bzw. Variabilität dieser Relation gefragt werden. Wenn „etwa die Form des Tagebuchs immer freier wird, um schließlich in eine Art nachträglichen Monolog mit unbestimmter, ja inkohärenter Zeitposition einzumünden“,40 so stellt sich die grundsätzliche Frage nach der Stabilität der zeitlichen Verankerung der Stimme. Es handelt sich hier um einen weiteren Unterschied, der den Status des Erzählten verändert: Das ‚jetzt‘ des Erzählers hat das eine Mal einen echt deiktischen Wert, es passt sich geschmeidig an den Lauf des Geschehens an, das sich während der Rede vollzieht (in einem Prozess der beständigen Reorientierung), das nicht in dem Augenblick anhält, in dem die Stimme zu erzählen anhebt, sondern diese begleitet. Das andere Mal ist es zum Symbol erstarrt, bezeichnet innerhalb der erzählten Welt

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Vgl. Matzat (Anm. 16), S. 221. Genette (Anm. 2), S. 144.

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einen fest verankerten, vom Sprecher unabhängig gewordenen Standpunkt: unmöglich, an dieser Säule zu rütteln, ohne das Gebäude der Fiktion zum Einsturz zu bringen. Prototypisch lässt sich die Unterscheidung von dynamischem Erzählen und statischem Erzählen an zwei Formen der Autodiegese veranschaulichen: dem Tagebuch und der Autobiographie. Im einen Fall wirkt der Erzählzeitpunkt als eine Variable, die sich in einer veränderlichen Relation zum Geschehen befindet. Das faktuale Tagebuch kann in dieser Hinsicht zum Modell für das fiktionale Erzählen werden – und damit sind nicht nur die fiktiven Tagebücher gemeint, sondern auch moderne, experimentelle Erzählungen, welche dieses Prinzip übernehmen. Am prägnantesten verwirklicht Arthur Schnitzlers Fräulein Else (1924) die Dynamisierung der Stimme, welche dem raschen Fortschreiten der Handlung folgt. Nach dem ersten Absatz, der den Dialog von Else, Paul und Cissy in autonomer direkter Rede wiedergibt, folgt eine reine Erzählerrede, die sich zeitlich bereits nach diesem Dialog situiert: „Nun wende ich mich noch einmal um und winke ihnen zu.“ Dieses erste ‚Jetzt‘ der Erzählerstimme wird regelmäßig auf den neuesten Stand gebracht, buchstäblich „aktualisiert“. Immer wieder bezieht sich die Sprecherin auf ihre Gegenwart; die während des Erzählens vergehende Zeit ist schon zu Anfang der Geschichte dramatisch aufgeladen: „Um vier, wie ich zum Tennis gegangen bin, war der telegraphisch angekündigte Expreßbrief von Mama noch nicht da. Wer weiß, ob jetzt. Ich hätt noch ganz gut ein Set [Tennis] spielen können.“41 Die kontinuierliche Serie von Jetzts, die die Erzählerin durchläuft, spitzt sich auf ein Ende zu, in dem mit dem Versagen ihrer Stimme die Erzählung unmöglich wird: Sie rufen von so weit! Was wollt ihr denn? Nicht wecken. Ich schlafe ja so gut. Morgen früh. Ich träume und fliege. Ich fliege … fliege … fliege … schlafe und träume … und fliege … nicht wecken … morgen früh … „El …“ Ich fliege … ich träume … ich schlafe … ich träu … träu – ich flie …42

Schnitzlers Novelle ist ein gutes Beispiel für ein Erzählen, bei dem die Stimme der Erzählung selbst in eine phänomenale Erfahrung der Dauer eingebettet ist. Sie läuft der Figur voran wie ein beweglicher Schatten, wird von dieser eingeholt, greift wieder aus  bis zu dem Schlusspunkt, in dem beide unlöslich verbunden sind und sogleich erlöschen. Die in einem Zeitpunkt verankerte Erzählerposition lässt hingegen das Verhältnis von Erzählzeitpunkt und Erzähltem als variabel erscheinen. Zumindest die progressive Annäherung von erlebendem und erzählendem Ich gehört zur Konvention der Autobiographie, bei der sich die Handlung

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Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Hrsg. von Johannes Pankau. Stuttgart 2002, S. 6. Schnitzler (Anm. 41), S. 81.

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nicht nur asymptotisch an die Gegenwart des Erzählers annähert, sondern auch damit übereinstimmen kann. Rousseaus Bekenntnisse beginnen mit seiner Geburt, die mit einem aktuellen Sprechzeitpunkt – der Epoche der Zeitgenossen – kontrastiert wird: Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Schar meiner Mitmenschen; sie sollen meine Bekenntnisse hören, über meine Nichtswürdigkeit seufzen und über meine Nöte erröten. […] Ich bin in Genf im Jahre 1712 als Sohn eines Bürgers Isaac Rousseau und der Bürgerin Suzanne Bernard geboren […]. Être éternel, rassemble autour de moi l’innombrable foule de mes semblables; qu’ils écoutent mes confessions, qu’ils gémissent de mes indignités, qu’ils rougissent de mes misères. […] Je suis né à Genève, en 1712 d’Isaac Rousseau, Citoyen, et de Susanne Bernard, Citoyenne.43

Im Verlauf der drei Bücher der Bekenntnisse schrumpft dann – wie in fast jeder Art von Autobiographie – der zeitliche Abstand der Erzählinstanz zum Erzählten. Als eine zweite Konsequenz aus der Bestimmung der Zeit als Relation muss man also annehmen, dass diese Relation entweder variabel oder fest ist. Bei den Gattungen faktualen Erzählens spielt dieser Aspekt eine besonders auffällige Rolle. Durch das statische Orientierungszentrum verändert sich der Abstand von Erzählsituation und erzählter Geschichte, weil die Erzählsituation in einem festen Punkt verankert ist – unabhängig davon, ob die Handlung sich zeitlich an die Position der Stimme annähert oder sich von ihr in Richtung auf die Vergangenheit oder Zukunft entfernt (z. B. Genealogie, Wettervorhersage); beim dynamischen Erzählen begleitet die Erzählsituation die Geschichte, das erzählende Ich verhält sich zum erlebenden Ich wie ein Privatdetektiv, der einen Verdächtigen beschattet. Dies ist etwa der Fall bei der Sportreportage, bei der der Reporter immer ‚am Ball bleiben‘ muss. Was Genette als „eingeschobenes Erzählen“ abhandelt, entspricht am besten dieser dynamischen Angleichung des Erzählzeitpunkts an die Geschichte. Aus systematischen Gründen muss dann aber auch das Gegenteil, statisches Erzählen, in der gleichen Kategorie berücksichtigt werden. Die Engführung der beiden Prototypen, Tagebuch und Autobiographie, führt im Tristram Shandy zu dem künstlerischen Effekt, auf den Šklovskij in seinem bekannten Aufsatz hinweist:

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Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Übers. von Alfred Semerau. München 1981, S. 9; Jean-Jacques Rousseau: „Les Confessions“. In: Œuvres complètes. 5 Bde., hrsg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Bd. I, Paris 1959, S. 1–656, hier S. 5.

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I am this month one whole year older than I was this time twelve-month; and having got, as you perceive, almost into the middle of my fourth volume—and no farther than to my first day’s life—’tis demonstrative that I have three hundred and sixty-four days more life to write just now, than when I first set out; so that instead of advancing, as a common writer, in my work with what I have been doing at it—on the contrary, I am just thrown so many volumes back—was every day of my life to be as busy a day as this—And why not?—and the transactions and opinions of it to take up as much description—44

Sternes Erzähler führt also die dynamische Rede des Tagebuchs in die Gattung der Autobiographie ein, die sich dagegen sträubt; denn typisch ist in dieser Gattung eben die statische Verankerung der Stimme. Die durch diese ‚Hybridisierung‘ entstehende neue Form verdeutlicht die Statik, die bis dahin mit dem autobiographischen Erzählen verbunden war, und damit – wie Šklovskij treffend schreibt – „die ästhetischen Gesetze, die beiden Kompositionsverfahren zugrundeliegen“45. 1.2.2.4 Homochrones und heterochrones Erzählen Eine weitere und letzte Kategorie der Analyse wird von Genette selbst indirekt, mit Blick auf die Recherche, eingeführt. Denn die zeitliche Position der Stimme kann mehr oder weniger stark konkretisiert sein, je nachdem, ob der Augenblick des Erzählens als ein Zeitpunkt mit einer mehr oder weniger großen Ausdehnung (einem ‚Hof‘) oder als ein nicht weiter konkretisierter Moment präsentiert wird. Genette beschränkt diese Möglichkeit erstaunlicherweise auf das nachzeitige Erzählen: Im Gegensatz zur gleichzeitigen oder eingeschobenen Narration, die von ihrer Dauer und den Beziehungen zwischen dieser Dauer und derjenigen der Geschichte lebt, lebt die spätere Narration von dem Paradox, dass sie zugleich eine zeitliche Stelle hat (in Bezug auf die vergangene Geschichte) und ein urzeitliches Wesen, da sie über keine eigene Dauer verfügt.46

Für diesen Gegensatz sehen wir keinen Grund. Die Frage, ob das Erzählen selbst als ein bloßer Zeitpunkt präsentiert wird oder eine zeitliche Ausdehnung hat, ist nicht auf den Fall des nachzeitigen Erzählens beschränkt. Auch die Zeitgestalt eines simultanen oder vorzeitigen Erzählens kann eben in einem physikalischen Ursprung oder einem phänomenalen Jetzt verankert sein – oder ausdehnungslos wirken. Genette unterstreicht einerseits, dass das Erzählen ohne Dauer das Privileg der Fiktion ist – alles

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Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Oxford 1983, S. 228 (IV, XIII). Vgl. Šklovskij (Anm. 32), S. 247. Šklovskij (Anm. 32), S. 299. Genette (Anm. 2), S. 144.

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lebensweltliche Erzählen scheint uns kurz oder lang zu dauern, je nachdem wie spannend die Geschichte ist. Aber die Fiktion, und gerade die Recherche, spielt andererseits auch gerne mit dem erlebten Erzählen. Ja, meistens imaginiert der Leser sogar ohne irgendwelche Angaben eine Koordination, ein Orientierungszentrum, hinzu: Der ‚Zeitpunkt des Sprechens‘ bleibt jedoch bis auf den Briefroman meist ausgespart und kann sowohl als gleichzeitig mit dem historischen Zeitpunkt der Veröffentlichung angenommen, wie auch generell und allgemein im Zeitraum seiner Produktion lokalisiert werden.47

An dieser Stelle lässt sich auf die von Günther Müller aufgeworfene Frage nach dem Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit zurückkommen.48 Genette lagert diese Problematik aus der Stimme aus und behandelt sie als „Dauer“ unter dem Oberbegriff der narrativen Zeitgestaltung.49 Von den Raffungen und Beschleunigungen des Geschehens ist jedoch die Konkretisierung des Zeithorizonts, innerhalb dessen erzählt wird, unabhängig. Mehr noch: Erst wenn die zeitliche Form des Erzählens als symbolische Form analysiert ist, kann überhaupt ein Urteil über das Verhältnis von Erzählzeit und erzählter Zeit abgegeben werden. Hier von einem normalen Sprechtempo oder einem normalen Lesetempo auszugehen, mag für ein realistisches Erzählen angemessen sein, verfehlt aber die systematisch wichtige Tatsache, dass Erzählzeit nicht immer in einem gleich verstandenen Kontinuum angesiedelt ist. Nicht nur die besprochene Zeit, auch die Sprechzeit ist keine natürliche, sondern eine symbolische, kulturell konstruierte Form.50 Und die wichtigste Variationsmöglichkeit liegt hier zwischen der messbaren Zeit der Naturwissenschaft oder der phänomenal erlebten Zeit einerseits und der ausdehnungslosen Zeit-Enthobenheit andererseits.51 Diese Verankerung gilt besonders für eine „natürliche“, an das lebensweltliche Erzählen angelehnte Lesart. Erzählen erfordert schließlich Muße, Geduld und Atem. Genettes Beispiele, wie durch das Erzählen selbst Zeit vergeudet und andere wichtige Handlungen versäumt werden, gehören also in diese Kategorie:

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Fludernik (Anm. 9), S. 22. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Darmstadt 1968, S. 269– 268. Vgl. Genette (Anm. 2), S. 61–80. Vgl. Lukas Werner: „Zeit“. In: Matías Martínez (Hrsg.): Handbuch Erzählliteratur. Theorie, Analyse, Geschichte. Stuttgart/Weimar 2011, S. 150–158. Vgl. Gerald Hartung: „Mensch und Zeit – Zur Einführung“. In: Ders. (Hrsg.): Mensch und Zeit. Wiesbaden 2015, S. 7–22, hier S. 8–14.

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Erzählen braucht Zeit (Scheherazades Leben hängt einzig und allein an diesem Faden), und wenn ein Romancier – auf zweiter Stufe – eine mündliche Narration inszeniert, versäumt er es nur selten, diesen Umstand zu berücksichtigen: Es passiert eine ganze Menge in der Herberge, während die Wirtin von Jacques die Geschichte des Marquis des Arcis erzählt, und der erste Teil von Manon Lescaut schließt mit der Beobachtung, dass der Chevalier mehr als eine Stunde auf seine Erzählung verwandt habe und es für ihn nun höchste Zeit sei fürs Souper, damit „er sich ein wenig erholt“.52

In allen diesen Fällen gibt es den Spielraum für Ambivalenzen zwischen phänomenologisch gefüllter „zeitlicher Stelle“ der Erzählerfigur und dem „urzeitlichen Wesen“ einer Stimme, die nicht den Bedingungen lebensweltlicher Dauer zu unterliegen scheint. Es ist naheliegend, das erste, in der von der Erzählung konstruierten Zeit eingebettete Erzählen „homochron“ zu nennen, das aus dieser Zeit herausgenommene, über dieser Zeit stehende, „heterochron“. Zeitlosigkeit des Erzählens, meint Genette, sei ein Indiz für Fiktionalität. So stellt das Erzählen die eigene Künstlichkeit in den Vordergrund, indem es leugnet, überhaupt Zeit in Anspruch zu nehmen, also die Eigenschaften des lebensweltlichen Erzählens (und eine wichtige Eigenschaft der erzählten Welt) zu teilen. „Eine der Fiktionen der literarischen Narration, und vielleicht die stärkste […],“ schreibt Genette, „ist die, dass es sich hierbei um einen instantanen Akt ohne zeitliche Ausdehnung handelt“.53 Natürlich sind jedoch auch so faktuale und so verschiedene Gattungen wie der Mythos, die Bedienungsanleitung, das Horoskop heterochron. Und umgekehrt spielen zahlreiche fiktionale Texte mit der Homochronie. Schon der Vergleich von Erzählzeit und erzählter Zeit (den Genette unter der „Dauer“ des Erzählens diskutiert) scheint vorauszusetzen, dass sich beide in dem gleichen temporalen Zusammenhang, in der gleichen Art von Dauer vollziehen. * Weshalb Genette das „Wann?“ des Erzählens recht kurz abhandelt und sich nicht auf alle Aspekte einlässt, die wir hier ergänzend zusammengetragen haben, hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass er von Anfang an eine bestimmte Art von Erzählungen – und vor allem die Recherche – im Blick hat. Geht man jedoch davon aus, dass die Zeit in der Erzählung keine natürliche Gegebenheit ist, sondern eine auf bestimmten symbolischen Formen aufruhende künstlerische Gestalt,54 sollten – wie

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Genette (Anm. 2), S. 144. Genette (Anm. 2), S. 144. Vgl. Werner (Anm. 50).

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soeben gezeigt – möglichst differenzierte Eigenschaften der Koordination und systematisch trennscharfe Kategorien zu ihrer Analyse gesucht werden. Für die zeitliche Relation von Stimme und Geschichte bedeutet dies konkret, dass die Kategorie des späteren, früheren oder gleichzeitigen Erzählens nicht einfach um einen vierten Typ erweitert, sondern durch mehrere alternative Kategorien ersetzt werden muss, deren Kombination unter anderem auch die verschiedenen Varianten des „eingeschobenen Erzählens“ erklärt. (1) Die zeitliche Koordination des Erzählens wäre dann dreigliedrig (nachzeitiges, vorzeitiges und gleichzeitiges Erzählen). Dazu käme (2) die einfache oder komplizierte Chronologie (monochrones und polychrones Erzählen) und (3) die Variabilität der zeitlichen Koordination innerhalb der Erzählung (statisches und dynamisches Erzählen). Schließlich ist es sinnvoll zu fragen, (4) ob die Stimme überhaupt in dem zeitlichen Kontinuum der erzählten Zeit verankert ist, also sich zu einem Zeitpunkt oder einer Dauer des Erzählens konkretisiert, oder aber ob sie als ein urzeitlicher Augenblick aus der symbolischen Form dieser Zeit herausfällt (homochrones und heterochrones Erzählen). Diese vier Kategorien sollten eine systematische Analyse des zeitlichen Verhältnisses von Stimme und Geschehen gestatten. 2. Zeit und Stimme in À la recherche du temps perdu 2.1 Nachzeitigkeit Die erste der soeben definierten Kategorien kann ohne weiteres auf die Stimme des Erzählers in der Recherche angewandt werden. So ist ganz unstrittig, dass es sich um nachzeitiges Erzählen handelt – mehr noch, die Nachzeitigkeit bündelt in der „Suche nach der verlorenen Zeit“ eine Fülle unterschiedlicher Modi, die zur spezifischen Poetik dieses Romans gehören. Neben der willkürlichen, angestrengten Erinnerung des Vergangenen durch den Erzähler treten die unwillkürliche Erinnerung, die Ermittlung ausgehend von Zeugenaussagen (in Un amour de Swann) und viele andere Modalisierungen der Vergangenheit. Die Spannung zwischen der Vielfalt dieser Formen der Zeit-Vermittlung und der einheitlichen Relationierung der Stimme, für die alles in der Vergangenheit liegt, gehört zu den Irritationsmomenten der Recherche – zusammen mit der Frage, ob alles Vergangene „verlorene Zeit“, temps perdu, ist. Selbst die Tätigkeit des Schriftstellers, die sich am Ende des letzten Bandes profiliert, erscheint nicht als eine vorhergesagte Perspektive, sondern in Bezug auf die Stimme des Erzählers ähnlich vergangen wie die ersten literarischen Gehversuche des Protagonisten:

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In meiner Jugend besaß ich eine gewisse Leichtigkeit, und Bergotte fand meine Arbeiten aus der Schulzeit „vollendet“. Anstatt aber zu arbeiten, hatte ich in Trägheit, in Zerstreuung durch Vergnügen, in Krankheit dahingelebt, mich selbst und meine Manien gepflegt und unternahm nun mein Werk am Vortag meines Todes, ohne irgend etwas von meinem Metier zu verstehen. 55 (SvZ VII: 517) J’avais eu de la facilité, jeune, et Bergotte avait trouvé mes pages de collégien „parfaites“. Mais au lieu de travailler j’avais vécu dans la paresse, dans la dissipation des plaisirs, dans la maladie, les soins, les manies, et j’entreprenais mon ouvrage à la veille de mourir, sans rien savoir de mon métier.56 (RTP IV: 618)

Das erzählende Ich als aktuell schreibendes Ich scheint zwar auf, setzt sein eigenes Schreiben in die Verbform des Imparfait („j’entreprenais“), welche die Äußerungsinstanz klar in ein nachzeitiges Verhältnis zu dieser Schreibinstanz, dem Ich als im Roman figurierten Autor, bringt. Freilich bleibt die Nachzeitigkeit nicht ohne Ausnahme. So gibt es Passagen, die – unter verschiedenen Vorzeichen und mit verschiedener Funktion – mit echter Präsenserzählung experimentieren. Wenn es etwa heißt: „Je n’ai plus le temps, avant mon départ pour Balbec (où, pour mon malheur, je vais faire un second séjour qui sera aussi le dernier), de commencer des peintures du monde qui trouveront leur place bien plus tard“ (RTP III: 139), so wird der aktuell vollzogene Erzählakt selbst – wie bei Calvino – zum Gegenstand des Erzählens. Die anschließende Reflexion über die Veränderlichkeit der Welt, die die Veränderungen der einzelnen Personen begleitet und ihren Eindruck zusätzlich verzerrt, bezieht sich allerdings gleichfalls auf ein „Jetzt“ („Je n’ai imaginé jusqu’ici…“, RTP III: 139), und wirft die Frage auf, worauf sich diese Deixis bezieht: Handelt es sich um ein historisches Präsens, das die allmähliche Einsicht des erlebenden Ich anschaulich inszeniert, oder um ein echtes, aktuelles Präsens, das sich die Erkenntnis des Erzählers in Echtzeit zu skizzieren beeilt, während die ausführliche Darstellung zugleich auf einen späteren Zeitpunkt der Romankomposition aufgeschoben wird? Das oft gebrauchte gnomische Präsens entfaltet sodann an vielen Stellen ein narratives Potenzial, das praktisch in eine Gegenwartserzählung mündet, deren Protagonist nicht ein „er“ oder „ich“, sondern ein „man“ oder „wir“ ist. Diese Form der narrativ entfalteten moralistischen Maxime ist geradezu typisch für die Recherche, so gerne läßt der Erzähler das einzelne Erlebnis in eine allgemeine Form der Erfahrung übergehen:

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Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. 7 Bde. Übers. von Eva Rechel-Mertens, revidiert und hrsg. von Luzius Keller. Frankfurt a. M. 2011. Im Haupttext als SvZ I–VII abgekürzt. Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Hrsg. von Jean-Yves Tadié. 4 Bde. Paris 1987– 1989. Im Haupttext als RTP I–IV abgekürzt.

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Certes les charmes d’une personne sont une cause moins fréquente d’amour qu’une phrase du genre de celle-ci: „Non, ce soir je ne serai pas libre.“ On ne fait guère attention à cette phrase si on est avec des amis; on est gai toute la soirée, on ne s’occupe pas d’une certaine image; pendant ce temps-là elle baigne dans le mélange nécessaire; en rentrant on trouve le cliché, qui est développé et parfaitement net. On s’aperçoit que la vie n’est plus la vie qu’on aurait quittée pour un rien la veille, parce que, si on continue à ne pas craindre la mort, on n’ose plus penser à la séparation. (RTP III: 193)

Nach einigen wenigen Sätzen, in denen das Ich sich wieder als Held dieser Geschichte zu erkennen gibt – und dementsprechend nachzeitig erzählt –, erhält wieder die Präsenserzählung und das unpersönliche „on“ (man) das Wort (RTP III: 193). Dieses Oszillieren zwischen einer gnomischen und einer nachzeitigen Erzählung hat nur wenig mit den Strategien zu tun, die als Mittel der Anschaulichkeit interpretiert werden – also z.B. mit dem „historischen Präsens“. Im Wechsel des Standpunkts manifestieren sich die zwei Funktionen der Stimme, die nicht nur Subjekt des – nachzeitigen – Erzählens, sondern auch Subjekt einer – präsentischen – Selbstanalyse ist. Diese Spaltung der Stimme wird an einigen wenigen Stellen spürbar, in denen das Erzählen in die Gegenwart vordringt und mehr darüber verrät, als den bloßen Akt des Erzählens betrifft: Car tout ce que l’habitude enserre dans ses filets, elle le surveille; il faut lui échapper, prendre le sommeil au moment où on croyait faire tout autre chose que dormir, prendre en un mot un sommeil qui ne demeure pas sous la tutelle de la prévoyance, avec la compagnie, même cachée, de la réflexion. Du moins dans ces réveils tels que je viens de les décrire, et qui étaient la plupart du temps les miens quand j’avais dîné la veille à la Raspelière, tout se passait comme s’il en était ainsi, et je peux en témoigner, moi l’étrange humain qui, en attendant que la mort le délivre, vit les volets clos, ne sait rien du monde, reste immobile comme un hibou et comme celui-ci, ne voit un peu clair que dans les ténèbres. Tout se passe comme s’il en était ainsi, mais peut-être seule une couche d’étoupe a-t-elle empêché le dormeur de percevoir le dialogue intérieur des souvenirs et le verbiage incessant du sommeil. Car (ce qui peut du reste s’expliquer aussi bien dans le premier système, plus vaste, plus mystérieux, plus astral) au moment où le réveil se produit, le dormeur entend une voix intérieure qui lui dit: „Viendrez-vous à ce dîner ce soir, cher ami? comme ce serait agréable!“ et pense: „Oui, comme ce sera agréable, j’irai“; puis le réveil s’accentuant, il se rappelle soudain: „Ma grand-mère n’a plus que quelques semaines à vivre, assure le docteur.“ Il sonne, il pleure à l’idée que ce ne sera pas comme autrefois sa grand-mère, sa grand-mère mourante, mais un indifférent valet de chambre qui va venir lui répondre. (RTP III: 371– 372)

Die Gegenwart nimmt in dieser Passage unterschiedliche Funktionen an: Zunächst einmal ragt der Roman punktuell tatsächlich in die Aktualität des Erzählers, der in seinem von der Welt abgeschotteten Korkzimmer lebt und denkt „wie eine Eule“, sodann verweist das Präsens aber auch

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auf die Form der Imagination, den Übergang vom Träumen zu Wachen, der hier nachgeahmt wird, und schließlich entspricht es auch der Selbstanalyse des Sprechers, der sich als Proband, in dritter Person, inszeniert. Es gibt also durchaus Passagen, in denen die durchgehende Nachzeitigkeit präsentisch verfremdet wird, und in denen die Recherche dem experimentellen Roman näher ist, als dem realistischen Modell des Erzählens. 2.2 Monochronie Ähnlich diskussionswürdig ist die Positionierung der Stimme in einem einzigen chronologischen Orientierungszentrum. Eine Tendenz zur Polychronie – zu zeitlich in verschiedenen Epochen verankerten Stimmen – deutet sich zumindest im Teilroman Un amour de Swann an, der – so der Kommentar von Brian Rogers und Jean-Yves Tadié – ziemlich „ungeschickt“, wenn nicht „brutal“ an den ersten Teil von Du Côté de chez Swann geheftet scheint.57 Die in diesem Teil beschriebene Handlung liegt allen übrigen Ereignissen der Recherche voraus, vor allem jedoch der Geburt des Erzählers selbst. Während die Geschichte von À la recherche du temps perdu mit dem kindlichen Protagonisten von Combray beginnt, bietet Un amour de Swann eine Vorgeschichte, in der viele zentrale Figuren eingeführt werden – Swann, Madame Verdurin, Odette de Crécy –, aber welche die homodiegetische Erzählweise des Romans vor eine schwere Herausforderung stellt. Proust hat dieses Problem als solches erkannt, wie eine massive Änderung innerhalb der Entwürfe belegt. Zunächst experimentiert er mit der Figur eines Augenzeugen, eines Vetters, der an dieser Stelle die Stimme des Erzählers ablöst;58 damit wäre die homodiegetische Situation erhalten, aber die chronologische Einheit der Stimme gesprengt worden. Dann entscheidet er sich für eine noch weniger wahrscheinliche Überleitung, welche Un amour de Swann als Teil der Erinnerungen des Ich bestimmt – Erinnerung nicht an Erlebtes, sondern an aus Erzählungen Erfahrenes und darüber hinaus Erahntes: So dachte ich oft bis zum Morgen an die Zeiten von Combray zurück, an meine traurigen schlaflosen Abende, an viele Tage auch, deren Bild mir viel später erst durch den Geschmack – das „Aroma“ hätte man in Combray gesagt – einer Tasse Tee wiedergeschenkt worden war, und durch Erinnerungsassoziationen schließlich auch daran, was ich viele Jahre nach Verlassen dieses Städtchens über ein Liebesaffäre Swanns erfahren hatte, die sich vor der Zeit meiner Geburt ab-

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Brian Rogers/Jean-Yves Tadié: „Notice à ‚Un amour de Swann‘“. In: RTP I, S. 1180–1192, hier S. 1185. Vgl. auch Richardson (Anm. 3), S. 7. Vgl. Rogers/Tadié (Anm. 57), S. 1185.

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spielte, und zwar mit einer Genauigkeit in den Details, wie sie manchmal im Hinblick auf seit Jahrhunderten verstorbene Personen leichter zu erreichen ist als in dem auf das Leben unserer besten Freunde und die ganz und gar unmöglich erscheint, so wie es als unmöglich galt, von einer Stadt zur anderen zu sprechen, bis man den Trick fand, durch den diese Schwierigkeit überwunden wurde. Alle diese aneinandergefügten Erinnerungen bildeten eine Art Masse, dennoch gab es zwischen den älteren und den neueren, solchen, die aus einem Aroma aufgestiegen und solchen, die eigentlich Erinnerungen anderer Menschen waren, von denen ich sie erst übernahm, wenn nicht gerade Risse oder richtige Brüche, so doch kleine Spalten oder wenigstens Änderungen und farbliche Unterschiede, wie sie bei manchen Gesteinsbildungen, besonders den Marmorarten, auf die Verschiedenheiten des Ursprungs, des Alters oder der „Formation“ zurückzuführen sind. (SvZ I: 271 f.) C’est ainsi que je restais souvent jusqu’au matin à songer au temps de Combray, à mes tristes soirées sans sommeil, à tant de jours aussi dont l’image m’avait été plus récemment rendue par la saveur – ce qu’on aurait appelé à Combray le „parfum“ – d’une tasse de thé, et par association de souvenirs à ce que, bien des années après avoir quitté cette petite ville, j’avais appris, au sujet d’un amour que Swann avait eu avant ma naissance, avec cette précision dans les détails plus facile à obtenir quelquefois pour la vie de personnes mortes il y a des siècles que pour celle de nos meilleurs amis, et qui semble impossible comme semblait impossible de causer d’une ville à une autre – tant qu’on ignore le biais par lequel cette impossibilité a été tournée. Tous ces souvenirs ajoutés les uns aux autres ne formaient plus qu’une masse, mais non sans qu’on ne pût distinguer entre eux – entre les plus anciens, et ceux plus récents, nés d’un parfum, puis ceux qui n’étaient que les souvenirs d’une autre personne de qui je les avais appris – sinon des fissures, des failles véritables, du moins ces veinures, ces bigarrures de coloration, qui, dans certaines roches, dans certains marbres, révèlent des différences d’origine, d’âge, de „formation“. (RTP I: 183 f.)

Sehr selbstbewusst besteht der Sprecher auf der Möglichkeit, die kleinsten Details von Handlungen zu kennen, ohne sie erlebt zu haben; narratologisch gesprochen, präsentiert er sich als einen Ich-Erzähler mit Nullfokalisierung. Diese „unmögliche“ und alles andere als natürliche Kombination, welche in anderen Texten ein Indiz narrativer Unzuverlässigkeit wäre (denn ein Subjekt kann jenseits der eigenen internen oder einer externen Sicht kaum glaubwürdige Informationen vermitteln), wird jedoch durch zwei Argumente legitimiert. Das erste versteckt sich in der Anspielung auf das Medium der Telefonie, welche Gespräche von einer Stadt zur anderen ermöglicht; diese technische Ermöglichungsstruktur, welche ihr Funktionieren verdeckt, wird zum Modell der Erzählung, die über den natürlichen Erkenntnisradius eines Sprechers hinausreicht. Das Konglomerat der Vergangenheit bildet sich, so das zweite Argument, aus eigenen wie auch aus fremden Erinnerungen; wobei angesichts dieser „Masse“ nicht mehr

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klar unterschieden werden kann, wer das Subjekt des Erinnerns ist, was aus erster und was aus zweiter Hand kommt. Das Thema dieser Argumentation und die eigentliche Problematik, die der Erzähler entfaltet, betrifft zwar die Fokalisierung. Es wird an den beiden Vergleichen allerdings auch deutlich, dass die Stimme des Erzählers zum einen nicht nur in Analogie an natürliche Rede gedacht wird, sondern mit technischen Medien wie dem Telefon verglichen wird; zum anderen steht der Medienvergleich nicht im Dienst einer Polyphonie (wie dies angesichts der Medienvielfalt denkbar wäre), sondern, wie die Metapher der „Masse“, der Vergleich mit dem Konglomerat, zeigt, einer Monophonie, und damit auch einer Monochronie. Dem Erzähler scheint an der Konstruktion einer einheitlichen Chronologie mehr gelegen als an einer wahrscheinlichen Begründung der Fokalisierung. Dafür spricht nicht nur die Unterdrückung des zweiten Erzählers, den es in einer frühen Fassung noch gibt,59 sondern auch die Unterstreichung der zeitlichen Einordnung von Swanns Liebe, welche nicht im Dienst narrativer Eindeutigkeit steht: Jahre später, als ich anfing, mich für seine Wesensart wegen der Ähnlichkeiten zu interessieren, die sie auf ganz anderem Gebiet mit der meinigen hatte, habe ich mir oft erzählen lassen, daß mein Großvater (der es noch nicht war, denn die große Liaison Swanns begann zur Zeit meiner Geburt und unterband auf lange hinaus diese Praktiken) wenn er von ihm einen Brief erhielt und auf dem Umschlag die Handschrift des Freundes erblickte, ausrief: „Da will Swann wieder etwas von mir: Achtung!“ (SvZ I: 282) Je me suis souvent fait raconter bien des années plus tard, quand je commençai à m’intéresser à son caractère à cause des ressemblances qu’en de tout autres parties il offrait avec le mien, que quand il écrivait à mon grand-père (qui ne l’était pas encore, car c’est vers l’époque de ma naissance que commença la grande liaison de Swann et elle interrompit longtemps ces pratiques), celui-ci, en reconnaissant sur l’enveloppe l’écriture de son ami, s’écriait: „Voilà Swann qui va demander quelque chose: à la garde!“ (RTP I: 191)

Die Ambivalenzen, die durch die Entscheidung für eine einheitliche Chronologie entstehen, erinnern an das Zeitreisen-Paradox: Die im Rahmen von Un amour de Swann eingeführten Figuren nehmen innerhalb der Geschichte eine Identität an, die sich von ihrer Vorgeschichten-Identität unterscheiden muss. Fehlt doch das Ich in der Vorgeschichte als zentraler Bezugspunkt, um den sich nicht nur das deiktische System, sondern auch alle relationalen Bedeutungen organisieren könnten. Das vom Erzähler thematisierte Beispiel ist die Figur, die für ihn sein Großvater ist, diese

____________ 59

Vgl. Rogers/Tadié (Anm. 57), S. 1185.

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Identitäts-Beschreibung aber vor Marcels Geburt noch nicht beanspruchen kann. Positiv gesehen, gestattet die Hypothese der Monochronie, alle Ereignisse einer Stimme zuzuordnen, auf deren Standpunkt eine einzige Zeitachse zuläuft. Damit behält die Sprechinstanz ein weit reichendes Monopol auf Versprachlichung, das zugleich ein Monopol auf zeitlicher Positionierung ist. Negativ betrachtet, hat die gewaltsame Unterordnung der Vorgeschichte nicht nur zur Folge, dass die Fokalisierung kaum noch mit einem natürlichen Bewusstseinsmodell erklärt werden kann, sondern auch, dass die deiktische Organisation der Chronologie gewisse Ambivalenzen erzeugt: Denn die Relationierung zum Ursprung der Stimme ist nur teilweise gerechtfertigt für eine Geschichte, die noch vor der Geburt des Sprechers liegt. 2.3 Statik Das Problem der zeitlichen Situierung von Stimme in der Recherche ergibt sich sodann vor allem im Vergleich zu derjenigen Tradition, in die sich das Werk durch die massive Präsenz des Sprechers als Protagonisten einzuordnen scheint: Der autobiographische Roman zeichnet sich nämlich durch eine klare und meist statische zeitliche Relationierung von Stimme und Erzählung aus.60 Wie bei der Monochronie muss jedoch auch hier eine Spannung signalisiert werden. Die durch Hans Robert Jauß prägnant vorgebrachte Vorstellung von der Recherche als Roman der aufgeschobenen Identität61 betrifft möglicherweise nicht nur das Verhältnis von erzählendem, erinnerndem und erlebendem Ich, sondern auch die formale Zeitlichkeit der Stimme in einer strukturell-illokutionären Dimension.62 Wie schwierig die Rekonstruktion einer solchen Sprechsituation ist, zeigt sich in einer neueren Untersuchung, die sich ausführlich und aus sprechakttheoretischer Perspektive dem Erzählen in der Recherche widmet. Ziel von Mervi Helkkula-Lukkarinen63 ist es unter anderem, sprachliche Zeichen der Präsenz der Stimme, also die scene d’enonciation, zu ermitteln. Die Autorin lehnt sich dabei weitgehend an Genettes Narratologie an, formuliert aber eine eigene Terminologie in Bezug auf die linguistische

____________ 60 61 62 63

Vgl. Ursula Link-Heer: Prousts „A la recherche du temps perdu“ und die Form der Autobiographie. Zum Verhältnis fiktionaler und pragmatischer Erzähltexte. Amsterdam 1988, S. 20 ff. Hans Robert Jauß: Zeit und Erinnerung in Marcel Prousts „À la recherche du temps perdu“. Ein Beitrag zur Theorie des Romans. Heidelberg 1955, S. 54 ff. Vgl. auch Link-Heer (Anm. 60), S. 316–317. Vgl. Mervi Helkkula-Lukkarinen: Construction de la scène d’énonciation dans „À la recherche du temps perdu“. Helsinki 1999, S. 25 ff.

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Theorie des embrayage, die in der französischen Literatur der Deictic Shift Theory entspricht. Einer der Erträge dieser ausführlichen Untersuchung ist, dass die sprachlichen Zeichen, die sich auf das „Jetzt“ des Aussageaktes, d. h. der énonciation, beziehen, und die Angaben über das „Jetzt“ des Ausgesagten, d. h. dem énoncé, häufig ineinander übergehen bzw. eine klare funktionale Zuordnung erschweren. Nur als Beispiel sei hier eine der Stellen zitiert, an welcher das Jetzt („maintenant“) des Sprechers an Profil zu gewinnen und eine ganz traditionelle autobiographische Situation sich einzustellen scheint: Alles das liegt jetzt viele Jahre zurück. Die Wand des Treppenhauses, auf dem ich den Schein seiner Kerze immer näher rücken sah, existiert längst nicht mehr. Auch in mir sind viele Dinge zerstört, von denen ich geglaubt hatte, sie würden ewig währen, und andere sind entstanden, die neue Freuden und Leiden heraufbeschworen haben, von denen ich damals noch nichts wissen konnte, so wie mir heute die damaligen schwer zu begreifen sind. Es ist auch schon lange her, daß mein Vater nicht mehr zu Mama sagen kann: „Geh doch mit dem Kleinen.“ Solche Stunden können nie wiederkehren für mich. Doch seit kurzem fange ich wieder an, wenn ich genau hinhöre, sehr wohl das Schluchzen zu vernehmen, das ich vor meinem Vater mit aller Macht unterdrückte und das erst ausbrach, als ich wieder mit meiner Mutter allein war. In Wirklichkeit hat es niemals aufgehört; nur weil das Leben um mich jetzt stiller ist, höre ich es von neuem, wie jene Klosterglocken, die den ganzen Tag über vom Geräusch der Stadt überdeckt werden, so daß man meint, sie schwiegen, und die in der Stille des Abends wieder zu läuten beginnen. (SvZ I: 55 f.) Il y a bien des années de cela. La muraille de l’escalier, où je vis monter le reflet de sa bougie n’existe plus depuis longtemps. En moi aussi bien des choses ont été détruites que je croyais devoir durer toujours et de nouvelles se sont édifiées donnant naissance à des peines et à des joies nouvelles que je n’aurais pu prévoir alors, de même que les anciennes me sont devenues difficiles à comprendre. Il y a bien longtemps aussi que mon père a cessé de pouvoir dire à maman: „Va avec le petit.“ La possibilité de telles heures ne renaîtra jamais pour moi. Mais depuis peu de temps, je recommence à très bien percevoir, si je prête l’oreille, les sanglots que j’eus la force de contenir devant mon père et qui n’éclatèrent que quand je me retrouvai seul avec maman. En réalité ils n’ont jamais cessé ; et c’est seulement parce que la vie se tait maintenant davantage autour de moi que je les entends de nouveau, comme ces cloches de couvents que couvrent si bien les bruits de la ville pendant le jour qu’on les croirait arrêtées mais qui se remettent à sonner dans le silence du soir. (RTP I: 36 f.)

In Wirklichkeit, so verdeutlicht Helkkula, verhält es sich in dem größten Teil des Romans weniger einfach als an dieser Stelle, an welcher sich das Präsens des Verbalisierungs-Zeitpunkts mittels einer Reihe von Konstruktionen im Passé simple vom Imparfait der Vergangenheit abhebt.64 Und

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Zur programmatischen Funktion des Passé simple im Incipit der Recherche vgl. Vgl. Françoise Leriche: „Pour en finir avec ‚Marcel‘ et ‚le narrateur‘. Questions de narratologie

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tatsächlich wird bereits in der hinführenden Passage die deiktische Funktion von „maintenant“ in ihrer Mehrdeutigkeit zur Schau gestellt, indem dieser Ausdruck einerseits auf ein aktuelles „Jetzt“ des Sprechers, andererseits aber gleich wieder auf das „Jetzt“ der Fokalisierungs-Instanz, auf das in der Vergangenheit angesiedelte erlebende Ich, bezogen wird: Doch in meiner Erziehung war die Rangordnung der Vergehen nicht die gleiche wie in der Erziehung anderer Kinder; man hatte mich vielmehr daran gewöhnt, mehr als alle anderen […] diejenigen zu gewichten, bei denen ich jetzt als das allen Gemeinsame feststellen kann, daß man sie aufgrund eines nervösen Impulses begeht. […] Was ich jetzt wollte, das war Mama, war, ihr gute Nacht zu sagen; ich war auf dem Weg der Erfüllung dieses Wunsches schon zu weit gegangen, um noch zurück zu können. (SvZ I: 51) Mais dans l’éducation qu’on me donnait, l’ordre des fautes n’était pas la même que dans l’éducation des autres enfants et on m’avait habitué à placer avant toutes les autres […] celles dont je comprends maintenant que leur caractère commun est qu’on y tombe en cédant à une impulsion nerveuse. […] Ce que je voulais maintenant c’était maman, c’était lui dire bonsoir, j’étais allé trop loin dans la voie qui menait à la réalisation de ce désir pour pouvoir rebrousser chemin. (RTP I: 33)

Der Bezugsrahmen des embrayeurs wechselt also vom ersten zum zweiten „maintenant“. Nachdem auf diese Weise die Möglichkeit einer Deixis eingeführt wurde, die sich nicht mehr auf das „Sprechen“, sondern auf das „Sehen“ bezieht, ist auch der Bezug des nächsten „Jetzt“ zur Stimme tendenziell zweifelhaft. Der Erzähler nützt außerdem gerne die Mehrdeutigkeit bestimmter Tempus-Aspekt-Kategorien des Französischen, um die zeitliche Relation zum Erzählten zu komplizieren. Eine Analyse des Imparfait z. B. belegt eine doppelte Vergangenheitsstruktur, ein „double passé“.65 Eine erinnerte Vergangenheit besetzt das gleiche Tempus wie der Vorgang des Erinnerns und wie der Vorgang des Schreibens, der, wie o. a. bereits erläutert, ebenfalls zum Gegenstand nachzeitiger Erzählung wird: „Was ich selbst zu schreiben hatte, war anderes […]“ (SvZ VII: 520) – „Moi, c’était autre chose que j’avais à ecrire […]“ (RTP IV: 620). Sowohl das erinnernde moi intermédiaire als auch das (jeweils) erinnerte Ich befinden sich an unterschiedlichen (zeitlichen) Positionen der Vergangenheit, die jedoch deiktisch nicht präzise voneinander unterschieden werden können. Schon Marcel Muller hatte zu Beginn seines Buches die Funktion der Verbalisierung von den anderen „Stimmen“ der Recherche (er verwendet diesen Begriff in einem viel weiteren Sinn als Genette, so dass z. B. auch der

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proustienne“. In: Bernard Brun (Hrsg.): Marcel Proust. 2 Nouvelles directions de la recherche proustienne. Bd. 1. Paris und Caen 2000, S. 13–42, hier S. 42. Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 27.

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Autor Proust als „Stimme“ erscheint) unterschieden.66 Die unterschiedlichen Phasen werden bei Helkkula mit Blick auf die Verbtempora in folgender Tabelle veranschaulicht.67 époque 0

Die Vergangenheit vor der Geburt des Ichs

époque A

Die wiedererinnerte zeitliche Ebene, wo sich Ereignisse abspielen, an denen das moi narré aktiv beteiligt war – Vergangenheit

époque B

Zeitliche Ebene, in der das Vergangene wieder ins Gedächtnis des sujet intermédiaire einzieht Beispiele: Noms de pays: le nom: Anfang

époque B’

Zeit nach der wiedergefundenen Erinnerung (nach époque B) Beispiele: Noms de pays: le nom: Ende Le Temps retrouvé: Finale Sequenz

époque C

Das Jetzt der Narration – der Moment der énonciation

Die Passagen der Vergangenheitsebenen B und B’ können keinen anderen Moment der Verbalisierung kennen als Ebene C; daher ist eine Relation zum Äußerungsmoment hier zumindest implizit gegeben. Anders die Ebenen 0 und A, die in der Vergangenheit rememoriert wurden (auf Ebene B) und insofern andere Bezugspunkte als C haben.68 Die Konsequenz der von Helkkula beobachteten Unschärfe der scène d’énonciation ist eine Destabilisierung des deiktischen Systems, die insbesondere die statische Verankerung des Sprechzeitpunkts betrifft. Man nehme etwa die bekannte Schilderung des Hotelzimmers von Balbec: Unter den Zimmern, deren Bild ich am häufigsten in meinen schlaflosen Nächten heraufbeschwor, glich keines weniger den Zimmern von Combray und dem Duft ihrer körnigen, mit Blütenstaub überstreuten, eßbaren und frommen Atmosphäre als das Grand Hôtel de la Plage zu Balbec, dessen lackierte Wände – ähnlich den glatten Seitenflächen eines Schwimmbeckens, in dem das Wasser bläulich ist – eine reine, azurne und salzige Luft umschlossen. Der bayrische Dekorateur, der mit der Ausstattung dieses Hotels betraut worden war, hatte die Räume verschieden zu gestalten versucht; in dem von mir bewohnten liefen an drei Wänden niedere glasverkleidete Bücherregale entlang, […]. (SvZ I: 553) Parmi les chambres dont j’évoquais le plus souvent l’image dans mes nuits d’insomnie, aucune ne ressemblait moins aux chambres de Combray, saupou-

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Muller (Anm. 1), S. 8. Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 31. Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 31.

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drées d’une atmosphère grenue, pollinisée, comestible et dévote, que celle du Grand-Hôtel de la Plage, à Balbec, dont les murs passés au ripolin contenaient, comme les parois polies d’une piscine où l’eau bleuit, un air pur, azuré et salin. Le tapissier bavarois qui avait été chargé de l’aménagement de cet hôtel avait varié la décoration des pièces et sur trois côtés fait courir le long des murs, dans celle que je me trouvai habiter, des bibliothèques basses, à vitrines en glace, […]. (RTP I: 376)69

Das erste Imparfait („évoquais“) steht in Relation zum Sprechzeitpunkt, während das zweite Imparfait („contenaient“) und die nacheinander gestaffelten Plus que parfaits („avait été chargé“, „avait varié“) sich auf den vergangenen Moment des Erinnerns, der Evokation, beziehen. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass zwar an mehreren Stellen – gerade im ersten Band des Romans – ein statischer Bezugspunkt suggeriert wird, aber der mehrdeutige Einsatz des temporaldeiktischen Systems (Zeitadverbien wie Verbtempora) eine Situierung des Sprechers im RaumZeit-Kontinuum erschwert. So zielen verschiedene Strategien des Texts darauf, den statischen Ankerpunkt der Stimme zu lösen – sei es, dass das „maintenant“ in nahen Kontexten auf die Aktualität der Rede oder auf den fokalisierten Moment bezogen wird, sei es, dass ein Verbtempus wie das Imparfait ebenso kontextnah mal zum Augenblick des Erzählens, mal zum Augenblick des Erinnerns in Bezug gesetzt wird. Diese Schwächung der zeitlichen Relation kontrastiert mit allen traditionellen Inszenierungen der autobiographischen Stimme. 2.4 Heterochronie Genettes These, dass sich das Erzählen in der Fiktion als „instantane[r] Akt ohne zeitliche Ausdehnung“70 präsentieren kann, wirkt gerade durch ihre Anwendung auf die Recherche besonders eindrucksvoll. In der Tat ist es angesichts des Umfangs dieses Romans kaum vorstellbar, dass der Erzähler von der Dauer seiner Performanz so wenig Aufhebens macht. Während alles Erzählte sich in einer höchst lebendig geschilderten und intensiv vom Protagonisten erlebten Zeit vollzieht,71 spricht die Stimme selbst von einem Zeitpunkt aus, der kaum etwas mit dieser von Dauer geprägten Romanwelt zu tun hat. Diese Diskrepanz entspricht einem Schema fiktionalen Erzählens, bei welchem die Erzählsituation verdeckt bleibt. Auch hier lässt sich eine genetische Zuspitzung feststellen, die von Contre Sainte-Beuve, dem als Dialog konzipierten Roman, bis hin zum kon-

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Vgl. Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 32–35. Genette (Anm. 2), S. 144. Vgl. Ricœur (Anm. 7).

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sequent fiktionalisierten, unmotivierten und weitgehend verdeckten Erzählen der Recherche führt.72 Dieses Schema fiktionalen Erzählens, so die These, die wir ergänzend dazu vertreten möchten, wird allerdings immer wieder durchbrochen von Aussagen, die dem Sprechzeitpunkt eine unerwartete Fülle verleihen. Als solche verstehen wir zum einen die Metalepsen des Erzählers, zum anderen die explizite Anrede des Lesers. Die blitzartig aufscheinenden Momente sind allerdings nicht kohärent unter sich verbunden. Sie wirken wie Einsprengsel, die die dominante Tendenz einer Stimme verfremden, die im Großteil der Erzählung „extradiegetisch“73 ist und außerhalb der von ihr selbst versprachlichten Dauer steht. Metalepse ist laut Genette bekanntlich die Überschreitung der Grenze zwischen diegetischen Ebenen, welche beispielsweise zur Begegnung zwischen einem fiktiven Leser und den Figuren der von ihm gelesenen Geschichte führen kann.74 Dorrit Cohn hat bereits ausführlich eine Passage aus der Recherche als métalepse d’auteur analysiert, auf die wir ausführlicher eingehen möchten.75 Die Metalepse ist in diesem Zusammenhang besonders interessant, weil sie sich als explizit reflektierte Figur darstellt, und weil diese ausdrückliche Reflexion auf die Grenzen der diegetischen Ebenen mit der Deixis der Possesivpronomens „Mon“/„Mein“ spielt: Das Zögern des Erwachens offenbarte sich zwar in ihrem Schweigen, doch nicht in ihrem Blick. Sie fand die Sprache wieder und sagte: „Mein“ oder „Mein geliebter“, jeweils zusammen mit meinem Taufnamen, was, wenn man dem Erzähler denselben Vornamen verliehe, den der Verfasser des Buches trägt, ergäbe: „Mein Marcel“ oder „Mein geliebter Marcel“. (SvZ V: 101) L’hésitation du réveil révélée par son silence, ne l’était pas par son regard. Dès qu’elle retrouvait la parole elle disait: „Mon“ ou „Mon chéri“ suivis l’un ou l’autre de mon nom de baptême, ce qui en donnant au narrateur le même nom qu’à l’auteur de ce livre eût fait: „Mon Marcel“, „Mon chéri Marcel“. (RTP III: 583)

Die Ausdrücke „narrateur“ und „auteur“ dürfen hier selbstverständlich nicht mit den entsprechenden Ausdrücken strukturaler Narratologie verwechselt werden. „Marcel“ ist also nicht der Name des Autors (Marcel Proust), sondern der Name derjenigen Instanz, welche als Stimme vom Protagonisten abgespalten wird. Dass diese beiden Instanzen einen unterschiedlichen Namen tragen, also offenbar nicht identisch sind, schafft eine Leerstelle, die ähnlich irritiert wie die Beschreibung einer Figur als Großvater und Noch-nicht-Großvater. Während letzteres Paradox aus der Durchsetzung der Monochronie entsteht, ruft die Trennung von „narra-

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Vgl. Leriche (Anm. 64), S. 34. Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 27. Genette (Anm. 2), S. 167–174. Dorrit Cohn: „Métalepse et mise en abyme“. In: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hrsg.): Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris 2005, S. 121–130.

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teur“ und „auteur“, welche die autodiegetische Fiktion durchbricht, fiktionsironisch die unnatürliche Erzählsituation in Erinnerung. Dass hier das Pronomen „mon“ in ein- und demselben Satz für zwei unterschiedliche Personen gebraucht wird, unterstreicht, dass das deiktische Bezugssystem der erzählten Welt ein grundsätzlich anderes ist als dasjenige des Erzählers – sogar wenn dieser in der ersten Person spricht.76 Hinsichtlich der Zeit konturiert sich der Unterschied von Sprechsituation und besprochener Situation als einer von Zeitlosigkeit (das Partizip „donnant“ bleibt in temporaler Hinsicht sehr offen) und prägnant herausgearbeiteter Dauer (das anfängliche Zögern Albertines beim Aufwachen, ihre sofort einsetzende Rede). Dieser Unterschied entspricht der bereits von Genette beobachteten Heterochronie der Stimme, dem Gegensatz zwischen ihrem scheinbar zeitlosen Wirken und der Zeitlichkeit des Erzählten. Die Metalepse, bei welcher der Erzähler sich von der erzählten Welt ab- und seinem fiktiven Adressaten zuwendet, kann jedoch auch eine gegenläufige Funktion erfüllen. Dies ist der Fall an einer nur wenig früheren Stelle, in einem noch stärker fiktionsironischen Beispiel: Bevor wir zu Jupiens Laden zurückkehren, legt der Verfasser Wert darauf zu sagen, wie schmerzlich es ihm wäre, wenn der Leser an so seltsamen Schilderungen Anstoß nähme. (SvZ V: 61) Avant de revenir à la boutique de Jupien, l’auteur tient a dire combien il serait contristé que le lecteur s’offusquât de peintures si étranges. (RTP III: 555 f.)

In diesem Fall ist die Metalepse chronologisch organisiert, als eine zeitliche Klammer, welche das Erzählen an einer bestimmten Stelle unterbricht. Dieses Verfahren bildet außerdem die Zeit der Stimme als Dauer ab, zieht sie in die Dauer der erzählten Welt hinein: Der Vollzug des Erzählens scheint sich auf der gleichen Ebene zu bewegen wie die Begebenheiten in Jupiens Geschäft. Wie viel von dieser Dauer in die Unterhaltung mit dem Leser mitgenommen wird, ist eine andere Frage. Fest steht jedoch, dass die Metalepse den Erzähler hier einen Augenblick lang an der erzählten Welt und somit auch an ihrer spezifischen Zeitlichkeit teilhaben lässt. Der indirekt angesprochene Leser ist gerade in Sodome et Gomorrhe an mehreren Stellen präsent, so dass sich hier beinahe eine Art Dialog konturiert. Da ein solcher Dialog sich in einer Form von Dauer vollziehen muss, würde die Stimme sich darin wieder der Zeitlichkeit des Erzählten annähern, von der sie sich an anderer Stelle so gewaltsam absetzt. „Alles dies“, wird der Leser sagen, „sagt uns nichts über die mangelnde Gefälligkeit jener gewissen Dame; aber da Sie sich nun doch schon so lange verweilt

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Auf dieses Spiel mit dem embrayeur „Je“ verweist bereits Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 28.

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haben, werden Sie gestatten, geschätzter Autor, daß wir Ihnen noch eine weitere Minute rauben und Ihnen sagen, wie mißlich es ist, daß Sie, so jung, wie Sie damals noch waren (oder Ihr Held, wenn Sie es schon nicht selber sind), bereits ein so schlechtes Gedächtnis hatten, daß Sie sich an den Namen einer Dame nicht zu erinnern vermochten, die Sie sehr gut kannten.“ Das ist in der Tat sehr mißlich, verehrter Leser. Und trauriger noch, als Sie glauben, wenn man darin eine Ankündigung jener Zeit erkennt, in der Namen und Wörter aus der lichten Zone des Denkens verschwinden und in der wir für immer darauf werden verzichten müssen, uns selbst diejenigen mit Namen zu nennen, die wir am besten gekannt haben. Es ist in der Tat mißlich, daß man von Jugend auf diese Mühe aufwenden muß, um Namen wiederzufinden, die man gut kennt. Wenn aber diese Schwäche sich nur bei Namen einstellte, die man kaum gewußt und infolgedessen ganz natürlicherweise vergessen hat, die zu behalten man auch gar nicht der Mühe für wert erachtete, so würde diese Schwäche nicht ohne Vorteil sein. „Und was für ein Vorteil, wenn ich bitten darf?“ Es ist eben so, mein lieber Herr, daß nur die Krankheit uns die Mechanismen bemerken und verstehen läßt, ja zu analysieren erlaubt, die man sonst nicht kennen würde. Wird ein Mensch, der jeden Abend schwer in sein Bett sinkt und bis zu dem Augenblick des Erwachens und Aufstehens gleichsam nicht mehr lebt, jemals daran denken, wenn schon keine großen Entdeckungen, so doch wenigstens kleine Beobachtungen über den Schlaf anzustellen? Er weiß ja kaum, ob er schläft. Ein geringes Maß an Schlaflosigkeit ist nicht ohne Nutzen dafür, den Schlaf richtig schätzen zu lernen, sein Dunkel ein wenig aufzuhellen. Ein lückenloses Gedächtnis ist kein sehr mächtiger Impuls, um die Phänomene des Gedächtnisses zu studieren. „Also kurz und gut, hat Madame d’Arpajon Sie nun eigentlich dem Fürsten vorgestellt?“ Nein, aber so schweigen Sie doch und lassen mich nunmehr weiterberichten. (SvZ IV: 80 f.) Tout ceci, dira le lecteur, ne nous apprend rien sur le manque de complaisance de cette dame; mais puisque vous vous êtes si longtemps arrêté, laissez-moi, monsieur l’auteur, vous faire perdre une minute de plus pour vous dire qu’il est fâcheux que, jeune comme vous l’étiez (ou comme était votre héros s’il n’est pas vous), vous eussiez déjà si peu de mémoire, que de ne pouvoir vous rappeler le nom d’une dame que vous connaissiez fort bien.“ C’est très fâcheux en effet, monsieur le lecteur. Et plus triste que vous croyez quand on y sent l’annonce du temps où les noms et les mots disparaîtront de la zone claire de la pensée, et où il faudra, pour jamais, renoncer à se nommer à soi-même ceux qu’on a le mieux connus. C’est fâcheux en effet qu’il faille ce labeur dès la jeunesse pour retrouver des noms qu’on connaît bien. Mais si cette infirmité ne se produisait que pour des noms à peine connus, très naturellement oubliés, et dont on ne voulût pas prendre la fatigue de se souvenir, cette infirmité-là ne serait pas sans avantages. „Et lesquels, je vous prie?“ Hé, monsieur, c’est que le mal seul fait remarquer et apprendre et permet de décomposer les mécanismes que sans cela on ne connaîtrait pas. Un homme qui chaque soir tombe comme une masse dans son lit et ne vit plus jusqu’au moment de s’éveiller et de se lever, cet homme-là songera-t-il jamais à faire, sinon de grandes découvertes, au moins de petites remarques sur le sommeil? À peine sait-il s’il dort. Un peu d’insomnie n’est pas inutile pour apprécier le sommeil, projeter quelque lumière dans cette nuit. Une mémoire sans défaillance n’est pas un très puissant excitateur à étudier les phénomènes de mé-

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moire. „Enfin, Mme d’Arpajon vous présenta-t-elle au prince?“ Non, mais taisezvous et laissez-moi reprendre mon récit. (RTP III: 51 f.)

Gewiss handelt es sich hier um ein Spiel mit der fiktionalen Rede, in welchem der Erzähler so ironisch-humorvoll agiert wie in der gesamten Schilderung dieser Festlichkeit. In unserem Zusammenhang fällt jedoch auf, dass der Gegenstand dieses Spiels die Dauer ist. Die Ungeduld des Erzählers in seinem Austausch mit dem Leser, der Vorgriff auf dessen lebensweltliche Erfahrung mit dem Gedächtnis – alle diese Elemente suggerieren, dass das Erzählen selbst nicht zeitlos, sondern in eine Dauer eingebettet ist. Genette kommentiert eben diese Textstelle in seinen Ausführungen zur narrativen „Dauer“, um die (deskriptive) Pause zu veranschaulichen.77 Das narrative Verfahren betrifft jedoch nicht nur das Erzählte (auf welches sich seine Kategorie der „durée“ bezieht), sondern auch die zeitliche Positionierung der Stimme, welche mit einer ganz ungewöhnlichen, an Denis Diderots Jacques le fataliste et son maître erinnernden Form der Fiktionsironie vorgebracht wird.78 Der Dialog mit dem Leser wird an anderer Stelle wieder aufgenommen, an dem der Erzähler diesen sogar mit einem deiktisch wirksamen Pronomen, als „vous“, das sich einem „je“ entgegenstellt, in die Erzählsituation einbindet: Wie nun kam Monsieur de Charlus, der alle Tage des Jahres vergeblich von so vielen Botschaftern und Herzoginnen erwartet wurde, der bei dem Fürsten von Croy nicht dinierte, weil man solchen Leuten nicht zu sehr entgegenkommen darf, dazu, die gesamte Zeit, die er jenen großen Damen und Herren vorenthielt, bei der Nichte eines Westenmachers zu verbringen? Zunächst, und dies war der ausschlaggebende Grund, war eben Morel da. Doch wäre er nicht gewesen, sähe ich in seinem Verhalten dennoch nichts Unwahrscheinliches, es sei denn, man79 beurteilte die Lage, wie es einer von Aimés Kellnern getan hätte. Nur Restaurantbediente meinen, daß ein steinreicher Mann immer nur neue und auffallende Kleidungsstücke trägt und daß ein Herr, der das

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Genette (Anm. 2), S. 62. „Du siehst, Leser, wie zuvorkommend ich bin; es hinge nur von mir ab, den Pferden, die den schwarzverhangenen Wagen zogen, einen Peitschenhieb zu geben, Jakob, seinen Herrn und die berittene Gendarmerie mit dem Rest des Zuges an der Tür der nächsten Herberge zu versammeln, die Geschichte von Jakobs Hauptmann zu unterbrechen und dich nach meinem Gefallen ungeduldig zu machen.“ (Denis Diderot: Jakob und sein Herr. Übers. von Wilhelm Chr. Mylius. Frankfurt a. M. 1961, S. 68; vgl. den Kommentar dieser Stelle bei Rainer Warning: „Opposition und Kasus. Zur Leserrolle in Diderots ‚Jacques le fataliste et son maître‘“. In: Ders. [Hrsg.]: Rezeptionsästhetik. München 1975, S. 467–493, hier S. 471). Ob das „vous“ des französischen Texts mit „man“ vollständig wiedergegeben ist, lässt sich diskutieren. Wir würden aus der kontextuellen Nähe zum „je“, aus der Folge auf eine rhetorische Frage an den Leser und aus der Nähe zur o. a. indirekten Leseranrede (SvZ V: 61) vermuten, dass ein „Du“ nicht völlig unangebracht wäre.

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Eleganteste vom Eleganten ist, Abendessen mit sechzig Gedecken gibt und einzig im Auto spazierenfährt. Sie täuschen sich. (SvZ V: 65 f.) Comment, M. de Charles vainement attendu tous les jours de l’année par tant d’ambassadeurs et de duchesses, ne dînant pas avec le prince de Croy parce qu’on donne le pas â celui-ci, M. de Charles, tout le temps qu’il dérobe à ces grandes dames, à ces grands seigneurs, le passait chez la nièce d’un giletier? D’abord, raison suprême, Morel était là. N’y eût-il pas été, je ne vois aucune invraisemblance, ou bien alors vous jugez comme eût fait un commis d’Aimé. Il n’y a guère que les garçons de restaurant pour croire qu’un homme excessivement riche a toujours des vêtements nouveaux et éclatants, et qu’un monsieur tout ce qu’il y a de plus chic donne des divers de soixante couverts et ne va qu’en auto. Ils se trompent. (RTP III: 559)

Die beiden vorangegangenen Passagen, die einzigen beiden Stellen, an denen der Angesprochene so unmittelbar in Erscheinung tritt,80 verfolgen jeweils eine ähnliche Strategie. Die derart konstruierte Situation unterscheidet sich deutlich von der fiktiven zeiträumlichen Situation, in welcher ein Sprecher sich an einen bestimmten Adressaten seines Schreibens oder seiner Rede wendet. Es handelt sich vielmehr beide Male um die Anrede an den potenziellen Leser, den schon Diderot zu Beginn von Jacques le fataliste et son maître und Honoré de Balzac am Anfang von Le Père Goriot zum Leben erwecken: So werdet auch ihr es machen, die ihr dieses Buch in eurer weißen Hand haltet, euch im behaglichen Sessel zurücklehnt und bei euch denkt: „Hoffentlich ist die Geschichte unterhaltend!“ Nachdem ihr das heimliche Elend des Vaters Goriot gelesen habt, werdet ihr mit Appetit zu Mittag speisen und eure Gefühllosigkeit auf Rechnung des Autors setzen, werdet ihn der Übertreibung, der Phantasterei bezichtigen. Ainsi ferez-vous, vous qui tenez ce livre d’une main blanche, vous qui vous enfoncez dans un moelleux fauteuil en vous disant: „Peut-être ceci va-t-il m’amuser.“ Après avoir lu les secrètes infortunes du père Goriot, vous dînerez avec appétit en mettant votre insensibilité sur le compte de l’auteur, en le taxant d’exagération, en l’accusant de poésie.81

In der Recherche erscheint dieser Leser gelegentlich in einer dritten Person. Da es jedoch vor allem um die temporale Profilierung des Erzählers geht, ist die Differenz zwischen „vous“ und „le lecteur“ wenig relevant. Das

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Pascal Alain Ifri: Proust et son Narrataire. Paris 1983, S. 63; vgl. Ian McCall: „Je,“ „il,“ and „vous“: narrator, protagonist, and narratee from „Jean Santeuil“ to „A la recherche“. London 1998, S. 235. Honoré de Balzac: Vater Goriot. Übers. von Gisela Etzel. Leipzig 1950, S. 5; Honoré de Balzac: „Le Père Goriot“. In: Ders.: La Comédie humaine III. Etudes de mœurs: Scènes de la vie privée, scènes de la vie de province. Hrsg. von Pierre-Georges Castex. Paris 1976, S. 49–290, hier S. 50.

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Präsens wirkt jeweils aufgespreizt zwischen dem Jetzt des Erzählens und einem späteren Jetzt des Lesens: Meine Worte spiegelten also keineswegs meine Gefühle wider. Wenn der Leser davon nur einen ziemlich schwachen Eindruck bekommt, so deswegen, weil ich als Erzähler ihm zur gleichen Zeit meine Gefühle erkläre und ihm meine Worte berichte. Würde ich ihm jedoch die ersteren verbergen und er nur die zweiten kennen, so müßte er aus meinen Handlungen, die in gar keiner Beziehung dazu stehen, so oft den Eindruck von seltsamen Sinnesänderungen gewinnen, daß er mich nahezu für verrückt halten müßte. (SvZ V: 497) Mes paroles ne reflétaient donc nullement mes sentiments. Si le lecteur n’en a que l’impression assez faible, c’est qu’étant narrateur je lui expose mes sentiments en même temps que je lui répète mes paroles. Mais si je lui cachais les premiers et s’il connaissait seulement les secondes, mes actes, si peu en rapport avec elles, lui donneraient si souvent l’impression d’étranges revirements qu’il me croirait à peu près fou. (RTP III: 850)

Das Verb „a“ (von „avoir“) ist auf den hypothetischen Zeitpunkt des Lesens bezogen, während „expose“ und „répète“ sich auf die Gegenwart der Stimme beziehen. Durch die Spreizung zwischen diesen beiden Funktionen wird zwar auch hier die Wirkung der Deixis entkräftet; dafür entfaltet sich eine Vorstellung von Dauer, die nun nicht in der Zeit der Genese des Werks steht, so wie sie Hauptgegenstand der meisten metapoetischen Reflexionen ist, sondern darüber hinaus in die Zeit seiner Rezeption reicht. Es ist auffällig, dass diese Präsenz der Stimme gerade im Mittelteil der Recherche, also im „Roman d’Albertine“ zum Tragen kommt. Ian McCall hat die Besonderheit dieser und ähnlicher relativ spät hinzugekommener Passagen für die Struktur der Erzählung unterstrichen: The implications of these passages are important as they reveal that in these late references to the author, Proust has created a new diegetic level which is paradoxically intradiegetic and extradiegetic. There is an „auteur“ on the same diegetic level as a „lecteur“/narratee. These two are on a different extradiegetic level from Proust and the „real reader“. They are also on a different diegetic level from the Narrator and the narratee (both on the same diegetic level as each other). 82

McCall hebt also den metaleptischen Aspekt hervor, denn die Einführung einer gemeinsamen diegetischen Zwischenebene ermöglicht die Begegnung eines fiktiven Autors mit einem fiktiven Leser. Unter dem Aspekt der Zeit kommen wir zu einem etwas anderen Ergebnis, da das Zusammentreffen ja hier nur als hypothetisches und nicht als real gelingendes beschrieben wird. Verstören sollte also vor allem die Homochronie, und diese betrifft nur die Stimme des Erzählers, welche sich stellenweise in die Dauer eines Rezeptionsprozesses hineinprojiziert. Die im Roman vorherr-

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McCall (Anm. 80), S. 243.

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schende Heterochronie wird durch diese fiktionsironischen Verfahren gebrochen; der an solchen Stellen angedeutete homochrone Rahmen verweist teilweise auf die Konventionen romanesken Erzählens, teilweise auf die künstlerische Freiheit des Erzählers. Während erstere einen historischen Index haben, entfaltet sich letztere im Vollzug der Rede und somit in einer performativ, durch Entscheidungen gestalteten Zeit. 2.5 Fazit Françoise Leriche hat in einem genetischen Gegenentwurf zu Genette das Grundproblem der Deixis in der Recherche treffend als eine „Derealisierung des Ich“ benannt. Diese „déréalisation accrue du Je“ geht einher mit dem Abstand zwischen einem „Je fondamental, sans prédicats“ und den unterschiedlichen imaginären Projektionen, mit denen der Sprecher sich identifiziert.83 Auf der einen Seite gibt es also die erzählten, imaginären Ichs mit ihrer Fülle unterschiedlicher Eigenschaften, auf der anderen Seite eine Instanz der Versprachlichung, die in zunehmendem Maße eigenschaftslos und unbestimmbar ist. Eine Untersuchung der vier Aspekte zeitlicher Verankerung dieser Stimme hat uns nun gestattet, diese Unbestimmtheit und somit die Bedingungen der „Derealisierung“ näher zu analysieren. Insgesamt ergibt sich ein kongruentes Bild: Die Positionierung der Stimme folgt in drei Aspekten einem autobiographischem Schema – indem sie sich als nachzeitig, monochron und statisch präsentiert – und weicht in einem davon ab. Die Heterochronie der Stimme führt zu der merkwürdigen Diskrepanz verschiedener jeweils in die Dauer eingelassenen oder darüber stehenden „Ichs“. Neben diesem ersten Grund der Irrealisierung führt eine detaillierte Analyse aber auch auf einen zweiten Grund, und zwar die Verfremdung der dominanten Kategorien durch logische Irritationen. Diese Einsprengsel schwächen die Nachzeitigkeit und Monochronie, die Statik und Heterochronie jeweils durch konträre Indizien ab; erst im Zusammenhang wird deutlich, dass die Derealisierung der Sprechsituation nicht einfach die Verdeckung der Produktionsweise, sondern eine subtile Art von Fiktionsironie bezweckt. Es ist eine Frage der Hermeneutik, wie mit diesen punktuellen Widersprüchen in einem derart umfangreichen Text umgegangen werden soll, und auch eine genetische Herangehensweise wird dieses hermeneutische Problem nicht ausräumen. Unsere eigene Antwort war es, ähnlich wie dies schon Leriche tut, poetologisch relevante Intertexte heranzuziehen und die Paralogismen der Stimme als beabsichtigte Effekte modernen Erzäh-

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Leriche (Anm. 64), S. 36.

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lens zu deuten. Die Frage, ob die Recherche absichtlich die Grenzen verwischt84 oder die Leerstellen in der zeitlichen Relationierung der Stimme eine Produkt nicht-intentionaler Umstände – etwa der nicht abgeschlossenen Überarbeitung der letzten Teilromane – sind, kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Für die hier vertretene Hypothese spricht jedoch der hohe Reflexionsgrad der dafür relevanten Stellen, welche das Thema der deiktischen Verankerung paradoxerweise immer wieder an das der künstlerischen Freiheit, der Wahl zwischen konträren Formen, bindet. Literatur Avanessian, Armen/Hennig, Anke: „Einleitung“. In: Dies. (Hrsg.): Der Präsensroman. Berlin/Boston 2013, S. 1–24. Bachtin, Michail M.: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. Frankfurt a. M. 2008. Balzac, Honoré de: „Le Père Goriot“. In: Ders.: La Comédie humaine III. Etudes de mœurs: Scènes de la vie privée, scènes de la vie de province. Hrsg. von Pierre-Georges Castex. Paris 1976, S. 49–290. Balzac, Honoré de: Vater Goriot. Übers. von Gisela Etzel. Leipzig 1950. Bühler, Karl: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache. Jena 1934. Coenen, Hans-Georg: „Lyrik und Pragmatik. Zur ,Sprechsituation‘ von Gedichten“. In: Rolf Kloepfer (Hrsg.): Bildung und Ausbildung in der Romania. 2 Bde. München 1979, Bd. 1, S. 504–514. Cohn, Dorrit: „Métalepse et mise en abyme“. In: John Pier/Jean-Marie Schaeffer (Hrsg.): Métalepses. Entorses au pacte de la représentation. Paris 2005, S. 121–130. Cohn, Dorrit: „‚Ich döse und wache‘. Die Normabweichung gleichzeitigen Erzählens“. Aus dem Englischen von Sylvia Zirden. In: Armen Avanessian/Anke Hennig (Hrsg.): Der Präsensroman. Berlin/Boston 2013, S. 125–138. Diderot, Denis: Jakob und sein Herr. Übers. von Wilhelm Chr. Mylius. Frankfurt a. M. 1961 Fludernik, Monika: „Tempus und Zeitbewusstsein. Erzähltheoretische Überlegungen zur englischen Literatur“. In: Martin Middeke (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 21–32. Fludernik, Monika: „Chronology. Time, Tense and Experientiality in Narrative“. In: Language and Literature 12 (2003), S. 117–134. Genette, Gérard: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1994. Hamburger, Käte: Die Logik der Dichtung. Stuttgart 31977. Hartung, Gerald: „Mensch und Zeit – Zur Einführung“. In: Ders. (Hrsg.): Mensch und Zeit. Wiesbaden 2015, S. 7–22.

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Vgl. Helkkula-Lukkarinen (Anm. 63), S. 42.

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Zeit und Polyphonie. Zum Verhältnis von verdoppelter Zeit und verdoppelter ‚Stimmen‘ in Erzähltexten von Leo Perutz und Ambrose Bierce 1. Polyphonie und Varianten zur Verdopplung von Zeit 407 – 1.1 Terminologie und Übertragungsbereiche 408 – 1.2 Narrative Verfahren zur Verdopplung von Zeit: Grundlagen und Probleme 412 – 2. Doppelte ‚Zeiten‘ und doppelte ‚Stimmen‘ in Leo Perutz’ „Zwischen neun und neun“ und Ambrose Bierces „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ 416 – 2.1 Als Verstorbener auf der Flucht? Von der (Un-)Möglichkeit parallel erzählter Zeiten 416 – 2.2 Die polyphone narrative Instanz 426

1. Polyphonie und Varianten zur Verdopplung von Zeit Bereits der Versuch, den Begriff der ‚Zeit‘ aus wissenschaftsgeschichtlicher Sicht nur knapp zu umreißen, verlangt eine zumindest dreifach ausgerichtete Antwort, die physikalische, chronologische und psychologische Aspekte berücksichtigt. Um besondere Formen der temporalen Gestaltung von Narrationen sinnvoll mit dem Phänomen der Mehrstimmigkeit in Verbindung bringen zu können, bedarf es zunächst einer genaueren Darstellung des Polyphoniebegriffes aus philologischer Sicht. Im Anschluss daran erfolgt eine Übersicht von narrativen Verfahren, die eine Verdopplung von Zeit generieren und die Vermittlung von mehreren Zeiten innerhalb einzelner Erzähltexte ermöglichen. Mit dem Roman Zwischen neun und neun (1918) von Leo Perutz und der Short Story An Occurrence at Owl Creek Bridge (1891) von Ambrose Bierce werden anschließend zwei Prosatexte untersucht, in denen jeweils zwei verschiedene Zeiten durch eine mehrstimmige Erzählinstanz präsentiert werden. Dieses besondere Konstrukt einer polyphonen narrativen Instanz wird abschließend als eine neue erzähltheoretische Kategorie eingeführt und theoretisch begründet.

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1.1 Terminologie und Übertragungsbereiche Der Terminus „Polyphonie“ setzt sich aus den griechischen Wörtern poly (viel, mehr) und fonè (Stimme) zusammen und lässt sich mit ‚Mehrstimmigkeit‘ übersetzen. Ursprünglich wurde der Begriff in der Musikgeschichte etabliert. Begreift man das Kompositum in einer möglichst engen Bedeutung, so handelt es sich laut Ignace Bossuyt „strenggenommen [bei] jede[r] Komposition, die für mehr als eine Stimme geschrieben ist“,1 auch um eine polyphone Komposition. Die Anfänge polyphoner Musikfragmente reichen bis ins 9. Jahrhundert zurück und sind religiösen Ursprungs; diese beruhen auf einem noch vergleichsweise einfachen Prinzip der Mehrstimmigkeit, welches dieselbe Melodie beibehält und die Mehrstimmigkeit einzig durch verschiedene Stimmlagen erreicht.2 Eine Ausdifferenzierung der polyphonen Technik findet nach Bossuyt ab dem 12. Jahrhundert statt, als die zuvor noch parallel erklingende Stimme beginnt, einen eigenständigen Weg aufzuweisen.3 In der Literaturwissenschaft wird der Begriff erst im Laufe des 20. Jahrhunderts von Michail M. Bachtin verwendet, der ihn im Zuge seiner Studien zur Poetik Dostojewskis4 einführt. Bachtins Begriffsverständnis, das auf der Vorstellung eines „zweistimmigen Wortes“5 gründet, hat sich zweifelsohne als die gängigste Verwendung innerhalb der Literaturtheorie etabliert; gleichwohl lässt sich aber auch eine beachtliche Zahl weiterer Anwendungsweisen des Terminus ausmachen, die von dem Verständnis Bachtins deutlich abzugrenzen sind. Durch die starke Konnotation des Begriffes mit einer spezifischen Konzeption der Erzählinstanz wird häufig im Zusammenhang mit epischen Texten von Polyphonie gesprochen, wenngleich sich auch einzelne Übertragungen auf Drama und Lyrik6 finden lassen. Als gattungsunabhängig erweist sich eine Begriffsbe-

____________ 1 2 3 4 5 6

Ignace Bossuyt: Die Kunst der Polyphonie. Die flämische Musik von Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso [1994]. Übers. von Horst Leuchtmann. Zürich/Mainz 1994, S. 22. Bossuyt (Anm. 1), S. 22. Bossuyt (Anm. 1), S. 22. Michail M. Bachtin: „Das Wort im Roman“ [1934/35]. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979, S. 154–300. Vgl. Bachtin (Anm. 4), S. 213. Für die Gattung der Lyrik vgl. z. B. den Sammelband von Jan Röhnert u. a. (Hrsg.): Lyrik im Spannungsfeld von Authentizität und Polyphonie. Heidelberg 2008. Röhnert u. a. widmen sich dezidiert der Frage, ob es sich bei der häufig als ‚authentisch‘ bezeichneten Gattung der Lyrik zwangsläufig um einstimmige Texte handeln muss, oder ob sich nicht gerade dem modernen Gedicht verschiedene Möglichkeiten polyphoner Konstruktionen eröffnen. Im Bereich des Theaters subsummiert Peter Diezel die gattungsspezifische Plurimedialität des Dramas unter dem Begriff der Polyphonie, vgl. hierzu Peter Diezel: „Narrativik und die Polyphonie des Theaters“. In: Eberhard Lämmert (Hrsg.): Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin 1999, S. 53–71.

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stimmung, die das Phänomen der Mehrstimmigkeit an Übersetzungsprozesse und Mehrsprachigkeit koppelt:7 Polyphonie ist dann kein Merkmal, das in den einzelnen Text aufgrund seiner besonderen Erzählstruktur eingeschrieben ist, sondern die ‚Stimmverdopplung‘ wird erst mittels einer Übersetzung in eine andere Sprache konstruiert. Nicht der Text selbst ist polyphon, sondern der aktive Umgang mit ihm und die Übertragung in eine andere Sprache lassen ihn mehrstimmig werden; Polyphonie ist an dieser Stelle ein Produkt der Performanz.8 In eine ähnliche Richtung bewegt sich das Begriffsverständnis von Tobias Wilke, der im Zuge seiner Ausführungen zu Ingeborg Bachmanns Frankfurter Poetik-Vorlesungen Polyphonie als eine „Auftrittsweise“ der Stimme9 begreift, die er durch integrierte Zitate sowohl in Bachmanns Habitus ausmacht, als auch in ihrem literarischen Werk realisiert sieht. In Wilkes Konzept verbindet sich also der Gedanke einer (aktiven) Konstruktion von Polyphonie mit dem Prinzip der Intertextualität, das von Julia Kristeva 1967 im Anschluss an ihre Auseinandersetzung mit Michail Bachtin entwickelt worden ist. Dieses gründet auf einer potenziell doppelten Lesemöglichkeit:10 „Jeder Text baut sich als ein Mosaik von Zitaten auf, jeder Text ist Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität, und die poetische Sprache läßt sich zumindest als eine doppelte lesen“.11 Auf die heterogenen Verwendungsweisen des Terminus Polyphonie wurde jüngst auch aus einer Metaperspektive hingewiesen. So thematisieren Marion Grein, Miguel Souza und Svenja Völkel im Rahmen ihrer Studie zu Polyphonie, Intertextualität und Intermedialität12 die „Problematik der zahlreichen (eventuell sogar widersprüchlichen) Definitionen und Klassifikationen“

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Vgl. Johann Strutz/Peter V. Zima (Hrsg.): Literarische Polyphonie. Übersetzung und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Tübingen 1996. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Sammelband von Christa Baumberger u. a. (Hrsg.): Literarische Polyphonien in der Schweiz. Bern 2004. Tobias Wilke: „Auftrittsweisen der Stimme. Polyphonie und/als Poetologie bei Ingeborg Bachmann“. In: Caitríona Leahy/Bernadette Cronin (Hrsg.): Re-acting to Ingeborg Bachmann. New Essays and Performances. Würzburg 2006, S. 255–266. Auf einem wesentlich engeren Begriffsverständnis der Intertextualität bauen die Überlegungen Gérard Genettes auf, der unter Intertextualität „die effektive Präsenz eines Textes in einem anderen“ versteht, vgl. hierzu Gérard Genette: Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe [1982]. Übers. v. Wolfram Bayer und Dieter Horning. Frankfurt a. M. 1993, hier S. 10. Vgl. hierzu Julia Kristeva: „Bachtin, das Wort, der Dialog und der Roman“. In: Jens Ihwe (Hrsg.): Literaturwissenschaft und Linguistik. Ergebnisse und Perspektiven. Frankfurt a. M. 1972, Bd. 3, S. 345–375, hier S. 346. Marion Grein/Miguel Souza/Svenja Völkel (Hrsg.): Polyphonie, Intertextualität und Intermedialität – ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Aachen 2010.

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(S. 7), zugleich bewerten sie dieses ‚Spannungsfeld‘ aber auch als heuristisch fruchtbar und anregend.13 In der Literaturwissenschaft haben sich zwei Ansätze durchgesetzt, die primär mit Polyphonie in Verbindung gebracht werden: Zum einen Michail Bachtins theoretische Überlegungen zum „zweistimmigen Wort“ und zum anderen Roy Pascals Konzept der Dual Voice.14 Michail Bachtin legt seinem Konzept der Dialogizität die Vorstellung von einem „zweistimmigen Wort“ zugrunde, welches für ihn die Stimmenvielfalt im Roman begründet: Die Redevielfalt, die in den Roman eingeführt wird […] ist fremde Rede in fremder Sprache, die dem gebrochenen Ausdruck der Autorintention dient. Das Wort einer solchen Rede ist ein zweistimmiges Wort. Es dient gleichzeitig zwei Sprechern und drückt gleichzeitig zwei verschiedene Intentionen aus: die direkte Intention der sprechenden Person und die gebrochene des Autors. In einem solchen Wort sind zwei Stimmen, zwei Sinngebungen […] und zwei Expressionen enthalten.15

Als Grundlage von Bachtins Theorie dient also die Annahme, dass jede Äußerung innerhalb eines fiktionalen Textes – sei es nun die ‚Stimme‘ der extadiegetischen narrativen Instanz oder die Stimme einer intradiegetischen Figur – zugleich auch die Stimme des historischen Autors enthält. Das Phänomen der Mehrstimmigkeit wird zum Prinzip des Textes, bzw. gar zum Prinzip des einzelnen Wortes innerhalb fiktionaler Narrationen erhoben, in dem die beiden Stimmen in einem wechselseitigen Verhältnis zu einander stehen: Zudem sind diese beiden Stimmen dialogisch auf einander bezogen, sie wissen gleichsam voneinander (wie zwei Repliken eines Dialogs voneinander wissen und sich in diesem gegenseitigen Wissen entfalten), sie führen gleichsam ein Gespräch miteinander. Das zweistimmige Wort ist stets im Innern dialogisiert. So ist das humoristische, ironische, parodistische Wort, so ist das brechende Wort des Erzählers, das brechende Wort in den Reden des Helden und so ist schließlich das Wort der eingebetteten Gattung beschaffen: sie alle sind zweistimmige, innerlich dialogisierte Wörter.16

____________ 13

14 15 16

So findet sich z. B. in dem interdisziplinär angelegten Sammelband auch die von Miguel Souza unternommene Studie zu einer Übertragung des Polyphoniebegriffes auf die Alltagssprache. Souza verweist hierbei darauf, dass „Akteure durch Sprechen ein Bild von sich bei Interaktanten erzeugen, die mit bestimmten Personen, Gruppen oder Qualitäten – in anderen Worten: Stimmen – assoziiert werden können“. Vgl hierzu: Miguel Souza: „Polyphonie im Gespräch“. In: Grein/Souza/Völkel (Anm. 12), S. 45–75, hier S. 52. Vgl. Lucia Salvato: Polyphones Erzählen. Zum Phänomen der Erlebten Rede in deutschen Romanen der Jahrhundertwende. Bern 2005, hierzu auch Nina Kolesnikoff: „The Polyphony of Narrative Voices in ‚Placha‘“. In: Russian Literature 28 (1990), S. 33–44. Vgl. Bachtin (Anm. 4), S. 213. Vgl. Bachtin (Anm. 4), S. 213.

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Den Begriff des ‚polyphonen Romans‘ entwickelt Bachtin mit Blick auf die Gesamtkonzeption der Stimmenvielfalt innerhalb eines fiktionalen Textes und bezeichnet den Roman als ‚polyphon‘, in dem eine heterogene Stimmenvielfalt zum Ausdruck kommt. Stimmenvielfalt ist hier nicht im Sinne einer Mehrstimmigkeit innerhalb einzelner Sprechinstanzen zu verstehen, sondern bezieht sich auf ein vom Autor bewusst gewähltes Prinzip der Meinungsvielfalt, das sich in einer breiten Palette von einander widersprechenden Ansichten spiegelt. Entwickelt wurde das Konzept anhand einer Auseinandersetzung mit Dostoevskij, dessen Texte Bachtin als Paradebeispiele des polyphonen Romans sieht.17 Aus Sicht einer strukturalistisch geprägten Narratologie handelt es sich dabei nicht zwingend um eine Stimmenvielfalt (im Sinne von Aussageinstanzen), sondern vielmehr um eine Mehrzahl differierender Sichtweisen, in welchen die Perspektive der Erzählinstanz nur eine einzelne unter vielen ist und mit den Standpunkten der erzählten Figuren konkurriert. Mit der extradiegetischen narrativen Instanz und den intradiegetischen Figuren werden zwei Erzählebenen vermischt, die in ihren Aussagen nicht gleichwertig sind und sein können, sondern hierarchisiert sind: Die narrative Instanz bringt die erzählte Welt erst hervor und ist den einzelnen Figuren somit übergeordnet; oder, anders gewendet: Es kann sich keine Figur äußern, ohne dass sie von der narrativen Instanz zitiert würde. Ein ‚Nebeneinander‘ ist somit nicht möglich. Bachtins Konzept fußt auf einer Vielzahl von Sichtweisen und Standpunkten, die aus einer Mehrzahl sich äußernder Figuren hervorgehen kann, denen eine eigene Stimme im Sinne wörtlicher Rede zugestanden wird. Sie kann aber auch über die interne Fokalisierung in der Rede der narrativen Instanz erreicht werden, die eine Vielzahl von Perspektiven einnehmen und somit auch mehrere, einander widersprechende Standpunkte transportieren kann. Es handelt sich hierbei aber nicht um eine Vielzahl von ‚Stimmen‘, da im Falle bestimmter Fokalisierungen lediglich die narrative Instanz spricht, wenngleich aus wechselnder Perspektive. Diese kulturwissenschaftliche Perspektive kann für eine erzähltheoretische Theorienbildung nur mit Einschränkungen als eine Basis fungieren, da Bachtin mit dem tatsächlichen Verfasser des Textes eine außertextuelle Größe ins Spiel bringt, die sich mit der Untersuchung von Textstrukturen nur schlecht verträgt. Ähnlich verhält es sich mit der Gleichsetzung von ‚Erzähler‘ bzw. ‚Figur‘ mit der ‚Person‘, eine Verquickung, die ebenfalls über den signifikanten Unterschied zwischen fiktionalen Aussageinstanzen und historischen Personen hinwegsieht. Das Bachtinsche Verständnis von

____________ 17

Vgl. Richard Aczel: „Polyphony“. In: David Herman u. a. (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York 2005, S. 443 f., hier S. 443.

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Polyphonie liefert für einen narratologischen Ansatz wertvolle Anregungen für eine Öffnung des Blickes hinsichtlich des Phänomens der Mehrstimmigkeit. Für eine narratologische Kategorienbildung sind hierauf aufbauend zusätzlich erzähltheoretische Prämissen, wie die Genette’sche Differenzierung zwischen ‚Stimme‘ und ‚Fokalisierung‘, zu beachten. Einen weiteren Ansatz zur Mehrstimmigkeit in Erzähltexten liefert das Konzept der Dual Voice von Roy Pascal, welches sich mit dem Phänomen der erlebten Rede auseinandersetzt und in dem auf ein besonderes Verhältnis von ‚Stimme‘ und ‚Zeit‘ hingewiesen wird: The simplest description of […] [free indirect speech, S. R.] would be that the narrator, though preserving the authorial mode throughout and evading the ‚dramatic‘ form of speech or dialogue, yet places himself, when reporting the words or thoughts of a character, directly into the experimental field of the character, and adopts the latter’s perspective in regard to both time and place.18

Der Grundgedanke des Prinzips der Zweistimmigkeit bei Pascal ist, dass die narrative Instanz innerhalb bestimmter Passagen den eigenen Blickwinkel zugunsten einer figuralen Perspektive aufgibt, welche hinsichtlich Ort und Zeit des Geschehens adaptiert wird. Die Erzählinstanz ‚spricht‘ nun nicht nur aus der Perspektive einer Figur, sondern zugleich auch als deren Stellvertreter, indem sie Besonderheiten der Art und Weise des Sprechens der Figur übernimmt, deren Rede also im wörtlichen Sinne ‚erlebt‘. Ähnlich den zuvor vorgestellten Konzepten der Dialogizität und Polyphonie nach Bachtin findet hier ebenfalls eine Verquickung verschiedener Erzählebenen statt; eine Vermischung, die sich mit einer auf Textstrukturen fokussierten Theoriebildung als inkompatibel erweist. Indem die narrative Instanz mittels der erlebten Rede die Perspektive einer Figur einnimmt, handelt es sich zwar durchaus um einen Fokalisierungswechsel, aber dieser ist nicht mit einer Multiplizierung von ‚Stimmen‘ verbunden. 1.2 Narrative Verfahren zur Verdopplung von Zeit: Grundlagen und Probleme Dass die Frage nach dem Aspekt der Zeit in Erzähltexten stets eine auf zwei Phänomene ausgerichtete Antwort erfordert, ist lange bekannt, lässt sich doch mit Günther Müllers Differenzierung zwischen ‚Erzählzeit‘ und ‚erzählter Zeit‘19 auch aus temporaler Sicht ein Unterschied zwischen dem

____________ 18 19

Vgl. Roy Pascal: The Dual Voice. Free Indirect Speech and its Functioning in the Nineteenth-Century European Novel. Manchester 1971, S. 9. Günther Müller: „Die Bedeutung der Zeit in der Erzählkunst. Bonner Antrittsvorlesung 1946“. In: Ders.: Morphologische Poetik. Gesammelte Aufsätze. In Verbindung mit Helga Egner hrsg. von Elena Müller. Tübingen 1968, S. 247–268.

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Akt der Narration und dem erzählten Inhalt benennen: Die ‚Erzählzeit‘ umfasst jene Zeitspanne, welche die narrative Instanz zum Erzählen ihrer Geschichte benötigt, und die ‚erzählte Zeit‘ bezeichnet die Dauer dessen, wovon berichtet wird. Somit steht fest: Wer sich mit poetischen Texten und dem Problem ihrer Zeitlichkeit beschäftigen möchte, muss grundsätzlich eine doppelte Perspektive einnehmen und die verschiedenen Implikationen berücksichtigen, die das Wechselspiel dieser beiden Formen von literarischer Zeit hervorbringen kann.20 Anders als bei Erzählungen, in denen der temporale Aspekt nicht explizit thematisiert wird, können sich Formen unzuverlässigen Erzählens problematisch gestalten. Damit sei nicht gesagt, dass unzuverlässiges Erzählen per definitionem Informationen zum zeitlichen Ablauf des Geschehens enthalten muss; sieht man einmal von der grundlegenden Feststellung ab, dass ein narrativer Akt – wie jede Handlung – stets an die Kategorien Raum und Zeit gebunden ist, so wäre freilich auch eine unzuverlässige narrative Instanz denkbar, die ihren Erzählakt ohne Rücksichtnahme auf zeitliche Kausalitäten tätigt. An dieser Stelle soll aber keine Ausnahme konstruiert werden, sondern der von Wayne C. Booth etablierte unzuverlässige Erzähler und dessen Problematik mit Blick auf das Phänomen der Zeit in Erzähltexten reflektiert werden. Booth liefert folgende Definition: „For lack of better terms, I have called a narrator reliable, when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable, when he does not.“21 An diese, wie Booth zu Beginn seiner Begriffsbestimmung selbst eingesteht, durchaus vage Benennung einer spezifischen Konzeption von Erzählinstanzen, schließt sich eine lange Diskussion um die Inkonsistenz seiner Bezeichnung an, in der ihm insbesondere eine mangelnde Trennung zwischen dem impliziten Autor und dem historischen Autor, sowie eine grundsätzlich fehlende Rekonstruierungsmöglichkeit des impliziten Autors vorgeworfen wurde.22 Sieht man von der in einzelnen Punkten durchaus berechtigten Kritik einmal ab, so lässt sich aus Booth’ Überlegungen folgendes Verständnis eines unzuverlässigen Erzählers gewinnen: Die narrative Instanz übermittelt Informationen zu einem vermeintlichen Geschehen, von welchem nicht eindeutig gesagt werden kann, ob

____________ 20

21 22

Zu den diversen Verquickungen zwischen ‚Erzählzeit‘ und ‚erzählter Zeit‘ gehören verschiedene Varianten wie etwa das zeitdehnende, zeitraffende oder zeitdeckende Erzählen. Vgl. hierzu z. B. Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erw. u. aktual. Aufl. München 2012, S. 30–46. Wayne C. Booth: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961, S. 158 f. Für einen sehr guten Überblick über die Debatte sowie eine sinnvolle Neukonzeptualisierung des implied author-Begriffes vgl. Tom Kindt/Hans-Harald Müller: The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin 2006.

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es den fiktiven Tatsachen innerhalb der erzählten Welt entspricht. Oder vereinfacht formuliert: Es besteht eine potenzielle Unkenntnis darüber, ob die Erzählinstanz vertrauenswürdig ist oder nicht. Die häufigste Variante unzuverlässigen Erzählens, in der Unklarheit darüber herrscht, ob die Angaben des Erzählers mit der Chronologie der Geschehnisse innerhalb der erzählten Welt übereinstimmen, führt zu keinerlei terminologischen Schwierigkeiten hinsichtlich der Kategorien ‚Zeit‘ und ‚Stimme‘. Zwar lässt sich nicht mit Gewissheit darüber befinden, ob die von der narrativen Instanz gemachten Angaben mit der fiktionsinternen Realität kongruieren, aber es bleibt bei einer erzählten Zeit, die von einer Erzählinstanz vermittelt wird. Als wesentlich problematischer erweist sich eine besondere Form unzuverlässigen Erzählens, welche weder Booth bei seiner Begriffsbestimmung bedacht hat, noch im Zuge der Auseinandersetzung mit seiner Terminologie berücksichtigt wurde: Eine Mischform zuverlässigen Erzählens und unzuverlässigen Erzählens innerhalb einer narrativen Instanz, wie im Anschluss anhand der Texte von Perutz und Bierce noch gezeigt werden wird. Hierbei liegt der kategoriale Unterschied zu der Begriffsbestimmung von Booth darin, dass die Erzählerstimme eben nicht als eindeutig zuverlässig oder unzuverlässig gekennzeichnet werden kann, sondern die Textfunktion der narrativen Instanz in zwei ‚Stimmen‘ aufgespalten wird und sich infolgedessen als polyphon erweist. In diesem Falle wird nicht eine Geschichte mit einer erzählten Zeit vermittelt, sondern es handelt sich um zwei deutlich voneinander unterscheidbare Narrationen, die je von einer ‚Stimme‘ bewerkstelligt werden und je eine eigene erzählte Zeit aufweisen. Eine weitere Möglichkeit, die erzählte Zeit auf eine bestimmte Weise gewissermaßen zu ‚verdoppeln‘ bzw. grundsätzlich zu ‚vervielfachen‘, besteht in der Verwendung der internen Fokalisierung. Diese Kategorie, die im Zuge von Genettes Unterscheidung zwischen den beiden Kategorien ‚Stimme‘ (wer spricht?) und ‚Fokalisierung‘ (wer sieht?) geprägt worden ist,23 bezeichnet eine spezifische Form der Wahrnehmung des erzählten Geschehens. Im Unterschied zur Nullfokalisierung, welche eine überblicksartige Position zu dem Geschehen einnimmt, oder zu der externen Fokalisierung, die einem von außen beobachtenden neutralen Standpunkt entspricht, bietet sich mittels der internen Fokalisierung die Möglichkeit, eine figurale Perspektive einzunehmen. Innerhalb der Kategorie ‚Stimme‘ kommt es hier jedoch zu keiner Verdopplung von Vermittlungsinstanzen, da alle Aussagen an eine einstimmige narrative Instanz gebunden sind.

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Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München ²1998.

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Die Frage nach der Kategorie der ‚Zeit‘ hingegen gestaltet sich hier wesentlich komplexer, da die objektive erzählte Zeit – also die Wiedergabe der chronologischen Abläufe, die innerhalb der erzählten Welt tatsächlich der Fall sind – mit der subjektiven Wahrnehmung einer Figur konkurrieren kann. Dieses figurale Wahrnehmen von Zeit muss nicht zwingend thematisiert werden und kann sich zudem gänzlich mit der Zeit decken, die in der fiktiven Realität der erzählten Welt verstreicht. Kongruiert diese Taxierung jedoch nicht mit den temporalen Abläufen innerhalb der erzählten Welt, d. h. nimmt die Figur das Vergehen der Zeit verzerrt wahr – indem ihr die Erlebnisse länger oder kürzer erscheinen, als sie sich in der fiktiven Realität tatsächlich vollziehen –, so werden folglich zwei voneinander klar zu unterscheidende Zeiten erzählt: Die tatsächliche erzählte Zeit, die der Begriffsdefinition Günther Müllers entspricht und die der Chronologie der Ereignisse innerhalb der erzählten Welt folgt, und die Zeit, die dem subjektiven Zeitempfinden einer Figur angepasst ist, deren Sichtweise die narrative Instanz mittels der internen Fokalisierung24 einnehmen kann. Neben der genannten zweistimmigen Sonderform des unzuverlässigen Erzählens stellt die Verwendung der internen Fokalisierung also eine weitere narrative Strategie dar, um aus der erzählten Zeit eine Mehrzahl von erzählten Zeiten machen zu können, je nach Anzahl der Figuren, aus deren Sichtweise heraus das jeweilige Zeitempfinden geschildert wird. Wie im Falle der Geschichten von Leo Perutz und Ambrose Bierce noch gezeigt werden wird, ist es anhand der Struktur mancher Texte möglich, retrospektiv zu entscheiden, welche der miteinander konkurrierenden Narrationen einer zuverlässigen Stimme zuzuordnen ist und welche einer unzuverlässigen. Voraussetzung für eine solche klare Unterscheidung ist jedoch grundsätzlich, dass kein Zweifel darüber besteht, was in der erzählten Welt ‚der Fall‘ ist. Der Grad von Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit einer Narration kann in diesem Falle einzig daran gemessen werden, ob das von den einzelnen ‚Stimmen‘ Erzählte der intradiegetischen Realität entspricht: Es muss am Ende des Textes eine stabile erzählte Welt etabliert sein, die als (Rück-)Bezugsfolie zur Bestimmung des Wahrheitsgehalts der sich äußernden ‚Stimmen‘ innerhalb der narrativen Instanz dient. Ein mehrstimmiges Erzählen ist freilich auch dann möglich, wenn die erzählte Welt nicht so aufgebaut ist, dass über die tatsächlichen Sachverhalte befunden werden kann: In diesem Falle findet

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Das Zeitempfinden einer Figur kann freilich auch auf eine andere Weise vermittelt werden, z. B. durch die direkte Rede der Figur oder durch Aussagen anderer Figuren über sie. An dieser Stelle geht es aber um eine Verdopplung bzw. Vervielfachung von Zeit, wie sie durch die narrative Instanz generiert wird, so dass sämtliche figurale Äußerungen hier zu vernachlässigen sind.

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sich eine Mehrzahl von Narrationen, die gleichberechtigt nebeneinander stehen, da es keine Hierarchisierung hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit geben kann. Hier handelt es sich nicht mehr um eine erzählte Welt und entweder zuverlässige oder unzuverlässige Informationen zur Chronologie der sich in ihr vollziehenden Ereignisse, sondern es bestehen mehrere erzählte Welten, die von ‚Stimmen‘ innerhalb der narrativen Instanz erzählt werden, für welche die Frage nach der Zuverlässigkeit ihrer Narration irrelevant ist. Für das Verhältnis von Zeit und Polyphonie lässt sich also zusammenfassend sagen, dass eine Mehrzahl von Stimmen nicht zwangsläufig eine Verdopplung der erzählten Zeit nach sich zieht, grundsätzlich aber jede Form der Stimmverdopplung innerhalb der narrativen Instanz die Möglichkeit für die Präsentation zweier (oder mehrerer) erzählter Zeiten bietet. 2. Doppelte ‚Zeiten‘ und doppelte ‚Stimmen‘ in Leo Perutz’ Zwischen neun und neun und Ambrose Bierces An Occurrence at Owl Creek Bridge 2.1 Als Verstorbener auf der Flucht? Von der (Un-)Möglichkeit parallel erzählter Zeiten Sowohl der Roman Zwischen neun und neun25 (1918) von Leo Perutz, als auch die Short Story An Occurrence at Owl Creek Bridge (1891) von Ambrose Bierce bedienen sich spezieller narrativer Verfahren, die eine Verdopplung der erzählten Zeit generieren. Für den hier applizierten erzähltheoretischen Ansatz wird vorausgesetzt, dass außertextuelle Größen wie der historische Autor oder der tatsächliche Rezipient ausgeblendet werden und einzig die besondere narrative Struktur im Fokus steht. In Zwischen neun und neun wird die Geschichte des Studenten Stanislaus Demba erzählt, der aus Geldnot versucht, ein aus der Bibliothek entliehenes Buch unrechtmäßig an einen Händler zu verkaufen und auf dessen Denunziation hin postwendend von der Polizei gesucht wird. Nach einem kurzen Gerangel mit den Polizisten, bei dem ihm bereits Handschellen angelegt werden, flüchtet Demba und kann sich auf den Dachboden des besagten Händlers retten, von welchem er jedoch nach kurzer Zeit durch einen Sprung aus dem Fenster zu fliehen versucht und sich dabei tödlich verletzt. Auf dieser Ausgangssituation – so lässt sich aus dem Kontext erschließen – bauen die beiden verschiedenen erzählten Zeiten auf. Wich-

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Im Folgenden wird diese Ausgabe verwendet: Leo Perutz: Zwischen neun und neun [1918]. Hrsg. von Hans-Harald Müller. München 2004. Nachweise erfolgen im Haupttext mit der Sigle P.

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tig ist an dieser Stelle, dass dieser skizzierte Ausgangspunkt nicht der Chronologie der Erzählung entspricht, sondern retrospektiv erschlossen werden muss. Die eigentliche Reihenfolge der sich innerhalb der erzählten Welt vollziehenden Geschehnisse wird erst rückblickend durch eine Folge intradiegetischer Informationen deutlich. Folgt man der Chronologie des Erzählens, so beginnt der Roman mit dem Bericht einer extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz, die den Protagonisten aus der Übersicht, d. h. unter Verwendung der Nullfokalisierung, als einen einigermaßen sonderbaren Zeitgenossen einführt, der sich gegenüber seinen Mitmenschen denkbar seltsam verhält. Im Laufe der Narration begleitet der Leser Demba bei seinem Weg durch Wien und wird Zeuge von allerhand irritierenden Situationen und Begegnungen. So wird etwa der verzweifelte und letztlich auf eine komische Weise misslingende Versuch Dembas geschildert, sein am Morgen in einer Bäckerei hart erkämpftes Frühstück ohne Zuhilfenahme seiner Hände in einem Park vor einem hungrigen Hund zu schützen, was die Besitzer des Tieres dazu verleitet, den sich seltsam verhaltenden Studenten des Haschischkonsums zu verdächtigen (vgl. P 18 ff.). Auch schlägt sein Versuch fehl, in dem besagten Park mit einer jungen Frau anzubändeln, da er sich ohne den Gebrauch seiner Hände ihre Adresse nicht notieren kann und notgedrungen eine körperliche Behinderung vortäuscht (vgl. P 24 ff.). Erst im achten Kapitel erfährt der Leser rückblickend, weshalb sich Demba so merkwürdig präsentiert: Er befindet sich – seit seinem scheinbar überlebten Sprung vom Dachboden morgens um neun Uhr – noch immer auf der Flucht vor der Polizei und ist ständig bemüht, seine bereits angelegten Handschellen vor seinem Mitmenschen zu verbergen. Ab diesem Zeitpunkt folgt der Rezipient dem Protagonisten mit einem deutlich erweiterten Hintergrundwissen: Wir wissen nun, warum Demba ständig ungewollt in kuriose Situationen gerät und gezwungen ist, sein Leben ohne jeglichen Einsatz der Hände zu meistern. Mit diesen Informationen ausgestattet, verfolgen wir den Studenten vermeintliche zwölf Stunden lang bei seinem Irrlauf durch Wien, bis er um kurz vor neun Uhr abends mit seiner Bekannten Steffi zusammentrifft, um mit ihr gemeinsam zu versuchen, die Handschellen zu öffnen. Nachdem dieses misslingt und Demba also auch in dieser Situation eine weitere Niederlage hinnehmen muss, ist der Rezipient umso irritierter, als die narrative Instanz im Anschluss an diesen letzten verzweifelten Versuch des Protagonisten, nach einem für ihn überaus anstrengenden Tag seine Freiheit zurück zu erlangen, lakonisch resümiert: „Als die beiden Polizisten – kurz nach neun Uhr morgens – den Hof des Trödlers in der Klettengasse betraten, war noch Leben in Stanislaus Demba“ (P 211, meine Hervorhebung, S. R.). Ganz offensichtlich besteht ein eklatantes Missverhältnis zwischen den zuvor

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geschilderten, sich über zwölf Stunden hinziehenden Abenteuern, die der flüchtige Protagonist angeblich durchlebt hat, und dem Ende des Romans, an dem die narrative Instanz in nüchterner Art und Weise vom Todeskampf Stanislaus Dembas berichtet, der sich nur wenige Sekunden nach seinem Sprung vom Dachboden des Trödelhändlers um neun Uhr morgens vollzieht.26 Diese besondere narrative Struktur27 findet sich bereits in der 1891 erschienenen Kurzgeschichte An Occurrence at Owl Creek Bridge28 von dem amerikanischen Schriftsteller Ambrose Bierce. Die Geschichte spielt während des amerikanischen Bürgerkriegs und berichtet von dem Sezessionisten Peyton Farquhar, der sich seiner Hinrichtung durch die Soldaten aus der Union scheinbar entziehen kann und sich infolgedessen auf der Flucht vor den ihn verfolgenden Soldaten befindet. Seine vermeintliche Errettung vor dem Tod vollzieht sich – ähnlich wie bei Stanislaus Demba – auf wundersame Weise: Obwohl bereits alle Vorkehrungen getroffen sind, um den Protagonisten auf einer Brücke durch Erhängen zu töten, und dieser Vorgang auch bereits eingeleitet wurde, indem ein Soldat die Planke, auf welcher der Verurteilte steht, zum Kippen bringt und sich somit die Schlinge um den Hals des fallenden Peyton Farquhar zuzieht, kommt ihm, so berichtet die narrative Instanz, angeblich ein technischer Defekt zur Hilfe, der das Seil reißen und den Protagonisten in den Fluss stürzen lässt. Ab dieser Stelle beginnt nun eine narrative Konfusion hinsichtlich des weiteren Schicksals von Peyton Farquhar, der – entgegen aller Wahrscheinlichkeit – scheinbar durch einen glücklichen Zufall der eigenen Hinrichtung entkommen ist: As Peyton Farquhar fell straight downward through the bridge he lost consciousness and was as one already dead. From this state he was awakened – ages later, it seemed to him – by the pain of a sharp pressure upon his throat, followed by a

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Voraussetzung dafür ist die Annahme einer stabilen erzählten Welt, die sich an den Kausalitäten der Realität orientiert. Eine gänzlich andere Grundposition nimmt hier Reinhard Lüth ein, der den Text als einen phantastischen Roman deutet, „in dem herkömmliche Raum- und Zeiterfahrung keine Rolle mehr spielt“ (Reinhard Lüth: Drommetenrot und Azurblau. Studien zur Affinität von Erzähltechnik und Phantastik in Romanen von Leo Perutz und Alexander Lernet-Holenia. Meitingen 1988, hier S. 286). F. J. Logan spricht in seiner Analyse der Geschichte von zwei gegensätzlichen Logiken, die den Text durchziehen und ihm eine spezielle Struktur verleihen: „Bierce pairs unanswerable philosophical logic with the implacable logic of natural law“ (F. J. Logan: „The Wry Seriousness of ‚Owl Creek Bridge‘“. In: Cathy N. Davidson [Hrsg.]: Critical Essays on Ambrose Bierce. Boston 1982, S. 195–208, hier S. 207). Ambrose Bierce: „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ [1891]. In: Ders.: The Civil War Short Stories of Ambrose Bierce. Hrsg. von Ernest Jerome Hopkins. Lincoln/London 1970, S. 45–53. Alle Bierce-Zitate erfolgen nach dieser Ausgabe und werden mit der Sigle B versehen.

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sense of suffocation. […] The power of thought was restored; he knew that the rope had broken and he had fallen into the stream. (B 48 f.)

Die Ausgangssituation der folgenden zwei Geschichten, die zwei verschiedene Varianten und zwei erzählte Zeiten für die weiteren Erlebnisse des Protagonisten liefert, entspricht nun ebenfalls der Struktur, welche Leo Perutz rund 30 Jahre später für seinen Roman Zwischen neun und neun wählen wird: Ab dem Moment, an dem der Tod der Hauptfigur sicher scheint, liefert die narrative Instanz eine zwar sehr unwahrscheinliche temporäre Rettungsgeschichte des Protagonisten, welche in sich jedoch kohärent – im Sinne von nicht unmöglich – ist. Es wird geschildert, wie es Peyton Farquhar angeblich gelingt, trotz des massiven Beschusses durch die Soldaten der Union seine Hände von der Fesselung zu befreien und sich aus dem Fluss zurück an Land zu retten, von wo aus er einen stundenlangen Weg zurück zu Frau und Kindern antritt. Wie im Falle der zuvor kurz umrissenen Geschichte von Leo Perutz scheint sich auch in dem Text von Ambrose Bierce das Schicksal des Protagonisten durch einen glücklichen Zufall zu wenden und dieser dem sicher geglaubten Tod auf spektakuläre Weise entfliehen zu können. Auch hier wird über weite Strecken der Narration der Eindruck vermittelt, dass der Protagonist nicht einfach nur überlebt, sondern zugleich auch einen ganzen Tag lang – sieht man von kleineren Unannehmlichkeiten wie Hunger und Müdigkeit einmal ab – vergleichsweise unbeschadet und unbeeindruckt von den vorherigen Ereignissen auf den Beinen ist. So handelt es sich auch im Falle von Peyton Farquhar um eine überraschende Wendung im Bericht über das Schicksal des Protagonisten, wenn die narrative Instanz am Ende des Textes lapidar seinen Tod feststellt (vgl. B 53). Auch im Text von Ambrose Bierce besteht offensichtlich ein Widerspruch innerhalb der erzählten Geschichte, denn wie auch der Protagonist in Zwischen neun und neun stirbt der Held nicht am Ende des für ihn sehr ereignisreichen Tages, sondern bereits noch vor seiner angeblichen Flucht. Die beiden Hauptfiguren Stanislaus Demba und Peyton Farquhar haben ihre vermeintlich so kühn überstandenen Todessituationen nicht überlebt; beide sind bereits zu dem als wahrscheinlich angenommen Zeitpunkt, also Demba gleich nach seinem Sprung vom Dachboden und Farquhar im Zuge seiner Erhängung, gestorben. Versucht man nun unter Zuhilfenahme aller im Text angelegten Informationen die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt in ihrer tatsächlichen Chronologie zu rekonstruieren, so ergibt sich für beide Texte ein narratives Chaos, innerhalb dessen zwei Alternativen für jeweils eine Ausgangssituation geboten werden. Diese konkurrieren nicht nur miteinander, sondern stehen zugleich auch in einem diametralen Gegensatz, da beide Varianten einander ausschließen. Im Falle von Perutz überlebt der Prota-

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gonist seinen Unfall oder er verstirbt an den Folgen, und im Falle von Bierce überlebt der Protagonist seine eigene Hinrichtung oder er kann sich retten und so sein Überleben sichern – eine Art Kompromisslösung, die beide Konsequenzen der zuvor geschilderten Handlungen zu verbinden vermag, ist aus logischer Sicht nicht möglich, da das Gegensatzpaar (Über-)Leben vs. Tod die jeweils andere Variante ausschließt. Wie lässt sich nun aber dieser Widerspruch aus einer begrifflichformalen Sicht beschreiben? Mit der internen Fokalisierung und dem unzuverlässigen Erzählen bieten sich zwei verschiedene Möglichkeiten der Beschreibung an, die zumindest auf den ersten Blick eine plausible Benennung der Struktur der Texte von Perutz und Bierce nahelegen. Bei einer genaueren Betrachtung der beiden Erzählungen scheiden diese jedoch, wie im Folgenden kurz erläutert werden soll, aus verschiedenen Gründen aus. Ein erster und vermeintlich naheliegender Erklärungsversuch wäre, in beiden genannten Fällen von der intern-fokalisierten Traumvision eines Sterbenden auszugehen. Dieser Vorschlag scheint insofern naheliegend, als sich auf diese Weise der zuvor charakterisierte Widerspruch auflösen würde: Das Sterben der Protagonisten hätte sich für die beiden Protagonisten Demba und Farquhar innerhalb weniger Sekunden vollzogen und alle geschilderten Erlebnisse wären einzig an das Bewusstsein der sich zwischen Diesseits und Jenseits befindenden Figuren gekoppelt. Diese Deutung würde zusätzlich dadurch gestützt, dass ein Überleben der Protagonisten unter den jeweiligen genannten Umständen alles andere als selbstverständlich anmutet: Es scheint weder besonders wahrscheinlich zu sein, dass Stanislaus Demba seinen eiligen Sprung vom Dachboden des Trödelhändlers ohne gravierende Blessuren übersteht, noch scheint der Gedanke naheliegend, dass Peyton Farquhar seiner von den Soldaten der Union wohl geplanten Hinrichtung durch Erhängen dank des simplen Reißens eines Seiles entgehen kann. Auch auf dieser Grundlage wäre die Unterstellung der Vision eines Sterbenden eine mögliche Interpretation für diese beiden ungewöhnlichen Texte, da sie nicht nur die besondere Erzählstruktur erläutert, sondern zugleich auch das Befremden des Rezipienten auflöst, welches sich angesichts des kaum fassbaren Glücks beider Protagonisten einstellt. Denn geht man von einer Art Wunschtraum aus, den zwei dem Tode geweihte Figuren auf jeweils verschiedene Weise in ihren letzten Momenten durchleben, so wird das Unwahrscheinliche erklärbar, und die sich zunächst seltsam ausnehmende Errettung der beiden in einen logischen Zusammenhang gerückt.

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Für eine schlüssige Interpretation erweist es sich jedoch als ein erzähllogisches Problem,29 dass die vermeintliche Traumsequenz in beiden Fällen über weite Passagen nicht aus dem eingeschränkten Blickwinkel des jeweiligen Protagonisten, also mittels der internen Fokalisierung, geschildert wird, sondern die narrative Instanz sich als ein allwissender Erzähler präsentiert, d. h. die Nullfokalisierung vorherrscht. Das angenommene Traumgeschehen vollzöge sich also nur mittelbar und nicht aus der direkten Perspektive der ‚erlebenden‘ Figur. Ein Traum ist jedoch grundsätzlich an die Psyche und somit an den Blickwinkel desjenigen gebunden, der diesen gerade durchlebt und für den sich währenddessen der Trauminhalt als sich gerade in diesem Moment vollziehend erscheint. Oder anders gewendet: Ein Träumender begreift sein Träumen nicht aus der Ferne heraus als ein unbeteiligter Beobachter, sondern als jemand, der einem Geschehen unmittelbar ausgeliefert ist. Er hat keine Distanz zu Ort und Zeit, die er dann retrospektiv einordnen könnte, sondern er befindet sich im Hier und Jetzt des Schauplatzes seines Traumes. Die häufige Verwendung der Nullfokalisierung in beiden Texten hebt jedoch genau diese Einheit von Ort und Zeit mit dem Bewusstsein der beiden Protagonisten auf, und schafft eine Distanz zwischen Erzählen und Erleben, die eine Interpretation als Traumvision eines Sterbenden für beide Narrationen aus logischer Sicht als nicht plausibel erscheinen lässt. In diesem Zusammenhang ist wichtig, dass vor allem temporale Aspekte von der narrativen Instanz aus der Übersicht geschildert werden. Die Nullfokalisierung, also diejenige Variante der Perspektivierung, welche ausdrücklich über die Wahrnehmung einer Figur innerhalb der erzählten Welt hinausgeht, wird gerade dann verwendet, wenn ein Voranschreiten der Zeit suggeriert werden soll. Es ist also insbesondere der Verweis auf umfassendere Zeiträume, die deutlich länger sind, als es das sekundenlange ‚Träumen‘ der sterbenden Protagonisten sein könnte, die ein Traumerlebnis der jeweiligen Hauptfiguren ausschließen. So heißt es etwa bei Perutz zu Beginn des siebten Kapitels: Zwischen halb zwölf und zwölf Uhr mittags, wenn die Essensstunde heranrückte, war es meist sehr still im Café Hibernia gegenüber der Börse. Das Heer der Handelsagenten, Firmenchefs und Börsenbesucher, die in den Vormittagsstunden das Lokal mit lärmendem Treiben erfüllten, die hier ihr Gabelfrühstück nahmen, ihre Geschäfte abwickelten, Konjunkturen erörterten, ihre Korrespon-

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Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Matías Martínez, der auf „eine Unvereinbarkeit zwischen dem erzählten Inhalt und der Form des Erzählens im Sinne einer mangelnden empirischen Plausibilität der Erzählsituation“ verweist (Matías Martínez: „Das Sterben erzählen. Über Leo Perutz’ Roman ‚Zwischen neun und neun‘“. In: Tom Kindt/Jan Christoph Meister [Hrsg.]: Leo Perutz’ Romane. Von der Struktur zur Bedeutung. Tübingen 2007. S. 23–34, hier S. 30).

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denz erledigten und dazwischen hindurch die Zeitungen studierten, durchblätterten oder wenigstens durch Herausreißen entmannten, hatten sich nach allen Richtungen verlaufen. Das Nachmittagsgeschäft des Kaffeehauses, der Aufmarsch der Domino-, Billard-, Tarock- und Schachspieler begann erst nach ein Uhr. […] Stanislaus Demba trat ein. Er behielt den Hut auf dem Kopf, aber das fiel in dem mitten im Geschäftsviertel gelegenen Kaffeehaus, in das die Gäste oft nur auf ein paar Minuten eintraten und in dem jeder Eile hatte oder doch wenigstens merken lassen wollte, nicht weiter auf. (P 73)

Aus dem obigen Zitat geht klar hervor, dass es sich nicht um die Perspektive des Protagonisten, d. h. um die interne Fokalisierung, handelt, sondern dass hier eine narrative Instanz spricht, die das Geschehen aus der Übersicht schildert. Die Feststellung, dass die erzählte Zeit bereits zur Mittagszeit vorangeschritten ist, ist also nicht an das subjektive Empfinden des sterbenden Stanislaus Demba gebunden, sondern die extradiegetisch-heterodiegetische narrative Instanz berichtet mittels der Nullfokalisierung von den Geschehnissen in dem Lokal. Daraus folgt, dass ein eindeutiger Widerspruch innerhalb dieser nicht-fokalisierten Erzählinstanz vorliegt, welche uns einerseits suggerieren möchte, dass der Protagonist zwölf Stunden durch Wien irrt – in dem eben genannten Zitat ist es bereits Mittag – und allerhand merkwürdige Abenteuer erlebt, andererseits aber am Ende – wie bereits gehört – auf lakonische Art und Weise seinen Tod um kurz nach neun Uhr morgens feststellt. Ergänzend hierzu finden sich weitere Textstellen, die unter Verwendung einer nicht-fokalisierten narrativen Instanz den Eindruck vermitteln, dass die Zeit stetig voranschreite. Beispielsweise markieren die schlichte Information: „Nach ein paar Minuten kam Demba zurück“ (P 79) oder auch die Bemerkung: „Es war das dritte Geschäft dieser Art, dass Herr Skuludis heute Nachmittag mit seinem Besuche beehrt hatte“ (P 165) eindeutig, dass die narrative Instanz an diesen Stellen von einem längeren Zeitraum zwischen dem Sturz und dem Eintritt des Tode berichten muss, als von nur wenigen Sekunden. Ergänzend hierzu werden von der narrativen Instanz Aussagen anderer Figuren zitiert, die ebenfalls auf ein stetes Voranschreiten der Zeit verweisen. Exemplarisch lässt sich hierzu der kurze Bericht von Frau Hirsch, der Mutter zweier Nachhilfeschüler von Stanislaus Demba, anführen, die sich gegenüber ihrem Gatten äußerst irritiert über das mittägliche Erscheinen von Demba zeigt: Ich will Dir erzählen, was vorgefallen ist. Also hörzu. Vor einer Viertelstunde läutet’s und die Anna kommt herein: Gnädige Frau, der Herr Demba ist da. Ich wundere mich und denk’: Was kann er denn jetzt nach zwei Uhr wollen, die Buben sind ja bis vier Uhr in der Schule, das weiß er ja. (P 165, meine Hervorhebung)

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Es lässt sich also zusammenfassen, dass vor der finalen Auflösung der Situation, in welcher der Tod des Protagonisten am frühen Morgen konstatiert wird, sämtliche Informationen zur Zeitstruktur30 auf eine vermeintlich erzählte Zeit von zwölf Stunden hindeuten. Es ist nicht primär das subjektive Zeitempfinden Dembas, das die Narration bestimmt, sondern es herrscht vielmehr ein Konsens zwischen den auf die Zeit bezogenen theoretischen Sätzen31 der Aussageinstanz, den Äußerungen der anderen Figuren und schließlich auch den Bemerkungen des Protagonisten. Folglich entsteht ein bis dato noch nicht aufgelöster Widerspruch innerhalb der extradiegetisch-heterodiegetischen narrativen Instanz, für welche eine intern-fokalisierte Sichtweise des Sterbenden jedoch, wie oben erläutert, ausgeschlossen werden kann. Ein solcher Dissens innerhalb der Erzählinstanz lässt sich auch mit Blick auf die erzählte Zeit in dem Text von Ambrose Bierce ausmachen. Denn auch hier wird von einem Voranschreiten der Zeit berichtet, welches nicht an die subjektive Wahrnehmung des Protagonisten gebunden ist, sondern aus der Sicht einer retrospektiv resümierenden Erzählinstanz geschildert wird, die die Ereignisse innerhalb der erzählten Welt überblickt und die vergangenen Stunden in wenigen Worten zusammenfasst: „All that day he traveled, laying his course by the rounding sun. […] By night fall he was fatigued, footsore, famishing“ (B 52). Mit der Nullfokalisierung32 informiert die narrative Instanz also darüber, dass Peyton Farquhar nach seinem überraschenden Überleben den ganzen Tag zu Fuß auf Wanderschaft war und am späteren Abend die Strapazen des Tages zu spüren bekommt. Am Ende der Short Story stellt die Erzählinstanz jedoch auch – ähnlich nüchtern wie in dem Text von Leo Perutz – den Tod des Protagonisten fest: „Peyton Farquhar was dead; his body, with a broken neck, swung gently from side to side beneath the timbers of the Owl Creek bridge“ (B 53). Der letzte Satz verdeutlicht: Peyton Farquhar hat dem gewaltsamen Tod durch Erhängen zu keiner Zeit entrinnen können und hat demnach die von der narrativen Instanz zuvor behauptete

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Zu dem in dem Text dominanten Thema der ‚Zeit‘ vgl. auch William H. Carter: „‚Souverän meiner Zeit‘: Opportunity Cost in Leo Perutz’s ‚Zwischen neun und neun‘“. In: Colloquia Germanica 39 (2006), S. 97–116. Carter verhandelt den Aspekt der Zeit als ein Thema, das über den Roman hinaus Relevanz besitzt und macht aufmerksam auf „the central role that time plays in modern life“ (S. 102). Zur Differenzierung zwischen ‚theoretischen‘ und ‚mimetischen‘ Sätzen vgl. Martínez/ Scheffel (Anm. 20) S. 99 ff. Neben der deutlichen Distanz zu dem summarisch berichteten Geschehen erweist sich vor allem die Wortwahl als ein expliziter Hinweis auf die Nullfokalisierung; das rhetorische Stilmittel der Alliteration weist selbstreflexiv auf den kunstvollen Charakter in der Ausgestaltung der narrativen Instanz hin und dient an dieser Stelle als ein weiteres Ausschlusskriterium für die Annahme einer internen Fokalisierung.

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Flucht vor den Soldaten aus den Nordstaaten nicht durchlebt. Zugleich lässt sich aber auch in diesem Falle so etwas wie eine sich in wenigen Sekunden vollziehende Traumvision eines Sterbenden ausschließen, da – wie oben gesehen – auch nicht-fokalisierte Sätze von dem Irrlauf Peyton Farquhars berichten und ein stetes Voranschreiten der Zeit suggerieren. Folglich ergibt sich auch hier für die narrative Instanz das Problem einer bis dato noch nicht gelösten Ambivalenz.33 Eine weitere Möglichkeit, sich der besonderen Erzählstruktur der beiden Texte zu nähern, ist, den unzuverlässigen Erzähler nach Wayne C. Booth ins Spiel zu bringen. Dessen eingangs vorgestelltes Konzept fußt auf der Annahme einer weiteren Kommunikationsebene, dem Konstrukt des impliziten Autors; dieser Terminus soll nach Booth einer Kategorisierung dienen und die Differenzierung zwischen einem zuverlässigen und einem unzuverlässigen Erzähler ermöglichen. Die Inkonsistenzen hinsichtlich der Begriffsbildung sind bereits genannt worden, ebenso ist bekannt, dass eine genaue Definition des impliziten Autors sich durchaus schwierig gestaltet. Zudem lässt Booth die Möglichkeit, dass sich ein Erzähler sowohl zuverlässig als auch unzuverlässig äußert, außer Betracht. Genau dies scheint aber in Leo Perutz’ Roman Zwischen neun und neun und der Short Story An Occurrence at Owl Creek Bridge der Fall zu sein, denn in beiden Texten liefert die jeweilige narrative Instanz gleichermaßen jeweils zuverlässige und unzuverlässige Informationen über die erzählte Welt. Die zuverlässigen Informationen betreffen die Geschichten über den jeweiligen Tod des Protagonisten, der infolge eines Unfalls bzw. einer Hinrichtung eintritt. Als unzuverlässige Informationen können die beiden ‚Alternativgeschichten‘ gewertet werden, innerhalb derer Stanislaus Demba und Peyton Farquhar ihrem Schicksal angeblich entfliehen können. Der Begriff des (als einstimmig gedachten) unzuverlässigen Erzählens nach Booth scheint als Kategorisierungsmöglichkeit des beschriebenen Typus von Erzählungen nicht zutreffend, da die Erzählinstanz eine gewisse Ambiva-

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Clifford R. Ames spricht im Zusammenhang mit der Doppeldeutigkeit der Erzählinstanz von zwei erzählten Zeiten, die er allerdings nicht als Merkmal der Polyphonie deutet, sondern als Ausdruck einer ambigen Fokalisierung wertet; es handele sich um „an ambiguous viewpoint that confuses the imaginary with the factual and substitutes psychological time for the regular, incremental time of history“ (Clifford R. Ames: „Do I Wake or Sleep? Technique as Content in Ambrose Bierce’s Short Story ‚An Occurrence at Owl Creek Bridge‘“. In: American Literary Realism 19 [1987], S. 52–67, hier S. 54). Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Harriet Kramer Linkin, die ihre Analyse der Erzählstruktur ebenfalls auf der These einer variablen Fokalisierung aufbaut und zwischen einem ‚zuverlässigen‘ Blick des Erzählers und einem ‚unzuverlässigen‘ Blick, der an die Perspektive des Protagonisten gekoppelt ist, unterscheidet, vgl. Harriet Kramer Linkin: „Narrative Technique in ‚An Occurrence at Owl Creek Bridge‘“. In: Journal of Narrative Technique 18 (1988), S 137–152, hier S. 140.

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lenz aufweist, die es unmöglich macht, sie als eindeutig zuverlässig oder unzuverlässig zu bestimmen. Beide genannten Ansätze, die eine Vervielfachung der erzählten Zeit generieren können, sind an dieser Stelle also nicht präzise genug, um die beiden Narrationen theoretisch adäquat erfassen zu können. Ähnlich verhält es sich mit den beiden im Zuge einer Vervielfachung von ‚Stimme‘ vorgestellten Konzepten. Beide auf Bachtin zurückgehenden Ansätze, der Begriff der Dialogizität und seine Theorie des polyphonen Romans, sind nicht geeignet, um sich den beiden Texten aus einer theoretischen Perspektive zu nähern: Sie sind bei dem hier gewählten Ansatz grundsätzlich zu vernachlässigen, da sie sich nicht auf die Untersuchung von Textstrukturen beschränken, sondern die außertextuelle Größe des historischen Autors als Bezugspunkt wählen, anhand dessen eine vermeintliche Dialogizität bzw. Polyphonie festgemacht wird. Für die von Roy Pascal als dual voice bezeichnete erlebte Rede gilt, was zuvor über die interne Fokalisierung gesagt wurde, da die erlebte Rede einen Sonderfall dieser auf eine figurale Sichtweise beschränkten Perspektivierung des Geschehens darstellt. Es handelt sich hierbei nicht um eine Vervielfältigung von ‚Stimme‘ – es ‚spricht‘ lediglich die narrative Instanz –, sondern die Erzählinstanz übernimmt bei der erlebten Rede nicht nur den Blickwinkel der Figur, sondern passt sich dieser auch hinsichtlich des figurenspezifischen Sprachgebrauchs an, so dass der Eindruck einer Überlappung von narrativer Instanz und Figurenstimme entsteht. Man könnte diese besonders lebhaft wirkende Variante der internen Fokalisierung als eine Imitation der Figurenstimme durch die narrative Instanz bezeichnen; es entsteht der Eindruck, als äußere sich die Erzählerstimme an Stelle eben jener Figur, aus deren Blickwinkel das Geschehen wahrgenommen wird. Letztlich bleibt die erlebte Rede jedoch an die Kategorie der Fokalisierung gebunden, da kein Stimmenwechsel bzw. keine Vervielfältigung von ‚Stimme‘ stattfindet. Wie aber kann man sich aus theoretischer Sicht einer narrativen Instanz nähern, die auf eine so besondere Weise gestaltet ist, wie in den vorgestellten Texten von Leo Perutz und Ambrose Bierce? Die aus meiner Sicht zufriedenstellendste Lösung für eine literaturwissenschaftliche Analyse scheint die Annahme bzw. Einführung einer polyphonen narrativen Instanz zu sein, welche potenziell mehrere, mindestens aber zwei verschiedene ‚Stimmen‘ in sich vereint. Eine derart konzipierte narrative Instanz wäre auch für das Konzept des unzuverlässigen Erzählers zumindest anschlussfähig, da innerhalb dieser eine zuverlässige ‚Stimme‘ und eine unzuverlässige ‚Stimme‘ nebeneinander stehen. Die zuverlässige ‚Stimme‘ innerhalb der besprochenen Erzähltexte berichtet von den Ereignissen, die sich innerhalb der beiden erzählten Welten zugetragen haben: Ein

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Protagonist gerät auf eine bestimmte Weise in Schwierigkeiten und kommt infolgedessen zu Tode. Die unzuverlässige ‚Stimme‘ erzählt eine Art Schelmengeschichte, in der sich das Blatt für den bereits dem Tode geweihten Protagonisten wendet und er durch glückliche Umstände seinem Tod spektakulär und mit besonderen Konsequenzen entrinnen kann. Im Folgenden soll nun die Kategorie der polyphonen narrativen Instanz aus narratologischer Sicht definiert und näher erläutert werden. 2.2 Die polyphone narrative Instanz Wie anhand der Texte von Perutz und Bierce gezeigt wurde, lassen sich bestimmte Formen der Mehrstimmigkeit innerhalb einzelner Aussageinstanzen mit dem bisher etablierten erzähltheoretischen Beschreibungsvokabular nicht erfassen. Die Einführung einer polyphonen narrativen Instanz löst die zuvor vorgestellten erzähllogischen Probleme. Ihr wichtigstes Merkmal ist eine offenkundige Divergenz innerhalb der Textfunktion der narrativen Instanz, so dass der Eindruck erweckt wird, es stünden mehrere, mindestens aber zwei verschiedene Meinungen zu der erzählten Geschichte nebeneinander. Auf den ersten Blick konkurriert die neue Kategorie mit den bereits genannten literaturtheoretischen Ansätzen, so dass in einem ersten Schritt zunächst eine Abgrenzung zu diesen erfolgen muss. Hierbei ist die wichtigste und zugleich diffizilste Unterscheidung, die vorgenommen werden muss, eine klare Trennung von dem Aspekt der internen Fokalisierung. Damit eine narrative Instanz als polyphon gelten kann, muss die zweite (bzw. dritte, vierte usw.) geäußerte Meinung zu der erzählten Geschichte unabhängig von der Wahrnehmung einer Figur sein: Es darf per definitionem keine Anbindung an eine figurale Sichtweise bestehen, da es sich in diesem Falle lediglich um eine Mitsicht, nicht aber um eine Form der Mehrstimmigkeit innerhalb einer Aussageinstanz handeln würde. Für diese Unterscheidung ist es unerlässlich, den gesamten Text für eine Bewertung der narrativen Instanz zugrunde zu legen, da sich eine vermeintliche Mehrstimmigkeit am Ende des Textes theoretisch auch als interne Fokalisierung herausstellen kann, beispielsweise wenn am Ende der Narration plötzlich eine Figur eingeführt wird, welcher die Aussagen der angenommenen zweiten Stimme zugeschrieben werden; in diesem Falle hätte der Interpret lediglich ‚durch die Brille‘ einer Figur geschaut, welche erst zu einem sehr späten Zeitpunkt der Narration auftaucht, aber eben trotzdem eine Figur ist und folglich keine zweite Kommentierung des Geschehens von Seiten der narrativen Instanz darstellt. Eine weitere kritische Auseinandersetzung muss in einem zweiten Schritt mit dem Konzept des unzuverlässigen Erzählers nach Booth

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erfolgen. Hierbei gilt es, die eigentliche Definition durch Wayne C. Booth zu spezifizieren und zu einem erweiterten Begriffsverständnis zu gelangen, welches auch die besondere Konzeption einer Erzählinstanz berücksichtigt, die sich zuverlässig und unzuverlässig zugleich äußert. Infolgedessen ist auch die von Günther Müller erstmalig getroffene Unterscheidung zwischen der ‚Erzählzeit‘ und der ‚erzählten Zeit‘ auszudifferenzieren, da eine Mehrzahl von ‚Stimmen‘ potenziell auch immer eine Mehrzahl von Zeiten generieren kann und somit aus der ‚erzählten Zeit‘ eine Vielzahl von ‚erzählten Zeiten‘ werden kann. Literatur Aczel, Richard: „Polyphony“. In: David Herman u. a (Hrsg.): Routledge Encyclopedia of Narrative Theory. London/New York 2005, S. 443 f. Ames, Clifford R.: „Do I Wake or Sleep? Technique as Content in Ambrose Bierce’s Short Story ‚An Occurrence at Owl Creek Bridge‘“. In: American Literary Realism 19 (1987), S. 52–67. Bachtin, Michail M.: Probleme der Poetik Dostoevskijs [1929]. München 1971. Bachtin, Michail M.: „Das Wort im Roman“ [1923]. In: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a. M. 1979, S. 154–300. Baumberger, Christa u. a. (Hrsg.): Literarische Polyphonien in der Schweiz. Bern 2004. Bierce, Ambrose: „An Occurrence at Owl Creek Bridge“ [1891]. In: Ders.: The Civil War Stories of Ambrose Bierce. Hrsg. von Ernest Jerome Hopkins. Lincoln/London 1970, S. 45–53. Booth, Wayne C.: The Rhetoric of Fiction. Chicago 1961. Bossuyt, Ignace: Die Kunst der Polyphonie. Die flämische Musik von Guillaume Dufay bis Orlando di Lasso [1994]. Übers. von Horst Leuchtmann. Zürich/Mainz 1994. Carter, William H.: „‚Souverän meiner Zeit‘: Opportunity Cost in Leo Perutz’s ‚Zwischen neun und neun‘“. In: Colloquia Germanica 39 (2006), S. 97–116. Currie, Mark: About Time. Narrative, Fiction and the Philosophy of Time. Edinburgh 2007. Diezel, Peter: „Narrativik und die Polyphonie des Theaters“. In: Eberhard Lämmert (Hrsg.): Die erzählerische Dimension. Eine Gemeinsamkeit der Künste. Berlin 1999, S. 53–71. Genette, Gérard: Die Erzählung [1972]. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München ²1998. Genette, Gérard: Palimpseste [1982]. Die Literatur auf zweiter Stufe. Übers. von Wolfram Bayer und Dieter Horning. Frankfurt a. M. 1993. Grein, Mario u. a. (Hrsg.): Polyphonie, Intertextualität und Intermedialität – ein interdisziplinäres Forschungsfeld. Aachen 2010. Jünke, Claudia: Die Polyphonie der Diskurse. Würzburg 2003. Kindt, Tom/Müller, Harald: The Implied Author. Concept and Controversy. Berlin 2006. Kolesnikoff, Nina: „The Polyphony of Narrative Voices in ‚Placha‘“. In: Russian Literature 28 (1990), S. 33–44.

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Stefanie Roggenbuck

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III.c Semantische Dimension: Verfahren und Effekte

BERIT CALLSEN (Würzburg)

Präsenz. „…une substance coule, se répand…“ – Präsenzeffekte bei Nathalie Sarraute 1. Präsenz in Literaturwissenschaft und philosophischer Ästhetik 431 – 2. Präsenzeffekte bei Nathalie Sarraute 437 – 2.1 Von Zeit-Lupen-Einstellungen und dem Hiatus zwischen Sehen und Sagen: Sarrautes Poetik der Tropismen 439 – 2.2 Überlegungen zu Substantialität und sprachlicher Unterbestimmtheit der Tropismen in „Les Fruits d’Or“ 442

1. Präsenz in Literaturwissenschaft und philosophischer Ästhetik Präsenz hat Konjunktur. Präsenz ist vieldeutig. Präsenz erzeugt Kontroversen. Diese Beobachtungen zum Präsenz-Konzept sollen nachfolgend mit Blick auf gegenwärtige Diskussionen in Literaturwissenschaft und philosophischer Ästhetik illustriert werden. Die Ausdifferenzierung des Begriffsfeldes der Präsenz in Konzepte wie Augenblick, Plötzlichkeit, Momentanismus und Epiphanie, auf die Rainer Warning hingewiesen hat,1 sowie Erscheinen und Ereignen ist in literaturwissenschaftlichen, vor allem aber in philosophischen Diskussionen zu beobachten und deutet bereits darauf hin, dass Präsenz als Konzept nicht nur von temporalen sondern auch von räumlichen Aspekten durchsetzt ist.2 Aktuelle literaturwissenschaftliche Untersuchungen analysieren Präsenzphänomene meist als gelungene oder gescheiterte Repräsentationen von Präsenz. Im Zuge dessen werden zum Teil kontroverse, bisweilen gar konträre Positionen vertreten, denen einzig gemeinsam zu sein scheint, dass sie den Unsagbarkeitstopos als eine – positive oder negative – Argumentationsgrundlage evozieren und damit das Antonym der Absenz

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Vgl. Rainer Warning: „Differentielle Epiphanien in Marcel Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘“. In: Wolfgang Lange/Jürgen Paul Schwindt/Karin Westerwelle (Hrsg.): Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewusstseins. Autoren-Kolloquium mit Karl Heinz Bohrer. Heidelberg 2004, S. 221–235, hier S. 221. Warning selbst allerdings betont die Verschränkung von temporalem Aspekt und rhetorischem Effekt für das Präsenz-Konzept und erläutert: „Präsenz als reine Selbstreferenz ist in aestheticis allenfalls denkbar als rhetorischer Effekt, der seine unhintergehbare Zeitstruktur zu überspielen sucht“ (Warning [Anm. 1], S. 223).

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häufig mitdenken.3 Präsenz wird erstens auf der Ebene suggestiven literarischen Sprechens und damit jenseits des „Topos der Unsagbarkeit absoluter Gegenwärtigkeit“4 fokussiert. Dazu konträr sieht eine zweite Position gerade die Offenlegung des illusionären Charakters von Präsenz durch die literarische Schrift als zentralen Aspekt an.5 Eine dritte Position berücksichtigt gleichermaßen das Sagbare, wie auch das Unsagbare und erfasst es jeweils als das Präsente und das Absente. Präsenz ist dabei konzeptueller Überbau einer ontologisch geprägten Perspektive auf Sprache.6 Insgesamt wird hier bereits deutlich, dass sprachreferentielle, sprachkritische, selbstreflexive und gar selbstkritische Aspekte in literaturwissenschaftlichen Diskussionen zur Präsenz überwiegen; der Grad der temporalen Verfasstheit des Konzeptes variiert dabei stark.7 Entsprechend wird auch Überlegungen um den Stellenwert, die Konstituierung und die Funktionsweise narrativer Verfahren, die Präsenzeffekte in literarischen Texten hervorrufen können, bisweilen (zu) wenig Raum gegeben; dort, wo sie stattfinden, stützen sie mitunter essentialistische Argumentationen. Abhilfe könnte eine stärker interdisziplinär und komplementär ausgerichtete Forschungsperspektive schaffen, die aktuelle philosophische Positionen zum Präsenz-Konzept mitberücksichtigt. Auf diese Weise kann der Blick eingehender auf Präsenz-Strukturen jenseits binärer Verfasstheiten gerichtet und der Präsenz-Begriff konzeptuell erweitert werden.

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Mit der argumentativen Anbindung an den Unsagbarkeitstopos geht zudem häufig eine literarhistorische Rückblende einher; so verweist etwa Sonja Kolberg darauf, dass Präsenzerfahrungen in der christlichen Mystik als undarstellbar galten. Mit den im 19. Jahrhundert einsetzenden sprachkritischen Sichtweisen habe sich der Unsagbarkeitstopos grundlegend gewandelt und rufe seither vor allem selbstreferentielle und suggestionsspezifische Effekte auf (vgl. Sonja Kolberg: „Verweile doch!“. Präsenz und Sprache in Faust- und DonJuan-Dichtungen bei Goethe, Grabbe, Lenau und Kierkegaard. Bielefeld 2007, S. 12). Kolberg (Anm. 3), S. 10. Monika Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 454. Waldemar Fromm: An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne. Freiburg i. Br./Berlin 2006, S. 22. Unter ähnlichen Vorzeichen argumentiert für die phänomenologische Bildwissenschaft etwa Lambert Wiesing. Auch Wiesing betrachtet Präsenz primär unter strukturellen Blickwinkeln. Temporale Aspekte blendet er dabei nahezu aus. Insbesondere die artifizielle Präsenz wird als ein zentrales Konzept bildkritischer Perspektiven stark gemacht, die – zurückgehend auf Husserl – davon ausgehen, dass sich im Bild der Stellenwert von Präsenz und Substantialität reduziert (vgl. Lambert Wiesing: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a. M. 2005, S. 32). In Abgrenzung zum Begriff der „realen Präsenz“ (Wiesing [Anm. 7], S. 32) bezieht sich artifizielle Präsenz bei Wiesing auf eine „Präsenz ohne substantielle Anwesenheit“ und konzeptualisiert auf diese Weise die Tatsache, „dass mit dem Bild ein Blick auf eine physikfreie Wirklichkeit eröffnet wird“ (Wiesing [Anm. 7], S. 7).

Präsenz

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An der Übergangsstelle eines solchen Perspektivwechsels seien zunächst die Überlegungen Karl Heinz Bohrers zur ästhetischen Negativität und zum absoluten Präsens kurz dargestellt. Ästhetische Negativität impliziert für Bohrer einzig ein temporales, nicht aber ein sprachliches Defizit, entsprechend erklärt er: „Negativität des Zeitbewusstseins meint die Reflexion des Augenblicks als notwendig defizitären, indem er die aporetische Figur eines Bewegungszustands darstellt, der im Nennen schon vorüber ist.“8 Allein die Literatur vermag es laut Bohrer, den negativen Augenblick als negative Präsenz zu denken und diesen Gedanken auszubuchstabieren.9 So spricht er von der „Möglichkeit der modernen Literatur, den philosophischen Gedanken, den die Philosophie nicht denkt, das Verschwinden von mir selbst und meiner Zeit zu denken“.10 Zugleich schlagen seine Überlegungen aber implizit eine Brücke zu aktuellen philosophischen Diskussionen um das Präsenz-Konzept. Wenn er in seiner Studie Das absolute Präsens (1994) ausgehend von poetologischen Reflexionen um die Konzepte Ereignis und Epiphanie die weiterhin metaphysische Ausrichtung derselben bei Theodor W. Adorno und Jean-François Lyotard kritisiert,11 zielt er damit letztlich auf die zentrale These seiner „Theorie des absoluten Präsens“,12 dass nämlich „[d]ie Herausgehobenheit des Augenblicks ästhetischer Wahrnehmung […] nicht über eine metaphysische Referenz, sondern über seine temporale Verfassung, die ‚Abgerissenheit des Plötzlichen‘, zu bestimmen“ ist.13 Der konzeptuelle Nachteil einer metaphysischen Prägung von Ereignis und Epiphanie (als semantische Ableger des Augenblicks) besteht für Bohrer darin, dass sie das ästhetische Bewusstsein reflektiert, nicht aber das Erscheinende selbst.14 Eben eine solche Fokussierung auf das, was erscheint, oder auch auf die Tatsache, dass etwas erscheint, wird in der philosophischen Ästhetik in aktuellen Diskussionen zum Präsenz-Konzept vorangetrieben. So bezieht sich Martin Seel in seinen grundlegenden Studien Ästhetik des Erscheinens (2003) und Die Macht des Erscheinens (2007) zwar einerseits auf die ästheti-

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Karl Heinz Bohrer: Ästhetische Negativität. München 2002, S. 8. Bohrer (Anm. 8), S. 329. Bohrer (Anm. 8), S. 329. An dieser Stelle manifestiert sich für Bohrer ein gewisser Überlegenheitsanspruch der Literatur gegenüber der Philosophie als ein theoretischer Grundgedanke, der die Ästhetische Negativität durchzieht. Karl Heinz Bohrer: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a. M. 1994, S. 139. Bohrer (Anm. 11), S. 181. Bohrer (Anm. 11), S. 180. Strukturelle und narrative Eckpunkte des Plötzlichen hat Bohrer in seinem Hauptwerk Plötzlichkeit bereits 1981 untersucht (vgl. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Frankfurt a. M. 1981). Bohrer (Anm.11), S. 141.

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sche Wahrnehmung, die auf den Prozess des Erscheinens von ästhetischen Objekten gerichtet ist und diese im Modus einer disfunktionalen Präsenz in den Blick nimmt.15 Dementsprechend ist ästhetische Wahrnehmung nach Seel auf die „Präsenz des Erscheinens“ aus.16 Sie verweilt dabei im Prozess des Erscheinens und wird damit selbst zum temporal determinierten Phänomen. An anderer Stelle jedoch bezeichnet Seel das ästhetische Erscheinen eines Gegenstandes als ein „Spiel seiner Erscheinungen“.17 Er nimmt also andererseits ästhetische Objekte als „Ereignisse des Erscheinens“ in den Blick.18 Zudem definiert er sie als Objekte, „die sich in ihrem Erscheinen von ihrem begrifflich fixierbaren Aussehen, Sichanhören oder Sichanfühlen mehr oder weniger radikal abheben“.19 Seel sieht hierin eine spezifische „Präsentation von Präsenz“ gegeben, denn „Kunstwerke vergegenwärtigen das in und an den Dingen, was sich einer begrifflich bestimmenden Festlegung entzieht. Das ist […] zunächst einmal ihre unreduzierte sinnliche Gegenwärtigkeit“.20 Dass terminologische Unterbestimmtheit ein konstitutives Element von Präsenz ist, wird hier verdeutlicht und als ein zentraler Gedanke bei Seel gesetzt.21 Seel richtet sein analytisches Interesse damit nicht ausschließlich auf das ästhetische Bewusstsein, sondern auf die kausale Verbindung von ästhetischer Wahrnehmung und ästhetischem Objekt; beide Elemente stehen in einer interdependenten und vor allem zeitlich determinierten Beziehung zueinander. Hier zeichnet sich ab: Literarische und philosophische Perspektiven auf das Präsenz-Phänomen können sich gegenseitig ergänzen, weit mehr als dass sie sich ausschließen und übertrumpfen müssen. Bei Hans Ulrich Gumbrecht und Dieter Mersch verstärkt sich die von Seel postulierte Tendenz zur Fokussierung dessen, was erscheint, wenngleich konzeptuelle Akzentuierungen und Argumentationsstrukturen im Einzelnen variieren.22 Die antimetaphysische Position spricht bei Gum-

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Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2003, S. 57 f. Martin Seel: Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2007, S. 19. Seel (Anm. 16), S. 70. Seel (Anm. 16), S. 186. Seel (Anm. 15), S. 47, Hervorhebung durch den Autor. Seel (Anm. 16), S. 186. Seel verweist darauf, dass begrifflicher Inkommensurabilität in der disziplinären Geschichte der philosophischen Ästhetik ein zentraler Status zukommt: „Von Baumgarten und Kant bis hin zu Valéry und Adorno wird die Ästhetik von Reflexionen darüber geleitet, was ‚in den Dingen unbestimmbar ist‘“ (Seel [Anm. 15], S. 11). Als eine zentrale, positionsübergreifende Tendenz lässt sich bei Gumbrecht und Mersch jedoch die Postulierung einer epistemologischen Wende ausmachen, die in Anbindung an Präsenzphänomene im Horizont des „Posthermeneutischen“ firmiert. Als Vertreter einer Philosophie der Präsenz bringen sie ihre Konzeptualisierungen des Präsenz-Konzeptes mit nicht-hermeneutischen und auch mit anti-dekonstruktivistischen Positionen zusammen, vgl. Dieter Mersch: Posthermeneutik. Berlin 2010; Hans Ulrich Gumbrecht: Diesseits der Her-

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brecht aus einem Rückbezug auf den aristotelischen Zeichenbegriff sowie aus seinem Konzept der „Produktion von Präsenz“ und dem bei Jean-Luc Nancy entlehnten Epiphanie-Begriff. Alle drei Elemente werden von Gumbrecht argumentativ miteinander verbunden. Das aristotelische Zeichen ist für Gumbrecht attraktiv, weil es in der Zusammenführung des Substanz- und des Formbegriffs die Dichotomie von Materialität und Immaterialität ausschließt: Das aristotelische Zeichen […] verknüpft eine Substanz (also das, was präsent ist, weil es Raum braucht) mit einer Form (also dem, wodurch eine Substanz wahrnehmbar wird), d. h. es bringt Aspekte zusammen, die eine Vorstellung von „Sinn“ beinhalten, die uns nicht vertraut ist.23

Diese In-Bezug-Setzung von Form und Substanz, besonders aber die kausale Verknüpfung von Substanz und Präsenz ist auch für Gumbrechts Vorstellung einer „Produktion von Präsenz“ von Bedeutung. Gumbrecht verweist dabei auf einen Produktionsmodus von Präsenz, der auf ein Formwerden in der Zeit, wenn nicht gar auf ein Formwerden der Zeit abzielt – allerdings liegt der Akzent hier deutlich auf dem Prozess der Formwerdung im Sinne einer räumlichen Ausdehnung, fokussiert wird weniger eine Zeitspanne. Schon zu Beginn seiner Studie Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz (2004) stellt Gumbrecht fest: „Das Wort ‚Präsenz‘ bezieht sich nicht (jedenfalls nicht hauptsächlich) auf ein zeitliches, sondern auf ein räumliches Verhältnis zur Welt und zu deren Gegenständen.“24 Auch in Gumbrechts Konzeption ästhetischer Wahrnehmung spielt Präsenz, neben Bedeutung, eine wichtige Rolle: Das Kernargument besteht hierbei darin, dass diese Komponenten ästhetischen Erlebens grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis stehen: „Präsenz und Sinn treten jedoch stets zusammen auf und stehen immer in einem Spannungsverhältnis zueinander. Es gibt keine Möglichkeit, sie kompatibel zu machen oder sie im Rahmen einer ‚ausgewogenen‘ phänomenalen Struktur zu-

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meneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004 sowie Präsenz. Berlin 2012. Auch Warning erklärt die Ausrichtung aktueller philosophischer Diskussionen zur Präsenz zumindest teilweise aus „Erschöpfungserscheinungen des Dekonstruktivismus“ heraus (vgl. Warning [Anm. 1], S. 221) und Wiesing gliedert seine bildphilosophischen Zugänge, speziell die Ausführungen zu Bildlogik und artifizieller Präsenz, explizit an das Paradigma des Posthermeneutischen an (vgl. Wiesing [Anm. 7], S. 35). Gumbrecht (Anm. 22), S. 46 f. Gumbrecht (Anm. 22), S. 10 f. In engem Rückbezug auf ihre etymologische Bedeutung benutzt Gumbrecht die Begriffe der „Präsenz“ und der „Produktion“ im Sinne ihrer lateinischen Ursprungssemantik, die jeweils bezogen auf ein Objekt ein „berührbares in Reichweite-Sein“ bzw. ein „Nach-vorn-Bringen“ (im Raum) bezeichnen (vgl. Gumbrecht [Anm. 22], S. 11).

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sammenzubringen.“25 Die hier benannten Aspekte von Spannung und darüber hinaus von Simultanität und Inkompatibilität bilden jedoch nicht nur Charakteristika der Beziehung von Präsenz und Bedeutung im ästhetischen Erleben. Sie ergeben zudem eine Grundbewegung der Oszillation im ästhetischen Objekt selbst.26 Man hat sich diese gewissermaßen als ein stetiges Hin- und Herpendeln zwischen Präsenz- und Bedeutungseffekten vorzustellen, das zu einer grundlegenden Instabilität des ästhetischen Objekts führt.27 Zu dieser Instabilität trägt nicht zuletzt bei, dass die Präsenzphänomene sich einem bewahrenden Gestus entziehen: Gumbrecht erläutert in diesem Zusammenhang, „dass Präsenzphänomene nach unserer Auffassung nicht umhin können, unweigerlich ephemer, also ‚Effekte von‘ Präsenz zu sein“.28 In Rückbezug auf Jean-Luc Nancy verwendet Gumbrecht hier zusätzlich den Begriff der Epiphanie. Dreierlei will er damit erfassen und beschreibbar machen: Das Spannungsverhältnis zwischen Präsenz und Bedeutung kommt aus dem Nichts, es ist räumlich artikuliert und ereignishaft.29 Epiphanien sind damit für Gumbrecht gleichbedeutend mit Ereignissen substantieller Raumbesetzung.30 Es ist im Umkreis von Ereignishaftigkeit, wo sich auch für Dieter Mersch die konzeptuellen Eckpunkte von Präsenz bewegen; die prädikative Struktur, das Ereignen mehr als das Ereignis, ist dabei zunächst von Bedeutung: „Es handelt sich also nicht um ein bestimmtes Ereignis, nicht einmal um ein Bestimmbares, ein Geschehen im Modus des ‚Was‘ (quid), sondern allein um Augenblicke des Auftauchens selbst, um das Entspringende, das noch kein ‚Als‘ oder ‚Was‘ bei sich trägt und im selben Moment wieder verlöscht.“31 Das Denken von Präsenz im Modus des Ereignens ruft nicht nur die schon bei Seel beschriebene begriffliche Unterbestimmtheit als Konstituens von Präsenz auf, sondern verortet sich darüber hinaus in Reichweite des Epiphanie-Konzepts von Gumbrecht. Diese

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Gumbrecht (Anm. 22), S. 126. An anderer Stelle spezifiziert er: „Und Schweigen steht in Zusammenhang mit der Stummheit der Dinge, die mit jener Stummheit präsent sind, die ihre Präsenz bewirkt. Andererseits gibt es kein Aufscheinen von Sinn, das nicht zu einer Verminderung des Gewichts der Präsenz führte“ (Gumbrecht [Anm. 22], S. 110). In Rückbezug auf die von Seel hervorgehobene begriffliche Unterbestimmtheit des ästhetischen Objekts ließe sich sagen: Das, was in ästhetischer Wahrnehmung präsent gemacht wird, ist nicht in propositionalen Konzepten (be-)deutbar. Auch bei Gumbrecht ist also, ähnlich wie bei Seel, ein bifokales analytisches Vorgehen zu verzeichnen, das ästhetisches Erleben und ästhetisches Objekt gleichermaßen in den Blick nimmt. Gumbrecht (Anm. 22), S. 114. Gumbrecht (Anm. 22), S. 127. Gumbrecht (Anm. 22), S. 131 f. Gumbrecht (Anm. 22), S. 135. Dieter Mersch: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2002, S. 19.

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Aspekte sind bei Mersch allerdings stärker an Koordinaten des Performativen gebunden und dazu angetan, einen postderridaschen Präsenz-Begriff zu konzipieren: „Demgegenüber besteht das Anliegen unserer Reflexionen in der Restitution des Unausweisbaren selber, mithin eines Asemiotischen oder Nichtsemiologischen: Das Geschehen, mit dem die Zeichen oder ihre Strukturalität in Erscheinung treten, mit dem zugleich Raum und Zeit wichtig werden.“32 Entscheidend ist dabei, dass Wahrnehmung – Mersch verwendet stets den griechischen Terminus aisthesis – strukturellen oder medialen Beschaffenheiten stets vorgängig ist; es geht ihm folglich um eine „Ereignishaftigkeit der Präsenz“,33 die in der Materialität des Zeichens, jedoch keineswegs durch sie oder anhand von ihr wahrnehmbar wird. Erscheinen, Epiphanie und Ereignen – aus philosophischer Sicht wird der prozessuale Charakter von Präsenz betont, der in Situationen ästhetischer Wahrnehmung virulent wird. Dabei kommen in unterschiedlicher Gewichtung vor allem räumliche und performative Komponenten zum Tragen. In den Fokus rückt damit ein Herstellungsmodus, der Präsenz zwar weiterhin als prekäres und (wenn auch weniger explizit) als temporales Phänomen behandelt, es jedoch jenseits einer tendenziell binären Gelingens- oder Versagensstruktur ansiedelt. Die Ergänzungsarbeit, die die philosophische Ästhetik für die literaturwissenschaftliche Perspektive auf Präsenz leisten kann, würde sich damit auf zwei Aspekte erstrecken: Sie kann Präsenz in sich konzeptuell pluralisieren und sie kann das Präsenz-Konzept – infolgedessen – gerade zwischen ausschließenden Gegensätzen situieren. Auch analytische Zugänge zur narrativen Herstellung von Präsenz würden im Hinblick auf diese Überlegungen erweitert werden können. 2. Präsenzeffekte bei Nathalie Sarraute „Anfänger müssen lernen, über die Materie dahinzugleiten, wollen sie genau auf der Höhe des Augenblicks bleiben.“34 Präsenzerfahrung als Augenblickshöhe ist bei Vladimir Nabokov scheinbar nur unter Besinnung auf Substantialität möglich. Ein Gleiten soll dabei das Verweilen sichern. Substanz und Bewegung bilden auch bei Nathalie Sarraute zentrale Komponenten von Präsenz. Das Zitat aus Sarrautes Roman Les Fruits

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Mersch (Anm. 31), S. 20, Hervorhebung im Original. Dieter Mersch: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2000, S. 22. Vladimir Nabokov: Durchsichtige Dinge. Reinbek b. Hamburg 1980, S. 8.

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d’Or (1963, dt. Die goldenen Früchte) im Titel dieses Aufsatzes („…une substance coule, se répand…“35) spricht von einer Substanz, die fließt und sich verteilt. Ein substantielles Fließen, das sich im (Schrift-)Raum ausbreitet, bezeichnet dabei ein Hauptattribut der sogenannten „Tropismen“, dem poetologischen Kernkonzept im Werk von Sarraute. Tropismen sind für Sarraute psychische Regungen, die meist an der Schwelle zur Versprachlichung verharren, bisweilen jedoch auch als unter der Rede liegende Rede zur Sprache kommen und damit sinnlich erfahrbar werden. Der Erfassung dieser flüchtigen Bewegungen, die in ihrem ephemeren Charakter kaum wahrnehmbar sind, gilt das literarische Gesamtunternehmen Sarrautes. Nathalie Sarraute ist neben Alain Robbe-Grillet eine der führenden Figuren des nouveau roman, der sich ab Mitte der 50er Jahre des 20. Jahrhunderts in Frankreich entwickelt hat.36 Sarraute kommt innerhalb des nouveau roman insofern eine wichtige Rolle zu, als dass sie poetologische Kernpunkte – insbesondere die Neufassung narrativer Elemente wie Figuren, Handlung und nicht zuletzt auch der ‚Zeit‘ – in ihren ästhetischen Idiolekt der Tropismen übersetzt hat und so alternative Wege des neuen Romanschaffens aufgezeigt hat. Die folgenden Überlegungen zur Herstellung von Präsenzeffekten im Werk von Sarraute organisieren sich um die Hypothese, dass die Verfahren zur Hervorbringung und Darstellung von Präsenz bei Sarraute wesentlich durch den substantiellen Charakter der Tropismen bestimmt sind. Die strukturelle Verfasstheit dieser prekären Regungen lenkt den Blick zudem auf Prozesse des Erscheinens und des Ereignens. Dabei werden auf der Handlungsebene Situationen ästhetischer Wahrnehmung virulent, die die Verschränkung von Präsenz, ästhetischem Objekt und begrifflicher Unterbestimmtheit vorantreiben. Unsagbarkeit wird dabei jedoch weniger als Ausdruck eines narrativen Misslingens verstanden, als vielmehr im Sinne von Präsenzeffekten produktiv gemacht. Es soll daher mit Blick auf die poetologische Konzeption Sarrautes, die sie vor allem in dem Essayband L’ère du soupçon (1947, dt. Zeitalter des

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Nathalie Sarraute: Les Fruits d’Or. Œuvres Complètes. Paris 1996a, S. 591. Robbe-Grillet gilt sicherlich uneingeschränkt als theoretischer Kopf dieser literarischen Strömung, eine Position, die er neben seinem fiktionalen Werk nicht zuletzt auch durch zahlreiche Essays untermauert hat. So legt er etwa in Pour un nouveau roman (1963, dt. Für einen neuen Roman) die poetologischen Eckpunkte des nouveau roman fest. Zentrale Aspekte sind hierbei z. B. die Abkehr vom Existentialismus und der sogenannten „engagierten Literatur“, die nach 1945 in Frankreich von Albert Camus und Jean-Paul Sartre prominent vertreten wurde, sowie – damit einhergehend – die Privilegierung von Form- gegenüber Inhaltsaspekten. Eine eingehendere Analyse des Essaybandes Pour un nouveau roman hat etwa Brigitta Coenen-Mennemeier vorgenommen (vgl. Brigitta Coenen-Mennemeier: Nouveau Roman. Stuttgart/Weimar 1996, S. 9 ff.).

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Argwohns) darlegt, und speziell in Bezug auf den Roman Les Fruits d’Or analysiert werden, wie über die Tropismen Dispositionen einer ästhetischen Wahrnehmung konstruiert werden. Des Weiteren wird von Bedeutung sein, inwiefern die Tropismen Wahrnehmungsdispositive für Prozesse des Erscheinens, der Epiphanie und des Ereignens bilden, und schließlich, welche Implikationen dies für die Konfiguration von Präsenz in dem Roman Les Fruits d’Or birgt.37 2.1 Von Zeit-Lupen-Einstellungen und dem Hiatus zwischen Sehen und Sagen: Sarrautes Poetik der Tropismen In ihrem Essayband L’ère du soupçon legt Sarraute mehrfach dar, was genau sie unter Tropismen versteht. In folgendem Zitat benennt sie eine Reihe von zentralen Aspekten, die sowohl auf die prekäre Versprachlichung und (Be-)Deutungsmöglichkeit der Tropismen abzielen, als auch die besondere zeitliche Rahmung derselben beschreiben: Kein Wort, nicht einmal Wörter des inneren Monologs vermögen diese Bewegungen auszudrücken, obwohl wir sie doch selbst vollziehen, denn sie entwickeln sich in uns und verschwinden mit extremer Schnelligkeit, ohne dass wir klar erkennen können, was sie genau sind, und produzieren dabei intensive, aber kurze Sinnesempfindungen. So war es nur möglich, sie dem Leser über Bilder zu vermitteln, die Gleichwertiges produzieren und ihn ähnliche Empfindungen verspüren lassen.38

Hier wird deutlich, dass die beiden vermeintlichen Problemhorizonte der Tropismen – zum einen der Grad ihrer begrifflichen Kommensurabilität, zum anderen ihre zeitliche Gebrochenheit – für Sarraute in einem engen Begründungszusammenhang stehen, sich gar wechselseitig potenzieren. Die extreme Schnelligkeit der Tropismen-Bewegungen und die Momentanität ihrer sinnlichen Vernehmbarkeit versperren sich einer störungsfreien Vermittlung auf sprachlicher Ebene. Infolgedessen tritt der ohnehin

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Eine eingehendere Untersuchung, die die Poetik Sarrautes als aisthetisch-bildlogisches Schreiben analysiert, ist zu finden in Berit Callsen: Mit anderen Augen sehen. Aisthetische Poetiken in der französischen und mexikanischen Literatur (1963–1984). Paderborn 2014, S. 124 ff. Dieses und alle folgenden Zitate Sarrautes sind von mir vorgenommene Übersetzungen aus dem Französischen. Das Originalzitat wird mit entsprechendem Verweis jeweils in den Fußnoten genannt: „Comme, tandis que nous accomplissons ces mouvements, aucun mot –pas même les mots du monologue intérieur– ne les exprime, car ils se développent en nous et s’évanouissent avec une rapidité extrême, sans que nous percevions clairement ce qu’ils sont, produisant en nous des sensations souvent très intenses, mais brèves, il n’était possible de les communiquer au lecteur que par des images qui en donnent des équivalents et lui fassent éprouver des sensations analogues“ (Nathalie Sarraute: L’ère du soupçon. Œuvres Complètes. Paris 1996b, S. 1554).

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schon fragmentierte zeitliche Rahmen der Tropismen nur noch deutlicher zu Tage.39 Wie konstituiert sich nun vor diesem Hintergrund Präsenz? Auf welche Weise kommt sie zur Sprache? Wie sieht ein „Zur-ErscheinungKommen“ sprachlich erfasster Tropismen aus und worin gründet ihr Ereignis-Charakter? In L’ère du soupçon nähert sich Sarraute einer Antwort: „Man musste diese Bewegungen zergliedern und sie sich im Bewusstsein des Lesers, einem Film in Zeitlupe gleich, entwickeln lassen. Die Zeit war nicht mehr die des realen Lebens, sondern die einer überproportional vergrößerten Gegenwart.“40 Sie sieht in ‚Zeit-Lupen-Einstellungen‘ ein narratives Verfahren, um die Tropismen beschreibbar zu machen. Präsenzeffekte entstehen dabei nicht nur durch den Gestus einer verbildlichten Sprache, sondern auch – und vor allem – über eine simultane Verlangsamung und ‚Vergrößerung‘ der Zeit. An der Wahrnehmbarmachung der Tropismen, am Prozess der Sichtbarmachung ihrer Zeit sind damit sowohl zeitliche als auch räumliche Aspekte beteiligt. Entsprechend findet die Herstellung von Präsenz tendenziell im Modus von Sichtbarkeit statt. Dabei geraten materielle Formen und Substanzen in den Fokus, die beständig auftauchen und wieder verschwinden und sich mittels dieser emergenten und kontingenten Raumbewegungen als Objekte des Erscheinens und Ereignens konstituieren. Die Tropismen können somit an dieser Stelle als Objekte von Situationen ästhetischer Wahrnehmung bzw. ästhetischen Erlebens beschrieben werden, die auf der Figurenebene die Disposition zum sinnlichen Erleben der Zeit an sich und speziell ihres eigenen, fraktalen Zeitkonzeptes generieren. Wahrnehmungssituationen und -dispositionen der Tropismen organisieren sich also in ‚Zeit-Lupen-Einstellungen‘, die in einem ersten Schritt ein ‚Zur-Erscheinung-Kommen‘ der flüchtigen, kaum wahrnehmbaren Bewegungen ermöglichen, und in einem zweiten Schritt eine spezifische Aufmerksamkeit für ihre Präsenz herstellen. Präsenzeffekte bilden sich entsprechend gleichermaßen über den zeitlichen und den räumlichen Ausdehnungsprozess der Tropismen. Eine solchermaßen definierte ‚Zeit-

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Rachel Boué hat auf die grundsätzliche Unvereinbarkeit des sukzessiven sprachlichen Gedankens einerseits und der punktuellen Sinnesempfindung andererseits verwiesen; diese mache die Suche nach Repräsentationsformen der sensitiven Unmittelbarkeit ungleich schwerer (Rachel Boué: Nathalie Sarraute, la sensation en quête de parole. Paris 1997, S. 11). Allerdings könnte man in Frage stellen, ob Sarraute mit dieser Suche tatsächlich ein Einebnen des Unsagbaren anstrebt, wie Boué es suggeriert. „Il fallait aussi décomposer ces mouvements et les faire se déployer dans la conscience du lecteur à la manière d´un film au ralenti. Le temps n’étaient plus celui de la vie réelle, mais celui d’un présent démesurément agrandi“ (Sarraute [Anm. 38], S. 1554).

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Lupen-Poetik‘ stellt die Ideen eines Sehens in der Zeit und eines Sehens der Zeit in den Mittelpunkt, ohne jedoch das erschwerte Sagen der Zeit gänzlich auszublenden. Sichtbarkeit und Unsagbarkeit treten in den Tropismen-Bewegungen in ein ambivalentes Verhältnis. So ist es eben diese widerstreitende Bewegung zwischen Sehen und Sagen, die an das Spannungsverhältnis von Präsenz und Bedeutung erinnert, das sich als ein zentrales Moment des ästhetischen Erlebens und auch des ästhetischen Objekts selbst ausweist. Und es ist genau im Hiatus zwischen Sehen und Sagen, in dem sich rund um die Tropismen ein „Spiel der Erscheinungen“41 ereignet. Allerdings weniger, weil Wörter als Erfassungen der psychischen Regungen hier (un-)eingeschränkt sichtbar oder hörbar und damit auffällig werden, sondern vielmehr weil die Tropismen beständig zwischen sinnlicher Vernehmbarkeit und sinnlicher Unvernehmbarkeit changieren. Es sind also, genau genommen, die graduellen Unterschiede in der Wahrnehmbarkeit der Tropismen, die in den Wahrnehmungssituationen und -dispositionen der Poetik Sarrautes zum Tragen kommen. Mithin zielt die Kluft zwischen Sichtbarkeit und Sagbarkeit, die auf der Textebene beständig inszeniert wird, eher auf Stufenfolgen einer Präsenz des Erscheinens und des Ereignens und weniger auf den Unsagbarkeitstopos. Präsenz wird damit bei Sarraute tendenziell jenseits der Opposition von Sagbarem und Unsagbarem verortet und vielmehr als zeitliches, räumliches und performatives Phänomen inszeniert. In einem Interview, das Simone Benmussa 1987 mit Sarraute führte, beschreibt die Autorin die In-Bezug-Setzung von Sehen und Sagen, von Präsenz und Bedeutung mit folgenden Worten: Der Sinneseindruck ist nicht mehr kommunizierbar, man verbleibt in einer Art formlosen Zustand so wie es der Sinneseindruck in seinem Urzustand auch ist. Es ist dieser ewige Kampf zwischen dem Sinneseindruck, den man so bewahren muss, wie er ist, den man in Worte bringen muss, Wörter, die ihn erstarren lassen, Wörter, die ihn deformieren, Wörter, die ihn vergröbern, es ist dieser ewige Kampf zwischen der Stärke der Sprache, die den Sinneseindruck mit sich reißt und ihn zerstört, und dem Sinneseindruck, der seinerseits die Sprache zerstört.42

Sarraute konstatiert hier zwar die Versprachlichung der Tropismen als Problem, daraus folgt aber – wie später noch zu zeigen sein wird – weniger eine Suche nach Lösungsstrategien, als vielmehr der produktive Ein-

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Seel (Anm. 16), S. 70. „La sensation n’est plus communicable, on reste dans quelque chose d´informe comme est la sensation elle-même à l’état pur. C’est cette lutte continuelle entre la sensation qu’il faut conserver telle qu’elle est, qu’il faut faire entrer dans les mots, des mots qui la figent, des mots qui la déforment, des mots qui la grossissent, c’est cette lutte continuelle entre la force du langage qui entraîne et détruit la sensation, et la sensation qui, elle aussi, détruit le langage“ (Sarraute in Simone Benmussa: Entretiens avec Nathalie Sarraute. Tournai 2002, S. 171).

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satz des Gegensatzes von Sehen und Sagen im Rahmen narrativer Verfahren zur Herstellung von Präsenzeffekten. Dementsprechend kann das stufenweise Zur-Sprache-Bringen der Tropismen gerade nur als Bestandteil eines simultanen, gegenläufigen und vor allem eines wechselseitig unreduzierbaren Bestehens von Sprache und Sinneseindruck erfolgen oder, wie Sarraute es ausdrückt: „Die Sprache muss trotz des Sinneseindrucks überleben, der über sie hinweggeht und sie deformiert, ebenso wie der Sinneseindruck trotz der Sprache überleben muss, die ihn nach außen trägt.“43 2.2 Überlegungen zu Substantialität und sprachlicher Unterbestimmtheit der Tropismen in Les Fruits d’Or Wie konfigurieren sich nun die beschriebenen Wahrnehmungssituationen und -dispositionen rund um die Tropismen in dem Roman Les Fruits d’Or? Wie gestaltet sich, damit einhergehend, der Zusammenhang von sprachlicher Unzulänglichkeit und Wahrnehmung? Und welche Auswirkungen hat dies auf die Verfahren zur Herstellung und Darstellung von Präsenz im Text? Ann Jefferson hat darauf hingewiesen, dass der Roman Les Fruits d’Or gemeinsam mit dem Roman Entre la vie et la mort (1968, dt. Zwischen Leben und Tod) und dem Text Vous les entendez? (1972, dt. Versteht ihr sie?) ein thematisches Tryptichon bildet, das den Entstehungs- bzw. Rezeptionsprozess eines ästhetischen Objekts beleuchtet.44 Les Fruits d’Or nimmt in dieser Dreierkette eine besondere Stellung ein, weil der Roman in der Umsetzung der benannten Thematik eine Reihe von metatextuellen Verfahren zur Anwendung bringt. Diese organisieren sich vor allem um die Reflexion einer möglichen Versprachlichung des Nicht-Sprachlichen und dem damit verbundenen spezifischen Zeitbegriff der Tropismen, mithin um die Verschränkung von Unsagbarem und Präsenz, wie sie in Situationen ästhetischer Wahrnehmung zum Tragen kommt. So diskursiviert der Roman an folgender Stelle voller Selbstironie den Idealzustand seiner eigenen poetologischen Konzeption: „Ich glaube, dass jede Kunst für einen Romancier darin besteht, sich über dieses ekelerregende Gewimmel zu erheben, sich über diese Zergliederungen und ‚dunklen Vorgänge‘, wie man sie nennt, hinwegzusetzen […] jede Kunst besteht

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„Le langage doit survivre malgré la sensation qui passe à travers lui et le déforme, comme la sensation doit survivre malgré le langage qui la rend extérieure“ (Sarraute in Benmussa [Anm. 42], S. 171). Ann Jefferson: „Les Fruits d’Or. Notice“. In: Nathalie Sarraute: Les Fruits d’Or. Paris 1996a, S. 1827–1836, hier S. 1829.

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darin, all dies trockenzulegen, daraus ein solides Fundament zu machen, hart, auf dem man ein Werk konstruieren […] kann“.45 Diese Aussage stammt von einer der – im Verlauf des gesamten Romans anonym bleibenden – Figuren, deren einzige literaturkritische Tätigkeit darin besteht, einen Text namens Les Fruits d’Or zu kommentieren. Die Erstarrung als Unterbindung des Fließens wird in dieser mise en abyme als Lösungsansatz suggeriert, die Tropismen somit als vermeintlich textstörende Substanzen ausgewiesen, die es schon im Primärtext, spätestens aber in der Sekundärliteratur einzuebnen gilt. Im Roman fungieren metatextuelle Kommentare jedoch primär als ‚Tropismenauslöser‘, sie setzen also in den Figuren zunächst einmal eine Aufmerksamkeit für das, was „zur Erscheinung kommt“.46 Sie erzeugen einen gerichteten Blick für das, was sich in oszillierender Bewegung zwischen Präsenz und Bedeutung konfiguriert, und stellen in den Figuren Erwartungshaltungen für Erscheinens- und Ereignisprozesse her. Der eingangs zitierte metatextuelle Kommentar bildet damit eine bewusst gesetzte Fallhöhe, die die Struktur und Wirkungsweise der Tropismen konturieren hilft, und sie gerade als text- und präsenzkonstituierende Elemente ausweist. So heißt es an anderen Stellen im Roman: Gleich kommt es […] eine Substanz fließt, verteilt sich […]. Tatsächlich, in diesen Worten, in diesen Sätzen erscheint ein kaum wahrnehmbares Anschwellen… es pocht leicht… Er entscheidet sich, räuspert sich… aber die Worte schwinden, als er sie ausspricht, ähnlich wie Schaumblasen, die man in die schwere Luft schickt, sie werden kleiner, es bleibt fast nichts, es war nichts…47

Der Text setzt hier in zweifacher Weise ein „Spiel der Erscheinungen“48 in Gang: Zum einen macht er die Tropismen für die Romanfiguren sinnlich vernehmbar – nicht nur, indem er sie auslöst, sondern auch, weil er, im Zuge dessen, Rede und Sub-Rede beständig alterniert, ineinander greifen lässt und simultan in Szene setzt. Zum anderen schafft er ‚Beobachtungsposten‘, von denen aus er sich im Prozess seiner Konstituierung beobachten kann. Als ‚Tropismenauslöser‘ ist der Text auch ‚Tropismenträger‘ und formiert sich in dem Maße, wie er diesen Funktionen

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„Tout l’art, je crois, pour un romancier, consiste en cela, de s’élever au-dessus de ces grouillements nauséabonds, au-dessus de ces décompositions, de ces ‚processus obscurs‘, comme on les nomme […] l’art justement consiste à assécher tout cela, à en faire une terre solide, dure, sur laquelle on puisse construire […] une œuvre“ (Sarraute [Anm. 35], S. 546). Seel (Anm. 16), S. 70. „Dans un instant cela va surgir“ (Sarraute [Anm. 35], S. 574). „… une substance coule, se répand… Et voilà que dans ces mots, dans ces phrases apparaît comme un à peine perceptible gonflement… cela palpite doucement… Il se décide, il s’éclaircit la voix… mais les mots, dès qu’il les prononce, pareils à des bulles qu’on envoie dans un air trop lourd, s’amenuisent, se réduisent, il ne reste presque rien, il n’y avait rien…“ (Sarraute [Anm. 35], S. 591). Seel (Anm. 16), S. 70.

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gerecht wird. Auf diese Weise wird der Roman sich selbst zum ästhetischen Objekt und generiert zugleich die entsprechenden Wahrnehmungssituationen- und dispositionen ästhetischer Wahrnehmung bzw. ästhetischen Erlebens, sowohl auf fiktionaler als auch auf metafiktionaler Ebene. Präsenz wird hierbei über mehrere Verfahrenswege erzeugt.49 Wie in dem eben zitierten Textabschnitt gesehen, konstituieren sich die Tropismen als bewegte Substanzen, die ihr Erscheinen über subtile Raumergreifungen ankündigen. Dabei wird zum einen durch Oxymoron-Figuren wie dem substantiellen Fließen, zum anderen durch das dadurch evozierte Oszillieren zwischen Form und Formlosigkeit ein unbestimmter und unbestimmbarer Status der psychischen Regungen erzeugt. Sie generieren dadurch einen Ereignischarakter, für den begriffliche Unterbestimmtheit konstitutiv wird. Derartigen Situationen des Erscheinens und Ereignens eignet demnach eine Epiphanie-Struktur; zudem wiederholen sie sich beständig über die gesamte Textlänge. So heißt es später wieder: „Die unsichtbare Substanz fließt, passt sich perfekt an… sie nimmt Form an, ich sehe sie… Hagel…“50 Zähflüssiges als Form-im-Werden gerät hier zur verkrusteten Struktur. Substanz und Form werden in ein prozessuales Verhältnis gesetzt, das Koordinaten von Verräumlichung und Sichtbarkeit aufruft und auf diese Weise Präsenzeffekte erzeugt. Auch Zeit-Lupen-Einstellungen stellen Präsenz her, indem sie Zeit und Worte dehnen, bisweilen gar sichtbar deformieren: „Be-wun-dernswert… das Wort in ihnen hallt wider, es kommt zu mir zurück, vergrößert, deformiert…“51 Buchstaben nehmen hier mehr Raum ein, brauchen sichtlich länger, um artikuliert zu werden. Das Zur-Erscheinung-Kommen der Tropismen, mithin die Produktion von Präsenz, erfolgt stufenweise über die räumliche Distanz und in der zeitlichen Spanne von drei Punkten. Textuelle Leerstellen und silbentrennende Spiegelstriche fungieren hierbei nicht nur als Zeit-Lupen, sondern auch als Echoräume, in denen sich die Tropismen deplatzieren und aus verschiedenen Richtungen des Nichts wiederkehren. Sie werden so als (ver-)drängende, raumgreifende Ereignisse beschreibbar, die sich nicht zuletzt in dekontextualisierenden Bewegungen konstituieren.52

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Neben Präsenz werden weitere Raum-Zeit-Koordinaten aufgerufen: Rede und Sub-Rede treten gleichzeitig auf, hierbei kommt das, was ‚unter der Rede liegt‘, nur momentan zur Erscheinung. Simultanität und Momentanität wären damit komplementäre Effekte, die von den „Tropismen“ ausgehen, und mit Präsenzeffekten in enger Verbindung stehen. „La substance invisible se coule, s’adapte parfaitement… elle prend forme, je la vois… grêle... en effet... assez gauche...“ (Sarraute [Anm. 35], S. 606). „Ad-mi-rable… le mot en eux s’est répercuté, il me revient, amplifié, déformé…“ (Sarraute [Anm. 35], S. 536). Guy Calamusa hat darauf hingewiesen, dass sich die Handlung in Sarrautes Werken ereignishaft und sequenzartig und damit in Abhängigkeit von der sofortigen Erfassung der

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In der Leerstellenstruktur, die den gesamten Roman durchzieht, wird auch das gegenläufige Bestehen von Sinneseindruck und Sprache spürbar, die Spannung zwischen Präsenz und Bedeutung auf formaler Ebene sichtbar. Es zeigt sich jedoch, dass der Problematisierung des Sagbaren, dem Agieren am Rand der Sprache, keine textstörende Wirkung zukommt. Entsprechend verweisen Formen des Sehens und Sagens aufeinander, allein um ihre wechselseitige Irreduzibilität zu bezeugen. Ein Sehen in der Zeit kann ein Sehen der Zeit ermöglichen, kann und soll jedoch gar kein zeitliches Sagen sicherstellen. So heißt es in der Rede einer der Figuren zwar: „Zeigt mir die versteckten Verbindungen der Worte, die diese unaussprechlichen Gefühle auszudrücken vermögen. Wo? Wie? Aber das hat keine Dauer, ihr versteht mich“.53 Der Text selbst macht sich aber niemals wirklich auf die Suche nach dem ‚mot propre‘, nach Formen der Versprachlichung von Tropismen-Bewegungen und ihrer Zeitlichkeit. Er konstatiert sprachliche Defizite, die er selbst bewusst konstruiert, um Präsenzeffekte zu erzeugen.54 Letztere werden nicht nur über Substantialisierungen, Erscheinungsprozesse, Ereignishaftigkeit und Sprachlosigkeit hergestellt, sondern formieren sich auch im Modus von Sichtbarkeit. Versteckte Wortverbindungen sollen gezeigt, nicht gesagt werden. Das Unsagbare ist demnach nicht das, was nicht gesagt werden kann, vielmehr ist es das, was sich zeigt. Zugleich wird hier deutlich, dass Sichtbarkeit als positive Kehrseite des Unsagbaren fungiert, dass sprachlicher Unzulänglichkeit mithin keineswegs ein defizitärer Aspekt innewohnt, sondern im Sichtbarmachungspotential auch immer ein positiver Zug der Verlebendigung steckt: „Jeder Satz macht lebendig, verhilft einem

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Tropismen-Bewegungen gestaltet (vgl. Guy Calamusa: „Instant présent et tropisme“. In: Joëlle Gleize/Anne Leoni [Hrsg.]: Nathalie Sarraute. Un écrivain dans le siècle. Aix-en-Provence 2005, S. 21–26, hier S. 25). „Montrez-moi ces rapports subtils de mots, qui exprimaient ces ineffables sentiments. Où ? Comment ? Mais cela ne peut plus durer, vous m’entendez.“ (Sarraute [Anm. 35], S. 552). In diesem Sinne ist Karl Heinz Bohrer darin zuzustimmen, dass Sarraute Problemzonen des Sagbaren identifiziert (für Bohrer ist dies die „Negativität des Augenblicks“, vgl. Bohrer [Anm. 8], S. 361). Sie zieht daraus aber nicht, wie Bohrer weiter argumentiert, negative Schlüsse, an die sich eine „Jagd nach dem angemessenen Wort“ anschließt (vgl. Bohrer [Anm. 8], S. 365), sondern lässt es zu, dass sich Widerständiges zeigt. Dass Sarraute zwar eine Problematisierung des Sagbaren vornimmt, darauf aber keine Suchbewegungen folgen lässt, sondern im Gegenteil ein Anerkennen dessen, was sich – bisweilen im Wort selbst – als uneinholbar gestaltet, kann wiederum besser mit philosophischen Ansätzen zur Präsenz beschrieben und erklärt werden. Die Konzeptualisierung, die Mersch von Wahrnehmung als einer „passiven Gewahrung“ vornimmt, zielt in diese Richtung. (vgl. Mersch [Anm. 31], S. 44). Eine tendenziell binäre Sicht, die die Poetik Sarrautes zwischen Sagbarem und Unsagbarem scheidet, findet sich auch bei Rachel Boué (vgl. Boué [Anm. 39], S. 11) und André Allemand (vgl. André Allemand: L’œuvre romanesque de Nathalie Sarraute. Neuchâtel 1980, S. 52, 115 und 302).

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Sinneseindruck zum Leben, einem Gefühl, selbst einer Idee, ja einer Idee. Jeder Satz ist die lebendige Bewegung durch die ein einzigartiger Sinneseindruck… das ist keine willkürliche Bewegung…“55 Die Betonung des substantiellen Charakters der Tropismen sowie des Hiatus zwischen Sehen und Sagen sind Textstrategien, die bei Sarraute auf Präsenzeffekte zielen. Präsenz wird dabei nicht nur suggeriert, sondern auf formaler und inhaltlicher Ebene des Romans Les Fruits d’Or erfahrbar gemacht. Im Rahmen von Situationen ästhetischer Wahrnehmung erhalten Präsenz-Phänomene konstitutiven Charakter. Dabei stellen sie sich im Modus eines Erscheinens her, das sich nicht immer schon im Abscheinen wähnt, sondern ‚sich selbst‘ zunächst einmal als Ereignis begreift. Wahrnehmung ist hier dem Erscheinen vorgängig, das Sehen ist in Erwartung dessen, was sich ihm zeigt. Davon ausgehend sind die Tropismen als Epiphanien beschreibbar. Präsenz konstituiert sich bei Sarraute damit wesentlich durch das Zusammenwirken von Substantialität, Raumbewegung und Sichtbarkeit als Hauptattribute der Tropismen. Literatur Allemand, André: L’œuvre romanesque de Nathalie Sarraute. Neuchâtel 1980. Bohrer, Karl Heinz: Plötzlichkeit. Frankfurt a. M. 1981. Bohrer, Karl Heinz: Das absolute Präsens. Die Semantik ästhetischer Zeit. Frankfurt a. M. 1994. Bohrer, Karl Heinz: Ästhetische Negativität. München 2002. Benmussa, Simone: Entretiens avec Nathalie Sarraute. Tournai 2002. Boué, Rachel: Nathalie Sarraute, la sensation en quête de parole. Paris 1997. Calamusa, Guy: „Instant présent et tropisme“. In: Joëlle Gleize/Anne Leoni (Hrsg.): Nathalie Sarraute. Un écrivain dans le siècle. Aix-en-Provence 2005, S. 21–26. Callsen, Berit: Mit anderen Augen sehen. Aisthetische Poetiken in der französischen und mexikanischen Literatur (1963–1984). Paderborn 2014. Coenen-Mennemeier, Brigitta: Nouveau Roman. Stuttgart/Weimar 1996. Fromm, Waldemar: An den Grenzen der Sprache. Über das Sagbare und das Unsagbare in Literatur und Ästhetik der Aufklärung, der Romantik und der Moderne. Freiburg i. Br./ Berlin 2006. Gumbrecht, Hans Ulrich: Diesseits der Hermeneutik. Die Produktion von Präsenz. Frankfurt a. M. 2004. Gumbrecht, Hans Ulrich: Präsenz. Berlin 2012. Jefferson, Ann: „Les Fruits d’Or. Notice“. In: Nathalie Sarraute: Les Fruits d’Or. Paris 1996, S. 1827–1836.

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„Chaque phrase fait vivre, elle fait exister une sensation, un sentiment, même une idée, oui, une idée. Chaque phrase est le mouvement vivant par lequel une sensation unique… ce n’est pas un mouvement gratuit… “ (Sarraute [Anm. 35], S. 602).

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Kolberg, Sonja: „Verweile doch!“. Präsenz und Sprache in Faust- und Don-Juan-Dichtungen bei Goethe, Grabbe, Lenau und Kierkegaard. Bielefeld 2007. Mersch, Dieter: Was sich zeigt: Materialität, Präsenz, Ereignis. München 2000. Mersch, Dieter: Ereignis und Aura. Untersuchungen zu einer Ästhetik des Performativen. Frankfurt a. M. 2002. Mersch, Dieter: Posthermeneutik. Berlin 2010. Nabokov, Vladimir: Durchsichtige Dinge. Reinbek b. Hamburg 1980. Robbe-Grillet, Alain: Pour un nouveau roman. Paris 1963. Sarraute, Nathalie: Les Fruits d’Or. Œuvres Complètes. Paris 1996a. Sarraute, Nathalie: L’ère du soupçon. Œuvres Complètes. Paris 1996b. Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995. Seel, Martin: Ästhetik des Erscheinens. Frankfurt a. M. 22003. Seel, Martin: Die Macht des Erscheinens. Frankfurt a. M. 2007. Warning, Rainer: „Differentielle Epiphanien in Marcel Prousts ‚À la recherche du temps perdu‘“. In: Wolfgang Lange/Jürgen Paul Schwindt/Karin Westerwelle (Hrsg.): Temporalität und Form. Konfigurationen ästhetischen und historischen Bewusstseins. Autoren-Kolloquium mit Karl Heinz Bohrer. Heidelberg 2004, S. 221–235. Wiesing, Lambert: Artifizielle Präsenz. Studien zur Philosophie des Bildes. Frankfurt a. M. 2005.

JULIAN HANEBECK (Wuppertal)

Simultaneität. Die Aporien des Jetzt und „der unzeitliche Raum der Erzählung als Text“ – eine Simultaneität von Zeiten in Laurence Sternes Tristram Shandy 1. Aporien des Jetzt und die narrativen Ebenen der Erzählung 449 – 1.1 Die Aporien des Jetzt: Positionen in der Philosophie 451 – 1.2 Gérard Genette und die Zeiten der Erzählung 455 – 1.3 Erzählte Zeit – Erzählzeit – Erzählerzeit 459 – 2. Laurence Sternes „Tristram Shandy“ und die Erzählung der Zeiten 461

1. Aporien des Jetzt und die narrativen Ebenen der Erzählung In Iris Murdochs Roman The Black Prince (1973) beginnt der fiktive Erzähler Bradley Pearson sein Vorwort mit einer eigentümlichen Absichtserklärung: „Although several years have now passed since the events recorded in this fable, I shall in telling it adopt the modern technique of narration, allowing the narrating consciousness to pass like a light along its series of present moments“.1 Die moderne Technik des Erzählens bestehe also darin, die Dunkelheit der Vergangenheit mit dem Licht des (erzählenden) Bewusstseins Stück für Stück zu durchqueren und zu erhellen. Diese implizite Verräumlichung der erzählten Zeit ist aber immer schon geprägt von einem Bewusstsein, das jene „present moments“ als vergangene Momente erzählend in die ‚Gegenwart‘ des Erzählaktes überführt. So räumt der Erzähler Pearson im Anschluss ein, dass die vergangene ‚Gegenwart‘ der erzählten „present moments“ von der Weisheit des erzählenden Ichs, dessen Perspektive eines ‚gegenwärtigen‘ Erzählens den Rückblick erlaubt, zum Leuchten gebracht wird.2 In dem zweifachen Licht des erzählenden Bewusstseins, das die zeitliche Struktur seines Erzählaktes reflektiert, wird die oft konstatierte Aporizität der Zeit vor dem Hintergrund der narrativen Konfiguration von Zeiten im Roman sichtbar. Im

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Iris Murdoch: The Black Prince [1973]. London 1975, S. 11. Murdoch (Anm. 1), S. 11.

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Folgenden versuche ich mithilfe der narratologischen Kategorien, mit denen die Zeitdarstellung von Erzähltexten im Anschluss an Gérard Genettes Discours du récit (1972, dt. Übersetzung: Die Erzählung, 1994) gewöhnlich beschrieben wird, zu zeigen, dass Laurence Sternes Roman Tristram Shandy (1759–1767) eine Simultaneität von Zeiten erzählt, die die Aporizität der Zeit ebenso wie die narrative Struktur, in der diese Aporizität konventionell verdeckt wird, auf eigentümliche Weise offenlegt. Zunächst ist jedoch zu konstatieren, dass die narratologischen Kategorien das Problematische typischer Antinomien der Zeit in keiner Weise reflektieren. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen diegetischen Ebenen, die diesen Kategorien zu Grunde liegt, ermöglicht nicht nur das Erfassen einer Vielzahl von zeitlichen Relationen und Strukturen, sondern impliziert, dass jeder Erzähltext die temporalen Aspekte der Darstellungslogik dessen spiegelt, was Monika Fludernik als den „Prototyp natürlichen Erzählens“3 beschreibt. Die mündliche Kommunikation erlebter Erfahrung („experiential conversational storytelling“4) basiert notwendigerweise auf der Vorstellung, dass die Welt, von der erzählt wird, von der Welt, in der erzählt wird, kategorial zu unterscheiden sei. Genettes Konzept einer textimmanenten Struktur von diegetischen Ebenen scheint einem Verständnis von Erzählung geschuldet, das die raumzeitlichen Parameter dieser beiden Ebenen (der erzählten Welt und der Welt, in der erzählt wird) strikt trennt und als ontologisch distinkt versteht, ganz im Sinne eines „realist understanding of narration in which the concept of ‘live now and tell later’ inevitably splits experiential and narrational processes“.5 Genettes Zeit-Kategorien basieren somit auf der gängigen Zeitvorstellung des allgemeinen Lebensvollzuges, der die je eigene Zeitlichkeit vor dem Hintergrund einer absoluten, linearen und sukzessiven Reihung von Zeitpunkten erlebt, eine Zeitauffassung, die durch die ‚objektive‘ Zeitmessung der Uhr vergegenständlicht wird. Diese, so ließe sich mit Martin Heidegger sagen, „vulgäre Zeit“,6 die Genettes Kategorien zugrunde liegt, erlaubt es, und dies ganz im Sinne des Strukturalismus, „temporale Textstrukturen präzise zu beschreiben“.7 Denn Genettes bekannte Kategorien ‚Ordnung‘ und ‚Dauer‘ verdanken ihre Präzision einer Konzeption der Zeit, die die

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Vgl. Monika Fludernik: Towards A ‚Natural‘ Narratology. London 1996, S. 57. Fludernik (Anm. 3), S. 57. Fludernik (Anm. 3), S. 334. Vgl. Martin Heidegger: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 2006, S. 416–417. Ansgar Nünning/Roy Sommer: „Die Vertextung der Zeit. Zur narratologischen und phänomenologischen Rekonstruktion von Zeitdarstellungen im Roman“. In: Martin Middeke (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 33–56, hier S. 54.

Aporien des Jetzt

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Zeitlichkeit der Ereignisse als Größen auffasst, die sich auf einer Zeitkoordinate mathematisch darstellen lassen.8 Die folgende Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Zunächst werden kurz Positionen in der Philosophie vorgestellt, die sich mit der Aporizität der Zeit befassen. In einem zweiten Teil wird untersucht, inwiefern die von Genette eingeführten Kategorien der Narratologie auf der Vorstellung „des unzeitlichen Raumes der Erzählung als Text“9 basieren; eine Referenzgröße, anhand derer wie auf einem Zahlenstrahl das (extra-)diegetische Vorher und Nachher bestimmt werden kann, die aber selber außerhalb der Zeit zu sein scheint, die sie beschreibt oder vielmehr erzeugt. Diese Vorstellung soll mit Laurence Sternes Roman Tristram Shandy in Frage gestellt werden; jenem Roman, in welchem die extradiegetische Gegenwart des ‚Jetzt‘ des Erzählers und das diegetische ‚Jetzt‘, von dem erzählt wird, oftmals metaleptisch synchronisiert werden. In einem dritten Teil soll mithilfe der Unterscheidungen, die Genettes Kategorien ermöglichen, Laurence Sternes berühmte Zeitdarstellung untersucht werden. Darüber hinaus ist es ein Ziel dieses Beitrages zu zeigen, dass die ‚vulgäre Zeit‘ der narratologischen Kategorien eine Analyse erlaubt, die die aporetische Vielfalt der Zeiten sichtbar macht, die in Tristram Shandy vordergründig wird. So wird zunächst Gérard Genette mit Laurence Sterne befragt und dann Laurence Sterne mit Gérard Genette. 1.1 Die Aporien des Jetzt: Positionen in der Philosophie Die Antinomien, die in den Fragen nach der Ontologie der Zeit und dem Bewusstsein von Zeitlichkeit entstehen, sind seit Zenons Paradoxien und den Confessiones des Aurelius Augustinus in zahlreiche philosophische

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Streng genommen wird die Zeit selbst als eine Größe interpretiert, die sich beliebig genau angeben lässt und als Zeitstrahl mit dem Zahlenstrahl der reellen Zahlen identifiziert wird. Insbesondere die unter ‚Ordnung‘ beschriebenen Relationen, die gewisse temporale Aspekte von Erzähltexten abbilden sollen, stellen dies paradigmatisch dar. Genettes Modell, in welchem er Buchstaben (für die Elemente in der Reihenfolge des discours) und Zahlen (für die Elemente in der Reihenfolge der histoire) verwendet, basiert auf der Interpretation der Zeit als Größe, die mithilfe von Punkten auf einem Zeit-, beziehungsweise Zahlenstrahl abbildbar ist. Vgl. Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. München 1998, S. 24 ff. Von Mieke Bals Beschreibung der Anachronien der Ilias mit der ‚Formel A4-B5-C3-D2-E‘ bis hin zu Markus Kuhns Fortentwicklung im Rahmen seiner Filmnarratologie zeigt sich Genettes Modell als unverändert einflussreich. Vgl. Mieke Bal: Narratology. Introduction to the Theory of Narrative. Toronto 1985, S. 83 und Markus Kuhn: Filmnarratologie: ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York 2011, S. 203 f. Für eine Kritik einer solchen ‚räumlichen‘ Abbildung von Zeit vgl. Andrew Gibson: Towards a Postmodern Theory of Narrative. Edinburgh 1996, S. 181–183. Genette (Anm. 8) S. 159.

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„Problemgeschichten der Zeit“10 überführt worden. Alle philosophischen Antworten auf diese wohlbekannten Antinomien stellen die gängige lebensweltliche Vorstellung von der objektiven Extensität der Zeit, die sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckt und innerhalb derer Ereignisse stattfinden, radikal in Frage. Das gilt für Kants Entfaltung der Zeit als transzendentale Bedingung menschlicher Erkenntnis („Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“11) ebenso wie für die im Rahmen der von John McTaggart begründeten sprachanalytischen Zeitphilosophie aufgestellte These der Irrealität der Zeit („[N]othing that exists can be temporal, and […] therefore time is unreal“12). Jedoch genügt in Anlehnung an Augustinus bereits die einfache Reflexion des Zeitbewusstseins wie es gemeinhin Bestandteil des allgemeinen Lebensvollzuges ist, um in den Worten Hans-Georg Gadamers den „Prototyp aller echten philosophischen Verlegenheit“13 zu erzeugen und das Rätselhafte der Zeit offenkundig zu machen: Es bereitet dem Denken die größte Verlegenheit zu sagen, was die Zeit ist, weil kraft eines selbstverständlichen Vorbegriffs von dem, was ist, darunter stets das Gegenwärtige verstanden wird und die griechische Begriffstradition diese Vorannahme begrifflich verfestigt hat. Die Verlegenheit, in der sich das Denken verfängt, ist, daß Zeit im Jetzt der Gegenwärtigkeit ihr einziges Sein zu haben scheint, und doch ist ebenso klar, daß gerade in dem Jetzt der Gegenwärtigkeit Zeit als solche nicht gegenwärtig ist.14

Obwohl Zeitlichkeit eine grundsätzliche Bedingung jedweder menschlichen Erfahrung zu sein scheint, ist ihre reflexive Vergewisserung nur als Paradoxie zu erleben. Die sich auf die Vergangenheit und Zukunft erweitert ausdehnende Zeit im Bewusstsein des allgemeinen Lebensvollzuges scheint sich bei genauerer Betrachtung (auf einen gegenwärtigen ‚Punkt‘) zu reduzieren, da Vergangenheit und Zukunft jeweils nur als Gegenwart von ‚Vergangenem‘ und ‚Zukünftigem‘ vorzufinden sind. Vergangenheit wird also immer in einem gegenwärtigen Jetzt erlebt. Dies hat für Erzähltexte und ihre literaturwissenschaftliche Analyse natürlich weitreichende Bedeutung. Im Anschluss an Paul Ricœurs Begriff der „einheitlichen

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Sonja Rinofner-Kreidl: Mediane Phänomenologie: Subjektivität im Spannungsfeld von Naturalität und Kulturalität. Würzburg 2003, S. 222. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1974, Bd. 3, S. B 50. John Ellis McTaggart: „The Unreality of Time“. In: Mind. A Quarterly Review of Psychology and Philosophy 17 (1908), S. 456–473, hier S. 471. Hans-Georg Gadamer: „Über leere und erfüllte Zeit“. In: Ders.: Idee und Sprache. Platon, Husserl, Heidegger. Kleine Schriften, Band 3. Tübingen 1972, S. 221–236, hier S. 221. Gadamer (Anm. 13), S. 221.

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Vielfalt“15 dieser stets gegenwärtigen Zeiterfahrung hat Martin Middeke konstatiert, dass die „Grundaporie des ‚Jetzt‘“16 die zentrale Herausforderung für die Darstellung der Zeit in Erzähltexten sei, auf die der Roman mit zahlreichen narrativen Verfahren antwortet und die unweigerlich – sei es explizit oder implizit – die Diskussionen in der Forschung bestimmt:17 Zum einen ist das „Jetzt der Gegenwärtigkeit“18 in Gadamers oben zitiertem Sinne als die Unterbrechung, geradezu die Verneinung linear fortschreitender Zeit zu verstehen. Zum anderen lässt sich mit Augustinus19 oder Edmund Husserl20 die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft als konstitutiv für eben diesen (isolierten) Augenblick des „Jetzt der Gegenwärtigkeit“ verstehen, da Zeitbewusstsein die zeitliche Strukturiertheit jedes reellen Bewusstseinsinhalts voraussetzt. Wenn in der Philosophie das Jetzt Thema wird, ist aber nicht nur seine „einheitliche Vielfalt“, sondern auch seine Dauer fraglich. Ist das Jetzt eine ausdehnungslose Grenze oder eine kurze Zeitstrecke von bestimmter oder unbestimmter Dauer? Bereits im berühmten Platonischen Dialog Parmenides ist das Jetzt („to nyn“) als substantiviertes Adverb in dieser Hinsicht problematisch: Es ist sowohl als Zeitpunkt ohne Dauer als auch als Zeitstrecke interpretiert worden.21 Einflussreicher noch als die Exegese von Platons Zeitbegriff im Parmenides ist natürlich das berühmte Paradoxon, das einem seiner Dialogfiguren zugeschrieben wird. Zenons berühmtes Beispiel des fliegenden Pfeils, welcher die unbewegte Einheit des Seins beweisen soll, negiert die Möglichkeit von Bewegung und Veränderung im „Jetzt der Gegenwärtigkeit“. Ein fliegender Pfeil durchläuft ein zeitliches Kontinuum, welches, so scheint Zenon zu implizieren, nur aus Zeitpunkten besteht, von denen ein jeder nur als bewegungsloser Ort verstanden werden kann. Die Bewegung des Pfeils impliziert einen Ortswechsel. Doch kann ein Pfeil nicht in einem Moment an zwei Orten sein. Folglich ruht der Pfeil zu jedem Zeitpunkt in einer bewegungslosen Gegenwart. Aristoteles folgt in seiner Antwort auf Zenon der Einschätzung, dass jede endliche Zeitstrecke unendlich oft teilbar ist und somit jeder

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Vgl. Paul Ricœur: „Mimesis, Reference and Refiguration in ‚Time and Narrative‘“. In: Scripsi 5.4 (1989), S. 91–102, hier vor allem S. 93–97. Martin Middeke: „Zeit und Roman: Zur Einführung“. In: Ders. (Hrsg.): Zeit und Roman. Zeiterfahrung im historischen Wandel und ästhetischer Paradigmenwechsel vom sechzehnten Jahrhundert bis zur Postmoderne. Würzburg 2002, S. 1–20, hier S. 5. Vgl. Middeke (Anm. 16), S. 5–6. Gadamer (Anm. 13), S. 221. Vgl. z. B. Gadamer (Anm. 13), S. 221–224. Für eine neue Diskussion der von Husserl eingeführten Begriffe ,Impression‘, ,Retention‘ und ,Protention‘ vgl. z. B. Rinofner-Kreidl (Anm. 10), S. 222–239. Vgl. Niko Strohbach: „‚Jetzt‘ – Stationen einer Geschichte“. In: Thomas Müller (Hrsg.): Philosophie der Zeit. Frankfurt a. M. 2007, S. 45–72, hier S. 49.

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Zeitpunkt ohne Ausdehnung sein muss. Sein Einwand gegen Zenons Paradoxie ist schlicht der, dass eine Zeitstrecke nicht durch die Punkte konstituiert wird, in die man sie unterteilen kann. Somit impliziert Aristoteles Antwort, dass das als Zeitpunkt verstandene Jetzt keine Bewegung oder Veränderung erlaubt. Bewegung und Veränderung lassen sich nur für Zeitstrecken denken.22 Das Jetzt ruht paradoxerweise und ist als Ruhendes ohne Zeit: Zeit ist etwas, das gezählt werden kann, nicht die Zahl, mit der wir etwas zählen. Man kann die Zeit zählen, indem man je und je ein Jetzt feststellt. Die Zeit ist aber nicht die durch solche Zählungen gewonnene Zahl, die Anzahl der Jetzte, ebensowenig wie etwa eine Melodie die Anzahl ihrer Töne ist […]. Die Zeit verstehen wir […] vielmehr als Zahl im Sinne des die Jetzte zu einem Zusammenfügenden […]. Ebenso kann man eine Zeit in die Jetzte zerlegen, […] aber die Jetzte sind nicht Teile der Zeit.23

Somit ist das Jetzt des Aristoteles und des Zenon mathematisch darstellbar als unendlich kleiner Punkt auf einer Geraden. In einer solchen Darstellung wird gerade das Aporetische des Jetzt offenkundig, da sie nicht kompatibel mit dem menschlichen Erlebnis von Gegenwart ist. Die Aporie des Jetzt, das sich immer zugleich innerhalb und außerhalb der Zeit befindet, ist immer wieder überführt worden in eine Subjektivierung der Zeit. Mit Husserls Begriffen von Protention und Retention lässt sich die unmittelbare Vergangenheit und Zukunft als konstitutiv für den ‚Zeitpunkt‘ des „Jetzt der Gegenwärtigkeit“ verstehen. Der isolierte Zeitpunkt mag denkbar sein, erleben lässt er sich nicht. Ohnehin ist die Ontologie einer vom Bobachter unabhängigen Zeit nicht zuletzt seit Immanuel Kants Entfaltung der Zeit als transzendentale Bedingung menschlicher Erkenntnis fragwürdig. So ließe sich von Augustinus über Kant und Husserl eine Geschichte der Subjektivierung der Zeit schreiben, die in Maurice Merleau-Pontys Gedanken gipfelt, dass Subjektivität und Zeit identisch sind: Wir sagen vielmehr, die Zeit sei Jemand; denn insofern die Dimensionen der Zeit beständig einander überdecken und einander bestätigen, legen sie immer nur auseinander, was in einer jeden von ihnen auf implizite Weise schon anlag, sind sie sämtlich in eins der Ausdruck eines einzigen Sprunges, eines einzigen Dranges, der nichts anderes ist als die Subjektivität selber. Wir müssen die Zeit als Subjekt, das Subjekt als Zeit begreifen. Ganz offenkundig aber ist diese ursprüngliche Zeitlichkeit kein Nebeneinander äußerer Geschehnisse, da sie vielmehr das Vermögen ist, die diese zusammenhält, indem sie sie auseinanderhält. 24

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Vgl. Aristoteles: Physik. Buch IV, Kap. 10–14. In: Ders.: Werke. Bd. 11, hrsg. von Hans Wagner. Berlin 1995. Gernot Böhme: Zeit und Zahl. Studien zur Zeittheorie bei Platon, Aristoteles, Leibniz und Kant. Frankfurt a. M. 1974, S. 186. Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966, S. 480.

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Hier zeigt sich das unausweichliche Spannungsfeld zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen subjektiver Zeiterfahrung und seiner ‚objektiven‘ erzählerischen Vermittlung. Zeiterfahrung, so ließe sich in Anlehnung an Paul Ricœurs Analyse der ordnungsstiftenden Funktion narrativer Prä-, Kon- und Refigurationen argumentieren, besteht stets in dem Verhältnis von formgebender Struktur und aporetischer Gegenwärtigkeit des Jetzt. So gibt die narrative Struktur den Rahmen für die subjektive Zeiterfahrung vor. Zeiterfahrung wird immer narrativ vermittelt, narrative Struktur immer als Zeitlichkeit erfahren: Der „Zirkel von Narrativität und Zeitlichkeit [ist] aber kein circulus vitiosus, sondern ein gesunder Zirkel […], dessen beide Hälften einander wechselseitig stärken“.25 Dieser Zirkel ist für Ricœur die Antwort auf die Aporizität der Zeit, die er als dreifache kennzeichnet: Phänomenologische und kosmologische Zeit sind unvereinbar und aufeinander angewiesen; der Kollektivsingular einer einheitlichen Zeit lässt sich nicht mit der Pluralität diverser Zeitperspektiven in Einklang bringen; und, dies ist laut Ricœur die grundsätzlichere Aporie, die Zeit ist als unhintergehbarer Grund jeder Zeitbetrachtung unerforschlich.26 Diese Aporien sind Ricœurs philosophisches Erbe. Narrative Struktur ist aber nicht nur Antwort, sondern auch Bedingung der Möglichkeit solcher Aporien. Im Folgenden wird nun versucht, in diesem Sinne den ‚gesunden Zirkel‘ von narrativer und ordnungsstiftender Struktur narratologischer Kategorien und aporetischer Zeitlichkeit in Laurence Sternes Roman sichtbar zu machen. 1.2 Gérard Genette und die Zeiten der Erzählung Im 22. Kapitel des ersten Buches von Laurence Sternes The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman wird der Dialog der diegetischen Figuren Onkel Toby und Walter Shandy, die beide auf die Geburt des Helden der Erzählung warten, von dem extradiegetischen Erzähler Tristram mit einer höchst konventionellen Leserapostrophe unterbrochen: ——I wonder what’s all that noise, and running backwards and forwards for, above stairs, quoth my father, addressing himself, after an hour and a half’s silence, to my uncle Toby,——who you must know, was sitting on the opposite side of the fire, smoking his social pipe all the time, in mute contemplation of a new pair of black-plush-breeches which he had got on; — What can they be doing brother? quoth my father, — we can scarce hear ourselves talk.

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Paul Ricœur: Zeit und Erzählung [1983–1985]. 3 Bde. München 1988–1991, Bd. I: Zeit und historische Erzählung (1988), S. 13. Für eine neuere Darstellung Ricœurs Analyse der Aporizität der Zeit vgl. Inga Römer: Das Zeitdenken bei Husserl, Heidegger und Ricœur. Dordrecht 2010, S. 237–289.

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I think, replied my uncle Toby, taking his pipe from his mouth, and striking the head of it two or three times upon the nail of his left thumb, as he began his sentence,——I think, says he:——But to enter rightly into my uncle Toby’s sentiments upon this matter, you must be made to enter first a little into his character, the out-lines of which I shall just give you, and then the dialogue between him and my father will go on as well again.27

Dieses Versprechen löst der Erzähler zunächst nicht ein, sondern schweift in für den Roman typischer Weise ab und sinniert zunächst über die Korrelation, die seiner Ansicht nach zwischen der Unregelmäßigkeit des englischen Klimas und den grillenhaften Charakteren in England besteht, schreibt sich die Urheberschaft dieser Einsicht zu (Tristram datiert sie auf den 26. März 1759) und ordnet sie in den allgemeinen zirkulären Wissensfortschritt ein („this great harvest of our learning, now ripening before our eyes“, Sterne I/xxi). Diese Assoziationskette wird jäh unterbrochen, als der Erzähler vorgibt, sich an seinen Onkel Toby zu erinnern, der (immer noch) auf die Geburt eben dieses Erzählers wartet: „But I forget my uncle Toby, whom all this while we have left knocking the ashes out of his tobacco pipe“ (Sterne I/xxi). Was hier fragwürdig wird, sind unter anderem die konventionelle raumzeitliche Verortung von fiktiven Geschehenselementen, die Ontologie der erzählten Welt(en) sowie deren Gebundenheit an die Erzählzeit. Das klassische Verständnis von Erzählzeit im Sinne Günther Müllers28 scheint aber bei genauerer Betrachtung Zeitlichkeit lediglich zu implizieren. Die Zeit der Präsentation diegetischer Geschehnisse und Ereignisse, das extradiegetische Arrangement diegetischer Chronologie, wird gewöhnlich in Wörtern, Zeilen oder Seiten gemessen und nicht in Minuten oder Stunden. So lässt sich mit Gérard Genette die Ursache für das Komische und Überraschende einer solchen Synchronisierung von erzählter Zeit und Erzählzeit in der literarischen Konvention finden, dass die literarische Narration ein Akt sei, dessen Dauer für die Geschichte (histoire) ohne Relevanz ist: Eine der Fiktionen der literarischen Narration, und vielleicht die stärkste, da man sie fast nicht bemerkt, ist die, daß es sich hierbei um einen instantanen Akt ohne zeitliche Ausdehnung handelt. Manchmal wird er zwar datiert, aber gemessen wird er nie: Wir wissen, daß Monsieur Homais gerade das Kreuz der Ehrenlegion bekommen hat, als der Erzähler diesen letzten Satz niederschreibt, wissen aber nicht, was in dem Moment geschah, als er den ersten schrieb. […] Was diese bei-

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Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman [1759–67]. 3 Bde. Hrsg. von Melvin und Joan New. Gainesville, FL 1978–84, I/xxi. Im Folgenden wird der Roman im Haupttext nachgewiesen. Günther Müller: „Erzählzeit und erzählte Zeit“. In: Festschrift für Paul Kluckhohn und Hermann Schneider. Tübingen 1948, S. 195–212.

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den Momente der narrativen Instanz voneinander trennt, ist ja bloß der unzeitliche Raum der Erzählung als Text.29

Da die beiden oben zitierten Passagen aus Tristram Shandy, so die Logik Genettes, dem Leser nur als récit zugänglich sind, trennt diese beiden Momente nicht die Dauer der Digression (beispielsweise die Zeit, die benötigt wird, die Abschweifung zu erzählen), sondern „bloß der unzeitliche Raum der Erzählung als Text“. Die Dauer der Sterneschen Digression widerspricht aber in ihrer eigentümlichen Simultaneität mit der Zeitlichkeit des diegetischen Universums eben jener Verfasstheit der späteren literarischen Narration, die laut Genette von dem Paradox lebt, „daß sie zugleich eine zeitliche Stelle hat (in Bezug auf die vergangene Geschichte) und ein unzeitliches Wesen, da sie über keine eigene Dauer verfügt“.30 In einer Fußnote legt Genette dar, dass er dieses „unzeitliche Wesen“ im wörtlichen Sinne räumlich fasst: „Zeitangaben der Art ‚wir haben bereits gesagt‘, ‚wir werden später sehen‘ usw. beziehen sich in Wirklichkeit nicht auf die Zeitlichkeit der Narration, sondern auf den Raum des Textes (=wir haben oben gesagt, wir werden unten sehen…) und die Zeitlichkeit der Lektüre“.31 Dass „der unzeitliche Raum der Erzählung als Text“ in der Lektüre von Laurence Sternes Roman fragwürdig wird, lässt sich mit dem metaleptischen Potential der eben oder oben zitierten Textstelle verdeutlichen. Dies ist eine von vielen Stellen, die sich im Anschluss an Marie-Laure Ryan und Monika Fludernik als rhetorische Metalepse interpretieren lässt.32 Die ‚projizierte Simultaneität‘33 des narrativen Erzählaktes und des Geschehnisses in der erzählten Welt impliziert eine Bewegung, möglicherweise des extradiegetischen Erzählers, die die strikte Trennung diegetischer Ebenen verneint. Zumindest scheint die gemäß des ‚Prototyps natürlichen Erzählens‘ darstellungslogisch notwendige Unterscheidung zweier raumzeitlicher Positionen (der Diegese und der Extradiegese) hier im strengen Sinne unmöglich zu werden. Die Zeitlichkeiten der Welt, von der erzählt wird, und der Welt, in der erzählt wird, scheinen sich in der „einheitlichen Vielfalt“ einer Gegenwart zu vereinen. Es ist hier gleichsam so, als würde der Erzähler Tristram die Bühne usurpieren, auf der sich die Elemente des Geschehens seinen Anordnungen gemäß abspielen, um dann während eines abschweifenden Einschubs seine Rolle als die Diegese kontrollierende und/oder erzeugende Instanz zu vergessen; unterdes-

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Genette (Anm. 8), S. 159. Genette (Anm. 8), S. 159. Genette (Anm. 8), S. 159. Vgl. Monika Fludernik: „Scene Shift, Metalepsis, and the Metaleptic Mode“. In: Style 37/4 (2003), S. 382–400. Vgl. Fludernik (Anm. 32), S. 387.

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sen agieren die Schauspieler/Figuren weiterhin unverdrossen seinen letzten Beschreibungen entsprechend hinter seinem Rücken – natürlich ohne seine Existenz zu bestätigen. Es ist naheliegend, eine solche metaleptische Transgression als ein Fiktionssignal zu lesen. Die Zeitlichkeit der Diegese entsteht erst in der erzählerischen Vermittlung, in der sie hier, so eine Implikation der Logik dieser Textstelle, ausschließlich ihren Ort zu haben scheint. Was für Genettes These der Konvention „des unzeitlichen Raumes der Erzählung als Text“ spricht, ist, dass eine solche Analyse nur retrospektiv möglich wird. Erst in dem Moment, in dem Tristram Shandy die Zeit des vermittelten Geschehenszusammenhangs und die Zeit des Diskurses synchronisiert, ist der Leser gezwungen, die Erzählsituation zu rekonstruieren und mit dieser rekonstruierten Erzählsituation (womöglich) den diegetischen Status des Erzählers Tristram zu korrigieren. Die chronotopischen Deiktika, die der Erzähler verwendet, beziehen sich gleichzeitig auf die Welt, in der, und auf die Welt, von der erzählt wird, und negieren so die darstellungslogische Basis aufgrund derer diegetische Ebenen oder diegetische Universen konstruiert und unterscheidbar werden. In der Konfrontation mit einem metaleptischen Spiel dieser Art wird dem Leser vorgeführt, mit welchen konventionellen Annahmen er zum hermeneutischen Dialog zwischen Text und Leser beiträgt. Dabei werden grundsätzliche Bedingungen des Verstehens literarischer Texte offenkundig: zum einen die, dass sogar transgressive und illusionsstörende narrative Verfahren die Schemata des ‚natürlichen Erzählens‘ voraussetzen. Ohne die Vorstellung einer Zeit, anhand derer es gemäß des allgemeinen Lebensvollzuges möglich wird, die Gegenwart des Erzählens und die ‚Gegenwart‘ der erzählten Vergangenheit kategorial zu trennen, sind die konventionelle Erzählung und die metaleptische Transgression gleichermaßen unmöglich. Und zum anderen wird deutlich, dass die raumzeitlichen Dimensionen erzählter Welten nicht nur untrennbar mit dem Verstehensprozess zusammenhängen, sondern erst in diesem entstehen. Die Diegese bekommt ihre Zeitlichkeit also nur im aporetischen ‚Jetzt‘ des Erzählens zugeschrieben, das in der hermeneutischen Situation entsteht, die Autor, Text und Rezipienten einschließt. Es ist interessant, dass dies laut Genette lediglich für die schriftliche Erzählung als Text gilt, die er als einen Raum beschreibt, der seine Zeitlichkeit metonymisch erhält: [I]hre Zeitlichkeit ist gewissermaßen bedingt oder instrumentell; […] die schriftliche Erzählung [existiert] im Raum und als Raum, und die Zeit, die man braucht, um sie zu „konsumieren“, ist die, die man braucht, um sie zu durchlaufen oder zu durchmessen – wie eine Straße oder ein Feld. Der narrative Text hat, wie

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jeder andere Text, keine andere Zeitlichkeit als die, die er metonymisch von seiner Lektüre empfängt.34

Folgerichtig nennt Genette die Erzählzeit eine „Quasi-Fiktion“, eine „falsche Zeit, die einer echten ähnlich sieht“,35 und untersucht ihr Verhältnis zu der Zeit der Geschichte anhand der bekannten Bestimmungen Ordnung, Dauer und Frequenz explizit als „Pseudo-Zeit“.36 Eine der interpretatorischen Möglichkeiten, die sich im Dialog mit Tristram Shandy ergeben, ist, wie bereits angedeutet, die Entlarvung der diegetischen Zeit als eine ebensolche „Pseudo-Zeit“, die ihre Zeitlichkeit ebenso wie die Erzählzeit metonymisch im Verstehensprozess erhält, also in jener Zeit, die benötigt wird, um der Linearität des sprachlichen Zeichens zu folgen. 1.3 Erzählte Zeit – Erzählzeit – Erzählerzeit Die bisherige Untersuchung zeigt, dass eine weitere narratologische Unterscheidung im Umgang mit Tristram Shandy selbst dann unerlässlich wird, wenn die ‚vulgäre Zeit‘ des allgemeinen Lebensvollzuges und die Zeitlosigkeit des ‚Textraumes‘ als Grundlage der Beschreibung von Zeitphänomenen vorausgesetzt werden. Die gängige Kombination einer Chronologie des Dargestellten und einer (abweichenden) Linearität der Darstellung lässt außer Acht, dass ein Roman wie Tristram Shandy zusätzlich eine Chronologie der Darstellung entwirft und den Leser immer wieder zwingt, diese – besonders im Verhältnis zur Dauer der Diegese – zu rekonstruieren. Dessen war sich Genette natürlich bewusst, und so schreibt er über die erzählerische Vermittlung in Madame Bovary, sie scheine „wie in fast allen Romanen mit Ausnahme von Tristram Shandy, keinerlei Dauer in Anspruch genommen zu haben, oder genauer gesagt, die Frage ihrer Dauer scheint belanglos zu sein“.37 Was die Analyse der erzählten Zeiten in Tristram Shandy verlangt, ist also eine zusätzliche Differenzierung zu der doppelten Zeitlichkeit der klassischen deutschen und französischen Erzähltheorie. Neben der Zeitlichkeit der Diegese und der „PseudoDauer“38 der Erzählzeit (nach Genette „faktisch die Textlänge“39) ist es unumgänglich, noch die Zeit, die in der Welt vergeht, in der der Erzähler von der Diegese erzählt, in den Blick zu nehmen. Silke Lahn und Jan Christoph Meister schlagen für diese Zeitebene den Terminus „Erzähler-

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Genette (Anm. 8), S. 21–22. Genette (Anm. 8), S. 22. Genette (Anm. 8), S. 22. Genette (Anm. 8), S. 159. Genette (Anm. 8), S. 22. Genette (Anm. 8), S. 22.

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zeit“ vor, die sie als „die Zeit des Erzählers bzw. die Dauer seines Erzählaktes“40 definieren. Mit und im Anschluss an Genette lassen sich also erzählte (diegetische, metadiegetische, etc.) Zeit(en), Erzählzeit und Erzählerzeit unterscheiden. Das Beispiel aus Tristram Shandy verdeutlicht, auf welcher instabilen Basis diese Unterscheidungen ruhen: In dem „unzeitlichen Raum der Erzählung als Text“ sind distinkte raumzeitliche Positionen verborgen, die ihre Zeitlichkeiten jeweils metonymisch in dem (aporetischen) ‚Jetzt‘ des Verstehensprozesses erhalten. Die Darstellungslogik des ‚natürlichen Erzählens‘ erfordert, dass mindestens zwei Zeitlichkeiten synchronisiert werden, wenn die ‚Vergangenheit‘ des diegetischen Geschehens (beispielsweise in Tristram Shandy) einem Leser gegenwärtig wird. Die projizierte Simultaneität von Diegese und Extradiegese in Tristram Shandy macht auf spielerische Art und Weise offenkundig, dass die Welten, von denen erzählt wird (erzählte Zeit), und die Welt(en), in denen erzählt wird (Erzählerzeit), keine Zeitlichkeit besitzen, die von dem hermeneutischen Akt, in welchem sie verstanden werden (jener Akt, der in eigentümlicher Weise die ‚Pseudo-Zeit‘ der Erzählzeit generiert), zu unterscheiden wären. Obwohl die konventionelle Darstellungslogik voraussetzt, dass diesen raumzeitlichen Positionen eine jeweils eigene Zeitlichkeit zugeschrieben wird, ist die erzählte Zeit, und dies gilt in besonderem Maße für fiktionales Erzählen, nur als ‚Gegenwart‘ der ‚Vergangenheit‘ zu erfahren. Die hier offen gelegten Aporien des Jetzt zerbrechen im „Zirkel von Narrativität und Zeitlichkeit“41 gewissermaßen die Struktur des ‚unzeitlichen Raumes einer objektiven Zeit‘ – eine Struktur, die für die narrative Konfiguration einer Erzählung dennoch unerlässlich bleibt. Nicht zuletzt ist es eben diese Struktur des ‚unzeitlichen Raumes einer objektiven Zeit‘, welche die Aporien des Jetzt überhaupt sichtbar und kommunizierbar macht. Ebenso entsteht die Struktur narrativer Konfiguration in einer hermeneutischen Situation, in deren Zentrum die Gegenwärtigkeit eines aporetischen Jetzt steht. So ermöglichen und verneinen sich die Struktur der Erzählung und die aporetische Zeitlichkeit wechselseitig. Im Folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, auf dieser Basis die erzählte Zeit(lichkeit) in Tristram Shandy in den Blick zu nehmen und zu untersuchen, inwieweit Laurence Sterne unkonventionelle narrative Verfahren verwendet; Verfahren, die die Simultaneität von Zeiten vordergründig machen, die dem Verstehen literarischer Texte zugrunde liegt. Diese Simultaneität von Zeiten ist einerseits eingeschlossen in den „un-

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Silke Lahn/Jan Christoph Meister: Einführung in die Erzähltextanalyse. Stuttgart/Weimar 2008, S. 136. Ricœur (Anm. 25), S. 13.

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zeitlichen Raum der Erzählung als Text“ und entfaltet sich andererseits als aporetische Gegenwart. 2. Laurence Sternes Tristram Shandy und die Erzählung der Zeiten Über die Zeitdarstellung in Tristram Shandy ist bereits viel geschrieben worden. Einer der frühesten theoretischen Texte zu Tristram Shandy, der das einflussreich getan hat, stammt bekanntermaßen von dem russischen Formalisten Viktor Šklovskij. Šklovskij hat im Rahmen seines formalistischen Ansatzes argumentiert, dass bei Laurence Sternes Meisterwerk „das Bewußtwerden der Form mit Hilfe ihrer Auflösung zum Inhalt des Romans“42 geworden sei. Bezeichnenderweise postuliert Šklovskij (und das explizit im Unterschied zu Tristram Shandy) eine Motivierung für die große Anzahl der zeitlichen Verschiebungen oder ‚Umstellungen‘ im Roman, die aus der Logik des Geschehens resultieren (mit ‚Umstellungen‘ bezeichnet er narrative Anachronien): Puškin hat in seinen „Geschichten von Boldino“, etwa in der Erzählung „Der Schuß“, die zeitliche Umstellung reichlich verwendet. Wir sehen dort Sil’vio zuerst bei Schießübungen, danach hören wir Sil’vio von seinem nicht beendeten Duell berichten, dann begegnen wir dem Grafen, Sil’vios Feind, und erfahren die Lösung der Erzählung. Die Teile erscheinen hier in der Reihenfolge: II-I-III. Doch sehen wir hier eine Motivierung dieser Umstellung. Sterne lieferte sie in der Bloßstellung.43

Die berühmte „Bloßlegung des Verfahrens“44 besteht bei Sterne also in der fehlenden Motivierung der narrativen Anachronien. Ohne eine solche Motivierung wird das narrative Verfahren an sich sichtbar: „Die künstlerische Form wird außerhalb jeder Motivierung, einfach als solche, dargeboten“.45 Sterne legt jedoch nicht nur die Form des narrativen Verfahrens bloß, das nach Šklovskij in der zeitlichen Umstellung einer objektiven Sukzessionszeit auf der Ebene der Darstellung besteht, sondern ebenso die Möglichkeit literarischen Erzählens, mithilfe chronotopischer Deiktika den Leser anzuleiten, Geschehenselemente in narrativen Welten zu verorten. Das wird besonders in dem Moment deutlich, in dem Tristram mit solchen Deiktika eine Simultaneität von Zeiten erzeugt. Tristram, der im siebten Kapitel als schreibendes Ich mit dem erwachsenen erlebenden Ich

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Viktor Šklovskij: „Der parodistische Roman. Sternes ‚Tristram Shandy‘“. In: Jurij Striedter (Hrsg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1: Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969, S. 245–299, hier S. 251. Šklovskij (Anm. 42), S. 251. Šklovskij (Anm. 42), S. 251. Šklovskij (Anm. 42), S. 251.

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zeitlich fast identisch ist, demonstriert in typischer Weise, wie sich mithilfe des récit, wie sich mithilfe narrativer Konventionen die Zeiten zweier diegetischer Reisen und der Moment ihrer Darstellung vereinigen lassen – ‚mit dem gleichen Federzug‘: ——Now this is the puzzled skein of all——for in this last chapter, as far at least as it help’d me through Auxerre, I have been getting forwards in two different journies together, and with the same dash of the pen—for I have got entirely out of Auxerre in this journey which I am writing now, and I am got halfway out of Auxerre in that which I shall write hereafter——There is but a certain degree of perfection in every thing; and by pushing at something beyond that, I have brought myself into such a situation, as no traveller ever stood before me; for I am this moment walking across the market-place of Auxerre with my father and my uncle Toby, in our way back to dinner——and I am this moment also entering Lyons with my post-chaise broke into a thousand pieces—and I am moreover this moment in a handsome pavilion built by Pringello, upon the banks of the Garonne, which Mons. Sligniac has lent me, and where I now sit rhapsodizing all these affairs. ——Let me collect myself, and pursue my journey. (Sterne VII/xxviii)

Diese oft zitierte Passage hat erneut metaleptisches Potential: Das Zeitdeiktikum „this moment“ bezieht sich auf die diegetischen Ereignisse in Auxerre (der Jugendliche Tristram auf der sogenannten grand tour mit seinen Eltern und Onkel Toby) und Lyon (der erwachsene, vor dem Tod fliehende Tristram) sowie auf den ‚Pavillon an den Ufern der Garonne‘, der der Ort des extradiegetischen Narrationsaktes ist. Robert Gorham Davis hat argumentiert, dass Tristram nur in einer dieser drei Situationen physisch präsent ist, nämlich in der Welt, in der er erzählt und von wo aus er sich an die diegetischen Welten erinnert. Aus der Perspektive des Lesers allerdings sind diese Situationen insofern identisch, als „[t]hese three experiences […] have the same availability. Real time for the reader is the present time of reading and imagining, and in relation to that real time, all past events have the same status, in that their imaginative availability is not affected by their relative distance in a suppositious chronological past“.46 Jedoch, ließe sich hier einwenden, stellt das metaleptische Potential dieser Passage gerade die Vorstellung in Frage, dass es eine reale Zeit, eine ‚real time‘ gibt, die eine stabile und ununterbrochene imaginative Zugänglichkeit zum erzählten Geschehen ermöglicht. Solch eine Zugänglichkeit setzt die unproblematische Gleichzeitigkeit der Kombination einer Gegenwart einer Erfahrung (Lese- oder Schreiberfahrung) mit der imaginierten Vergangenheit eines Geschehens voraus. Die projizierte Simultaneität der diegetischen Orte Lyon und Auxerre sowie der fiktiven Extradiegese von

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Robert Gorham Davis: „Sterne and the Delineation of the Modern Novel“. In: Arthur H. Cash u. a. (Hrsg.): The Winged Skull. London 1971, S. 21–41, hier S. 33.

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Garonne ist ein Spiel, in dem die objektive Sukzessionszeit der Diegese zerfällt in die subjektiv dimensionierte Zeitordnung des extradiegetischen ‚Jetzt‘. Dieses Erzählen, so wird hier demonstriert, ist in gewisser Hinsicht unmöglich: Mehrere raumzeitliche Perspektiven der diegetischen (Pseudo-)Vergangenheiten und der extradiegetischen (Pseudo-)Gegenwart des Erzählers (vermittelt von der Pseudo-Zeit der Erzählzeit) können weder aus Sicht des Erzählers noch aus Sicht des Rezipienten gleichzeitig erfahren werden. Die Simultaneität diverser „Gegenwärtigkeiten“, die konventionelles Erzählen ausmacht, ist hier als Unmöglichkeit bloßgelegt. Der letzte Satz des 23. Kapitels aus Buch Sieben („Let me collect myself, and pursue my journey“) mag sich auf alle drei ‚Erfahrungen‘, auf alle drei raumzeitliche Perspektiven beziehen lassen, aber der Rezipient kann sie im ‚Jetzt der Gegenwart‘ der Lektüre-Zeit entweder als gleichzeitiger Bestandteil einer raumzeitlichen Perspektive imaginieren oder als Sukzession. So lässt sich folgern, dass die ‚real time‘ der Lese-Erfahrung eine weitere (vierte) zeitliche Perspektive hinzufügt, die jedoch das vorgestellte Dilemma nicht lösen kann: Dass eine Simultaneität diverser Perspektiven schlussendlich ein Paradox bleibt, welches immer in die Singularitäten der involvierten Perspektiven zerfällt. Darum vermag Robert Gorham Davis’ Schlussfolgerung, „the treatment of time in Tristram Shandy […] is not as difficult or paradoxical as it is sometimes made to be“,47 nicht zu überzeugen. Leicht abgewandelt könnte man vielmehr sagen: ‚the treatment of time in more conventional fiction is not as logical and consistent as it is sometimes made to be‘ – da die Abhandlung der Zeit im Roman gewöhnlich das Paradox vorenthält, das Tristram Shandy offenlegt: Obwohl die fiktive Erzählung es konventionell verdeckt, entsteht in jedem Leseakt notwendig eine komplexe Struktur von Zeiten, in deren Zentrum die aporetische ‚Gegenwart‘ einer (fiktiven) Vergangenheit steht. Der fiktive Erzähler Tristram kann nicht gleichzeitig die Perspektiven seines erlebenden Ichs und seine Erzählerperspektive einnehmen; und der Leser kann nicht gleichzeitig die Erfahrung des Lesens (die Zeit, die für den Leseakt benötigt wird) und die Erfahrung der imaginativen Zeit, die in der Diegese verstreicht, fokussieren. Mysteriöserweise sind beide Zeitlichkeiten im récit eingeschlossen oder enthalten. Der Einwand, es gäbe einen qualitativen Unterschied zwischen der ‚real time‘ des Lesens und der Konstruktion einer diegetischen Zeit, basiert auf eben jener Annahme, die in der Zeitdarstellung Laurence Sternes fragwürdig wird: Dass eine diegetische Zeit unabhängig von der ‚real time‘ sei, die für die Konstruktion diegetischer Zeit notwendig ist.

____________ 47

Davis (Anm. 46), S. 33.

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Rhetorische Metalepsen in Tristram Shandy verunmöglichen die Vorstellung, dass die erzählte Zeit eine präexistente Struktur sei, die im Sinne David Hermans verstanden werden kann als „some abstract story which subtends all the possible discursive manifestations of a given narrative“.48 Die Zeit der erzählten Welt wird von Laurence Sternes/Tristram Shandys eigenwilliger Erzählzeit (‚faktisch der Textlänge‘) in der Lese-Erfahrung realisiert und ist somit instabil – insbesondere da sie abhängig ist von dem als Erfahrung inszenierten Erzählakt Tristram Shandys. Eine solchermaßen erzählte Zeit ist nicht mit der Vorstellung einer chronologischen gleichmäßig voranschreitenden Sukzession zu harmonisieren. Vielmehr sind die subjektiven Erfahrungen der diegetischen Figuren der Erfahrung ihrer Vermittlung ähnlich. Sie können nicht präsentiert werden in der „‚timeless time‘ […] of the imagination“,49 sondern nur als eine Erfahrung in der Zeit, die als Vorstellungsinhalt Gegenwärtigkeit besitzt. Hierfür finden sich in Tristram Shandy zahlreiche Beispiele. Das Beispiel mit Onkel Toby, der noch elf Kapitel lang (Erzählzeit) seine Pfeife ausklopfen muss, bis er seinen Satz in Kapitel II/vi beendet, wird mit Tristrams Mutter Elisabeth in etwas komplizierterer Weise wiederholt. Nach einer minutiösen Beschreibung seiner Mutter, die an der Wohnzimmertüre lauscht, fährt der Erzähler fort: „In this attitude I am determined to let her stand for five minutes: till I bring up the affairs of the kitchen (as Rapin does those of the church) to the same period“ (Sterne V/v). Nach einigen Digressionen (die man nicht in fünf Minuten lesen kann) wird dann Trims Rede in der Küche über den Tod erzählt. Als Trim gerade anhebt, vor den versammelten Bediensteten die Geschichte von Le Fever zu erzählen, gibt der Erzähler vor, sich an seine Mutter zu erinnern: „I am a Turk if I had not forgot my mother, as if Nature had plaistered me up, and set me down naked upon the banks of the river Nile without one“ (Sterne V/xi). Hier werden nicht nur mehrere diegetische Schauplätze und die Erzählerzeit synchronisiert, sondern auch die Erzählzeit (der récit). „She [Elizabeth Shandy, J. H.] listened to it with composed intelligence, and would have done so to the end of the chapter, had not my father plunged (which he had no occasion to have done) into that part of the pleading where the great philosopher reckons up his connections, his alliances, and children“ (Sterne V/xiii, Hervorhebung im Original). Die unterbrochene Geschichte von Le Fever wird dann schlussendlich einen Band später erzählt – jedoch nicht von Corporal Trim: Then, brother Shandy, answered my uncle Toby, raising himself off the chair, and laying down his pipe to take hold of my father’s other hand, — I humbly beg

____________ 48 49

David Herman: Story Logic. Problems and Possibilities of Narrative. Nebraska 2004, S. 214. Dorothy Van Ghent: The English Novel. Form and Function. New York 1953, S. 92.

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I may recommend poor Le Fever’s son to you; ——a tear of joy of the first water sparkled in my uncle Toby’s eye, — and another, the fellow to it, in the corporal’s, as the proposition was made;——you will see why when you read Le Fever’s story: ——fool that I was! nor can I recollect, (nor perhaps you) without turning back to the place, what it was that hindered me from letting the corporal tell it in his own words; — but the occasion is lost, — I must tell it now in my own. (Sterne VI/v)

Ein möglicher Zugang zu dieser komplexen Konfiguration besteht in dem seltsamen Verhältnis von Erzählerzeit und erzählter Zeit: Der vorgetäuschte Kontrollverlust impliziert, dass die diegetische Figur in gewisser Hinsicht extradiegetisch-real ist; insofern nämlich, als sie nicht als diegetisches Geschehenselement, als Teil einer chronologischen Sukzession kontrollierbar ist. Trims diegetische Zeit ist unwiederbringlich verloren, wenn der extradiegetische Erzähler sie nicht festhält. Das narrative Verfahren der rhetorischen Metalepse konfrontiert den Erzähler mit einer Zeitlichkeit, die er sich nicht in konventioneller Weise aneignen kann: Seine Fiktionen lassen sich nicht als Pseudo-Zeit in einer ontologisch distinkten und schlussendlich chronologisch und gleichmäßig sukzessiven Diegese entwerfen, die sich in der ‚timeless time of the imagination‘ unproblematisch darstellen lässt. Die rhetorische Metalepse versorgt die diegetischen Figuren mit einer Qualität der unmittelbaren ‚Gegenständlichkeit‘ und Zeitlichkeit aus Sicht des Erzählers. Die Figuren scheinen, wie gesagt, extradiegetisch zu sein. In seiner Darstellung einer Passage (III/xx50), die meiner Ansicht nach eine rhetorische Metalepse darstellt, analysiert Rüdiger Imhof treffend, dass diese Textstelle impliziert, dass „the characters are real people with individual interests to be accounted for and therefore with a certain amount of control over their author“.51 In ähnlicher Weise vertritt Jean-Jacques Mayoux die These, dass „[i]n a remarkable manner, Sterne’s world is a world of bodies alive“.52 Es ist gewiss im Rahmen der interpretativen Möglichkeiten, dass rhetorische Metalepsen in Tristram Shandy in diesem Sinne analysiert werden: Die räumliche und zeitliche Synchronisation diegetischer Ebenen und extradiegetischer Ebenen kreiert den Effekt, dass die Figuren unkontrollierbar real scheinen, da sie nicht als Teil einer der Extradiegese untergeordneten Diegese zu umfassen sind. Die so erzählten Figuren widersetzen sich insbesondere in ihrer unaufhaltsamen,

____________ 50 51 52

„All my heroes are off my hands;——’tis the first time I have had a moment to spare,— and I’ll make use of it, and write my preface“ (Sterne III.xx). Rüdiger Imhof: Contemporary Metafiction: A Poetological Study of Metafiction in English since 1939. Heidelberg 1986, S. 110. Jean-Jacques Mayoux: „Variations on the Time-Sense in Tristram Shandy“. In: Arthur H. Cash u. a. (Hrsg.): The Winged Skull. London 1971, S. 3–20, hier S. 11.

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unwiederbringlichen Zeitlichkeit konventionellem Erzählen. Der paradoxe Humor eines solchen metaleptischen Realismus liegt natürlich in der Tatsache, dass solcherlei narrative Verfahren primär Fiktionssignale darstellen. Eine weitere Passage, die das Verhältnis von Erzählzeit, erzählter Zeit und Erzählerzeit bloßlegt, findet sich in Band VII: No matter how, or in what mood—but I flew from the tomb of the lovers— […] and just got time enough to the boat to save my passage;—and e’er I had sailed a hundred yards, the Rhône and the Sâon met together, and carried me down merrily betwixt them. But I have described this voyage down the Rhône, before I made it——— ——So now I am at Avignon—and as there is nothing to see but the old house, in which the duke of Ormond resided, and nothing to stop me but a short remark upon the place, in three minutes you will see me crossing the bridge upon a mule, with Francois upon a horse with my portmanteau behind him, and the owner of both, striding the way before us with a long gun upon his shoulder, and a sword under his arm, least peradventure we should run away with his cattle. (Sterne VII/xli)

Hier hat der Erzähler offensichtlich das diegetische Geschehen überholt, das er darzustellen vorgibt. Ebenso hat er zusammen mit seinem Leser in für rhetorische Metalepsen typischer Weise eine charakteristische Bewegung in die erzählte Welt der Diegese vollzogen, in der er nun präsent und unsichtbar auf sein erlebendes Ich wartet. Obwohl dieses erlebende Ich und dessen Entourage noch nicht angekommen sind, wird es dennoch beschrieben. Dies ist keinesfalls eine typische Prolepse, da die Erzählerzeit, die Zeitlichkeit des Erzählaktes mit einem diegetischen ‚Jetzt‘ synchronisiert ist. Während wir als Leser auf die Entfaltung des erzählten Geschehnisses warten, sind wir mit einem humoristischen Paradox konfrontiert: In drei Minuten sollen wir das diegetische Geschehnis ‚sehen‘. Aber alles, was wir sehen können, ist der Text, der récit. Die instabile Simultaneität von erzählter Zeit auf die in der Erzählerzeit gewartet werden muss, die die Erzählzeit aber schon präsentiert, betont, ganz im Sinne der oben beschriebenen Antinomien der Zeit, den aporetischen Charakter jeder erzählerischen Vergegenwärtigung von (fiktiver) Vergangenheit, deren zeitliche Strukturierung durch den „unzeitlichen Raum der Erzählung als Text“ eine objektive diegetische Sukzession suggeriert, die Laurence Sterne hier in ihrer paradoxen Zeitlichkeit parodiert. Insbesondere das Kapitel xviii des dritten Bandes von Tristram Shandy offeriert eine humoristische Illustration der ‚Grundaporie des Jetzt‘ und der Unmöglichkeit objektiver diegetischer Sukzession mithilfe der berühmten Gedankenfolge („succession of ideas“) von John Locke, mit der Walter Shandy das Erlebnis der Dauer zu erklären sucht. Am Anfang des Kapitels wundert sich Walter über sein Zeitempfinden; obwohl laut seiner

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Uhr zwei Stunden und zehn Minuten vergangen sind, seit Dr. Slop angekommen ist, scheint ihm mehr Zeit verstrichen zu sein („[T]o [his] imagination it seems almost an age“, Sterne III/xviii). Diese Einschätzung ist mit der Absicht verbunden, seinem Bruder einen gelehrten Vortrag über die Zeit zu halten und so bereitet Walter eine „metaphysical dissertation on the subject of duration and its simple modes“53 vor. Betrüblicherweise für Walter Shandy ist es dessen Bruder Onkel Toby, der die subjektive Gedankenfolge als Grund dafür anführt, dass die zwei Stunden Ewigkeiten dauern. Schlussendlich wird die Ausführung der „succession of ideas“, die Walter Shandy sich nicht nehmen lässt, von einer eigenen ‚Gedankenfolge‘ von Onkel Toby in der folgenden Art und Weise unterbrochen: Now, whether we observe it or no, continued my father, in every sound man’s head, there is a regular succession of ideas of one sort or other, which follow each other in train just like——A train of artillery? said my uncle Toby.—A train of a fiddle stick!—quoth my father,—which follow and succeed one another in our minds at certain distances, just like the images in the inside of a lanthorn turned round by the heat of a candle.—I declare, quoth my uncle Toby, mine are more like a smoak-jack.——Then, brother Toby, I have nothing more to say to you upon the subject, said my father. (Sterne III/xviii)

Walter Shandys Simile für die Gedankenfolge sind die Bilder im Inneren einer Laterne, die von der Wärme einer Kerze gleichmäßig gedreht werden. Auf diese geordnete „succession of ideas“ folgt Onkel Tobys assoziative Betrachtung, die ganz und gar nicht mit der zeitlichen Strukturierung einer klaren linearen Abfolge von singulären aufeinander folgenden Bildern oder Ereignissen des lanthorn zu vereinen ist. Die Rauchbilder, die in Onkel Tobys Kopf einander folgen, sind nicht voneinander zu trennen und somit nicht in ein objektives temporales Verhältnis von Vorher und Nachher zu bringen: So wird Onkel Tobys Kopf von dem Erzähler Tristram beschrieben als ein solcher „smoak-jack;——the funnel unswept, and the ideas whirling round and round about in it, all obfuscated and darkened over with fuliginous matter!“ (Sterne III/xix). Einer der Gründe, warum Walter seinen Monolog entnervt beendet, ist diese dialogische Störung, die sich antithetisch zu seinen Ausführungen verhält. Das Simile von Uncle Toby impliziert die traumwandlerische und achronologische Gleichzeitigkeit nicht voneinander zu unterscheidender Entitäten. Diese Implikationen haben auf Walter einen nachhaltigen Effekt:

____________ 53

Dies ist der exakte Titel des 14. Kapitels des zweiten Buches von John Lockes An Essay Concerning Human Understanding. In Kapitel III/xviii legt Laurence Sterne Walter Shandy darüber hinaus einen ganzen Paragraphen des Kapitels „Of Duration, and its simple Modes“ in den Mund. Vgl. Sterne III/xviii und John Locke: An Essay Concerning Human Understanding [1689]. Indianapolis 1986, S. 79–83.

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Tho’ my father persisted in not going on with the discourse,—yet he could not get my uncle Toby’s smoack-jack out of his head,—piqued as he was at first with it;——there was something in the comparison at the bottom, which hit his fancy; for which purpose […] he began to commune with himself and philosophize about it: but his spirits being wore out with the fatigues of investigating new tracts, and the constant exertion of his faculties upon that variety of subjects which had taken their turn in the discourse,—the idea of the smoak-jack soon turned all his ideas upside down,—so that he fell asleep almost before he knew what he was about. As for my uncle Toby, his smoak-jack had not made a dozen revolutions, before he fell asleep also.—Peace be with them both. (Sterne III/xx)

In dem Moment, in dem Walters Erklärung der Locke’schen „succession of ideas“ mit Onkel Tobys eigentümlichen Simile konfrontiert wird, ist das Resultat die scheinbar zufällig assoziative und zeitlose Konfusion des träumenden Schlafenden. So demonstriert Toby die Existenz jener ‚Ideen‘, die nicht innerhalb einer Extensität der Zeit, die sich über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft erstreckt, einen festen (temporalen) Platz zugewiesen bekommen können. Hier ließe sich mit Sterne schlussfolgern, dass die diegetische Chronologie des lanthorn immer nur in dem smoak-jack einer aporetischen Gegenwart erfahren werden kann. Auch wenn die Erzählung der Zeiten in Tristram Shandy immer wieder zu der Illusion einer diegetischen Chronologie zurückkehrt, so ist der ‚unzeitliche Raum des Textes‘ als vielfach zeitlicher entlarvt, ein Raum, der diese Chronologie in den smoak-jack immer neuer gegenwärtiger Jetzte überführt. Wie die obige Analyse zeigt, wird mit den narrativen Verfahren in Tristram Shandy die temporale Multiplizität vordergründig, die in der konventionellen Vorstellung „des unzeitlichen Raums der Erzählung als Text“ verborgen liegt. Die Simultaneität von Erzählerzeit, Erzählzeit und erzählter Zeit entlarvt die „timeless time of the imagination“ in ihrer unhintergehbaren Zeitlichkeit, die sich nicht als zeitloses Gegenüber objektiv-linearer Zeitordnung mit einer chronologisch fortschreitenden und ‚vergangenen‘ Diegese harmonisieren lässt. Was Sterne hier vorführt, erinnert an den paradoxalen ontologischen Charakter, den Emil Angehrn mit Augustinus der Zeit zuschreibt: „Denn zwei der drei Zeitmodi, Vergangenheit und Zukunft, beziehen sich auf Seiendes, das nicht mehr oder noch nicht ist, also eigentlich auf Nichtseiendes. Sie sind gleichsam irreale Modi, die gleichwohl als notwendige Voraussetzungen des realen Jetzt fungieren“.54 Die irrealen Modi der Vergangenheit sind als Fiktion zweifach nichtseiend und doch konstituierend für die Erzählung. Die irrealen Modi

____________ 54

Emil Angehrn: „Vorwort“. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Der Sinn der Zeit. Vellbrück 2002, S. 8– 15, hier S. 9.

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der erzählten (diegetischen) Vergangenheit haben aber in Sternes kuriosem metaleptischen Realismus immer die Chance, im ‚realen‘ (extradiegetischen) ‚Jetzt‘ des Erzählers eine gegenwärtige Qualität zu erlangen. Dieser Realismus besteht darin, dass diegetische Geschehenselemente sowie extradiegetisches Erzählen Teil einer alles durchdringenden Gegenwart werden können – einer Gegenwart, in der die Zeitlichkeit jeder Perspektive und jedes Geschehnisses paradoxerweise unwiederbringlich verloren gehen kann. In Laurence Sternes Erzählung wird das nicht Übereinstimmende zur Übereinstimmung gebracht, das Uneinige vereinigt. Das Ergebnis sind erzählte Zeiten, die als unkorrigierbar vielfache die Vorstellung einer einheitlichen Zeit fragwürdig werden lassen. In Laurence Sternes Simultaneität von Zeiten findet der irreale Modus der Vergangenheit als Präsenz in einer alldurchdringenden Gegenwart seinen Platz – für einen Moment. Die instabile Simultaneität von erzählter Zeit, Erzählerzeit und Erzählzeit betont, ganz im Sinne phänomenologischer Untersuchungen der Zeit, den subjektiven Charakter aller (narrativer) Zeiterfahrungen. Tristram Shandy hat die aporetische Gleichzeitigkeit von (Meta-)Diegese, Extradiegese und Text als narratives Verfahren lange vor allen klassischen und postklassischen Narratologien meisterhaft beschrieben: Digressions, incontestably, are the sunshine; ——they are the life, the soul of reading; — take them out of this book for instance, — you might as well take the book along with them; — one cold eternal winter would reign in every page of it; restore them to the writer;——he steps forth like a bridegroom, — bids All hail; brings in variety, and forbids the appetite to fail. All the dexterity is in the good cookery and management of them, so as to be not only for the advantage of the reader, but also of the author, whose distress, in this matter, is truly pitiable: For, if he begins a digression, — from that moment, I observe, his whole work stands stock-still; — and if he goes on with his main work, ——then there is an end of his digression.——This is vile work. — For which reason, from the beginning of this, you see, I have constructed the main work and the adventitious parts of it with such intersections, and have so complicated and involved the digressive and progressive movements, one wheel within another, that the whole machine, in general, has been kept a-going; — and, what's more, it shall be kept a-going these forty years, if it pleases the fountain of health to bless me so long with life and good spirits. (Sterne I/xx)

Tristram Shandy demonstriert mit seiner narrativen Konfiguration, dass die Aporien des Jetzt im „Zirkel von Narrativität und Zeitlichkeit“55 die Struktur des unzeitlichen Raumes einer objektiven Zeit zerbrechen. Seine Antwort auf die zerbrechende Struktur ist die unaufhörlich fortschreitende Simultaneität von Zeiten. Paradoxerweise wird diese aporetische Viel-

____________ 55

Ricœur (Anm. 25), S. 13.

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falt erst vor dem Hintergrund der ordnungsstiftenden Funktion narrativer Konfiguration sichtbar. So demonstriert uns Tristram Shandy, dass der hermeneutischen Situation, in der Zeiten verstanden werden, ein oszillierendes Moment zu eigen ist. Im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt, von unzeitlichem Raum und aporetischen Zeitlichkeiten, schreitet Tristrams Erzählung fort: „[T]he whole machine, in general, has been kept agoing“ (Sterne I/xx).

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CHRISTOPH GARDIAN (Konstanz)

Atemporalität. Techniken und Effekte des Zeitlosen im literarischen Expressionismus (Paul Adler, Robert Müller) 1. Atemporalität 473 – 1.1 Dimensionen eines Phänomens 473 – 1.2 Zeitökonomie und Zeitpolitik – Primitivismus und Avantgarde 476 – 2. Techniken und Effekte des Zeitlosen im literarischen Expressionismus 482 – 2.1 „O Zeit.“ – Paul Adlers „Nämlich“ 482 – 2.2 „[D]iese eigentümliche Verschiebung innerhalb der Zeit“ – Robert Müllers „Tropen“ 489

1. Atemporalität 1.1 Dimensionen eines Phänomens Das in der klassischen Moderne literarisch virulente Phänomen der Atemporalität – im Sinn einer Aufhebung des kontinuierlichen Fortschreitens der Gegenwart von der Vergangenheit in die Zukunft – kann auf verschiedenen Textebenen beobachtet werden. Neben einer konzeptuellen Dimension, die sich primär in historischen Semantiken artikuliert und im Blickpunkt des nachfolgenden Passus steht, lassen sich eine narrative und eine rhetorische beschreiben. Mit der Eliminierung zeitlich linearer Ordnung und der Hinwendung zu abstrakten, nicht mimetischen Formen des Erzählens geht eine Umstellung in der Hierarchie narratologischer Ebenen einher – in der Nomenklatur Tzvetan Todorovs: von der Geschichte (histoire) zum Diskurs (discours),1 eine „Akzentverschiebung von Inhaltlichem zu Formalem“, die „eine radikale Problematisierung der traditionellen Erzählstruktur“ zur Folge hat.2 In den Fokus rücken Textverfahren und die Realisierung von Effekten. Heißt Geschichte (histoire) die bestimmte Organisation von Ereignismomenten in einen unumkehrbaren

____________ 1

2

Vgl. Tzvetan Todorov: „Les catégories du récit littéraire“. In: Communications 8 (1966), S. 125–151, hier S. 132 (dt. Tzvetan Todorov: „Die Kategorien der literarischen Erzählung“. In: Heinz Blumensath (Hrsg.): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft. Köln 1972, S. 263–294). Moritz Baßler: Die Entdeckung der Textur. Unverständlichkeit in der Kurzprosa der emphatischen Moderne 1910–1916. Tübingen 1994, S. 28 f.

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Christoph Gardian

kausalen Ablaufzusammenhang, so ist mit dessen Zurückweisung eine Abwertung des Konzepts angezeigt. Gérard Genette bezeichnet „Ereignisse, die jeder Zeitbestimmung entbehren und sich in Bezug auf die sie umgebenden Ereignisse in keiner Weise situieren lassen“, als Achronien.3 Sie stehen in keinem integrativen Zusammenhang mit den eine Geschichte konstituierenden Geschehnissen. Sofern hier lediglich geschehenslogisch nicht datierbare Momente der Erzählung bezeichnet sind, vertritt Genette einen schwachen Achronie-Begriff. Zu Recht kritisiert David Herman, Genette verwechsle zeitlich Unspezifisches mit Zeitlosem oder Achronischem.4 Dagegen signalisieren die hier vorgestellten atemporalen Strukturen eine funktionale Umwertung narrativer wie ideeller Ordnungen. Achronie wäre demnach zugleich weiter zu fassen und als narratologische Kategorie zu stärken: als Oberbegriff für Zeitverhältnisse einer Erzählung, die der gängigen Logik final gerichteter Zeitverläufe opponieren. Demgegenüber erscheinen die von Brian Richardson vorgeschlagenen Termini des Metatemporalen und der Antichronien5 wenig gewinnbringend; sie arbeiten einer Tendenz zur Überterminologisierung zu. Ein Ereignis ist zeitlich im geläufigen Sinn als (potenziell) datierbarer Moment eines kausalen, irreversiblen Prozesses – oder eben nicht. Eine Metachronie zum Beispiel als das Überzeitliche, als das „bleibende Gesetz“ etwa des Mythos, der Metaphysik in ihrer „Intention auf zeitlose Ewigkeit“,6 ließe sich in der zeitlich-linearen Form der Erzählung nur achronisch bzw. zyklisch darstellen. Strenggenommen beschreiben auch die hier besprochenen Konzepte keine Atemporalitäten, insofern sie lediglich ‚andere‘ Zeitverhältnisse (Zyklik, Gleichzeitigkeit, Zeitparadoxien, Augenblick) exponieren, die sich keiner unumkehrbaren Ereigniskette einfügen: Zeitlichkeit als Relation von Elementen des Dargestellten wie der Darstellung lässt sich so wenig tilgen, wie die Aufhebung von Raum denk- oder formulierbar ist. Treffend ließen sich solche Strukturen als allochron bezeichnen, allerdings funktioniert der Allochronie-Begriff gleichfalls nur relativ zu einer als konventionell angenommenen Zeitordnung. Analog zur Verwendung auch in anderen Wissensdiskursen wird daher Achronie als Gegenbegriff zur eindeutig gerichteten Zeit verwendet. Eine Darstellung achronischer Zeitformen postmodernen Erzählens – die gleichwohl schon für die Erzählliteratur der klassischen Moderne

____________ 3 4 5 6

Gérard Genette: Die Erzählung. Aus dem Französischen von Andreas Knop. Paderborn 2010, S. 50. Vgl. David Herman: „Limits of Order: Toward a Theory of Polychronic Narrative“. In: Narrative 6/1 (1998), S. 72–95, hier S. 75. Vgl. Brian Richardson: „Narrative Poetics and Postmodern Transgression: Theorizing the Collapse of Time, Voice, and Frame“. In: Narrative 8/1 (2000), S. 23–42, hier S. 30. Michael Theunissen: Negative Theologie der Zeit. Frankfurt a. M. 1991, S. 38, 310.

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geltend gemacht werden können – hat Richardson vorgelegt.7 So findet sich die zirkuläre Erzählkonstruktion, die am Ende wieder zu ihrem Beginn zurückkehrt und so eine Unendlichkeit der Wiederholung formuliert, auch in den Erzählungen Paul Adlers und Robert Müllers. Der Eindruck einer zyklischen ‚Zeitlosigkeit‘ des Immergleichen kann auch durch repetitive Aussagen innerhalb des Textgeschehens erreicht werden – etwa durch den Einsatz thematischer Variationen oder dessen, was Thomas Mann wirkmächtig und durch metaphorische Anleihen bei Musik und Magie als „Komposition“ auf der Grundlage von „Leitmotiven“ bezeichnet hat: Durch die wiederholende, „vor- und zurückdeutende magische Formel“ werde eine „Aufhebung der Zeit erreicht“, sofern dem Geschehen in „seiner inneren Gesamtheit in jedem Augenblick Präsenz“ verliehen werde.8 Während diese repetitiven Strukturen vornehmlich dazu dienen, symbolische Zusammenhänge zwischen Textteilen und damit Ordnung im Sinn von Geschichte herzustellen, bedingt die Präsentation chronologisch unvermittelter Phänomene die Punktualität und Heterogenität einzelner Momente, die Durchbrechung des Erzählkontinuums durch das Nebeneinander autonomer Textsegmente auf der Diskursebene. Ihr eignet ein Modus der „Plötzlichkeit“, der die performative Herstellung von Kontingenz ermöglicht.9 Im Wahrnehmungseffekt wiederum begründet diese Aleatorik die Abnahme des „Gehalts eines Augenblicks“,10 den Vorrang des Ereignisses und seiner Darstellung vor der Geschichte. Das Problem der (zumal folgewidrigen) Gleichzeitigkeit dagegen ist, wie Jochen Vogt darlegt, erzähltechnisch nicht lösbar, allenfalls überspielbar (durch szenische Aneinanderreihung, die Abfolge von Analepsen, multiple Fokalisierung, die Konfrontation von Ereignissen in der Montage).11 Auf der Ebene des topologisch konstituierten diegetischen Raums kann Gleichzeitigkeit durch die Überblendung von logisch und räumlich Getrenntem, durch die Pluralisierung und Überlagerung von Handlungsraum suggeriert werden. Korrespondieren die „zeitlichen Beziehungen“ im Erzähltext „notwendigerweise mit […] räumlichen Beziehungen“,12 so wird mit der Einheit der diegetischen Zeit unweigerlich auch die des Raums aufgelöst.

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Vgl. Richardson (Anm. 5), S. 25 ff. Thomas Mann: Einführung in den ‚Zauberberg‘. Für Studenten der Universität Princeton. In: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Hrsg. von Hans Bürgin und Peter de Mendelssohn. Frankfurt a. M. 1974, Bd. XI, S. 602–617, hier S. 603, 611 f. Karl Heinz Bohrer: Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästhetischen Scheins. Frankfurt a. M. 1981. Karl Heinz Bohrer: Ekstasen der Zeit. Augenblick, Gegenwart, Erinnerung. München 2003, S. 74. Vgl. Jochen Vogt: Aspekte erzählender Prosa. Eine Einführung in Erzähltechnik und Romantheorie. Paderborn 2008, S. 135–143; zur Terminologie hier und im Weiteren Genette (Anm. 3) und Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 62005. Michail M. Bachtin: Chronotopos. Aus dem Russischen von Michael Dewey. Frankfurt a. M. 2008, S. 196.

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Überhaupt beruht die Suggestion atemporalen Erlebens vornehmlich auf der Auflösung narratologischer Einheiten (besonders der Figurenidentität, der Erzählerstimme, des Handlungsraums) und auf Formen der paradoxen narrativen Metalepse. Den thematisierten ‚anderen‘ Zeitformen auf der Ebene des diegetischen Geschehens entspricht ihre Gestaltung auf der Diskursebene, wo die Darstellung die thematische Zeit konfiguriert – etwa durch Brüche im linearen Ablauf des Erzählens und rhetorische Verfahren der Rezeptionslenkung. Simultaneitäts- und Augenblickseffekte können durch die Überführung der sprachlichen Sukzessionslogik in eine figurative Räumlichkeit herbeigeführt werden, die als Einklammerung oder Ekstase die Zeit des Erzählten (und des Erzählens) unterbricht, zum literarischen ‚Tableau‘ aufhebt.13 Durch Rahmung und Exposition wird das Diskontinuierliche als Zeitgleiches präsentiert. Was hier metaphorisch Räumlichkeit genannt wird, ist ein Effekt der Textstruktur – der Syntagmatik, nicht der Paradigmatik. Die Einlösung unmittelbarer und simultaner Wahrnehmung wird andererseits in Verfahren der sprachlichen Verkürzung und einer ‚Poetik der Parataxe‘ gesucht: durch schlichte Reihung einander substituierbarer Textbausteine oder – wie in der ‚Wortkunsttheorie‘ des Sturmkreises – von Hauptwörtern und durch den Verzicht auf Attribuierung.14 Techniken zur Intensivierung des sprachlichen Ausdrucks (vor allem Tropen, Wiederholungs- und Häufungsfiguren) übersteigen den Bereich der narratologischen Analyse und betreffen die literarische Rede in ihrer rhetorischen Dimension. Zur Konstruktion widersprüchlicher Zeitstrukturen dienen der Bruch mit grammatischen Zeitformen und der Einsatz paradoxer Prädikation. 1.2 Zeitökonomie und Zeitpolitik – Primitivismus und Avantgarde Die Menschheit stehe an einer „Grenze“, schreibt 1921 der Wiener Literat und Publizist Robert Müller, „wo ein neuer Abschnitt der Seele beginnt, wo Geschichte, also auch Geschichten, nicht mehr mit lesebuchartigen Verläufen Ausdruck werden. Eine Linie ist erreicht, wo alles nur mehr aus

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Vgl. Helmut Pfotenhauer: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem achtzehnten Jahrhundert. Würzburg 2000; Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006, S. 22 f. Vgl. Thomas Anz: Literatur der Existenz. Literarische Psychopathographie und ihre soziale Bedeutung im Frühexpressionismus. Stuttgart 1977; ders.: „Schizophrenie als epochale Symptomatik. Pathologie und Poetologie um 1910“. In: Frank Degler/Christian Kohlroß (Hrsg.): Epochen – Krankheiten. Konstellationen von Literatur und Pathologie. St. Ingbert 2006, S. 113–130, hier S. 123.

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dem Seelischen her richtig ist“.15 Otto Flakes Roman Nein und Ja (1920), dem diese Zeilen gelten, steht hier exemplarisch für einen Typus anthropologisch-existenzieller Bewusstseinsliteratur, den Müller an anderer Stelle auf den Namen „Gehirnroman[ ]“ tauft und vorbildlich durch die Texte des Prager Schriftstellers Paul Adler verwirklicht sieht.16 Ideengeschichtlicher Hintergrund ist ein erkenntnistheoretischer Monismus, nach dem alles äußere Geschehen „nur als Seele da“ ist, „und zwar nicht metaphysisch, sondern physiologisch, optisch, unmittelbar. […] Was immer der Mensch wahrnimmt, ist Seele, ist ein Momentbild aus dem Film seines Innenlebens“.17 Entsprechend, so Müller, sei auch Geschichte nicht linear als Abfolge von Daten zu fassen, sondern als „eine Geschichte der menschlichen Seele“, die „in Vergangenheit und Zukunft weit über den kleinen Ploetz“ hinausrage.18 Verbunden mit dieser Geschichtsauffassung, deren Evidenz sich etwa der Literatur Adlers entnehmen lasse, ist bei Müller die Utopie des neuen Menschen, eine geschichtsphilosophische Triade von „vegetative[m] Sinnenmensch“, „Kulturmensch“ und „vegetative[m] Geistmensch“. Beispielhaft lasse sich das „vegetative[ ] Dasein in den Sinnen“ noch an den „Inder[n] und sogenannte[n] ‚wilde[n]‘ Kulturen“ studieren. Zum erneuten „Abstieg in das Vegetative“ sei die kulturrevolutionäre „Vernichtung des gesamten heutigen Daseins“ vonnöten (S. 358 f., Hervorhebung im Original). Die neue Weltsicht ist nicht nur durch Literatur vermittelt, Literatur soll auch zu ihrer Aktualisierung beitragen. Indem der Leser in der Lektüre die vegetativen Denkstrukturen einübt, befähigt sie ihn, „in sein nacktes denkendes Ich und sein vegetatives Menschtum zurück[zu]kehren. Alle Niveaus sind ihm entzogen, er durchfällt alle Räume im Nu, koexistiert von seinem Ichkern aus in Randwelten“; „alle seine Welten“ entfalten sich „ineinander, durcheinander, aneinander“ (S. 360). Imaginiert wird ein Zustand, dem eine spezifische Zeitökonomie eignet: Zeit als lineare Abfolge von messbaren Abschnitten ist aufgelöst zu beständiger Dauer. Dem konform ist die Vorstellung des einheitlichen Raums zugunsten einer Pluralität vieler Räume aufgegeben. Die Aufhebung der Zeit wird als räumliche Ausdehnung des Bewusstseins aufge-

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Robert Müller: Der Denkroman. Kritische Schriften III. Hrsg. von Thomas Köster. Paderborn 1996, S. 30–32, hier S. 30 f. Zu den folgenden Ausführungen zur Poetik Müllers und seinem Roman Tropen vgl. Christoph Gardian: Sprachvisionen. Poetik und Mediologie der inneren Bilder bei Robert Müller und Gottfried Benn. Zürich 2014. Robert Müller: Abbau der Sozialwelt. Kritische Schriften II. Hrsg. von Ernst Fischer. Paderborn 1995, S. 356–362, hier S. 359. Robert Müller: Der neue Standpunkt. Expressionismus. KS II (Anm. 16), S. 151–156, hier S. 152. Müller (Anm. 16), S. 357. Hervorhebung im Original.

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fasst. Mit seiner Science-Fiction spricht Müller den Diskurs des Primitivismus an, das vermeintlich ‚prälogische‘ Denken der ‚Wilden‘, das als analog zu den Anomalien des Bewusstseins betrachtet wird. Als Gegenstück zum historischen Bewusstsein der Moderne und ihrer Ideologie des Fortschritts bezeichnet das ‚Primitive‘ das Ungeschichtliche, einen Zustand der Dauer und „Zeitfülle“.19 Die Ekstasen und Halluzinationen der psychopathologischen Zustände sowie die Bilder des Traums als sogenannte survivals20 sollen nun fruchtbar gemacht und in Bezug zum rationalen Denken gebracht werden. Ausgemalt wird ein umfassendes Bewusstsein, das über alle möglichen, räumlich vorgestellten Zustände simultan verfügt. Dies bedeutet die Aufhebung der rationalen Logik – des Kausalitäts- und Identitätsprinzips, aber auch der sprachlichen Logik des Ausschlusses. An ihre Stelle tritt eine Logik des Bildlichen, die nicht prädikativ, sondern in ihrer nicht negierbaren, räumlich-simultanen Evidenz deiktisch und inklusiv verfährt. Nicht zufällig spricht Müller von „Bildhaftigkeiten“, die in den Texten Adlers die neue Haltung entfalteten.21 Die von Autoren der Jahrhundertwende inszenierte und in die Literaturgeschichtsschreibung eingegangene sogenannte Sprachkrise entpuppt sich vor diesem Hintergrund als „literarisch produktives Paradigma für die heuristische Suchbewegung nach dem ‚[A]nderen der Sprache in der Sprache‘“:22 Sie eröffnet ein Feld für die Erprobung innovativer literarischer Verfahren und dient der literarischen Selbstreflexion sowie dem Austesten von Sprachgrenzen. Namentlich die visionären inneren Bilder sind in dieser Beziehung Figur für das Unsagbare, der Sprache Inkommensurable, das zum phantasmatischen Zielpunkt eines entgrenzten Sprechens und Denkens wird. Das in Traum, Rausch und Wahn als Atavismus wiederkehrende mythisch-magische Bilderdenken spielt zu Beginn des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Diskursen eine prominente Rolle. Nietzsche beschreibt es in seinen Traum-Aphorismen aus Menschliches, Allzumenschliches (1878) als ein auf Analogie bzw. metonymischer Kontiguität und metaphorischer Äquivalenz – Freuds Mechanismen der Traumarbeit: Verschiebung und Verdichtung – statt auf Kausalität beruhendes Prinzip.23 C. G. Jung unter-

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Erhard Schüttpelz: Die Moderne im Spiegel des Primitiven. Weltliteratur und Ethnologie (1879– 1960). München 2005, S. 397. Nach Edward B. Tylor: Primitive Culture. Researches into the Development of Mythology, Philosophy, Religion, Art, and Custom. 2 Bde. London 1871. Müller (Anm. 16), S. 359. Schneider (Anm. 13), S. 17; dort das Zitat nach Pfotenhauer (Anm. 13), S. 8. Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches I und II. Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 2008, Bd. II, S. 27–35; Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Hrsg. von Hermann Beland. Frankfurt a. M. 2007, S. 284–341.

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scheidet entsprechend „zwei Arten des Denkens“: ein gerichtetes, sprachlich-logisches Denken und daneben ein ursprüngliches assoziatives Denken in affektgeladenen Bildreihen.24 Die Annahme einer ‚prälogischen‘ Form der Kognition vertritt auch der französische Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl in seiner Theorie der mystischen Partizipation und der „Wesensidentität“ logisch disparater Entitäten.25 Das Interesse der Literatur an den Theorien des ‚primitiven‘ Denkens gilt nicht zuletzt einer anderen Zeichenhaftigkeit, der Konstruktion einer sinnlich-unmittelbaren Sprache, die Zeichen und Bezeichnetes zusammenfallen lässt und die Differenzlogik des Begriffs transzendiert. Dieser expressionistisch-primitivistischen Literatur geht es nicht mehr um Signifikation und Repräsentation, sondern um die Ereignishaftigkeit der Sprache selbst, um das Gleiten von Bedeutung und die Konzentration von Bedeutungsvielfalt – nach Nietzsche: um die Rückgewinnung jener „ursprünglich in hitziger Flüssigkeit aus dem Urvermögen menschlicher Phantasie hervorströmenden Bildermasse“.26 Diese Poetik des Visionären27 zielt auf Effekte, wie sie analog in Theorien der Sprachentstehung entworfen werden: Nach Wilhelm Wundt dient Sprache ursprünglich der psychophysischen Übertragung von bildhaften Vorstellungen und Affekten auf den Rezipienten.28 Affektbetonte ‚Bildagglutinationen‘ als ‚primitive‘ Vorstufe des Begriffs stimmen laut dem Psychiater Ernst Kretschmer überein mit den Vorstellungsmechanismen der bleulerschen Schizophrenien. Unterstrichen wird ihre achronische und atopische Phänomenalität: „das Schwinden der Kategorien ‚Raum und Zeit‘“, das „zeitlose Augenblickserleben ohne Vergangenheit und Zukunft“,29 das auch die von Josef Breuer und Sigmund Freud beschriebenen Halluzinationen der hysterischen Dämmerzustände kennzeichnet.

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Carl Gustav Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. Beiträge zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Hrsg. von Lorenz Jung. München 2001, S. 21–47. Lucien Lévy-Bruhl: Das Denken der Naturvölker. Hrsg. von Wilhelm Jerusalem. Leipzig 1921, S. 51–82. Friedrich Nietzsche: Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne. KSA I (Anm. 23), S. 873–890, hier S. 883. Zum Paradigma des Visionären in der Literatur der klassischen Moderne Schneider (Anm. 13); dies.: „Evidenzverheißung. Thesen zur Funktion der ‚Bilder‘ in literarischen Texten der Moderne um 1900“. In: Gerhard Neumann/Claudia Öhlschläger (Hrsg.): Inszenierungen in Schrift und Bild. Bielefeld 2004, S. 49–79; Helmut Pfotenhauer u. a. (Hrsg.): Poetik der Evidenz. Die Herausforderung der Bilder um 1900. Würzburg 2005; Helmut Pfotenhauer/ Sabine Schneider (Hrsg.): Nicht völlig Wachen und nicht ganz ein Traum. Die Halbschlafbilder in der Literatur. Würzburg 2006. Vgl. Wilhelm Wundt: Elemente der Völkerpsychologie. Grundlinien einer psychologischen Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Leipzig 1913, S. 60 f. Ernst Kretschmer: Medizinische Psychologie. Ein Leitfaden für Studium und Praxis. Leipzig 1922, S. 64. Hervorhebungen im Original.

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Vom Wachbewusstsein abgeschieden, sind die Inhalte dieser achronischen Zustände assoziierbar und bilden so einen separaten Bewusstseinsraum.30 Zwei alternative zeitökonomische Konzepte stellt der Primitivismus bereit: Zum einen rückt er den zu Vergangenheit und Zukunft unvermittelten, das raumzeitliche Kontinuum sprengenden Augenblick als einen Zustand sinnlicher Fülle und reiner Gegenwärtigkeit in den Blick, wie ihn auch Ernst Mach in seiner Analyse der Empfindungen (1886) zu beschreiben versucht.31 Diese Präsenzzustände können zum anderen selbst einen spezifischen Zeit- bzw. Bewusstseinsraum undifferenzierter Dauer eröffnen, dessen Momente verschmelzen und so die Grenzen der reinen Gegenwart überschreiten. Müllers Utopie eines absoluten Bewusstseins denkt die Verfügbarkeit der distinkten Zustände. Die Allochronie von zeitenthobener Dauer und auf ein Telos gerichteter Zeit ließe sich, so die Vorstellung, im Zeitpunkt des Kairos überwinden. Die lineare Zeit würde gekrümmt zum mehrdimensionalen Raum, zu einem achronischen Zustand, in dem die heterochrone Ungleichzeitigkeit zur Gleichzeitigkeit aufgehoben ist. Explizit beruft sich Müller auf die Relativitätstheorie Albert Einsteins und überträgt die physikalische Auffassung von Raum und Zeit als vom jeweiligen Betrachter abhängige Bezugsgrößen auf die Bewusstseinsprozesse. Deutliche Parallelen weisen darüber hinaus auf Henri Bergsons Philosophie der Dauer (durée). Bergson unterscheidet strikt Raum und Dauer, wobei der Raum ein homogenes und diskontinuierliches Außen bezeichnet, Dauer hingegen die Heterogenität und Kontinuität innerer Bewusstseinsmomente. Die Abfolge der qualitativ verschiedenen psychischen Zustände erfolgt akkumulierend, indem Vergangenheit im gegenwärtigen Moment nachwirkt und Zukünftiges sich präformiert. Zeit als messbare Einheit hingegen ist für Bergson eine (falsche) Projektion der Dauer in den Raum. Letztere gilt es zurückzugewinnen durch eine Rückkehr in die Unmittelbarkeit des Bewusstseins, wie sie noch den Traum beherrscht. Unterschieden von der das Ich konstituierenden Dauer ist andererseits das bewusstseinszerstörende Erlebnis der Präsenz: Sie richtet die Aufmerksamkeit auf den Augenblick und unterbindet die wechselseitige Durchdringung der Bewusstseinszustände.32

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Josef Breuer/Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Hrsg. von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M. 2007. Ernst Mach: Die Analyse der Empfindungen und das Verhältnis des Physischen zum Psychischen. Hrsg. von Gereon Wolters. Nachdr. Darmstadt 1985; dazu Manfred Sommer: Evidenz im Augenblick. Eine Phänomenologie der reinen Empfindung. Frankfurt a. M. 1996. Zur Differenzierung von Raum, Dauer und Zeit zusammenfassend Henri Bergson: Zeit und Freiheit. Hrsg. von Konstantinos P. Romanòs. Hamburg 1994, S. 84.

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Diese nicht gerade kompatiblen Theorien kompiliert Müller nach Bedarf – eine synkretistische Strategie, die ihrerseits auf die Wahrnehmung von „Pluralität als Signatur der kulturellen Moderne“ reagiert, „wobei diese Pluralität vor allem historisch als Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gefasst wird, in Gestalt nebeneinander bestehender, einander überlagernder Lebenswelten, Sprechweisen, Kulturen, Stile“.33 Diese ‚Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen‘ lässt sich beschreiben als „Verfügbarwerden[ ]“ und „Gleich-Gültigkeit“ epochenübergreifender „kulturelle[r] Dispositive“ und „Stilformen“, die ebenso bedauert wie in selbstreflexiven Spielkonstellationen kultiviert wird.34 Theodor Däubler, dessen Neuen Standpunkt (1916) Müller emphatisch teilt, nennt dies „Simultanismus“.35 Dieser folgt dem Prinzip der Assoziation und lasse sich in der Baukunst als (schlechter) Eklektizismus, in der Bildung als historistisch barocke Anhäufung von Trivia, in der Lebenspraxis als Vielzahl von Tätigkeitsfeldern und freie Kombination von Ideologemen, in der Oper als Tendenz zum Gesamtkunstwerk, in der bildenden Kunst als Überwindung der Zentralperspektive nachweisen. Sein weltanschauliches Synonym sei der Expressionismus. In der expressionistischen Vision, der inneren Schau, konvergieren Dauer und Präsenz als Konzentration der Zeitfolgen im augenblicklichen Grenzfall des Bewusstseins: „Der Volksmund sagt: wenn einer gehängt wird, so erlebt er im letzten Augenblick sein ganzes Leben nochmals. Das kann nur Expressionismus sein!“36 Simultaneität als Gleichzeitigkeit von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Empfindung übersetzt den bergsonschen Gedanken der Dauer und radikalisiert ihn. Die Rhetorik der Simultaneität dient dabei der Zeitpolitik: der Herstellung von Differenz zu ‚alten‘ kunsttheoretischen und weltanschaulichen Positionen (etwa des Impressionismus und Naturalismus) – eine spezifisch zeitgenössische querelle des anciens et des modernes. Gesetzt wird eine Diskontinuität historisch heterogener Zeiten, eine rein formale Gleichzeitigkeit temporaler Divergenzen, die im Selbstbild der künstlerischen Avantgarde kulminiert.37 Diese sieht sich an der Spitze einer Chronologie und fähig, den Kairos, die günstige Gelegenheit einer aufs äußers-

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Sabine Schneider/Heinz Brüggemann: „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. Eine Einführung“. In: Dies. (Hrsg.): Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Formen und Funktionen von Pluralität in der ästhetischen Moderne. München 2011, S. 7–35, hier S. 7. Schneider/Brüggemann (Anm. 33), S. 9 ff. Theodor Däubler: Der neue Standpunkt. Hrsg. von Fritz Löffler. Leipzig/Weimar 1980, S. 16; vgl. Müller (Anm. 17). Däubler (Anm. 35), S. 135. Zu den historischen Avantgarden noch immer grundlegend Peter Bürger: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M. 1974.

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te verdichteten Zeit beim Schopf zu greifen und die bürgerliche Kultur samt ihres Kunstsystems aus diesem heraus zu einem Ende zu bringen. 2. Techniken und Effekte des Zeitlosen im literarischen Expressionismus 2.1 „O Zeit.“ – Paul Adlers Nämlich Paul Adlers „[e]rzählende Aufzeichnungen“38 Nämlich von 1915 behandeln Entstehung und Verlauf einer psychotischen Störung. Sie setzen sich aus verschiedenen Textsorten zusammen und stellen überwiegend den inneren Monolog des autogenen Erzählers Paul Sauler vor. Als unmittelbare Äußerungen seines Bewusstseins heben sie tendenziell die Distanz von erlebendem und erzählendem Ich, zwischen Erleben und Schreiben auf: Das hier vorgeführte eingeschobene Erzählen gibt sich als präsentisches. Die Aufzeichnungen beginnen am 31. Geburtstag Saulers mit einem Resümee seines gegenwärtigen Befindens und enden in seinem 35. Jahr mit resignativen Betrachtungen in der Psychiatrie. Subjektive Rekonstruktion zu Beginn und Notizen zum Leben in der Anstalt am Ende bilden den narrativen Rahmen, dessen Binnengeschehen wesentlich raumzeitlicher Logik entbehrt. Der syntagmatische Zusammenhang erscheint aufgegeben zugunsten eines visionären Paradigmas, eines simultanen pathologischen Bewusstseinsraums. Die Vorgänge unter dem Eindruck der kognitiven Störung zerfallen weitgehend in isolierte Momente, die nicht mehr zu einem chronologischen Ablauf integriert werden können. Sie bilden keine Diachronie aus, keine narrative Zeitachse, sondern einzig divergente Synchronitäten. In einer Besprechung in der Aktion schreibt Carl Einstein Adlers Nämlich zu, durch die Darstellung von Wahnsinn die Wirklichkeit des Anthropologischen, sein gültiges „Gesetz“ unmittelbar gestaltet zu haben, indem das Ich und seine Sprache an ihre Grenze geführt würden. Gerade das kritische „Bezweifeln der Sprache“ bewirke hier den Aufbau von Realität. Die (Re-)Konstruktion von Wahnsinn durch die Destruktion begrifflicher Logik enttarne die „wahnwitzige[ ] Willkür“ von „Sprechen und Schreiben“. Als dialektische De-Konstruktion aber ermögliche das Verfahren die Einsicht in die Konstruiertheit von Welt und errichte dadurch ein „Elementares“.39 Tatsächlich wird die Sprache bis an den

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So die Gattungsbezeichnung bei Ludo Abicht: Paul Adler, ein Dichter aus Prag. Wiesbaden/Frankfurt a. M. 1972, S. 145. Alle Zitate Carl Einstein: Paul Adler. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Hermann Haarmann/Klaus Siebenhaar. Berlin 1994, Bd. I, S. 255–256, hier S. 255.

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Rand der Unverständlichkeit gebracht. Werden im Verlauf des Textes die narratologischen Kategorien zunehmend unterminiert, ist zunächst noch, zumindest was die Narration betrifft, „alles ganz in der Ordnung“.40 Durch eingeschobene externe Analepsen wird die Biografie Saulers nachgereicht und auf die gegenwärtige Situation bezogen. Vom Vater verlassen, ist er in der Obhut der Mutter herangewachsen. Diese betreibt die Verbindung des jungen Orchestergeigers mit der Wirtstochter des Konzerthauses, Valentine Ahorn, die ihn in der Folge mit dem Kapellmeister Erdö betrügt. Nun befindet er sich in einem „unerträgliche[n] Zustand“: „Etwas ist“ ihm „verloren gegangen“ (S. 9). Die Tendenz des Erzählers, Einbildung und äußere Realität zu vermischen, macht die erzählte Welt instabil: „Da sitzt meine Mutter mir gegenüber auf der Wolle unter der Sonne. Sie sitzt natürlich nur in meinen Gedanken da, aber das ist mir heute nicht unangenehm“ (S. 9 f.). Für eine identifizierende Lektüre nicht angenehm ist die autistische Rede, die hiernach die Topologie von Innen und Außen vollends aufhebt: „Einerlei: draußen oder drinnen“ (S. 28 f.). Die erzählte Welt wird derealisiert, indem parallele Wirklichkeiten ineinanderfließen, etwa der Besuch des Wirtshauses zum Gang durch eine fantastisch entstellte Landschaft in die „Satansklamm“ (S. 45) gerät. Die affektive Ambivalenz des Erzählers – zum Beispiel gegenüber der geliebten Valentine, der „Hure“ und „Geliebte[n] des Teufels“ (S. 17) – führt zur Entdifferenzierung der die Erzählung leitenden Konzepte. Diese Ambivalenzen sind im Folgenden zu logischen Paradoxien gesteigert. Eine gewisse Regelhaftigkeit bleibt durch die rhetorische Organisation des sich in seiner Kausalität auflösenden Denkens bewahrt, beispielsweise durch parallelen oder anaphorischen Satzbau. Repetitiv, nach dem Muster: „Auch weiß meine Mutter nicht“, setzt der Erzähler dreimal ein, um zu berichten, was sich iterativ ereignet und dabei einer singulativen sprachlichen Logik folgt: „[d]ein Kind trinkt“, „daß ich jetzt zur Nacht mich gar selbst erheitere“ (S. 18). Die Wiederholung der Floskel stellt die Zirkelhaftigkeit der Denkbewegung Saulers aus. Was in der Reflexion als synthetisches Gesamtbild erscheint, wird in eine Abfolge zergliedert. Im Zusammenhang mit der Verschränkung von Zeitperspektiven – repetitives Geschehen, iterative Darstellung und singulative Sprachlogik – ergibt sich der Eindruck atemporalen Erlebens. Dieser wird intensiviert durch eine chronologische Absurdität. Der innere Monolog wird zum imaginären Sündenbekenntnis gegenüber der Mutter: „Liebe Mutter, mamma mia, ehe du es von dem Papagei hörst: Dein Kind trinkt“ (S. 18). Dabei konnotiert der erwähnte Papagei nicht nur den Vaterkom-

____________ 40

Paul Adler: Nämlich. Dresden-Hellerau 1915, S. 9; Zitate werden im Haupttext nachgewiesen.

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plex41 Saulers, er ist auch der Name für einen Patienten der Psychiatrie, den der Erzähler zum Zeitpunkt der Aufzeichnung unmöglich kennen kann. Der Bruch in der zeitlich-kausalen Logik, der sich im Kontext der Tagebucherzählung nicht als Prolepse lesen lässt, kann als Definition einer Achronie im eigentlichen Sinn gelten. Sie bedeutet die Aufhebung der Zeit als Folgeverhältnis, die Konstruktion negativer Zeitlichkeit durch die Verschränkung von Zeitverhältnissen. Hier ist sie die Tilgung der erzählten Zeit in einer paradoxen Gleichzeitigkeit von temporal Auseinanderliegendem. Das Nebeneinander kurzer unvermittelter Absätze, logische Sprünge und Ellipsen – also vorrangig der Entzug von Kohärenz – vermitteln den Eindruck einer Gleichzeitigkeit des Empfindens eher als seiner Sequenz.42 Auch innerhalb einzelner Abschnitte dominieren logische Inkohärenzen und begegnen achronische Zeitverhältnisse – ein Beispiel: „Es gibt noch Wunder: das Opium ist gar nicht so teuer. Warum sollte es keinen Lohn der Tugend geben? Das ist kein natürlicher Gedanke. Ich will ihn [Christus, C. G.] danach fragen. Er sagte mir, ich hätte recht. Manchmal müßte ich aber … vielmehr … wie bin ich doch fehlervoll!“ (S. 43). Der Absichtserklärung, bei zukünftiger Gelegenheit den Gottessohn um die Klärung eines Sachverhalts zu bitten, folgt unmittelbar die Entgegnung in der Zeitform des Präteritums und indirekter Rede. Die Zerrissenheit des Denkens wird durch ein Anakoluth gestaltet. Neben die Denkzerfahrenheit tritt inhaltlich ein visionäres Geschehen, die Darstellung von visuellen sowie akustischen Halluzinationen und Akoasmen. Ein Bilddruck des Erlösers wird animistisch verlebendigt: „Wie er mich nun ansieht von seinem beblümten Tapetengrund!“ (S. 19). Die abstrakt-begriffliche Logik weicht einer bildhaften. Das Etwas, nach dem Sauler auf der Suche ist, lässt sich in Worten nicht fassen. So kann ihm der aufgesuchte Arzt als Repräsentant des Positivismus nicht dienen, sein Problem verlangt „vielleicht einen Zauberer“ (S. 20). Zitiert wird der magisch-primitivistische Diskurs ebenso wie der Topos des ‚Tapetensehens‘, der von der künstlerischen Inspirationslehre Leonardo da Vincis bis zur sinnesphysiologischen Theorie der hypnagogen Pseudohalluzinationen auf eine lange Tradition zurückblickt.43 Die anthropologisch begriffenen Halluzinationen werden poetologisch gewendet zur Verheißung einer anderen Ordnung. Kenn-

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Dazu Michael Niehaus: „Ich, die Literatur, ich spreche…“ Der Monolog der Literatur im 20. Jahrhundert. Würzburg 1995, S. 31–57. Vgl. Abicht (Anm. 38), S. 148. Vgl. Johannes Müller: „Ueber die phantastischen Gesichtserscheinungen. Eine physiologische Untersuchung“. In: Ulrich Ebbecke: Johannes Müller, der große rheinische Physiologe. Mit einem Neudruck von Johannes Müllers Schrift „Über die phantastischen Gesichtserscheinungen“. Hannover 1951, S. 77–187, hier S. 125 f.; Mach (Anm. 31), S. 167 ff.

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zeichnend für ihre Beschreibungen ist eine Hyperbolik, die der hyperrealistischen Visualität der Phänomene korrespondiert und bis ins Groteske gesteigert werden kann: Im Weihnachtskonzert singen „Börsenmänner […] [m]it Hörnern und Klauen, einfallend und zerfleischend“, „[z]ehntausend mit Krallen. Zehntausend mit Fledermaushäuten. Hunderttausend mit leuchtenden Birnen in den bronzenen Stirnen“ (S. 36 f.). Der Vision korrespondiert bei Adler verstärkt die Audition: das Läuten von Glocken oder ein Rauschen „in mir wie in der Muschel fern von dem Meere“ (S. 20) als Metaphorisierung des zunehmend referenzlosen ‚Rauschens‘ der Textbewegung. Diese invertiert die sprachliche Konstitution von Sinn und reduziert Bedeutung auf das bloße Geschehen eines Sprechakts. Abstrakt ist dieses Verfahren als Abzug inhaltlicher Kohärenz und Reduktion textgenerativer Praxis auf die Herstellung minimaler Kohäsion durch Leitmotivik und rhetorische Prozesse der Wiederholung, Verdichtung und Verschiebung. Der Text inszeniert ein metonymisches Gleiten, das dem Prinzip der freien Assoziation verpflichtet ist. Parallelen zu den Assoziationsstörungen der Schizophrenien sind dabei nicht zu übersehen.44 Diese Verschiebungen betreffen Figuren und Konzepte ebenso wie die Bewegung der Signifikanten – bis hin zur Phonempermutation und sprachlichen Stereotypisierung. Sauler will sich an einem Ahorn erhängen, wird aber gehindert. Dies wird in drei aufeinanderfolgenden Abschnitten so dargestellt: Ihr Wälder, ihr Wälder, ihr Felder, ihr Wälder! Ihr Blumen, ihr Erden, ihr Weiber, ihr Männer! Ich sag’ es nicht, ihr Wälder, was ich in euch erlebt. Ich sag’ es nicht, ich habe etwas erlebt dort oben. Ich hab’ es erlebt, doch ich sag’ es nicht. Ich bin nicht einfältig. Nicht, nicht, ich sag’ es niemand. Was erlebte ich? Ich ging in dem Walde, schon hatte ich Ahorun überstiegen. Da begegnete mir ein Mensch und erhob gegen mich seinen Finger. Ein umflossener Mensch war er, aber doch nicht ganz ohne, wie man in meinen Augen gern glauben möchte. Da stand er vor mir – wie auf dem Weg ein Pfahl. Ich bin auch kein Sack, ich will gern stehn. Ich machte auf ihn den folgenden Vers. Ich habe aber in meinem Leben vor diesem noch keinen Vers gemacht. KEHR WIEDER Ich ging in Wäldern, in Wäldern In Wäldern. Nämlich. Da kam ein guter Mensch.

Nämlich

____________ 44

Vgl. Eugen Bleuler: Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien. Hrsg. von Manfred Bleuler. Nachdr. Tübingen 1988, S. 10–31; dazu auch Markus Rassiller: „Schizopoetik. Schizophrenie und poetologische Konstellation in Paul Adlers ‚Nämlich‘“. In: Jan Broch/ Markus Rassiller (Hrsg.): Schrift-Zeichen. Poetologische Konstellationen von der Frühen Neuzeit bis zur Postmoderne. Köln 2006, S. 129–155.

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Im Walde erhub er seinen Finger.

Nämlich

Nämlich Ich war in den Wald gegangen, um mich dort in einigen Zweigen zu verwildern. Da erhob der Fremde Wilderer seinen Finger, damit ich mich nicht als Mensch an einen Ahorn hänge. Dann geleitete er mich zurück. Kehr wieder. (25 f.)

Auffallend ist zunächst die Monotonie der Wiederholungen an der Grenze zur Verbigeration. Die Reihe der Assoziationen erfolgt zunächst durch homoioteleutischen Gleichklang der „Wälder“ und „Felder“ und wird dann auf eine konzeptuelle Ebene des Organischen verrückt. Hier wechseln sich zunächst die Sphären des Lebens und des ihm zugrunde liegenden Bodens ab, bevor erstere im Bereich des Menschlichen konkretisiert wird. Rhetorische Häufungs- und Wiederholungsfiguren (Gemination, Anapher, Asyndeton, Chiasmus), selbst akkumulierend eingesetzt, verstärken den durch elliptische Trennung der Aufzeichnungen hervorgerufenen Eindruck „präsentische[r] Schreibakte“45 zu dem eines gegenwärtigen Gedankenablaufs. Der Leser wird quasi zum Zeugen dissoziierten Denkens. Die sprachliche Intensivierung bei gleichzeitiger Desemantisierung zielt auf die gesteigerte Aufmerksamkeit des Rezipienten. Insbesondere im Gedicht setzen sich Begriffsverschiebung und Begriffszerfall fort. Das als „‚Kehr‘reim“46 und für die Erzählung als Titelwort dienende „Nämlich“ verkörpert die von Einstein konstatierte ‚Sprachbezweiflung‘ des Textes: Weder lässt sich eindeutig bestimmen, worauf es sich bezieht, noch lässt sich seine grammatische Funktion festlegen. Solcherweise dekontextualisiert, höhlt es seine adjektivischen und adverbialen Bedeutungsvarianten aus und veranschaulicht das konstruktive Verfahren des Textes Nämlich selbst. ‚Namentlich‘ steht „Nämlich“ auch für den „gute[n] Mensch[en]“, der mit Christus identifiziert und mit dem Neologismus „Ahorun“ benannt wird. Aus dem Nachnamen Valentines oder des Hauses ihres Vaters wird der für die Selbsttötung ausgewählte Baum und schließlich durch einfache Lautumstellung die Erlöserfigur. Ahorun ist jedoch ebenso ein Ort, ist eine Stelle im Walde. Ahorun ist ein klatschiger Weg. Ahorun sind Brombeeren. Ahorun ist eine Spinne. Ahorun sind junge Bäume. Ahorun zittert im Winde. Ahorun nickt mit Blättern. Ahorun nickt mit Blüten. Ahorun nickt mit dem Halse. Ahorun frißt schmähliche junge Fliegen. Ein Kreuz zeichnet Ahoruns Rücken. Ahorun hält ein gräßliches Schild, eine gräßliche Kinnlade.

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Niehaus (Anm. 41), S. 34. Baßler (Anm. 2), S. 31.

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Ahorun spinnt. Ahorun spinnt… Fliehe, fliehe! Avorun kommt. Die Keulen eines roten Hirsches sieden in Avorun. (S. 27)

Das gegenteilige Prinzip zu Ahorun ist das ebenso überdeterminierte Avorun: räumliche Zuordnung und Verkörperung des Bösen, Beiname für den Nebenbuhler Erdö, Hund des Gottessohnes. Hinzu kommt eine weitere Verschiebung zu Avalun, dem mystischen Ort der Gralssage, der „aller Zeit entrückte[n] Ruhestatt des Königs Artus“,47 der „[z]eitlose[n]“ „Braut“, „Herbstzeitlose[n]“ (S. 58). Die Organisation der Rede anhand von Lautäquivalenzen reduziert Sprache auf ihr sinnliches Material, der begriffliche Zusammenhang ist aufgehoben. Die Rede bildet keine Geschichte als identifizierbare Ereignisreihe mehr aus, sie hebt Referenz auf und unterwandert als reines Sprachgeschehen die sprachliche Logik des Aufschubs. Allerdings wird auch die Dichotomie von Ahorun und Avorun nicht durchgehalten, was schon die Kennzeichnung des Erstgenannten als Kreuzspinne mit „gräßliche[r] Kinnlade“ andeutet. So ist auch die psychiatrische Anstalt zugleich „Haus des lieben Jesuskindes“ (S. 79) und „Fegefeuer“ (S. 90), profaner Himmel und dantescher Limbus. Indem innerhalb der Systeme Ahorun und Avorun verschiedene Konzepte und jene selbst noch aufeinander projiziert werden, kommt es innerhalb der metonymischen Reihen immer wieder zu Verdichtungen. Metaphorisches und metonymisches Prinzip schlagen beständig ineinander um. Eine Dialektik der Konzentration zu einem ambivalenten Bild und dessen Verschiebung in eine andere Bildsphäre bildet den Text. Die Herstellung einer anderen Ordnung, einer Ordnung der Relativität und Simultaneität, ist verknüpft mit einer Struktur von Präsenz und Absenz: „Es ist alles gar nichts, wenn er nicht da ist. Dann ist nichts in der Welt. Es hängt alles allein von seiner Anwesenheit ab. […] Ich fühle meinen Besuch. Hier, überleget ihr doch lieber, was ihr so Unverständiges daher redet! Ich war zu lange euer Narr. Ich war wieder zu lange im Verlornen abwesend“ (S. 53). Abwesenheit im Raum- und Zeitlosen ist hier in chiastischer Verkehrung die Fülle einer Anwesenheit, Anwesenheit im Hier und Jetzt die Abwesenheit im Nichts. Auch durch – teils falsche und verfälschende, allesamt vereinnahmende – intertextuelle Verweise (besonders zur Literatur der Romantik sowie zu religiösen und philosophischen Schriften) setzt sich die Erzählung als synkretisches, simultanes Textuniversum absolut. Diese Verabsolutierung meint nicht die Herstellung einer neuen stabilen Identität. Gerade das

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Jürgen Egyptien: „Mythen-Synkretismus und apokryphes Kerygma. Paul Adlers Werk als Projekt einer Resakralisierung der Welt“. In: Klaus Amann/Armin A. Wallas (Hrsg.): Expressionismus in Österreich. Die Literatur und die Künste. Wien u. a. 1994, S. 379–395, hier S. 388.

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Nebeneinander von Gattungen, Texten und deren Dekomposition, die Unvermitteltheit der Absätze, dann aber wieder die Fortsetzung einzelner Abschnitte selbst über Kapitelgrenzen hinaus heben die Einheit des Textes im Sinn von Kohärenz auf. Sie gilt stattdessen der Utopie einer Totalität, die sich in wechselnden Zuständen je neu ausformt. Die Utopie scheitert im Text aufgrund der Einweisung Saulers in die Psychiatrie, die den Binarismus ‚krank‘/‚normal‘ restituiert und das ‚Andere‘ als das ‚Verrückte‘ ausgrenzt: „Hütet euch vor dem Fach, vor dem Namen“, mahnt der Erzähler, der sich „verrückt nur deshalb“ wähnt, „weil ich in einem Hause der Verrückten wohne“ (S. 90). Auch Paul Sauler ist ‚nämlich‘ nicht ‚derselbe‘: Er ist Paulus und Saulus zugleich, ein Anhänger Ahoruns, der „heimlich Avorun gewählt hatte“ (S. 90), und beides wiederum nicht, ist „Paolo“ (S. 10) und „Paule“ (S. 29). Das Spiel mit den Namen folgt dem „poetologischen Impuls, die ‚sprechende‘ Semantik des Personennamens zu unterlaufen und damit seinen Träger zu entwirklichen“.48 Nicht zuletzt wird hier die Einheit der Erzählerstimme aufgehoben. Als Schreibender ist der Erzähler zugleich (widerwilliger) Leser seines eigenen Textes: „Ich will solches Zeug nicht wieder lesen. Die Augen brennen einem nur davon, besonders bei dem schlechten Licht“ (S. 45). Doch sein Text gerät ihm aus der Hand, hypnotisiert wird er zu Avoruns willfährigem Schreibwerkzeug: „Jetzt hebt er meinen Finger, meinen Arm. Er schreibt auf ein weißes Blatt. Ich bin nur seine Hand. Ich bin leer, o mein Gott, und er, wehe, er ist mein Leib mit meinem Willen“ (S. 64). Das Ich ist nicht länger Subjekt seines Sprechens, als solches wird es abgelöst von der dritten Person, die auch zum Leser wird: „Avorun, der Hund, las solches […]“ (S. 67). Die Position des Rezipienten wechselt nach der Einlieferung Saulers in die Anstalt zu Gott, der jedoch – wie der Leser des Textes Nämlich – nicht voll im Bild ist: „Der Vater des Sohnes und aller Welt blickt streng von seinem wunderbaren Buche auf, in dem aller Inhalt leibhaftig ist. Lesen, immer lesen, ist sein ununterbrochenes Werk. – ‚Wo hast du dich umhergetrieben in dem Stoffe?‘ so fragt er seinen Sohn, ein wenig unwillig über die Störung“ (S. 91). Dem Leser also ist die Schöpfung übertragen, durch die der Inhalt leibhaftig, konkret wird. Die Deontologisierung des Erzählten produziert Auffälligkeit: Die Herstellung kognitiver Dissonanz entautomatisiert das Lesen, lenkt die Aufmerksamkeit auf den Vorgang des Erzählens und fordert die vorstellende Mittätigkeit des Lesers heraus. Der Rezipient ist der eigentliche Produzent der Aufzeichnungen, durch ihn wird die dargestellte Welt als Wirklichkeit

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Erich Kleinschmidt: „Schreiben auf der Grenze von Welt und Sprache. Radikale Poetik in Paul Adlers ‚Nämlich‘“. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 73 (1999), S. 457–477, hier S. 461.

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präsent. Der Text vermittelt auf diese Weise Transzendenz, die der Leser als nicht bloß rezipierender, sondern handelnder „unmittelbar und auf ewig“ als „seinen Himmel um sich […] erschaffen“ soll.49 Sauler hingegen „will in [s]einen vielen Irrtümern nicht selber lesen“ (S. 90). Zuletzt bleibt auch der Leser als Autorinstanz nicht unangefochten und wird zur Funktion des Textes. Gegen Ende der Erzählung wird Sauler das Buch mit seinen Aufzeichnungen von einem Wärter abgenommen, ein Schreibverbot wird ausgesprochen, dem er „gehorcht“ (S. 89). Nichtsdestotrotz setzt sich der Text noch einige Seiten fort – der Text Nämlich spricht sich selbst als autonomer, raum- und zeitloser Sprechakt. Er ist nicht „nur ‚nämlich‘ ein Text“,50 er ist „Nämlich“: Ich, die Gestalt eines Namens habend. Das Schreiben einer anderen, differenzlosen Welt, einer Einheit des Absoluten erweist sich endlich jedoch als Aporie: Sie beruht selbst noch auf einem abschließenden feinen Unterschied, die den Diskurs des Anderen, die im Schreiben oder Lesen zu verwirklichende Transzendenz, vom Gehabten trennt. Als Diskurs bleibt seine Logik eine sprachliche. Das Andere kann sich nicht artikulieren, wird nicht gehört: „Eines Tages, vom Zenit bewegt, kam die Flut meinen Fluß herauf und zerstörte in dem engen Gange die Muschel, die feine Unterscheiderin. Alles ertrank, so Gerechtigkeit wie Ungerechtigkeit“ (S. 94). So bleibt, wo niemand mehr hört, zuletzt nur das Verstummen der Rede. 2.2 „[D]iese eigentümliche Verschiebung innerhalb der Zeit“ – Robert Müllers Tropen Ähnliche Verfahren der Auflösung und Neukonstruktion von Raum-ZeitVerhältnissen lassen sich in Robert Müllers Roman Tropen (1915) nachweisen. Vor dem Hintergrund einer Schatzsuche im Gebiet von Guyana inszeniert der Text das ekstatische Erleben seines autogenen Erzählers Hans Brandlberger. Die Expedition ist vor allem eine in dessen Psyche. Das Geschehen nimmt zunehmend wahnhafte Züge an, die Figurengrenzen sind durchlässig. Seine Begleiter Jack Slim und Charlie van den Dusen kommen unter rätselhaften Umständen ums Leben, nur Brandlberger selbst gelingt mithilfe der Indianerin Zana die Rückkehr in die Zivilisation. Das Ende des Romans schließt den Kreis zum „Vorwort“ des fiktiven Herausgebers „Robert Müller“. Dieses beginnt mit einer Ortsund Zeitangabe:

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Paul Adler: „Glauben aus unserer Zeit“. In: Die Aktion 6 (1916), Sp. 287–293, hier Sp. 291. Niehaus (Anm. 41), S. 56.

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Im Jahre 1907 war an der Grenze zwischen Brasilien und Venezuela im Quellgebiete des Rio Taquado ein Indianeraufstand ausgebrochen. Die europäischen und nordamerikanischen Reisenden, die sich innerhalb der Aufstandszone herumtrieben, […] konnten von den anrückenden venezolanischen Regierungstruppen mit knapper Mühe vor einem Massaker bewahrt werden. An der Spitze der Stämme, die sich gegen die immer merkbarer übergreifende Zivilisation auf den Kriegspfad begeben hatten, stand eine Priesterin namens Zaona. […] Man hätte in San Franzisko, Kalifornien, wo ich mich damals aufhielt, wie überhaupt an den fortgeschrittenen Punkten der Welt von den Ereignissen, die in den genannten Landstrichen keine Ausnahme vom gewöhnlichen Jahresablauf darstellen, kaum Notiz genommen, wenn nicht der bedeutende Umfang der Erregung, gleichwie der Umstand, daß ihr weißhäutige Ausländer zum Opfer gefallen waren, die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten. Eine Expedition von sieben Nordamerikanern und drei Deutschen […] war schließlich zusamt ihrer Bedeckungsmannschaft aufgerieben worden. Die Kolonisationspläne der kleinen Gesellschaft stammten von dem deutschen Ingenieur Hans Brandlberger, der mit amerikanischem Kapital den großzügigen Vorsatz verwirklichen wollte, fruchtbare Gebiete des inneren Südamerika, die heute noch von unendlichem Urwald überzogen sind, weißen Farmern zugänglich zu machen und auf kommunistischer Grundlage eine ideale Verwaltung der kultivierten Gebiete durchzuführen. Brandlberger hatte das Schicksal seiner Begleiter geteilt.51

Die Passage konstruiert quasi mathematisch, ingenieurmäßig: über Punkt, Linie, Fläche einen dreidimensionalen Raum. Innerhalb dieses Raums finden verschiedene Bewegungen und Gegenbewegungen statt, die schließlich in die Zirkulation eines „Jahresablaufs“ integriert werden. Mit den unterschiedlichen Trägern der gegenläufigen Bewegungen sind alle denkbaren Formen der Kultur, der Gemeinschaft und der Herrschaft zu einer raumzeitlichen Konstruktion zusammengeschlossen. Die verschiedenen Zeitkonzepte sind topologisch in geometrische Figuren übersetzt: Bewegung und zivilisatorischer Fortschritt stellen sich dar als zur Linie fortgesetzte Punkte im Raum, als Chronologie einer geschichtlichen Entwicklung; den ‚Primitiven‘ ist eine zyklische Zeit zugeordnet, die ihr Tun einem natürlichen Rhythmus unterstellt. Die Herausgebererzählung konstatiert den Tod des vermeintlichen Autors der nachfolgenden Aufzeichnungen. An dieser Stelle vollzieht sich ein logischer Bruch, hieß es doch zuerst, die Reisenden hätten von den noch rechtzeitig eintreffenden Regierungstruppen vor einem Massaker bewahrt werden können. Der Satz im Präteritum steht zu seiner Textumgebung, die im Plusquamperfekt gehalten ist, im Verhältnis der Nachzeitigkeit. Die Schilderung wird durch

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Robert Müller: Tropen. Der Mythos der Reise. Urkunden eines deutschen Ingenieurs. Hrsg. von Günter Helmes. Hamburg 2010, S. 5; Zitate werden im Haupttext nachgewiesen; zur Konstruktion des „Vorworts“ ausführlich Manfred Weinberg: „‚[D]ie Tropen bin ich‘. Robert Müllers ‚Mythos der Reise‘“. In: Deutsch in Lateinamerika. Ausbildung – Forschung – Berufsbezug. Akten des XII. ALEG-Kongresses auf CD-ROM. Leipzig/Havanna 2006, 12 Seiten.

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eine Erzählerdigression unterbrochen. Anschließend wird eine andere Version der Geschehnisse präsentiert, nach der nun die Reisenden „der Erregung […] zum Opfer gefallen waren“. Ebenfalls im Plusquamperfekt steht die Aussage über das Schicksal Brandlbergers. Welches Schicksal welcher Begleiter hat Brandlberger dann eigentlich geteilt? Die Aussage ließe sich auch auf den Tod Slims und van den Dusens in der Romanhandlung beziehen. In jedem Fall liegt hier ein Widerspruch in der Logik zeitlicher Sukzession vor – hervorgebracht durch die grammatische Gestaltung der Zeitverhältnisse –, der eine erste Achronie bedingt und als Zeitparadoxon das Konzept der Geschichte hintertreibt. Es handelt sich dann um eine erzählte Welt, in der eine Reisegruppe einer Erregung zum Opfer fällt und zugleich (oder vielmehr anschließend) vor einem Blutbad bewahrt wird. Die komplexe, ingenieurmäßige Konstruktion der raumzeitlichen Welt wird im selben Atemzug dekonstruiert und als fiktiv angezeigt. Ähnlich widersprüchlich stellen sich die weiteren Umstände, Inhalte und Figuren des Romans dar. Im Roman Tropen des Autors Robert Müller gibt es einen Herausgeber „Robert Müller“, der die Figuren Brandlberger und Slim als historische Figuren einführt und zugleich als Fiktionen preisgibt. Diese gespaltenen Figuren wiederum treten als Protagonisten der anschließenden Romanhandlung auf, deren Autor angeblich jener Brandlberger des „Vorworts“ ist. Im Roman selbst entwerfen beide, Slim und Brandlberger, jeweils Buchprojekte, die u. a. den Titel „Tropen“ tragen, deren Inhalt mit dem des Romans identisch ist und von den Figuren Slim und Brandlberger getragen wird usw. Es ergibt sich, wie bereits von Ingrid Kreuzer gezeigt, ein Spiegelsystem, das sich theoretisch ins Unendliche fortsetzt.52 Am Ende des Romans schließlich äußert der Ich-Erzähler Brandlberger: „Es ist auch möglich, daß ich wie Slim den allerlächerlichsten Tod finde. Dann springt der Dichter ein, dann ist es Zeit für den Dichter, die Tragikomödie liegt fix und fertig vor ihm da“ (S. 283). Der Zirkel zum „Vorwort“ schließt sich. Alle Differenzen und Widersprüche, die dort und im Roman aufgeworfen sind, werden in einen Kreislauf eingeschlossen: in eine paradoxe Einheit der Differenzen, die – über ihre Spiegelungen und die infinite Kreisstruktur – zugleich absolute Dauer und zeitlose Unendlichkeit bedeutet. Durch die Verschränkung der diegetischen Ebenen erhält der Roman eine metaleptische Struktur. Indem er „an seinem Ende wieder zum Anfang zurückkehrt und sich, obgleich bereits erzählt, als erst noch zu erzählender prospektiv reflektiert“, ist ihm

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Vgl. Ingrid Kreuzer: „Robert Müllers ‚Tropen‘. Fiktionsstruktur, Rezeptionsdimensionen, paradoxe Utopie“. In: Helmut Kreuzer/Günter Helmes (Hrsg.): Expressionismus – Aktivismus – Exotismus. Studien zum literarischen Werk Robert Müllers (1887–1924). Göttingen 1981, S. 101–145, hier S. 113.

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eine achronische Struktur gegeben, in der unentscheidbar ist, ob „die Erzählung Brandlbergers nun Vergangenheit oder […] Zukunft“53 ist. Es lässt sich nicht einmal entscheiden, was zuerst ist: Roman oder Herausgeber-„Vorwort“. Nur die Gegenwart des Erzählens, das sich unendlich perpetuiert, ist sicher. Das Ereignis der Erzählung erhält unendliche präsentische Dauer, die als Inkarnation von Welt in den Text auch den Leser verschlingt. Vor dem Hintergrund dieser mythologischen Zeit heben sich Augenblicke ekstatischen Erlebens ab. Zeitlosigkeit und Augenblicksekstase bilden Korrelate einer paradoxen Zeitstruktur. Die Romanhandlung wird immer wieder durch die Darstellung mystischer Erlebnisse unterbrochen. Diese visionären Momente sind nach einem bestimmten Schema gestaltet: Einer Semantik der Plötzlichkeit korrespondieren Interjektionen und deiktische Gesten, die den Geschehnisablauf unterbrechen: „Halt; was war das? Einen Augenblick lang rafften sich die eingeschläferten Geisteskräfte auf, die Lethargie platzte wie eine der Fruchtkapseln im brütendstillen Walde, sechs Sekunden lang fühlte ich mich so frisch und hell, als ginge ich auf dem Sonntagspflaster einer hübschen mitteleuropäischen Stadt und dächte einen unbekannten Gedanken.“ (S. 16) Die topografische Einheit des Raums wird aufgehoben durch die Überblendung von Dschungellandschaft und europäischer Stadt. Der Erzähler hat „eine blitzartige vorüberhuschende Erkenntnis, eine Erinnerung wollte sich formen, ein paar Vorstellungen liefen vage zu einem Urteil zusammen … und da wurde das weiße Licht des Tages grau vor Weiße, es türmte sich zu einer sinnlichen Mauer von Widerstand, an der das Denken zerbrach.“ (S. 16) Das Aussetzen der distinkten begrifflichen Logik im visionären Erleben zugunsten konfusen sinnlichen Empfindens und bildhafter Vorstellung wird mittels paradoxer Gleichsetzungen gestaltet, hier durch die Contradictio in Adjecto des „vor Weiße“ grauen „weiße[n] Licht[s] des Tages“. Gebrochen erscheint überdies die dargestellte negative Zeitlichkeit des Augenblicks durch die ironische Zeitangabe „sechs Sekunden“, die selbst noch die Logik unvermittelter Präsenz aufhebt. Die gesteigerte Sensibilität des visionären Dämmerzustands, des ‚prälogischen‘ Denkens wird mithilfe von Klangfiguren, besonders Assonanzen und Alliterationen, durchgeführt: „All dies hatte ich schon einmal erlebt. Diese milden müden Wasser hatten um mich gespült. Dieses scheinhafte Licht, diese Süße, diese Laune, dieses Dämmern im Unausgesprochenen war nicht neu, es traf auf Erinnerung im Menschen, es war eine – Wiederholung.“ (S. 17) Die freirhythmische Rede drückt das Dargestellte performativ aus, die Trochäen der „milden müden Wasser“ etwa übersetzen die ruhige

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Stephan Dietrich: Poetik der Paradoxie. Zu Robert Müllers fiktionaler Prosa. Siegen 1997, S. 58 f.

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Bewegung des Flusses in Textbewegung. Die typografisch hervorgehobene „Wiederholung“ wird direkt im Anschluss in Form von Wiederholungsfiguren ausgeführt. Das klassische Epiphanie-Vokabular der Mystik wird in die Materialität des grafischen Zeichens zurückgenommen: „Ahh! Was war das – – – / – – – als es auch schon licht in mir wurde, ja, geradezu überirdisch zu tagen begann. Das also war es! Das also war das Geheimnis […]!“ (S. 19) Der Moment mystischer Evidenz erscheint selbst als Moment, als Unterbrechung des Textflusses und ist als einzelne kurze Zeile von der Umgebung abgesetzt. Die als Pause und begriffliche Leerstelle eingesetzten Gedankenstriche unterbrechen die sprachliche Sukzession, die Kontinuität der Zeiterfahrung, und stellen die Erzählzeit, die Zeit der Lektüre still. Erneut wechselt die Rede in die deiktische Funktion. Dabei reflektiert der Entzug des Gegenstands dieses Zeigens dessen Unsagbarkeit. Im Einklang mit der topografischen Simultaneität von Urwald und Stadt wird auch die Topologie von Innen und Außen der Wahrnehmung aufgelöst: Das „weiße Licht“ der Erkenntnis, das „grau vor Weiße“ ist, ist reine Phänomenalität und verweist als Bewusstseinsblendung einzig auf die „graue Masse [der] Gedanken“ (S. 16): das Gehirn. Zuletzt wird doch ein Erkenntnisobjekt fingiert. Die Gnosis des Erkenntnisaugenblicks betrifft eine mystische Einheitsvorstellung: „Meine Identität mit diesem Zustande war festgestellt. […] Alle diese Lebewesen, all dies Generelle um mich her war einmal ich“ (S. 19 f.). Durch die Identifikation des Ichs mit den Objekten seiner Wahrnehmung ist das Repräsentationsmodell der Sinnesempfindung beseitigt und durch einen Zustand der Präsenz im Sinn ungeschiedener Anwesenheit, Partizipation und Gegenwärtigkeit ersetzt. Die genannte ironische Brechung des Präsenzverfahrens lässt sich in diesem Zusammenhang als Erweiterung mystischen Sprechens und der klassischen Rhetorik des Vor-Augen-Stellens hin zu gesteigerter Reflexivität lesen. Müller geht es um die sprachliche Herstellung einer „Neue[n] Evidenz“ durch die Vermittlung von „Primitivität“ und „Reflexion“:54 Monotone Formwiederholung, Reduktion der Sprache auf ihre Materialität als primitivistische Abstraktion und logischreflexive Abstraktion sollen im Sinn einer Formsemantik in Ausgleich gebracht werden. Müllers Präsenzstrategien zielen ebenso auf die rhetorische Persuasion des Lesers wie auf dessen Geistesgegenwart, auf eine Dialektik von Affektivität und Rationalität. Die andere Zeitlichkeit des inneren Erlebens, der Zusammenbruch chronologisch homogener Zeit, wird aktualisiert mithilfe von Brüchen in der Ordnung des fiktionalen Diskurses. Hierzu dienen Verschränkungen

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Robert Müller: Der Orientale. Rassen, Städte, Physiognomien. Kulturhistorische Aspekte. Hrsg. von Stephanie Heckner. Paderborn 1992, S. 64–82, hier S. 64.

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der diegetischen Ebenen ebenso wie Verstöße gegen die grammatische Zeit: Ruhe! „Die seltsamen, tiefen Einblicke in mein Inneres, die mir während der verschiedenen Phasen der Reife gewährt werden, bringen mich gleich das erstemal, damals als ich die Sprache des Waldes, die leben heißt, zu verstehen beginne, auf die Idee, daß es sich um eine Art erotischer Vertauschungen, eine Art etwas gescheiterer Hysterie handelte. Heute denke ich, daß Liebe und Erotik niemals Untergründe, sondern Folgen sind. […] Die erotischen Wettläufe des intellektuellen Mannes haben um so weniger mit der Weltreise: Liebe zu tun, je höher sein Intellekt steht“ – werde ich schreiben. Ich bitte zu bemerken, daß ich referiere, die Gedanken eines von Hitze verbrannten und zu Asche gewordenen Gehirnes wiedergebe; ich schildere einen Mann, der inmitten gesegneter, abenteuerlicher Umstände, wie er sich einbildet, das Buch schreibt, das er erst erleben wird. Dieser Mann war ich. Ich war mit visionärer Kraft meiner eigenen Zukunft vorangeeilt. Ich fuhr als Schreibtisch einen Strom hinauf und vermengte in der Geschwindigkeit ein wenig die Zeit. (S. 27, Hervorhebung im Original)

Wiederum ist das Erzählen stillgestellt durch einen Ausruf, an den sich die selbstreflexive Metalepse eines Monologs im Monolog anschließt. Zwar sind die Positionen des Sprechers als erzählendes und erzähltes Ich enggeführt, doch erscheint der Sprechakt selbst gespalten, die Stimme des Erzählers in einem Verhältnis der Selbstbeobachtung verdoppelt. Auf der grammatischen Ebene der Zeitformen unterläuft das Temporaladverb „damals“ das Präsens der Rede, Vergangenheit und Gegenwart werden als Einheit gesetzt. Durch das anschließende „Heute“ wird das vorangegangene Präsens in die logische Stellung des Perfekts gebracht. Mit der Ankündigung: „werde ich schreiben“ außerhalb der Parenthese, die den angeführten Monolog als zukünftige Sprachhandlung ausgibt, werden alle Zeitstufen als Gegenwartsform eines Referats vorgestellt: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aggregieren – nach dem Vorbild bergsonscher Dauer – zur Gleichzeitigkeit eines Bewusstseinszustands. Die in die Formulierung transponierte achronische und atopische Struktur des hysterischen Dämmerzustands hemmt als Textwiderstand den Lesevorgang und derealisiert das Geschilderte. Zugleich ist die Szene als Schreibszene kenntlich gemacht. Der Erzähler ist nicht Person, sondern als Schreibtisch Verkörperung der Textproduktion selbst. Der Text erzählt sich selbst und gibt durch die Nennung der Schreibsituation die Erzählung als Erzählung zu erkennen. Erleben und Erzählen, Vorzeitigkeit und Nachzeitigkeit werden zu einer paradoxen Gleichzeitigkeit aufgehoben, Erzählung, Erzähler und Erzähltes gleichgesetzt. Einzige Realität der ironischen Autoreflexion ist der entpersonalisierte Sprechakt des Textes.

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Christoph Gardian

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Atemporalität

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ANDREA ERWIG (München)

Poetologien des Wartens. Robert Musils Die Vollendung der Liebe und der ‚waiting plot‘ um 1900 1. Wartezeiten und Erzählen 499 – 1.1 Warten und ‚plotting‘ 500 – 1.2 „Alles steht, stockt, wartet“. Das auf Dauer gestellte Warten um 1900 504 – 1.3 (Zeit-)Pathologien des Wartens und der Plot ihrer Heilung: Breuers und Freuds „Studien über Hysterie“ 505 – 2. Figuren des Wartens in Robert Musils „Die Vollendung der Liebe“ 510 – 2.1 Warten und Möglichkeit 513 – 2.2 Warten als Selbstzweck und die „Versuchung stehenzubleiben“ 516 – 2.3 Zur Allianz von Warten, Stillstand und Schweigen 518 – 2.4 Der ‚waiting plot‘ der „Vollendung“ 522

1. Wartezeiten und Erzählen Warten und Erzählen sind verwandt und das seit den Anfängen der Literatur. Warten und Zeit sind verwandt und das bereits in Homers Odyssee. „Beim Warten hat man also die Zeit entdeckt“, so weit sogar geht Hermann Fränkel in seinen Studien über die Zeitauffassung bei Homer. Chronos melde sich in den Epen Homers dann zu Wort, wenn die „Zeit leer bleibt: wenn sie nutzlos vertan oder verwartet wird“.1 Dem Warten in der Moderne ist eine mythopoetische Vorgeschichte eingeschrieben, die es nicht nur als einen Bestandteil der erzählten Welt, der Zeit indiziert, sondern auch als Komponente des Erzählens kennzeichnet. Homers Epos veranschaulicht diese doppelte Funktion des Wartens für das Erzählen an jener Figur, die in der Odyssee am längsten wartet und dabei zugleich warten lässt: Penelope. Ihre Hinhalte-Technik und ihr Warten sind aufs Engste mit einem repetitiven Handwerk verknüpft, das eine bekannte poetologische Metapher darstellt: dem Weben (lat. texere).2 Auf die Heimkehr Odysseus’ wartend, hält Penelope drei Jahre lang die Freier hin, indem sie

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Hermann Fränkel: „Die Zeitauffassung in der frühgriechischen Literatur“. In: Ders.: Wege und Formen griechischen Denkens. Literarische und philosophiegeschichtliche Studien. Hrsg. von Franz Tietze. München 1968, S. 1–22, hier S. 2. Vgl. hierzu allgemein Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortgeflechts und der Kombinatorik. Köln u. a. 2002.

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vorgibt, ein Leichentuch für Laertes weben zu müssen, aber die tagsüber gewobenen Fäden des Nachts wieder auflöst. Diese List verhilft ihr zum Aufschub des Treuebruchs und einer neuen Vermählung;3 zweierlei Varianten des Wartens sind darin verschränkt: das Warten auf die Ankunft eines zukünftigen Ereignisses, das nicht aktiv vom Wartenden herbeigeführt werden kann, und Warten als aktive Strategie und Fähigkeit der Verzögerung und des Aufschubs. In der Odyssee verdichtet sich diese Strategie zu einer List des Erzählens, die es erlaubt, das Geschick des Wartens und Wartenlassens über die poetologische Metapher des Webens mit jenem des Plots und plotting zu verbinden.4 Das Weben und die Auflösung des Gewobenen metaphorisieren komplementäre Bewegungen des Erzählens: Das Weben verbildlicht die kohärente Zusammenfügung von Geschehnissen, das heißt die sequentielle Verbindung der mannigfachen Stationen und Abenteuer Odysseus’ in einem „Fadenwerk“,5 das bezeichnenderweise mit Odysseus’ Heimkehr seine Vollendung6 findet. Die Auflösung des Gewobenen hingegen verweist auf den Aufschub gerade dieser Vollendung, auf stationäre Haltepunkte und Ablenkungen von einer angesteuerten Bewegungsroute, auf Stockungen im Fortgang der Handlung, auf die Verzögerung erwünschter Ereignisfolgen im Erzählen.7 Sie verweist auf das, was Odysseus’ Reise in alle Winde zerstreut und seine Fahrt zum Epos einer Irrfahrt macht – auf das, was in den Augen Fränkels auch auf der Ebene der histoire mitunter „negative Zustände des Wartens“ schafft und Chronos als „lange Dauer“ erscheinen lässt.8 1.1 Warten und plotting Eine erzähltheoretische Perspektive auf das Warten9 lässt sich mit Peter Brooks’ zeitübergreifendem Modell des Plots fundieren.10 Peter Brooks

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Homer: Odyssee. Übers. von Roland Hampe. Stuttgart 2005, S. 9, 93–110; 19, 138–156 und 24, 128–146. Zur Bedeutung des Verbs hyphaínein als Metapher für „scheming and plotting“ bei Homer vgl. Irene J. F. de Jong: Narratological Commentary on the Odyssey. New York 2001, S. 51. Ulrich Meurer: „Kette, Schuss, Gegenschuss: Penelope als autoreflexive Figur in Godards Le Mépris“. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Perseus’ Schild. Griechische Frauenbilder im Film. München 2008, S. 125–161, hier S. 127. Homer (Anm. 3), S. 24, 146–149. Vgl. hierzu ausführlicher Harold Schweizer: On Waiting. London/New York 2008, S. 45–70 (Kap. 4: „Penelope’s Insomnia“). Fränkel (Anm. 1) S. 2. Die literaturwissenschaftliche Forschung zum Warten beschränkt sich meines Wissens derzeit auf wenige Monographien und eine Reihe von Einzelstudien; weiterführende Monographien sind: Lothar Pikulik: Warten, Erwartung. Eine Lebensform in End- und Übergangszeiten. An Beispielen aus der Geistesgeschichte, Literatur und Kunst. Göttingen 1997; Schweizer

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entwickelt ein dynamisches Modell des Erzählens, das dem Aufschub und der Verzögerung wesentliche Bedeutung zuschreibt. Interessiert an einer „erotics of art“,11 ist für Brooks besonders ein Element zentral für den Plot: das „desire“.12 Das Begehren ist nach ihm nicht nur zeitloses Thema literarischer Texte und treibende Kraft der Figuren, sondern ebenso Motor des Plots wie auch seiner Lektüre. Das „narrative desire“13 bestimmt in den Augen Brooks’ die Dynamik des Erzählens, Bedeutungen und Ereignisse aneinanderzubinden und in temporaler Sukzession zu verknüpfen, wie auch ein Lesen, das nach abschließendem Sinn verlangt. Angetrieben vom Begehren, eignet dem Plot eine intentionale Bewegung, die ihren Fluchtpunkt in seinem Ende findet. Für Brooks ist es das Ende, das den Anfang und die Bewegung der Narration retrospektiv organisiert, auf das sich das ‚hermeneutische‘ Begehren des Plots ausrichtet, in dem sich sein Sinn vollzieht und verbraucht.14 Notwendigerweise aber gibt der Plot im Prozess dieser Sinnstiftung – in Anlehnung an Aristoteles – einer ausgedehnten Mitte statt. Diese entfaltet sich zwischen dem anfänglichen Begehren und seinem Ende und wird von Brooks als Raum der Verzögerung („space of retard“), des Aufschubs („postponement“)15 und des Umwegs („detour“)16 zum Ende in den Blick genommen. Die Funktionen dieser Mitte vergleicht er mit der von Sigmund Freud in Jenseits des Lustprinzips (1920) entworfenen Triebdynamik,17 die er mit der Dynamik des Erzählens überblendet. Gemäß dieser Übertragung generiert sich das Erzählen im Wechselspiel zweier Kräfte, die den gleichen Prinzipien wie das Leben

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(Anm. 7); Jennifer Marston William: Killing Time. Waiting Hierarchies in the Twentieth-Century German Novel. Lewisburg 2010 und Nadine Benz: (Erzählte) Zeit des Wartens. Semantiken und Narrative eines temporalen Phänomens. Göttingen 2013. Anregungen verdankt dieser Beitrag v. a. den Einzelstudien Annette Kecks zum Warten – besonders: „Versuchungen. Zur modernen Defiguration von Warteraum und Geschlecht“. In: Dietmar Schmidt (Hrsg.): Körper Topoi. Sagbarkeit – Sichtbarkeit – Wissen. Weimar 2002, S. 189–208. Anregungen zu Brooks’ Plotmodell verdanke ich Anna-Lisa Dieter und ihrer demnächst erscheinenden Dissertation über Geschichte als Passion. Stendhals Poetiken der Restauration. ‚Armance‘ und ‚Le rouge et le noir‘, sowie Samuel Fredericks Buch über digressives Erzählen (Narratives Unsettled. Evanston 2012), das Anschlussmöglichkeiten zum Warten eröffnet. So das bekannte Diktum Susan Sontags, an das sich Peter Brooks anlehnt, vgl ders.: Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative. New York 1984, S. XV. Vgl. hierzu das Kapitel „Narrative desire“ in Brooks (Anm. 11), S. 37–61. Unter „desire“ versteht Brooks „like Freud’s notion of Eros, a force including sexual desire but larger and more polymorphous, which […] ‚seeks to combine organic substances into ever greater unities‘“ (S. 37). Brooks (Anm. 11), S. 37. Vgl. Brooks (Anm. 11), S. 52. Vgl. v. a. Brooks (Anm. 11), S. 92. Vgl. v. a. Brooks (Anm. 11), S. 103 und 108. Brooks: „Freud’s Masterplot: A Model for Narrative“. In: Ders. (Anm. 11), S. 90–112.

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folgen: einem „Zauderrhythmus“18 von Todes- und Lebenstrieben, deren mythologisches Pendant Freud in der Gestalt des Eros findet.19 Einerseits ist das Erzählen teleologisch ausgerichtet. Analog zum Freud’schen Todestrieb wohnt ihm eine Kraft inne, die vorwärts „stürm[t]“, um das „Endziel des Lebens“, das heißt den Tod, den Brooks mit dem Ende der Erzählung gleichsetzt, „möglichst bald zu erreichen“.20 Andererseits sind dem Leben wie dem plotting Strategien der Retardation und dabei insbesondere der variierenden Wiederholung eigen, die gegenwärtige und vergangene Ereignisse aneinander binden, das Erzählen an „gewissen Stellen“ zurückschnellen lassen, um den „Weg von einem bestimmten Punkt an nochmals zu machen“.21 Ihre Aufgabe ist es, die „Dauer des Weges“ zu dehnen und das Erzählen wie das Leben für „längere Zeit [zu] erhalten“.22 Diese dilatorischen Strategien des Eros versteht Brooks im Sinne Freuds als unabdingbare „Lebenswächter“ des Plots, die in der Erzählung wie im Leben den Irrweg eines „Kurzschluß[es]“ verhindern, gleichwohl aber als „Trabanten des Todes“ fungieren, weil sie auf diese Weise einen „immanenten“ Todes-Weg ebnen.23 Das heißt einen Weg, der den Plot zu seinem richtigen und sinnstiftenden Ende führen soll, einem Ende, in dem das „desire for the end“24 seine Befriedigung finden kann und sich erschöpft. Brooks begreift Jenseits des Lustprinzips als „masterplot“25 des Erzählens und dessen Ähnlichkeit zu den Kräften des Lebens, die Freud als Umweg zum Tode konzipiert.26

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Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips [1920]. In: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. Bd. III: Psychologie des Unbewußten. Frankfurt a. M. 2000, S. 213–272, hier S. 250. Vgl. Freud (Anm. 18), S. 253–269. Zur „Übertragbarkeit“ der Triebdynamik Freuds auf das Erzählen vgl. auch das Kapitel „Der epische Umweg: Jenseits des Lustprinzips als Metaerzählung“ in Isabel Platthaus’ Monographie Höllenfahrten. Die epische ‚katabásis‘ und die Unterwelten der Moderne. München 2004, S. 85–90. Freud (Anm. 18), S. 250. Freud (Anm. 18), S. 250. Freud (Anm. 18), S. 250. Die Wiederholung, die einen früheren Zustand alterierend zurückkehren lässt oder zu diesem zurückzukehren sucht, das unmittelbare Erreichen dieses Ziels als „Wiederholungszwang“ aber selbst behindert, ist nach Freud Kennzeichen des Konservatismus der Triebe und, wie Brooks in Anlehnung an Tzvetan Todorovs Poetik der Prosa (1971, dt. 1972) ausführt, zentraler Bestandteil der bindenden und verknüpfenden Tätigkeit des plotting. Vgl. Brooks (Anm. 11), S. 97–104. Zu weiterführenden Überlegungen über die Wiederholung als Figur des Kreisschlusses im Erzählen vgl. neben Brooks auch Platthaus (Anm. 19). Freud (Anm. 18), S. 249. Brooks (Anm. 11), S. 52. Brooks (Anm. 11), S. 90. Vgl. auch Platthaus (Anm. 19), die umgekehrt auch zeigt, wie in Jenseits des Lustprinzips das „Leben nach den Regeln des Erzählens konstruiert wird“ (S. 85–90, hier S. 89).

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Die Modellierung dieses Umwegs als „dilatorische[n] Raum“27 des Plots, der für das Finden des richtigen Endes konstitutiv ist, schließt an Roland Barthes’ Überlegungen zum hermeneutischen Code von Erzählungen an. Der hermeneutische Code, den Barthes anhand von Honoré de Balzacs Sarrasine (1830) entfaltet, gliedert die Fragen, Rätsel und Geheimnisse in Erzählungen „entsprechend der Erwartung und dem Begehren nach Lösungen“28 und Antworten. Kennzeichnend für diesen Code ist eine „dilatorische Struktur“,29 die sich zwischen Fragen und Antworten ausformt, den Aufschub einer Lösung bei gleichzeitiger Andeutung derselben bewirkt, um das „Rätsel in der anfänglichen Leere seiner Antwort bestehen zu lassen“.30 Eine solche Verzögerung bringt, seitens des Plots wie auch seines Lesers, die Erwartung einer Lösung hervor. Der Erwartung schreibt Barthes dabei eine doppelte Bedeutung zu, die Brooks’ Konzeption des „desire“ als eines „desire for the end“ vorwegnimmt: Als Effekt der Verzögerung ist die Erwartung einerseits als eine „Unordnung“ zu begreifen, als das, „was sich endlos hinzufügt, ohne etwas zu lösen, ohne etwas zu beenden“.31 Andererseits aber impliziert sie eine „Rückkehr zur Ordnung“32 und richtet sich auf eine „Schließung“33 aus, wobei sie eine „Finalität der Enthüllung“34 unterstellt. „Die Erwartung“, so schreibt Barthes, „wird auf diese Weise die grundlegende Bedingung der Wahrheit: die Wahrheit, das sagen uns die Erzählungen, steht am anderen Ende des Wartens“.35 Zusammenfassend verdeutlichen die Ansätze von Brooks und Barthes folgende Bedeutung des Wartens für den Plot: Als vorübergehender „Schwebezustand zwischen Frage und Antwort“,36 der sowohl die Dynamik des Plots als auch seinen Leser umgreift, kann das Warten als zentrale poetologische Reflexionsfigur für erzählerische Verfahrensweisen und den dilatorischen Raum des Plots gefasst werden. In einem teleologischen Plotmodell, das dem Ansatz Brooks’ zugrunde liegt, erscheint das Warten als Effekt und Strategie einer Verzögerung, die ein sinnstiftendes Ende

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Siehe den Abschnitt „XXXII. Die Verzögerung“ in Roland Barthes: S/Z. Übers. von Jürgen Hoch. Frankfurt a. M. 1998, S. 78–80, hier S. 79. Brooks verweist explizit auf Barthes’ Konzept des „dilatory space“; vgl. Brooks (Anm. 11), S. 18 und 92. Barthes (Anm. 27), S. 79. Barthes (Anm. 27), S. 80. Barthes (Anm. 27), S. 79. Barthes (Anm. 27), S. 79. Barthes (Anm. 27), S. 79. Barthes (Anm. 27), S. 80. Barthes (Anm. 27), S. 81. Barthes (Anm. 27), S. 79. Pikulik (Anm. 9), S. 99.

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aufschiebt, aber als perspektivischen Fluchtpunkt in Aussicht stellt und den Weg zu diesem paradoxerweise allererst ebnet. 1.2 „Alles steht, stockt, wartet“37. Das auf Dauer gestellte Warten um 1900 Was aber bedeutet es für das Erzählen und den Plot, wenn das Warten seine Zielgerichtetheit und seinen Fluchtpunkt verliert und nicht mehr beendet wird? Dieser Frage wenden sich die folgenden Überlegungen vor dem Hintergrund des Plotmodells Brooks’ zu. Sie nehmen ein Warten in den Blick, das seit Ende des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur in einer Vielzahl von dramatischen und erzählerischen Texten u. a. Rainer Maria Rilkes, Hugo von Hofmannsthals, Robert Walsers, Franz Kafkas und Robert Musils vermehrt seinen Ausdruck findet: ein Warten, das nicht mehr über kurz oder lang überwunden wird, endgültige Lösungen meidet und gegen die teleologische Ausrichtung des Plots und deren „Sinnversprechen“38 Widerstand leistet. Das heißt ein Warten, das auf Dauer gestellt wird und nicht mehr nur als „negative[r] Zust[a]nd“39 eines (Anti-) Helden oder konstitutiver „error“40 und Abweichung auf dem zielgerichteten Weg des Plots erscheint; ein Warten, das hingegen zu einer ‚Endlosigkeit‘ beiträgt, der sich die Literatur der Moderne bekanntermaßen verschreibt41 und auf die sie, wie zu sehen sein wird, ihr „narrative desire“ ebenfalls ausrichten kann.42 Die sich um 1900 herausbildende ‚Wartelust‘ lässt an die Stelle von zielgerichteten und zukunftsorientierten Erwartungen ein nicht enden wollendes Warten treten, dem Objekt und Intention tendenziell abhanden kommen.43 Dieses Warten wird im Kon-

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Rainer Maria Rilke: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. In: Ders.: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Manfred Engel u. a., Bd. 3: Prosa und Dramen. Hrsg. von August Stahl, Frankfurt a. M./Leipzig 1996, S. 453–635, hier S. 468. Vgl. Annette Keck, die auf die Gefährdung eines „teleologischen Erzählmodells“ durch ein „leeres Warten“ hinweist, welches der zielgerichteten Erwartung gegenüberstehe. Dies.: „Poetik unsichtbarer Wände und fadenscheiniger Machwerke. Warten mit Feuchtwanger und Beckett“. In: Sigrid Lange (Hrsg.): Raumkonstruktionen in der Moderne. Kultur – Literatur – Film. Bielefeld 2001, S. 75–93, hier S. 78. Fränkel (Anm. 1), S. 2. Brooks (Anm. 11), S. 96. Vgl. hierzu Jürgen Söring (Hrsg.): Die Kunst zu enden. Frankfurt a. M. u. a. 1990. Ähnliches stellt Frederick in Abgrenzung zu Brooks für das digressive Erzählen Robert Walsers fest. Ders. (Anm. 10), S. 25–97. Auch Peter Brooks weist implizit auf den poetologischen Stellenwert des dauerhaften Wartens für ein alternatives Modell des Plots hin, das sich durch die Absenz eines sinnstiftenden Endes auszeichnet; er verbindet diese Beobachtung mit einer veränderten Situation des Plots, „which no longer wishes to be seen as end-determined, moving toward full pre-

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text der zeitgenössischen sprachkritischen Reflexionen zu einer zentralen poetologischen Reflexionsfigur neuer literarischer Verfahrensweisen und ist als konstitutive Komponente jener modernen literarischen Texte auszumachen, die von einer ‚Entfabelung‘ gekennzeichnet sind und die temporale Sukzession und Linearität des Erzählens nicht nur kurzweilig zu irritieren oder zu unterbrechen suchen, sondern an deren Auflösung arbeiten. Demgegenüber steht der Versuch, eine Simultaneität von Zeiten oder einen punktuellen Stillstand der Zeit zur Darstellung zu bringen.44 Ein produktiver Fall eines solchen literarischen Textes ist Robert Musils Erzählung Die Vollendung der Liebe, die 1911 zusammen mit der Novelle Die Versuchung der stillen Veronika unter dem gemeinsamen Titel Die Vereinigungen erschienen ist. Freilich trägt Musils Novelle die Vollendung nicht nur im Titel, sondern hat sie auch zum Thema. Metareflexiv bezieht sich die Erzählung, die einen Ehebruch und damit auch das Begehren zum Thema hat, auf ein teleologisches Modell des Plots, das sich über das „desire for the end“ strukturiert, um sich gleichzeitig von diesem abzuwenden. Den Vorgang der Vollendung koppelt die Erzählung paradoxerweise an ein Warten, das es gerade nicht zu beenden, sondern immer wieder aufs Neue aufzusuchen und zu wiederholen gilt. Dieses Warten läuft der sukzessiven Ordnung des Plots zuwider und indiziert auf der Ebene der histoire das subjektive Zeiterleben eines Stillstands der Zeit, dem sich die Novelle auch erzählerisch anzunähern sucht. Die Erzählung erschließt das Warten auch narrativ sowie auf der Ebene der Sprachfiguren, so dass man durch die genauere Betrachtung des Wartens in Musils Text nicht nur Auskunft über moderne Möglichkeiten des plotting, sondern eine Grundlage für weiterführende Untersuchungen zum ‚waiting plot‘ erhalten mag, für dessen unterschiedliche Ausformungen eine erzähltheoretische Analyse in der Forschung bislang noch aussteht. 1.3 (Zeit-)Pathologien des Wartens und der Plot ihrer Heilung: Breuers und Freuds Studien über Hysterie (1895) Dem Warten in Musils Novelle ist ein zeitgenössischer Diskurs eingeschrieben, der das Verhältnis zwischen Warten und Subjekt verhandelt und sich mit den Folgen beschäftigt, die ein übermäßiges und wiederhol-

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dication of the narrative sentence, claiming a final plenitude of meaning“. Ders. (Anm. 11), S. 313 f. Zu diesem Kontext vgl. unabhängig von Warten u. a. Stefan Scherer: „Linearität – Verräumlichung/Simultaneität – Selbstinvolution. Texturen erzählter Zeit 1900–2000“. In: Annette Simonis/Linda Simonis (Hrsg.): Zeitwahrnehmung und Zeitbewußtsein der Moderne. Bielefeld 2000, S. 361–384.

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tes Warten für das Subjekt zeitigen kann. Besonders prägnant kommt diese Auseinandersetzung in Josef Breuers und Sigmund Freuds Studien über Hysterie (1895) zum Ausdruck, in denen das andauernde Warten als Auslöser für eine ‚Krise des Subjekts‘ lesbar wird45 – ein Schlagwort, das auch als Beschreibungskategorie der Literatur der Moderne bekanntermaßen immer wieder beschworen wird. Die Auslegung des Wartens durch die sich um 1900 etablierende Psychoanalyse soll den Überlegungen zu Musils Novelle aus dreierlei Gründen vorangestellt werden: Erstens findet das Warten in den Studien über Hysterie Eingang in die Ätiologie der Hysterie, die als traumatische Neurose konzipiert wird und erscheint als Bestandteil eines psychopathologischen Krankheitsbildes und als Auslöser für Wachträumerei und eine Dissoziation des Subjekts, wie auch Annette Keck herausgearbeitet hat.46 Zweitens wird das Warten in der Fallgeschichte Breuers an spezifische subjektive Zeiterfahrungen gekoppelt, die auch in Musils Novelle eingegangen sind. Drittens rufen die Fallgeschichten der Studien über Hysterie, deren Lektüre Freud bekanntlich mit jener von Novellen verglichen hat, ein Modell des Plots auf, das Übereinstimmungen mit den Beobachtungen Brooks’ aufweist. Das therapeutische Konzept der Psychoanalyse, die talking cure, die mit den Studien über Hysterie begründet wird, stellt den Versuch dar, den krankhaften Wiederholungszwang des Analysierten, der auch den Erzählprozess stocken lässt, zu überwinden und in einer linearen Erzählung von Ereignissen aufzulösen. Mit deren „Abschluss“ sollen die therapeutischen Krankengeschichten „zugleich ihren Sinn finden“;47 dem Konzept der talking cure unterliegt die Erwartung einer Finalität.. Das Warten wird dementsprechend auch in die therapeutische Methodik und ihre hermeneutische Deutungs- und Lektürearbeit integriert, die, um mit Barthes zu sprechen, „am anderen Ende des Wartens“ eine „Wahrheit“ hervorbringen möchte. Die drei genannten Aspekte seien im Folgenden entfaltet:

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Vgl. auch Keck (Anm. 9), die das Warten in der frühen Psychoanalyse als „Infragestellung der Identitätschiffre“ begreift (S. 193). Annette Keck (Anm. 9) verknüpft ihre Überlegungen zur Funktion des Wartens in der Fallgeschichte Anna O.’s ebenfalls mit Musils Die Vereinigungen, konzentriert sich dabei aber auf Die Versuchung der stillen Veronika und das Verhältnis zwischen Sprache und Geschlechterdifferenz. Platthaus (Anm. 19), S. 15. Diesem Anspruch gegenüber verfolgt Platthaus die „unabschließbare Wiederholungsbewegung“ im Erzählen, die auch Brooks thematisiert (Anm. 11, v. a. S. 109). Dass der Abschluss der Analyse auch Freud im Laufe seiner Arbeit problematisch wird, reflektiert u. a. sein später Text „Die endliche und unendliche Analyse (1937)“. In: Ders.: Studienausgabe. Schriften zur Behandlungstechnik. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M., S. 351–392.

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1) Die Schlüsselszene, von der sich Breuer einen „vollen Einblick in die Inkubation und Pathogenese“48 der Hysterie Anna O.’s, alias Bertha Pappenheim, versprach, ist eine Warteszene: Sie zeigt Anna O., die an dem Bett ihres kranken Vaters „nachts in großer Angst“ in „Spannung“ auf den Chirurgen wartet und dabei in einen „Zustand von Wachträumen“ gerät. „Nun war die Neigung zu autohypnotischen Absencen geschaffen. An dem auf jene Nacht folgenden Tage versank sie im Warten auf den Chirurgen in solche Abwesenheit, daß er schließlich im Zimmer stand, ohne daß sie ihn kommen gehört hat“ (58). Dieses Erlebnis benennt Breuer als „Wurzel der ganzen Erkrankung“ – als „ersten Anlass“ (58). Dabei entwirft er das gespannte, konzentrierte und unbefriedigte Warten in seinen theoretischen Nachbemerkungen – ähnlich wie auch Monotonie, Ruhe oder Momente der „lautlosen Stille“49 – als einen exzeptionellen Zustand einer übermäßigen „intrazerebralen Erregung“,50 die sich bei der Hysterika ins Abnorme steigere und zu funktionaler Verwendung oder Entladung dränge. Diese könne durch innere Tätigkeit wie die Tagträumerei erreicht werden, mit der sich die bürgerliche Hysterikerin gewöhnlich ihren monotonen Alltag verschönere. In affektiv aufgeladenen Momenten, etwa durch lähmende Angst, werde der Vorstellungsablauf jedoch gehemmt und auf bestimmte Assoziationen beschränkt, was die Entstehung von „hypnoiden Zuständen“51 sowie die nachfolgende Dissoziation in zwei Bewusstseinszustände zur Folge haben könne. Das Warten wird zu einer Kippfigur: Es wird als situativ bedingter Zustand hoher Erregung aufgefasst, der aufgrund seiner gesteigerten Aufmerksamkeit und Suspense in Zustände der Zerstreuung, in das „Privattheater“52 (61) Anna O.’s kippen und unter besonderen Umständen den Grundstein für eine pathologische Bewusstseinsspaltung legen kann. 2) In den Studien über Hysterie wird das Warten darüber hinaus mit der Erfahrung subjektiver Zeitformen in Verbindung gebracht. Dieser Zusammenhang ist zentral für die literarische Darstellung von Wartesituationen um 1900, die sich thematisch zwischen dem Diktat einer objektiven,

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Josef Breuer: „Krankengeschichten (1895): „Beobachtung I. Frl. Anna O …“. In: Ders./ Sigmund Freud: Studien über Hysterie. Einl. von Stavros Mentzos. Frankfurt a. M. 1991, S. 42–66, hier S. 58. Zitate aus dieser Fallgeschichte werden künftig nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text belegt. Josef Breuer: „Theoretisches“. In: Ders./Sigmund Freud (Anm. 48), S. 203–270, hier S. 214. Breuer (Anm. 49), S. 215. Breuer (Anm. 49), hier S. 233–240. Ähnlich auch Keck, die das „Privattheater“ als „strukturelle[n] Bestandteil des Wartens selbst“ versteht, „gehört doch zum Warten“ – hier zitiert sie Maurice Blanchot – „‚zutiefst die Unmöglichkeit zu warten‘, sich das Warten, das unangenehm Fühlbare der Zeit […] in der Zerstreuung vergessen zu machen“. Keck (Anm. 9), S. 194.

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äußeren Standardzeit, die getaktete Wartezeiten schafft, und einer subjektiven, inneren Zeitwahrnehmung, vor allem der Dauer, aufspannen. Für diese sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierende „Antinomie von objektiver und subjektiver Zeit“, von „verstreichender Zeit und Dauer“ geben die Hysterie und die Hysterikerin die „Exemplare“ – wie Joseph Vogl in seiner Lektüre der Fallgeschichte Anna O.’s herausgearbeitet hat.53 Subjektive Zeit wird hier als eine stehende Zeit dargestellt, „die nicht vergeht“54 und unter dem Dämon des Wiederholungszwangs als andauernd erfahren wird. „Der Hysterische leidet an Reminiszenzen“.55 Er leidet an „Zeit-Pathologien“,56 deren „Unordnung im Verlust einer einheitlichen Zeitökonomie“57 liegt. Die affektiv aufgeladene Warteszene Anna O.’s wiederholt sich in den Absencen und hypnoiden Zuständen, in denen Details des nächtlichen Wartens in pathogenen Phantasien und körperlichen Symptomen wiederkehren, ohne dabei im Wachleben zu Bewusstsein zu kommen, in dem sie vergessen scheinen. Zwischen dem Wachleben und den „hypnoiden Zuständen“, die kaum ineinander übergreifen, nisten sich dementsprechend gleichfalls Pathologien der Zeit ein: Der Patientin „fehl[t] Zeit“ (45). Ihre „Absencen“ werden durch eine „Lücke“ im „Ablaufe ihrer bewussten Vorstellungen“ (45) markiert, die sich darin widerspiegelt, dass sie während dieser Zustände das „Zifferblatt“ einer Uhr nur noch „undeutlich“ (59 f.) sehen kann.58 Die objektive, lineare und sukzessiv verfließende Zeit und die chronometrisch erfassbare Zeit bildet denn auch die andere Seite der Unterscheidung, der sich die Therapie verschwistert. Denn in dieser geht es darum, die Vergangenheit im Prozess des erzählenden Erinnerns vergehen zu machen, das heißt das auslösende Ereignis zu erinnern und die „Asynchronien der Zeiten“59 in eine chronologische und kausale Zeit- und Erzählordnung zu übersetzen, der auch die Fallgeschichte Breuers folgt. Der therapeutische Weg ist entsprechend die Erzählung als datierendes und rückdatierendes Ab-Erzählen,60 an dessen Ende der Affekt und die vergessene Vorstellung wieder zu-

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Joseph Vogl: „Zeit des Wissens“. In: Dialektik. Zeitschrift für Kulturphilosophie 2 (2002), S. 137–148, hier S. 142 und 144. Vogl (Anm. 53), S. 144. Josef Breuer/Sigmund Freud: „Über den psychischen Mechanismus hysterischer Phänomene“ [1893]. In: Dies. (Anm. 48), S. 27–41, hier S. 31. Vogl (Anm. 53), S. 143. Vogl (Anm. 53), S. 144. Vgl. auch Vogl (Anm. 53), S. 143; der diese Zeitkrankheit noch deutlicher darin zum Ausdruck gebracht sieht, dass Anna O. in den Jahren 1881/82 aus der Gegenwart heraus fällt, um sich auf den Tag genau im Winter 1880/81, das heißt in dem vorausgehenden Jahr, wiederzufinden. Vogl (Anm. 53), S. 144. Vgl. auch Vogl (Anm. 53), S. 144.

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sammengeführt werden sollen, ihrer subjektiven Dauer beraubt werden und der Affekt „kathartisch“ zur „Abreaktion“ gelangen soll.61 3) Das Warten lässt sich dementsprechend auch auf der Ebene der therapeutischen und diagnostischen Methode verorten, wie Freud v. a. im Rahmen seiner Thesen zu Abwehr und Widerstand betont. In der Fallgeschichte über Emmy v. N. heißt es: „Da ich nicht selbständig nach Krankheitssymptomen und deren Begründung forschte, sondern zuwartete, bis sich etwas zeigte oder sie mir einen beängstigenden Gedanken eingestand, wurden die Hypnosen bald unergiebig“.62 Die Methodologie des Wartens hat Georges Didi-Huberman als zentral für die Praxis JeanMartin Charcots herausgestellt und an die Undefinierbarkeit der Hysterie rückgebunden. Betont hat er dabei den Zusammenhang zwischen dem Abwarten als therapeutischer Methodologie und der Konstituierung von „Krankheitserscheinungen“63 als „Vorkommnisse am Leib“, die sich „zeigen und im Sichzeigen als diese Sichzeigenden etwas indizieren, was sich selbst nicht zeigt“.64 „Was tut die Medizin vor solch einer ‚Erscheinung von etwas‘“65 und angesichts eines Krankheitsbildes, das auf kein organisches Kennzeichen zurückgeführt werden kann? „Sie wartet“, „hofft, forscht [und] deutet“ und „temporisiert“, „weil sich darin etwas auf fatale Weise entzieht“.66 Das Abwarten versteht er dabei als „die instrumentalisierte Hoffnung eines Sichtbarmachens des Geheimen“, das sich dann bewährt, wenn es „das Geheimnis zu Tage“ fördern kann, bis es in Form des Arztgeheimnisses zur Sache des Arztes selbst wird.67 Auch in den Studien über Hysterie ist es der Verdacht eines Sich-Entziehenden, mit dem das hysterische Symptom als sich Zeigendes belastet wird, der hier – im Unterschied zu Charcots öffentlichen Vorführungen hysterischer Körper im Grand théâtre der Pariser Salpêtrière und ihrer photographischen Dokumentation – die talking cure in der Privatpraxis motiviert. Es ist auch hier

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Breuer/Freud (Anm. 55), S. 32. Zu den erzähltheoretischen Implikationen der Studien über Hysterie im Rahmen ihrer aristotelischen Affekttheorie und zum Konflikt zwischen Mimesis und Diegesis vgl. Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans. München 2007, S. 37–102. Sigmund Freud: „Krankengeschichten. Beobachtung II. Frau Emmy v. N …“. In: Breuer/ Freud (Anm. 48), S. 66–124, hier S. 95. Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot. Übers. von Silvia Henke u. a. München 1997, S. 117. Didi-Huberman (Anm. 63), S. 117. Didi-Huberman zitiert hier aus Martin Heideggers Sein und Zeit aus einer Passage über den Begriff des Phänomens; vgl. Heidegger: Gesamtausgabe. Hrsg. von Friedrich-Wilhelm von Herrmann. I. Abt./Bd. 2: Sein und Zeit, Frankfurt a. M. 1976, S. 39. Didi-Huberman (Anm. 63), S. 118. Didi-Huberman (Anm. 63), S. 117 f. Didi-Huberman (Anm. 63), S. 118.

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der „Verdacht einer Geschichte“,68 genauer der Verdacht einer VorGeschichte voller Lücken, die es nun im Erzählen sukzessive zu rekonstruieren und zu füllen gilt. Aus dem Abwarten ist das Zuwarten geworden. Dieses wird als Bestandteil einer Deutungs- und Lektürepraxis vorgeführt, die eine Verborgenheit und Erinnerungslücken unterstellt, aber damit auch produziert und deren eigenständige und finale Enthüllung in die Zukunft projiziert. Die Methode des Zuwartens legt die äußerste Zurückhaltung des Arztes nahe, den Rückzug der Suggestionsmacht, wie sie in der Hypnose wichtig war. Durch das Zuwarten wird der hermeneutische Deutungsakt des Analytikers zugleich verdeckt und legitimiert. Neben der therapeutischen Methode des Zuwartens wird auch der langwierige Prozess des erzählenden Erinnerns als einer dargestellt, der Wartezeiten ausgesetzt ist, die sich in Form von Stockungen des Sprechens während des Erinnerungsprozesses, Inkonsistenzen, Wiederholungen, Verzögerungen und „Stauungen […] der Zeit“ äußern,69 die den sukzessiven Erzählprozess unterbrechen und die Heilung vorübergehend aufschieben.70 Vorgeblich beendet wurde der Wartezustand und die Bewusstseinsspaltung der Patientin Breuer zufolge durch die Wiederherstellung der verdrängten Erinnerung, das heißt die „Erzählung des ersten Anlasses“ (60) in der talking cure. „Auf diese Weise schloß auch die ganze Hysterie ab“ (60),71 will er glaubhaft machen und trägt damit bekanntermaßen gemeinsam mit Freud zum Gründungsmythos einer neuen psychotherapeutischen Methode bei. Am Ende des Wartens und des therapeutischen Plots soll gemäß dieser Methode die Heilung stehen.72 2. Figuren des Wartens in Robert Musils Die Vollendung der Liebe (1911) Die Modellierung des Wartens in Robert Musils Novelle Die Vollendung der Liebe weist in mehrfacher Hinsicht Ähnlichkeiten zu jener in der Fallgeschichte Anna O.’s auf. Diese Ähnlichkeiten dienen ihr aber nur als

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Didi-Huberman (Anm. 63), S. 118. Vogl (Anm. 53), S. 144. „Man muß sich zunächst sagen, daß psychischer Widerstand, besonders ein seit langem konstituierter, nur langsam und schrittweise gelöst werden kann, und muß in Geduld warten“, so Freud. Ders.: „Zur Psychotherapie der Hysterie“. In: Breuer/Freud (Anm. 48), S. 271–321, hier S. 299; ähnlich auch in: „Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten (1913)“. In: Sigmund Freud: Studienausgabe. Ergänzungsband. Schriften zur Behandlungstechnik. Hrsg. von Alexander Mitscherlich u. a. Frankfurt a. M. 2000, S. 205–215, hier S. 215. Dass sich dieser Abschluss als Illusion erweisen sollte, verdeutlichen u. a. die historischen Dokumente, die zum Fall Bertha Pappenheims erhalten sind. Zu Freuds Problematisierung einer Beendigung der psychoanalytischen Therapie siehe Anm. 47.

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‚Vorwand‘, um eine genuin literarische Versuchsanordnung zu erproben, die sich von dem Erkenntnisziel der Psychologie und Psychoanalyse abzusetzen sucht. Im Unterschied zur Psychologie interessiert sich die Dichtung, wie Musil u. a. in seinem kurz nach den Novellen erschienenen Essay Das Unanständige und Kranke in der Kunst (1911) ausführt, nicht für Ätiologien, zusammenfassende Schemata oder die Vermittlung von „Erkenntnis“ dessen, was ist, sondern, hier klingt Aristoteles an, für „das, was sein könnte“,73 für „die Erweiterung des Registers von innerlich noch Möglichem“.74 Für die frühen Novellen Die Vereinigungen belegt das Essayfragment Typus einer Erzählung (ca. 1910/11) einen Zusammenhang zwischen der „Entwertung alles Kausalen, daher auch sogenannter psychologischer Erklärung“75 und Musils Kenntnis der Studien über Hysterie.76 Novellistischen Fallgeschichten, in denen der Einzelfall aus „psychologischen Gesetzmäßigkeiten“ „aufgebaut“ ist und das Allgemeine im Einzelfall gesucht wird, setzt Musil hier einen Erzähltypus entgegen, dem es darum geht, einen „Ausdruck“ für „neue innere Dinge“ zu finden, ohne sie in einen „Causalzusammenhang einzureihen“.77 Das Verfahren für einen solchen Erzähltypus, den Musil in seiner Novelle Die Vollendung der Liebe erprobt, hat er in einem späten Selbstkommentar den „Weg der kleinsten Schritte“ und „des allmählichsten, unmerklichsten Übergangs“78 genannt. „Ich hatte den Weg zu beschreiben“, schreibt er in Bezug auf seine Novelle, „der von einer innigsten Zuneigung beinahe bloß binnen 24 Stunden zur Untreue führt. Es sind psychologisch hundert und tausend Wege. Es hat keinen Wert, einen von ihnen zu schildern. Die Psychologie zeigt uns aber vielleicht einen oder den anderen von besonderer Bedeutung. Typologie des Ehebruchs. Doch ist das nicht die Sache des Dich-

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Robert Musil: „Vorwort IV“. In: Ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 7: Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 970. Robert Musil: „Das Unanständige und Kranke in der Kunst“ [1911]. In: Ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden, Bd. 8: Essays und Reden. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 977–983, hier S. 981. Robert Musil: Briefe 1901–1942. Hrsg. von Adolf Frisé. Hamburg 1981, S. 332 [An Julius Levin (31.12.1923)]. Auf die Bedeutung der Studien über Hysterie für Die Vereinigungen, vor allem aber für die Novelle Die Versuchung der stillen Veronika, wurde mehrfach hingewiesen, zuerst von Karl Corino in Robert Musils ‚Vereinigungen‘. Studien zu einer historisch-kritischen Ausgabe. München 1974, zuletzt von Robert Pfohlmann: „Von der Abreaktion zur Energieverwandlung. Musils Auseinandersetzung mit den ‚Studien über Hysterie‘ in den ‚Vereinigungen‘“. In: Peter André Alt/Thomas Anz (Hrsg.): Sigmund Freud und das Wissen der Literatur. Berlin/New York 2008, S. 169–191. Dabei wurden überzeugend intertextuelle Bezüge des Essayfragments „Typus einer Erzählung“ zu den Studien über Hysterie herausgestellt, die auf zum Teil wörtlichen Übereinstimmungen beruhen. Robert Musil: „[Typus einer Erzählung]“. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Anm. 74), S. 1311. Musil (Anm. 73), S. 972.

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ters“.79 Dieser soll nicht einen Ablauf von der Treue zum Akt der Untreue, von einem Anfangs- zu einem Endglied sukzessiv und kausal darstellen, sondern ein „moralische[s] Spektrum“ vor Augen führen, mit den „stetigen Übergängen von etwas zu seinem Gegenteil“.80 Der Übergang soll derart gedehnt werden, dass er als ein Bereich des Dazwischen in den Blick kommt, in dem binär codierte Pole wie Treue und Untreue, Moral und Amoral oder Gesundes und Pathologisches nicht in einem Verhältnis des Nacheinander angesiedelt, sondern simultan gegenwärtig sind und in ihren vielseitigen Verflechtungen zur Darstellung gelangen.81 Diesen Versuch eines „Auflösens aller scheinbaren Gegensätze“82 mittels einer Stillstellung des sukzessiven Zeitablaufs und der Annäherung an Simultaneität spielt die Novelle, so die These des vorliegenden Beitrags, wesentlich anhand von Figuren eines nicht enden wollenden Wartens auf der Ebene der histoire und des discours durch. Das Warten in Musils Novelle bestimmt die Schritte und vor allem das mehrfache Stehenbleiben auf dem Parcours der Geschichte, die sich nahezu auf ein „Nichts von äußerlichem Geschehen“83 beschränkt, weil der Ehebruch, um den die Erzählung kreist, auf der Ebene der Handlung immer wieder hinausgezögert wird. Diese Verzögerung und die Reduktion der äußeren Handlung im Warten lassen die Narration wiederholt pausieren, das heißt, im Sinne Gérard Genettes, den im discours wiedergegebenen Handlungsfortgang der histoire stocken, die Erzählzeit hingegen wuchern. Diese Pausen bieten der Erzählung einen ästhetischen Spielraum, um sich der „paradoxen These“ anzunähern, dass sich „die Liebe […] erst in der Untreue vollendet“84 und im Ehebruch, so die Worte der Novelle, eine „bis zur letzten Wahrhaftigkeit geöffnete Treue liegt“ (186).

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Musil (Anm. 73), S. 972. Musil (Anm. 73), S. 972. Zu Musils „Sturmlauf gegen binäre Codierungen“ in der Vollendung der Liebe vgl. auch Inka Mülder-Bach: „Symbolon–Diabolon. Figuren des Dritten in Goethes Roman ‚Die Wahlverwandtschaften‘ und Musils Novelle ‚Die Vollendung der Liebe‘“. In: Gottfried Boehm u. a. (Hrsg.): Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen. München 2007, S. 121– 138, hier S. 131. Robert Musil: Die Vollendung der Liebe. In: Ders.: Gesammelte Werke in neun Bänden. Hrsg. von Adolf Frisé, Bd. 6: Prosa und Stücke. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 156–194, hier S. 191. Zitate werden künftig nach dieser Ausgabe im fortlaufenden Text belegt. Robert Musil: IV/2/4 „Anfänge und Notizen 9“. In: Klagenfurter Ausgabe. Kommentierte digitale Edition sämtlicher Werke, Briefe und nachgelassener Schriften. Mit Transkriptionen und Faksimiles aller Handschriften. Hrsg. von Walter Fanta u. a. Klagenfurt 2009 (DVD). Gerhard Neumann: „Landschaft im Fenster. Liebeskonzept und Identität in Robert Musils Novelle ‚Die Vollendung der Liebe‘“. In: Konzepte der Landschaft in Ost und West. Neue Beiträge zur Germanistik 3/1 (2004), S. 15–31, hier S. 18.

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2.1 Warten und Möglichkeit Die Geschichte der Vollendung der Liebe scheint zunächst trivial: Eine Frau namens Claudine möchte ihre Tochter Lilli gemeinsam mit ihrem zweiten Ehemann in einer anderen Stadt besuchen. Ihr Mann entscheidet sich nicht mitzufahren, Claudine begibt sich allein auf die Reise. Auf der Zugfahrt begegnet ihr ein fremder Mann. Diesen Mann, einen Ministerialrat, trifft sie in der Stadt wieder. Die Stadt wird eingeschneit, die Möglichkeit einer Verbindung zur Außenwelt wird unterbrochen. Die Erzählung endet mit der Andeutung des Ehebruchs mit dem Fremden, hält seine Realisierung aber in der Schwebe. Sie ist in drei Absätze unterteilt: Absatz 1 zeigt das Ehepaar in Liebe vereint. Absatz 2 beschreibt Claudines Warten am Bahnhof und ihre Zug-Reise in die Stadt. Absatz 3 beginnt mit dem Ende der Zugfahrt und hat ihren Aufenthalt in der Stadt zum Thema. Die erzählte Zeit des Geschehens umfasst vier Tage und Nächte. Der Untreue-Akt der Protagonistin, das unerhörte Ereignis, von dem die Novelle „im Flimmern des Einzelfalls“85 zu erzählen scheint, ist in den Augen des Lesers eines, das endlos lang auf sich warten lässt, wenn es über 38 Seiten lang nicht, noch nicht und auch am Ende nur möglicherweise eintritt. Die Erzählung selbst ist thematisch durch eine Reihe an Wartesituationen strukturiert.86 Davon entspinnen sich vier aufgrund der gleichen Misere: nämlich angesichts nicht stattfindender Treffen oder verpasster Verabredungen, weil der eine oder andere zögert, zu spät oder überhaupt nicht kommt. Die zeitlichen Lücken und Unterbrechungen der äußeren Handlung, die sich mit diesen gewollt- oder ungewollten Verzögerungen auftun, bilden die Grundlage des Wartens, dem jeweils unterschiedlich viel Erzählzeit beigemessen wird. Am wenigsten und auffällig wenig Aufmerksamkeit wird der ersten nicht stattfindenden Verabredung zuteil, von der die Novelle erzählt. Mittels einer Analepse erfährt der Leser von einem Vorfall, der lange vor dem bislang Erzählten stattgefunden hat, dessen erzählerische Ausgestaltung aber bis auf Weiteres ausgespart bleibt: von einem Treuebruch der Protagonistin während ihrer ersten Ehe, aus dem die Tochter Lilli hervorgegangen ist und der sich in einer Situation des Wartens ereignet hat. Vergeblich hatte Claudine damals „auf den Besuch eines Freundes gewartet, dessen Eintreffen sich über alle Geduld hinaus verzögerte“ und „in einer eigentümlichen Trunkenheit von Ärger, Schmerzen und Äther und dem runden weißen Gesicht des Dentis-

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Robert Musil: „Über Robert Musil’s Bücher“ [Januar 1913]. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Anm. 74), S. 995–1001, hier S. 997. Die Überlegungen dieses Beitrags beschränken sich auf vier der Textpassagen, die das Warten ausdrücklich thematisieren (S. 157, 160, 161, 173, 180, 183, 186, 188, 192), das im Laufe der Novelle mit dem Zögern (S. 181, 185, 192, 193) überblendet wird.

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ten […] war es geschehen“ (160). Claudine blieb „nichts davon“, so der Erzähler, nichts von diesem „es“ als „die Erinnerung an eine sonderbare Wolke von Empfindungen“ (160). Diese aber zeichnet der Text – wie auch andere sexuelle und masochistische Erlebnisse der Protagonistin – bald als „überhaupt vergessen“ (161). „Und dann war alles, was sie tat und litt, für sie in dem Augenblick versunken, wo sie ihren jetzigen Mann kennengelernt hatte“ (161), heißt es. Die Vorfälle kehrten höchstens als „Gefühle ausgestandener Not“ (161) wieder, die auf etwas bislang Unaufgefundenes und Verborgenes (vgl. 161) verwiesen. Damit tauchen in Musils Novelle zwei zentrale Figuren aus den Studien über Hysterie auf: 1. die Dissoziation von Affekt, hier Gefühl, und veranlassender Vorstellung, welche sich der Erinnerung entzieht, aber als Nichts – wenn nicht in somatischen Symptomen – dann zumindest im nebulösen Gefühlshaushalt der Protagonistin fortwabert, und 2. die Verknüpfung dieser Trennung mit einem hier narkotischen Wartezustand, der, wenn auch unter ganz anderem Lichte stehend, gleichfalls traumatische Qualitäten erfährt, wenn er als „unverstehbare[r], unaufhörliche[r] Treuebruch“ (179) andauert und zur Wiederholung drängt. Das Warten verbindet die Novelle also mit dem sexuellen Begehren, das Breuer in der Fallgeschichte Anna O.’s im Unterschied zu Freud bekanntlich auszusparen versucht hat. Die Wiederholungsstruktur buchstabiert Musils Novelle insofern aus, als sich Warten und Untreue auch im weiteren Verlauf als Wahlverwandte zeigen, aber jetzt zudem der Ehebruch auf sich warten lässt. Die Spezifik dieses wiederholten Wartens, dem auf poetologischer Ebene eine Schlüsselfunktion zukommt, wird innerhalb des Textverlaufs von einer Wartesituation am Bahnhof vorbereitet, mit deren Darstellung ein moderner Warteraum par excellence aufgerufen wird (vgl. 161). Der Wartesaal des Bahnhofs, das „trübe, gleichmäßige Licht“, die „wirren eisernen Streben“ des Dachs und das „Gedränge“ (161) der Menge spiegeln in der Novelle einen Kippmoment im Aufmerksamkeits- und Gefühlszustand der Protagonistin: den Übergang in eine zunächst äußere und dann innere Desorientierung, die Claudine nach und nach in das „wirre Geflüster innerer Dämmerungen“ (170) versinken lässt, in dem sie sich von „einer leise[n] wirren Angst“ (162) treiben lässt. Ähnlich wie in den Studien über Hysterie fungiert dieser affektive Dämmerzustand auch hier als Triebfeder für die Wiederkehr eines Verdrängten in der Gegenwart und lässt sich als Schwebezustand zwischen Erinnern und Vergessen fassen. Die Zugfahrt kennzeichnet der Text entsprechend als eine regressive Reise in die Fremde einer unvergangenen Vergangenheit.87 Die Wiederkehr der

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Vgl. unabhängig von der Funktion des Wartens auch Wolfgang Riedel: „Reise ans Ende des Ich: Das Subjekt und sein Grund bei Robert Musil (‚Die Vollendung der Liebe‘,

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Vergangenheit führt die Novelle aber nicht über das Erzählen von Erinnerungen ein, die linear oder chronologisch verbunden wären. Sie führt sie vielmehr in einem netzartig und analogisch verknüpften hypnagogen Bilderstrom vor Augen,88 der durchsetzt ist von Bildern der Öffnung, des Offenen und des Weiten, die vom äußeren Geschehen abschweifen lassen – wie etwa das Gleichnis einer offenen, tropfenden Wunde oder der geöffneten Tür (vgl. 163). Diese von der Sprache des Textes in „gleitende[n] Bilder[n]“ (183) dargestellte Öffnung setzt auch hier auf der Figurenebene eine Spaltung in Gang, die Claudine aus der im ersten Absatz dargestellten Einheit mit ihrem Ehemann entzweit und ihren SeinsZustand in einen nicht-identischen aufbricht. Sie gerät in einen Zustand des „Nichtsseins“ (167), der sie vom vermeintlichen Glück ihrer Ehe entfernt, die ihr nun als Fremdes gegenüberzustehen beginnt.89 Ein Riss tut sich auf im Lebens-Kontinuum, der – in folgender Textstelle noch im Konjunktiv – an das Warten gebunden wird: „und da war ihr, als ob auch ihr Glück, wenn sie einen Augenblick stehen bliebe und wartete, wie solch ein Haufen gröhlender Dinge davonziehen könnte“ (166). Das Warten, das hier in eine räumlich-zeitliche Vorstellung des Stehenbleibens übersetzt wird, birgt in Musils Novelle auf mehrfacher Ebene das Potential, Handlungskontinuitäten, sukzessive Zeitabfolgen und die „beständige[ ] Bewegung nach vorwärts“ (164) zu unterbrechen. Als „Unterbrechung[ ]“ (184) des gewohnten Weltbezuges eröffnet es auf der Ebene der Geschichte zunächst eine reflexive Lücke, die es der Protagonistin erlaubt, das bislang „Gewordene“ (163) von außen zu betrachten und es sich „anders […] vorzustellen“ (163), wobei sich das bisherige Tun und seine Bedingungen als kontingent erweisen.90 Auf diese Weise wird das Warten zum Medium des „Möglichkeitssinns“,91 der die Wirklichkeit auf das hin herausfordert, was verpasst oder vergessen, „nicht geworden[ ]“ (163) oder eben noch nicht geworden ist. Diese Öffnung hin zum Potentiellen überblendet der Text im doppelten Sinn mit der ‚untreuen Vergangenheit‘ Claudines, wenn er verdeutlicht, dass die Möglichkeit der Untreue nicht nur bereits im Vergangenen, das heißt vor ihrer zweiten Ehe, verwirklicht worden, sondern auch während dieser potentiell gegeben war. Claudine

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1911)“. In: Reto Luzius Fetz u. a. (Hrsg.): Geschichte und Vorgeschichte der modernen Subjektivität. Bd. 2. Berlin/New York 1998, S. 1151–1173, hier S. 1161. Zur Bedeutung hypnagoger Bilder für die Literatur um 1900 vgl. Sabine Schneider: Verheißung der Bilder. Das andere Medium in der Literatur um 1900. Tübingen 2006. Ähnlich auch Riedel (Anm. 87), S. 1159. Vgl. unabhängig von der Funktion des Wartens auch Riedel (Anm. 87), S. 1159 f. Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. In: Gesammelte Werke in neun Bänden. Bd. 1. Hrsg. von Adolf Frisé. Reinbek b. Hamburg 1978, S. 16 (I/4). Vgl. auch Riedel (Anm. 87), S. 1159 f.

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imaginiert diese Untreue als Akt der Treue: „Dann vermochte sie zu denken, daß sie einem anderen gehören könnte, und er erschien ihr nicht wie Untreue, sondern wie eine letzte Vermählung“ (165). Die Verwirklichung dieser Möglichkeit – die Vollendung der Treue in der Untreue – bürdet der Text gegen Ende der Zugfahrt der Zukunft auf: „und ihre Vergangenheit erschien ihr wie ein unvollkommener Ausdruck von etwas, das erst geschehen mußte“ (167). 2.2 Warten als Selbstzweck und die „Versuchung stehenzubleiben“ Diese zukünftige Vergangenheit erprobt der dritte Absatz der Novelle mit der gemeinsamen Ankunft des Ministerialrats und Claudines im Warteraum einer verschneiten und von jeder „Wirklichkeit abgeschnittene[n] Stadt“ (176). In diesem Absatz wird das Warten als Mittel vorgeführt, sich zum Möglichen in seiner Möglichkeit zu verhalten und mit der Figur des Zögerns überblendet. Das Warten auf etwas ist als ein Zustand zu verstehen, der sich auf die „mögliche Verwirklichung“ von etwas Möglichem richtet, das heißt auch darauf, „ob und wann und wie es wohl wirklich vorhanden sein wird“,92 womit das Warten sein Ende hätte. Und gerade das findet es in der Novelle lange nicht. In einer Schlüsselszene des dritten Absatzes wird die Verknüpfung von Warten und Stehenbleiben wieder aufgenommen – eine Szene, die als mise en abyme der Erzählung gelesen werden kann. Der Text zeigt Claudine in der Nacht. Sie wartet im Erregungszustand der Angst auf das Kommen des Ministerialrats: Gleichmütig begann einstweilen eine Uhr mit sich selbst irgendwo zu sprechen, Schritte gingen unter ihrem Fenster vorbei und verklangen, ruhige Stimmen … Sie schämte sich vor den Dingen […] während ihr wirr vor Bewußtsein war, daß sie dastand und auf einen Unbekannten wartete. Und doch begriff sie dunkel, daß es nicht jener Fremde war, der sie lockte, sondern nur dieses Dastehn und Warten, eine feinzahnige, wilde, preisgegebene Seligkeit, sie zu sein, Mensch, in ihrem Erwachen zwischen den leblosen Dingen aufgesprungen wie eine Wunde. […] Und während sie ihr Herz schlagen fühlte […] hob sich seltsam ihr Leib in seinem stillen Schwanken und schloß sich wie eine große, fremde, nickende Blume darum, durch die plötzlich der in unsichtbare Weiten gespannte Rausch einer geheimnisvollen Vereinigung schaudert, und sie hörte leise das ferne Herz des Geliebten wandern […]. Da fühlte sie, daß hier sich etwas vollenden sollte, und wurde nicht gewahr, wie lange sie so stand: Viertelstunden, Stunden, die Zeit lag reglos […]. Nur einmal, irgendwann, glitt irgendwo von diesem unbegrenzten Horizont her etwas Dunkles durch ihr Bewußtsein, ein Gedanke, ein Einfall, .. und wie es an ihr vorbeizog, erkannte sie die Erinnerung darin an lang versunkene Träume ihres früheren Lebens […] und während dessen begann es schon zu

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entschwinden und schrumpfte ein […] und dann war es vorbei und in der wieder zusammenfließenden Stille war nur ein Leuchten, eine veratmend zurückstreichende Welle als wäre ein Unsagbares gewesen, .. und da kam es plötzlich von dort über sie […]. (173)

Was diese Textpassage bildhaft vor Augen führt, ist eine imaginär-erotische Selbstaffektion im Zustand des Wartens als augenblickshafte Epiphanie einer im Vorgang der Vollendung begriffenen geheimnisvollen Vereinigung. Auf der Figurenebene führt das Warten zur subjektiven Erfahrung einer Unterbrechung der temporalen Sukzession und zur Wahrnehmung eines Nicht-Vergehens der Zeit. Gleichmütig gegenüber der Zeit der Uhren, fühlt Claudine den Stillstand, die Reglosigkeit der Zeit. Dieses Stillstehen wird als Voraussetzung dargestellt für das simultane Aufeinandertreffen und die Vereinigung verschiedener Zeithorizonte – für die Übereinkunft von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, in der Logik des Textes auch der von Treue und Untreue in einem reglos-stehenden Hier und Jetzt.93 Die subjektive Erfahrung eines NichtVergehens der Zeit ist in der Novelle keine, die, wie in den Studien über Hysterie, erzählerisch in ein chronologisches Nacheinander aufgelöst werden soll. Der ‚bewegte Stillstand‘94 der Zeit und die mit ihm verbundene Erfahrung von Simultaneität stellen diesseits von Sukzession und Chronometrie ein nunc stans dar, dem sich die Erzählung auf unterschiedlichen Ebenen in Raum und Zeit infinitesimal anzunähern sucht und auch nur annähern kann, weil er ihr als fortlaufender Narratio stets „entschwinde[t]“ (173). In temporaler Hinsicht stellt das Warten als ausgedehnter Übergang zwischen einem nicht-mehr und noch-nicht eine Möglichkeit dar, diesem stehenden Jetzt näher zu kommen.95 In modaler Hinsicht, bezogen auf die narrativen Darstellungsmöglichkeiten, aber vor allem hinsichtlich des äußeren Geschehens und die in diesem aufgeschobene Begegnung mit dem Ministerialrat, spiegelt das Warten dieses Ziel als noch nicht verwirklichtes, als (nur) im „Imaginären“ (173) zu erfahrene Möglichkeit. Das Warten auf den Unbekannten in der zitierten Textpassage ist einer Reflexivierung und tendenziellen Intransivierung ausgesetzt: Es verschiebt sich hin zu einem Warten, das sich nicht mehr auf ein ihm äußerli-

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Das Warten in dieser Textpassage lässt sich, ähnlich wie es Nadine Benz in ihrer Monographie zur Zeit des Wartens betont hat, als Versuch begreifen, ein „fortdauerndes Präsens“ zu erzeugen, das dem „nunc stans einer poetischen Imagination eine Form von Dauer/ Endlosigkeit verleiht“ und als „Gegengewicht zur Flüchtigkeit“ des „Augenblicks“ erscheint. Dies. (Anm. 10), S. 166 und 202 f. Wie Annette Keck herausgestellt hat, ist der „Struktur des Wartens der Zusammenfall von Stillstand und (Sprach)bewegung eigen“. Der auf der Ebene der histoire dargestellte Stillstand von Zeit und Handlung, fällt auch in Musils Novelle mit der „Dynamisierung der Sprache“ zusammen. Dies. (Anm. 38), S. 82. Vgl. hierzu auch Anm. 107.

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ches Objekt (den Ministerialrat), sondern auf sich selbst ausrichtet und sich in einer zyklischen Figur immer weiter fortsetzen will. Claudines Objekt des Wartens wird das Warten selbst und löst sich auf diese Weise von einem „desire for the end“, das sich in der Verwirklichung von etwas Möglichem erschöpfen würde – gegen die es sich vielmehr immunisiert. In der selbstzweckhaften Wartelust Claudines wird damit eine selbstgenügsame Haltung beschworen, die diesseits der Unterscheidung zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit einen Bereich herausbildet, der gegenüber dieser Dualität neutral ist. Das ist ein Bereich, in dem sich Claudines imaginäres Erleben als ‚mögliche Wirklichkeit‘ erweisen kann, die nicht defizient ist, vielmehr ein eigenes ‚Seins-Erlebnis‘ darstellt. Dieses verbindet der Text mit einer „niemals gefühlten Weichheit“, einem „Ichgefühl“ (173) seiner Protagonistin, für das nicht Selbstidentität, sondern Selbstverlust konstitutiv ist, wie der Text über die Metapher der Wunde vorführt. Die Verwundung, die Claudine in der zitierten Textpassage in einem Zustand des Wartens erfährt, ist Metapher der Spaltung auf mehrfacher Ebene: der Spaltung der vermeintlichen Einheit Claudines und ihres Ehemanns, der Spaltung ihres Selbst und der damit verbundenen Spaltung zwischen Treue und Untreue. In Anlehnung an den Kugelmythos aus der Rede des Aristophanes über den Eros in Platons Symposium96 ist sie aber ebenso Bild für den Versuch des „endlos erneuten Zusammenwachsenwollens“ (186) und die Rückkehr in einen Zustand der Einheit. Zwischen Verletzung und Heilung, Spaltung und Vereinigung angesiedelt, symbolisiert die Verwundung im Warten keinen krankhaften Zustand, der abschließend in Richtung Heilung überwunden, sondern – im Gegenteil – offengehalten werden soll. Claudine harrt in diesem Zustand des Dazwischen masochistisch aus, erfährt ihn als ihren eigenen „Genuss“ (170) und Möglichkeit „sie zu sein“ (173). 2.3 Zur Allianz von Warten, Stillstand und Schweigen Die Verwundung im Warten und das subjektive Erlebnis eines Stillstands der Zeit markieren in der Logik des Textes eine Grenze des Sagbaren. Die Wunde verweist auf eine Lücke in der symbolischen Ordnung und steht damit in performativem Widerspruch zu der sprachlichen Fülle der zitierten Textpassage. Expliziert findet sich diese Lesart in zitierter Textpassage

____________ 96

Zu diesem intertextuellen Bezug vgl. Hartmut Böhme: „Erinnerungszeichen an unverständliche Gefühle“. In: Robert Musil: Vereinigungen. Zwei Erzählungen mit einem Essay von Hartmut Böhme. Frankfurt a. M. 1990, S. 185–221, hier S. 203; sowie Inka MülderBach (Anm. 81), S. 133 f.

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mit dem Hinweis auf die „Stille“ (173) und „Unsagbarkeit“ (173). Die „Stille“,97 das „Schweigen“ (181),98 die „Pausen“ (165) und „Lautlosigkeiten“ (165) sind in Musils Novelle, ebenso wie in den einaktigen statischen Dramen der Jahrhundertwende,99 in auffälliger Weise mit dem Warten verbunden. Dem Warten auf der Handlungsebene, das „zwischen den Stößen zweier Handlungen“ einen „Zwischenraum eröffnet“ (187), in dem die Erzählung vom äußeren Geschehen abschweift, den Handlungsfortgang stocken lässt, um sich den „inneren Dämmerungen“ (170) ihrer Protagonistin zuzuwenden, entspricht, so legt der Text nahe, auf der Ebene des Sprechens das „Schweigen zwischen zwei Worten“ (187). Dieses „Schweigen zwischen zwei Worten“ könnte „ebensogut das Schweigen zwischen den Worten eines ganz anderen Menschen sein“ (187), heißt es in einer selbstreflexiven Anspielung auf die Rede des meist unfassbaren Erzählers. Bei diesem Erzähler ist nämlich selbst des Öfteren ein „heimliches Stillstehen und Auslassen“ (183) und – bedenkt man die metonymische Verknüpfung von Warten, „lautloser Stille“ (176), „Stillstehen“ (183)100 und Stehenbleiben101 – ein Warten am Werk. Dieses Warten kommt in der Novelle als „Auslassen“ zum einen typographisch, nämlich in der häufigen Verwendung von Auslassungspunkten zum Ausdruck.102 Zum anderen schlägt es sich als „Stillstehen“ in ihren rhetorischen Figuren nieder, so in Musils beliebten Figuren des Gleichnisses und Vergleichs,103 deren „Reflexionsmoment“ die „Kontinuität“104 und Sukzession des Plots unterbricht und den Fortgang der Handlung vorübergehend pausieren lässt.105 Daneben aber sind es vor allem die sprachlichen

____________ 97 98 99 100 101 102

Vgl. auch S. 161, 163, 166, 170, 176, 182, 185, 191 u. 192. Vgl. auch S. 165, 174, 181, 185, 187 u. 193. So insbesondere in Einaktern Maurice Maeterlincks und Rilkes. Vgl. auch S. 156, 157, 158 u. 162. Vgl. S. 164, 166, 185 u. 188. Der Text weist an 83 Stellen Auslassungspunkte auf. Zur Funktion der Auslassungszeichen mit anderem Fokus vgl. Mareike Giertler: „In zusammenhanglosen Pünktchen lesen. Zu den Auslassungszeichen in Musils ‚Die Vollendung der Liebe‘“. In: Dies./Rea Köppel (Hrsg.): Von Lettern und Lücken. Zur Ordnung der Schrift im Bleisatz. München 2012, S. 129– 160. 103 In der Novelle tauchen, wie Jürgen Schröder gezählt hat, „337 mal“ die Vergleichskonstruktionen „wie“, „wie wenn“ und „als ob“ auf. Ders.: „Am Grenzwert der Sprache. Zu Robert Musils ‚Die Vereinigungen‘“. In: Euphorion 60 (1966), S. 380–411, hier S. 380. 104 Jörg Kühne: Das Gleichnis. Studien zur inneren Form von Robert Musils Roman ‚Der Mann ohne Eigenschaften‘. Tübingen 1968, S. 135 f. 105 Vgl. dazu den aufschlussreichen Aufsatz von Dorrit Cohn, die darüber hinaus in der durch Gleichnisse bedingten Ausweitung der Erzählzeit gegenüber der erzählten Zeit ein stilistisches Hauptmerkmal erkennt, „that tends to undermine the conventional linear time scheme of narration, making the story ‚unreadable‘ in the ordinary sense of the word.“ Dies.: „Psyche and Space in Musils ‚Die Vollendung der Liebe‘“. In: Germanic Review 49/2 (1974), S. 154–168, hier S. 158.

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Partikel „noch“, „noch nicht“, „schon“, „fast“ und „beinahe“, mittels deren Häufung der Text mikropoetisch den Übergang „zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit“ auslotet:106 einen Warteraum, der sich zwischen einem nicht-mehr und noch-nicht aufspannt, sich dabei einem präsentischen Jetzt annähert,107 dieses „Jetzt“ aber dennoch als „schweigende[n] Rest“108 markiert, der sich als Lücke der Sprache entzieht und zugleich von dieser hervorgebracht wird. Als schweigsame Lücke wird in der Vollendung der Liebe, wie zu sehen war, das imaginäre Erleben der Protagonistin vor Augen geführt, das in Musils Novelle nicht, wie in den Studien über Hysterie, von einem distanzierten Erzähler einer Deutung preisgegeben und nachträglich in ein kausales und kohärentes Erzählgefüge übersetzt wird.109 Vielmehr spricht Musil seiner Novelle in einem Briefentwurf an Franz Blei eine Aperspektivität zu: „Der point de vue liegt nicht im Autor und nicht in der fertigen Person, er ist überhaupt kein point de vue, die Erzählungen haben keinen perspektivischen Zentralpunkt.“110 Anders als diese Behauptung Musils glauben machen will, lässt sich aber, wie Inka Mülder-Bach angemerkt hat, eine Veränderung in der Erzählperspektive feststellen: Die Novelle beginnt mit einem kurzen Dialog, um dann in die Rede eines relativ klassischen Erzählers zu münden, der zwar einen Standpunkt außerhalb seiner Figuren einnimmt, aber dennoch ihr Innenleben kennt. Erst nach dem ersten Absatz geht sie in eine tendenzielle Aperspektivität über, die es an einigen Stellen schwermacht, die Perspektive eines Erzählers von jener der Protagonistin zu unterscheiden.111 Über die Verundeutlichung der Fokalisierung, die Zurückhaltung der anfangs bemerkbaren Erzählinstanz, die es nach Mülder-Bach auch ist, die Claudine im ersten Absatz aus der Einheit mit ihrem Mann entzweit und trennt, um sie alleine auf eine Reise zu schicken, sucht der Text die Wahrnehmung der Protagonistin mit jener

____________ 106 Schröder (Anm. 103), S. 383; zur Funktion der Partikel v. a. S. 383–387. 107 Ähnlich argumentiert Schröder, wenn er schreibt: „Die sprachliche Grenze zwischen noch und schon liegt zwischen nicht mehr und noch nicht; sie fällt zusammen mit dem unfaßbaren ausdehnungslosen Zeitpunkt der Gegenwart – dem mystischen Augenblick der Vereinigung – und bildet die unsichtbare Mitte des ‚Ungetrennten und Nichtvereinten‘, jene imaginäre Grenze, um die und über die hinweg die Musilsche Sprache von beiden Seiten steht und ruhelos wandert.“ Ders. (Anm. 103), S. 386. 108 Joachim Harst: „Vergebliche Erlösung. Ein ‚Rest von Seele‘“. In: Hans-Georg Pott u. a. (Hrsg.): Terror und Erlösung. Robert Musil und der Gewaltdiskurs der Zwischenkriegszeit. München 2009, S. 251–278, hier S. 272. 109 Ähnliches stellt Annette Keck für Die Versuchung der stillen Veronika fest; Keck (Anm. 9), S. 195 f. 110 Musil (Anm. 75), S. 87 [An Franz Blei (Nach 15. Juli 1911)]. 111 Vgl. Mülder-Bach (Anm. 81), S. 134.

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der Erzählinstanz zu vereinigen.112 Der Erzähler versucht – parallel zu den Avancen des Ministerialrats auf der Ebene der Handlung – in das innere und imäginäre Erleben Claudines einzudringen, ihren Zuständen des Wartens „voyeuristisch“113 beizuwohnen. Nach der inneren Logik des Textes ist das im Warten begriffene imaginäre Erlebnis des Stillstands der Zeit und einer „geheimnisvollen Vereinigung“ (176) aber ein singuläres und einsames Ereignis, das nur im Modus des innerlich Möglichen erfahrbar ist. Es ist ein unerhörtes „Ereignis ohne Ereignis ... bei dem nichts geschieht“,114 das vor einer sprachlichen Verwirklichung stockt oder nur als schweigsame Lücke zwischen den Worten zur Darstellung gebracht werden kann. Wenn das Schweigen und die Stille aber Äquivalente des Wartens auf der Ebene des Sprechens sind, und sich dieses auch auf die Rede eines Erzählers beziehen lässt, kann man zu folgendem Schluss kommen: In den Auslassungspunkten der Vollendung der Liebe manifestiert sich – im Unterschied zu den Studien über Hysterie – das vergebliche und nicht enden wollende Zuwarten eines Erzählers angesichts eines Geheimnisses, das sich, gewendet als Vollendung der Liebe, zurückhält und sich der Gewalt einer verobjektivierenden Deutung, des In-Beziehung-Setzens zu einem Allgemeinen, widersetzt, deren Autorität unterminiert: So gilt für Musils Novelle das, was Naomi Schor für die, wie sie meint, „‚hysterischen‘ Texte“ Kafkas veranschlagt: „they seem to invite rape, while denying penetration“.115 Der Text der Vollendung der Liebe birgt ein Geheimnis, das sich in den „Maschen“ des „Gewebes“ (192) als „stumpf[er]“ und unpersönlicher „Punkt[ ]“ (182) – der selbst wiederum allgemeiner nicht sein könnte – zwar kundtut,116 sich aber nur enthüllen könnte, wenn die Erzählung selbst vor ihrem eigenen Ende zum Stillstand kommen würde.

____________ 112 Vgl. Mülder-Bach (Anm. 81), S. 134 f., die das „vereinigende Erzählen“ der Novelle entlang der geometrischen Figuren des Textes verfolgt. 113 Vgl. auch Böhme (Anm. 96), S. 205, der darin ebenfalls den Versuch sieht „im Erzählen selbst jene Vereinigung zu erlangen, welche auf der erzählten Ebene das Begehren der Figuren ist“ (S. 201). 114 Jacques Derrida: Préjugés. Vor dem Gesetz. Übers. von Detlev Otto und Axel Witte. Wien 2005, S. 56. 115 Naomi Schor: „Fiction as Interpretation/Interpretation as Fiction“. In: Susan R. Suleiman/Inge Crosman (Hrsg.): The Reader in the Text: Essays on Audience and Interpretation. Princeton 1980, S. 165–182, hier S. 166. Diesen Hinweis verdanke ich Anna-Lisa Dieter (Anm. 11). 116 „Und allmählich ward ihr“, heißt es über Claudine, „es sei, was dieser Mensch von ihr begehrte […] etwas ganz Unpersönliches; es war nichts als dieses Angesehenwerden, ganz dumm und stumpf, wie Punkte fremd im Raum einander ansehen, die irgend etwas Unbegreifliches zu einem zufälligen Gebilde vereint. Sie schrumpfte darunter zusammen, als wäre sie selbst solch ein Punkt.“ (182)

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2.4 Der ‚waiting plot‘ der Vollendung Wie im ersten Teil des vorliegenden Beitrags ausgeführt wurde, bedarf der hermeneutische Code einer Erzählung, die sich um ein Rätsel oder Geheimnis dreht, für Barthes einer Reihe an Verzögerungen um die Erwartung und das Begehren nach Lösung aufrecht zu erhalten. „Die Wahrheit, das sagen uns Erzählungen, steht am anderen Ende des Wartens“,117 schreibt er. Auch so verstanden findet das Warten in Musils Erzählung kein Ende. Die zielgerichtete Erwartung und das „Begehren“ nach „Schließung“ werden durchkreuzt von einem selbstzweckhaften Warten; dem „unausweichlichen Fortschreiten der Sprache“ steht ein solch vielfältig „abgestecktes Spiel von Haltepunkten“ entgegen, dass das Rätsel – entgegen dem hermeneutischen Code – im „Zustand der Öffnung“ erhalten bleibt.118 Die Finalisierung des Plots ist hier dementsprechend auch keine, die im einfachen Akt der Untreue ihren Höhepunkt und ihre Befriedigung fände, sie ist auch keine, die nur einen Weg zum Ende präferiert und damit alternative Möglichkeiten verwirkte. Die Liebe findet ihre Vollendung in der Novelle auch nicht – wie im Falle Penelopes – in der Wiedervereinigung des Mannes mit seiner treuen Frau, die, dank des Wartens und Wartenlassens, jeglicher Versuchung widersteht und die eheliche Ordnung auf diese Weise bestätigt.119 Der Plot der Vollendung der Liebe ist ein Plot, der das „desire for the end“, um mit Brooks zu sprechen, zwar aufruft, es aber nicht in dessen Vollzug und Verbrauch verzehren möchte und auch nicht einer einfachen Endlosigkeit oder Unendlichkeit preis gibt. Er ist ein Plot, der dem „desire for the end“ insofern zuwiderläuft, als er seine Vollendung nicht im „end“, sondern im sich immer weiter fortsetzenden ‚waiting for the end‘ finden möchte, in dem sich genuss- und qualvoll die Erregung staut und das Begehren fortdauert. Das, was für Brooks in seiner Lektüre von „Freud’s Masterplot“ Jenseits des Lustprinzips als einem dynamischen Modell der Narration konstitutiv für das Erzählen ist, das, was sich für ihn in der Mitte zwischen den leblosen und nichterzählbaren Zuständen von Anfang und Ende auftut, der „Zauderrhythmus“ zwischen Lebens- und Todestrieben oder der „dilatorische Raum“ der Verzögerung und des Aufschubs, das, was für ihn nur ein Umweg zum Ende ist, macht Musils Novelle zum Ort der Vollendung selbst. Die Vollendung der Liebe – Thema und Titel der Erzählung – wäre nach der paradoxen Logik des Textes eben dann am Ende, wenn sie vor

____________ 117 Barthes (Anm. 27), S. 79. 118 Barthes (Anm. 27), S. 79 f. Hervorhebung A. E. 119 Vgl. hierzu Maria C. Pantelia: „Spinning and weaving: Ideas of domestic order in Homer“. In: The American Journal of Philology 114/4 (1993), S. 493–501.

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ihrem eigenen Ende stockte, im Übergang zwischen Anfang und Ende stehenbliebe: dort, „wo eine Vollendung […] mit einem […] Stillstehen“120 abbricht, heißt es in einer Vorstufe der Parallelnovelle Die Versuchung der stillen Veronika [1910], und gerade deshalb in der Vollendung begriffen ist, wie man hinzufügen kann. Dass diese unmögliche Möglichkeit im nicht enden wollenden Warten aufgesucht wird, sollte inzwischen deutlich geworden sein. „Und dann fühlte sie mit Schaudern, wie ihr Körper trotz allem sich mit Wollust füllte“, lautet der vorletzte Satz der Erzählung, der endlich beim Coitus angekommen zu sein scheint, aber sodann in folgenden konjunktivischen Vergleichssatz mündet: „Aber ihr war dabei, als ob sie an etwas anderes dächte“ (194, Hervorhebung A. E.). Nicht zu einer ‚Abfuhr‘ kommt die im Warten entstandene Lust und Erregung in Musils Novelle im Unterschied zu den Studien über Hysterie, die retrospektiv eine Wahrheit zu lesen gäbe. Nicht einer Deutung in Form einer chronologisch und kausalen Vorgeschichte, die es zum heilungsbedürftigen Krankenfall machte, wird das weiblich Imaginäre preisgegeben. Nicht „reaktives Nocheinmalbetasten guter und schrecklicher Geister von Erlebnissen“ soll das Erzählen sein, „Zauber des Aussprechens, Wiederholens, ‚Besprechens‘ und dadurch Entkräftens“ – wie Musil in einer Replik auf die Kritiker seiner Novellen mit Worten, die an die Methode des therapeutischen Erzählens Breuers und Freuds erinnern, schreibt.121 Und nicht zum Ende kommen soll das Warten in Musils Novelle, sondern umgelenkt werden, damit es sich im „Flimmern des Einzelfalls“122 in eine Potenz verwandelt, die das „Privattheater“123 und „Register des innerlich noch Möglichen“124, anstatt es einzudämmen, noch erweitert. Die „Realität, die man schildert, ist der Vorwand dazu“.125

____________ 120 Robert Musil: „Die Versuchung der stillen Veronika“ [Fragment – vor 1908]. In: Ders. (Anm. 82), S. 224–233, hier S. 232. 121 Musil (Anm. 85), S. 997. Vgl. auch Pfohlmann (Anm. 76), der erstmals herausstellt, dass Musils „literarisches Programm […] an die Stelle der Abreaktion aufgestauter Affekte das Prinzip der Energieerhaltung bzw. lebenssteigernden Energieverwandlung setzt“ (S. 178). 122 Musil (Anm. 85), S. 997. 123 Breuer (Anm. 48), S. 61. 124 Musil (Anm. 74), S. 981. 125 Robert Musil: „Novelleterlchen“ [1912]. In: Musil: Gesammelte Werke, Bd. 8 (Anm. 74), S. 1324–1327, hier S. 1325.

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MANFRED WEINBERG (Prag)

Erinnern/Erzählen – Literatur/Film. Mit Anmerkungen zum Film Fight Club 1. Erzählen als Erinnern 527 – 2. David Finchers „Fight Club“ 544

1. Erzählen als Erinnern Manche Zuschreibungen finden sich so häufig und so selbstverständlich, dass man kaum auf die Idee kommt, sie in Frage zu stellen. Welche Filmkritik etwa käme ohne die Formulierung aus, der besprochene Film erzähle diese oder jene Geschichte? Warum auch soll von der durch Filme vermittelten Handlung nicht in gleicher Weise die Rede sein wie von der eines epischen Texts? Schließlich stößt man ja auch immer wieder auf wissenschaftliche Abhandlungen, die eine Narratologie des Films versprechen oder von dieser ausgehen.1 Wo also soll es hier ein Problem geben? Vielleicht aber ist das Problem – oder genauer: die Differenz zwischen dem Film und der literarischen Epik „in Sachen Erzählen“ – so offenkundig wie Edgar Allan Poes purloined letter (1844) und wird deshalb nur selten grundsätzlich diskutiert. Worauf stößt man, wenn man einmal ausdrücklich fragt, ob Filme überhaupt erzählen (können)? Zu einer ersten Klärung hilft der Rückgriff auf die Ur-Schrift des abendländischen Nachdenkens über das Dichten – die Poetik des Aristoteles und seine Bestimmungen der Gattungen, genauer aber nur der Differenz von Dramatik und Epik. Für beide diagnostiziert Aristoteles, dass sie Nachahmungen seien, was man ja auch unproblematisch dem Film zu-

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Vgl. etwa Markus Kuhn: Filmnarratologie. Ein erzähltheoretisches Analysemodell. Berlin/New York 2011; Dennis Maciuszek: Erzählstrukturen im Coming-of-Age-Film. Eine Genrebeschreibung aus Autorensicht. Saarbrücken 2010; Claudia Pinkas: Der Phantastische Film. Instabile Narrationen und die Narration der Instabilität. Berlin/New York 2010; Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skrandies (Hrsg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld 2009; Iotzov Vassilen: Mobile Storytelling. Erzählformate für den kleinen Bildschirm. Saarbrücken 2008; Sandra Strigl: Traumreisende. Narration und Musik in den Filmen von Ingmar Bergman, André Téchiné und Julio Medem. Bielefeld 2007; Karsten Treber: Auf Abwegen. Episodisches Erzählen im Film. Remscheid 2005.

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Manfred Weinberg

schreiben kann. Je anders aber sei das Wie der Nachahmung, denn die Gattungen unterschieden sich „in dreifacher Hinsicht voneinander: entweder dadurch, daß sie durch je verschiedene Mittel, oder dadurch, daß sie je verschiedene Gegenstände, oder dadurch, daß sie auf je verschiedene und nicht auf dieselbe Weise nachahmen“.2 Zur „Art und Weise“ der Nachahmung heißt es dann weiter, es sei möglich, „mit Hilfe derselben Mittel dieselben Gegenstände nachzuahmen, hierbei jedoch entweder zu berichten – in der Rolle eines anderen, wie Homer dichtet, oder so, daß man unwandelbar als derselbe spricht – oder alle Figuren als handelnde und in Tätigkeit befindliche auftreten zu lassen“.3 Knapper: Dramatik ist für Aristoteles Nachahmung von Handlung durch Figurenrede, Epik Nachahmung von Handlung durch Bericht. Der Film will zu beiden Bestimmungen nicht recht passen. Er ist jedenfalls mehr als Nachahmung durch bloße Figurenrede, auch wenn diese den gewohnten Spielfilm in großem Maße bestimmt. Noch weniger ist er aber ein Bericht, denn jeder Bericht braucht und hat eine berichtende Instanz. Aber sind – in die andere Richtung gefragt – die Variationsmöglichkeiten des literarischen Erzählens nicht so schier unendlich, dass sich zur Diagnose einer jeweils berichtenden Instanz auch bei ihm Gegenbeispiele finden lassen? Die üblichen Einteilungen – etwa nach Gérard Genettes strukturalistischer Erzähltheorie: auto-, homo- oder heterodiegetischer Erzähler – setzen zwar einen solchen personalisierten Erzähler voraus; aber es gibt doch Erzähltexte, die aus vielen Versatzstücken zusammencollagiert sind und in denen die Erzählinstanz wechselt und manchmal unklar wird. Und doch steht auch dabei hinter jedem solchen ‚Einzelteil‘ eine personalisierte Instanz. Nur die Art und Weise, in der sie sich zeigt, kann variieren; verschwinden kann sie aus epischen Texten nicht. Als Gegenbeispiel könnte allerdings auf den ersten Blick dann doch der so genannte ‚innere Monolog‘ taugen, wie er sich in James Joyces Ulysses (1922) oder, für die deutschsprachige Literatur erstmals, in Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl (1901) findet. Diese Novelle beginnt: Wie lang’ wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen... schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren… Erst viertel auf zehn?… Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert.4

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Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982, S. 5. Aristoteles (Anm. 2), S. 9. Arthur Schnitzler: „Leutnant Gustl“. In: Ders.: Gesammelte Werke. Die erzählenden Schriften, 2 Bde. Frankfurt a. M. 1961, Bd. 1, S. 337–366, hier S. 337.

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Jedenfalls haben wir es hier nicht mit einem „raunende[n] Beschwörer des Imperfekts“5 zu tun, wie Thomas Mann den ‚herkömmlichen‘ Erzähler einmal genannt hat. Lesen wir nicht einfach, was der tumbe Gustl denkt und fühlt: hic et nunc? Statt aber hiermit ein Gegenbeispiel gefunden zu haben, ist diese Novelle vielmehr ein schlagender Beleg dafür, dass die berichtende Instanz aus einem epischen Text nicht eskamotiert werden kann – denn es muss jemanden gegeben haben, der die Gedanken, Gefühle und Kommentare Gustls ‚notiert‘ hat. Kein Mensch denkt schriftlich und kein Mensch fühlt mit Satzzeichen! Auch in dieser Erzählung steckt also eine berichtende Instanz, jemand, der im zeitlichen Abstand die Gedanken Gustls zu Papier gebracht hat. Zwar liest man diesen Text meist, ohne dieser Instanz gewahr zu werden, so dass wir meinen, Gustls Gedanken ‚live‘ zu folgen; aber ohne diese Instanz gäbe es den Text nicht. Entsprechendes gilt für den berühmten Satz aus Christopher Isherwoods Goodbye to Berlin (1939): „I am a camera with its shutter open, quite passive, recording, not thinking.“6 Mit ihm soll ganz offensichtlich der alles Erzählen bestimmende zeitliche Abstand zugunsten eines unmittelbaren Registrierens dementiert und damit die Subjektivität des Erzählers zurückgenommen werden. Doch spricht es für sich, dass dieses Dementi eben mit einem „I“ als Verweis auf die (hier autodiegetische) Erzählinstanz beginnt. Der ‚Abstand‘ kann also minimiert, aber nicht eskamotiert werden, da er die Bedingung der Möglichkeit des literarischen Erzählens vorstellt. Ein ‚Live‘-Erlebnis bietet dagegen eine Theateraufführung. Lebendige Menschen stehen, gehen und sprechen auf der Bühne – und ich schaue ihnen zu, wie sie hier und jetzt etwas tun oder sagen. Die Guckkastenbühne lebt ja gerade von der Illusion, durch die weggenommene vierte Wand etwas so wahrzunehmen, wie ich es etwa auch auf einem städtischen Platz, Kaffee trinkend, am Nebentisch wahrnehmen könnte, wenn ich mich in eine gute Beobachter- und Hörerposition gebracht habe (den die Anordnung von Bühne und Zuschauerraum garantiert). Gewiss geben sich die meisten Aufführungen nicht als einfacher Alltag; durch Kostüme, Kulissen, ein besonderes Spiel der Darsteller, durch Musik etc. wird die Gemachtheit, somit die Poetizität des Aufgeführten indiziert.7 Aber ‚live‘,

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Thomas Mann: „Die Kunst des Romans“ [1939]. In: Ders.: Gesammelte Werke in 13 Bänden. Frankfurt a. M. 1990. Bd. 10: Reden und Aufsätze 2, S. 348–362, hier S. 349. Christopher Isherwood: „A Berlin Diary. Autumn 1930“. In: Ders.: Goodbye to Berlin. London 1998, S. 9–32, hier S. 9. Käte Hamburger schreibt in ihrer Studie „Zur Phänomenologie des Films“ zur Theaterbühne: „[D]iese hat keine selbständige Funktion für das Drama, das auf ihr ‚gespielt‘ wird, [...]. Die Bretter bedeuten die Welt, sie erschaffen sie nicht. Sie sind kein Teil des dramatischen Kunstwerks selbst“ (Käte Hamburger: „Zur Phänomenologie des Films“. In: Mer-

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hic et nunc, unmittelbar bleibt es doch. Dahinter wollte/konnte auch Bertolt Brechts ‚episches Theater‘ nicht zurück, das ja ‚episch‘ nur heißt, weil es eben jenen grundlegenden Abstand allen Erzählens vom Erzählten dem dramatischen hic et nunc durch V-Effekte ‚aufpropfen‘ wollte, so dass an die Stelle von Identifikation Reflexion tritt und daraus Erkenntnis, nicht Katharsis resultiert. Auch das ändert jedoch an der grundsätzlichen Unmittelbarkeit der theatralen Aufführung nichts. Was aber hat all das mit dem Film zu tun? Man sieht jedenfalls rasch, dass er auf den ersten Blick mehr der theatralen Aufführung gleicht, denn er ist, jedenfalls ‚auf weite Strecken’, Nachahmung von Handlung durch Figurenrede.8 Warum bedient sich die Film-Wissenschaft dann aber so oft des Begriffsarsenals der Narratologie (wenngleich natürlich auch oft von der ‚Dramaturgie‘ eines Films die Rede ist)? Dies lässt sich erst einmal ex negativo rechtfertigen: Dem Film eignet nun einmal nicht die Unmittelbarkeit der theatralen Aufführung. Ein Film ist, da ‚aufgezeichnet’, identisch wiederholbar. Die Frage ist eben nur, ob ihm damit auch jener Gestus der Vergegenwärtigung zukommt, der alles literarische Erzählen bestimmt. Bevor die Frage nach der Differenz von Epik und Film aus dieser Perspektive bestimmt werden soll, ist jedoch erst einmal zu klären, was zu heutigen Bedingungen gemeint ist, wenn von einer ‚Erzählung‘ die Rede ist. Ein solcher Versuch, den status quo des Begriffsverständnisses von Erzählen zu bestimmen, scheitert jedoch an der nicht synthetisierbaren Heterogenität der im Umlauf befindlichen Bestimmungen. Zur Systematisierung ziehe ich einen Aufsatz von Michael Scheffel heran, der unter dem Titel „Was heißt (Film-)Erzählen?“ immerhin der auch hier zur Rede stehenden Grundsatzfrage gilt und die wichtigsten Bestimmungen entsprechend fokussiert versammelt. Scheffel beginnt seinen Aufsatz mit der Diagnose: Im Zuge des sogenannten ‚cultural turn‘ in den Geisteswissenschaften hat auch die aus dem Geist des Strukturalismus geborene und als Teil der Literaturwissenschaft entwickelte Narratologie ihre Fixierung auf literarische Erzählungen aufgegeben, um nunmehr ‚interdisziplinär‘, ‚transgenerisch‘ und ‚intermedial‘ zu

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kur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 10 [1956], S. 873–880, hier S. 874). Hier liegt m. E. ein Beispiel für die Verwechslung von Dramentext und theatraler Aufführung sowie eine Unterschätzung der über die Worte des Dramas hinausgehenden „Zeichen des Theaters“ vor. Gegen diese Bestimmung scheint die bloße Existenz von Stummfilmen (zudem als „Wiege“ des Films) zu sprechen. Allerdings artikulieren die zwischengeschalteten Tafeln ja auch ‚Figurenrede‘. Tatsächlich wird aber aus dieser Perspektive eine andere entscheidende Differenz zwischen theatraler Aufführung und Film sichtbar, die im Folgenden noch genauer zu fassen sein wird.

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operieren. Zu den Folgen einer solchen Erweiterung des Blickfelds zählt, dass die Bedeutung des Begriffs ‚Erzählen‘ zuweilen verschwimmt. 9

Die Diagnose des ‚Verschwimmens‘ lässt sich prägnant, wenngleich eher anekdotisch, belegen. In der Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 3. Mai 2012 fand sich auf den Literaturseiten eine Besprechung von Padgett Powells gerade auf Deutsch erschienenem Buch The Interrogative Mood. A Novel? (2009). Den amerikanischen Originaltitel kann man immerhin noch als Frage verstehen, ob ein Erzählen in bloßen Fragen möglich sei. Der Übersetzer Harry Rowohlt hat daraus allerdings den deutschen Titel Roman in Fragen (2012) gemacht, der die Frage des Originaltitels kategorisch beantwortet. Weit erstaunlicher aber ist die Formulierung, die sich in dem dem Titel „Einfach weiter gebohrt“ folgenden Überblick findet: „Der amerikanische Schriftsteller Padgett Powell war genervt vom narrativen Erzählen und hat ein Buch geschrieben, das aus nichts als Fragen besteht – dabei herausgekommen ist ein tolles Leseabenteuer“10 (Hervorhebung von mir; M. W.). Was, bitte, ist ein ‚narratives Erzählen‘? Der DUDEN erläutert „narrativ“ mit „erzählend, in erzählender Form darstellend“11 – wir haben es also mit einem ‚erzählenden Erzählen‘ zu tun, was nahe legt, dass es auch ein nicht erzählendes Erzählen geben muss. Zu fragen bleibt jedoch, was das Unterscheidungskriterium sein soll – jenes Begriffsverständnis, das das Adjektiv, oder jenes Begriffsverständnis, das das Substantiv ‚regiert‘ (wenn sich die beiden denn überhaupt angeben lassen)? Wer dem Verfasser Jörg Magenau daraufhin noch einmal eine Auffrischung seines narratologischen Wissens nahe legen will, müsste in diesen Ratschlag jedoch gleich noch ein paar andere einschließen: Zum Suchbegriff „Narratives Erzählen“ (somit sogar ohne alle Deklinationen und nur auf Deutsch) verzeichnet Google immerhin 318 Treffer! Was also heißt heutzutage ‚Erzählen‘? Auch Scheffel muss sich in seinem Aufsatz auf einige Hinweise beschränken. So verweist er auf die Analytische Philosophie der Geschichte (1965) von Arthur C. Danto,12 der als „Kern des Erzählens die Ordnung von Geschehen zu einer oder auch mehreren Geschichten“ in Anschlag bringe: „Zum Erzählen in diesem Sinne gehört die Darstellung einer Folge von Begebenheiten oder Situationen, die nicht nur aufeinander, sondern auch auseinander folgen. Mit

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Michael Scheffel: „Was heißt (Film-)Erzählen? Exemplarische Überlegungen mit einem Blick auf Schnitzlers ‚Traumnovelle‘ und Stanley Kubricks ‚Eyes Wide Shut‘“. In: Susanne Kaul/Jean-Pierre Palmier/Timo Skandries (Hrsg.): Erzählen im Film. Unzuverlässigkeit – Audiovisualität – Musik. Bielefeld 2009, S. 15–31, hier S. 15. Jörg Magenau: „Einfach weiter gebohrt“. In: Süddeutsche Zeitung, 3. Mai 2012, S. 13. Vgl. im Internet: URL: http://www.duden.de/suchen/dudenonline/narrativ [letzter Zugriff: 18.5.2015]. Vgl. Arthur C. Danto: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1974.

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anderen Worten: Neben der bloßen ‚Darstellung von Situationsveränderung‘13 […] schließt das Erzählen immer auch die Darstellung irgendeiner Art von Zusammenhang im Sinne einer motivationalen Verkettung der dargestellten Veränderung ein“.14 Scheffel zitiert weiterhin die Diagnose einer „Synthesis des Heterogenen“15 aus Paul Ricœurs Temps et récit (1983–1985). Man wird dem nicht widersprechen wollen, aber durchaus fragen müssen, ob Begriffe wie „Ordnung“, „Situationsveränderung“, „motivationale Verkettung“ oder „Synthesis des Heterogenen“ wirklich schon etwas Erzählspezifisches angeben. Lassen sich diese Bestimmungen nicht ebenso auf das Drama beziehen?16 Scheffel fügt mit Seymour Chatman eine weitere Bestimmung hinzu: „each narrative has two parts: a story (histoire) […] and a discourse (discours) […]. In simple terms, the story is the what in a narrative that is depicted, discourse the how“.17 Matías Martínez und Michael Scheffel haben diese Unterscheidung im Übrigen zur Grundlage ihrer höchst erfolgreichen Einführung in die Erzähltheorie gemacht, indem sie, nach Ausführungen zu den „Merkmale[n] fiktionalen Erzählens“,18 die zwei Hauptkapitel

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Dietrich Weber: Erzählliteratur. Schriftwerk, Kunstwerk, Erzählwerk. Göttingen 1998, S. 17. Scheffel (Anm. 9), S. 16 f. Paul Ricœur: Zeit und Erzählung [1983–1985]. 3 Bde. München 1988–1991, Bd. 1: Zeit und historische Erzählung (1988), S. 106. Am ehesten trifft dabei die Zuschreibung einer ‚motivationalen Verkettung‘ die Spezifika des literarischen Erzählens, jedenfalls wenn man darunter eine ausdrückliche Herleitung auseinander etwa durch Erzählerkommentare (worauf das Wort ‚Darstellung‘ ja zumindest anspielt) versteht. So aber scheint die ‚Personalität‘ des Erzählers ein weiteres Mal als entscheidendes Kriterium des Erzählens auf. Seymour Chatman: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1978, S. 19. Allerdings schlussfolgert Chatman daraus den Grundsatz einer „transposability of the story“, den Nicole Mahne m. E. zurecht dementiert, indem sie zunächst Marie-Laure Ryan zitiert: „Each medium has particular affinities for certain themes and certain types of plot: you cannot tell the same type of story on the stage and in writing, during conversation and in thousand-page novel, in a two-hour movie and in a TV serial that runs for many years“ (Marie-Laure Ryan: „Will new media produce new narratives?“. In: Dies. [Hrsg.]: Narrative across Media. The Languages of Storytelling. Nebraska 2004, S. 337–359, hier S. 356). Mahne kommentiert: „Medien übernehmen nicht die Funktion neutraler Transportbehältnisse für beliebig austauschbare Inhalte. Im Gegenteil prägen ihre Struktureigenschaften die Ausdrucksform und damit auch den Ausdrucksinhalt des Erzählten. Medien ‚beeinflussen durch die ihnen als Programm eingeschriebenen Möglichkeiten die Zeichengestaltung und damit die Gestaltung der Äußerungsformen, Inhalte, also der Texte insgesamt, die mit diesen Apparaturen hergestellt werden‘ [Knut Hickethier: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 22010, S. 77]“ (Nicole Mahne: Transmediale Erzähltheorie. Eine Einführung. Göttingen 2007, S. 15). Matías Martínez/Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. München 62005, S. 9 ff.

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mit: „Das ‚Wie‘: Darstellung“19 und „Das ‚Was‘: Handlung und erzählte Welt“20 überschreiben. Immerhin gibt es aber auch – vor allem in Versuchen, einen transmedialen Begriff von Erzählung zu bieten – Fassungen des Erzählens, die hinter gerade diese Differenz wieder zurückgehen. Nicole Mahne fasst einen entsprechenden Vorschlag von Werner Wolf21 so zusammen: Das Narrative basiert nach Wolf nicht auf dem dualistischen Modell von story und discourse, bzw. Geschichte und Darstellung, oder auf der Erfüllung von Narrativitätskriterien. Das Narrative definiert Wolf als kognitives Schema menschlichen Denkens. Es beinhaltet die Fähigkeit des Menschen, zeitliche Prozesse in einem kausalen Sinnzusammenhang zu verstehen, zu deuten und zu kommunizieren. Das Narrative als ‚stereotypes verstehens-, kommunikations- und erwartungssteuerndes Konzeptensemble‘ kann durch werkexterne und werkinterne Signale gezielt stimuliert werden. Ein Medienprodukt kann als narrativ bezeichnet werden, wenn es das narrative Schema des Rezipienten zu aktivieren vermag. Dieser Prozess wird durch medienungebundene Indizien, Wolf spricht von Narremen oder Narrativitätsfaktoren, ausgelöst.22

Somit gilt: „Das Narrative, verstanden als universal structure, umfasst heterogene mediale Erscheinungsformen. Es lässt sich nicht anhand formaler Kriterien eines Einzelmediums isolieren und kennzeichnen. Es stellt sich folglich auch nicht die Frage nach definitionsrelevanten Präsentationsformen, die immer an das Spezifikum des konkreten Mediums gebunden sind, sondern nach den ‚narrative[n] Leistungsmöglichkeiten verschiedener Medien‘.“23 Von einem solchen weiten Erzählbegriff her lässt sich dann selbstverständlich sagen, dass auch der Film erzählt. (Wiederum: Warum dann aber nicht auch das Drama?) Es ist allerdings bezeichnend, dass eine transmediale Erzähltheorie erst einmal den Begriff des Erzählens von allen Medien abkoppelt und sich dabei eines technizistischen (oder einfacher gesagt: rein materiellen) Medien-Begriffs bedient, so dass es Werner Wolf gar nicht in den Sinn kommt zu fragen, ob sich das Narrative „als eines der stärksten sinnstiftenden Schemata menschlichen Denken“24 nun eher in Worten, also Sprache, oder Bildern entfaltet, was ja immerhin die präzise Nachfrage der Nähe von epischen oder filmischen (Erzähl-)Verfahren zur vorausgesetzten anthropologischen ‚Universalie‘

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Martínez/Scheffel (Anm. 18), S. 30 ff. Martínez/Scheffel (Anm. 18), S. 108 ff. Vgl. Werner Wolf: „Das Problem der Narrativität in Literatur, bildender Kunst und Musik. Ein Beitrag zu einer intermedialen Erzähltheorie“. In: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 23–103. Mahne (Anm. 17), S. 16. Mahne (Anm. 17), S. 16 f. Wolf (Anm. 21), S. 83.

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Erzählen erlaubte. Bezüglich dieser ist allerdings zu fragen, was sie anderes benennt als das, was gemeinhin ‚Erinnern‘ heißt.25 Zurück aber zum Überblick von Michael Scheffel, der auch auf oben schon meinerseits angesprochene Grundkonstellationen zu sprechen kommt – etwa mit dem Hinweis, „dass die Tätigkeit des Erzählens an ein ‚Aussagesubjekt‘ gebunden ist, das man in der Regel mit dem althergebrachten Ausdruck ‚Erzähler‘ versieht, das man aber, um für den Fall von fiktionalen Erzählungen die Assoziation einer realen ‚Person‘ zu vermeiden, auch als ‚Aussageinstanz‘, ‚Vermittlungsinstanz‘ oder ‚narrative Instanz‘ bezeichnet“.26 Die Rede von der ‚Instanz‘ soll deutlich machen, dass wir es nicht mit einer realen Person zu tun haben; doch ändert dies an der ‚Personalität‘ dieser Instanz gar nichts, sondern verweist nur darauf, dass sich diese im Modus des „als ob“ im literarischen Text zeigt. Bei Scheffel heißt es weiter: In der Terminologie der scharfsinnig pointierenden Studie von Dietrich Weber Erzählliteratur lassen sich überdies noch folgende Spezifika benennen: (1) ‚Erzählen gilt Nichtaktuellem‘ […]27, d. h. aus der Sicht des Erzählenden betrifft das Erzählen insofern ‚Nichtaktuelles‘, als es für den Nachvollzug von mehr oder minder lang Vergangenem oder aber Vergegenwärtigung von etwas Imaginärem ist […]28. Aus dieser Tatsache wiederum folgt (2), dass Erzähler im Verhältnis zum erzählten Geschehen im engeren Sinne nicht Handelnde, sondern ‚Außenstehende‘ sind, und (3), dass zum Erzählen eine spezifische ‚Zweipoligkeit‘ gehört: ‚Erzählen‘, so Weber, ‚hat zwei Orientierungszentren‘, nämlich ein ‚Orientierungszentrum I‘ des Erzählenden in seinem Ich-Hier-Jetzt-System‘ und ein ‚Orientierungszentrum II‘ der ‚Personen, von denen erzählt wird, in ihrem IchHier-Jetzt-System‘ […].29

So nähert sich das literarische Erzählen aber nur immer mehr den Bestimmungen des Erinnerns an: Es ist Nachvollzug von Vergangenem durch einen, der (nun) nicht (mehr) zum erzählten Geschehen gehört, so dass zwei Logiken resultieren: die des Erinnerten und die des Erinnerns. Scheffel fährt ebenso präzise wie zuletzt enttäuschend fort: „Aus theoretischer Sicht scheint mir die Frage nach der Bildung von Kohärenz für den Fall der Darstellung von Geschehen in Bildern noch weit diffiziler als

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Dabei ist allerdings ‚Erinnern‘ nicht einfach als Re-Präsentation eines vergangenen Ereignisses zu verstehen. Vgl. zu einem komplexeren ‚Modell‘ von Erinnerung und Gedächtnis: Vf.: Das „unendliche Thema“. Erinnerung und Gedächtnis in der Literatur/Theorie. Tübingen 2006. Dort heißt es u. a.: „[A]uch dies gehört zum ‚unendlichen Thema‘ des Gedächtnisses, dass es sich nicht auf eine ‚Zeitekstase’ (Vergangenheit) resp. auf zwei (das Erinnern der Vergangenheit in der Gegenwart) beschränken lässt: Auch die Zukunft ist immer mit ‚im Spiel‘“ (S. 107). Scheffel (Anm. 9), S. 18. Weber (Anm. 13), S. 24. Vgl. Weber (Anm. 13), S. 24–32. Scheffel (Anm. 9), S. 18. Scheffel zitiert hier Dietrich Weber (Anm. 13), S. 43.

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im Fall des verbalen Erzählens. Ich werde sie hier nicht klären können, möchte aber darauf hinweisen, dass gerade auch das im Film dargestellte Geschehen jedenfalls eine Art von – mit David Herman gesprochen – ‚Story logic‘30 braucht.“31 Im Bezug auf Erzählung, theatrale Aufführung und Film heißt es dann: Anders als auf der Bühne ist das dargestellte Geschehen im Fall des Films, so führt etwa Anke-Marie Lohmeier aus, ‚von der Vermittlungsfähigkeit einer zwischengeschalteten, auf der Abbildungsebene agierenden Instanz abhängig‘ […]32. Dieser Instanz, so Lohmeier weiter, ‚kommt mithin der erzähllogische Status eines Erzählers zu, eines Erzählers freilich, der die erzählte Welt nicht, wie der sprachliche Erzähler, nachbildet, sie im Medium der Sprache wiedererstehen lässt, sondern ihr buchstäblich zuschaut (und zuhört) […]. Dabei vollzieht er Operationen, die denen des sprachlichen Erzählers zumindest vergleichbar sind: Er betrachtet das Geschehen aus je bestimmter Perspektive (Kamerastandort) und entscheidet über Dauer, Rhythmus und Reihenfolge seines Erscheinens auf der Leinwand (Montage). Auf der Abbildungsebene herrschen daher die Bedingungen der narrativen Sprechsituation: Das im Modus dramatischer Selbstdarstellung erscheinende Geschehen wird durch den Abbildungsakt in die genuin narrative Subjekt-Objekt-Relation von Erzählen und Erzähltem überführt. […] Filme sind ‚erzählte Dramen‘ […].33

Ein letzter, wenngleich ausführlicher und wiederum am entscheidenden Punkt ausweichender Kommentar aus Scheffels Aufsatz: Die Problematik der von Lohmeier gebrauchten, im Fall des Films mit guten Gründen umstrittenen Rede vom ‚Erzähler‘ als Vermittler des dargestellten Geschehens kann ich hier nicht im Einzelnen diskutieren. Mit Hilfe einer ‚Übersetzung‘ in die von mir entfaltete Begrifflichkeit scheint mir gleichwohl folgende Präzisierung möglich: Dietrich Webers oben zitierter, für alles verbale Erzählen grundlegender Satz ‚Erzählen gilt Nichtaktuellem‘ trifft im Fall der filmischen Darstellung von Geschehen bestenfalls aus der Perspektive des Rezipienten zu. Im Blick auf die Struktur der, wie Hamburger sagt, Erzählfunktion des Filmbildes findet sich dagegen grundsätzlich keine ‚oratio post actum‘, sondern, gewissermaßen in Analogie zur teichoskopischen Rede nur ein Mitvollzug von Aktuellem, eine ‚oratio coram actu‘. Zwischen Kamera und dargestellten Geschehen gibt es eine mehr oder minder große räumliche, aber keine zeitliche Distanz. Aus diesem konstruktionsbedingten Fehlen jeglicher Distanz zwischen dem Zeitpunkt der Darstellung und dem des dargestellten Geschehens wiederum folgt, dass hier kein wirklich ‚Außenstehender‘ ‚erzählt‘ und zugleich die für das verbale Erzählen konstitutive ‚Zweipoligkeit‘ infolge zweier unterschiedlicher Orientierungszentren fehlt. Die Analogie von Kamera und Erzähler erscheint mir insofern problematisch. Tatsächlich bedeutet die Notwendigkeit einer wie auch immer gearteten

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Vgl. David Herman: Story Logic. Problems and Possbilities of Narrative. Lincoln 2004. Scheffel (Anm. 9), S. 19. Anke-Marie Lohmeier: „Filmbedeutung“. In: Fotis Jannidis u. a. (Hrsg.): Regeln der Bedeutung. Zur Theorie der Bedeutung literarischer Texte. Berlin/New York, S. 512–525, hier S. 514. Scheffel (Anm. 9), S. 20. Scheffel zitiert hier Lohmeier (Anm. 32), S. 514.

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Kameraeinstellung zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger als die Präsenz einer den Film vom Drama grundlegend unterscheidenden ‚Vermittlungsinstanz‘, deren Orientierungszentrum wahlweise und durch das Prinzip von ‚Schuss‘ und ‚Gegenschuss‘ auch unmittelbar nacheinander das eines Handelnden oder das eines Beobachters sein kann. Niemals aber kann allein die Kamera, wie das im Rahmen des verbalen Erzählens etwa durch das Prinzip der dual voice in der erlebten Rede möglich ist, die Orientierungszentren von Handelndem und Beobachtendem (oder gar Sich-Erinnerndem) simultan präsentieren. Die filmische Darstellung von Geschehen unterscheidet sich insofern grundlegend sowohl vom verbalen Erzählen als auch von der Geschehensdarstellung im Drama, und Filme sind dementsprechend – wenn man denn ihre gewisse Nähe zum Drama zur Veranschaulichung nutzen will – wohl besser als ‚vermittelte‘ Dramen zu bezeichnen.34

Eigentlich könnte man nach diesem Kommentar Scheffels die Frage, ob der Film erzähle, ad acta legen, denn die Unterschiede zwischen literarischer Epik und Film arbeitet er, trotz des zweimaligen Ausweichens vor zentralen Problemen, argumentativ so deutlich heraus, dass man danach sicher nicht mehr beides in gleicher Hinsicht ‚Erzählen‘ nennen kann. Will man also, dass auch der Film erzählt, muss man zu einem Verständnis von Erzählen übergehen, das sich zumindest nicht mehr an dem orientiert, wofür das Wort ‚Erzählen‘ fast Ewigkeiten lang stand: das alltägliche oder literarische, jedenfalls sprachliche Berichten von Ereignissen. Ein solches Argument wird aber wohl ungehört verhallen und die Rede vom ‚erzählenden Film‘ kaum beeinträchtigen. Insofern scheint es doch angebracht, in der Diagnose der Differenzen noch ein wenig über Scheffel hinauskommen zu wollen, was verlangt, sich gerade jenen beiden Problemen, zu denen Scheffel weitere Ausführungen ‚verweigert‘, zuzuwenden – der Frage „nach der Bildung von Kohärenz für den Fall der Darstellung von Geschehen in Bildern“ und dem Verweis auf „die im Fall des Films mit guten Gründen umstrittene[ ] Rede vom ‚Erzähler‘ als Vermittler des dargestellten Geschehens“. Die Frage nach der vermittelnden Instanz im Film lässt sich noch einmal knapp vom Vergleich mit der theatralen Aufführung her profilieren, die derlei nicht kennt: Was ich auf der Bühne sehe, ist einfach hic et nunc da; dafür werde ich es auf diese Weise aber auch nie wieder zu Gesicht bekommen. Die durch (analoge oder digitale) Speicherung ermöglichte Wiederholbarkeit des Films ist der Anwesenheit einer solchen Instanz bei der Produktion eines Film geschuldet: der Kamera. So wird die entscheidende Frage genauer formulierbar: Erscheint ‚die Kamera‘ in der Rezeption der von ihr aufgenommenen und – weil gespeicherten – wiederholbaren Bildsequenzen tatsächlich personalisiert? Kann man sie wirklich

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Scheffel (Anm. 9), S. 20 f.

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so umstandslos mit dem literarischen Erzähler gleichsetzen, wie es etwa auch Manfred Pfister vorschlägt, wenn er sie „ein vermittelndes Kommunikationssystem“ nennt, das eine „Erzählfunktion“ erfülle, „die der Position […] des fiktiven Erzählers in narrativen Texten entspricht“.35 Die Differenz lässt sich (auch nach den zitierten Zuschreibungen Scheffels) jedenfalls klar benennen: Die Zentralinstanz des Films ist keine ‚Person‘ (und sei es auch nur im Modus des ‚als ob‘), wenngleich (vorübergehend) personalisierbar – und sie erinnert deshalb nicht (an etwas). Man kann dies zunächst knapp an dem darstellen, was gemeinhin als „Realitätseffekt“ des Films beschrieben wird. Wenn die Soldaten in Ben Hur (William Wyler, USA 1959) eine bestimmte Uniform tragen und wenn sie englisch – oder in synchronisierter Form: deutsch – sprechen: Wie soll ich da auf die Idee kommen, dass die Soldaten im antiken Rom nicht genauso gekleidet waren und nicht genau so sprachen? Ich habe ihre Kleidung doch gesehen und ich habe ihre deutsche oder englische Rede doch gehört. Die Bilder und der Ton vermitteln mir also das Gefühl, selbst dabei gewesen zu sein, was die Unangemessenheit von Lohmeyers Darstellung, eine filmische Erzählinstanz habe „buchstäblich zu[ge]schaut (und zu[ge]hört)“, erweist. Die Filmbilder vermitteln mir nicht (jedenfalls nicht ohne zusätzliche Indizierung [dazu s. u.], dass ein anderer dabei war, vielmehr das Gefühl, selbst anwesend gewesen zu sein, gesehen und gehört zu haben, was daran liegt, das dem Film der ausgestellte Index des Erinnerns fehlt: Er ist bewahrte Gegenwart! Nun ließe sich einwenden, dass, auch wenn der Film keine personalisierte Erzählinstanz erzwingt, er sie eben doch haben kann, wie unzählige Filme mit einem voice over belegen. Aber ist diese Instanz dann die Erzählinstanz des Films?36 Die Frage nach der Vermittlungsinstanz im Film sei auf der Ebene der Bilder hier mit einer Art Mustersequenz erörtert, wie sie so oder so ähnlich wahrscheinlich in jedem Film einmal vorkommt. Die erste Teilsequenz zeigt einen städtischen Platz in der Totalen und zwar aus der Draufsicht, also schräg von oben; in der zweiten Teilsequenz befindet sich die Kamera auf der Höhe der über diesen Platz eilenden Menschen und zeigt deren Eilen (oder Schlendern) in einer Halbtotalen; es folgt (abschließend) ein close up auf eine bestimmte Figur. Auch wenn er sie bisher nicht kennt, weiß jeder Filmzuschauer, dass diese Person eine

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Manfred Pfister: Das Drama. Theorie und Analyse. München 112001, S. 48. Ich werde im zweiten Teil meiner Erörterungen auf einen Film eingehen, dem auch ich zugestehe, dass er sich an der größtmöglichen Annäherung an eine personalisierte Erzählinstanz versucht: Fight Club – und ich werde aufzuweisen versuchen, dass seine ‚Machart‘ wie seine Schlusspointe auf der Ebene der Bilder zuletzt eben doch ganz filmisch sind (und das heißt: ohne durchgängig personalisierte Erzählinstanz, ohne ‚Berichterstatter‘ auskommen).

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irgendwie besondere Rolle im Film spielen wird. Die Mustersequenz aber zeigt, warum die Zentralinstanz des Films eben nicht per se personalisiert37 ist: Keine Person kann in dieser Schnelligkeit von der einen zur anderen Beobachterposition wechseln. Eben noch von einem Hochhausdach auf den Platz schauend, nun schon mitten im Gewimmel und gleich auch schon eine relevante Figur des Films fokussierend. Der Wechsel von der einen zur nächsten Einstellung dementiert notwendig die personale Identität. Der rasche Wechsel der Perspektive aber verdankt sich einem Spezifikum des Films: dem Schnitt. Auf das für die hier zur Rede stehende Frage Entscheidende an dieser Aussage wird man geführt, wenn man sich klar macht, dass der Schnitt selbst kein filmisches Zeichen ist. Etwas altertümlich mit einer Filmrolle argumentiert: Ein Schnitt kommt dadurch zustande, dass dem letzten Bild der einen Sequenz ‚unmittelbar‘ das andere Filmbild der nächsten Sequenz folgt – oder genauer gesagt: das letzte Filmbild der ersten Sequenz ist vom ersten Filmbild der nächsten nur in eben der Weise abgegrenzt wie die Filmbilder jeder kontinuierlichen Sequenz untereinander. Was allerdings auf technisch-materieller Ebene als Koninuität erscheint, führt auf der Ebene der Bildsequenzen zu einer deutlichen Diskontinuität – und genau diese unterscheidet den Film vom literarischen Erzählen. Denn ganz gleichgültig, wie große Brüche ein Erzähler zwischen verschiedenen Handlungssträngen am jeweiligen Übergang zwischen ihnen ‚inszeniert‘: Es ist vorher wie nachher er, der das Ganze erzählt, so dass sich sagen lässt, dass die eine Erzählinstanz die Kontinuität des Erzählens (nicht des Erzählten!) garantiert (oder umge-

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Allerdings haben sich Filme durchaus an einer durchgängigen Personalisierung versucht: etwa Robert Montgomerys The Lady in the Lake von 1946 (USA). Julika Griem und Eckart Voigts-Virchow kommentieren: „Montgomerys entscheidender Fehler liegt wohl darin, die literarische Erzählsituation zu ‚wörtlich‘ zu nehmen und die Eigenarten filmischen Erzählens zu ignorieren. In zu enger Anlehnung an die Romanvorlage verläßt sich der Film allein auf das Mittel extremer POV [point of view; M. W.]-Einstellungen, in denen die Kamera nicht mehr der wahrnehmenden Figur über die Schulter zu schauen scheint, sondern sie ersetzt. Der technische Apparat filmischen Erzählens wird damit auf eine Weise anthropomorphisiert, die gerade keine naturalistische Illusion subjektiver Wahrnehmung, sondern einen verfremdenden Effekt schafft“ (Julika Griem/Eckart Voigts-Virchow: „Filmnarratologie. Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalysen“. In: Vera Nünning/Ansgar Nünning [Hrsg.]: Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 155–183, hier S. 173). Man könnte das misslungene Experiment aber auch viel einfacher begründen: Die Ver-/Befremdung hat ihren Grund schlicht darin, dass in diesem Film die Erinnerungshaltung der literarischen Erzählinstanz ins (bewahrte) hic et nunc der Filmbilder übersetzt wurde. Den nur phasenweisen Einsatz dieser Perspektivierung in Spike Jonzes Being John Malkovich (USA) von 1999 halten Griem und Voigts-Virchow dagegen für gelungen, weil er den Abstand von den Grundbedingungen des Films nicht überdehnt. Gerade weil die Identität des Kamera-Blicks mit dem von John Malkovich in diesem Film also nur gelegentlich eingesetzt wird, gelingt es nur umso überzeugender, den Grundansatz der Handlung umzusetzen: die Möglichkeit, phasenweise John Malkovich zu sein.

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kehrt: dass erst die Kontinuität des Erzählens die ‚Einheit‘ der Erzählinstanz hervorbringt). Dass dies so ist, lässt sich in seiner Differenz zum Film noch einmal von der hier in Anschlag gebrachten Grundfigur des Erinnerns herleiten: Die Brüche auf der Ebene der story/histoire mögen im literarischen Erzählen noch so groß sein, sie werden auf der Ebene des discourse/discours überwölbt und zusammengehalten vom Erinnerungsgestus der Epik. Selbst in Fällen der Fokalisierung, in denen der Erzähler uns also phasenweise ganz am Blick einer Figur in die Welt teilhaben lässt (und selbst hinter/in diesem ‚Blick‘ verschwindet), ist er selbst es, der diesen Blick vermittelt. Genau und gerade das aber verhält sich im Film aufgrund des ihm mangelnden38 Erinnerungsgestus, seines Status als bewahrte Gegenwart anders. Man steht damit offensichtlich vor eben jener „Frage nach der Bildung von Kohärenz für den Fall der Darstellung von Geschehen in Bildern“, auf die Michael Scheffel die nähere Auskunft verweigert hat. Die spezifische Kohärenzstiftung des Films lässt sich dabei erst einmal ex negativo gerade von dem fehlenden Erinnerungsgestus aus entwickeln. Da der Film diesen nicht kennt, muss man jeden Schnitt (und jede Blende etc.), mit Wolfgang Iser zu reden, als eine (filmspezifische) „Leerstelle“ verstehen, die vom Zuschauer gefüllt werden muss. Mit jeder Szene kann im Film alles wieder anders sein (subjektive Kamera, objektive Kamera etc. pp.). Bei jeder neuen Einstellung muss ich entscheiden, wie sie an die alte anschließt – und muss ‚wahr-nehmen‘, was die neue Einstellung mir zu ihrer eigenen Bedingung der Möglichkeit vermittelt. Die Kohärenz steckt also vorderhand gar nicht ‚in‘ den Bildern, sondern im dem dem Schnitt geschuldeten Szenenwechsel als Aufforderung an den Zuschauer, aktiv Kohärenz herzustellen. Noch einmal anders gesagt: Weil Erzählen immer Erinnern meint, eignet ihm die Einheitlichkeit eines Rückblicks; weil der Film bewahrte Gegenwart ist, delegiert er die Synthesis des Erinnerns an den Zuschauer. Der schafft in der Heterogenität des ihm auf der Bildebene Angebotenen erst Kohärenz und damit etwas der Erinnerung Entsprechendes. Welche Folgen das Ignorieren dieser Grundbedingung des Films hat, lässt sich hier rasch mit zwei Zitaten deutlich machen. In Christian Metz’ Semiologie des Films (1972) kann man lesen: „Der Zuschauer perzipiert die Bilder, die offensichtlich ausgewählt worden sind“; daraus ergebe sich „eine Art ‚potentielle[r] linguistische[r] Brennpunkt‘, der irgendwo hinter dem Film placiert ist und das darstellt, von wo aus der Film möglich ist.

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Zuletzt ist dies aber natürlich kein Mangel, sondern nur die besondere Qualität von Filmen. Sie zu ignorieren (und Filme in das Prokrutes-Bett des Erzählens zu sperren), führt dann eben auch oft im Detail zu unterkomplexen Analysen.

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Dies ist die kinematographische Form der erzählenden Instanz […]“.39 Es bleibt durchaus unklar, wie Metz von den je so oder so personalisierten oder (als objektive Kamera) nicht personalisierten Bildsequenzen zu einem Brennpunkt gelangt.40 Wolfgang Iser wiederum übertreibt in eine andere Richtung, wenn er unterstellt, der Film gebe seinem Rezipienten schon alles vor: Die Romanverfilmung hebt die Kompositionsaktivität der Lektüre auf. Alles kann leibhaftig wahrgenommen werden, ohne daß ich etwas hinzu bringen, geschweige denn mich dem Geschehen gegenwärtig machen muß. Deshalb empfinden wir dann auch die optische Genauigkeit des Wahrnehmungsbildes im Gegensatz zur Undeutlichkeit des Vorstellungsbildes nicht als Zuwachs oder gar als Verbesserung, sondern als Verarmung.41

Letzteres teilen im Übrigen wahrscheinlich nur eifrige Leser. Richtig an Isers Diagnose ist sicher, dass ich mich im Film „dem Geschehen [nicht] gegenwärtig machen muss“, was wiederum an der oben konstatierten Tatsache der Filmbilder als bewahrter Gegenwart liegt; ebenso richtig ist, dass ich im Film alles „leibhaftig“ wahrnehmen kann. Dass aber der Film keine „Kompositionsaktivität“ fordert, ist m. E. falsch. Es ist nur keine des Nachvollzugs eines Erinnerns seitens der literarischen Erzählinstanz; vielmehr fordert der Film, weil ohne Vergangenheitsindex, hochfrequent Entscheidungen, was die Voraussetzungen der aktuellen Kameraeinstellung sind, aus deren jeweiliger Unterschiedlichkeit ich dann erst eine Kohärenz zusammenfügen muss.42 Man kennt etwa, um ein Beispiel zu

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Christian Metz: Semiologie des Films. München 1972, S. 31 f. Eine solche Vereinheitlichung bestimmt aber nahezu die gesamte Filmwissenschaft. Julika Griem und Eckart Voigts-Virchow fassen zusammen: „Die solchermaßen präsentierte Erzählfunktion hat unter verschiedenen Namen Eingang in die Diskussion gefunden – ursprünglich häufig als camera (Pudovkin), dann als image-maker (Kozloff), grande imagier (Metz), intrinsic narrator (Black), fundamental narrator (Gaudreault), external or cinematic narrator (Burgoyne), perceptual enabler/perceptual pilot (Levinson)“ (Griem/Voigts-Virchow [Anm. 37], S. 162). Vgl. die weiteren Ausführungen zu solcher Vereinheitlichung an dieser Stelle. Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976, S. 225. Gesa Dane hat in ihrem Käte Hamburgers Beitrag „Zur Phänomenologie des Films“ kommentierenden Aufsatz „Filmisches und episches Erzählen“ ganz ähnlich die Differenz zwischen epischer und filmischer Erzählweise in dem „Spielraum“ begründet gesehen, „den Film und Roman der Einbildungskraft lassen. Während die epische Funktion des Romans es den Lesenden selbst überläßt, was diese sich vorzustellen haben, lenkt das filmische Erzählen die Einbildungskraft während des Zuschauens“ (Dane [Anm. 7], S. 174). Im Weiteren verweist sie auf eine noch stärkere Fassung dieses Arguments in Günter Anders Aufsatz „Der 3-D-Film“ im Merkur des Jahres 1954, auf den dann Hamburger mit ihrer Studie unter anderem reagiert: „Als totale Erscheinung ‚verschluckt‘ der Film den Zuschauer ‚mit Haut und Haaren‘, so schreibt Anders. Durch Überflutung von Eindrücken werde der Zuschauer zum unmittelbaren Teilnehmer am Geschehen, aber zum passiven Teilnehmer. Er werde zur inneren Lähmung gebracht.“ (S. 178) Angesichts des eben Explizierten kann man dies nur als klares Fehlurteil verstehen. Gerade weil die filmische Instanz nicht per se personalisiert, aber eben jederzeit personalisierbar ist, muss ich mich stets

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nennen, die meist halb-totalen, mit der Handkamera aufgenommenen Einstellungen, die oft zu einem Teil von einem Gebüsch oder einem sonstigen Blick-Hindernis eingenommen sind. Prompt habe ich dann zu assoziieren, dass die Kamera gerade personalisiert eingesetzt wurde, dass hier jemand etwas beobachtet, den ich aber, weil ich es aus seiner Richtung her, wenn nicht von seinem Standpunkt aus betrachte, selbst gerade eben nicht sehe. Gibt es, so wird meine Schlussfolgerung als Zuschauer sein, also einen großen Unbekannten (oder schon längst Bekannten) in diesem Film, der etwas mit dem Gesamt seiner Handlung zu tun hat? Von einer Passivität des Filmzuschauers kann also keine Rede sein, eher von weit mehr ‚Entscheidungen‘ eines Filmzuschauers, als sie ein Leser jemals zu treffen hat, was die Diagnose, dass sich der Film weniger an die ‚Einbildungskraft‘ wendet, ja nicht dementiert. Bevor ich das Vorstehende an einigen Einstellungen aus Fight Club exemplifiziere, sei hier aber doch noch kurz auf Käte Hamburgers Ausführungen „Zur Phänomenologie des Films“ eingegangen, die mir mindestens ebenso anregend wie Michael Scheffels Reflexionen zu sein scheinen. Um den theoretischen Teil dieses Beitrags nicht zu ausführlich werden zu lassen, konzentriere ich mich dabei nur noch auf Hamburgers Darstellung der Differenz von Film und Roman, weil diese zu weiteren Präzisierungen beitragen kann. Man liest: „[D]ie filmischen Bilder sind so frei, daß sie nicht nur mit den bildenden Künsten konkurrieren können, sondern auch mit den literarischen; sie können nicht nur Gegenstände darstellen, sondern, wie jene, Leben. Die Ursache dieses Phänomens ist, wie man weiß, rein technischer Art; das bewegte Bild. Der Film kann das Leben darstellen, weil er sich des Geheimnisses des Lebens, der Bewegung, bemächtigt hat, wenn er sie auch nur imitiert.“43 Implizit wird hier auf Lessings Unterscheidung von Raum- und Zeitkunst in seinem Laokoon verwiesen, wobei Hamburger für den Film das Zeitliche offenbar dem ja auch gegebenen Räumlichen überordnet. Bemerkenswert ist die Art und Weise, wie Hamburger den Film dem Roman annähert: „Wenn Schneeflocken sich sacht und weich auf Zweige und Gartengitter legen, wenn Paare durch weite Säle tanzen, so sehen wir etwas, das erzählt ist. Wir sehen einen Roman, nur daß das beschreibende, gestaltende Wort umgesetzt ist in die Bewegung, oder auch die Ruhe, die die Dinge aus sich selber haben. Das bewegte Bild hat eine Erzählfunktion, weshalb ein Film ohne Personen gezeigt werden kann, die Theaterbühne dagegen nicht.“44 Die Bewertung

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orientieren, ob nicht in der Kamera-Einstellung an sich noch eine über die erfassten Informationen aus der Wirklichkeit hinausgehende Information steckt; dies aber würde mir als von den Filmbildern ‚Verschlucktem‘ gerade nicht gelingen. Hamburger (Anm. 7), S. 875. Hamburger (Anm. 7), S. 876.

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der Theaterbühne scheint mir, wie oben schon gesagt, einer Fehleinschätzung der ganz eigenen „Zeichen des Theaters“ geschuldet. Hamburgers Argument zu Film und Roman resultiert zuletzt (und zurecht) aus deren beider Vermitteltheit, die sie jedoch allzu rasch als „Erzählfunktion“ einander gleichsetzt. Gleichwohl erkennt auch sie die Unterschiede: „[W]ir können sagen, daß das Filmbild, als Erzählfunktion, eine umgekehrte Funktion hat als das Wort des Romans. Das Wort ‚verbildlicht‘ das Erzählte, das Erzählte, das Filmbild, ‚verwortet‘ das Gesehene. Es ersetzt die Bildkraft des Wortes durch die Wortkraft des Bildes. Hier sehen wir das Erzählte. Wir sehen einen Roman, wenn wir einen Film sehen.“45 Was aber ist die „Wortkraft des Bildes“? Man kann schon streiten, ob die Leistung eines Romans mit der Formulierung von der „Bildkraft des Wortes“ angemessen beschrieben ist. Der Anfang von Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz (1929) lautet: „Er stand vor dem Tor des Tegeler Gefängnisses und war frei.“46 Während man den ersten Worten dieses Satzes noch eine „Bildkraft“ zuschreiben kann, gilt dies für den Verweis auf Franz Biberkopfs Freiheit als Aufrufen eines Abstraktums (das seine Legitimation durch die ‚Anwesenheit‘ des nicht nur beschreibenden, sondern auch kommentierenden personalen Erzählers hat) nicht. Hamburger fährt fort: Die Geste, der Ausdruck, die Träne, das Lächeln sprechen für sich, ‚sprechen‘ oft deutlicher als das geäußerte Wort. Wir unterscheiden dann nicht zwischen dem, was gesprochen, und dem, was bildhaft erzählt ist. Die Bildfunktion fluktuiert wie die Erzählfunktion des Romans, erzählt den Raum, den Leib, die Rede, ja auch das Erinnern, den Traum, die Zukunftsphantasie: indem sie im ‚back-flash‘ ‚zurück‘ von dem Jetzt und Hier der Handlung die Vergangenheit der Personen zeigt, ein beliebtes Verfahren des Films, das ganz besonders deutlich die Angleichung der Bildfunktion an die epische Erzählfunktion zum Ausdruck bringt. Alles in allem ist, wie schon hervorgehoben, die erzählende Macht des Films so groß, daß der epische Faktor für seine literarische Klassifizierung entscheidender ist als der dramatische.47

Was Hamburger hier schlichtweg übersieht, ist eben die Tatsache, dass ein Erinnern der „Vergangenheit der Personen“ im Film den gleichen zeitlichen Prämissen geschuldet ist wie jede andere Einstellung: Die Kamera ist dem ‚Abgefilmten‘ gegenwärtig,48 auch wenn es sich auf der Ebene der story um etwas Vergangenes handelt.

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Hamburger (Anm. 7), S. 876. Alfred Döblin: Berlin Alexanderplatz. München 301991, S. 8. Hamburger (Anm. 7), S. 878. Dazu finden sich bei Anke-Marie Lohmeier präzise Aussagen: „Die Kamera muß, solange sie läuft, Zeit und Raum mit den wahrgenommenen Objekten teilen, kann, solange sie läuft, Zeit und Raum nicht transzendieren, kann den Zeitfluß der Gegenwart nicht anhalten […] so dass folglich alles, was sie erfaßt, nur im genuin dramatischen Modus des ‚hic et

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Hamburger dementiert im Übrigen die Möglichkeit des Films, „schon den vollen Wettbewerb mit der erzählenden Dichtung aufnehmen“ zu können – und hält das „für eine Selbstverständlichkeit, die hier nicht erörtert zu werden braucht“,49 was nur wiederum zeigt, wie wenig man dem Film gerecht wird, wenn man ihn tatsächlich am literarischen Erzählen misst und so zur Diagnose eines ‚weniger‘ oder ‚noch nicht‘ gelangt. Die Differenz erläutert Hamburger allerdings noch einmal sehr präzise an einer Stelle aus Thomas Manns Joseph und sein Brüder (1933–43): „Amenhotep-Nebmarê’s Witwe thronte ihm gerade gegenüber auf hohem Stuhl mit hohem Schemel, gegen das Licht, vor dem mittleren der tiefreichenden Bogenfenster, so daß ihr ohne dies bronzefarben gegen das Gewand abstechender Teint durch die Verschattung noch dunkler schien.“50 Hamburger kommentiert: Diese in hohem Maße bildhafte Szenerie […] kann ohne weiteres als ein eindrucksvolles farbenfilmisches Bild gedacht werden. Aber die episch aufgebaute Szenerie vermittelt dennoch offensichtlich ein ganz anderes Erlebnis als die als Bild gesehene. Der Faktor, der in der Romanszenerie hinzukommt, ist der interpretierende. Die Interpretation des Erzählens beschränkt sich hier auf durchaus gegenstandsnahe Mittel, ohne Metaphorik oder andere Umschreibungen. Durch die leise vergleichende Schilderung […] wird allein schon das Äußere der Königin Teje aus der Momentsituation gelöst und ein totaleres Bild von ihr geschaffen. Ja, die Situation selbst erscheint nicht in bildlicher Verfestigung, sondern in ihrer gewissermaßen ursächlichen Struktur, und dies derart, daß auch nur die rein sachliche Bezeichnung der Gegenstände […] die Vorstellung des in dieser Weise Veranschaulichten lenken. Denn diese Veranschaulichung ist interpretierend erzeugt. Das Filmbild würde dieser Art der Veranschaulichung entbehren. Denn veranschaulicht wird nur, was nicht geschaut ist. Und dies bedeutet in diesem Fall, daß im Film der Beziehungsreichtum der Romanschilderung nicht erscheinen würde.51

Hamburgers Schlussfolgerung lautet: Die epische Erzählfunktion erzeugt die fiktive Welt interpretierend, diese lebt und ‚ist‘ durch das deutende Wort, das von der einfachsten, sachnahesten Dingschilderung bis in alle Arten und Grade der gedanklichen Interpretation einer Romanwelt und -handlung diese aufbaut. Als so und nicht anders gedeutete und erzeugte wird sie vom Leser empfangen und verstehend nacherlebt. Die filmische Erzählfunktion weist dagegen bloß auf, so sehr auch der Filmregisseur dem Bilde deutende Funktionen einlegen mag. Denn weil eine solche Deutung

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nunc‘ erscheinen kann“ (Lohmeier [Anm. 32], S. 41). Gerade diesen Punkt hatte ja auch Michael Scheffel mit seiner Formel von der filmischen oratio coram actu in ihrem Unterschied zur epischen oratio post actum im Auge. Hamburger (Anm. 7), S. 878. Thomas Mann: Joseph und seine Brüder. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1971, Bd. 3: Joseph, der Ernährer, S. 1055. Hamburger (Anm. 7), S. 879.

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nicht begrifflich verfestigt, sondern der Wahrnehmung überantwortet ist, ist das Erlebnis des Filmbildes jedem einzelnen Zuschauer als sein individuelles Erleben und Deuten überlassen, das von rein stimmungshaften Wirkungen zu beziehenden Verknüpfungen, ja symbolmäßigem Interpretieren variieren kann.52

Damit aber gelangt Hamburger am Ende auch zu der oben explizierten Zuschreibung. Dass die Epik „durch das deutende Wort“ „lebt“, lässt sich eben auch so beschreiben, dass die literarische Erzählinstanz die erzählten Ereignisse erinnert, während sie im Film bloß ‚aufgewiesen‘ werden, was meiner Formel von der bewahrten Gegenwart entspricht. Die Differenz von literarischem Erzählen und Film gründet also in ihrem je unterschiedlichen ‚Zeit-Regime‘. Wenn der „Geist der Erzählung“, nach Thomas Mann, der „weltweite, weltwissende, kündende Geist der Vergangenheitsschöpfung“53 ist, dann ist der ‚Geist des Films‘ notwendig auf die Gegenwart (wenngleich eben eine wiederholbare Gegenwart) bezogen. 2. David Finchers Fight Club Die vorstehenden theoretischen Reflexionen sollen im Folgenden in einer Interpretation des Films Fight Club,54 einem Film von David Fincher aus dem Jahr 1999, überprüft werden. Diesen Film habe ich dabei gerade nicht deswegen ausgesucht, weil er die filmische Umsetzung eines Romans von Chuck Palahniuk von 1996 ist. Ich werde vielmehr, so interessant das an manchen Stellen wäre, auf den Roman gar nicht eingehen. Die vorstehenden Thesen an diesem Film zu überprüfen, liegt vielmehr deshalb nahe, weil es wohl wenige Filme gibt, die sich so sehr bemühen, eine literarische Erzählhaltung aufzubauen, bis hin zur überraschenden Schlusspointe, die tatsächlich noch einmal eine ‚Erzählinstanz‘ sozusagen ‚hinter‘ dem ganzen Film nominiert. Dieses Bemühen zeigt sich dabei schon an den Eingangssequenzen des Films (00:00:34 ff.), die an einem Ort beginnen, zu dem die Kamera ‚eigentlich‘ keinen Zugang hat: im Innern eines Menschen. Dies wird allerdings nicht sofort erkennbar, weil man zunächst kaum zuzuordnen weiß, was man überhaupt sieht. Im weiteren Verlauf bahnt sich die Kamera in einer rasanten Fahrt (unterstützt durch die klaren Rhythmen der

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Hamburger (Anm. 7), S. 879. Mann (Anm. 5), S. 349. Fight Club. Regie: David Fincher. Drehbuch: Jim Uhls. Besetzung: u. a. Edward Norton, Brad Pitt, Helena Bonham Carter und Meat Loaf. Kamera: Jeff Cronenweth. Twentieth Century Fox Film Corpration. Premierendatum: 11. November 1999. DVD veröffentlicht von Twentieth Century Fox Home Entertainment, 2000. Die Zeitangaben beziehen sich auf diese DVD.

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elektronischen Titelmusik) ihren Weg durch einerseits organisch Wirkendes, andererseits fadenförmig miteinander Vernetztes, so dass man je länger, je mehr zu der Diagnose kommt, dass man es mit Nervenzellen zu tun hat. Zuletzt durchdringt die Kamera dann etwas im Vergleich zur Netzstruktur Kompakteres (00:01:45), und man erkennt nun deutlich mehrere kleine Haare und Hautzellen, aus denen diese Haare herauswachsen. Der nachfolgende Schwenk nach unten lässt einen erst einmal wieder orientierungslos, vor allem wenn sich die Kamera dann offensichtlich, von der Haut entfernend, an einem eckig geformten Stück Metall entlang bewegt. Man gewinnt die Orientierung erst wieder am Ende dieser Kamerafahrt – und sieht einen mit angstgeweiteten, blutunterlaufenen Augen in die Kamera schauenden Mann, der einen Pistolenlauf (das eckig geformte Stück Metall) im Mund hat (00:02:02) . Schon diese Anfangsszene bedarf mehrerer Kommentare. Zunächst und noch einmal: Der Film beginnt dort, wo die Kamera eigentlich nicht hin kann: im Inneren eines Menschen. Dies stimmt zum gesamten Film insofern, als er uns, wie gleich noch auszuführen sein wird, tatsächlich auf weite Strecken die Innensicht eines Mannes vermittelt, der im Film keinen Namen trägt und den viele englischsprachige Filmkritiken schlicht Narrator nennen. Nimmt man seinen Anfangsort als frühe Behauptung des Films, eine Innensicht transportieren zu wollen, dann geschieht dies aber eben doch zu den genuin filmischen Bedingungen, nur äußerlich Sichtbares übermitteln zu können. Somit lässt sich schon die Eingangssequenz als deutlich selbstreflexiv verstehen. Sobald sich die Brennweite der Kamera so verändert, dass das Gesicht des Mannes mit der Pistole im Mund scharf gestellt ist, meldet sich eine voice over-Stimme zu Wort: „People were always asking me, did I know Tyler Durden“55 (00:02:02). Das Skript kommentiert dazu: „TYLER has one arm around Jack’s56 shoulder; the other hand holds a HANDGUN with the barrel lodged in JACK’S MOUTH. Tyler is sitting in Jack’s lap.“ Tatsächlich ist dies im Film durchaus etwas anders realisiert; wichtiger aber ist, dass die Vorgabe des Drehbuchs, dass beide Personen in derselben Einstellung von der Kamera (aus mehreren Perspektiven) gezeigt werden, beibehalten wird. So aber haben wir es von Anfang an mit einer ‚unzuverlässigen Kamera‘ zu tun, wie sich in Parallele zur bekannten Figuration des ‚unzuverlässigen Erzählers‘ formulieren ließe. Denn am

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Die Dialoge des Films werden zitiert nach dem im Internet zu findenden Filmskript (URL: http://www.imsdb.com/scripts/Fight-Club.html [letzter Zugriff: 28.5.2012]) Das Drehbuch nennt die Hauptfigur durchgängig „Jack“; im Film aber fällt, wie gesagt, dieser Name nicht. Soweit ich also das Drehbuch zitiere, werde ich den Namen Jack übernehmen; wenn ich von den Filmbildern spreche, werde ich die Hauptfigur als „Erzähler“ bezeichnen.

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Ende wird sich herausstellen, dass der Erzähler und Tyler Durden – jener Andere, der ihm den Pistolenlauf in den Mund steckt – die gleiche Person sind. Die Herausforderung einer ‚unzuverlässigen Kamera‘ ist dabei durchaus größer als die durch einen ‚unzuverlässigen Erzähler‘“. Wenn der Erzähler in Heinrich von Kleists Die Marquise von O…. (1808) einen Gedankenstrich setzt, wo tatsächlich eine Vergewaltigung stattfindet, dann können wir das erst erkennen, wenn uns der Erzähler später selbst daran erinnert, was wirklich stattgefunden hat. Weil der literarische Erzähler eben ein Erinnerer ist, können wir seine Erinnerungen nicht überprüfen, weil wir nichts als seinen Bericht haben, den wir so für ‚bare Münze‘ nehmen müssen. Das Wahrheits-Versprechen der Kamera aber geht darüber hinaus: Wir sind dank der von ihr aufgenommenen Bilder ‚dabei‘; wir sehen und hören ‚selbst‘ (wenn auch vermittelt), was geschieht. So ergibt sich aber für die ersten Szenen von Fight Club eine besondere Konstellation: Die Kamera zeigt uns zwei Männer in einer nicht alltäglichen (und durch die Pistole im Mund des Erzählers auch homosexuell aufgeladenen) Situation. Nichts indiziert hier aber irgendeine Infragestellung des Realitäts-Status dieser Bilder. Gleichwohl handelt es sich um etwas, was eigentlich nur im ‚Kopf‘ des Erzählers stattfindet; nur er sieht Tyler Durden, der er ja tatsächlich selbst ist; die objektive Kamera fängt dies aber eben gerade nicht aus seinem Blickwinkel ein. Sie behauptet also die Wahrheit von etwas, was tatsächlich nur ein Hirngespinst des Erzählers ist. Während Tyler Durden danach ans Panorama-Fenster der oberen Etage eines Hochhauses tritt und hinaussieht, klärt uns der Erzähler per voice over über die Zusammenhänge auf: „We have front row seats for this Theater of Mass Destruction. The Demolitions Committee of Project Mayhem wrapped the foundation columns of ten57 buildings with blasting gelatin. In two minutes, primary charges will blow base charges, and those buildings will be reduced to smoldering rubble. I know this because Tyler knows this“ (00:02:30 ff.). Bemerkenswert ist, dass der Erzähler so gleich zu Beginn der Filmhandlung die Tatsache, dass er Durden ist, offen legt (es gibt mehrere solcher im Nachhinein klarer Vorverweise): Wenn er etwas nur weiß, weil Tyler Durden es weiß, muss er Tyler Durden sein! Parallel zum Kommentar des Erzählers entfernt sich die Kamera von der Szene mit den beiden Männern, fährt wie mit einem schnellen Aufzug in die Tiefgarage des Hauses und ‚dokumentiert‘ die angebrachten Sprengstofflandungen, wobei die hektische und manchmal abrupt die Richtung wechselnde Kamerafahrt durchaus an die Eingangssequenz im Kopf des

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Im Film heißt es an dieser Stelle tatsächlich „dozens“. Kleine Abweichungen dieser Art bleiben im Folgenden unerwähnt.

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Erzählers (wenn man es nun auch mit Stahlträgern statt Nervenzellen zu tun hat) erinnert. Wenn die oben formulierte These stimmt, dass Filmsequenzen immer auch die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit oder einfacher gesagt: ihren je besonderen Status transportieren (müssen), dann haben wir es in den ersten Bildern nach dem Vorspann mit einer Kamera zu tun, die die verbalen Ausführungen, anders gesagt: die voice over-Erzählung, illustriert und damit als wahr absichert. Früh wird man also auf die Idee gebracht, dass die von der Kamera aufgenommenen Bilder von den Ausführungen des Erzählers ‚regiert‘ werden. Dies wird im Folgenden verstärkt, wenn der Erzähler äußert: „Somehow, I realize all of this – the gun, the bombs, the revolution – is really about Marla Singer.“58 Es folgt ein durchaus ‚harter‘ Schnitt und man sieht den Erzähler „pressed against TWO LARGE BREASTS that belong to…BOB, 45, a moose of a man.“ Die damit eingeleitete Szene spielt in einer Selbsthilfegruppe von Männern mit Hodenkrebs, zu der auch Bob gehört; man ist sozusagen in eine Therapiesitzung hineingeplatzt, während derer sich zwei Männer umarmen und über ihre Gefühle sprechen. Wenn Bob äußert: „We’re still men.“, dann ist damit im Übrigen ein grundsätzliches Thema des Films angesprochen, weil sich die Männer dieses Films (auch Bob) im Weiteren ihre Männlichkeit durch martialische Kämpfe beweisen werden. (Allerdings werde ich auf diese Ebene in meiner Analyse kaum eingehen, weil mich weniger das ‚Was‘ als das ‚Wie‘ dieses Films interessiert.) Nachdem Bob zur zweiten Phase der Therapie übergeleitet hat („Okay. You cry now.“), schreitet wiederum der Erzähler ein: „Wait. Back up. Let me start earlier“ (00:03:45). Entsprechend zeigt die Kamera ihn nach einem Schnitt dann ‚früher‘ schlaflos im Bett liegen. (Die akute Schlaflosigkeit wird später als Grund seiner Wahnvorstellungen erkenntlich.) Während das Drehbuch zum szenischen Wechsel vermerkt: „Jack looks at Bob.“, hat man im Film einen Moment lang das Gefühl, dass der Erzähler sich mit einem Blick in die Kamera uns zuwenden will; soweit kommt es aber nicht. Mit diesen Szenen scheint der Status der Kamera für den Rest des Films festgelegt: Der Erzähler gibt vor, und die objektive Kamera zeigt, was er vorgibt, d. h. sie ist dem Erzähler untergeordnet, was angesichts der Tatsache, dass alles Erzählen nur ein Berichten und Behaupten, alle Filmbilder aber sozusagen ein Beweis des Dagewesenseins von Phänomenen sind, eine durchaus heikle Konstellation ist. Schon mit der nächsten Szene geht die Kamera aber über diesen Status hinaus. Im Drehbuch liest man: „Jack, sleepy, stands over a copy

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Hier ist die Abweichung des Filmtons größer: „And suddenly I realize that all of this – the gun, the bombs, the revolution – has gone something to do with a girl named Marla Singer“ (00:02:53 ff.).

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machine. His Starbucks cup sits on the lid, moving back and forth as the machine copies.“ Dazu äußert die voice over-Stimme: „With insomnia, nothing is real. Everything is far away. Everything is a copy of a copy of a copy“ (00:03:51 ff.), was man wiederum als Selbstreflexion nun auf der Ebene des Erzählerkommentars verstehen kann, wenn man es auf die Frage des Verhältnisses von wörtlicher Erzählung und Filmbildern als unterschiedlichen ‚Kopien‘ der Wirklichkeit bezieht. Dazu findet sich im Film zum ersten Mal das Stilmittel einer subjektiven Kamera, auf das besonders hingewiesen wird, insofern der Erzähler überrascht aufschaut, als habe er gerade etwas Außergewöhnliches gesehen. Im Gegenschuss vermittelt die Kamera aber nur den Blick in den Kopierraum, in dem auch andere Menschen am Kopierer stehen. Dann aber taucht für den Bruchteil einer Sekunde (gerade registrierbar) Tyler Durden im Kopierraum stehend auf (00:03:58) – und verschwindet sofort wieder (ähnliche Szenen gibt es noch öfters im Film). Interessanterweise findet sich zu diesem Filmbild keine Anweisung im Drehbuch. Diese ‚Kamerahaltung‘ findet ihre Fortsetzung nach einer Szene im Büro des Erzählers, in der er Anweisungen seines Chefs entgegen nimmt, wenn die Kamera ihn mit einem Ikea-Katalog auf einer Toiletten-Schüssel sitzend zeigt (00:04:35 ff.). Auf der Rückseite des Katalogs ist deutlich der Slogan „Use your Imagination“ zu lesen. Während der Erzähler verschiedene Möbel aus dem Katalog benennt, tauchen diese plötzlich in seiner zuvor leeren Wohnung auf, erstaunlicherweise mit dem jeweiligen Werbetext aus dem Katalog und der Preisangabe. Es gilt ganz offensichtlich die obige Diagnose, dass mit jeder Kamera-Einstellung deren Status neu ausgehandelt werden muss. Hier haben wir es mit einer subjektiven Kamera zu tun, die aber nicht einfach das abbildet, was der ‚Held‘ sieht (so lässt sich ja immerhin noch die Szene mit Tyler im Kopier-Raum erklären), sondern ganz offensichtlich seine Phantasie bebildert. Allerdings ist dies hier (noch) legitimiert durch das deutliche Signal, dass wir es mit einer subjektiven Kamera zu tun haben. Auf die Idee, dass die Kamera auch in ihren objektiven Einstellungen tatsächlich subjektiv sein könnte, wird man erst später gebracht. So aber erhält die Kamera einen ‚unmöglichen‘ Status: Auch da, wo sie von außen her den Erzähler und seine Welt, genauer: den Erzähler in seiner Welt zeigt, ist sie eigentlich nur dem Blick des Erzählers in die Welt geschuldet. Diese Struktur erinnert sehr deutlich an das, was Michael Scheffel in seinem Aufsatz als exklusiv für das literarische Erzählen reklamiert hatte: nämlich die Darstellung der „Orientierungszentren von Handelndem und Beobachtendem (oder gar SichErinnerndem) […] durch das Prinzip der dual voice in der erlebten Rede“, was hier erst einmal nur deutlich machen soll, wie weit dieser Film in der versuchten Angleichung an das literarische Erzählen geht.

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Als der Erzähler einen Arzt mit dem Argument, er „leide“, davon zu überzeugen versucht, ihm etwas gegen seine akute Schlaflosigkeit zu verschreiben (00:05:29 ff.), rät der ihm, die Selbsthilfegruppe der Hodenkrebspatienten zu besuchen, da diese Patienten tatsächlich leiden würden. (Sowohl auf dem Flur des Krankenhauses [00:06:04] als auch beim ersten Besuch der Selbsthilfegruppe [00:07:16] tauchen im Übrigen wieder die knappen Inserts von Tyler Durden auf.) Literarisches Erzählen simuliert der Film auch dadurch, dass die Szene ‚zwischen den Brüsten‘ von Bob nun eine ganz andere Fortsetzung findet (00:08:25 ff.), indem der Erzähler diesmal der Aufforderung Bobs, nun selbst zu weinen, folgt. So aber wird die Wahrheit der Bilder nur noch weiter ausgehöhlt, ihre Abhängigkeit von der sie regierenden Erzählung noch bewusster gemacht. Im Übrigen kommt nun auch Marla Singer ins Spiel, weil diese, wie der Erzähler von nun an, alle möglichen Selbsthilfegruppen besucht – und die beiden die verschiedenen Selbsthilfegruppen unter sich aufteilen, weil die ‚aufbauende‘ Wirkung sich bei gleichzeitiger Anwesenheit von zwei ‚Simulanten‘ nicht einstellen will. Im Weiteren gehe ich nur noch auf für meine Fragestellungen entscheidende Szenen ein. Dazu gehören zunächst zwei (allerdings nicht thematisch, sondern im Wie der Darstellung des Übergangs zwischen einer Traum- und einer Wirklichkeitssphäre) deutlich aufeinander bezogene Szenen. Die erste davon spielt in einer weiteren Selbsthilfegruppe, in der eine Therapeutin zur Meditation auffordert, genauer dazu, sich eine Höhle vorzustellen, um dort sich selbst zu finden und daraus Kraft zu schöpfen. Bemerkenswert ist die Gestaltung des Übergangs zwischen Wirklichkeit und Phantasie. Man sieht zunächst die Therapeutin (00:09:58 ff.), wie sie zum Eintritt in die Höhle auffordert; dann sieht man den Erzähler verwundert in einer Eishöhle stehen (00:10:16 ff.), während die Worte der Therapeutin nun einen Halleffekt erhalten, der den Status der Imagination unterstreicht. Gleichsam um dies abzusichern, springt die Kamera noch einmal zurück zum mit geschlossenen Augen meditierenden Erzähler (die Stimme der Therapeutin verliert ihren Halleffekt), um sofort wieder in die Höhle zurückzuspringen (der Halleffekt stellt sich wieder ein und verstärkt sich). Den bloß imaginären Status dieser Szene unterstreicht dann noch, dass ein animierter Pinguin als „power animal“ erscheint und der Erzähler auffordert: „Slide.“ (In einer späteren Wiederholung wird an Stelle des Pinguins Marla Singer ‚erscheinen‘ [00:13:57 ff.].) ‚Ausgeleitet‘ wird die Szene durch ein harten Schnitt auf den nach der Sitzung der Selbsthilfegruppe die Treppe hinuntergehenden Erzähler, wobei dieser Anschluss eben klar anzeigt, dass der Erzähler nun wieder in der Wirklichkeit angekommen ist.

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Zugleich parallel und spiegelbildlich verhält sich dazu eine andere Szene, nämlich die, in der der Erzähler endgültig Tyler Durden begegnet. Man sieht den Erzähler zunächst in mehreren Szenen seinem Job nachgehen, den er als „recall coordinator“ (in der deutschen Fassung: „Rückrufkoordinator“) angibt. Er muss schwerwiegende Auto-Unfälle in den ganzen USA überprüfen, um zu entscheiden, ob die entsprechenden Bauserien in die Werkstätten zurückgerufen werden. Dabei wird deutlich, dass die Entscheidung meist mehr mit den wirtschaftlichen Interessen des Unternehmens als mit den Interessen der Kunden zu tun hat. Die Szenen ‚bebildern‘ auch das dauernde Unterwegssein des Erzählers. Auf einem Flughafen kommt ihm einmal – aufgenommen in einer objektiven Kameraeinstellung – Tyler Durden auf dem in die andere Richtung führenden Laufband entgegen (00:18:57 ff.); da der Erzähler aber mit dem Rücken zu ihm steht, sieht er ihn nicht. Von der letztendlichen Auflösung des Films her, ist dies der größte Verstoß gegen die ‚Spielregeln‘ des Films und der Kamerabilder. Das ‚Hirngespinst‘ Tyler Durden erscheint nicht als seine ‚Spukhaftigkeit‘ anzeigendes knappes Insert, sondern als reale Person auf einem Flughafen, die der Erzähler gar nicht sieht, so dass man eigentlich auch nicht davon sprechen kann, dass die Filmbilder seine Sicht der Dinge zeigen. In einer der darauf folgenden Szenen sieht man den Erzähler wieder einmal im Flugzeug sitzen und einer neben ihm am Fenster sitzenden Frau (einer Afroamerikanerin im schwarzen Kleid) von seinem Job berichten (00:20:19 ff.). Als er sich von ihr ab und dem frugalen Flugzeugessen zuwendet, hört man ihn sagen: „Every time the plane banked too sharply on take-off or landing, I prayed for a crash, or a mid-air collision – anything.“ Ohne (!) markierten Übergang folgt dann die offensichtliche Phantasie eines solchen ‚Crashs‘. Der ‚Rückgang‘ in die Wirklichkeit wird dafür besonders deutlich angezeigt: Man hört den in Flugzeugen üblichen Anzeigeton, sieht die Anweisung „No smoking“ und kurz: „Fasten seat belt“ aufleuchten – und den Erzähler mit einem Ruck und einem zuerst erschrockenen, dann sich entspannenden Gesicht ganz offensichtlich aus seinen Traumbildern erwachen. War vorher der Übergang aus der Phantasie-„Höhle“ in die Wirklichkeit ‚nur‘ durch einen harten Schnitt markiert worden, so tut der Film hier alles, um diesen Übergang zu unterstreichen. Das ‚Infame‘ an diesen Bildern und Tönen und dem, was sie signalisieren, ist jedoch, dass danach nicht mehr die schwarz gekleidete Afroamerikanerin neben ihm sitzt, sondern der bunt gekleidete Tyler Durden, mit dem er sofort ins Gespräch kommt (00:21:00 ff.). Das ist schon keine „unglaubwürdige Kamera“ mehr, dass ist sozusagen gezielter Betrug, der aber eben alles über den Status der von der Kamera aufgenommenen und auf der Leinwand zu sehenden Bilder sagt – oder noch genauer: der den ‚wahren‘ Status dieser Bilder völlig verunklart.

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Ich erwähne nur noch zwei weitere Szenen ausführlicher. In der ersten sehen wir den Erzähler und Tyler Durden im Vorführraum eines Kinos (00:31:09). Im Drehbuch heißt es: „Jack, in the foreground, FACES CAMERA. In the BACKGROUND, Tyler sits at a bench, looking at individual FRAMES cut from movies. Near him, a PROJECTOR rolls film.“ Der Erzähler, der vorher als voice over angekündigt hatte, noch etwas über Tyler sagen zu wollen, führt nun (eben direkt an den Zuschauer gewandt) aus: „Tyler was a night person. He sometimes worked as a projectionist. A movie doesn’t come in one big reel, it’s on a few. In old theaters, two projectors are used, so someone has to change projectors at the exact second when one reel ends and another reel begins. Sometimes you can see two dots on screen in the upper right hand corner…“. Diese Szene ist in zumindest zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum ersten unterbricht sie klar den Fluss der Bildsequenzen, zugunsten einer Digression des Erzählers (was daran besonders deutlich wird, dass der unterbrochene Handlungsstrang danach fortgeführt wird). Zum zweiten visualisieren nun die Filmbilder die Erzählhaltung der voice over-Stimme, die sich ja auch direkt an uns als Zuschauer/Zuhörer wendet. Wichtiger aber ist, dass der Film sich nun noch einmal auf eine ganz neue Ebene begibt, weil Tyler in Ergänzung zu den Erläuterungen des Erzählers mit seiner Hand in die rechte obere Ecke des Filmbilds weist (00:31:28), wo in diesem Moment tatsächlich die Zeichen zum Wechsel der Filmrolle erscheinen. Es ist schwierig, diese Konstellation angemessen zu beschreiben: Wir haben es mit einer objektiven Kamera zu tun, die zuvor aber dazu übergegangen war, ein Pendant zur Erzählsituation des voice over zu schaffen. Nun bricht sozusagen etwas Außer-Filmisches ein – zumindest als Verweis darauf, dass auch dieser Film uns vorgeführt wird und dass die Zeichen den Filmvorführer gerade zum Wechseln der Filmrollen aufgefordert haben. Tatsächlich aber sehen wir ja nur die „innerfilmischen“ Zeichen, die eine Handlung, die außerhalb des Films liegt, veranlassen. Aber gehören diese Zeichen überhaupt zum Film? Tyler nutzt jedenfalls diese technischen Voraussetzungen, um extrem kurze Sequenzen aus Pornofilmen – wie Tyler sagt, diesmal: „A nice, big cock.“ (dieses Filmbild hat man als Intro in diese Szene in Großaufnahme gesehen) – in die vorgeführten Spielfilme zu schneiden, so kurz, dass die Zuschauer sie zwar unbewusst registrieren, aber nicht wirklich wahrnehmen. Die nächste Szene führt dann entsprechend die Verstörung der zuschauenden Kinder und Erwachsenen im Zuschauerraum als Reaktion auf den unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle dennoch gesehenen ‚Schwanz‘ vor (00:31:56 ff.). Auf dieser Szene beruht die Schlusspointe des Films. Ich vernachlässige die Gründung des ersten Fight Clubs, in dem Männer sich nach gewissen Regeln prügeln, um so ihre Männlichkeit wieder zu

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entdecken, und die sich anschließende Eröffnung immer weiterer Fight Clubs überall in den USA, sowie die ersten den Männern von Tyler Durden aufgetragenen, noch halb spaßhaften Störungsaktionen bis hin zum schließlichen Übergang in das Projekt Mayhem, von dessen geplanter terroristischer Aktion wir am Anfang des Films erfahren haben. Inzwischen hat Marla Singer auch eine Affäre mit Tyler Durden begonnen; allerdings sieht man den Erzähler und Tyler niemals gemeinsam gleichzeitig mit Marla, was wiederum für die Auflösung am Schluss von Bedeutung ist. Zudem ist der Erzähler bei der Polizei in Verdacht geraten, seine Wohnung selbst in Brand gesetzt zu haben, wobei gerade dieser Wohnungsbrand der Anlass war, dass sich Tyler und der Erzähler nach ihrer ersten Begegnung im Flugzeug wiedergetroffen hatten. Weiterhin hat Tyler – am Rande der Vorbereitung des Baus der ersten Bombe – die Hand des Erzählers mit einer chemischen Substanz verätzt (00:59:52 ff.); dieser versucht sich vor dem bohrenden Schmerz in die gelernten Meditationsübungen (unter anderem in ‚seine Höhle‘) zu flüchten, doch Tyler fordert von ihm, sich dem Schmerz zu stellen. Auch hier geht es wieder darum, die eigene Männlichkeit zu finden, denn Tyler sagt unter anderem: „Shut up. Our fathers were our models for God. And, if our fathers bailed, what does that tell us about God?“ Der Erzähler wiederum schlägt später in Abweichung von den eigentlichen Regeln des Fight Clubs ein anderes Mitglied halbtot, das danach völlig entstellt ist. Erwähnenswert ist noch eine Szene, in der der Erzähler seinen Chef, nachdem er ihm erpresserisch gedroht hat, die Machenschaften der Firma auszuplaudern, dazu bringt, ihn von seinem Job bei weiterlaufenden Bezügen freizustellen, indem er sich vor ihm – einen Faustkampf zwischen zweien simulierend – brutal selbst zusammenschlägt (01:14:00 ff.), so dass es für die hinzukommenden Polizisten so aussieht, als habe der Chef den Erzähler so zugerichtet. Diese Szene ist insofern von Belang, als es später noch einmal eine Darstellung von einer der ersten Schlägereien zwischen dem Erzähler und Tyler Durden gibt, in der eben auch nur der Erzähler auf sich selber eindrischt (01:49:12 ff.) . Zum Ende des Films kommt der Erzähler sich selber auf die Spur, indem er verschiedene Fight Clubs in den USA besucht. In einer Bar, von der er sich nicht erinnern kann, sie jemals besucht zu haben, wird er mit einem: „Welcome back, sir.“ begrüßt (01:46:05 ff.). Am Ende der Szene fragt er den Barmann, wer er selbst, der Erzähler, denn sei – und der Barmann antwortet, nachdem er sich versichert hat, dass dies keine Prüfung sei: „You’re the one who did this to me. [Er zeigt ihm dabei seinen verätzten Handrücken.] You’re Mr. Durden, sir. Tyler Durden.“ Daraufhin hören wir die voice over-Stimme des Erzählers: „Please return your seatbacks to their full upright and locked position.“ Aus einem Hotel-

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zimmer ruft er Marla Singer an, die sich am Telefon über seine so unterschiedlichen Verhaltensweisen beschwert und ihn zuletzt mit ‚seinem‘ Namen anspricht: „Tyler Durden! Tyler Durden, you fucking freak. What’s going on?“ Im Hotelzimmer sitzt ihm dann plötzlich Tyler Durden gegenüber (01:47:43 ff.), und die beiden nähern sich im Gespräch der ‚Wahrheit‘, dass Sie die gleiche Person sind. Während dieses Gesprächs sieht man in dazwischen geschnittenen Flashbacks jeweils den Erzähler in Szenen, in denen zuvor im Film Tyler Durden mitagierte, der allerdings kurz davor auch aus den die Szene im Hotel zeigenden Bildern ‚verschwunden‘ ist, obwohl ihn der Erzähler ob der Ungeheuerlichkeit seiner Aussagen weiterhin anstarrt. Nach dieser Erkenntnis zeigt der Erzähler die bevorstehende terroristische Aktion bei der Polizei an (01:55:51 ff.). Während der Chef zwischenzeitlich den Raum verlässt, um die Informationen zu überprüfen, entpuppen sich die anderen Polizisten als Mitglieder des Projekts Mayhem, die äußern, dass ihnen Tyler Durden, also der Erzähler, befohlen habe, jedem, der das Projekt verrate, die ‚Eier abzuschneiden‘ („we got to get his balls“). Schließlich kann er sich aber befreien und rennt mit letzter Kraft dorthin, wo wir ihn am Anfang des Films gesehen haben. Die Begegnung mit Tyler Durden findet aber zunächst vor dem Gebäude statt (02:00:00 ff.) (wobei Tylor die Seiten einer verschlossenen Glastür wechselt, was seinen imaginären Status noch einmal unterstreicht) und findet dann in der Tiefgarage ihre Fortsetzung, in der der Erzähler sich bemüht, die Bomben zu entschärfen. Er versucht in dieser Sequenz auch, Tyler zu erschießen; doch die Kugeln zeigen keinerlei Wirkung. Es beginnt eine wüste Schlägerei zwischen den beiden, in die immer wieder Bilder der Überwachungskameras hineingeschnitten sind, in denen tatsächlich jeweils nur der Erzähler zu sehen ist. Die Bilder wirken allerdings durchaus unrealistisch – etwa dann, wenn in den ‚normalen‘ Filmbildern Tyler den Erzähler über den Boden schleift, während man dieselbe Bewegung des Köpers des Erzählers auf den Bildern der Überwachungskamera sieht, ohne sich erklären zu können, wie dessen Körper sich von ganz alleine auf diese Weise bewegen kann. Nach einer längeren Schwarzblende landen wir dann wieder in der Szene, mit der der Film begonnen hat, was die voice over-Stimme des Erzählers mit den Worten kommentiert: „I think this is about where we came in“ (02:04:28). Die überaus starke Selbstreflexivität der Szene (die sich auch in mehreren klaren Abweichungen vom Drehbuch manifestiert) wird daran erkennbar, dass der Erzähler, auf die Aufforderung Tylers, nachdem dieser die Pistole aus seinem Mund genommen hat, etwas zu sagen, „to mark the occasion“, antwortet: „I still can’t think of anything.“, was Tyler, sich abwendend, wiederum mit: „flashback humour“ (auf Deutsch: „Rückblendenhumor“) kommentiert. Auch hier muss ich mich

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auf das Wesentliche konzentrieren, das in einer Kontrafaktur der üblichen Logik des tödlichen Ausgangs von Doppelgänger-Geschichten besteht. Während gemeinhin das ‚Original‘ sein ‚double‘ erschießt, um dann selbst tödlich getroffen zusammenzusinken (wie etwa im frühen Stummfilm Der Student von Prag [Hanns Heinz Ewers, D 1913]), schießt sich der Erzähler hier eine Kugel in den Kopf, woraufhin sich dann tatsächlich Tyler Durden auflöst (02:07:58 ff.). Der Erzähler sieht nach dem Schuss in den Mund übel zugerichtet aus; tatsächlich aber stirbt er nicht – auch wenn er stark seitlich aus dem Hals blutet und mit angegriffener Stimme nur noch krächzend spricht. Nach Tylers ‚Auflösung‘ kommen einige Männer des Projekts Mayhem und bringen Marla Singer mit. Alle sind entsetzt über den körperlichen Zustand des Erzählers. Dieser aber schickt mit zunehmend wieder kräftigerer Stimme alle weg und bleibt mit Marla allein zurück, ihr versprechend, dass alles wieder gut werde. Draußen explodieren derweil die ‚verminten‘ Häuser und der Erzähler und Marla stehen am großen Panorama-Fenster und schauen sich dieses ‚Spektakel‘ gemeinsam an (02:10:09 ff.). Im Drehbuch liest sich diese letzte Szene wie folgt: MASSIVE EXPLOSION… the glass walls rattle… / Jack and Marla look – OUT THE WINDOWS: a BUILDING EXPLODES; collapsing upon itself. Then, ANOTHER BUILDING IMPLODES into a massive cloud of dust. Jack and Marla are silhouetted against the SKYLINE. Jack looks to Marla, reaches to take her hand. / JACK I’m sorry– you met me at a very strange time in my life. / Marla looks at him. ANOTHER BUILDING IMPLODES and COLLAPSES inward… and ANOTHER BUILDING… and ANOTHER… / The FILM SLOWS, then ADVANCES ONE FRAME at a TIME – SHOWING SPROCKET HOLES on the SIDES. EACH FRAME is an IMPLODING BUILDING – then, ONE FRAME IS A PENIS. Then, the IMPLODING BUILDING again. SPEED UP the frames, LOSE the sprocket holes, RESUME NORMAL SPEED… / FADE TO BLACK: / end.

Wie vieles am Filmfinale weicht auch diese Szene in ihrer filmischen Realisierung vom Drehbuch ab, denn tatsächlich verlangsamt sich der Film nicht und löst sich auch nicht in einzelne frames auf. Vielmehr sind die Kamerabilder für einige Sekunden verwackelt, was sich auch früher im Film als Stilmittel fand, wenn der unklare Status der Filmbilder indiziert werden sollte. Und man sieht – allerdings deutlich oberhalb der Wahrnehmungsschwelle, wenn auch nur kurz – einen hineingeschnittenen Penis (02:10:40) und zwar genau jene Aufnahme, die man schon in der Szene mit Tyler Durden als Filmvorführer als erstes Bild gesehen hatte. Damit hat der Film seinen Schlusspunkt erreicht, an dem er tatsächlich eine Instanz hinter dem Film postuliert. Wie Tyler hat nun jemand anderer auch in den Film eingegriffen, den wir gerade sehen. Das Verfahren ist uns im Film erklärt worden, wir wissen das Bild also zu lesen. Was aber lesen wir? Oder anders: Wer ist die Instanz, die hier ins Bilder-Spiel

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gebracht worden ist? Das Bild des Penis hat jedenfalls einen anderen Status als alle Bilder in diesem Film bisher, weil es nicht dem Innenleben des Erzählers entspringt. Da es aber nahe liegt, Tyler Durden für das hineingeschnittene Bild verantwortlich zu machen, und dieser ja mit dem Erzähler identisch ist, könnte es sich eben doch um eine Phantasie des Erzählers handeln, der nun aber sozusagen hinter dem Film angesiedelt ist. Damit sind wir bei der eigentlichen Pointe angelangt: Dieser Film etabliert tatsächlich eine Vermittlungsinstanz hinter dem Film – und er tut dies mit dem hineingeschnittenen Bild zu rein filmischen Bedingungen. Dass ihm dies gelingt, hat nämlich damit zu tun, dass er sich, um zu diesem radikalen Verstoß gegen die Bedingungen der Möglichkeit von Film zu gelangen, sehr exakt an eben diese Voraussetzungen hält. Die Vermittlerinstanz hinter dem Film ist von Bildsequenzen aufgebaut worden, die sich allesamt dem Status der bewahrten Gegenwart fügen. Und doch gelangen wir zu einer (vermittelten) Instanz, die die Filmbilder wie ein literarischer Erzähler/Erinnerer nun überwölbt und zusammenhält. Gerade diese These aber ist durchaus wiederum diskutierenswert, denn tatsächlich verweist der hineingeschnittene ‚Schwanz‘ ja nur auf einen, der den Film manipuliert hat sowie (vermittelt) auf einen Filmvorführer. Beide sind aber keine wirklichen ‚Erinnerer‘. Man kann die Konstellation auch noch einmal anders beschreiben: Der voice over-Erzähler und Tyler Durden, der durch die Szene im Vorführraum und die Schlusspointe mit den Filmbildern assoziiert wurde, sind eine Person. Im Verlauf des Films ‚regiert‘ der Erzähler (trotz einiger Abweichungen davon) die Bildsequenzen. Am Ende lebt zwar der Erzähler weiter, aber medial gewendet obsiegt der Vertreter der Filmbilder. Die Hervorbringung einer filmischen Vermittlungsinstanz war ganz Sache der Bilder. Doch anders als beim literarischen Erzähler, bei dem wir die ‚Stimme‘ des Erzählers lesen (und ihn so kennenlernen), wissen wir von der filmischen Vermittlungsinstanz rein gar nichts, denn wir sind in einem Film. Fight Club ist also eine ‚groß angelegte‘ Reflexion auf die im theoretischen Teil dieses Beitrags diskutierten Fragen. Allerdings gibt es noch eine dritte Möglichkeit der Auflösung. Am Ende des Films muss man zur Kenntnis nehmen, dass das Entscheidende seiner Handlung, dass nämlich der Erzähler und Tyler Durden sich als eine Person herausgestellt haben, durch viele Hinweise am Beginn des Films vorweg genommen wurde. Erinnert man sich dann aber aller Hinweise, so kommt einem auch folgendes Statement des Erzählers wieder in den Sinn: „Somehow, I realize all of this – the gun, the bombs, the revolution – is really about Marla Singer.“59 Warum hat alles mit Marla Singer zu

____________ 59

Siehe oben allerdings die Variante dieser Stelle im Film.

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tun? Als diese am Ende vom Erzähler unten auf der Straße in Begleitung von Mitgliedern des Projekts Mayhem gesehen wird, die sie dann ja zu ihm begleiten, fragt er Tyler Durden, warum sie da sei – und dieser antwortet: „Tying up loose ends“ (02:05:18). Zuletzt könnte man also auch auf die Idee kommen, dass der Erzähler eigentlich Marla Singer ist. Die Schlussfolgerungen daraus seien hier dem Leser überlassen. Dass man zu solchen Überlegungen angehalten wird, hat wiederum mit den Voraussetzungen des Films im Allgemeinen zu tun, der einen in die Position bringt, in den angebotenen Bildern und Bildsequenzen erinnernd Kohärenz zu stiften. In den weiterführenden Mutmaßungen ist man offensichtlich immer noch damit beschäftigt, die vielen Szenen bewahrter Gegenwart in eine Geschichte zu überführen und damit etwas zu tun, wozu einen keine literarische Erzählung auffordert; niemals. So bleibt es am Ende auch dieser Filmanalyse bei der schon im Theorieteil geäußerten Diagnose, dass man literarisches Erzählen und den Film nicht in gleicher Hinsicht ‚Erzählen‘ nennen kann. Es ist allerdings anzunehmen, dass auch dies die Häufigkeit der Rede vom erzählenden Film nicht minimieren wird. So mag es reichen, wenn die vorstehenden Ausführungen, die je unterschiedliche Zeit-Logik von Epik und Film ein wenig weiter geklärt haben. Literatur Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übers. u. hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Chatman, Seymour: Story and Discourse. Narrative Structure in Fiction and Film. Ithaca 1978. Dane, Gesa: „Filmisches und episches Erzählen. Käte Hamburgers gattungstheoretische Überlegungen zum Film“. In: Johanna Bossinade/Angelika Schaser (Hrsg.): Käte Hamburger. Zur Aktualität einer Klassikerin. Göttingen 2003, S. 169–179. Danto, Arthur C.: Analytische Philosophie der Geschichte [1965]. Frankfurt a. M. 1974. Döblin, Alfred: Berlin Alexanderplatz. München 301991. DUDEN – im Internet: URL: http://www.duden.de/suchen/dudenonline/narrativ [letzter Zugriff: 26.5.2012]. Griem, Julika/Voigts-Virchow, Eckart: „Filmnarratologie. Grundlagen, Tendenzen und Beispielanalysen“. In: Vera Nünning/Ansgar Nünning (Hrsg.): Erzähltheorie transgenerisch, intermedial, interdisziplinär. Trier 2002, S. 155–183. Hamburger, Käte: „Zur Phänomenologie des Films“. In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 10 (1956), S. 873–880. Herman, David: Story Logic. Problems and Possbilities of Narrative. Lincoln 2004. Hickethier, Knut: Einführung in die Medienwissenschaft. Stuttgart 22010. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 1976. Isherwood, Christopher: „A Berlin Diary. Autumn 1930“. In: Ders.: Goodbye to Berlin. London 1998, S. 9–32.

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Anhang

Über die Autorinnen und Autoren MATTHIAS AUMÜLLER Privatdozent für Neuere deutsche Literaturgeschichte und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Philosophie, Slavistik, Psychologie und Germanistik in Marburg und Hamburg. Promotion 2005, Habilitation 2013, Professurvertretung 2014 (Friedrich-Schiller-Universität Jena). Publikationen: Innere Form und Poetizität. Die Theorie Aleksandr Potebnjas in ihrem begriffsgeschichtlichen Kontext. Frankfurt a. M. 2005; Hrsg.: Narrativität als Begriff. Analysen und Anwendungsbeispiele zwischen philologischer und anthropologischer Orientierung. Berlin/Boston 2012; Minimalistische Poetik. Zur Ausdifferenzierung des Aufbausystems in der Romanliteratur der frühen DDR. Münster 2015. ARMEN AVANESSIAN Hat in Wien und Paris Philosophie und Politikwissenschaft, sowie in Bielefeld Literaturwissenschaft studiert. Nach Abschluss seiner Dissertation war er einige Jahre als freier Journalist, Redakteur und im Verlagswesen in Paris und London tätig und von 2007–2014 an der FU-Berlin. 2011 war er Visiting Fellow am German Department der Columbia University, 2012 Visiting Fellow am German Department der Yale University. In den letzten Jahren hatte er mehrere Gastprofessuren und -dozenturen an unterschiedlichen Kunstakademien in Nürnberg, Wien, Basel, Kopenhagen und Kalifornien (CalArts) inne. Er ist Gründer der Rechercheplattform www.spekulative-poetik.de und Chefredakteur beim Merve Verlag. Monographien: Phänomenologie ironischen Geistes. Ethik, Poetik und Politik der Moderne. München 2010; Präsens. Poetik eines Tempus. Berlin/Zürich 2012 (gemeinsam mit Anke Hennig); Metanoia. Ontologie der Sprache. Berlin 2014 (gemeinsam mit Anke Hennig); Speculative Drawing. Berlin 2014 (gemeinsam mit Andreas Töpfer); Überschrift. Ethik des Wissens – Poetik der Existenz. Berlin 2015. CHRISTOPH BARTSCH Doktorand im Fach Neuere deutsche Literaturgeschichte an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). Studium der Germanistik, Psychologie und Geschichte an der BUW; Forschungsschwerpunkte: Kognitive Narratologie, Literatur und Psychoanalyse, Possible Worlds Theory und literarische Phantastik. Publikationen: Hrsg. zus. mit Frauke Bode: Welten erzählen. Narrative Evokation des (Un-)Möglichen (in Vorbereitung); „Das Unheimliche – ein Gefühl

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Autorinnen und Autoren

der Figur und/oder ein Gefühl des Lesers? Narratologische Betrachtungen einer nicht-narratologischen Kategorie“. In: Florian Lehmann (Hrsg.): Das Unheimliche, Gespenstische und Spukhafte (in Vorbereitung). FRAUKE BODE Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Sprachen, Wirtschafts- und Kulturraumstudien an den Universitäten Passau und Barcelona mit Schwerpunkt auf den iberoromanischen Kulturraum. Promotion an der Universität zu Köln zum Thema Barcelona als lyrischer Interferenzraum. Die Poetik der Komplizität in spanischen und katalanischen Gedichten der 1950er und 1960er Jahre (Bielefeld 2012). Premio Julián Sanz del Río 2012 (DAAD und Fundación universidad.es). Forschungsinteressen: Lyriktheorie, Autobiographie und Autofiktion, Erinnerungstheorien und -praxis in der spanischen und argentinischen Literatur, insb. Fantastik als Erinnerungsmodus. STEPHAN BRÖSSEL Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur (Literatur und Medien) von Prof. Dr. Andreas Blödorn an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Forschungsschwerpunkte: Intermedialität zwischen Literatur und Film, Film- u. Literatursemiotik, Literarische Anthropologie der Biedermeierzeit und des Realismus, Formen der literarischen Zeitreflexion im 19. Jahrhundert. Publikationen: Filmisches Erzählen. Typologie und Geschichte. Berlin/Boston 2014; „Wirklichkeitsbrüche. Theorie und Analyse mit Blick auf Texte der Frühen Moderne und Postmoderne“. In: Studia Germanica Posnaniensia 34 (2013), S. 175–186; Art. „Leitmotiv“, „Das Wunderkind“, „Mediale Wirkung“ (zus. m. A. Blödorn). In: Thomas Mann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. v. A. Blödorn u. F. Marx. Stuttgart/Weimar (im Druck). BERIT CALLSEN Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Französische und Spanische Literaturwissenschaft der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen: Literarische Visualität in interdisziplinärer Perspektive, Wahrnehmungspoetiken in der französischen und mexikanischen Literatur des 20. Jahrhunderts, urbane Literaturen des 20. Jahrhunderts in Europa und Lateinamerika sowie Poetologien der Subjektkonstitution in der spanischen Moderne. Publikationen: Mit anderen Augen sehen. Aisthetische Poetiken in der französischen und mexikanischen Literatur (1963–1984). Paderborn 2014; Hrsg. mit Katja Carrillo Zeiter: Berlin-Madrid. Postdiktatoriale Großstadtliteratur. Berlin 2011.

Autorinnen und Autoren

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MATEI CHIHAIA Professor für Literaturwissenschaft (Romanistik) an der Bergischen Universität Wuppertal und Mitherausgeber von DIEGESIS. Interdisziplinäres E-Journal für Erzählforschung. Mehrere Einzelpublikationen und zwei Sammelbände zum Werk Marcel Prousts (Marcel Proust – Bewegendes und Bewegtes. Hrsg. mit Katharina Münchberg. München 2013; Marcel Proust – Gattungsgrenzen und Epochenschwelle. Hrsg. mit Ursula Hennigfeld. München 2014) berühren das Thema des Beitrags. Einen zweiten Forschungsschwerpunkt bilden Immersionsdiskurse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (Der Golem-Effekt. Orientierung und phantastische Immersion im Zeitalter des Kinos. Bielefeld 2011). ANDREA ERWIG Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, Theorien des Erzählens, Theorie und Geschichte der Psychoanalyse. Dissertationsprojekt zu „Poetiken des Wartens in der frühen Moderne“. BIRTE FRITSCH Lehrbeauftragte für französische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal, hat an derselben mit den Schwerpunkten Romanistik, Germanistik und Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft studiert. Aufenthalte als DAAD Stipendiatin an der University of Delhi (DU), Neu Delhi. Ihr Forschungsinteresse gilt insbesondere der theoretischen und methodischen Positionierung der Philologien im Zeitalter der Digital Humanities, der Literaturtheorie, der Narratologie und dem Werk Marcel Prousts. CHRISTOPH GARDIAN Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur von Prof. Dr. Juliane Vogel an der Universität Konstanz. Arbeitsschwerpunkte: deutsche Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Medialität und Intermedialität, Literaturtheorie, Poetiken der Zeit. Publikationen: Sprachvisionen. Poetik und Mediologie der inneren Bilder bei Robert Müller und Gottfried Benn. Zürich 2014; „Inklusion – Transkription – Umkehr. Glaubenskritik und Eschatologie in Annette von Droste-Hülshoffs ‚Judenbuche‘“. In: Forum Vormärz Forschung 20 (2014), S. 75–91; „‚Europa hat die Pace verloren‘. Zur Auratisierung des Affektiven in Robert Müllers ‚Tropen‘“. In: Ulrich Johannes Beil/Cornelia Herberichs/Marcus Sandl (Hrsg.): Aura und Auratisierung. Mediologische Perspektiven im Anschluss an Walter Benjamin. Zürich 2014, S. 299–324.

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Autorinnen und Autoren

JULIAN HANEBECK Geschäftsführer des Zentrums für Graduiertenstudien (ZGS) an der Bergischen Universität Wuppertal sowie selbstständige Tätigkeit als Musiker (Uncle Ho) mit zahlreichen Veröffentlichungen und Tourneen im Inund Ausland. Studium der Anglistik/Amerikanistik, der Literaturgeschichte Amerikas sowie der Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal und an der University of North London. Forschungsschwerpunkte: Englische Literatur des 18. Jahrhunderts, Narratologie. Publikationen: Understanding Metalepsis (in Vorbereitung) sowie Artikel mit narratologischem Schwerpunkt. ANKE HENNIG Unterrichtet gegenwärtig am Saint Martins College, University of the Arts, London. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in der Theorie des russischen Formalismus, Politik der linken Avantgarden und gegenwärtiger Poetik. Ihre jüngsten Publikationen behandeln das Verhältnis von Literatur und Film, Geschichte des Romans und spekulative Poetik. Publikationen: Sowjetische Kinodramaturgie (Berlin 2010); mit Armen Avanessian: Poėtika nastojashchego vremeni (2014, russische Übersetzung von Präsens. Poetik eines Tempus, Zürich 2012) und Metanoia. Spekulative Ontologie der Sprache (Berlin 2014). CARMEN LĂCAN Doktorandin an der Bergischen Universität Wuppertal. Studium der Romanistik, Germanistik sowie der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft in Bukarest und Essen. Forschungsschwerpunkte: Figurentheorien, Literaturtheorie, Erzähltheorie, Literatur der Moderne und DDR-Literatur. JANA MAROSZOVÁ Studierte Germanistik, Pädagogik und Psychologie an der Karls-Universität Prag, in Erlangen und Konstanz. Sie promovierte in Prag und an der Ludwig-Maximilians-Universität München und war 2011–2014 als wissenschaftliche Assistentin am Institut für germanische Studien an der KarlsUniversität tätig. Jetzt beschäftigt sie sich mit der barocken Homiletik, besonders mit deutschen Predigtdrucken, die auf dem Gebiet Böhmens entstanden sind. STEFANIE ROGGENBUCK Studium der Germanistik, Amerikanistik und Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal (Abschluß 2007); Promotion im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Wuppertal. Seit 2009

Autorinnen und Autoren

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Lehrbeauftragte im Fach Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Forschungsschwerpunkte: Narratologie; Komparatistik; Literaturtheorie; Literatur des Realismus (insb. Theodor Fontane) und der Frühen Moderne; Adoleszenz und Migration in der Gegenwartsliteratur. Mitglied des Wuppertaler Zentrums für Erzählforschung. WOLF SCHMID Emeritierter Professor für slavische Literaturen an der Universität Hamburg. Er war Sprecher der Hamburger Forschergruppe Narratologie, Direktor des Interdisziplinären Centrums für Narratologie und Chairman des European Narratology Network. Zu seinen narratologischen Publikationen gehören das Buch Elemente der Narratologie (russisch 2003 und 2008, deutsch 2005, 2008, 2014, englisch 2010) sowie die Bände Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen (2009, Hrsg.) und Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze (2009, Hrsg.). Er ist Mitherausgeber des Amsterdam International Electronic Journal for Cultural Narratology, des russischen Internetjournals Narratorium und geschäftsführender Herausgeber der Reihe Narratologia. LENA SCHÜCH Promoviert über die Narrativität kontemporärer deutscher und englischer Songtexte. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Erzähltheorie, computergestützte Textanalyse sowie das Werk des Autors Frank Schulz. KAI SPANKE Studium der Neueren Deutschen Literatur, Englischen Philologie sowie Kunst- und Filmgeschichte in Bielefeld, Berlin, Cambridge und Berkeley. Doktorand im Fach Neuere Deutsche Literatur an der Freien Universität Berlin. Forschungsschwerpunkte: Raum-Zeit-Konfigurationen; Literatur der Romantik; Komik und Gewalt in Film und Literatur. Ausgewählte Publikationen: „Zeichen des Holocaust: Ikon, Symbol und Index als reflexive Kategorien in Robert Thalheims ‚Am Ende kommen Touristen‘“ (zusammen mit Lukas Werner). In: Sprachkunst. Beiträge zur Literaturwissenschaft 42/1 (2011), S. 131–145; „Fun ist ein Blutbad. Zur Komik von Gewalt und Tod im amerikanischen Verfolgungscartoon“. In: Susanne Kaul/Oliver Kohns (Hrsg.): Politik und Ethik der Komik. München 2012, S. 133–149.

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Autorinnen und Autoren

MANFRED WEINBERG Professor für neuere deutsche Literatur an der Karls-Universität Prag. Mitglied des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats, des Vorstands der Arbeitsstelle für deutsch-mährische Literatur an der Universität Olomouc/ Olmütz sowie des Vorstands der Gesellschaft für interkulturelle Germanistik. Studium der Germanistik, Biologie, Philosophie und Erziehungswissenschaft an der Universität Bonn. Promotion 1992 dort mit einer Dissertation über Hubert Fichte (Akut. Geschichte. Struktur. Bielefeld 1993). Nach dem Wechsel als Postdoktoranden-Stipendiat in das Graduiertenkolleg Theorie der Literatur an der Universität Konstanz dort weitere Anstellungen (u. a. wissenschaftlicher Koordinator des Sonderforschungsbereichs Literatur und Anthropologie) sowie Lehrstuhl-Vertretungen. 2001 Habilitation mit einer Arbeit zum Thema Erinnerung/Gedächtnis (Das „unendliche Thema“. Tübingen 2006). ANTONIUS WEIXLER Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Neueren deutschen Literaturgeschichte am Lehrstuhl von Prof. Dr. Matías Martínez an der Bergischen Universität Wuppertal, redaktioneller Herausgeber des E-Journals DIEGESIS (www.diegesis.uni-wuppertal.de). Studium der Deutschen Literatur, der Kunst- und Medienwissenschaft sowie der Politikwissenschaft an der Universität Konstanz und am University College Cork. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Kunst der Klassischen Moderne, Narratologie und Gegenwartsliteratur. Publikationen: „L’écriture visionnaire“. Carl Einsteins Poetik des Transvisuellen. Berlin/Boston 2016 sowie als Herausgeber: Authentisches Erzählen. Produktion, Narration, Rezeption. Berlin/Boston 2012. LUKAS WERNER Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Neueren deutschen Literaturgeschichte am Lehrstuhl von Prof. Dr. Matías Martínez an der Bergischen Universität Wuppertal (BUW). Studium der Germanistik, Mediävistik sowie Kunst- und Designwissenschaften an der BUW, der University of Cambridge und der University of California, Berkeley. Forschungsschwerpunkte: Historische Narratologie, Literatur der Frühen Neuzeit, biographisches Erzählen. Publikationen: „Gleichzeitigkeit – Formen und Funktionen. Narratologische Überlegungen zum Schelmenroman (‚Lazaril von Tormes‘ – ‚Simplicissimus‘ – ‚Schelmuffsky‘)“. In: Coralie Rippl/ Susanne Köbele (Hrsg.): Gleichzeitigkeit. Narrative Synchronisierungsmodelle in der Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Würzburg 2015, S. 281–317.

Personen- und Werkregister Adler, Paul 473, 475, 477 f. Nämlich 482–489 Adorno, Theodor W. 433 f. Alberti, Leon Battista 206 Ames, Clifford R. 424 Amis, Martin Time’s Arrow 58 Anderson, Paul Thomas Magnolia 187 Angehrn, Emil 468 Aquin, Thomas von 115 Aristoteles 153–155, 166, 169, 176, 202, 262, 277, 301 f., 453 f., 501, 511, 527 Auerbach, Erich 261 Augustinus 21, 183, 452–454, 468 Confessiones 351, 451 Avanessian, Armen 12 Balla, Giacomo 224 f. Bachmann, Ingeborg 409 Bachtin, Michail M. 6, 8, 17 f., 86, 225, 227, 261, 267 f., 292, 345, 358, 365, 378, 408–412, 425 Bal, Mieke 82, 451 Balzac, Honoré de Le Père Goriot 401 Sarrasine 503 Banfield, Ann 12 Barnes, Robin Bruce 116 Barthes, Roland 10, 149, 238, 503, 506, 522 Baudrillard, Jean 190, 201 Baudson, Michel 216

Baumgarten, Alexander Gottlieb 434 Beckett, Samuel 320 Atem 161 Not I 165 Play 165 Benmussa, Simone 441 Benz, Nadine 517 Berend, Alice Die Bräutigame der Babette Bomberling 348 Bergson, Henri 75, 136, 221, 225, 332, 480 Bernhard, Thomas Alte Meister 270 Berry, Jean de 216 Beyer, Marcel Flughunde 334, 336 Kaltenburg 336 Bierce, Ambrose 414 f. An Occurrence at Owl Creek Bridge 407, 416, 418–420, 423–426 Bieri, Peter 14 Biese, Alfred 270 Blei, Franz 520 Boccaccio, Giovanni 262 Boccioni, Umberto 220, 223 f. Boehm, Gottfried 206, 209, 212, 214, 218 f., 227 Boëthius 115 Böhme, Hartmut 281 Bohrer, Karl Heinz 433, 445 Bolaño, Roberto Los detectives salvajes 380

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Personen- und Werkregister

Booth, Wayne C. 413 f., 424, 427 Bordwell, David 155, 181, 186, 325 Borkowski, Jan 134 Bornelh¸ Giraut de 137 Boscán Almogaver, Juan 140 Bossuyt, Ignace 408 Boué, Rachel 440 Boyle, Anne 42 f., 49 Bradbury, Ray A Sound of Thunder 63, 295 Branigan, Edward 186 Braque, Georges 220 Brecht, Bertolt 154, 156, 158, 170, 530 Bremond, Claude 297 Breuer, Dieter 120 Breuer, Josef 479, 506–509 Brooks, Peter 12, 500–506, 522 Büchler, Karl 158 Bühler, Karl 12, 135, 371 Burdorf, Dieter 136 Burg, Jennifer 42 f., 49 Bush, Glen Paul 74 Cabanilles, Antònia 144 Calamusa, Guy 444 Calvino, Italo Se una notte d’inverno un viaggiatore 376 Camus, Albert 438 Carrà, Carlo 223 Carter, William H. 423 Caruth, Cathy 200, 333 Cassirer, Ernst 85, 261, 266– 268 Castelvetro, Lodovico 154, 262 Certeau, Michel de 261 Čertkov, Vladimir 255

Cervantes, Miguel de Don Quijote 262 Charcot, Jean-Martin 509 Chatman, Seymour 9, 11, 155, 186, 325, 532 Cohn, Dorrit 397, 519 Corneille, Pierre 154, 262 Cortázar, Julio 376 Rayuela 379 Cunningham, Michael The Hours 380 Currie, Mark 12 Dane, Gesa 540 Dante Alighieri 73, 262 Commedia 110 Danto, Arthur C. 210, 235, 531 Däubler, Theodor 481 Davis, Robert Gorham 462 Defoe, Daniel Moll Flanders 350 Delaunay, Robert 220, 223, 226 Deleuze, Gilles 182 f., 185 Dick, Philip K. Counter-Clock World 53 Diderot, Denis 262 Jacques le fataliste et son maître 400 f. Didi-Huberman, Georges 509 Dieter, Anna-Lisa 501 Diezel, Peter 408 Dil Ulenspiegel 1, 2 Dirscherl, Klaus 134 Döblin, Alfred Berlin Alexanderplatz 542 Doležel, Lubomír 54, 57–59, 86 f. Dostoevskij, Fedor M. 21, 360, 363 f., 408, 411 Aufzeichnungen aus dem Kellerloch 359

Personen- und Werkregister

Der Jüngling 343, 351–356, 360 f., 364–366 Die Brüder Karamazov 237, 239 Eagleton, Terry 130, 148 Eco, Umberto 59, 213, 218 f. Egg, Augustus Leopold 210 Einstein, Albert 480 Einstein, Carl 482 Erll, Astrid 80 Ernst, Ulrich 82 Everett, Hugh 62 Ewers, Hanns Heinz Der Student von Prag 554 Faulkner, William 28 A Rose for Emily 20, 27 f., 36, 39–42, 48 As I Lay Dying 376 Fichte, Hubert 320 Detlevs Imitationen „Grünspan“ 332, 336 Fincher, David Fight Club 21, 527, 537, 541, 544–556 Fischer, Carolin 133 Flake, Otto Nein und Ja 477 Fludernik, Monika 82, 155, 321, 450, 457 Forster, E. M. 5 Forster, Marc Stay 184 Foucault, Michel 261, 272, 275 Frank, Hilmar 208 f., 211 f. Frank, Tanja 208 f., 211 f. Fränkel, Hermann 499 Freire, Isabel 139 Freud, Sigmund 305, 478 f., 501 f., 506 f., 509, 517 Freytag, Gustav 157

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Friedrich, Hugo 136 Frisch, Max 153, 166 f., 169 f., 175, 177 Die Chinesische Mauer 20, 153, 166–177 Mein Name sei Gantenbein 307 Stiller 20, 291, 296, 304–313 Gadamer, Hans-Georg 452 f. Geertz, Clifford 81 Geier, Swetlana 351 Genette, Gérard 4, 5, 8, 10–14, 20, 31, 38, 88, 111 f., 133, 163, 180, 186, 210, 240, 259, 319 f., 324–332, 344 f., 349, 369–371, 373–375, 377, 382– 385, 392, 394, 396–398, 400, 403, 409, 412, 414, 449–451, 455–460, 474, 512, 528 Getty, Laura 39 Gil de Biedma, Jaime Las personas del verbo 143 f. Giorgione 215 Glauch, Sonja 89 Gleizes, Albert 221 f., 277 Gockel, Heinz 168 Goethe, Johann Wolfgang 129, 263, 280 Iphigenie auf Tauris 161 Die Wahlverwandtschaften 274 Goldschmidt, Alfons 242–245, 247–249, 251 Góngora, Luis de 137 Gonzáles Iñárritu, Alejandro 21 Grams 187 Gor’kij, Maksim 254, 257 Graevenitz, Gerhart von 112 Graf, Oskar Maria 252 f. Greimas, Algirdas Julien 296 f. Grein, Marion 409 Griem, Julika 538, 540

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Personen- und Werkregister

Grimmelshausen, Hans Jacob Christoffel von 88 f., 105, 116 f., 119 f. Simplicissimus Teutsch 79, 81, 89–100, 112–117, 293, 351 Grossman, Leonid 353 Gumbrecht, Hans Ulrich 226, 434–436 Gunia, Jürgen 138 Haferland, Harald 16 Hamburger, Käte 4, 7, 12, 14, 35, 130, 157, 321 f., 331 f., 348, 371 f., 529, 535, 540–544 Hartmann von Aue Iwein 292 Harweg, Roland 14, 30 Heartfield, John 256 Hebbel, Friedrich 269 f. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 265, 276 Heidegger, Martin 75, 300, 305, 450 Heine, Heinrich 353 Heinze, Rüdiger 58, 62 Helkkula-Lukkarinen, Mervi 392 f., 395 Henderson, Brian 186 Hennig, Anke 12 Herder, Johann Gottfried 162 Herman, David 5, 13, 106, 464, 474, 535 Hesse, Hermann 254 Heusler, Andreas 138 Hirt, Ernst 162 Hofmannsthal, Hugo von 504 Hogarth, William 210 Homer 44 f., 48, 261, 528 Odyssee 499 f. Horaz 264 Hühn, Peter 133 f., 217

Husserl, Edmund 183, 432, 453 f. Imdahl, Max 209 Imhof, Rüdiger 465 Iser, Wolfgang 539 f. Isherwood, Christopher Goodbye to Berlin 529 Jakobson, Roman 130, 132 James, Henry 325 Jameson, Fredric 81, 200 Janich, Peter 14 Jannidis, Fotis 80, 298 Jaspers, Karl 174 Jauß, Hans Robert 3, 226, 294, 302, 392 Jefferson, Ann 39, 442 Johnson, Nancy S. 346 Johnson, Samuel 154 Jonson, Ben Volpone 164 Jonze, Spike Being John Malkovich 538 Joyce, James 263 f., 294 Ulysses 1–3, 264, 294, 528 Jung, Carl Gustav 305, 478 Jung, Franz Hunger an der Wolga 251 Jurgensen, Manfred 168 f., 176 Kafka, Franz 504, 521 Kant, Immanuel 85, 136, 299, 434, 452, 454 Kaul, Susanne 185 Kayser, Wolfgang 350 Keck, Annette 517 Kemp, Wolfgang 210, 213 Kierkegaard, Søren 305 Kiernan, Doris 305 Killy, Walther 137 f.

Personen- und Werkregister

Kisch, Egon Erwin 246–251 Zaren, Popen, Bolschewiken 246 Kleist, Heinrich von Die Marquise von O.... 546 Klinger, Max 210 Klotz, Volker 158 Ko, Min 169 Kohlberg, Sonja 432 Könnecke, Gustav 119 Kraushaar, Mona 161 Kretschmer, Ernst 479 Kripke, Saul Aaron 60 f. Kristeva, Julia 409 Kubrick, Stanley A Space Odyssey 185 Kuhn, Markus 11, 155, 186 f., 451 La Fayette, Marie-Madeleine de La princesse de Clèves 331 Lahn, Silke 459 Lämmert, Eberhard 10, 14, 153, 163, 170 Lamping, Dieter 131 Lang, Sheau-Dong 42 f., 49 Lasker-Schüler, Else Die Wupper 160 Le Poidevin, Robin 14 Lehmann, Hans-Thies 159–161, 164, 166 Leibniz, Gottfried Wilhelm 85 Lessing, Gotthold Ephraim 205–209, 213–215, 226, 262, 265, 267, 541 Hamburgische Dramaturgie 154 Laokoon 17, 209, 264 Lévy-Bruhl, Lucien 479 Lewis, David K. 53, 55–58, 61 f., 67 f. Limbeck, Sven 147 f.

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Link, Franz H. 156, 158, 161, 167, 174 f. Locke, John 466 f. Logan, F. J. 418 Lohmeier, Anke-Marie 535 Lohr, Dieter 113 London, Jack The Star Rover 20, 53, 55, 62– 70, 75 Lotman, Jurij M. 132, 261 Lubbock, Percy 325 Lubich, Frederick Alfred 305 Ludwig, Otto 157 Lugowski, Clemens 100 Lüth, Reinhard 418 Lyotard, Jean-François 433 Mach, Ernst 480 Mager, Brigitte 139 f. Mahne, Nicole 532 f. Mandler, Jean M. 346 Mani, Inderjeet 14 Mann, Thomas 75, 269, 294, 311, 475, 529, 543 f. Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull 350 f. Der Zauberberg 1, 3, 19, 294 Marcks, Greg 11:14 187 Margolin, Uri 344 Marinetti, Filippo Tommaso 223 Márquez, Gabriel García Cien años de soledad 7 Martínez, Matías 134, 421, 532 Matzat, Wolfgang 378 Mayoux, Jean-Jacques 465 McCall, Ian 402 McTaggart, John 14, 452 Meister, Jan Christoph 14, 459 Melville, Herman Moby Dick 350

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Personen- und Werkregister

Mendoza, Eduardo Sin noticias de Gurb 376 Mercier, Louis-Sébastien L’an deux mille quatre cent quarante 295 Merian, Matthäus Theatrum Europaeum 119 Merleau-Ponty, Maurice 454 Mersch, Dieter 434, 436 f., 445 Mertens, Volker 83 Metz, Christian 10, 213, 539 f. Metzinger, Jean 221 f., 227 Meyer, Herman 18 Meyer, Matthias 16 Middeke, Martin 453 Mitchell, David Cloud Atlas 380 Mog, Paul 96 Monge Fidalgo, Manuel 147 f. Montgomery, Robert The Lady in the Lake 538 Morrell, Edward H. 66 Mottram, James 198 Mülder-Bach, Inka 520 Müller, Günther 10, 14, 137, 158, 164, 185, 212 f., 218, 259, 384, 412, 415, 427, 456 Muller, Marcel 394 Müller, Robert 473, 475–478, 480 f. Tropen 489–494 Müller, Stephan 160 Müller, Wolfgang 133 Murdoch, Iris The Black Prince 449 Musil, Robert 504 Das Unanständige und Kranke in der Kunst 511 Der Mann ohne Eigenschaften 19, 282

Die Versuchung der stillen Veronika 505 f., 523 Die Vollendung der Liebe 499, 505, 506, 510–522 Typus einer Erzählung 511 Nabokov, Vladimir 437 Nancy, Jean-Luc 435 f. Nestroy, Johann Zu ebener Erde und erster Stock 163 Neumeister, Sebastian 141 Newton, Isaac 13, 85, 173 Nietzsche, Friedrich 170, 174, 278, 280, 479 Menschliches, Allzumenschliches 478 Nolan, Christopher Memento 58, 179, 189–202 Novalis Heinrich von Ofterdingen 271 Nünning, Ansgar 81, 106 Nünning, Vera 106 Ozon, François Cinq fois deux 187 Palahniuk, Chuck 544 Panofskys, Erwin 209, 215 Pascal, Roy 410, 412, 425 Pavel, Thomas G. 54 Peacock, Ronald 158 Perutz, Leo 407, 414–416 Zwischen neun und neun 407, 416, 419–426 Petrarca, Francesco 143 Canzoniere 140 Pfister, Manfred 156, 159, 161 f., 164 f., 297, 537 Philippot, Paul 213, 216

Personen- und Werkregister

Phillips, Caryl Crossing the River 379 Picasso, Pablo 220, 222 Piglia, Ricardo La ciudad ausente 376 Platon Parmenides 453 Symposium 518 Plievier, Theodor 252 Pochat, Götz 217 Poe, Edgar Allan 527 Powell, Padgett 531 The Interrogative Mood. A Novel? 531 Prager, Arnulf 159 Prince, Gerald 106 Propp, Vladimir 296 Proust, Marcel 3, 75, 111 f., 294, 311, 395 À la recherche du temps perdu 3, 21, 88, 110 f., 263 f., 330, 369, 373, 383–404 Pütz, Peter 157 f., 164 Pynchon, Thomas 320 Gravity’s Rainbow 332 Rabelais, François 268 Racine, Jean 164, 262 Rahsin, E. K. 351, 362 Raimis, Harold Groundhog Day 187 Ransmayr, Christoph Morbus Kitahara 63 Rauh, Gisa 334 Raynal, Maurice 220 Regler, Gustav 253 Reichenbach, Hans 14 Rembrandt van Rijn 219 Richardson, Brian 10, 13, 76, 155, 159, 162 f., 376, 379, 474 f.

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Ricœur, Paul 1, 4, 12, 291, 296– 303, 308, 312, 333, 371, 373, 375, 452, 455, 532 Rilke, Rainer Maria 504 Rimmon-Kenan, Shlomith 374 f. Rivers, Kenneth 70, 75 Robbe-Grillet, Alain Pour un nouveau roman 438 Roggendorf, Simone 80 Röhnert, Jan 408 Rolandslied 262 Ronen, Ruth 6 f. Roth, Joseph 250 f. Rousseau, Jean-Jacques Les Confessions 353, 382 Rowohlt, Harry 531 Rulfo, Juan Pedro Páramo 379 Russolo, Luigi 223 Ryan, Marie-Laure 54, 59, 61 f., 71 f., 457, 532 Sachs, Hans 91 f. Sarraute, Nathalie 21, 431, 437– 446 Entre la vie et la mort 442 L’ère du soupçon 438–440 Les Fruits d’Or 438 f., 442 f., 446 Vous les entendez? 442 Sartre, Jean-Paul 305, 438 Scheffel, Michael 530–532, 534–537, 539, 541, 543, 548 Schernus, Wilhelm 14 Schiller, Friedrich 175 Wilhelm Tell 157 Schlegel, Friedrich 263 Schmid, Wolf 12, 343 Schmitz, Barbara 80

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Personen- und Werkregister

Schnabel, Johann Gottfried Insel Felsenburg 79, 81, 88–90, 94 f., 99 f., 293 Schnitzler, Arthur Fräulein Else 381 Leutnant Gustl 528 Schönert, Jörg 133, 217 Schröder, Jürgen 520 Schulz, Armin 83, 89 Seel, Martin 433 f., 436 Sengle, Friedrich 269 Shaftesbury 208 Shakespeare, William 57, 66, 154, 161 f., 175 Shen, Dan 10 Simon, Claude 320 Les Géorgiques 331 f. Simonides 208 Šklovskij, Viktor 13, 370, 382 f., 461 Soderbergh, Steven Solaris 187 Sonesson, Göran 211 Sontag, Susan 501 Souriau, Etienne 4, 181, 184 Souza, Miguel 409 Spitzer, Leo 294, 369 Staiger, Emil 136, 157, 269 Stanzel, Franz K. 88, 350 Stein, Malte 133 f. Sternberg, Meir 9 Sterne, Laurence Tristram Shandy 21, 379, 382, 449–451, 455–470 Stifter, Adalbert Ein Gang durch die Katakomben 259, 261, 268–285 Störmer-Caysa, Uta 110 Szondi, Peter 158, 162

Tasso, Bernardo 140 Theissing, Heinrich 218 Thompson, Kirstin 325 Thürlemann, Felix 209 Tieck, Ludwig Der blode Eckbert 263 Phantasus 279 Titzmann, Michael 207 Todorov, Tzvetan 71, 473, 502 Tolkien, J. R. R. The Lord of the Rings 1 f., 53 Toller, Ernst 252 f. Tolstoj, Lev N. 255 f. Krieg und Frieden 53 Tomaševskij, Boris V. 5, 7 f., 84, 91, 185 Torgovnick, Marianna 217 Toro, Alfonso de 6–9, 11, 14, 31 Truffaut, François La nuit Américaine 187 Turner, Victor W. 94 Twain, Mark A Connecticut Yankee in King Arthur’s Court 295 Uchtomskij, Aleksej A. 267 Updike, John Rabbit, Run 334 Valéry, Paul 434 Varga, Aron Kibédi 210 f. Vega, Garcilaso de la 20, 139– 143 Velázquez, Diego 219 Vendler, Zeno 240 Vennemann, Kevin Nahe Jedenew 319 f., 332–340 Vergil Aeneis 265 Vischer, Friedrich Theodor 157

Personen- und Werkregister

Vogt, Jochen 475 Voigts-Virchow, Eckart 538, 540 Völkel, Svenja 409 Voltaire Candide, ou l’Optimisme 293 Mérope 154 Wagner, Richard Ring der Nibelungen 161 Walser, Robert 504 Warning, Rainer 134, 431, 435 Wassenberg, Eberhard von 119 Weber, Dietrich 12, 534 Wegner, Armin T. 254–257 Fünf Finger über Dir 253 f. Weich, Horst 130, 132 Weimar, Klaus 35 Weinhold, Inge 96 Weinrich, Harald 323 Weiss, Peter 320 Wells, H. G. The Time Maschine 295

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Wickhoff, Franz 210 f. Wiesing, Lambert 432, 435 Wilder, Thornton 153, 161, 177 The Skin of Our Teeth 166 f. Wilke, Tobias 409 Winckelmann, Johann Joachim 265 Winko, Simone 134 Wolf, Werner 207, 210 f., 217, 533 Woolf, Virginia 262 To the Lighthouse 263 Wright, Joe Atonement 187 Wundt, Wilhelm 479 Wurzbach, Constant von 269 Wyler, William Ben Hur 537 Zeh, Juli Corpus Delicti 53 Zymner, Rüdiger 130 f.